Sie sind auf Seite 1von 220

Jürgen Rühle

Theater
und Revolution

dtv
Über dieses Buch

Jürgen Rühle berichtet über die Situation des Theaters unter


kommunistischem Vorzeichen. Er schildert nicht nur den bru-
talen Mechanismus der parteigebundenen Kulturpolitik, son-
dern gibt darüber hinaus ein farbiges Bild vom faszinierenden
Avantgardismus des Revolutionstheaters in den zwanziger
Jahren. Er läßt Wirken und Schicksal künstlerischer Persön-
lichkeiten erstehen, die aus der Kulturgeschichte nicht fort-
zudenken sind, darunter Gorki, Stanislawski, Obraszow, Pisca-
tor und Brecht. Rühle analysiert die Stücke, beschreibt die In-
szenierungen und geht auf die Reaktion von Publikum und
Partei ein. Die Glanzzeit des sowjetischen Revolutionstheaters
nahm ein jähes Ende durch die engstirnige Kulturpolitik Sta-
lins, der nicht davor zurückschreckte, auch mit Verhaftungen
und Liquidierungen in die Entwicklung des Theaters einzu-
greifen. Erst nach Stalins Tod war eine Neubelebung des Thea-
ters möglich. Davon zeugt das abschließende Kapitel, das die
heutige Situation des Sowjettheaters beleuchtet.
September 1963
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,
München
Vom Autor neu bearbeitete Ausgabe des Bandes
>Das gefesselte Theater <
Lizenzausgabe des Verlages Kiepenheuer & Witsch
GmbH, Köln
Ausstattung: Celestino Piatti
Gesamtherstellung C. H. Beck'sche Buchdruckerei,
:

Nördlingen
Printed in Germany
Jürgen Rühle:
Theater und Revolution
Von Gorki bis Brecht

Deutscher
Taschenbuch
Verlag
Inhalt

Gorki und die Geburt des Sozialistischen Realismus .... 7

Stanislawski und sein System 38

Der Theateroktober 64
Meyerhold Majakowski Eisenstein
• • •
Tairow
Wachtangow Die jüdischen Theater
-

Der Puppenspieler Obraszow 108

Das Theater der deutschen Revolution 127


Reinhardt und Jeßner Piscator Die Agitprop-Truppen
• •

Brecht und die Dialektik des Epischen Theaters 159


Das Sowjettheater heute 196

Nachbemerkung 201
:

DiesesBuch ist den Persönlichkeiten des revolutionären Theaters ge-


widmet, die unter den Diktaturen zugrunde gingen

Isaak Babel Ernst Barlach


Alexander Block Heinrich George
Kurt Gerron Reinhard Goering
Maxim Gorki Bruno Jasienski
Walter Hasenclever Wladimir Kirschon
Mikola Kulisch Les Kurbas
Federico Garcia Lorca Wladimir Majakowski
Wsewolod Meyerhold Salomon Michoels
Iwan Mikitenko Erich Mühsam
Carola Neher Hans Otto
Sinaida Reich Moritz Seeler
Ernst Toller Sergej Tretjakow
Gorki und die Geburt des Sozialistischen Realismus

Weg mit den parteilosen Literaten! Weg mit den literarischen Übermenschen!
Die Sache der Literatur muß zu einem Teil der allgemeinen Sache des Prole-
tariats werden, zu einem »Rädchen und Schräubchen« des einen einheitlichen,

großen sozialdemokratischen Mechanismus, der von der ganzen bewußten


Vorhut der gesamten Arbeiterklasse in Bewegung gesetzt wird. Die literarische
Tätigkeit muß zu einem Bestandteil der organisierten, planmäßigen, vereinig-
ten sozialdemokratischen Parteiarbeit werden.
Lenin 1905

Im Jahre 1902, zehn Jahre nach Erscheinen seiner ersten Erzählung,


wurde der dreiunddreißig jährige Schriftsteller Alexe Maximo witsch
j

Peschkow, genannt Gorki (Der Bittere), zum Ehrenmitglied der


kaiserlich russischen Akademie der Wissenschaften gewählt. Das war
ein ganz ungewöhnlicher und unerhörter Akt, denn der Erwählte
galt als notorischer Revolutionär, war mehrfach verhaftet gewesen,
unter Polizeiaufsicht gestellt und aus seiner Heimatstadt Nishni Now-
gorod (dem heutigen Gorki) verbannt worden. Als man dem Zaren
die Ernennung Gorkis vorlegte, versah er das Schreiben mit der
Randbemerkung: »Mehr als originell!« und erteilte dem Minister
für Volksbildung den Befehl, die Wahl für ungültig zu erklären. Zum
Zeichen des Protestes gegen diese Haltung der Regierung legten dar-
aufhin die neben Tolstoj damals bedeutendsten Dichter Rußlands
und der Ukraine, Tschechow und Korolenko, ihrerseits ihre akade-
mischen Würden nieder. Die Auflagenziffer von Gorkis Schriften er-
reichte derweil die bis dahin einzigartige Höhe von einer halben Mil-
lion; Sammlungen seiner Werke erschienen im Ausland in verschie-
denen Sprachen.
Zu jener Zeit wurde zum ersten Mal in dem illegalen Organ der
russischen Sozialdemokratie, der >Iskra< (Funke), der Name Gorkis
genannt als eines »Schriftstellers von europäischer Berühmtheit«, der
das Opfer eines Willküraktes der autoritären Regierung geworden
sei.Autor dieses Artikels war Lenin. Und die zaristische Polizei fing
den Brief eines führenden Bolschewisten auf, aus dem hervorging,
daß Gorki sich bereit erklärt hatte, an der >Iskra< mitzuarbeiten
und ihr »mit allem Möglichen zu helfen«. - Die Lebensbahnen
zweier welthistorischer Persönlichkeiten begannen aufeinander zu-
zustreben . . .

In demselben Jahr 1902 vollendete Maxim Gorki sein Schauspiel


>Nachtasyl< (im Original: >Aus der Tiefe <), das Drama der Verdamm-
ten dieser Erde. Es wurde sofort nach Beendigung der Niederschrift
vom Moskauer Künstlertheater uraufgeführt; Stanislawski selbst
übernahm die Regie und die Hauptrolle. Financier der Aufführung
und Mitwirkender war übrigens der Großindustrielle Morosow, bei
dessen Arbeitern der junge Gorki einige Jahre früher gelernt hatte,
wie man einen Streik organisiert» Die Premiere hatte einen tumultua»
rischen Erfolg. Stanislawski erzählt in seinen Erinnerungen, wie der
über alle Maßen überraschte Autor, vom begeisterten Applaus des
Publikums achtzehnmal vor den Vorhang gerufen, voller Verwir-
rung dort erschien, die Zigarette noch zwischen die Zähne geklemmt
und völlig außerstande, sich zu verbeugen oder sonst eine vernünf-
tige Äußerung von sich zu geben. »Brüder .«, stotterte er, ver-
. .

legen lächelnd, und fuhr sich nervös mit den Fingern durch die wil-
den Haarsträhnen, »wißt ihr, das das ist äußerst unangenehm
. . . . . .

wahrhaftig .Ehrenwort! Was müßt ihr mich denn so angaffen?


. .

Ich bin kein Opernstar, keine Diva, keine Ballerina das ist schon . . .

eine Geschichte. Ach, weiß Gott, Ehrenwort .« Das Stück brachte


. .

den Durchbruch Gorkis zum Theater, binnen Jahresfrist ging es im


Triumphzug über die führenden Bühnen Europas. In Berlin wurde
es von Max Reinhardt
aufgeführt.
Im
>Nachtasyl< legte Gorki das Resümee seines ganzen bisherigen
Lebens nieder, »den Ertrag fast zwanzigjähriger Beobachtungen der
Welt derer, die auch einmal Menschen waren«. Gorki, 1868 als eltern-
loses Proletarierkind geboren, kam selbst aus dem tiefsten Grund
des Volkes ; keiner kannte das qualvolle Schicksal der Millionen von
Ausgebeuteten, Gestrandeten, Verfemten und Deklassierten so wie
er. Die endlosen Landstraßen, darüber die von der Industrialisierung
entwurzelten Bauern und Landarbeiter als »Barfüßler« wanderten -
die Ströme und Flußläufe mit ihren Dampfern und Kähnen, das
Treibgut der Zeit verspülend - die Elendsquartiere der großen
Städte, in denen ein getretenes Lumpenproletariat lichtscheu und
hoffnungslos dahinlebte das waren seine »Universitäten«. Als Lauf-
:

bursche, Hausknecht, Flurhüter, Tellerwäscher, als Küchenjunge


auf dem Schiff, Zeichner in einer Ikonenwerkstatt, Sammler von
Lumpen und Knochen und Singvogelfänger, als Bäckerlehrling,
Bierausträger, Theaterstatist, Chorsänger, Schreiber, Vagabund und
wer weiß was noch alles zog er die Wolga, den Don entlang, durch
die Ukraine, über die Krim und durch den Kaukasus, lernte er Ruß-
land und seine Menschen kennen, die Ärmsten der Armen vor allem,
und lernte sie Heben.
Jahrelang rang er um die Gestaltung dieser seiner Erlebnisse.
»Können Sie sich vorstellen, wie das ist?« sagte er zu Stanislawski,
der auf die Vollendung des Theaterstücks drängte, »sie stehen immer
um mich, diese Leute, drängeln und schieben sich, doch ich kann sie
nicht placieren, kann mich nicht zwischen ihnen zurechtfinden. Wahr-
haftig! Sie reden und reden, und was sie sagen, ist nicht einmal
schlecht, so daß es wirklich schade ist, sie unterbrechen zu müssen.
Weiß Gott, mein Ehrenwort!« In seinem Stück kehrten sie alle wie-
der, denen er begegnet war: der heruntergekommene Baron, der
dem verflossenen Reichtum, den Leibeigenen, den Pferden, den Kö-
chen nachtrauert, die Prostituierte, die sich nach ein bißchen Liebe
sehnt, der arbeitslos gewordene Schlosser, gesund, fleißig, zur Ar-

8
beit bereit, für den es doch keinen Weg nach oben mehr gibt, der
Schauspieler, dessen poetische Welt nur noch im Suff besteht, der
Dieb, der auf der sozialen Stufenleiter immer tiefer rutscht und als
Mörder endet ... Es war eine düstere, verborgene Welt des Leids
und des Elends, unter dem Parkett einer glanzvollen Gesellschaft
vegetierend, die Gorki beschwor. Mit dem >Nachtasyl< trat ein un-
heimliches Gespenst aus dem Untergrund, aus dem Unterbewußt-
sein der Gesellschaft auf die Bühne und warf einen Schlagschatten,
der mehr als alle sozialdemokratischen Proklamationen das Grauen
bevorstehender Umwälzungen ahnen ließ. Die zaristische Regierung
war so beunruhigt, daß sie Aufführungsbeschränkungen gegen das
Stück verhängte: Es durfte in der Provinz nur mit Einverständnis
der Gouverneure gespielt werden, die Gouverneure aber erhielten
den Geheimbefehl, die Genehmigung nach Möglichkeit nicht zu
erteilen.
Gorki warf in seinem Drama die Frage nach der Erlösung aus dem
Elend auf. Und er stellte zwei Wege einander gegenüber Da ist ein- :

mal der alte Luka, der Typus des Tolstojaners, ein sanfter Prediger
der Güte und des Mitleids, der als Trostspender durch die Asyle der
Verzweifelten zieht. Für jeden hat er eine den Kummer lindernde
Illusion bereit dem Mädchen rät er, nur ja an die Liebe zu glauben -
;

»Woran du glaubst, das gibt's ...«-, dem trunksüchtigen Schau-


spieler erzählt er von einer geheimnisvollen, wundertuenden Heil-
anstalt, und in dem gezeichneten Verbrecher erweckt er die Hoff-
nung auf ein alles wiedergutmachendes Neuland Sibirien. »Die
Wahrheit ist nicht immer gut für den Menschen nicht immer . . .

heilst du die Seele mit der Wahrheit .«, so rechtfertigt der Alte . .

seine Trostlügen und erzählt die Geschichte von dem Manne, der
sein Lebtag hoffnungsfroh und glücklich das »Land der Gerechten«
suchte - bis ihm ein Gelehrter bewies, daß es ein solches Land nicht
gibt da erhängte er sich.
:

In eigenartiger Polarität zu Luka, in Gegensätzlichkeit und wieder


Berührung, steht Satin, die zentrale Gestalt des Stücks. »Ein Schar-
latan soll der Alte sein?« fragt er die Kumpane. »Was heißt Wahr-
heit? Der Mensch ist die Wahrheit! Das hat er begriffen ... ihr aber
nicht Ich versteh' ihn ganz gut, den Alten ... Er hat wohl geflun-
!

kert aber es geschah aus Mitleid mit euch, weiß der Teufel Es
. . . !

gibt viele solche Leute, die aus Mitleid mit dem Nächsten lügen ...
ich weiß es, hab' darüber gelesen Sie lügen so schön, so begeistert, !

so wundervoll Es gibt so trostreiche, so versöhnende Lügen


1 . . .

Eine solche Lüge bringt es fertig, den Klotz zu rechtfertigen, der die
Hand des Arbeiters zermalmt und den Verhungernden anzu- . . .

klagen Ich - kenne die Lüge! Wer ein schwaches Herz hat
. . . . . .

oder wer sich von fremden Säften nährt - der bedarf der Lüge . . .

Jenem Courage ein, diesem leiht sie ein Mäntelchen


flößt sie Wer . . .

aber sein eigener Herr ist wer unabhängig ist und nicht vom
. . .

Schweiße der andern lebt - was braucht der die Lüge? Die Lüge ist
!!

die Religion der Knechte und Herren ... die Wahrheit - ist die Gott-
heit des freien Menschen!«
In dem berühmten Monolog am Ende des Stücks postuliert Satin
seine Philosophie mit aller Klarheit »Der Mensch kann glauben oder :

nicht glauben das ist seine Sache Der Mensch - ist frei ... er hat
. . . !

selbst für alles aufzukommen für seinen Glauben, seinen Unglauben, :

seine Liebe, seine Vernunft. Der Mensch trägt selbst die Kosten für
alles, und darum ist er - frei Der Mensch - ist die Wahrheit ! . . .

Was heißt überhaupt Mensch? Das bist nicht du, und nicht ich bin's,
und nicht sie sind es nein! Sondern du, ich, sie, der alte Luka,
. . .

Napoleon, Mohammed alle miteinander sind es (zeichnet in die


. . . !

Luft die Umrisse einer menschlichen Gestalt) Verstanden! Das ist


- etwas ganz Großes Das ist etwas, worin alle Anfänge stecken und
!

alle Enden Alles im Menschen, alles für den Menschen Nur der
. . . !

Mensch existiert, alles übrige - ist das Werk seiner Hände und seines
Gehirns Der M-ensch Einfach großartig So erhaben klingt das
! ! !

M-men-nsch! Man soll den Menschen respektieren! Nicht bemit-


leiden . .nicht durch Mitleid erniedrigen soll man ihn
. sondern . . .

respektieren Trinken wir auf das Wohl des Menschen, Baron Wie
! !

schön ist's doch, sich als Mensch zu fühlen! Ich bin ein ehe- . . .

maliger Sträfling, ein Totschläger, ein Falschspieler ... na ja! Wenn


ich auf der Straße gehe, gucken die Leute mich an, als war' ich der
ärgste Spitzbube ... sie gehen mir aus dem Wege ... sie starren hin-
ter mir her und öfter sagen sie zu mir: Halunke! Windbeutel!
. . .

Warum arbeitest du nicht? Arbeiten? Wozu? Um satt zu wer- . . .

den? (lacht laut auf) Ich habe die Menschen immer verachtet, die um
das Sattwerden gar zu besorgt sind. Nicht darauf kommt's an, Ba-
ron! Nicht darauf! Der Mensch ist die Hauptsache! Der Mensch
steht höher als der satte Magen!« Und als der Baron leise meint, daß
er sich manchmal vor der Zukunft fürchte, setzt Satin stolz hinzu:
»Dummes Zeug! Vor wem soll der Mensch sich fürchten?«
Einzelne Sätze des Satin-Monologs wurden zu geflügelten Worten
im Zitatenschatz der Kommunisten, aber man findet keine sowjeti-
sche Interpretation, die die Rede des Vagabunden ohne Kürzungen
und Verstümmelungen zitierte. Das ist begreiflich, denn Fragestel-
lung, Tendenz der Antwort, selbst Terminologie verraten nur zu
deutlich die Quelle, aus der der junge Gorki diese Weisheiten
schlürfte. Es ist eine Predigt von der Art Zarathustras. Viele Jahre
später hat Gorki selbst zu dem Vorwurf Stellung genommen, daß er
die Vagabunden idealisiert und ihnen Gedankengänge Nietzsches
unterschoben habe. Mit einer Gereiztheit, die sich wohl aus der Ver-
ärgerung erklärt, an eine Jugendsünde erinnert zu werden, wies er
die Behauptung zurück, er habe jemals das Lumpenproletariat ver-
herrlichen wollen, gab aber zu, daß er Motive der Nietzscheschen
Philosophie verarbeitet hat. »Ich glaube«, schrieb er in einem Auf-
satz, »ich war durchaus berechtigt, den >gewesenen Menschen < den
Anarchismus des Nietzscheanertums, den Anarchismus der >Besieg-
10
ten< beizugeben. Warum? Darum, weil die >gewesenen Menschern,
die das Leben aus dem mormalen Leben in die Nachtasyle geworfen
<

hat, und einige Grüppchen >besiegter< Intellektueller völlig klare


Symptome einer psychischen Verwandtschaft aufweisen. Hier habe
ich von dem Recht des Schriftstellers, das Material >zu Ende zu den-
ken <, Gebrauch gemacht . . . Zwischen den >gewesenen Menschen <

der Nachtasyle und den politisierenden Emigranten in Warschau,


Prag, Berlin, Paris sehe ich keinen anderen Unterschied als den for-
mal wörtlichen. Der Vagabund Promtow [aus der Erzählung >Der
Vagabund <] und der philosophierende Falschspieler Satin sind noch
immer lebendig, aber sie sind anders gekleidet und arbeiten in der
Emigrantenpresse, predigen die >Moral der Herren < und rechtferti-
gen in jeder Weise deren Dasein. Das ist ihr Beruf, ihr Amt. Die
Rolle, Lakai der Herren zu sein, befriedigt sie.«
Wir sehen, wie der alte Gorki mit einer eigentümlichen Lässigkeit
des Gedächtnisses, die wir bei ihm noch öfter bemerken werden,
versucht, die Aussage einer einst von ihm geschaffenen Gestalt zu
verdrehen, um sie seiner späteren negativen Auffassung von der Phi-
losophie Nietzsches anzugleichen. In Wirklichkeit revoltiert Satin
ja gerade mit Argumenten Nietzsches gegen eine »Moral der
Knechte und Herren«, gegen eine Ideologie, die ungerechte Zu-
stände durch schöne Worte zu bemänteln sucht. Es existiert auch
ein Brief von Gorki aus der Entstehungszeit des Stücks, in dem der
Dichter selbst schreibt, daß er seine eigenen Gedanken dem Satin in
den Mund gelegt habe, »weil außer Satin niemand da ist, der sie sa-
gen könnte, und weil sie bei niemand anderem besser und überzeu-
gender klingen würden«.
Natürlich kann man nicht sagen, daß Gorki zu irgendeiner Zeit
ein orthodoxer Anhänger Nietzsches gewesen sei. Aber der Einfluß
des Philosophen, dessen Spuren sich auch in vielen epischen Werken
des frühen Gorki nachweisen lassen, hat eine nicht zu unterschätzende
Rolle bei der Persönlichkeitsbildung des jungen Peschkow, bei sei-
ner Entwicklung vom romantischen Anarchismus zum Bolschewis-
mus gespielt und ist, so seltsam es klingen mag, sogar in die Ideologie
des Sozialistischen Realismus eingegangen. Gorki hat im zartesten
Alter unendlich Schweres durchgemacht, er wurde fast verschlungen
von einer Flut von Schmutz, Erniedrigung und Gemeinheit, dem
Morast in den Niederungen des russischen Lebens. Mit noch nicht
zwanzig Jahren unternahm er einen Selbstmordversuch; er schoß
sich in die Brust, was ihm für das ganze Leben eine kranke Lunge
einbrachte. »Es ist merkwürdig«, sagte später einmal Leo Tolstoj zu
ihm, »daß Sie trotzdem gut sind, obwohl Sie das Recht hätten,
schlecht zu sein. Ja, Sie könnten schon ein böser Mensch sein. Sie
sind stark, und das ist gut .« Daß Gorki nicht in dem Schlamm,
. .

der seine Jugend umspülte, unterging, daß er nicht in Zynismus und


Nihilismus verkam, dankte er seiner eisernen Willenskraft und den
romantischen Idealen, die er sich bewahrte, mochte das Leben um

11
ihn herum auch noch so widerwärtig sein. Er verstand es, sich
unter den unwirtlichsten Umständen, bei quälendem Hunger in die
poetische Welt der Bücher, die er irgendwo aufgetrieben hatte, zu
versenken und seinen Träumen nachzugehen. Seine dichterische
Laufbahn begann er erstaunlicherweise mit schwärmerischer, me-
lancholischer Lyrik. Sein erster Lehrer, der ukrainische Bauerndich-
ter Wladimir Korolenko, warf ihm vor: »Wenn das ein junges Mäd-
chen geschrieben hätte, das zu viele Verse von Musset gelesen
hat ., so würde ich ihr sagen: >Nicht übel! Aber heiraten Sie lie-
. .

ber < Daß aber so ein grimmiger Lulatsch wie Sie zarte Verse macht,
!

ist beinah eine Gemeinheit, jedenfalls ein Verbrechen . Sie sind


. .

Realist, nicht Romantiker. Realist!«


Diese romantische Note hat Gorki niemals aufgegeben. Wohl aber
verlor seine Romantik mit der Zeit der Reife ihren ätherischen Cha-
rakter und paßte sich den realen Bedingungen des Lebenskampfes an.
Durch seine politische Tätigkeit kam er mit der legendären Bewe-
gung der Narodnaja Wolja (»Volkswille«) in Berührung, mit der
auch der Dichter Korolenko sympathisierte. Die Narodniki, wie man
sie nannte, waren eine illegale revolutionäre Organisation von jungen
Intellektuellen, die durch Terroranschläge die Volksmassen »wek-
ken« wollten (ihren Attentaten fiel u. a. Zar Alexander II. zum Op-
fer). Sicher war es die Ideologie der Narodniki, in welcher die »Hel-
den«, die »Befreier« eine solche Rolle spielten, von der aus Gorki die
Brücke zu Nietzsche fand. Als ein Beispiel dieser Entwicklungs-
periode, in der revolutionäre und nietzscheanische Elemente ver-
schmolzen, sei das berühmte >Lied vom Falken < genannt, dessen
Schlußfolgerung lautet: »Im Wahn der Tapferen - liegt die Weis-
heit des Lebens Falke, du kühner Mannhaft im Kampfe bist du ver-
! !

blutet Aber es wird erstehen der Tag, da jäh deines heißen Herz-
. . .

blutes Tropfen feurig entbrennen: Funken im Dunst des Lebens,


entzünden tief sie in vielen tapferen Herzen Wahnwitz und Sehn-
sucht, Sehnsucht nach Licht und Freiheit! - Du bist nun tot! ...
Doch im Lied der Tapfern und Starken lebst du als Beispiel fort und
als stolzerWeckruf zum Licht, zur Freiheit Dem Wahn der Tapfe-
!

ren singen ein Lied wir ..."


Schon an diesem Zitat sehen wir, daß bei Gorkis Narodnikitum
weniger die Idee der Bauernrevolution als die der heroischen Tat des
einzelnen im Vordergrund stand. Er kannte die Mushiks und »Bar-
füßler« zu gut, als daß er sich über das russische Volk solche wirk-
lichkeitsfremden Illusionen gemacht hätte wie die Literaten und Stu-
denten in den großen Städten. Er versuchte Korolenko an Gestal-
ten aus dessen eigenen Werken klarzumachen, daß der Bauer nur ein
»Held für eine Stunde« sei, der wohl einmal eine edle Tat vollbrin-
gen kann, aber anschließend sein Weib halbtot prügelt und dem
Nachbarn den Schädel einschlägt, der vielleicht eine Volkserhebung
anzuzetteln vermag, aber hinterher alles versäuft und sich von Läu-
sen auffressen läßt. Gorki, der aus den Massen stammte, glaubte

12
.

nicht an einen revolutionären Elan der Massen, sondern an die Taten


kühner und willensstarker Menschen, wie er selbst einer war.
Im >Nachtasyl<, das ganz von dem Elitegedanken durchsetzt ist,
gibt es eine bezeichnende Stelle Satin erwähnt einmal, daß ihm eine
:

Weisheit des alten Luka besonders imponiert habe. Auf die Frage,
wozu eigentlich die Menschen lebten, habe der Alte geantwortet:
»Die Menschen? Ei, die leben um des Tüchtigsten willen! Da leben
zum Beispiel die Tischler, wollen wir annehmen - lauter elendes Volk
. und mit einem Male wird aus ihrer Mitte ein Tischler geboren
. . . .

solch ein Tischler, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat; allen ist
er über, kein anderer Tischler kommt ihm gleich. Dem ganzen Tisch-
lerhandwerk gibt er ein neues Gesicht sein eigenes sozusagen... . . .

und mit einem Stoß rückt die Tischlerei um zwanzig Jahre vorwärts
. Und so leben auch alle anderen
. . die Schlosser und die Schuh- . . .

macher und die übrigen Arbeitsleute auch die Bauern und so- . . . . . .

gar die Herren - nur um des Tüchtigsten willen Jeder denkt, er sei !

für sich selbst auf der Welt, und nun stellt sich's heraus, daß er für
jenen da ist für den Tüchtigsten! Hundert Jahre
. . . oder viel- . . .

leicht noch länger leben sie so für den Tüchtigsten - Alle, mein
. . . !

Lieber, alle leben einzig um des Tüchtigsten willen! Darum sollen


wir auch jeden Menschen respektieren Wissen wir doch nicht, . . .

wer er ist, wozu er geboren wurde, und was er noch vollbringen


kann Vielleicht wurde er uns zum Glück geboren ... zu großem
. . .

Nutzen . . .«
Gorki Thesen Nietzsches ins Soziale und
hatte eine eigene Art, die
Revolutionäre umzudenken. Diese Tendenz prägte auch seine Vor-
stellung vom Marxismus, als er sich von den Bauernrevolutionären
zu lösen und der Arbeiterbewegung zuzuwenden begann. Vergleicht
man mit dem >Nachtasyl< sein anderes Schauspiel >Die Kleinbürger <,
so kann man eine interessante Weiterentwicklung der Elite-Idee fest-
stellen. >Die Kleinbürger < wurden zwar als erstes Stück fertig und
kurz vor dem anderen aufgeführt, drücken aber in ihrer ganzen Kon-
zeption und Gedankenwelt ein späteres Entwicklungsstadium Gor-
kis aus als das >Nachtasyl<, das der Dichter ja schon sehr früh kon-
zipierte und mit dem er lange schwanger ging.
In den Kleinbürgern < stehen sich wieder die beiden Gruppen von
Menschen gegenüber: die Schwachen, Verängstigten, Schlechtweg-
gekommenen, die verzweifeln und resignieren, und die Starken,
Tüchtigen, Tapferen, die Kämpfer und Sieger, die ja zum Leben
sagen und sich ihrer Zukunft gewiß sind. Aber jetzt ist das keine
ethische Konfrontation mehr, sondern eine soziale Kleinbürger und :

Proletarier werden einander entgegengesetzt. An Stelle eines Satin


ist nun der Lokomotivführer Nil der Philosoph der Stärke. Sein

Beruf hat sich geändert, aber sonst hat er noch alle Züge des Gorki-
schen Heldenideals ein Herr auf seine Art, makellos und stolz, der
:

sich als Eroberer des Lebens, als Schöpfer aller Werte fühlt und alles
Schwache und Morbide verachtet, ein furchtloser und mitleidloser

*3
Zertrümmerer der alten Tafeln. »Siehst du«, sagt Nil, »ich liebe es
zum Beispiel leidenschaftlich, Eisen zu schmieden. Vor dir liegt eine
rote, formlose Masse, voll zorniger, sengender Glut ... Sie mit dem
Hammer zu bearbeiten - ist ein wahrer Genuß. Sie speit dich mit
ihrem zischenden, feurigen Speichel an, will dir die Augen ausbren-
nen, will dich blenden, dich mit Gewalt verjagen. Sie ist so voll Le-
ben, so prall . Und du formst mit weit ausholenden kräftigen
. .

Schlägen alles aus ihr, was du brauchst .« Das ist eine Allegorie,
. .

die nicht schwer zu deuten ist. Nirgendwo ist der Übergang vom
Nietzscheschen Übermenschen zum positiven Helden des Sozialisti-
schen Realismus so deutlich wie hier. In einem sowjetischen Kom-
mentar heißt es »Es besteht kein Zweifel, daß Nil nach der gesam-
:

ten Anlage seiner Persönlichkeit und nach seinen Überzeugungen zu


jeder Zeit und in jeder Lage auf Seiten der Bolschewiki stehen wird.«
Die aktivistische Tendenz, die Gorki auf die Bühne brachte, un-
terschied ihn von der gesamten vorhergehenden russischen Literatur,
dem Kritischen Realismus, der nur darstellen, analysieren und ent-
hüllen, nicht aber moralisieren und revolutionieren wollte. Auf-
schlußreich sind die Differenzen Gorkis mit seinen Lehrmeistern
und Freunden Tolstoj und Tschechow, denen er im übrigen, was
Welt- und Menschenkenntnis, literarisches Handwerk, Stil und der-
gleichen angeht, viel zu verdanken hat. Als die ersten Akte der >Klein-
bürger< vorlagen, schrieb Tschechow dem Autor eine Kritik, in der
er über die Figur des Nil ein hintergründiges Urteil fällte ». die : . .

Rolle des Nil, eine wundervolle Rolle. Sie muß etwa doppelt bis drei-
mal so lang werden, muß das Stück abschließen, zur Hauptrolle
werden. Machen Sie aber keinen Gegenspieler zu Pjotr und Tatjana
daraus« - den melancholischen Gestalten. »Er soll für sich stehen
und die beiden anderen auch. So sind es lauter wunderbare, groß-
artige Menschen, aber unabhängig voneinander. Wenn Nil sich
den Anschein gibt, als stände er über Pjotr und Tatjana, und von
sich selbst sagt, er wäre ein Teufelskerl, so geht ein Merkmal ver-
loren, das jeden unserer Arbeiter auszeichnet, nämlich die Beschei-
denheit. Er prahlt, er trumpft auf; dabei ist ohnehin zu sehen, was
für ein Mensch er ist. Mag er doch lustig sein, mag er
Spaße treiben,
und sei es vier Akte nach der Arbeit viel essen - das
lang, mag er
allein genügt schon, das Publikum für ihn zu gewinnen.« Gorki ant-
wortete, das Stück sei ihm in der Tat mißlungen, es sei »grob und
ungeschickt«, Nil durch »das Räsonieren verpatzt« usw. - änderte
aber nichts. Sie redeten offensichtlich aneinander vorbei. Tschechow,
der einmal über eine Arbeit von Gorki sagte, sie erinnere ihn an die
Predigt eines jungen Popen, eines bartlosen, der mit tiefer Stimme
das O betont .bezeichnete die fertigen >Kleinbürger< schließlich
. .,

als eine Schülerarbeit und behauptete, den letzten Akt überhaupt


nicht verstanden zu haben.
Andererseits hatte Gorki eine nicht viel positivere Meinung über
einige Werke Tschechows. Er äußerte sich über den berühmten

14
!

>Kirschgarten<: »Ich habe jetzt Tschechows Stück gesehen - beim


Lesen hat man nicht das Empfinden, daß es sich um ein großes Werk
handelt. Es enthält nichts Neues. Stimmungen, Ideen, soweit man
von Ideen reden kann, alles ist schon in früheren Stücken enthalten.
Immerhin - sehr schön; und selbstverständlich wird dem Publikum
von der Bühne her eine wehmütige Sehnsucht eingeflößt. Wonach
aber - das weiß ich nicht .« Und über Tschechows Dramen-
. .

gestalten schrieb er an einer anderen Stelle »Sie haben es versäumt,


:

rechtzeitig zu sterben, und jammern nun, ohne zu sehen oder gar zu


verstehen, was um sie her vorgeht, Schmarotzer, die keine Kraft mehr
haben, sich wieder am Leben festzusaugen . .«.

Am meisten opponierte Gorki natürlich gegen das Menschen-


ideal von Tolstoj und Dostojewski. »Der prachtvolle Spiegel der
russischen Literatur spiegelt aus irgendeinem Grunde nicht die Aus-
brüche des Volkszornes, jene klaren Anzeichen für sein Streben
nach Freiheit, wider. Sie gestaltete eine endlose Reihe kluger, aber
stammelnder und stummer Menschen ... Sie hat keine Helden ge-
sucht, sondern es vorgezogen, über Menschen zu schreiben, die
stark im Dulden waren, über sanfte, weiche Menschen, die vom
Paradies im Himmel träumten und das Leid schweigend ertrugen«,
bemerkte er, und ein andermal: »Das Leben ist Kampf, immer
Kampf! Aber nicht gegen sich, sondern für sich muß man kämpfen
. Warum soll ich meine Leidenschaften besiegen, wenn sie Waffen
. .

sind, wenn sie geschliffen und geschärft werden müssen, denn nur
mit ihnen kann man siegen.«
Einmal sagte er zu Tolstoj im Gespräch, daß er aktive Menschen
gut leiden möge, die gewillt seien, sich dem Bösen auf jede nur mög-
liche Weise, selbst unter Anwendung von Gewalt, zu widersetzen.
»Die Gewalt ist das größte Übel!« rief Tolstoj aus. »Wie wollen Sie
sich aus diesem Widerspruch lösen?« Und als Gorki auf die feindliche
Umwelt verwies, in der sich der Mensch doch durchzusetzen habe,
wehrte der Alte von Jasnaja Poljana ab »Daraus lassen sich äußerst
:

gefährliche Schlüsse ziehen Sie sind ein sehr fragwürdiger Sozialist


!

Ein Romantiker sind Sie . .«


.

Der Auseinandersetzung mit der unentschlossenen bzw. reaktio-


nären Haltung der Intellektuellen im Klassenkampf hat Gorki einen
großen Teil seines Werkes gewidmet; die meisten Dramen, die er in
seiner mittleren Schaffensperiode (dem Jahrzehnt vor dem ersten
Weltkrieg) schrieb, handeln davon: >Sommergäste<, >Kinder der
Sonne <, >Barbaren<, >Die Letzten <, > Sonderlinge^ >Die Sykows<.
Alle diese Stücke haben sich auf der Bühne nicht behaupten können,
sie sind nach dem Westen kaum gedrungen, da sie allzu spezifisch
im Milieu der vorrevolutionären russischen Intelligenz angesiedelt
und ganz von philosophischen Dialogen und Reflexionen über-
wuchert sind. Eine drastische Charakterisierung der intellektuellen
Daseinsweise, wie Gorki sie da angeprangert hat, gibt in den >Som-
mergästen< ein Dienstmann, allegorisch auf die Vorstellung eines
.

Liebhabertheaters anspielend: »Sie ziehen sich fremde Kleider an und


reden . allerhand Zeug, wie's ihnen in den Mund kommt
. . Sie . . .

schreien, laufen hin und her tun irgendwas


. . . ärgern sich über . . .

irgendwas kurz und gut, sie beschwindeln sich gegenseitig. Der


. . .

eine sagt Ich bin ein kluger Kopf


: oder Ich bin ein Pechvogel
. . . : . .

kurz, was gerade einem einfällt - das stellt er vor.«


Während Gorki seinen Lehrern Tschechow und Tolstoj bei aller
Kritik immer noch ehrfurchtsvoll entgegentrat, entlud er auf Dosto-
jewski seinen ganzen Zorn. Als das Moskauer Künstlertheater eine
Dramatisierung der >Dämonen< herausbrachte, schrieb er ein ge-
radezu haßerfülltes Pamphlet, in dem er den Dichter einen Reaktio-
när, Begründer des biologischen Nationalismus, einen rabiaten
Chauvinisten und Antisemiten, Prediger der Demut und Feind des
Fortschritts nannte - »unseren bösen Genius«. Das letzte in der
Reihe seiner vorrevolutionären Dramen über die Intelligenz, >Der
Alte<, zielte direkt gegen die »karamasowsche Seele«, gegen die
Ideenwelt Dostojewskis. Eine Schauspielerin des Kleinen Theaters
in Moskau berichtet über Gorkis persönliche Anteilnahme an der
Vorbereitung einer Aufführung » Alexe Maximowitsch las dem En-
: j

semble sein Schauspiel >Der Alte< vor. Das war am Tage im kalten
Zuschauerraum. Gorki hatte seinen Mantel über die Schulter ge-
hängt und las langsam und mit leiser Stimme. Er veränderte die
Stimme kaum merklich, aber wir sahen seine Helden vor uns, als
lebten sie. Nach dem Lesen und während der Proben fragte jeder von
uns Alexej Maximowitsch begierig über die Rolle aus, die er spielen
sollte. Er antwortete bereitwillig, überlegt und gründlich. Über den
> Alten < sagte er: >Ich habe mich bemüht, zu zeigen, wie abstoßend

es sein kann, wenn sich der Mensch in sein eigenes Leid versenkt und
allmählich glaubt, andere dafür quälen zu dürfen. Wenn ein solcher
Mensch wirklich glaubt, daß er dieses Recht gewonnen habe und daß
er ein auserwähltes Werkzeug der Rache sei, so verliert er damit je-
den Anspruch auf menschliche Achtung. <« Diese Äußerung Gorkis,
die in eine wesentlich spätere Entwicklungsphase gehört (das Stück
ist 1915 geschrieben, die erwähnte Aufführung fand 1919 statt), läßt

freilich schon einen neuen, bei ihm ganz ungewohnten Ton auf-
klingen In die Kritik an der Dekadenz mischt sich die Kritik an der
:

Selbstgerechtigkeit des bislang so geschätzten Ubermenschentums.


Damit Gorki von seinem Heldenideal abrückte, mußte er durch eine
bittere politische Lehre gehen - Begegnung und Bruch mit Lenin.

Die politische Aktivität Gorkis erreichte einen Höhepunkt in der


revolutionären Erhebung des Jahres 1905. Tage nach dem Pe- Am
tersburger Blutsonntag, an dem die Polizei eine Bittschriftprozession
zusammengeschossen hatte, veröffentlichte der Dichter eine Prokla-
mation gegen die zaristische Regierung. Er wurde verhaftet und in
die berüchtigte Peter-Paul-Festung gebracht. Auf Grund einer Pro-
testwelle aus ganz Europa (an der sich u. a. Curie, Rodin, Monet,

16
Jaures beteiligten) setzte man ihn gegen eine Kaution wieder auf
freien Fuß. Er arbeitete an der ersten legalen marxistischen Zeitung
Rußlands >Nowaja Shisn< (Neues Leben) mit, für die auch Lenin
schrieb. Während des Dezember- Aufstandes in Moskau nahm er an
der illegalen revolutionären Arbeit teil in seiner Wohnung wurden
;

Bomben für die Arbeiterkampfgruppen hergestellt, und er sammelte


große Summen zum Kauf von Waffen. Um einer erneuten Verhaf-
tung zu entgehen, ging er 1906 ins Ausland; die Partei schickte ihn
auf Agitationsreise durch Europa und Amerika, um Geld für die
russische Revolution zu sammeln. Diese Mission war aber nicht
sehr erfolgreich, er kehrte enttäuscht zurück und ließ sich auf Capri
nieder, um seine Lungenkrankheit zu kurieren. Er vollendete zwei
Werke, in denen er seine revolutionären Erlebnisse gestaltet hat den
:

Roman >Die Mutter < und das Drama >Die Feinde <, die als die ersten
klassischen Werke des Sozialistischen Realismus bezeichnet werden.
Von dem Schauspiel >Feinde< können wir am besten einen Ein-
druck geben, wenn wir zwei kritische Stimmen zu Worte kommen
lassen. In dem Bericht der russischen Zensur hieß es: »In diesem
Stück wird die unversöhnliche Feindschaft zwischen Arbeitnehmern
und Arbeitgebern äußerst klar behandelt. Die Erstgenannten werden
als standhafte Kämpfer dargestellt, die bewußt auf das vorgezeich-
nete Ziel hinsteuern - Vernichtung des Kapitals -, die anderen wer-
den als engstirnige Egoisten gezeigt. Übrigens ist es nach den Wor-
ten einer der handelnden Personen vollkommen gleichgültig, wie
die Charaktereigenschaften des Unternehmers sind. Es genügt, daß
er ein Unternehmer ist, um von den Arbeitern als Feind angesehen
zu werden. Durch die Frau des Bruders des Fabrikdirektors, Tat-
jana, sagt der Verfasser den Sieg der Arbeiter voraus. Das ganze
Stück ist reine Propaganda gegen die besitzenden Klassen, weshalb
es zur Aufführung nicht zugelassen werden kann.«
Während über Rußland eine Welle der Reaktion hinwegging,
wurden >Die Feinde < bereits 1906 in Berlin aufgeführt. Der Kritiker
Kerr, weiß Gott kein Bolschewik, schrieb darüber: »Geht hinein,
seht dieses Stück. Ihr werdet zwei Akte lang warten; ihr werdet den
Kopf schütteln ihr werdet zwei Akte lang sprechen >Nun, selbst
; :

zugegeben, daß dem so ist . .<; ihr werdet fragen: >Kommt es


.

jetzt? <; ihr werdet vielleicht Ungeduld empfinden - aber gegen


Schluß werdet ihr, wenn euer Fühlen dem meinen verwandt ist, er-
schüttert sein; ihr werdet auf die Bühne springen wollen und den
Leuten die Hand drücken. Denn in einer einzigen schlichten Gruppe
seht ihr, was heute tausendfach und jeden Tag in diesem Lande ge-
schieht - und was fortgeschehen wird, bis die armen Helden, die
Namenlosen, ihr armes, langsames, lastvolles, dumpfes Riesenwerk
erblutet, erblutet, erkerkert und erschmachtet haben: das Aufrücken;
die Knebelung der Verbrecher, von denen sie im Kohlenraum gehal-
ten werden das Atmen in etwas menschlicherer Luft und das Recht,
; ;

einen Wachthabenden mit auf die Kommandobrücke zu senden des

*7
::

Schiffes, das ihr Leben ist . Nein, nein das Stück ist nicht bewe-
. . :

gend. Sondern die Revolution ist bewegend, die es darstellt. Nicht


die Kunst wirkt auf mich, sondern das, was auf Gorki stärker wirken
muß als die Kunst.«
Im Mai des Jahres 1907 trafen sich Lenin und Gorki in London
auf dem V. Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Ruß-
lands - der eine als Führer der linken, bolschewistischen Fraktion
der Partei, der andere als Gast, als »Delegierter mit beratender
Stimme«. In seinen Erinnerungen gab Gorki später eine in mancher
Hinsicht aufschlußreiche Charakteristik ihrer damaligen Begegnung
»Auch jetzt noch sehe ich deutlich die kahlen Wände der in ihrer
Dürftigkeit komisch wirkenden Holzkirche am Rande Londons vor
mir, die Spitzbogenfenster des kleinen, schmalen Raumes, der dem
Klassenzimmer einer armseligen Schule glich. Nur von außen er-
innerte das Gebäude an eine Kirche, im Innern dagegen fehlten völ-
lig Gegenstände des Kults, und sogar die niedrige Kanzel des Predi-
gers dominierte nicht in der Tiefe des Raumes, sondern befand sich
am Eingang zwischen den Türen.
Bis dahin war ich Lenin nicht begegnet, auch habe ich nicht so viel
von ihm gelesen, wie ich es hätte tun sollen. Doch das, was ich gele-
sen hatte, und ganz besonders die begeisterten Schilderungen der
Genossen, die ihn persönlich kannten, all das übte auf mich eine
große Anziehungskraft aus. Als man uns bekannt machte, drückte
er fest meine Hand, tastete mich, wie um mich zu ergründen, mit
scharfem Blick ab und sagte scherzend, als wären wir alte Bekannte
>Das ist gut, daß Sie gekommen sind Sie sind doch ein Freund von
!

Raufereien? Hier wird's eine große Rauferei geben. <


Ich hatte mir Lenin anders vorgestellt. Ich vermißte etwas an ihm.
Er schnarrte das r, die Hände unter die Weste in die Achselhöhlen
geschoben, steht er stutzerhaft da. Und überhaupt - der ganze
Mensch ist irgendwie zu schlicht, man verspürte an ihm nichts von
einem >Führer<. Ich bin Schriftsteller. Von Berufs wegen bin ich ver-
pflichtet, auf Einzelheiten zu achten. Diese Pflicht ist zu einer manch-
mal schon lästigen Gewohnheit geworden.
Als man mich G. W. Plechanow [Exponent des rechten, mensche-
wistischen Flügels der Partei] >vorführte<, stand er vor mir, die
Arme über die Brust verschränkt, mit strengem, etwas gelangweil-
tem Ausdruck, so wie ein von seinen Pflichten ermüdeter Lehrer auf
einen weiteren neuen Schüler blickt. Er sagte mir die recht gewöhn-
liche Phrase: >Ich bin ein Verehrer Ihres Talents. < Sonst sagte er
nichts, was in meinem Gedächtnis haftengeblieben wäre. Und wäh-
rend des ganzen Kongresses hatten weder er noch ich den Wunsch,
miteinander offen und herzlich zu reden. Aber dieser kahlköpfige,
stämmige, kräftige Mensch, der das r nicht richtig aussprechen
konnte, fing sofort an, von den Mängeln des Buches >Die Mutter <
zu sprechen, dabei rieb er mit der einen Hand seine sokratische Stirn,
mit der anderen zerrte er an meinem Arm, und seine merkwürdig le-

18
bendigen Augen blitzten freundlich es erwies sich, daß er das Ma-
;

nuskript gelesen hatte. Ich sagte, ich hätte mich beeilt, das Buch zu
schreiben, und ehe ich Zeit hatte zu erklären, warum, nickte Lenin
zustimmend und gab selbst die Erklärung: Ich hätte gut daran ge-
tan, mich zu beeilen, das Buch sei notwendig, viele Arbeiter hätten
an der revolutionären Bewegung unbewußt, spontan teilgenommen
und würden jetzt >Die Mutter < mit großem Nutzen lesen.
>Ein sehr aktuelles Buch < - das war sein einziges, für mich aber
!

äußerst wertvolles Kompliment.«


Lenin hatte, wie aus Gorkis Darstellung hervorgeht, eine höchst
seltsame Art, an Fragen der Literatur heranzugehen. Er taxierte den
Wert von Büchern nach ihrem politischen Nutzeffekt. Von diesem
Standpunkt aus hat er mehr als ein halbes Dutzend Aufsätze über
Tolstoj geschrieben, in denen er das Lebenswerk des Dichters fein
säuberlich in seine einzelnen politischen Ingredienzien zerlegte.
Nicht, daß er für die eigentlich künstlerische Wirkung der Literatur
empfindungslos gewesen wäre - da unterschied er sich sehr von den
Stalin und Shdanow, welche die von ihm eingeleitete Entwicklung
zu Ende bringen sollten -, aber gerade weil er die Macht der Literatur
an sich selbst verspürte, schien es ihm unerläßlich, sie in den Dienst
zu nehmen. Er fühlte sich ganz und gar als Generalstäbler der Re-
volution, dem die Aufgabe gestellt ist, alle nur greifbaren Elemente
der ihn umgebenden Welt - Politik, Ökonomie, Wissenschaft, Phi-
losophie, Moral,Kunst usw. - darauf zu untersuchen, wie sie am
Hebelarme der revolutionären Machtergreifung verwandelt
besten in
werden könnten. Und er meisterte die Aufgabe mit ebensoviel Ge-
waltsamkeit wie dialektischem Genie.
Seine Ansichten über Literatur legte er in dem Aufsatz Partei-
organisation und Parteiliteratur < nieder, der 1905 in der von Gorki
mitbegründeten Zeitschrift >Nowaja Shisn< veröffentlicht wurde.
»Die Literaten müssen unbedingt den Parteiorganisationen bei-
treten«, schrieb Lenin mit Nachdruck. »Die Verlage und Lager, die
Läden und Lesehallen, die Bibliotheken und Buchhandlungen - alles
das muß im Dienste der Partei stehen und ihr zur Rechenschaft ver-
pflichtet sein.« Man müsse »dem altherkömmlichen Prinzip: der
Schriftsteller schreibt irgendwas, und der Leser liest irgendwas, je-
den Boden entziehen«. Die Literatur habe »das letzte Wort des re-
volutionären Denkens und die Erfahrung des Proletariats« zu ver-
körpern. Was nun in diesem Zusammenhang die Freiheit der Litera-
tur angehe, so meinte Lenin, stünde' es erstens ja jedem frei, außer-
halb des Rahmens der Partei »zu faseln, was ihm paßt« (eine zynische
Äußerung, deren ganze Tragweite sich erst in dem Moment offen-
barte, als die Partei nach der Revolution den gesamten Staat und da-
mit alle Publikationsmittel verschluckte), und zweitens sei die so-
genannte Freiheit des bürgerlichen Künstlers sowieso nur die mas-
kierte Abhängigkeit vom Geldsack, von der Korruption, vom Aus-
gehaltenwerden.

*9
Unter dem Einfluß der russischen revolutionären Tradition (Be-
linski, Tschernyschewski, Dobroljubow und Pissarew), für die die
Kunst immer nur eine Fortsetzung der Politik mit anderen, den Zu-
griffen der Zensur weniger ausgesetzten Mitteln war, vollzog Lenin
mit dem Postulat einer Parteiliteratur einen - ihm selbst vielleicht
nicht einmal bewußten - Bruch mit dem klassischen Marxismus, wie
er es ja auch auf anderen Gebieten tat. Für Marx und Engels, Per-
sönlichkeiten von umfassender humanistischer Bildung, wäre die
Idee, die Literatur unter Parteibefehl zu stellen, ganz unvorstellbar
gewesen. Alle Lieblingsdichter von Marx - Äschylos, Shakespeare,
Goethe, Scott, Balzac, E. T. A. HofTmann - waren keine Revolu-
tionäre. In einem der Briefe von Engels, die man heranziehen muß,
weil die Väter des Marxismus es für ganz unnötig erachteten, eine
eigene, politisch fundierte Ästhetik zu schaffen, heißt es: »Ich bin
weit davon entfernt, darin einen Fehler zu sehen, daß Sie nicht einen
waschechten sozialistischen Roman geschrieben haben, einen Ten-
denzroman, wie wir Deutschen es nennen, um die sozialen und po-
litischen Anschauungen des Autors zu verherrlichen. Das habeich
keineswegs gemeint. Je mehr die Ansichten des Autors verborgen
bleiben, desto besser für das Kunstwerk .« Und an anderer Stelle:
. .

». . . ich meine, die Tendenz muß aus der Situation und Handlung
selbst entspringen, ohne daß ausdrücklich darauf hingewiesen wird,
und der Dichter ist nicht genötigt, die geschichtliche zukünftige
Lösung der gesellschaftlichen Konflikte, die er schildert, dem Leser
in die Hand zu geben.«
Der große Theoretiker des Marxismus in Rußland war Plechanow,
den ursprünglich auch Lenin als seinen Lehrmeister anerkannte. Ge-
treu den Auffassungen von Marx und Engels sah Plechanow in der
Kunst wohl eine Widerspiegelung gesellschaftlicher Verhältnisse,
aus der man gewisse politische Schlüsse zu ziehen vermag, lehnte es
aber ab, sie als Instrument der Parteipolitik zu betrachten »Die wis-
:

senschaftliche Ästhetik macht der Kunst keinerlei Vorschriften; sie


sagt ihr nicht: Du mußt dich an diese und jene Regeln oder Beispiele
halten. Sie beschränkt sich bescheiden auf die Beobachtung dessen,
wie die verschiedenen Regeln und Beispiele entstehen, die zu ver-
schiedenen historischen Epochen geherrscht haben ... sie findet alles
gut zu seiner Zeit ... sie ist objektiv wie die Physik.«
Über Gorkis >Feinde< schrieb Plechanow eine sehr ausführliche,
gründliche und kluge Kritik. Er ging bei seiner Untersuchung von
der auffälligen Tatsache aus, daß im Mittelpunkt des Stücks nicht
ein einzelner, strahlender Held, sondern eine ganze Plejade ein-
facher, kraftvoller und disziplinierter Revolutionäre steht - eine bei
Gorki ja völlig neue Erscheinung, die unter dem unmittelbaren Ein-
druck der Arbeitererhebung von 1905, deren künstlerischer Reflex
das Schauspiel ist, zustande kam. Plechanow folgerte: »Der Frei-
heitskampf des Proletariats ist eine Massenbewegung. Darum ist
auch die Psychologie dieser Bewegung eine Psychologie der Masse.

20
Natürlich besteht die Masse aus Einzelpersonen, und die Einzel-
personen sind einander nicht identisch. An der Massenbewegung
nehmen Magere und Dicke, Kleine und Große, Blonde und
Schwarzhaarige, Ängstliche und Kühne, Schwache und Starke,
Zarte und Robuste teil. Aber die Individuen, die die Masse hervor-
bringt, die ihr eigenes Fleisch und Blut sind, stellen sich ihr nicht
gegenüber - wie sich die Helden aus dem bürgerlichen Milieu so
gern dem gemeinen Haufen gegenüberstellen -, sondern sind sich
bewußt, daß sie ein Teil der Masse sind, und es ist ihnen um so woh-
ler zumute, je deutlicher sie spüren, wie eng sie mit ihr verbunden
sind ... Je mehr sich die Einzelpersonen, welche die Masse bilden, in
ihren Anstrengungen zusammenschließen, desto wahrscheinlicher
wird der Sieg .« . .

Plechanow übertrug nun diese Erkenntnis aus dem Drama


>Feinde< auf die Differenzen zwischen Menschewiki und Bolsche-
wiki: »Wie die Zeitumstände auch sein mögen, die Tatsache steht
fest, daß der intellektuelle < mehr dazu neigt, seine Hoffnung auf die
Persönlichkeit < zu setzen, der klassenbewußte Arbeiter aber - auf
die Masse . Die Revolutionäre aus dem bürgerlichen Milieu lassen
. .

sich sehr gern von übertriebenen Hoffnungen irreführen. Sie brau-


chen diese Hoffnungen wie die Luft zum Atmen. Ihre Energie wird
manchmal gerade nur durch solche Hoffnungen aufrechterhalten. Die
lange, mühsame Arbeit der systematischen Einwirkung auf die Mas-
sen erscheint ihnen direkt langweilig; sie vermissen an ihr Leiden-
schaft und Heldentum. Und solange die proletarische Bewegung
ihrem Einfluß unterworfen ist, wird sie selbst halb und halb von
dem romantischen Optimismus angesteckt ... Es ist interessant, daß
Gorki, der in der >Nowaja Shisn< schrieb, in dieser Hinsicht offenbar
selbst sehr stark unter den Einfluß der Intelligenz geriet. Die Taktik
der >Bolschewiki< erscheint ihm als die leidenschaftlichste < und >he-
roischste<. Wir wollen hoffen, daß sein proletarischer Instinkt ihm
früher oder später das Falsche jener taktischen Methoden offenbart,
die Engels schon Anfang der fünfziger Jahre so treffend als revo-
lutionäre Alchimie < bezeichnet hat.«
Auf dem Londoner Parteitag schieden sich die Geister. Es war
nur natürlich, daß Gorki sich zu Lenin und den Bolschewiki hin-
gezogen fühlte, die seiner ganzen geistigen Konzeption am meisten
entgegenkamen. Der Roman >Die Mutter < und das Drama >Die
Feinde waren Sonderfälle, Produkte einer historischen Stunde, wel-
<

che von Gorki zwar geschildert und gestaltet, aber noch längst nicht
philosophisch verarbeitet worden war. Mit der Emigration verlor
der Dichter den direkten Kontakt mit der Arbeiterbewegung wieder;
die Werke von 1906 blieben die einzigen seines Lebens, in deren
Mittelpunkt er Industriearbeiter stellte. Er war noch lange kein kon-
sequenter Marxist geworden, sondern träumte davon, das Rationale
des Marxismus mit dem Emotionalen der Narodniki zu vereinen. Die
Leninsche Modifikation des Marxismus schien seinen Vorstellungen

21
nahezukommen. Vieles, was ihm an den Narodniki und an Nietzsche
teuer geworden war, kehrte in Lenins Konzeption wieder. Die Auf-
fassung von der Partei als einer klassenlosen Avantgarde von Berufs-
revolutionären - entsprach das nicht der alten Idee der Elite? Der
voluntaristische Zug, die Tendenz zum Putschismus und zur revo-
lutionären Romantik, zur Intoleranz und Bevormundung der Klasse
und Masse - das alles, was die Bolschewiki von der marxistischen Ar-
beiterbewegung Europas unterschied, traf bei Gorki damals auf ver-
wandte Reminiszenzen und Sehnsüchte, die eine harte Jugend und
ein auswegloses Milieu in ihm erweckt hatten. Auch Lenins Auffas-
sung von der Aufgabe der Literatur, Partei zu ergreifen und politi-
sche Ideale zu propagieren, stimmte weitgehend mit der Meinung
Gorkis überein, die wir in seiner Polemik mit Tschechow, Tolstoj
und Dostojewski kennengelernt haben. Es mußte für ihn, der sich
über eine mangelnde Anerkennung seiner künstlerischen Fähigkei-
ten nie zu beklagen hatte, sehr schmeichelhaft sein, von einem pro-
minenten Mann wie Lenin nun auch den politischen Nutzen seiner
Arbeit, der ihm so viel mehr bedeutete, bestätigt zu bekommen.
Wenn man die Erinnerungen Gorkis an die Londoner Begegnung
unter die Lupe nimmt, kann man erstaunliche tiefenpsychologische
Entdeckungen machen. Sowohl das, was er sagt, wie das, was un-
gesagt bleibt, hat seine Bedeutung. Schon der Irrtum, es sei das erste
Zusammentreffen mit Lenin gewesen, ist bemerkenswert. In Wirk-
lichkeit waren die beiden schon anderthalb Jahre früher in Peters-
burg zusammengetroffen. Aber der Eindruck, den Lenin auf dem
Parteitag machte, der des energischen, sprühenden Parteiführers in
Aktion, stellte die Erinnerung an die vorhergehende persönliche Be-
kanntschaft völlig in den Schatten. Wenn Gorki ausdrücklich be-
tont, Lenin habe nicht wie ein »Führer« gewirkt, so sieht das einem
Ablenkungsmanöver auffallend ähnlich. Natürlich hatte Lenin nichts
von der prätentiösen Heldenpose eines Nil, der eher einem Backfisch-
Ideal entsprach. Wie sehr dennoch persönliche Faszinationskraft im
Spiele war, spürt man aus der Beschreibung Lenins, die Gorki in
seinen Memoiren gibt »Mich entzückte der in ihm so ausgesprochen
:

verkörperte Wille zum Leben und sein tätiger Haß gegen die Ab-
scheulichkeiten des Daseins. Ich freute mich am jugendlichen Wage-
mut, mit dem er alles erfüllte, was er tat, und ich bewunderte seine
übermenschliche Arbeitskraft. Seine Bewegungen waren leicht, ge-
wandt, und die sparsamen, aber starken Gesten harmonierten durch-
aus mit seiner Redeweise, die gleichfalls mit Worten kargte, aber
überreich war an Gedanken. Und in seinem etwas mongolisch ge-
schnittenen Gesicht glühten und funkelten die scharfen Augen eines
unermüdlichen Kämpfers gegen Lüge und Elend des Daseins, zu-
gekniffen, zwinkernd, ironisch lächelnd oder zornig blitzend. Der
Glanz dieser Augen machte seine Rede noch zündender und klarer.
Manchmal schien es, als sprühe die unbändige Energie seines Geistes
wie Funken aus diesen Augen, als leuchteten seine Worte in der Luft,

22
geladen mit dieser Energie. Seine Worte erzeugten stets das phy-
sische Empfinden unumstößlicher Wahrheit - und obwohl diese
Wahrheit für mich oft nicht annehmbar war, konnte ich mich doch
dem Einfluß ihrer Wucht nicht entziehen.« In der Tat, das war ganz
das Heldenideal, das die Narodniki und Nietzsche in Gorkis Seele
geformt hatten.
Plechanow, der Typus des Gelehrten und geistigen Parteiarbei-
ters, entsprach diesem Ideal nicht. Gorki geht in seinen Erinnerungen
sehr unredlich und unfair gegen ihn vor. Es ist einfach nicht wahr,
daß Plechanow nur eine »recht gewöhnliche Phrase« für ihn übrig
gehabt hätte. Zur gleichen Zeit, da Lenin ein paar Bemerkungen über
den politischen Nutzen der >Mutter< von sich gab, schrieb sein men-
schewistischer Rivale gründliche ästhetisch-ideologische Analysen
über diesen Roman wie über das Schauspiel >Feinde<. Plechanow ver-
ehrte Gorki tief und aufrichtig - aber als Dichter, nicht als Propagan-
disten. Er riet ihm, den Marxismus besser zu studieren, damit er er-
kenne, wie wenig sich »die Rolle des Verkünders, d. h. eines Men-
schen, der vorzugsweise die Sprache der Logik spricht, für den
Künstler eignet, . .der vor allem in der Sprache der Bilder zu spre-
.

chen hat«. Gorki kannte Plechanows Kritiken recht gut, was eine
weitere Verschleierungsmanipulation seiner Erinnerungen verrät.
Auf den paar Seiten, die dem Londoner Parteitag gewidmet sind,
wird mehr als ein halbdutzendmal und meist völlig unmotiviert dar-
auf angespielt, daß die bolschewistische Fraktion die der Arbeiter
gewesen sei (eben das, was Plechanow in seiner Kritik der >Feinde<
bestritten hatte): »die bolschewistischen Arbeiter ... die Arbeiter
neben und hinter Lenin die Arbeiter auf den Bänken der Bolsche-
. . .

wiki . .« usw. usf. In Wirklichkeit waren natürlich die Wortführer


.

beider Fraktionen Intellektuelle, wie es bei einem so rückständigen


Land auch nicht anders zu erwarten ist, doch hatten die Menschewiki
bis ins Jahr 1917 den größten Einfluß auf die Arbeiterschaft, wäh-
rend die Bolschewisten sich vornehmlich auf die Berufsrevolutionäre
orientierten.
Die Londoner Begegnung war der Höhepunkt in der Zusammen-
arbeit zwischen Lenin und Gorki. Für den Parteichef war der Dichter
ein Talent, das »der Arbeiterbewegung so gewaltigen Nutzen ge-
bracht hat und ihr noch so viel Nutzen bringen wird«, und er gab
sich alle Mühe, ihn bei der Stange zu halten. »Was macht er?« fragte
er einen seiner Funktionäre. »Beteiligt er sich an der literarischen
Arbeit der örtlichen Organisationen? ... Es ist sehr, sehr gut, daß
Gorki mit uns ist.« An den Kulturspezialisten der Partei, Luna-
tscharski, schrieb er voller Aufmerksamkeit für den Dichter: »Wenn
Sie der Meinung sind, daß wir der Arbeit Alexej Maximowitschs
nicht schaden, indem wir ihm die reguläre Parteiarbeit aufbürden -
die Parteiarbeit gewinnt dadurch eine Menge -, so bemühen Sie sich,
!

das in die Wege zu leiten.« Er zog den stets willigen Gorki zu allen
möglichen literarpolitischen Aufgaben heran. Sein Rat mutet uns

23
heute zuweilen kurios an, wurde aber von Gorki stets beherzigt. Ein-
mal sagte er: »Sie sollten ihre Erfahrung nicht in kleinen Erzählun-
gen verzetteln, für Sie ist es an der Zeit, sie in einem Buch, in irgend-
einem großen Roman niederzulegen.« Ein andermal: »Für ein dickes
Buch ist jetzt nicht die Zeit, vom dicken Buch nährt sich die Intelli-
genz . wir brauchen eine Zeitung, Broschüren
. . , wir müßten
. . . ,

Zehntausende, Hunderttausende von Flugschriften unter die Massen


bringen .« Als Gorki ihm die Absicht auseinandersetzte, einen
. .

großen Familienroman zu schreiben, meinte Lenin »Nein, das muß


:

man nach der Revolution schreiben, jetzt aber wäre etwas in der Art
der >Mutter< vonnöten.« Und setzte hinzu: ». .ich sehe nicht, wo-
.

mit Sie den Familienroman abschließen wollen. Die Wirklichkeit bie-


tet ja kein Ende. Nein, das muß nach der Revolution geschrieben wer-
den . .« Gorki bemerkte dazu später: »Ein Ende des Buches sah
.

selbstverständlich auch ich selbst nicht.« Lenin war freilich viel zu


klug und zu taktvoll, um dem Dichter direkte Vorschriften zu
machen.
Dennoch kam es zwischen den beiden in zunehmendem Maße zu
Differenzen, die aber weniger künstlerischer als weltanschaulicher
Natur waren. Einige führende bolschewistische Intellektuelle, die
sich um die Parteischule auf Capri gruppierten, an der Spitze Bog-
danow, Lunatscharski und Gorki, hatten die Leninsche Ummode-
lung des Marxismus konsequent zu Ende gedacht und ihr eine philo-
sophische Grundlage zu geben versucht. Sie führten z. B. den »Em-
piriokritizismus« von Mach, eine Spielart des Positivismus, in die
revolutionäre Ideologie ein. Und Gorki entwickelte seinen Kultus
der Persönlichkeit zu einer Vergöttlichung des Menschen weiter, zu
einer diesseitigen Religion. Der Mensch als Gott und Gottschöpfer -
da finden wir wieder Nietzsche-Gedanken par excellence. Lenin
selbst sah in solchen Reformversuchen weniger eine Frage der
Theorie - so glänzend er auch die philosophische Argumentation
handhabte - als der Praxis. Er fragte nüchtern: Was gewinnen wir
bei dem Tausch? Als sich dann Plechanow anschickte, den ortho-
doxen Marxismus gegen die bolschewistischen »Gottschöpfer« zu
verteidigen, sah auch Lenin sich gezwungen einzugreifen, weil er
fürchtete, bei offen eingestandenem Bruch mit Marx würden die
Bolschewiki die Sympathien der Arbeiter ganz verlieren. Er schlug
mit der ihm eigenen Energie dazwischen.
»Ich weiß, Alexej Maximowitsch«, erklärte er kategorisch beim
Besuch auf Capri, »Sie hoffen auf die Möglichkeit meiner Aussöh-
nung mit den Machisten, obwohl ich Ihnen brieflich im voraus mit-
geteilt habe: es ist unmöglich. Machen Sie also keine Versuche.« Als
Gorki in einem Aufsatz den Unterschied darzulegen suchte zwischen
der passiven, hinnehmenden Gottsucherei Dostojewskis und seinem
eigenen, aktiv und mobilisierend gemeinten Gottschöpfertum,
meinte Lenin, von seinem Standpunkt aus vollkommen logisch:
»Die Gottsucherei unterscheidet sich von der Gottbildnerei oder
Gottmacherei oder Gottschöpfung usf. keineswegs mehr, als sich
ein gelber Teufel von einem blauen unterscheidet.« Nach der Affäre
von Capri, die ihre im Grunde doch sehr verschiedene Weltanschau-
ung offenbarte, lebten sich Lenin und Gorki politisch immer mehr
auseinander, wenn sie auch persönlich und brieflich in einem gewis-
sen Kontakt blieben. Der Dichter trennte sich von der Partei. Die
Krise kommt in dem deutlichen Wort Gorkis zum Ausdruck: »Ich
habe eine geradezu organische Abneigung gegen Politik und bin ein
sehr fragwürdiger Marxist.«
Nach und nach entdeckte der Dichter an Lenin jene Züge des
Übermenschen, die er als leiderfahrener Humanist verabscheute; er
schrieb, auf Lenins adlige Herkunft anspielend: »Als sehr begabter
Mensch besitzt er alle >Führerqualitäten <, vor allem die nötige
Morallosigkeit, die er für diese Rolle und die Verachtung des Lebens
der breiten Volksmassen als echter Barin [Herr] braucht. Lenin ist
ein >Führer<, ein russischer Barin, er besitzt die moralischen Quali-
täten dieser untergehenden Herrenklasse.« Und aus dem Unter-
bewußtsein taucht bei Gorki jenes Bild wieder auf, das seinerzeit
sein Nil beschworen hat - nur jetzt kritisch empfunden: »Für die
Leninisten ist die Arbeiterklasse das, was für den Metallfachmann
das Erz ist .« Im Jahre 1917 wandte sich der Dichter - welche
. .

Wendung! - ebenso wie Plechanow gegen die »bolschewistische


Hysterie«. In seiner Zeitschrift >NowajaShisn<nahm er temperament-
voll gegen die bolschewistischen Anschläge Stellung, die demokra-
tische Republik zu stürzen »Die breiten Schwingen unserer jungen
:

Freiheit wurden mit unschuldigem Blut befleckt. Es ist verbreche-


risch und nichtswürdig, einander zu töten, jetzt, da wir alle das herr-
liche Recht haben, ehrenhaft zu argumentieren und verschiedener
Meinung zu sein.« Er gab oppositionellen Bolschewiki wie Sino-
wjew und Kamenew in seinem Organ Raum, gegen Lenins Putschis-
mus zu schreiben.
Nach der Oktoberrevolution erklärte er voller Empörung »Lenin, :

Trotzki und ihre Anhänger sind schon angesteckt von dem verder-
benden Gift der Macht, wie ihre beschämende Einstellung gegenüber
der freien Meinungsäußerung und der Freiheit des Individuums
zeigt, um die die Demokratie gekämpft hat. Blinde, fanatische und
skrupellose Abenteurer schreien nach einer angeblich sozialen Revo-
lution . .Auf dem Wege dahin, so glauben Lenin und seine Clique,
.

ist es erlaubt, alle Verbrechen zu begehen - wie den blutigen Kampf

in Petersburg, die Verwüstungen in Moskau, die Aufhebung der


Redefreiheit und die sinnlosen Verhaftungen . . . Lenin ist kein all-
mächtiger Magier, sondern ein kaltblütiger Taschenspieler, ohne
Achtung vor der Ehre und dem Leben der Proletarier.« Die maßlose
Erbitterung, in der er das sagte, ist wie immer bei Gorki Zeichen des
Ärgers über den Irrtum, dem er sich selbst einmal hingegeben hatte.
Als man drohte, seine Zeitschrift bei weiterer Opposition zu ver-
bieten, erklärte er: »Die >Nowaja Shisn< wird die Regierung der

25
Volkskommissare genauso kritisieren wie jede andere Regierung.
Wir haben nicht gegen die Selbstherrschaft der Kanaillen gekämpft,
damit sie durch eine Selbstherrschaft der Barbaren ersetzt werde .« . .

Das Blatt wurde verboten.


Gorki tat sein möglichstes,die Schrecken des Regimes zu mildern.
Viele kulturelle Einrichtungen haben ihm ihr Überleben zu danken.
Seine Fürsprache rettete zahlreiche Menschen, vornehmlich Künst-
ler und Gelehrte, aus den Kellern der Tscheka (der Geheimpolizei,
später GPU, NKWD, MWD, MGB usw. genannt). den Dichter Um
zu gewinnen, kamen Lenin und sein Polizeichef Dsershinski ihm in
vielen Fällen entgegen; man schuf unter seiner Leitung eine »Zen-
tralkommission zur Verbesserung der Lebenslage der Wissenschaft-
ler«, die manches getan hat, die Intelligenz vor Verfolgungen zu
schützen. In den hartnäckigen, heftigen und ganz aufrichtigen Dis-
kussionen, die Lenin und Gorki in jenen Jahren über die Frage des
Terrors führten, kamen sie einander wieder näher. Gorki sah, wie
auch der stählerne Revolutionär unter den Greueln litt, für die er die
Verantwortung trug. Eines Abends hörten sie gemeinsam Beet-
hovensche Sonaten. »Ich kenne nichts Schöneres als die >Appas-
sionata< und könnte sie jeden Tag hören«, sagte Lenin. »Eine wun-
derbare, nicht mehr menschliche Musik.« Dann kniff er die Augen zu,
lächelte und setzte mit einem Anflug von Traurigkeit hinzu »Aber :

allzuoft kann ich Musik nicht hören. Sie wirkt auf die Nerven. Man
möchte nette törichte Dinge sagen und den Menschen, die in dieser
schmutzigen Hölle leben und trotzdem solche Schönheit schaffen
können, den Kopf streicheln. Aber heutzutage darf man niemand
den Kopf streicheln - die Hand wird einem sonst abgebissen. Schla-
gen muß man auf die Köpfe, unbarmherzig schlagen, obwohl wir der
Idee nach gegen jede Gewalt am Menschen sind. Hm, hm - ein
höllisch schweres Amtl«
Obwohl Gorki die persönliche Integrität und echte menschliche
Tragik bei Lenin achtete - » . . . Kind dieser verfluchten
ein großes
Welt, ein prächtiger Mensch, der sich der Feindschaft und dem Haß
zum Opfer bringen mußte, um das Werk der Liebe zu verwirklichen !«
-, konnte er, der die Menschen so liebte, sich nicht mit der Praxis des
Terrors abfinden. Er hatte auch menschlich etwas von Nietzsche, der
die »blonde Bestie« propagierte, persönlich aber niemanden leiden
sehen konnte. »Finden Sie nicht«, fuhr Lenin den Dichter zornig an,
»daß Sie sich mit Torheiten und Bagatellen abgeben?« Gorki
schreibt dazu in seinen Erinnerungen den schönen, lakonischen
Satz »Doch ich tat, was ich für nötig hielt
: « Schließlich drängte
. . .

Lenin ihn, er möge Rußland während der harten Jahre, die seiner
Meinung nach nur eine Übergangserscheinung sein konnten, ver-
lassen.

Dieser Ratschlag war ein kluger Schachzug des großen Menschen-


führers.Denn im fernen Italien verblaßte für Maxim Gorki tatsäch-
26
lieh nach und nach die furchtbare Realität des Bolschewismus, das
in Millionen von Einzelfällen aufgelöste Leid, und es erhob sich
darüber das imposante, erhabene Antlitz der Revolution, das die
romantischen Empfindungen in seiner Seele weckte. Als der Dichter
ein Jahrzehnt später, Anfang der dreißiger Jahre, in die Sowjetunion
zurückkehrte, getrieben vom Heimweh und fasziniert von dem er-
regenden Bild der neuen Fabriken, Hochöfen, Schächte und Bohr-
türme, die Stalin aus dem Boden stampfte, da hatte er sich - zumin-
dest nach außen hin - mit der vollendeten Tatsache der bolschewisti-
schen Herrschaft abgefunden.
Noch ein anderer, sehr ernster Beweggrund führte ihn zur Aus-
söhnung mit dem Sowjetsystem, den man nicht übersehen darf, will
man nicht die ganze Haltung des alten Gorki mißdeuten. Der Dich-
ter kam aus einem faschistischen Land zurück. Sein Lebensabend ist
umdüstert von der Sorge um das über Europa heraufziehende Ver-
hängnis, dessen erste barbarische Äußerungen er in unmittelbarer
Nähe während sich die russischen Ereignisse in weiter
erlebt hatte,
Ferne abspielten. Das Aufkommen des Rassenwahns, dessen ab-
scheuliche Erscheinungen er in den Pogromen des alten Rußland
erlebt (und in seinem Theaterstück >Kinder der Sonne < gestaltet)
hatte, der Kriegsgefahr, der Aggressionsdrohung gegen Rußland,
sein Vaterland - das alles veranlaßte ihn zu einer politischen Stel-
lungnahme an der Seite der Bolschewisten, die ihm unter diesen
Umständen als das bei weitem kleinere Übel erscheinen mußten.
Wenn man die zahlreichen publizistischen Arbeiten seiner Spätzeit
durchsieht, entdeckt man, daß in ihnen viel weniger von den bol-
schewistischen Errungenschaften als von den faschistischen Schrek-
ken die Rede ist. Der sechzigjährige Dichter, der sich stets als Pazifist
bekannt hatte, erklärte, er sei bereit, als einfacher Soldat in der Roten
Armee zu kämpfen, wenn es die Sowjetunion gegen einen faschisti-
schen Angriff zu verteidigen gelte. »Ich selbst«, schrieb er, »würde
alle diese Hitler und Mussolini eigenhändig nehmen und umbringen.«
Auch in seinem literarischen Schaffen spielte nun die Auseinander-
setzung mit den geistigen Wurzeln des Faschismus die zentrale Rolle.
Hatte er sich in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg vor allem gegen
die dekadente, entschlußlose und egozentrische Haltung der Intelli-
genz, ihre Teilnahmslosigkeit gegenüber den revolutionären Auf-
gaben gewandt, so zog er jetzt gegen faschistische oder vermeintlich
faschistische Tendenzen zu Felde. Die Einseitigkeit und Starrheit,
mit der er dieser Abrechnung nachging, trug in die Werke jener Zeit
Züge von Verbissenheit und Härte, die sie manchmal kalt und un-
menschlich erscheinen lassen. Es ist sehr viel mehr Haß in ihnen als
Liebe. Mit besonderer Schärfe wandte er sich gegen jede Art von
Führer- und Elite-Ideologie, gegen den »Nietzscheanismus«, mit
dem er selbst einst geliebäugelt hatte.
Nach langer Pause schrieb er 1931 wieder ein Theaterstück: >So-
mow und andere Es ist das einzige, in dem
<. er sich mit der Sowjet-

27
cpoche auseinandergesetzt hat (die Oktoberrevolution und den kom-
munistischen Aufbau hat er nie gestaltet), und beschäftigt sich mit
der Vorgeschichte des Schachty-Prozesses, des ersten in einer Reihe
von Schauprozessen, in denen Wissenschaftler, Ingenieure, Tech-
niker und Meister, angebliche Mitglieder einer industriellen Ver-
schwörung, wegen Sabotage zu schweren Strafen verurteilt wurden.
Die zuweilen abenteuerlichen Beschuldigungen und die wie am
Schnürchen abrollenden Geständnisse, erste Anzeichen der von Sta-
lin eingeführten juristischen Praxis, lassen es heute schwer glaubhaft
erscheinen, daß es sich um ein echtes Komplott gehandelt hat. Rich-
tiger wird sein, daß die von Stalin bald nach Lenins Tod ohne Rück-
sicht auf Verluste forcierte Industrialisierung bei der technischen
Intelligenz, die die Verantwortung zu tragen hatte, auf passiven
Widerstand stieß, den man durch brutale Einschüchterungsmaß-
nahmen zu brechen suchte, daß man ferner Sündenböcke brauchte,
um das Volk, das über die anhaltend katastrophale wirtschaftliche
Lage aufgebracht war, zu beschwichtigen. Daß es mit der ganzen
Verschwörung nicht allzu ernst gewesen sein dürfte, geht daraus
hervor, daß der Gelehrte Prof. Ramsin, den man in einem der Pro-
zesse als Führer der »Industrie-Partei« zum Tode verurteilt hatte,
anschließend begnadigt wurde und die Möglichkeit bekam, seine
Forschungsarbeiten fortzusetzen. Im Jahre 1943 wurde er für die
Erfindung eines neuartigen Turbogenerators mit dem Lenin-Orden
und dem Stalin-Preis ausgezeichnet; auf ausdrückliche Anweisung
des Kreml erhielt der Turbogenerator den Namen seines Erfinders,
des »Volksfeindes« Ramsin. Das war nicht die Art, wie Stalin mit
ernsthaften und gefährlichen Gegnern umzugehen pflegte.
Gorki schrieb aus Anlaß des Schachty-Prozesses in dem Regie-
rungsorgan >Iswestija< einen Leitartikel unter der Überschrift:
»Wenn der Feind sich nicht ergibt, muß er vernichtet werden!« Er
kannte die Verhältnisse in der Sowjetunion allein von zwei Besichti-
gungs-Rundreisen, bei denen er natürlich nur zu sehen bekommen
hatte, was die Sowjetregierung für wünschenswert hielt. Von dem
Chaos der überstürzten Industrialisierung und den Greueln der
Zwangskollektivierung, von der Hungersnot und den Strafarbeits-
lagern hatte er keine Ahnung. Unter diesen Umständen mußten ihm
die »Schädlinge« von Schachty als ewiggestrige Bourgeois, vielleicht
gar Faschisten erscheinen, die von purer Mißgunst gegen den auf-
blühenden Staat der Arbeiter und Bauern getrieben wurden.
Charakteristisch für sein Stück ist, daß es sich weder mit den kon-
kreten Ursachen noch mit dem konkreten Ablauf der angeblichen
Verschwörung befaßt. Da läßt er es bei Andeutungen bewenden und
verbohrt sich dessen in das Seelenleben der Intellektuellen, wo
statt
er die tieferen Ursachen für ihren Widerstand gegen das Sowjet-
system vermutet. Sein Somow ist ein waschechter Faschist, ein ehr-
geiziger und skrupelloser Bursche, der davon träumt, ein Napoleon
zu werden. Umihn herum gruppiert der Dichter ein Sammelsurium

28
verkrachter Existenzen, die aus den Stücken seiner vorrevolutionä-
ren Zeit auferstanden zu sein scheinen: dekadente und lebensuntaug-
liche Ästheten, feige und raffgierige Kleinbürger, heruntergekom-
mene, versoffene Vagabunden und Strolche - eben »gewesene Men-
schen«. Er zeichnet köstliche Typen zum Teil, prachtvolle, vitale
Szenen, es knistert die Spannung unterirdischen Klassenkampfes,
aber das alles hat etwas Zerrissenes, Uneinheitliches, Unausgegore-
nes. Es geht um überlebte philosophische Scheinprobleme, um Res-
sentiments und psychopathische Verirrungen statt um die funda-
mentalen Fragen sozialer und ethischer Natur, die damals überall in
der Sowjetunion zur Debatte standen. Nicht daß Gorki sich für die
Bolschewiki entscheidet, ist die Schwäche des Stücks, sondern daß
er den wirklichen Konflikt kaum anrührt.
Es gibt in dem Schauspiel allerdings eine Figur, eine einzige, wenn
auch mehr am Rande gestaltet, die das Interesse weckt. Es ist der
junge Ingenieur Jaropjegow, der an der Sabotage nicht teilnimmt,
aber auch für die Bolschewisten nichts übrig hat. Tüchtig, kamerad-
schaftlich, fröhlich, überall angesehen und beliebt, besonders bei der
Jugend, den Komsomolzen, ist er die vielleicht sympathischste Ge-

stalt Er wird, obwohl vollkommen unschuldig, am


des Stücks.
Schluß zusammen mit den Verschwörern verhaftet, was er mit einer
großartigen Nonchalance trägt, die ihn zum Herrn der Situation
macht. Man weiß nicht recht, was Gorki mit dieser Darstellung
sagen wollte, entweder: Seht ihr, so geht es einem, wenn man
schwankt - oder So brutal führen die Bolschewisten ihren Klassen-
! :

kampf!
Wahrscheinlich dachte er an einen Brief, den Stalin ihm kurz zuvor
geschrieben hatte, in dem es hieß: ». . wenn man die Jugend
.

nimmt, die (ihrer sozialen Lage nach) zu uns gehört, so bringt nicht
ein jeder Nerven, Kraft, Charakter und Verständnis genug auf, um
das grandiose Bild der Niederreißung des Alten und des fieberhaften
Aufbaus des Neuen als ein Bild dessen zu betrachten, was notwendig
und folglich wünschenswert ist, zumal dieses Bild wenig dem para-
diesischen Idyll des allgemeinen Wohlergehens < gleicht, das die
Möglichkeit bieten soll, sich >auszuruhen< und das >Glück zu ge-
nießen <. Begreiflicherweise kann es bei diesem >Kopfschmerzen ver-
ursachenden Getriebe < nicht anders sein, als daß es bei uns Leute
gibt, die müde werden, die Nerven verlieren, sich aufreiben, in Ver-
zweiflung geraten, abtreten und schließlich in das Lager der Feinde
überlaufen. Unvermeidliche Spesen < der Revolution!« Dieser Brief
>

war die Antwort auf ein unveröffentlichtes Schreiben Gorkis, in dem


der Dichter offenbar einen anderen Standpunkt vertreten hatte: daß
es alles andere als natürlich und höchst beklagenswert sei, wenn
nicht einmal mehr die jungen, fortschrittlich gesinnten werktätigen
Menschen die bolschewistischen Maßnahmen verstünden. (In dem-
selben Jahr, als Stalin seinen Brief schrieb, hatte derjenige, den er
selbst als den »besten und begabtesten Dichter der So wjetepoche«
:

bezeichnet hat, Majakowski, »die Nerven verloren« und war »ab-


getreten« - durch Selbstmord.)
In Jaropjegow gestaltete Gorki nun einen solchen Jungen, der
durchaus nicht »müde ist und greint«, wie Stalin meinte, sondern ein
gesunder, lebensfroher und vernünftiger Mensch ist, nur die Eigen-
schaft hat, nachzudenken. Diese Prise Realität in dem ansonsten li-
nientreuen Stück genügte, um es suspekt zu machen. Es wurde wäh-
rend der Ära Stalins nicht gespielt, schier vergessen und erst wieder
ausgegraben, als man während des Tauwetters unter Malenkow nach
Stücken suchte, die nicht ganz durch Schönfärberei verdorben waren.
In den ersten Jahren nach Gorkis Rückkehr wurde die Sowjet-
literatur auf den Sozialistischen Realismus ausgerichtet. Über den
Anteil, der dem Dichter an diesem Ereignis zukommt, gehen selbst
in der offiziellen sowjetischen Literaturgeschichtsschreibung die Mei-
nungen auseinander. In der >Großen Sowjet-Enzyklopädie < heißt es
»Ausgehend von der J. W. Stalin zu verdankenden Definition der
künstlerischen Methode der Sowjetliteratur entwickelte Gorki die
Hauptprinzipien der Kunst des sozialistischen Realismus.« In der
>Geschichte der russischen Literatur < steht genau das Gegenteil: »So
hat Gorki jenes künstlerische Schaffensprinzip gefunden, das J. W.
Stalin später in einer Unterredung mit Schriftstellern als die Methode
des sozialistischen Realismus definiert hat.«
Tatsache ist, daß Gorki der Aktion seine Autorität, sein Ansehen
als Dichter geliehen hat. Das besagte Gespräch Stalins mit den
Schriftstellern fand in der Villa Gorkis statt der Dichter hielt auch
;

auf dem ersten sowjetischen Schriftstellerkongreß 1934, der den


Startschuß für die neue Kunstpolitik abgab, neben Shdanow das
Hauptreferat. Tatsache ist ferner, daß ein so amusischer und kulturell
ungebildeter Mensch wie Stalin - ». . was bin ich für ein Kritiker,
.

in Teufels Namen!« sagte er in einem Anfall von Bescheidenheit ein-


mal selbst - niemals künstlerische Prinzipien hätte formulieren kön-
nen. Andererseits ist Gorki gewiß unschuldig an der dogmatischen
und terroristischen Durchsetzung der neuen Methode, denn sie steht
in eindeutigem Gegensatz zu seiner Auffassung vom Selbstbestim-
mungsrecht des Menschen und des Künstlers. Noch Lenin hatte, als
er die Forderung nach einer Parteiliteratur erhob, ausdrücklich be-
tont: »Kein Zweifel, die literarische Tätigkeit verträgt am aller-
wenigsten eine mechanische Gleichmacherei, eine Nivellierung, eine
Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit. Kein Zweifel, auf die-
sem Gebiet ist die Sicherung eines größeren Spielraums für persön-
liche Initiative, für individuelle Neigungen, eines Spielraums für Ge-
danken und Phantasie, für Form und Inhalt unbedingt notwendig.«
Was dann unter Stalin und Shdanow geschah, gehört nicht mehr in
das Gebiet der Ästhetik, hat nichts mit der Erarbeitung und Dis-
kussion künstlerischer Gestaltungsfragen zu tun, sondern stellt den
brutalen und direkten Einbruch der Politik in das Reich der Kunst
dar, um sie sich zu unterwerfen. Von diesem Zeitpunkt an ist nicht

30
einmal mehr politische Kunst möglich, sondern nur noch Propa-
ganda, Politik in Bildern. Da Gorki Künstler, aber nicht Funktionär
war, mußten sich die Geister, die er hatte rufen helfen, eines Tages
auch gegen ihn selbst wenden.
Nur dem Anschein nach hielten sich die Direktiven der Partei an
die Prinzipien, die Gorki in seinem widerspruchsvollen Leben ge-
formt hatte. Im Jahr 1912 hatte der Dichter in einem Brief zum
erstenmal geäußert: »Hinsichtlich der sozialistischen Kunst, ins-
besondere der Literatur, werde ich Ihnen noch besonders schreiben.
Der Gedanke, daß das kein Realismus und keine Romantik, sondern
irgendeine Synthese von beiden sein wird, scheint mir annehmbar.
Ja, es ist möglich, daß es so sein wird.« Diesen Gedanken, der das
logische Produkt seiner eigenen Entwicklung ist, spann er ständig
weiter. 1919 schrieb er in einem Theater- Almanach »Unsere Zeit :

braucht ein heroisches Theater, ein Theater, das sich die Idealisie-
rung der Persönlichkeit zum Ziel setzt, das die Romantik wieder-
erweckt, den Menschen dichterisch verherrlicht . Die Bühne des
. .

modernen Theaters braucht einen Helden im wahrsten Sinne des


Wortes; den Menschen muß eine Idealgestalt gezeigt werden, nach
der sich die ganze Welt schon von alters her sehnt .«In den Jahren
. .

nach seiner Rückkehr in die UdSSR formulierte er seine Ansichten


immer bestimmter »Die revolutionäre Romantik ist im Grunde ge-
:

nommen ein Pseudonym des sozialistischen Realismus, dessen Be-


stimmung nicht allein die kritische Darstellung der Vergangenheit
in der Gegenwart ist, sondern hauptsächlich, die Festigung der revo-
lutionären Errungenschaften in der Gegenwart und die Erhellung
der hohen Ziele der sozialistischen Zukunft zu fördern.« Die Sowjet-
kunst müsse sich, so erklärte er, »über die Wirklichkeit erheben, sie
muß auf den dahinfließenden Tag von der Höhe jener herrlichen
Ziele herabblicken, die sich die Arbeiterklasse, der Stammvater der
neuen Menschheit, gestellt hat«. All diese seine Ideen und Gedanken
- Reflexionen über den eigenen Werdegang und nicht zuletzt auch
Äußerung mancher verdrängten Wünsche - faßte er zusammen in
seinem berühmten Referat auf dem ersten Kongreß der Sowjet-
schriftsteller: »Der sozialistische Realismus bestätigt das Dasein als
Handlung, als Schaffen, dessen Ziel die unaufhörliche Entwicklung
der wertvollsten individuellen Fähigkeiten des Menschen ist, für
seinen Sieg über die Kräfte der Natur, für seine Gesundheit und ein
langes Leben, für das große Glück, auf der Erde leben zu dürfen, die
er in Übereinstimmung mit dem unentwegten Anwachsen seiner Be-
dürfnisse gänzlich bebauen will als die herrliche Wohnstatt der zu
einer einzigen Familie vereinten Menschheit.«
Wenn man diese Worte liest, begreift man, wie fern die Vorstel-
lung Gorkis von der Kunst jenen Machwerken steht, die nur allzu-
bald nach dieser Rede in seinem Namen und unter der Marke des
Sozialistischen Realismus den kommunistischen Literaturmarkt über-
schwemmen sollten. Auf welche erstaunliche Weise verwandelten
31
sich doch Gorkis Ideen, als sie in den Normen des Sozialistischen
Realismus Substanz und Macht gewannen: Aus der sozialistischen
Romantik wurde Schönfärberei, aus der Parteilichkeit Schwarzweiß-
malerei, aus der Volksverbundenheit Primitivität und Banalität, aus
der Berücksichtigung der schöpferischen Rolle der Arbeit die Be-
grenzung der Handlung auf den Produktionsprozeß und aus dem
positiven Helden der makellose und unfehlbare, gravitätisch stolzie-
rende Parteifunktionär. 1936 stellte Gorki betroffen fest: »Beschä-
mend armselig sind die Kräfte unserer Dichter, kalte Verse werden
bei uns geschrieben. Allzu gleichgültig ist diese Froschpoesie. Und
sogar wenn von der revolutionären Erektion geschrieben wird,
spürt man, daß politisch Impotente schreiben.«
Wie wenig Gorki seine Prinzipien doktrinär und verbindlich
meinte, geht daraus hervor, daß er am Ende seines Lebens drei ge-
waltige Werke schuf, drei seiner stärksten Theaterstücke, die man
beim besten Willen nicht in das Schema des Sozialistischen Realis-
mus pressen kann, nämlich >Jegor Bulytschow und andere < (1932),
>Dostigajew und andere < (1933) und die Zweitfassung von >Wassa
Shelesnowa< (1935). Die Partei stellte denn auch keines dieser letzten
Dramen als Modell der neuen Lehre heraus, sondern die ein Men-
schenalter früher geschriebenen >Feinde<, die 1935 auf ausdrück-
lichen Wunsch Stalins am Moskauer Künstlertheater einstudiert
werden mußten.
Gorkis ». . und andere «-Dramen sollten ein Zyklus werden, der
.

vor der Revolution im Jahre 1917 einsetzt und irgendwie zur Gegen-
wart führt, dabei den Anschluß an >Somow und andere < findet. Der
Personenbestand der einzelnen Stücke greift ineinander, wie es in den
Romanen von Balzacs >Comedie humaine< der Fall ist. Der Dichter
hat aber nur die beiden ersten Teile vollendet und die kritische
Grenze, die durch die bolschewistische Oktoberrevolution, das von
ihm einst verurteilte Ereignis, markiert wird, nicht zu überschreiten
vermocht. Das als drittes geplante Stück >Rjabinin und andere <, in
dessen Mittelpunkt zum erstenmal ein Revolutionär stehen sollte,
hat er gar nicht mehr in Angriff genommen. Auch der Inhalt der
beiden fertiggestellten Dramen erscheint vom parteidoktrinären
Standpunkt aus etwas fragwürdig. Jegor Bulytschow, der Held des
ersten, ist ein »weißer Rabe«, ein »anständiger Kapitalist«, der am
Ende seines Lebens begreift, daß die Revolution unaufhaltsam ist
und er selbst »an der falschen Straße gelebt hat«. Als Vorbild diente
Gorki bei dieser Figur der Millionär Bugrow, von dem er in seinen
Erinnerungen berichtet: »Bugrow, der ein Stück Fruchtzucker ab-
gebissen hatte, trank gierig den Tee aus, strich sich über den Bart und
fuhr inständig und leise fort >Es kam eine gefährliche Zeit, eine Zeit
:

der großen Unruhe der Seele. Sie sagen eben - Revolution dazu, die
Auferstehung aller Kräfte der Erde ... Sie eilen voraus, ja voraus
und immer weiter . < « - Dostigajew ist ein glänzender, wendiger
. .

Geschäftsmann, ein Chamäleon von Format, der die Kunst, »sich

32
anzupassen«, bis zur Vollendung entwickelt hat. Der erstaunliche
Schluß des Stückes besteht darin, daß es ihm sogar gelingt, sich der
bolschewistischen Macht anzupassen.
In seinen späten Werken entwickelte Gorki einen eigenartigen,
unverwechselbaren Stil von letzter Reife. Sein bedeutendstes Merk-
mal besteht darin, daß die äußere Handlung immer mehr zurück-
tritt. Es gibt ganze Akte, in denen so gut wie nichts geschieht, und

unscheinbare Episoden können zu menetekelhafter Bedeutung


wachsen. Alle Dynamik wird in den Seelen und Hirnen der Persön-
lichkeiten gestaut. »Wenn die Charaktere nur fest umrissen sind,
dann ist ihr Zusammenstoß unvermeidlich«, sagte Gorki. Der Re-
gisseur des Künstlertheaters, Nemirowitsch-Dantschenko, schrieb
einmal in einem Brief an den Dichter: »Sie erfassen ein Stück Epoche
in einer festgefügten politischen Montage, enthüllen sie aber nicht
durch eine Kette äußerer Ereignisse, sondern durch eine charakteri-
stische Gruppe künstlerischer Porträts, die wie in einer klugen
Schachkomposition mit- und gegeneinander ausgespielt werden. Ich
würde sogar sagen: einer weisen Komposition. Die Weisheit liegt
darin, daß die schärfste politische Tendenz in den dargestellten Zu-
sammenstößen der Charaktere nicht nur künstlerisch überzeugend,
sondern auch dem Leben entsprechend objektiv unanfechtbar ist.
Gleichzeitig stellt ihre Dramatik im Material die Forderung nach
einem besonderen Stil - dem Stil eines erhöhten Realismus, wenn
dieser Ausdruck gestattet ist -, ein Realismus der krassen Einfach-
heit, der großen Wahrheit, der besonderen charakteristischen Züge,
einer großartigen,strengen Sprache, die nie naturalistisch auf-
geweicht werden darf, und einer mit echtem Pathos gesättigten
Idee.«
Die Schwierigkeit bei der Darstellung von Gorkis Spätwerken,
die ihnen zuUnrecht den Ruf schwacher Bühnenwirksamkeit ein-
getragen hat, liegt in der lapidaren Sparsamkeit und rücksichtslosen
Verdichtung der Gestaltung. Da ist alles Rankenwerk weggeschnit-
ten, und man ist gezwungen, vieles über die Entwicklung der Men-
schen, über den Verlauf der Handlung zu erraten. Die Personen
haben nur ganz wenige Auftritte, manchmal nur einen, in dem sie
dann die Erregung im Innern ihrer Seele mit elementarer Gewalt
entladen. Die Stücke haben kaum eine Exposition und kaum einen
Abschluß, sie ziehen wie ein Gewitter vorbei. In dem Titel ». . und
.

andere« dokumentiert sich schon, daß auch der Held nur ein Kraft-
element unter anderen ist, eingebettet in den breit sich dahinwälzen-
den Strom gesellschaftlicher Gestalten und Ereignisse. Ein weiteres
Merkmal dieses Stils kann man darin erblicken, daß die Unterschiede
im Genre, zwischen Tragödie und Komödie, verschwimmen. Gorki
nannte seine Stücke Szenen, Dramen oder bezeichnete sie überhaupt
nicht näher. Der abgründige Haß, mit dem er der bürgerlichen Ge-
sellschaft gegenüberstand, schlug sich in einer aggressiven Zuspit-
zung der Darstellung nieder, die ihr manchmal groteske und ge-

33
spens tische Züge »Die Tragödie«, sagte Gorki einmal,
verleiht.
»schließt alle die so bezeichnende Lächerlichkeit der kleinen spieß-
bürgerlichen Dramen aus, die das Leben von oben bis unten be-
sudeln. Ist es etwa eine Tragödie, wenn sich im zoologischen Garten
Affen raufen?« Henri Barbusse hat für Gorkis Art die treffende Be-
zeichnung »satirisches Panorama« geprägt.
Auch die Heldin des Dramas >Wassa Shelesnowa< ist eine nega-
tive Gestalt, eine Kapitalistin, Besitzerin eines großen Handelsunter-
nehmens an der Wolga. In der ersten Fassung, die Gorki 1910 ge-
schrieben hat, wird geschildert, wie Wassa, um im erbarmungslosen
Konkurrenzkampf zu bestehen, von Verbrechen zu Verbrechen ge-
trieben wird und dem Moloch Kapital all ihre Menschlichkeit, die
Bindung selbst zu den engsten Angehörigen, opfern muß. In der um-
gearbeiteten Fassung stellt Gorki der Wassa Shelesnowa, der eiser-
nen (shelesno heißt Eisen), unerbittlichen Herrin, ihre Schwiegertoch-
ter Rachel entgegen, die Revolutionärin ist. Der Konflikt bekommt
dadurch einen anderen Akzent es geht nun nicht mehr bloß um die
:

menschlichen Werte in der Seele der Unternehmer - deren Preisgabe


im kapitalistischen Getriebe erscheint dem
Dichter selbstverständ-
lich -, sondern überhaupt um ihre Existenz. Wassa kämpft mit
Rachel um ihren Enkel, den einzigen gesunden Familienerben, ohne
den ihr ganzes Werk sinnlos würde. In der Auseinandersetzung, die
- nicht mehr als einDialog - doch bis an die Wurzeln beider Wesen
geht, enthüllen sich die Horizonte zweier Welten. Rachels revolu-
tionäre Impulse erweisen sich als stärker, und die mächtige Wassa
Shelesnowa bricht zusammen.
Wenn man die beiden Fassungen vergleicht, erkennt man als den
Grundgedanken der Umarbeitung die Tendenz, von der bloßen Kri-
tik an der alten Gesellschaft zur Darstellung ihres Untergangs weiter-
zuschreiten, also den Übergang vom kritischen zum sozialistischen
Realismus, so wie Gorki ihn verstand, zu vollziehen. Aber gerade an
diesem Lehrbeispiel, das der alte Gorki vorexerzierte, kann man
studieren, wie wenig das, was ihm vorschwebte, mit parteipoliti-
schem Schematismus zu tun hat. Es ist ein Drama der Seelen, nicht
der Prinzipien, und läßt eine ganze Reihe von Charakteristika ver-
missen, die nach den Regeln des Sozialistischen Realismus, die er
angeblich formuliert haben soll, unerläßlich sind es beschäftigt sich
:

mit der Vergangenheit statt mit der Gegenwart bzw. Zukunft, greift
seinen Stoff aus der Familiengeschichte statt aus dem Produktions-
prozeß und dem politischen Kampf, hat im Mittelpunkt keinen posi-
tiven Helden, sondern einen negativen, eine reaktionäre Kapitalistin,
der er auch noch Züge einer echten Tragik gibt, usw. Hätte das
Stück ein junger Nachwuchsdichter geschrieben, so hätte es für
einen Stalin-Preis nie gelangt.
Die Neufassung war Gorkis letztes Werk. Nach der endgültigen
Übersiedlung in die Sowjetunion im Jahre 1932 hat er noch vier
Jahre gelebt. Die sowjetische Legende berichtet, ihn habe mit Stalin

34
dieselbe innige Freundschaft wie mit Lenin verbunden. In den Me-
moiren des Schriftstellers Iwanow, des Autors des Schauspiels
> Panzerzuge der nachträglich auch dem distinguierten Bürger Sta-

nislawski den Jargon eines fanatischen Bolschewisten zulegte,


kommt die wunderschöne Stelle vor: »Alexej Maximowitsch blickte
uns mit einem gerührten Blick ins Auge und sagte >Ein Meister und,
:

wir setzen hinzu, ein Herr der Zeit - das ist unser Josef Wissariono-
witsch « Zum Leidwesen der stalinistischen Biographen finden sich
! <

aber für diese Version absolut keine dokumentarischen Unterlagen.


Ein literarisches Porträt Stalins, das der Dichter analog zu dem
Lenins gleich nach seiner Rückkehr aus dem Exil zu schreiben beab-
sichtigte, kam nicht zustande. Der Unterschied im intellektuellen
Niveau, ganz abgesehen von der Weltanschauung, war so beträcht-
lich, daß ein menschlicher Kontakt zwischen dem Dichter und Lenins
Nachfolger ganz undenkbar war, obwohl der Diktator sich darum
bemühte. Bezeichnend ist eine Episode: Als Gorki 1931 zu Besuch
in Moskau weilte, las er den Parteiführern u. a. sein Poem >Das Mäd-
chen und der Tod< vor. Nach der Lesung schrieb der große Stalin
auf die letzte Textseite des frühen und wahrlich nicht sehr starken
Gedichts: »Diese Sache ist stärker als Goethes >Faust< (Die Liebe
besiegt den Tod).«
Aus dem einzigen Brief Stalins an Gorki, der veröffentlicht wurde,
geht hervor, daß es zwischen beiden eine Reihe von Meinungsver-
schiedenheiten gab. Unter anderem hatte der Dichter vorgeschlagen,
zum Kampf gegen die Kriegsgefahr eine besondere Zeitschrift
>Über den Krieg < zu schaffen. Stalin lehnte diesen Vorschlag rund-
weg ab und bemerkte: »Was die Erzählungen über den Krieg be-
trifft, so sind sie nur nach sorgfältiger Auswahl zu veröffentlichen.

Auf dem Büchermarkt ist eine Menge Erzählungen


belletristischer
anzutreffen, die die >Schrecken< des Krieges malen und Abscheu
gegen jeglichen Krieg (nicht nur den imperialistischen, sondern auch
jeden anderen Krieg) einflößen. Das sind bürgerlich-pazifistische Er-
zählungen, die keinen großen Wert haben. Wir brauchen Erzählun-
gen, die die Leser, ausgehend von den Schrecken des imperialisti-
schen Krieges, an die Notwendigkeit der Überwindung der imperia-
listischen Regierungen, die diese Kriege organisieren, heranführen.
Außerdem sind wir doch nicht gegen jeglichen Krieg. Wir sind gegen
den imperialistischen Krieg» als konterrevolutionären Krieg. Aber
wir sind für den Befreiungskrieg, den antiimperialistischen, revolu-
tionären Krieg, ungeachtet, daß ein solcher Krieg bekanntlich nicht
frei ist von den >Schrecken des Blutvergießens <, sondern diese sogar
reichlich aufweist.« Man beachte dabei den Unterschied zu der Ein-
stellung Gorkis, der zwar auch bereit war, die Waffe in die Hand zu
nehmen, aber nur bei einem Verteidigungskrieg gegen die Faschisten.
Drei Jahre nach Gorkis Tod, im Jahre 1939, erklärte die Sowjet-
regierung den Krieg Hitlers gegen den Westen für einen gerechten,
antiimperialistischen Krieg . . .

35
:

Aus dem Briefwechsel ist auch zu entnehmen, warum der Dichter


keine öffentliche Kritik am Sowjetregime äußerte. Er drückte die
Befürchtung aus, daß allzu offenherzige Kritik und Selbstkritik den
Feinden, also den Faschisten, Material liefere. Das bestätigt aber nur,
daß er im internen Kreis genauso rückhaltlos seine Meinung ver-
treten haben dürfte, wie er es zu Lenins Zeiten getan hat. Er war in
jenen Jahren, da Stalin seine Diktatur blutig stabilisierte, die letzte
souveräne Großmacht im sowjetischen Raum. Und er merkte, was
gespielt wurde. Als er ins Ausland zurück wollte, verweigerte ihm
die Regierung das Ausreisevisum. Während der großen Säuberung
gelang es einmal der Frau eines von der Geheimpolizei (GPU) ver-
hafteten Schriftstellers, bis zu ihm vorzudringen. Gorki antwortete
auf ihre Bitte um Hilfe mit unbewegtem Gesicht: »Bürgerin, ich
kann nichts für Sie tun.« Man kann sich vorstellen, wie es in seiner
Seele ausgesehen haben mag. Es waren doch seine alten Freunde
und Kampfgefährten, die damals in die Lubjanka (das Moskauer
Zentralgefängnis) geschickt wurden. Selbst seinen begabtesten Schü-
ler, den Romancier Boris Pilnjak, konnte er nur vorübergehend
schützen unmittelbar nach Gorkis eigenem Tod wurde er liquidiert.
;

Auseinandersetzungen zwischen Gorki und Stalin in der Frage der


Säuberung treten sogar in jenem einzigen veröffentlichten Brief in
Erscheinung. Gorki hatte damals (1930) für eine wichtige publizisti-
sche Unternehmung Karl Radek vorgeschlagen, den glänzenden Po-
litiker und Literaten aus der alten bolschewistischen Garde. Stalin
antwortete unmißverständlich »Nur muß hinzugefügt werden, daß
:

wir keine dieser Unternehmungen der Führung Radeks oder eines


anderen seiner Freunde überlassen dürfen. Es handelt sich nicht um
die guten Absichten Radeks oder seine Gewissenhaftigkeit. Es han-
delt sich um die Logik des Fraktions kämpfes, von dem er und seine
Freunde sich nicht völlig losgesagt haben (es sind einige wichtige
Meinungsverschiedenheiten geblieben, die sie zum Kampf treiben
werden). Die Geschichte unserer Partei (und nicht nur unserer Partei)
lehrt, daß die Logik der Dinge stärker ist als die Logik der Absichten
der Menschen. Es wird richtiger sein, wenn wir die Führung dieser
Unternehmungen politisch standhaften Genossen übertragen, Radek
aber und seine Freunde als Mitarbeiter heranziehen. Das wird richti-
ger sein.« Stalin schloß diesen Brief an den Dichter mit der leutseli-
gen Frage, ob er ihm einen russischen Arzt zur Behandlung nach
Italien schicken solle.
Die Ereignisse gingen dramatisch zu Ende
Juni 1936: Tod Gorkis - August 1936: Prozeß gegen Sinowjew,
Kamenew und andere (16 Todesurteile) - Januar 1937 Prozeß gegen :

Pjatakow, Radek und andere (13 Todesurteile) - Juni 1937: Prozeß


gegen Marschall Tuchatschewski und andere (8 Todesurteile) -
März 1938: Prozeß gegen Bucharin, Rykow, Jagoda und andere
(18 Todesurteile) . . .

In dem letzten der Prozesse wurden die Hintergründe von Gorkis

36
Tod aufgedeckt. Stalins bisheriger GPU-Chef Jagoda, nun als
»Trotzkist« selbst unter Anklage, wurde für die Ermordung des
Dichters und seines Sohnes M. A. Peschkow verantwortlich ge-
macht. Nach der offiziellen Darstellung, die damals ausgegeben
wurde, erkrankte Gorki im Frühjahr 1936 in Moskau an einer schwe-
ren Grippe. Sein Leibarzt Dr. Lewin führte unter Druck Jagodas
eine künstliche Verschlechterung herbei; die Krankheit entwickelte
sich - wie schon zuvor bei Gorkis Sohn - zu einer kruppösen Lun-
genentzündung. Lewin gestand: »Die bei Gorki angewandte Taktik
bestand in der Verwendung von Medikamenten, die bei einer solchen
Erkrankung im allgemeinen indiziert sind und deren Verabreichung
daher weder Zweifel noch Verdacht erregen konnte. Zu den Mitteln,
die der Anregung der Herztätigkeit dienen, gehören Kampfer,
Koffein, Cardiazol und Digalen. Wir [Ärzte] haben das Recht, diese
Medikamente bei bestimmten Herzkrankheiten zu gebrauchen. Aber
im vorliegenden wurden enorme Dosen verabreicht. Der Patient
Fall
erhielt beispielsweise im Laufe von 24 Stunden vierzig Kampfer-
injektionen. Diese Dosis war für ihn zu stark.
. Dazu kamen zwei
. .

Digalen-, vier Koffein- und zwei Strychnin-Injektionen .«


. .

Diese grausige Darstellung vom Tod des Dichters ist bis heute
nicht widerrufen worden.
:

Stanislawski und sein System

Sie sprechen über das System wie über ein Strafgesetzbuch. Dem einen Dar-
stellerwerfen Sie vor, daß er keine Beziehung zu seinen Partnern hat, dem
anderen, daß er nicht an die gegebenen Umstände glaubt, dem dritten, daß
er nicht sieht, dem vierten, daß er nicht hört usw. Wenn man Ihnen so zuhört,
dann ist es nicht ein schöpferischer Prozeß, sondern irgendein obligatorischer
Erlaß, nach dem zu leben und zu arbeiten allen Theatern vom Stadthaupt-
mann Stanislawski befohlen wurde. Ich garantiere Ihnen, daß die Schauspieler
das System hassen werden, wenn man es mit Gewalt einführen will . . .

Stanislawski zu einem »Stanislawskisten«

In seinen Lebenserinnerungen berichtet Stanislawski, wie das Mos-


kauer Künstlertheater (MCHAT) die Oktoberrevolution erlebte
»An diesem Abend wurden Truppen in Richtung auf den Kreml
hin zusammengezogen, man spürte allerlei geheimnisvolle Vorberei-
tungen; schweigende Menschenmassen strömten in einer bestimm-
ten Richtung. Im Gegensatz dazu waren die Straßen in anderen Ge-
genden vollkommen leer, die Laternen gelöscht, die Polizeiposten
eingezogen. Im Theater sammelte sich zur gleichen Zeit eine tau-
sendköpfige Menge, um den >Kirschgarten< anzusehen, in welchem
das Leben gerade der Leute dargestellt wird, gegen die der Aufstand
vorbereitet wurde.
Der Zuschauerraum war diesmal fast ausschließlich mit einfachem
Publikum gefüllt. Er summte vor Erregung. Die Stimmung zu bei-
den Seiten der Rampe war sehr unruhig. Wir Schauspieler standen
in Erwartung des Spielbeginns maskiert am Vorhang und lauschten
dem Getöse der Menge. >Wir werden das Stück nicht zu Ende spie-
len können !< sagten wir. >Man wird uns von der Bühne jagen. <
Als der Vorhang aufging, schlugen unsere Herzen in Erwartung
etwaiger Ausschreitungen, aber Mochten Tschechows Lyrik,
. . .

die Schönheit der russischen Poesie in der Darstellung des dahin-


sterbenden Herrengartens noch so unzeitgemäß für den damaligen
Augenblick scheinen, übten sie doch auch in dieser Umgebung ihre
Wirkung aus. Es war eine der gelungensten Aufführungen, was die
Aufmerksamkeit des Zuschauers betrifft. Es hatte den Anschein, als
wollten sie noch einmal aufatmen in der Atmosphäre der Poesie, sich
für immer vom alten, Sühneopfer fordernden Leben verabschieden.
Die Aufführung endete mit lärmendem Beifall doch aus dem Thea-
;

ter gingen die Zuschauer schweigend - vielleicht waren unter ihnen


auch solche, die sich zum Kampf für ein neues Leben rüsteten. Sehr
bald begann eine Schießerei, und ihr ausweichend, gelangten wir mit
knapper Not nach Hause.
Die Oktoberrevolution war ausgebrochen. Das Eintrittsgeld
wurde abgeschafft, die Eintrittskarten wurden eineinhalb Jahre lang
nicht verkauft, sondern in die Behörden und Fabriken geschickt,
und wir hatten nach Erlaß des Dekrets über das Theater ganz neue
38
Zuschauer, von denen wohl die meisten weder in unserem noch
überhaupt in einem Theater gewesen waren. Gestern hatte ein ge-
mischtes Publikum das Theater gefüllt, unter dem sich auch Intelli-
genz befand; heute hatten wir eine, völlig neue Zuhörerschaft vor
uns, von der wir nicht wußten, wie wir uns ihr gegenüber verhalten
sollten. Auch sie wußte nicht, wie sie uns begegnen und wie sie sich
mit dem Theater anfreunden sollte. Natürlich änderten sich in der
ersten Zeit das Regime und die Atmosphäre des Theaters mit einem
Schlag. Wir mußten ganz von vorn anfangen, den in seiner Einstel-
lung zur Kunst völlig primitiven Zuschauer stillsitzen lehren, ihm
beibringen, daß er sich nicht unterhalten, rechtzeitig seinen Platz ein-
nehmen, nicht rauchen, keine Nüsse knabbern, den Hut abnehmen
solle und daß man im Theater nicht seine Butterbrote auspackt.«
Aus diesen Zeilen spürt man recht deutlich, wie fern 1917 das
Moskauer Künstlertheater den revolutionären Massen stand. Stani-
slawski empfand sich und sein Werk ganz bewußt als einen integralen
Bestandteil jener alten Welt, die damals in Rußland zugrunde ging.
Sein Instinkt täuschte ihn nicht: Zwar rettete die Verstaatlichung
sein immer in finanziellen Nöten befindliches Theater vor dem Bank-
rott, aber zugleich fiel die gesamte parteiamtliche Kritik über Sta-
nislawskis »bürgerlich-intelligenzlerische« Kunst her. Als der Mei-
ster seine Loyalität gegenüber dem bolschewistischen Regime er-
klärte, höhnte die Sowjetpresse: »Die Rede K. S. Stanislawskis, des
Vertreters aller Greise des Moskauer Künstlertheaters, zeigt die
äußerste ideologische Hilflosigkeit und geistige Entfremdung dieser
Gruppe von unserer Epoche. Sie verstehen ganz und gar nicht, in
welcher Epoche sie leben, und darum ist es äußerst naiv, an sie ir-
gendwelche Forderungen ideologischer Art zu stellen .« Stani-
. .

slawskis System sei durch und durch bürgerlich, subjektiver Idealis-


mus, durchdrungen von Metaphysik, Mystizismus, Sensualismus,
Mechanistizismus und allen anderen idealistischen Übeln - »nichts
anderes als ein Selbstbetrug, eine abstrakte hysterische Moral, die von
bürgerlichen Ideologen zur besseren Erhaltung der kapitalistischen
Grundsätze erdacht wurde«.
Es bedurfte der Autorität einiger gebildeter hoher Parteiführer,
um Rußlands bestes und berühmtestes Theater vor der Liquidierung
zu bewahren. »Wenn es ein Theater gibt, das wir aus der Vergangen-
heit auf jeden Fall herüberretten und erhalten müssen, dann ist es na-
türlich das Moskauer Akademische Künstlertheater«, schrieb Lenin
persönlich, und der einsichtige Volkskommissar für Volksbildung,
Lunatscharski, schickte das umstrittene Ensemble erst mal für zwei
Jahre auf Tournee durch Europa und Amerika, auf daß es den ärg-
sten revolutionären Wirbel überstehen und derweil Propaganda für
die kulturelle Toleranz der Sowjetregierung machen sollte.
Niemand kam damals auf die Idee, daß Stanislawskis Theater-
arbeit auch nur das geringste mit dem Kommunismus zu tun haben
könnte. Er galt allenfalls als der große Unzeitgemäße, dem sogar die

39
Revolution ihre Reverenz erweist. Doch als Stanislawski 1938 starb
- ohne inzwischen sein System geändert und zu seiner Lebensarbeit
etwas Nennenswertes hinzugefügt zu haben -, war er mit den höch-
sten Auszeichnungen des bolschewistischen Regimes, dem Orden
des Roten Banners und dem Lenin-Orden, dekoriert worden; sein
System galt als kommunistisches Dogma, als die alleingültige Me-
thode des Sozialistischen Realismus auf dem Theater. Um diese er-
staunliche Metamorphose zu verstehen, muß man den ganzen Wust
von Legenden und Mißverständnissen abtragen, unter dem in-
zwischen Leben, Werk und Gedankengut Stanislawskis begraben
wurden.

Konstantin Sergejewitsch Alexejew wurde 1863 in Moskau als


Sohn eines Fabrikanten geboren. Im Hause der Alexejews spielte
man Liebhaber-Theater, wie man auf die Jagd zu gehen pflegt, reitet
und Roulette spielt, eine Loge in der Großen Oper hat und rau-
schende Bälle veranstaltet. Mit dem wachsenden Reichtum, den der
jähe Aufschwung des Kapitalismus in Rußland in die Häuser der
Großkaufleute und Unternehmer spülte, erwachte aber nicht nur
das Interesse, sondern auch das Verantwortungsbewußtsein dieser
Klasse für die Künste. Ein Tretjakow förderte die Malerei, ein Ma-
montow die Oper - Konstantin Alexejew, der sich auf der Bühne
Stanislawski nannte, um den Ruf seiner Familie nicht zu gefährden,
opferte nach und nach sein ganzes Vermögen dem Theater. In der
Moskauer Öffentlichkeit nannte man seine Theaterideen den törich-
ten Spleen eines eingebildeten und eigenwilligen Kapitalisten. Das
Künstlertheater, das Stanislawski zusammen mit dem Schriftsteller
und Dramaturgen Wladimir Nemirowitsch-Dantschenko im Jahre
1898 gründete, wurde finanziert von der Direktion der Philharmoni-
schen Gesellschaft, einer Institution der reichen Moskauer Kaufmann-
schaft, später ganz allein von dem Großindustriellen Sawwa Moro-
sow. Dieser Mann, der viele Eisenbahnlinien Rußlands baute, Zehn-
tausende von Rubeln für den Parteifonds der Bolschewisten stiftete
und sich schließlich nach einer Revolte seiner Arbeiter erschoß, be-
diente in Stanislawskis Theater höchstpersönlich den Beleuchtungs-
und Maschinenapparat. Der Kern des Ensembles stammte aus Alexe-
jews privatem Theater klub, in dem sich Söhne und Töchter der Mos-
kauer Bourgeoisie mit angesehenen Schauspielern zusammengefun-
den hatten.
Man muß Stanislawskis Ideen aus diesem, sozialen Ursprung heraus
verstehen. Sie sind geboren aus dem Fortschrittsoptimismus der
Gründerjahre. »Ich wurde an der Grenze zweier Epochen geboren«,
so beginnt Stanislawski seine Autobiographie. »Ich war Zeuge der
Entwicklung vom Talglicht zum elektrischen Scheinwerfer, von der
Reisekutsche zum Flugzeug, vom Segelschiff zum U-Boot, von der
Kurierpost zum Telegraphen, vom Steinschloßgewehr zur Dicken
Bertha, von der Leibeigenschaft zum Bolschewismus.« Vom
Stand-

40
punkt der Generation, die es so herrlich weit gebracht, blickte Sta-
nislawski nun auf die Theatergeschichte und wunderte sich, »daß ein
so ehrwürdiger Greis wie unser Theater, das schon vor Christi Ge-
burt entstand, sich bis heute noch beinahe im Urzustand befindet und
immer noch naiv seine Kunst einerseits auf die >Intuition< gründet,
das heißt auf die zufällige Eingebung, die vom Himmel hernieder-
gesandt wird, und andererseits auf die grobe, äußerliche, veraltete,
rein handwerksmäßige Schauspielertechnik, die man für inneres
Schöpfertum hält«. Er sah seine Lebensaufgabe darin, die Schauspiel-
kunst so zu vervollkommnen, daß sie den Ansprüchen des wissen-
schaftlichen Zeitalters genüge.
Es ist erstaunlich, mit welcher Herablassung er nicht nur auf die
ohne Zweifel heruntergekommene Schauspielerei der akademischen
Theater seiner Jugendzeit, sondern auch auf die berühmtesten Thea-
terepochen niedersah. »Ich habe versucht, auf den Trümmern des
Theaters von Pompeji zu rezitieren«, berichtete er einmal in einem
Aufsatz. »Obgleich ich gewohnt bin, laut zu sprechen, konnte man
mich nur hören, wenn ich die Stimme sehr anstrengte und jedes Wort
scharf prononciert hervorbrachte. Und je mehr ich meine Ohnmacht
in dem grenzenlosen Raum des offenen Theaters fühlte, um so stärker
wurde der Wunsch, mir durch Schreien, Bewegungen und Mimik zu
helfen, um so mehr empfand ich die Notwendigkeit des Kothurns,
um größer zu sein, des Schalltrichters, um besser gehört zu werden,
einer outrierten Sprechweise, um besser verstanden zu werden, scharf-
geschnittener Masken und übertriebener Gesten, um ausdrucksvoller
zu wirken.« Und er folgerte: »Bei diesen äußeren Bedingungen des
Schaffens konnte die Kunst der Schauspieler des antiken Griechen-
lands nicht groß sein, wenigstens von unserem Standpunkt aus.«
In dieser Einschätzung haben wir bereits die entscheidende Schwä-
che in Stanislawskis Überlegungen: sein Unverständnis dafür, daß es
in der Schauspielkunst so etwas wie einen Stil gibt, daß sich der Aus-
druckswille, daß sich das künstlerische Ziel der Zeiten ändert und
die größtmögliche Annäherung an die alltägliche Wirklichkeit durch-
aus nicht immer und überall als der Gipfel der Kunst angesehen wird.
Der Gedanke kam ihm gar nicht, daß die Akteure des alten Mimos
oder die Schauspieler am Hof des französischen Sonnenkönigs viel-
leicht überhaupt keinen Wert auf die Natürlichkeit der Empfindun-
gen legten, daß sie sie bewußt verwarfen wie die mittelalterlichen
Maler die Perspektive.
Schon in einigen Kindheitserlebnissen, die sich tief in Stanislaws-
kis Seele eingeprägt haben, kommt die Grundtendenz seiner komö-
diantischen Entwicklung zum Ausdruck. Einmal beschäftigte man
sich im Landhaus der Alexejews mit dem Stellen lebender Bilder,
einer damals beliebten Unterhaltung der guten Gesellschaft, und for-
derte den vierjährigen Konstantin auf, zum Schein ein Hölzchen ins
Feuer zu stecken. »Verstehst du? Nur so tun, als ob - aber nicht in
Wirklichkeit!« Der Kleine verursachte prompt einen Brand, so daß

41
eine Panik ausbrach. Stanislawski kommentierte dieses Erlebnis in
seinen Erinnerungen »Ich hatte sicher schon damals, wenn vielleicht
:

auch unbewußt, bei der völlig gedankenleeren Untätigkeit auf der


Bühne ein Gefühl der Ungeschicktheit und Verlegenheit und fürchte
bis auf den heutigen Tag auf der Bühne nichts mehr als dieses.« Et-
was älter, zog er mit einem Freund als Bettler und Trunkenbold ver-
kleidet auf den Bahnhof und erschreckte dort Fremde und Bekannte.
Man schenkte ihnen Kleingeld, ließ die Hunde auf sie los, und die
Wärter jagten sie vom Bahnsteig. »Und je schlimmer man mit uns
umsprang, desto mehr war unser Schauspielergefühl befriedigt. Je-
der erneute Rausschmiß bedeutete ja, daß wir gut spielten. Durch die
Praxis hatte ich nun genau beurteilen gelernt, was Gefühl für richti-
ges Maß ist.«
Daßes jedoch mit dem so gewonnenen Gefühl eine zweischnei-
dige Sache ist, mußte er bei seinem ersten ernsthaften Debüt als
Schauspieler erleben. Er sollte einen Ritter in einem Stück von
Puschkin spielen und ließ sich zur seelischen Vorbereitung in den
Keller eines alten Schlosses einsperren: »Es war gruselig dort und
einsam; es war finster, Ratten gab es in Unmengen, und es war feucht.
All diese Widerwärtigkeiten machten es mir unmöglich, mich auf die
Rolle zu konzentrieren. Und als ich nun noch anfing, den mir be-
reits zum Halse heraushängenden Text vor mich hin zu sprechen,
war das vollkommener Blödsinn. Dann wurde mir entsetzlich kalt,
und ich fürchtete allen Ernstes, mir eine Lungenentzündung zu ho-
len. In dieser Angst war mir nun ganz und gar nicht nach Rollen-
studium zumute. Ich klopfte, doch niemand öffnete. Mir wurde tat-
sächlich himmelangst, und ich fürchtete um meine Gesundheit. Aber
diese Furcht hatte nicht das geringste mit meiner Rolle zu tun. Das
einzige Ergebnis des Experiments war ein heftiger Schnupfen und
eine noch größere Verzweiflung.« Stanislawski sah ein: »Es lag offen
zutage, daß, um ein Tragöde zu werden, es nicht genügt, sich mit
Ratten in einen Keller einzusperren, sondern daß doch noch etwas
anderes notwendig ist.« Zu solcher Erkenntnis sollte Stanislawski in
seinem Theaterleben noch öfter kommen. Als großer intuitiver
Künstler begriff er durchaus, daß der nackte Naturalismus nicht ge-
nügt, er versuchte immer wieder, sich davon frei zu machen, fiel aber
jedesmal auf seine ursprüngliche Plattform zurück. Alle Versuche
Stanislawskis waren Variationen zum Grundthema des Naturalismus,
Versuche seiner Überwindung, Bereicherung, Vergeistigung, aber
stets doch nur Arabesken um ein und dieselbe Linie, die er die
»Wahrheit der Empfindung« nannte.
Im Leben Stanislawskis gab es eine ganze Kette von Grotesken
und Absurditäten, die aus der naturalistischen Konzeption geboren
wurden. Als das Künstlertheater mit dem lange verboten gewesenen
Stück des älteren Alexe Tolstoj >Zar Fjodor Iwano witsch < sein De-
j

büt gab (Zar und Zarin: Iwan Moskwin und Olga Knipper, zwei
junge, unbekannte Schauspieler, die bald weltberühmt sein sollten),

42
da stand und fiel für Stanislawski die Aufführung mit der Beschaf-
fung historisch getreuer Gewänder und Requisiten. Man durch-
stöberte Museen und Gewandkammern, fuhr über Land, um in den
Lagern der Kaufleute und in den Truhen der Bauern nach verborge-
nen Kostbarkeiten zu suchen. Berge von Stickereien, Stoffetzen,
Schmuckgegenständen wurden zusammengetragen. Als das Ma-
terial ihn immer noch nicht befriedigte, fuhr Stanislawski selbst auf
den Nishni Nowgoroder Jahrmarkt und ergatterte von einem Tröd-
ler einen regelrechten Kehrichthaufen, aus dem er Goldstickereien
und altes Schnitzwerk hervorlugen sah. Als man >Othello< zu spielen
beabsichtigte, schickte man eine Expedition nach Cypern, um am
Ort der Handlung (der Shakespeare selber bei der Niederschrift völ-
lig unbekannt gewesen sein dürfte) Studien anzustellen. Vor der
Aufführung von > Julius Cäsar < reisten der Regisseur Nemirowitsch-
Dantschenko und der Bühnenbildner Simow nach Rom; für die
Inszenierung eines Ibsen-Stückes bestellte man Möbel aus Nor-
wegen.
Stanislawski baute hinter der Bühne noch ganze Zimmer auf, die
zwar das Publikum nicht sehen konnte, die aber die Schauspieler
schon vor dem Auftritt in die rechte Stimmung versetzen sollten.
Einmal führte ein Schauspieler des Künstlertheaters einen deutschen
Gast über die Bühne und zeigte ihm unter Zeichen der Ehrfurcht in
einem verschlossenen Schrank einen kleinen, gleichfalls verschlos-
senen Schrein, in dem sich eine erlesene Kostbarkeit befand. Der
Deutsche fragte erstaunt: »Ja, ich habe doch das Stück mindestens
dreimal gesehen: der Schrein wird doch bei euch während dieses
Stückes niemals geöffnet?« Der Russe erwiderte lächelnd: »Es ist
ja auch nicht nötig, daß er geöffnet wird. Wenn wir spielen, freuen

wir uns alle in dem Gedanken, daß hier in dem verschlossenen


Schrein diese kleine Schönheit steht.« Der Schauspieler Friedrich
Kayßler, der diese Anekdote mitteilte, sah in dem unsichtbaren Re-
quisit so etwas wie einen Talisman des Ensembles, der das innige
Zusammengehörigkeitsgefühl der Truppe verkörpert - auf die Idee,
daß die Anordnung mit dem schauspielerischen Produktionspro-
zeß zusammenhängen könnte, kam er nicht.
Alles wurde getan, um die Wirklichkeit selbst, das ganz unmittel-
bare, natürliche Erlebnis auf die Bühne zu bringen: Köstlich ist die
Geschichte, wie man für Tolstojs >Macht der Finsternis < eine ver-
hutzelte alte Bäuerin auftrieb, deren urwüchsiges Stegreifspiel das
ganze Ensemble in Entzücken versetzte - leider mußte man sie dann
doch noch kurz vor der Premiere absetzen, weil sie zu viele Unflätig-
keiten in den Tolstojschen Text mischte. (Stanislawski hätte das noch
hingehen lassen, aber man mußte mit der zaristischen Zensur rech-
nen.) Und mit Schmunzeln liest man Stanislawskis befriedigten Be-
richt, wie er einmal den Ferdinand in >Kabale und Liebe < besonders
überzeugend gespielt habe: Er war nämlich in die Darstellerin der
Luise, seine Kollegin Lilina, verliebt, und die beiden küßten sich so

43
:

natürlich, daß das Publikum seine Freude hatte. (Maria Perewostschi-


kowa, genannt Lilina, wurde später seine Frau.) »In dieser Auf-
führung spielte ich weniger mit Technik, dafür um so mehr aus der
Intuition. Aber es war nicht schwer zu erraten, wer uns inspirierte
Apoll oder Hymen?« Ach, wenn man doch immer so natürlich spie-
len könnte - das ist und bleibt der Stoßseufzer Stanislawskis.
Als Stanislawski auf die Bühne des russischen Theaterlebens trat,
war das Bedürfnis nach Natürlichkeit die Forderung des Tages. Die
tonangebend gewordenen kommerziellen und intellektuellen Kreise
verlangten eine Verbürgerlichung des Theaters. Bis dahin herrschte
auf den Bühnen der elegante, glatte, formalartistische Stil des höfi-
schen Theaters, die erstarrte Pose, die nichtssagende Tänzelei, die
geheiligte, verstaubte Konvention - das Theater als Schaustellung.
Nun wollte man Wahrheit - nicht schönen Schein, Leben - nicht Stil,
Natur - nicht überzüchteten Ästhetizismus. Es war eine gesamt-
europäische Bewegung, die da vor sich ging. Die Gastspiele der
Meininger, der berühmten Truppe des Theaterherzogs Georg IL,
lösten bei Stanislawski die entscheidenden Impulse aus. Zum ersten
Mal sahen er und seine theaterbegeisterten Freunde aus der Mos-
kauer Jeunesse doree auf der Bühne ein Spiel, wie sie es immer er-
sehnt hatten - »mit historischer Treue der jeweiligen Epoche, mit
Volksszenen, mit einer wunderschönen äußeren Form der Auffüh-
rung, mit einer erstaunlichen Disziplin und der ganzen Organisation
eines großartigen Feiertags der Kunst«. Stanislawski versäumte
und studierte regelrecht
nicht eine Vorstellung die Inszenierungs-
methoden des Meininger Regisseurs Chronegk.
Auch die Einrichtung eines »Künstlertheaters für alle« durch
Stanislawski und Nemirowitsch-Dantschenko hatte westeuro-
päische Vorbilder: das Th6atre libre von Andr6 Antoine in Paris
und die Freie Bühne von Otto Brahm in Berlin. Das Programm der
Stanislawskischen Theaterrevolution, das Programm des Künstler-
theaters, entsprach weitgehend den Tendenzen des französischen
und deutschen Naturalismus: »Wir protestierten gegen die frühere
Art des Spielens, gegen die schauspielerische Routine, gegen das ver-
logene Pathos, die Deklamiererei, gegen das schauspielerische Über-
treiben, gegen die albernen Konventionen in Inszenierung und
Bühnenbild, gegen das Starsystem, welches das Ensemble verdirbt,
überhaupt gegen den ganzen gewöhnlichen Ablauf der Vorstellun-
gen sowie gegen den nichtigen Spielplan der damaligen Theater.«
Dies alles - Stil, Programm und Organisation - war also Ausläufer
der allgemeinen naturalistischen Woge, die mit einer gewissen Ver-
spätung auch in die Hauptstädte Rußlands trieb.
Andererseits wird man aber der Leistung des Künstlertheaters
nicht gerecht, wenn man in seiner Arbeit nur einen Abklatsch des
westlichen Naturalismus sieht. Als das Ensemble 1906 in Berlin ga-
stierte, zu einer Zeit also, da das Berliner Publikum des Naturalismus
längst überdrüssig war, da die Epoche Max Reinhardts schon be-

44
gönnen hatte, errang das Spiel der Stanislawski-Truppe einen trium-
phalen Erfolg. Der Dichter Gerhart Hauptmann schrieb »Ich habe
:

für meine Stücke immer solch ein Spiel erträumt, wie ich es bei Ihnen
gesehen habe - ohne jede theatralische Vergewaltigung und Kon-
vention -, ein einfaches, tiefes, gehaltvolles Spiel. Die deutschen
Schauspieler haben immer behauptet, meine Träume seien unerfüll-
bar, das Theater besäße Forderungen und Konventionen, die nicht
verletzt werden dürften. Jetzt aber habe ich gesehen, wovon ich mein
ganzes Leben geträumt habe.« Und Alfred Kerr, Berlins gefürchtet-
ster Kritiker, rief den Russen nach »Das schmerzlichste ist Jetzt
: :

geht ihr weg, und ich weiß nicht genau, wer ihr gewesen seid. Doch
ich weiß, daß ihr etwas Köstliches gewesen seid. Den Umfang eures
Wertes vermag ich nicht zu erforschen . .« Wenn das Spiel des Mos-
.

kauer Künstlertheaters Naturalismus war, europäische Theaterkunst


des ausgehenden 19. Jahrhunderts - und in diesen Zusammenhang
gehört es gewiß, wenn auch viel Urrussisches aus tiefsten Quellen
dazuströmte -, so war es sein Höhepunkt, eine oft ans Wundersame
grenzende Vollendung. Daß das Ensemble zu solcher Meisterschaft
reifte, verdankte es nicht nur der bei aller Einseitigkeit genialen Re-
giekunst Stanislawskis, sondern vor allem der Begegnung mit dreien
der größten russischen Dichter: Leo Tolstoj, Anton Tschechow und
Maxim Gorki.
Obwohl besonders die beiden letzteren vom Künstlertheater über-
haupt erst durchgesetzt wurden, war ihre Entdeckung nicht eigent-
lich Stanislawskis Verdienst. Was den Wert einer Dichtung angeht,
war er immer unsicher; er verschwendete an ein Schauerstück von
Gutzkow und an irgendwelche banalen Opern denselben En-
thusiasmus wie an die Werke Shakespeares. Der literarische Mentor
des Theaters, dessen Urteil er sich willig unterwarf, war Nemiro-
witsch-Dantschenko. In der achtzehn Stunden währenden Unter-
haltung der beiden Theaterleute, die der Gründung des Künstler-
theaters vorausging, wurde protokollarisch festgelegt, daß Stani-
slawski das bühnenkünstlerische, Dantschenko das literarische Veto
zustünde. Das eigentliche Verdienst Stanislawskis war die Erschlie-
ßung der Werke, die Herausarbeitung ihrer Bühnenwirksamkeit.
Leo Tolstoj z. B. erinnerte sich eines Gespräches, in dem Stanislawski
eine Änderung des Stückes >Macht der Finsternis < angeregt hatte,
noch nach Jahren, er ließ den damals noch wenig bekannten Regis-
seur zu sich kommen und eröffnete ihm: »Erzählen Sie mir doch
einmal, wie Sie den vierten Akt wiedergeben wollten. Ich werde es
Ihnen dann so niederschreiben, und Sie werden es danach spielen.«
An Tolstoj s Stücken entwickelte Stanislawski mit wechselndem
Glück seine sogenannte »historisch-wirklichkeitsgetreue Linie«. Er
erkannte dabei erstmals, daß der Naturalismus seine Grenzen hat,
und notierte nach einer Aufführung der >Macht der Finsternis < »Es :

war keine geistige Finsternis vorhanden, und deshalb schien auch die
äußere, die naturalistische Finsternis überflüssig.«

45
Tschechows >Möwe< war schon an einem Petersburger Theater
mit großem Skandal durchgefallen, als Nemirowitsch-Dantschenko
sie im ersten Jahr des Künstlertheaters auf den Spielplan setzte. Nur
mit Mühe gewann er die Zustimmung des Dichters, der einen neuer-
lichen Eklat befürchtete. Als Tschechow einmal bei einer Probe er-
schien, erzählte ihm ein Schauspieler, daß man bei der Aufführung
Frösche quaken, Hunde bellen und Grillen zirpen hören werde. »Wo-
zu das?« fragte Tschechow. »Das ist realistisch!« antwortete der
Schauspieler. »Realistisch?« erwiderte Tschechow. »Die Bühne ist
das Reich der Kunst. Wenn man in einem der schönen Gesichter auf
einem Genrebild von Kramskoj die gemalte Nase ausschneiden und
eine aus Fleisch und Blut einsetzen würde, wäre die Nase wohl
realistisch, aber das Bild zerstört.«
Vor der Aufführung wurde Tschechow krank, und man befürch-
tete, daß er bei seinem angegriffenen Gemütszustand einen neuen
Mißerfolg nicht überleben würde. Seine Schwester ersuchte die
Direktion des Theaters, die Premiere zu verschieben, was aber aus
finanziellen Gründen nicht möglich war. Bei der Premiere fieberten
die Mitwirkenden (in Hauptrollen Olga Knipper, die spätere Frau
:

Tschechows, Maria Lilina, die Frau Stanislawskis, und der junge


Meyerhold) vor Aufregung, eine Schauspielerin fiel in Ohnmacht -
das Schicksal des Theaters hing ja vom Ausgang des Abends ab. Als
nach dem ersten Akt der Vorhang fiel, herrschte minutenlang
Schweigen im Zuschauerraum, den Schauspielern dünkte es eine
Ewigkeit. Dann setzte ein Applaus ein, wie ihn das Theater noch nie
erlebt hatte ... - Die Möwe wurde von nun an das Wappentier des
Künstlertheaters.
Später hat Tschechow sich die Aufführung in einer Exklusivvor-
stellung angesehen. Er war sehr wenig angetan und wollte zuerst so-
gar die Erlaubnis zur Aufführung zurückziehen. »Wissen Sie«,
sagte er gelegentlich, »ich werde ein neues Stück schreiben, und das
wird folgendermaßen beginnen Wie wunderbar still ist es hier, kein
:

Vogel zu hören, kein Hund bellt, kein Kuckuck ruft, keine Eule
schreit, keine Nachtigall singt, keine Uhr schlägt, keine Glocken
läuten und nicht ein einziges Heimchen zirpt!«
Wie Stanislawski selber in seinen Erinnerungen zugibt, war das
naturalistisch orientierte Ensemble anfangs nicht imstande, die
Eigenart der Tschechowschen Stücke im Spiel der Darsteller zu er-
fassen, jenes »Aroma«, das der Dichter ausdrückt vor allem in den
poetischen Assoziationen und Valeurs, im Strom eingeschobener
Lyrik und in den unterschwelligen Stimmungen, den Nebentönen
und Pausen des Dialogs (dem »Untertext«, wie Stanislawski sagt).
Stanislawski konzentrierte sich auf die szenischen Elemente, auf De-
koration, Beleuchtung, Geräusche. Mit ihrer Hilfe hat er erstmals,
wenn auch oberflächlich, die Stimmung der Tschechowschen Dich-
tung bloßgelegt, jenes schwer bestimmbare Air träger Melancholie,
das in den angelsächsischen Ländern als chekhovian sprichwörtlich

46
geworden ist; er hat ferner die eigenartig verschwebenden, hand-
lungsarmen poetischen Gebilde, die wir niemals wieder missen
möchten, zu spielbaren Bühnenstücken entwickelt - ihre ganze Tiefe
freilich hat er, wie er mit der ihm eigenen intellektuellen Ehrlichkeit
zugesteht, noch nicht ausschöpfen können. Seine an Tschechow
orientierte »Linie der Intuition und des Gefühls« erscheint uns heute
als eine in ihrer Art bemerkenswerte impressionistische Variante des
Naturalismus.
Die Werke Gorkis boten Stanislawski Anlaß, seinem Stil eine
neue Nuance hinzuzufügen: die sogenannte »gesellschaftliche Linie«.
Im wesentlichen spielte er die Gorki-Stücke naturalistisch. Beispiels-
weise ließ er in der Pogromszene des Dramas >Kinder der Sonne <
eine tobende, schreiende und wild gestikulierende Menge derart
lebensecht in die Handlung einbrechen, daß viele Zuschauer an
wirklichen Aufruhr glaubten und Anstalten trafen, zu flüchten man ;

mußte in aller Eile den Vorhang fallen lassen. Als die Aufführung
des >Nachtasyl< vorbereitet wurde/ zog die ganze Schauspieler-
gesellschaft zwecks Milieustudium zum Chitrowmarkt, dem Mos-
kauer Landstreicherviertel. Sie schleppten Wodka und Wurst ins
Nachtasyl und tafelten mit den Vagabunden. Um
ein Haar wäre es
dabei zu einer ernsten Schlägerei gekommen, weil der Bühnenbild-
ner Simow ein aus der Illustrierten ausgeschnittenes Bild, das die
Asylbewohner zu Tränen rührte, nicht schön finden wollte.
Nun trat jedoch bei der Darstellung von Gorkis Werken eine zu-
sätzliche Schwierigkeit auf, wie man nämlich deren aufdringliche po-
litische Tendenz bewältigen sollte. Die Auseinandersetzung mit die-
sem Problem führte Stanislawski zu einer sehr fruchtbaren Auffas-
sung von der Interpretation politischer Stücke, die schon deshalb
näher zu betrachten lohnt, weil sie in eklatantem Gegensatz zum bol-
schewistischen Prinzip der Parteilichkeit steht. Der Regisseur machte
sich eine Erfahrung zunutze, die ihm in der revolutionären Zeit von
1905 mit einer Aufführung von Ibsens > Volksfeind < widerfahren war.
»In jener politisch erregten Zeit war in der Öffentlichkeit ein sehr
starkes Gefühl des Protestes lebendig. Man erwartete einen Helden,
der es wagen würde, der Regierung geradeheraus die grausame Wahr-
heit ins Gesicht zu sagen. Man brauchte ein revolutionäres Stück -
und machte den > Volksfeind < zu einem solchen. Das Werk wurde
beliebt, ungeachtet dessen, daß der Held eigentlich die geschlossene
Masse verachtet und sich in Lobeserhebungen für die Individualität
einzelner Persönlichkeiten ergeht, denen er die Leitung des Lebens
übertragen möchte. Doch Stockmann protestiert. Stockmann spricht
unerschrocken die Wahrheit, und das genügte, um einen politischen
Helden aus ihm zu machen Fortwährend, zudem an Stellen, bei
. . .

denen man es gar nicht erwartete, mitten in der Handlung, brausten


Stürme tendenziösen Händeklatschens durch das Haus. Es wurde
eine politische Demonstration. Die Atmosphäre im Saal war derart
gespannt, daß man jeden Augenblick die Schließung der Vorstellung

47
und Verhaftungen erwarten konnte. Im letzten Akt, in dem Stock-
mann seine durch die Menge verwüstete Wohnung
wieder in Ord-
nung bringt, findet er inmitten des allgemeinen Durcheinanders
seine schwarzen Hosen, die er am Tage vorher auf der öffentlichen
Versammlung getragen hat. Beim Anblick der Löcher in ihnen sagt
Stockmann zu seiner Frau: >Man soll nie seine besten Hosen an-
ziehen, wenn man hingeht und für Wahrheit und Freiheit ficht. <
Die im Theater Anwesenden bezogen diesen Satz unwillkürlich auf
den Zusammenstoß auf dem Kasaner Platz, wo wahrscheinlich eben-
falls viele neue Kleidungsstücke im Namen der Freiheit und der
Wahrheit zerrissen worden waren. Nach diesen Worten erhob sich
im Saal so lärmender Beifall, daß wir notgedrungen das Spiel unter-
brechen mußten. Einige sprangen von ihren Plätzen, stürzten an die
Rampe und streckten mir die Hände entgegen .« . .

Stanislawski fährt dann fort : »Doch wir, die Darsteller des Wer-
kes und der Rollen, dachten, als wir auf der Bühne standen, nicht an
Politik. Im Gegenteil, die durch die Aufführung hervorgerufenen
Demonstrationen kamen uns unerwartet, für uns war Stockmann
kein Politiker oder Versammlungsredner, sondern lediglich ein von
seinen Ideen besessener, ehrlicher und gerechter Mensch, ein
Freund seiner Heimat und des Volkes, wie es jeder ehrliche und
wahre Bürger des Landes sein sollte. So erschien die Aufführung
dem Zuschauer politisch, für mich hingegen war der >Volksfeind<
eines der Werke und der Inszenierungen, welche auf der Linie der
Intuition und des Gefühls lagen Ganz unerwartet sah ich mich
. . .

daher im Endergebnis auf der gesellschaftlichen Linie - von der In-


tuition über Wirklichkeitswiedergabe und Symbol zur Politik.«
In Gorkis >Nachtasyl< spielte Stanislawski den Satin (neben
Moskwin als Luka, Katschalow als Baron und der Knipper als Dirne
Nastja). Und da mußte er nun eine merkwürdige und unliebsame
Entsprechung zu den Erfahrungen im > Volksfeind < konstatieren:
»Als Darsteller ergab sich für mich eine Schwierigkeit Ich mußte in:

szenischer Interpretation die gesellschaftliche Stimmung der damali-


gen Zeit und die politische Tendenz des Autors, die in der Predigt
und den Monologen Satins ihren Ausdruck finden, wiedergeben. Ich
konnte daher in der Rolle des Satin mit Bewußtsein nicht das errei-
chen, was ich in der Rolle Stockmanns unbewußt erreicht hatte. Als
Satin spielte ich lediglich die Tendenz und dachte an die gesellschaft-
liche Bedeutung des Stückes, und die kam wie zum Trotz nicht
heraus. In der Rolle Stockmanns hatte ich weder an Politik noch an
Tendenz gedacht, und da war sie ganz intuitiv entstanden.« Daraus
folgerte er: »Gorkis lehrhafte, wie Predigten wirkende Monologe
muß man schlicht, mit natürlicher Anteilnahme, ohne verlogene
Theaterhaftigkeit und ohne Schwulst sprechen können. Sonst ver-
wandelt sich das seriöse Werk in eine Moritat.«
Diese Folgerung entspricht konsequent dem naturalistischen Den- !

ken, dem es ja nur um die Reproduktion der Wirklichkeit selbst

48
ging - die Tendenz des Naturalismus lag eben in dem Bekenntnis zur
untendenziösen Wahrheit, die nach Meinung der naturalistischen
Theoretiker allein deshalb revolutionär wirkt, weil die alte, aristo-
kratische Welt sich von der Wahrheit gelöst, das Leben vergewaltigt
hat. Um das Beispiel Stanislawskis zu strapazieren: Hätte nicht die
zaristische Polizei am Petersburger Blutsonntag die Demonstranten
so unmenschlich niedergeknüppelt, wäre aus Ibsens > Volksfeind <
nie ein revolutionäres Stück geworden. Daraus ergab sich die Kon-
sequenz, Gorkis aufgesetztes politisches Pathos nach Möglichkeit zu
unterspielen - eine Lösung, mit der Gorki selbst keineswegs einver-
standen war (so äußerte sich der Dichter über die erfolgreiche Auf-
führung des >Nachtasyl< »Mir ist dabei nicht sehr wohl zumute ...«).
:

Eine endgültige Meinung zu dem Problem hat Stanislawski dann


1925 in seinen Erinnerungen niedergelegt. Er schreibt da: »Tendenz
und Kunst sind unvereinbar, eins schließt das andere aus. Geht man
an die Kunst lediglich mit tendenziösen, zweckbetonten und anderen
nicht künstlerischen Grundideen heran, so welkt sie wie die Blume in
der Hand. In der Kunst muß die fremde Tendenz zur eigenen Idee
werden, sich in Gefühl verwandeln, zu aufrichtigem Streben, zur
zweiten Natur des Schauspielers werden. Dann geht sie in das geistige
Leben des Schauspielers, der Rolle, des ganzen Stückes ein und wird
nicht Tendenz, sondern eigenes Kredo. Mag der Zuschauer dann
seine eigenen Schlüsse ziehen und aus dem im Theater Aufgenom-
menen sich eine Tendenz schaffen. Die natürliche Folgerung bildet
sich im Geist und in der Seele des Zuschauers ganz von selbst aus der
durch den Schauspieler geschaffenen Prämisse.« In dieser Stellung-
nahme, die bereits vom Standpunkt des vollendeten Systems aus-
geht, wiederholt Stanislawski seine Absage an jede Tendenz im
Theater, und zwar mit außergewöhnlicher Schärfe, die sich aus seiner
Aversion gegen die nach der Oktoberrevolution ins Kraut geschos-
sene Parteidramatik erklärt. Doch leugnet er nun nicht mehr die
Rolle von Ideen in der Kunst. Das heißt, er hat inzwischen die platt
naturalistische Position zumindest philosophisch überwunden.

Stanislawskis Versuch, über den Naturalismus hinauszugehen, er-


folgteim Zuge einer tiefen inneren Schaffenskrise, deren Eigenart es
war, daß sie mit dem Höhepunkt des äußeren Erfolges, der ersten
großen Auslandstournee des Moskauer Künstlertheaters, zusammen-
fiel. Diese Periode, eine der folgenschwersten in seinem Leben, wird

im allgemeinen in der Literatur recht flüchtig behandelt und ist ins-


besondere von sowjetischen Verfälschungen derart verdeckt, daß
ihre Rekonstruktion geradezu sensationelle Aufschlüsse gewährt.
Mit den Ereignissen des Jahres 1905 (Niederlage Rußlands im Krieg
gegen Japan, erste russische Revolution und nach deren blutiger Nie-
derwerfung Einsetzen einer Periode finsterster politischer Reaktion)
hatte in Rußland die Epoche der großen Kriege, Revolutionen und
Konterrevolutionen begonnen, die den selbstgefälligen Fortschritts-

49
Optimismus des Bürgertums mit einem Schlage hinwegfegte. Auf die
Arbeit des Künstlertheaters wirkten sich diese Ereignisse vor allem
in der Notwendigkeit aus, das Repertoire umzustellen. Tschechow
war ein Jahr zuvor gestorben, Gorki mußte ins Exil, und im euro-
päischen Theaterleben trat eine neue literarische Richtung auf, die
mit naturalistischen Mitteln nicht mehr zu bewältigen war. Auf dem
Spielplan des Künstlertheaters herrschten nun Hamsun, Maeterlinck,
Dostojewski, der russische Dekadente Andrejew, der mittlere Haupt-
mann und der späte Ibsen.
Welch eine Wandlung ist festzustellen, wenn man die jetzt folgen-
den Inszenierungen des Künstlertheaters betrachtet! Über die Auf-
führung von Hamsuns >Spiel ins Leben < berichtet Stanislawski: »Auf
dem Jahrmarkt zwischen den Läden, die mit Lasten von Waren voll-
gestopft sind, zwischen der Menge der Käufer und Händler wütet
eine Choleraepidemie, die wie ein Alp auf allem lastet. Über die wei-
ßen Zelte der Händler gleiten wie auf einer Filmleinwand deren
schwarze, unheimlich wirkende gespenstische Schatten. Die Schat-
ten messen Stoff ab, während die Käufer teils unbeweglich stehen,
teils sich in ununterbrochener Folge vorbeischieben. Die Zelte er-
strecken sich in Reihen über die Absätze des Berges, wodurch die
ganze Fläche des Berges mit Schatten angefüllt ist, während andere
Schemen wie rasend auf dem Jahrmarktskarussell durch die Luft
sausen, sich hoch erheben und wieder zu Boden sinken. Gleich einer
Höllenmusik stürmen die Töne einer Drehorgel zischend und pfei-
fend hinter den Vergnügungssüchtigen her. Andere tanzen auf dem
Proszenium im Ausbruch der Verzweiflung wild umher und fallen
während ihres leidenschaftlichen Tanzes tot um, Opfer der Cholera.
Inmitten dieser >Orgie während der Pest< und des sinnlichen Chaos
muten das Erscheinen gespenstischer Musikanten oder das Nordlicht
auf dem Winterhimmel, ebenso wie das Getöse unterirdischer
Schläge im Steinbruch, wo athletische Arbeiter Marmor für den Gei-
zigen gewinnen, wie prophetische Zeichen an .« Die Aufführung
. .

endete mit einem spektakulären Erfolg. Die eine Hälfte der Zu-
schauer applaudierte ungestüm und schrie: »Tod dem Realismus!
Nieder mit den Heimchen und den Mücken! Hoch das fortschritt-
liche Theater! Es leben die Linken!« Die andere Hälfte zischte und
beklagte sich: »Schande dem Künstlertheater! Nieder mit den De-
kadenten! Es lebe das alte Theater!«
Bei der Aufführung von Andrejews tief pessimistischem >Leben
des Menschen < kleidete man alles in schwarzen Samt, der »den Büh-
nenraum zu einer grauenerregenden Gruft werden ließ, in der wir
Todeshauch zu spüren glaubten«. So nahm Stanislawski mit außer-
ordentlicher Kühnheit und Konsequenz die Zeichen der Zeit auf, die
seiner Arbeit völlig neue Perspektiven eröffneten.
Ein Kreis neuer Freunde trat in sein Leben ein. Da war der hoch-
begabte, einfallsreiche Musiker Ilja Saz, ein Komponist der linken
Richtung, der die Bühnenmusik auf neue Weise mit dem Spiel ver-

50
schmolz und eigenartige Volksmusik-Instrumente, Hirtenpfeifen,
Lyren, wie sie die alten Psalmodisten gebraucht hatten, und kau-
kasische Instrumente heranzog. Für seine Bühnenbilder gewann
das Künstlertheater moderne Maler, so den lyrischen Dobushinski,
den späteren Avantgardisten des Films Jegorow, schließlich Rörich
und Benois, die dem Djaghilew-Ballett nahestanden. Diese Berüh-
rung mit den Revolutionären verwandter Künste inspirierte Stanis-
lawski zu Experimenten auf dem eigenen Gebiet. Er gründete zu-
sammen mit seinem ehemaligen Schüler Meyerhold, der sich einst
aus Abneigung gegen den Naturalismus von ihm gelöst hatte, das
Studio auf der Powarskaja, das aber recht bald aus finanziellen Grün-
den wieder zusammenbrach. Die Legende von einer Urfehde zwi-
schen Stanislawski und Meyerhold wird am besten durch einige
Äußerungen des Meisters über ihr damaliges Verhältnis widerlegt:
»Ich war auf die Persönlichkeit gestoßen, die ich damals in der
Periode des Suchens so notwendig brauchte. Ich beschloß, Meyer-
hold bei seinen Neuinszenierungen zu helfen, die, wie es schien, mit
meinen Träumen ziemlich identisch waren.« Und an einer anderen
Stelle: »Aus den Protokollen und Briefen entnahm ich, daß wir
grundsätzlich einer Meinung waren und das suchten, was in anderen
Künsten schon gefunden war, in unserer aber noch nicht angewendet
werden konnte.«
Einige Jahre nach dem gescheiterten Unternehmen auf der Po-
warskaja gründete Stanislawski ein neues Studio (das sogenannte
erste, dem bald weitere folgen sollten), und zwar in Zusammenarbeit
mit einem seiner faszinierendsten Regieschüler, Leopold Sulershitzki.
Suler war früher einmal wegen Militärdienst- Verweigerung zu
Festungshaft verurteilt worden. Er war ein überzeugter Tolstojaner,
übertrug des Dichters Manuskripte ins reine und bekam von ihm den
Auftrag, die religiöse Sekte der Duchoborzen, pazifistische »Geistes-
kämpfer«, aus dem Kaukasus nach Kanada zu evakuieren. Zwei
Jahre leitete er diese kanadische Kolonie und ruinierte unter den un-
wirtlichen Verhältnissen seine Gesundheit. Zur Zeit seiner Arbeit
am Künstlertheater lebte er illegal in Moskau und nächtigte oft auf
den Boulevards. Durch ihn sind manche Elemente des Tolstojaner-
tums insbesondere in Stanislawskis Ethik eingegangen, z. B. die Vor-
stellung vom Theater als Stätte sittlicher Läuterung, von der Schau-
spielergemeinschaft als einer Art geistigen Ordens, einer Verbin-
dung von Schauspielpraxis mit tätiger Landarbeit und einer asketi-
schen Selbstvervollkommnung des Menschen als Voraussetzung
künstlerischen Schaffens. Sulershitzkis früher Tod im Jahre 1916
hatte die seltsame Folge, daß ausgerechnet er neben dem ebenfalls
jung dahingegangenen Wachtangow der einzige der großen Stani-
slawski-Schüler war, den die offizielle sowjetische Theatergeschichts-
schreibung gelten ließ; die beiden Frühvollendeten wurden nicht
mehr in die Kunstdiskussionen der Stalin-Zeit verstrickt.
Etwa zu gleicher Zeit geriet Stanislawski unter den Einfluß zweier
51
großer Künstler aus dem Westen: Isadora Duncan und Gordon
Craig. Als er zum ersten Mal den Ausdruckstanz der Duncan sah,
empfand er sofort, »daß in den verschiedensten Enden der Welt auf
Grund uns unbekannter Bedingungen verschiedene Menschen in
verschiedenen Gebieten von verschiedenen Seiten her in der Kunst
ein und dieselben regelmäßigen, ganz organisch entstandenen Schaf-
fensprinzipien suchen. Wenn sie sich treffen, sind sie über die Ge-
meinsamkeit und Verwandtschaft ihrer Ideen erstaunt. Gerade das
ereignete sich auch bei dieser Begegnung: wir verstanden einander
bei der ersten Andeutung«. Auf Anregung der Tänzerin lud Stani-
slawski ihren Freund Gordon Craig nach Moskau ein. Craig war
der große Bahnbrecher des symbolistischen Theaters und verstand
es, Stanislawski für seine Idee einer »Kunst der Bewegung« zu be-
geistern. Unter Assistenz von Stanislawski und Suler inszenierte er
den >Hamlet<, eine berühmt gewordene, anspruchsvolle, von vielen
revolutionären Regie- und Dekorationsideen getragene Aufführung,
die dem Künstlertheater neuen Glanz einbrachte (Hamlet: Wassili
Katschalow). Wenn man noch die Freundschaft und gegenseitige
Anregung berücksichtigt, die zwischen Stanislawski und Max Rein-
hardt bestand, wird deutlich, wie sehr der große Russe mit dem ge-
samteuropäischen Theater verbunden war, an dessen vorderster
Front er kämpfte und rang, bis die kommunistische Machtübernahme
diese Tendenz schließlich rigoros abschnitt.
Spricht man also davon, daß Stanislawski den Naturalismus in
Rußland durchgesetzt hat, darf man nicht vergessen, daß er auch den
Symbolismus und Surrealismus kreierte. Wir können heute schwer
beurteilen, welcher Rang den Aufführungen in Stanislawskis mitt-
lerer Periode, die man von 1905 bis 1917 rechnen muß, zukommt. In
Rußland errangen sie einen demonstrativen Erfolg, im Ausland sind
sie kaum bekannt geworden. Die sowjetische Literatur geht über
diese Periode, die Stanislawski als die seiner »künstlerischen Reife«
bezeichnet hat, begreiflicherweise mit wenigen Andeutungen, einem
dunklen Hinweis auf irgendwelche »idealistischen Irrtümer« hin-
weg. Stanislawski selbst steht in seinen Erinnerungen den Leistun-
gen dieser Zeit recht kritisch gegenüber, aber das will nicht viel be-
sagen, denn dieselbe negative Meinung hat er auch über die natura-
listischen Inszenierungen der Frühzeit, die in der ganzen Welt Sen-
sation machten. Die Wahrheit wird sein, daß diese mittleren Ein-
studierungen sich wie die frühen durch eine einseitige Genialität
oder geniale Einseitigkeit ausgezeichnet haben dürften.
Ihre entscheidende Schwäche war offensichtlich der Widerspruch,
der sich zwischen den neuen, ins Metaphysische zielenden Regievisio-
nen und der alten, am Naturalismus geschulten Schauspielerpraxis
auftat. »Nun begriff ich den Zwiespalt in mir«, notierte Stanislawski,
»das Mißverhältnis zwischen den inneren Anlässen schöpferischer
Gefühle und ihrer Darstellung durch den eigenen Körper.« Es ging ja
nicht mehr darum, die Alltagswelt widerzuspiegeln, sondern Träume,

52
Ahnungen und Sehnsüchte auszudrücken. Um dieses Ziel zu erreichen,
nahm er den Schauspielern bewußt alle äußeren Mittel der Verkör-
perung - Gesten, Bewegungen, Gänge und Handlungen -, »weil sie
mir damals als zu körperlich, realistisch, materiell erschienen, wäh-
rend ich eine körperlose Leidenschaft in ihrer unverbildeten Urform
brauchte, wie sie geradewegs aus der Seele des Schauspielers ent-
springt«. Der Erfolg war aber nur eine Verkrampfung, die sich nicht
wesentlich von jenen schauspielerischen Schablonen unterschied,
gegen die der junge Stanislawski einst ins Feld gezogen war.
Neidvoll studierte Stanislawski die Aussageweise der expressio-
nistischen Malerei und versuchte vor dem Spiegel, ihre Formen ins
Mimische zu übertragen. Aber er erblickte da nur eine Karikatur
seiner selbst - der Körper ließ sich nicht beliebig spiritualisieren.
»Mein Gott«, rief er aus, »sind wir Bühnenkünstler durch die Mate-
rialgebundenheit unseres Körpers also ewig dazu verdammt, Grob-
realem zu dienen und auch nur dieses darzustellen? Sollten wir wirk-
lich nicht berufen sein, über das hinausgehen zu können, was unse-
ren Realisten in der Malerei« - den heute in der Sowjetunion so ge-
feierten Genremalern des 19. Jahrhunderts - »zu ihrer Zeit so gut
gelang? Sollte unsere künstlerische Tätigkeit nicht mehr als die jener
Maler sein?« Er dachte an das schier immateriell erscheinende Ballett,
an die Akrobaten im Zirkus, die wie Vögel von Trapez zu Trapez
fliegen. In solcher Weise wünschte er seinen Körper beherrschen zu
lernen. Er wandte sich dem Sprachstudium zu und ersehnte für seine
Stimme einen Klang wie Musik. Es muß doch möglich sein, dies zu
erreichen, so sagte er sich, und erinnerte sich eines Erlebnisses, wie
einmal ein Schauspieler mit ausgesprochen schwacher Stimme ur-
plötzlich, als er von großen Schäferhunden angefallen wurde, einen
Schrei hervorstieß, der kilometerweit zu hören war. Also bedeutet
das, folgerte er, daß es nur darauf ankommt, ganz in dem Rollen-
erlebnis aufzugehen. Aber wie erreicht man solche Inspiration ohne
Krampf?
Schließlich gelang es ihm, eine höchst eigenartige Brücke von
seiner alten naturalistischen Schauspielermethodik zu den neuen
Ideen zu schlagen, nämlich vermittels der indischen Mystik, die da-
mals in Rußland gerade in Mode kam. Es ist eigentlich erstaunlich,
daß die meisten Biographen Stanislawskis (bei den sowjetischen ist
es allerdings selbstverständlich) an diesem Phänomen vorübergehen,
obwohl die Parallelität seines Systems zum Yoga doch schlagend ist.
Von hier stammt offensichtlich der Grundgedanke : die Beschwörung
der Intuition durch physische Übungen. Direkt nach dem Vorbild
der Yogi führte Stanislawski Konzentrations- und Autosuggestions-
übungen in den Schauspielunterricht ein. Von einer seiner Schau-
spielerinnen wird berichtet, daß sie sich vor dem Auftritt mit einem
Tuch bedeckte: Keiner durfte sie anreden; als einige Frechdachse
das Tuch hochhoben, um zu sehen, was sie mache, wurde sie böse
und sagte: »Sie reißen mich aus dem Kreis, und ich muß gleich auf

53
dieBühne.« Unter dem Einfluß der Yogamystik bekam der Grund-
gedanke seines Systems, das Aufgehen im Milieu, einen ganz ver-
änderten, seinen endgültigen Charakter. »Zur Zeit des Naturalis-
mus«, so schreibt er, »glaubte ich, daß der Regisseur den Alltag des
Lebens in Rolle und Stück deshalb studieren und erfühlen müsse,
um ihn dem Zuschauer so plastisch vor Augen führen zu können,
daß dieser veranlaßt wird, in dem auf der Bühne dargestellten Milieu
ganz selbstverständlich mitzuleben. Erst später erkannte ich die
wahre Bedeutung der echten Milieutreue. Die Milieutreue endet dort,
wo das Unterbewußtsein beginnt. Ohne Milieutreue, die mitunter
bis zum Naturalismus gehen kann, gibt es kein Eindringen in die
Sphäre des Unbewußten. Wenn der Körper nicht zu leben anfängt,
kann die Seele auch nicht glauben.«
Diese Rolle des Unbewußten beim schauspielerischen Gestal-
tungsprozeß, an der Stanislawski bis zum Ende festhielt, sollte es
eigentlich unmöglich machen, das System in den dialektischen Ma-
terialismus, der von der grundsätzlichen Erkennbarkeit der Welt
ausgeht, einzugliedern. In der Tat ist das Fallenlassen dieser Kom-
ponente einer der Gründe für die Verarmung der Methode unter
Stanislawskis sowjetischen Epigonen. Die Begegnung mit der indi-
schen Lehre und den irrationalen Strömungen in Europa am Anfang
des zwanzigsten Jahrhunderts war für Stanislawski das zweite Grund-
erlebnis seiner Laufbahn, nicht weniger aufwühlend als der Ein-
druck, den das naturwissenschaftlich-materialistische Denken des
ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts auf ihn ausgeübt hat. Leider
hat er keine Gelegenheit mehr gehabt, seine Erkenntnisse voll aus-
reifen zu lassen; die Vorbereitungen zu einer Aufführung von
Rabindranath Tagores > König der dunklen Kammer < wurden durch
die Oktoberrevolution abgebrochen. Der wesentliche Erfolg der
neuen Methode gelang eigentlich auf einer Nebenlinie: Die Auf-
führungen russischer Klassiker realistischen Typs, die im Künstler-
theater nach wie vor neben den modernistischen Unternehmungen
herliefen, verloren ihre naturalistische Erdenschwere und gerieten
lichter, subtiler, vergeistigter; Turgenjews Komödie >Ein Monat auf
dem Lande < wurde - noch vor dem Kriege - einer der schönsten
Erfolge des MCHAT. Da nach der Revolution nur noch diese Rich-
tung akzeptiert wurde (abgesehen von der kommunistischen Ten-
denzdramatik, die Stanislawski nicht spielte), blieb die Entwicklung
des Systems zwangsläufig in diesem Stadium stecken.

Die bolschewistische Oktoberrevolution bedeutete für das Mos-


kauer Künstlertheater einen tiefen Einschnitt in seine Arbeit, eine
neue, die zweite Krise, die dem zweiten Höhepunkt folgte. Stani-
slawski hat sich von diesem Schlag nicht wieder erholt, wenn auch
seine letzten Lebensjahre noch vom Glänze Stalinschen Wohlwollens
vergoldet waren. Nach der Revolution hatte der Meister versucht,
den Stimmungen der Zeit gerecht zu werden, und eine symbolisti-

54
sehe Aufführung von Byrons Mysterium >Kain< in Szene gesetzt,
die aber völlig mißverstanden wurde und trotz der Glanzleistung des
Hauptdarstellers Leonid Leonidow mit Pauken und Trompeten
durchfiel. Stanislawski machte seiner Verärgerung Luft, indem er
nun höchst unzeitgemäß Lecocqs alte Operette >Madame Angot<,
eine Verspottung der Französischen Revolution, auf den Plan seines
Musikalischen Studios setzte - eine Anzüglichkeit, die ihm natürlich
neue Anfeindungen eintrug. Nach der Auslandsreise, die dem Künst-
lertheater eine gewisse Atempause gewährte, geriet Stanislawski in
zunehmende Vereinsamung. Suler, Wachtangow, Ilja Saz und der
dem Theater verbundene russische Dramatiker Andrejew waren tot;
einige der besten Kräfte des Ensembles, darunter die Germanowa,
waren nach der Tournee im Ausland geblieben, wo auch Gorki und
Benois weilten. Meyerhold hatte einen ganz anderen Weg beschrit-
ten und stand als Theaterrevolutionär auf dem Gipfel der öffent-
lichen Anerkennung er forderte seinen ehemaligen Lehrer auf, sein
;

System zu verbrennen, sich von der alten »unseligen« Literatur zu


lösen und sich der revolutionären Bewegung zuzuwenden. Sogar der
treue Dantschenko - dessen eigene Stücke bei den Kommunisten
nicht gespielt werden durften - wandte sich avantgardistischen Ex-
perimenten zu; er übertrug die Prinzipien der Stilbühne auf das
Opernschaffen und arbeitete an der Heranbildung eines »syntheti-
schen«, d. h. universalen Schauspielers (über den Stanislawski ein-
mal spöttisch bemerkte: »Er macht alles: er singt Romanzen und
Couplets, deklamiert Verse, spricht den Text einer Rolle, spielt
Klavier oder Geige, tanzt Foxtrott, spielt Fußball, kann radschlagen
und auf den Händen gehen, spielt Tragödien und Vaudevilles -
natürlich das alles nicht als Fachmann, sondern als Dilettant . .«).
.

In dem Aufsatz eines sowjetischen Theaterkritikers von damals


hieß es: »Gerade zu dieser Zeit beginnt Stanislawski, sich vom
Künstlertheater zu entfernen. Er nähert sich allmählich jener Grenze,
hinter der für ihn die Zeit der tragischen Einsamkeit beginnt . . .

Man versteht ihn nicht mehr - ein Führer ohne Armee, ein Lehrer
ohne Schüler . . Zeugt diese ihrem Wesen nach tragische Erschei-
.

nung nicht von der furchtbaren Rache des Theaterschicksals, das


dem Künstler diesen einsamen Herbst sendet, nach einem hellen
Frühling und heißen Sommer, die in den Dienst eines entarteten
Theaters gestellt wurden?« Nur Volksbildungskommissar Luna-
tscharski hielt seine Hand schützend über den großen alten Mann,
wie er sie auch über Meyerhold hielt, als das Blatt sich wendete.
Stanislawski trat nur noch selten ans Regiepult, so um Klassiker
wie Ostrowski (>Heißes Herz<) und Gogol (>Tote Seelen <) zu insze-
nieren. An der glanzvollen Theaterepoche, die nach der Oktober-
revolution einsetzte, hatte er keinen Anteil; er verstand die neue Zeit
nicht mehr. »Ich glaube, daß ich viel von den Bestrebungen der
Jugend organisch nicht mehr erfassen kann«, bekannte er resigniert.
»Man muß den Mut haben, das einzugestehen. Sie wissen nach mei-
55
nen Erzählungen, wie man uns erzog. Vergleichen Sie uns mit der
jetzigen, in Gefahren und Foltern der Revolution gehärteten Gene-
ration! Unsere Epoche war die Zeit des friedlichen Rußlands, die
aber nur wenigen Zufriedenheit brachte. Die heutige Generation
steht unter dem Zeichen des Krieges und der Welterschütterungen
mit Hunger, Haß und Nichtverstehen. Wir erfuhren viel Glück,
teilten es aber selten mit unseren Nächsten und bezahlen jetzt für
unseren Egoismus. Die neue Generation kennt fast keine Freude, sucht
und schafft sie sich erst, ihren neuen Lebensbedingungen entspre-
chend, und ist bemüht, auf ihre Art die für das persönliche Leben ver-
lorenen Jugendjahre einzuholen. Wir dürfen sie nicht verurteilen .«
. .

Was hinderte eigentlich Stanislawski, der doch zweimal an der


Spitze einer Theaterrevolution in Rußland gestanden hatte, sich an
der Bewegung dieser erregenden Jahre zu beteiligen? War er zu alt
geworden, um noch einmal von vorn zu beginnen? Fühlte er sich
wirklich so sehr als Bürger, als Repräsentant des alten Rußlands,
welches die Revolution hinweggefegt hatte ? Oder schreckte ihn, den
doch ewigen Neuerer und Experimentator, etwa der avantgardisti-
sche Charakter der Bewegung, verabscheute er ihren »Formalismus«,
wie die spätere sowjetische Legende es wahrhaben will?
Es war primär etwas anderes die Abneigung gegen die Agitations-
:

und Tendenzdramatik. »Die Tragik der neuen Theaterrevolution


bestand darin, daß ihr Dichter noch nicht geboren war. Doch eben
auf ihm beruht unser Kollektivschaffen - ohne Dichter können
Schauspieler und Regisseure nichts anfangen. Das wollten offensicht-
lich die jetzigen Neuerer und Revolutionäre nicht wahrhaben. Hier-
aus entsprang naturgegeben eine Reihe von Fehlern und Mißver-
ständnissen, die die Kunst den verlogenen äußeren Weg gehen Hes-
sen. Erschiene heute ein Bühnenstück, das die Seele des modernen
Menschen genial widerspiegelte - in welcher Form es auch geschrie-
ben sein möge: impressionistisch, realistisch, futuristisch -, so
würden sich alle Theaterleute daraufstürzen und um seines geistigen
Gehalts willen beginnen, eine möglichst klare und anschauliche Dar-
stellungsform dafür zu suchen. Dieser innere Gehalt des Lebens des
menschlichen Geistes aber ist so groß und tief, da er aus schweren
Leiden, Kämpfen und Heldentaten, unter unendlich grausamen Ka-
tastrophen, Hungersnöten und revolutionärem Ringen hervor-
gewachsen ist.«
Was Stanislawski abstieß, war sicher nicht einmal sosehr das nied-
rige intellektuelle Niveau der Sowjetstücke - er hat in seiner natura-
listischen und symbolistischen Periode manche Machwerke ein-
studiert, außerdemhätte er ja Majakowski und Gorki spielen kön-
nen -, als vielmehr die Enge des Horizonts, die Verwandlung des
Theaters in eine Tribüne, die mit seiner Vorstellung von der Auf-
gabe des Theaters, das Leben des menschlichen Geistes darzustellen,
nicht vereinbar war. »Schön ist, was das Leben des menschlichen
Geistes auf der Bühne und von der Bühne herab erhaben macht, d. h.

56
die Gefühle und Gedanken der Darsteller und Zuschauer. Mögen die
Inszenierung des Regisseurs und das Spiel der Darsteller getrost na-
turalistisch, konventionell, links oder rechts gerichtet sein, mögen
sie impressionistisch, futuristisch sein! Ist das alles nicht unwesent-
lich, wenn sie nur überzeugend sind, das heißt wirklichkeitsgetreu
oder glaubhaft und schön, nämlich künstlerisch erhaben, und das
wirkliche Leben des menschlichen Geistes wiedergeben, ohne das
keine Kunst bestehen kann?«
Stanislawskis Antipathie gegen jegliche politische Tendenz auf
der Bühne trübte ihm nicht den Blick für die formalen Errungen-
schaften der kommunistischen Theaterrevolution - »Auch ich singe
ihnen Lobeshymnen«, schrieb er einmal, »doch mit Vorbehalt« -,
aber sie hielt ihn ab, sich an einer Bewegung zu beteiligen, die er für
theaterfremd hielt. Nur einmal studierte er mit Hingabe ein Sowjet-
stück ein, Iwanows >Panzerzug 14-69 <, und diese Inszenierung war
bezeichnend genug für seine Einstellung. Sie fand aus Anlaß der
Zehnjahresfeier der Revolution 1927 statt, als das Künstlertheater
nicht mehr umhin konnte, von der neuen Zeit Notiz zu nehmen. Ein
nichtkommunistisches Bürgerkriegsstück, >Die Tage der Turbins<
von Bulgakow, das ein Jahr zuvor am MCHAT uraufgeführt wor-
den war, hatte einen unbeschreiblichen Skandal in der SowjetöfTent-
lichkeit ausgelöst und vom Spielplan abgesetzt werden müssen.
>Panzerzug< sollte ein Dokument des guten Willens werden. Stani-
slawski arbeitete monatelang mit dem Autor und setzte sein ganzes
Genie als Regisseur, glänzende Schauspieler (Katschalow, Chmel-
jow u. a.) ein, um das letzte herauszuholen. Er schuf eine grandiose
Massenszene auf dem Dach der Dorf kirche, dem Versammlungsplatz
der sibirischen Partisanen, ein Panorama voller Pathos, Kraft und
Weite. Er ließ den Panzerzug, der einen chinesischen Revolutionär
zermalmt, aus dem dunklen Bühnenraum unter entsetzlichem Getöse
direkt auf die Zuschauer zurasen.
Und er tat sein möglichstes, dem Stück die aufdringliche Tendenz
zu nehmen. So berichtet der Autor Iwanow, wie ihn Stanislawski
einmal während einer Probe ansprach »Wie ist Ihrer Meinung nach
:

der Kommandeur des Panzerzugs, Hauptmann Neselassow, geklei-


det?« Iwanow schilderte ihn nun so, wie man dazumal in der Propa-
ganda einen weißgardistischen Offizier eben darzustellen pflegte in:

einer mit Silber bestickten schwarzen Jacke mit aufgenähtem weißem


Totenkopf und gekreuzten Knochen auf dem Ärmel, »seiner Phra-
seologie nach ein Intellektueller, nach Handlungsweise und Kleidung
aber ein Lakai der amerikanischen Interventen«. Stanislawski sagte
ruhig »Finden Sie nicht, daß es besser wäre, wenn man alles Exoti-
:

sche beiseite ließe? Russen sind an sich kein exotisches Volk. Nese-
lassow ist ein gewöhnlicher Armeeangehöriger, der in den Dienst
der Amerikaner und Japaner geraten ist. Ich glaube nicht, daß er ein
Gefallen daran findet, sich als Sklave zu fühlen. Es ist ihm unan-
genehm. Aber andererseits haßt er die Bolschewiki derart, daß er

57
sich aus Haß damit abfindet, ein Sklave der Amerikaner zu sein. Die
Bolschewiki, sehen Sie, haben ihm sein Gut, sein Häuschen, sein
Geld auf der Bank weggenommen, er hat daher das Gefühl, als sei
ganz Rußland des Russischen beraubt! Er ist im Grunde dumm,
kurzsichtig, ein kleiner Mensch. Kleiden Sie ihn exotisch, so wird er
höchstwahrscheinlich in nichts glaubhaft.« Auch den kommunisti-
schen Helden holte er vom Kothurn herunter. Er nahm ihm alles
Heroische, Pathetische, Deklamatorische. Der Revolutionär trat zu-
rückhaltend auf, sprach leise, war kurzsichtig und machte den Ein-
druck eines sonderbaren Kauzes, hinter dessen äußerer Unzugäng-
lichkeit sich aber Verstand, Energie und Empfindung verbargen.
»In der Aufführung spürt man nichts von der Revolution, sosehr
auch auf der Bühne aus Gewehren und sogar Geschützen gefeuert
wird«, schrieb einer der damals führenden sowjetischen Kritiker.
»So führte man in diesem Theater bereits vor dreißig Jahren die
Stücke Tschechows und die historischen Chroniken auf. Es sind
immer noch dieselben Masken auf der Bühne, es ist immer noch der-
selbe trostlose Naturalismus und dasselbe Psychologisieren.«
Der alte Stanislawski zog sich nun ganz in das Schneckenhaus
seines Studios zurück. Er rekapitulierte sein System: 553 Proben
wandte er an eine Experimental-Einstudierung des >Tartuffe< von
Moliere. Und erklärte »Ein Gebiet gibt es, auf dem wir noch nicht
:

veraltet sind, sondern im Gegenteil, je mehr wir leben, desto er-


fahrener und stärker in ihm werden . Das ist das Gebiet der
. .

inneren und äußeren Technik unserer Kunst, die für alle gleich ver-
bindlich ist - Junge und Alte linker oder rechter Richtung, Frauen
oder Männer, Talentierte oder Durchschnittsmenschen. Eine rich-
tige Stimmschulung, Rhythmik, eine gute Diktion benötigt der-
jenige, der in alter Zeit >Behüte Gott den Zaren < sang, ebenso wie
!

der, welcher jetzt die Internationale singt. Auch die Vorgänge des
schauspielerischen Schaffens bleiben in ihren natürlichen Grund-
lagen für die neue Generation die gleichen wie für die alte.« Stani-
slawski fragt: »Wie kann ich nun der jungen Generation die Ergeb-
nisse meiner Erfahrungen mitteilen?« und kommt zu dem Schluß,
den er ganz am Ende seiner Lebenserinnerungen ausspricht: »Das
Gold auf meinem künstlerischen Wege, Ergebnis des Suchens wäh-
rend meines ganzen Lebens, ist mein System .« . .

Gerade dieses System aber, und damit greift Stanislawskis persön-


liche Tragik noch über seinen Tod hinaus, ist bis auf den heutigen
Tag den gröbsten Mißdeutungen ausgesetzt. Man kann getrost
sagen, daß von den Abertausenden von Theaterleuten in allen Län-
dern des Ostblocks, die ständig den Namen Stanislawski im Munde
führen, nur die wenigsten etwas von seinen Ideen begriffen haben.
Das hat verschiedene Gründe. Die Schwierigkeit beginnt bei Stani-
slawski selbst. Wohl war er ein besserer Schriftsteller, als infolge
einiger holpriger Übersetzungen sein Ruf ist, aber unter allen seinen
hinterlassenen Manuskripten - man sagt, daß es rund 12000 seien -

58
ist auch nicht eines, in dem System klar und verständlich
er sein
dargestellt hätte. Stanislawskis Schwäche, andererseits natürlich auch
wieder seine Stärke, war es, daß er mehr ein intuitiver als theoreti-
scher Denker war. Er entwickelte seine Methode an Hand ganz kon-
kreter Fälle und vermittelte seine Erkenntnis wiederum im Rahmen
konkreter, praktischer Unterrichtsaufgaben. Terminologie, Argu-
mentation und Ausdeutung wechseln ständig, Erkenntnisse aus ver-
schiedenen Reifestadien gehen durcheinander oder laufen nebenein-
ander her. Zudem ist er nach seinen eigenen Angaben nie zu einem
eigentlichen Abschluß gelangt, er hat seine Methode bis zum Schluß
als einen komplizierten und widerspruchsvollen Prozeß des Suchens
und Tastens aufgefaßt, vor dessen dogmatischer Nachahmung er
ausdrücklich warnte. Wahrscheinlich war dieser fragmentarische
Charakter des Werkes unvermeidlich, wenn man bedenkt, daß es sich
um die diffizilsten psychologischen und ästhetischen Fragen, um die
Analyse des künstlerischen Schaffensprozesses handelte.
Stanislawskis stalinistische Epigonen haben dann versucht, das
wolkige System auf ein mathematisches Koordinatengitter aufzu-
spießen, es durchzurationalisieren, und dabei eine »Technik der
Zaubersprüche« entwickelt, von der ein Zitat aus dem Standardwerk
von Albakin >Das Stanislawski-System und das Sow et- Theater <
j

einen Begriff gibt: »Während das Stück studiert wird, wird die
> Überaufgabe < bestimmt, die die Grundidee der bevorstehenden
Aufführung ausdrückt, es wird die Linie der durchgehenden Hand-
lung <, die zielbewußt auf die Überaufgabe gerichtet ist, für das ganze
Stück und für die Aufführung festgelegt. Außerdem wird der >Unter-
text< des Stückes und der einzelnen Rollen studiert, es wird der
>Kern< jeder Bühnengestalt, es wird die Perspektive des Schau-
spielers < und die Perspektive der Rolle < festgelegt, aus denen sich
die Perspektive der Aufführung ergeben muß. Die vorgeschlagenen
Umstände < des Stückes werden studiert und erforscht, der ganze
Text wird in >Teile und Aufgaben < für den Schauspieler und für den
Regisseur zerlegt.« Wenn man bedenkt, daß dieses Gestrüpp trok-
kener, ausgetüftelter Vorschriften als unantastbares stalinistisches
Dogma dargeboten wurde, gegen das keinen Zweifel und kein
es
Aufmucken geben durfte, so versteht man, warum der Name Stani-
slawski für die Schauspieler hinter dem Eisernen Vorhang zu einem
Alptraum geworden ist.
Wir wollen den Versuch wagen, einen knappen Umriß von Stani-
slawskis System zu geben. Es ruht, vereinfacht gesagt, im wesent-
lichen auf zwei Säulen, die mit den Termini technici »Physische
Handlungen« und »Überaufgabe« bezeichnet werden. Das Prinzip
der sogenannten Physischen Handlungen besteht darin, daß der
Schauspieler angehalten wird, auf der Bühne nicht so fühlen zu wol-
len, als ob verkörpernde Gestalt wäre, sondern so zu han-
er die zu
deln. »Ich verstehe alles, Konstantin Sergejewitsch, was Sie von uns
fordern«, bemerkte ein Darsteller bei der Probe. »Sie verlangen von

59
uns nicht sosehr ein >Erleben<, wie es bisher in der schauspieleri-
schen Arbeit üblich war, als vielmehr ein organisches Handeln ..« .

Stanislawski unterbrach ihn »Und die Gefühle, die Erlebnisse wer-


:

den als Ergebnis Ihres Urteils über die faktischen Vorgänge und
Handlungen, die Sie zu vollführen begonnen haben, von selbst in
Ihnen entstehen.« Der Begriff Physische Handlung ist nicht ganz
korrekt, denn es ist die komplexe menschliche Handlung gemeint,
also nicht nur die mechanisch-physische, sondern auch die psychische
Äußerung, der Wille, die Worthandlung. Stanislawski wollte mit
seiner Formulierung nur betonen, daß es ihm auf das einfache, reale
Verhalten ankommt, und seine Methode abgrenzen von dem krampf-
haften Erzeugenwollen der Gefühle aus dem Blauen heraus, das zur
Schmiere führt, und von einem routinemäßigen Einlernen gewisser
genormter menschlicher Ausdrucksformen, z. B. Augenrollen bei
Zorn, Grinsen bei Freude usw. Der Schauspieler soll seine Rolle
jedesmal neu erleben, indem er ihre Handlungen absolviert. Um die
Wirkung auf den Zuschauer soll er sich überhaupt nicht kümmern,
nur um das Handeln in der Rolle und das Zusammenspiel mit dem
Partner. Schauspieler, die unter Stanislawski nach dieser Methode
gearbeitet haben, berichten, daß sie zuerst ein befremdendes Gefühl
der Unsicherheit, der Ungenauigkeit gehabt hätten, weil sie bei jeder
Vorstellung völlig neu und etwas anders reagiert hätten. Das Prin-
zip führt zu einer Freiheit und Unmittelbarkeit, zu einer Nuancierung
der Empfindungen, die besonders lebensecht und glaubwürdig wirkt.
In der Tat bewegen sich die meisten großen Schauspieler ganz spon-
tan in solcher Weise auf der Bühne. Nicht Verstellung ist die Auf-
gabe des Schauspielers, sondern Verwandlung. Stanislawskis Ver-
dienst, ebenso einfach wie genial, besteht darin, bewußt gemacht zu
haben, auf welche Weise der Verwandlungsprozeß am ungezwun-
gensten vor sich geht.
Die sogenannte Überaufgabe, die man aus Ablauf und Aussage
des Stücks destilliert, ist die schöpferische Grundformel der Auffüh-
rung. Stanislawski erläuterte es einmal am >Hamlet<: »Ich kann im
>Hamlet< die Aufgabe entdecken, die ich auf die Formel bringe: >Ich
will das Andenken meines Vaters ehren. < Wenn ich bei dieser Formel
bleibe, wird ein Familiendrama entstehen. Ich kann aber auch eine
höhere Aufgabe entdecken: >Ich will die Geheimnisse des Seins er-
kennen^ Jetzt kann schon die Tragödie eines Menschen entstehen,
der über die Schwelle des Lebens geblickt hat und nicht mehr existie-
ren kann, ohne die Frage nach dem Sinn des Lebens zu beantworten.
Ich kann aber auch eine noch höhere Aufgabe entdecken: >Ich will
die Menschheit retten. < Diese Aufgabenstellung wird zur Verbreite-
rung und Vertiefung der Tragödie führen.« Die Postulierung einer
Überaufgabe hat den Zweck, erstens ein wildes Drauflosinszenieren,
das die Aufführung und die Rollen zerflattern läßt, unmöglich zu
machen, zweitens die Aufmerksamkeit des Regisseurs statt auf irgend-
welche Gags und Stimmungen auf die Aussage der Dichtung zu kon-

60
zentrieren. Wenn man allerdings hört, daß kommunistische Regis-
seure im >Hamlet< die Überaufgabe entdeckt haben: »Ich will, daß
der Feudalstaat zugrunde geht«, wird man die Problematik des Ver-
fahrens erkennen.
Die Verbindung zwischen den Elementen Physische Handlung
und Überaufgabe, gewissermaßen den Architrav über den beiden
Säulen des Systems, stellt der Begriff der Durchgehenden Handlung
dar. Stanislawski schilderte in einem fingierten Gespräch, wie er sich
die Verknüpfung der einzelnen Handlungen mit der Grundidee der
Aufführung vorstellt:
»Wenn ich auf die Bühne gehe«, sagt einer der Schauspieler, »dann
denke ich an die erste nächstliegende Aufgabe. Nach ihrer Ausfüh-
rung entsteht von selbst die zweite. Wenn ich diese gespielt habe,
denke ich an die dritte, vierte und so weiter.«
»Und ich beginne mit der durchgehenden Handlung. Wie eine
fast endlose Chaussee dehnt sie sich vor mir aus, und genau an ihrem
Ende erglänzt die Kuppel der Überaufgabe«, sagt ein alter Schau-
spieler.
»Wie aber sind Sie bestrebt, das Endziel zu erreichen?« fragt Tor-
zow (Schauspiellehrer).
»Indem Aufgabe nach der anderen erfülle.«
ich logisch eine
»Sie handeln, und dieses Handeln führt Sie immer näher an das
Endziel heran, nicht wahr?« forscht Arkadi Nikolajewitsch (Torzow).
»Natürlich, und so mache ich es in jeder Rolle.«
»Wie kommen Ihnen denn diese Handlungen in einer gut erlebten
Rolle vor? Schwer, kompliziert, unfaßbar, nicht wahr?« fragt Tor-
zow, die vermutete Antwort vorwegnehmend.
»So war es früher tatsächlich, aber schließlich bin ich zu einem
Dutzend sehr klarer, realer, leicht verständlicher Handlungen ge-
kommen, die Sie das Schema oder die Fahrrinnen des Stückes und
der Rolle nennen.«
Ohne ihre Unterordnung unter die Durchgehende Handlung
würden die Physischen Handlungen in uferlose naturalistische Zu-
standsmalerei ausarten, ein Fehler, der sich bei sehr vielen Stanislaw-
ski-Epigonen findet, aber nicht unbedingt dem Meister in die Schuhe
geschoben werden sollte. Er sagt ausdrücklich, daß das Geheimnis
nicht in der Handlung selbst liegt, sondern in den gegebenen Um-
ständen, »man kann ein Glas Wasser trinken - das ist eine einfache
physische Handlung, um aber ein Glas mit Gift zu trinken, muß man
ein ganzes Stück schreiben .« Die Methode setzt geradezu eine
. .

Bewußtseinsspaltung voraus »Mit einer Hälfte seiner Seele geht der


:

Schauspieler ganz in der Uberaufgabe, in der durchgehenden Hand-


lung, im Untertext, in der Sicht auf, mit dem anderen Teil seines
. . .

inneren Wesens aber lebt der Schauspieler in der Psychotechnik. Der


Schauspieler spaltet sich im Moment des Schaffens in zwei Teile. Die
Zweiteilung behindert die Inspiration nicht. Im Gegenteil, das eine
fördert das andere.«
Wenn man die Stanislawskische Magie auf ihren realen Kern redu-
ziert hat, kann man die Bedeutung des Systems einschätzen. Es ist
weder eine überlebte Stilform des 19. Jahrhunderts, wie viele Kriti-
ker behaupten, noch ein schauspielerisches Universalmittel, wie die
Apologeten sagen. Das System ist der Ausgangspunkt, die Grund-
lage jeder Theaterkunst, wie das Naturstudium die Grundlage jeder
Malerei Wenn die Methode Stanislawskis, die ja die Zusammen-
ist.

fassung von Erkenntnissen der verschiedensten Theaterpersönlich-


keiten ist, an allen Schauspielschulen, an den vielen kleinen Theatern
angewandt würde, so könnte man mancher Schmiere, Routine, Ef-
fekthascherei das Wasser abgraben. Aber der große Irrtum Stani-
slawskis war es, bedingt durch die nie ganz überwundene Bindung
an den Naturalismus und die unfreiwillige Beschränkung auf russi-
sche Klassiker, daß er glaubte, allein mit der »Wahrheit der Emp-
findung« und der »Logik der Handlung« auskommen zu können.
Der Riegel gegen den Naturalismus, den er mit der Überaufgabe vor-
gelegt hat, reicht nicht aus. Er ignorierte solche bedeutenden und
bei vielen Werken unerläßlichen Mittel der Gestaltung wie Stilisie-
rung, Groteske, Verfremdung, Lichtregie, Bewegungsregie u. ä., die
er selbst zuzeiten oft genug angewendet hat. Sein System ist nur das
Einmaleins der Theaterkunst, das deren höhere Mathematik nicht
ersetzen kann.
Ein weiterer Irrtum Stanislawskis, darin blieb er im rationalisti-
schen Denken des 19. Jahrhunderts befangen, bestand darin, daß er
die Möglichkeiten einer Lehrbarkeit der Kunst überschätzte. Er hat
die Intuition des Schauspielers und den Genius des Regisseurs stets
als selbstverständlich einkalkuliert. Das mochte hingehen, da es ihm
nach seinen immer wieder ausgesprochenen Absichten nur um die
Schaffung technischer Voraussetzungen für die eigentliche Inspira-
tion ging und er wiederholt betont hat, daß sein System weder dem
Genie noch dem Unbegabten helfen könne; es sei lediglich für den
durchschnittlichen Schauspieler gedacht als »Nachschlagebuch in
den Minuten des Zweifels«. Dennoch ist er nicht ganz unschuldig
daran, daß bei seinen Schülern nach und nach der Eindruck ent-
stand, das System sei ein wahres Hexeneinmaleins, mit dessen Hilfe
man alles machen könne. Es bedurfte nur einer Katechisierung und
Dogmatisierung dessen, was der Meister tatsächlich gelehrt hatte,
und es trat eine katastrophale Verarmung und Ernüchterung der
Theaterkunst ein, in der für Einfälle, Eingebungen und Wagnisse,
für alles Neue, Kühne und Unerwartete kein Platz mehr war (so
steht z. B. Gorkis >Nachtasyl< seit 1902, also seit sechzig Jahren, in
einund derselben Inszenierung auf dem Spielplan).
Tatsache ist, daß die nach der Methode Stanislawskis arbeitenden
sowjetischen Bühnen schon Ibsen nicht recht bewältigen konnten,
geschweige denn die westeuropäischen und antiken Klassiker. Alba-
kin nimmt in seinem als offiziös anzusehenden Buch zu dem Vor-
wurf Stellung, daß das Künstlertheater Shakespeare deshalb nicht
62
aufführe, weil es mit ihm nicht fertig werde. Albakin gibt die be-
zeichnende Antwort: »Warum muß denn ausgerechnet Shakespeare
das entscheidende Kriterium der Echtheit und Lebensfähigkeit der
klassischen Theorie des Sowjettheaters sein? Um über das Stani-
slawski-System zu urteilen, muß man seine Zuflucht nicht bei Shake-
speare oder Schiller, bei Lope de Vega oder Gozzi nehmen. Die
Gegenwart ist das einzige und echte Kriterium für seine Beurteilung.«
Aus dieser Äußerung kann man ersehen, was den Stalinismus zur
Okkupation des Stanislawski-Systems veranlaßt hat. Man kann näm-
lich mit Hilfe der (freilich falsch verstandenen) Physischen Hand-
lungen das langweiligste, ganz spannungs- und konfliktlose Sowjet-
stück einigermaßen spielbar machen, indem man es zur Pantomime
auflockert, man kann mit Hilfe der (ebenfalls falsch verstandenen)
Uberaufgabe jedem Werk eine politische Tendenz aufzwingen. Fer-
ner kommen die rationalistischen und didaktischen Elemente im
System einer Interpretation im Sinne des Dialektischen Materialis-
mus entgegen, der ja derselben Wurzel, der Fortschrittsideologie
des 19. Jahrhunderts, entsprang. (Immerhin war es dazu notwendig,
Stanislawskis Hauptwerk >Die Arbeit des Schauspielers an sich
selbst < als »idealistisch« zu unterdrücken.) Die Beschränkung der
Anwendbarkeit auf russische Klassiker und Gegenwartsstücke
schmeichelte dem großrussischen Nationalismus, die Betonung des
Konventionellen und Plausiblen im Spiel auf der Bühne dem spieß-
bürgerlichen Geschmack der Funktionäre. So wurde das System
Stanislawskis, weiß Gott ohne subjektive Schuld seines Schöpfers,
schließlich zu einem Zahnrad im Mechanismus des totalitären Staa-
tes. Man schauert zusammen, wenn man - wie ein gespenstisches
Menetekel am Ende von Stanislawskis Lebensweg - die Mitteilung
der amtlichen sowjetischen Nachrichtenagentur TASS vom 22. April
1937 liest:
»Gestern abend fand im Moskauer Künstlertheater die Erstauf-
führung der Tolstoj-Dramatisierung >Anna Karenina < statt. Dieser
Aufführung wohnten der Genosse Stalin und die Genossen Molo-
tow, Kaganowitsch, Woroschilow und Shdanow bei. Die Auffüh-
rung ergriff die Zuschauer. Die hervorragenden Schauspieler und
Verdienten Künstler der RSFSR erschütterten durch ihr begeister-
tes Spiel und durch die Tiefe ihres Erlebens. In der Karenina der
Tarassowa sah und fühlte der Zuschauer mit äußerster Klarheit die
Tragödie der russischen Frau, die von der unerträglichen Schwere
des Besitzsystems erdrückt wurde. Das Spiel Chmeljows erzeugte
den Haß gegen Karenin, der in der genialen Schöpfung Tolstojs als
die Verkörperung aller Gemeinheiten des reaktionären bürokrati-
schen Rußlands und der Heuchelei der Kirchenmoral dargestellt ist.
Der Erfolg der Premiere war ganz ungewöhnlich. Der Genosse
Stalin und die Genossen Molotow, Kaganowitsch, Woroschilow und
Shdanow applaudierten begeistert gemeinsam mit allen anderen Zu-
schauern . . .«

63
.

Der Theateroktober

Der Singvogel der Poesie - die Nachtigall - und der Vogel der Weisheit - die
Eule - erscheinen erst nach Sonnenuntergang. Jetzt ist das Tagewerk voll-
bracht. Im Lichte der Dämmerung werden Verstand und Gefühl sich des Ge-
leisteten erst richtig bewußt
. .

Trotzki 1923

Am 7. November 1920, zum dritten Jahrestag der bolschewistischen


Oktoberrevolution, fand an Ort und Stelle des Umsturzes, vor dem
Winterpalais in Petrograd (dem heutigen Leningrad), ein Massen-
schauspiel statt, das die historischen Vorgänge rekapitulierte. An
der Veranstaltung waren als Darsteller etwa 15000 Personen be-
teiligt, vornehmlich Rotarmisten und einige Schauspieler. Die
Zahl der Zuschauer auf den anliegenden Plätzen schätzte man auf
annähernd 100000; d. h. von den 800000 Einwohnern, die Pet-
rograd damals besaß, war mindestens jeder neunte bis zehnte an-
wesend. Der Verlauf des Unternehmens wird von Fülöp-Miller be-
schrieben:
»Nach dem von Jewreinow ausgearbeiteten Szenarium waren vor
dem Schloß zwei große, miteinander durch eine Brücke verbundene
Estraden errichtet worden, auf denen sich die theatralische Handlung
abspielte. Die eine, die > Weiße Estrade <, versinnbildlichte die Welt
der Reaktion, die andere, die >Rote Estrade <, hingegen die der Revo-
lution. Ja, nach dem Gang der Ereignisse wurde bald die eine, bald
die andere beleuchtet oder verdunkelt, und auf ihnen spielten sich
nun, teils in symbolistischer, teils in realistischer Darstellung die
politischen Geschehnisse, vom Sturz des Zaren bis zum Siege des
Bolschewismus, ab. Das Fest begann um zehn Uhr nachts mit einem
Kanonenschuß und mit Fanfaren; dann flammten die Scheinwerfer
auf und zeigten die auf der > Weißen Bühne < versammelten reaktio-
nären Machthaber: Die Provisorische Regierung mit Kerenski an
der Spitze, Beamte des alten Regimes, Vertreter des Adels, Junker,
Bankiers und ähnliche Gestalten aus der vorrevolutionären Welt, alle
in sehr karikierter Darstellung. Zwischen diesen Leuten entwickelte
sich nun ein ebenso geschäftiges wie sinnloses Treiben von gegen-
seitiger Liebedienerei, von Servilismus und Pathetik, bis dann auf der
> Roten Bühne < das werktätige Proletariat sichtbar wurde, das sich

bereits zum entscheidenden Kampf rüstete. Bald kam es zu einem


Handgemenge auf der Verbindungsbrücke, das längere Zeit unent-
schieden hin- und herwogte, endlich aber mit dem Siege der Revo-
lutionäre endete. Die >weiße< Regierung mußte flüchten und zog
sich, entsprechend den wirklichen Vorgängen des Jahres 1917, in das
Winterpalais zurück. Von jetzt an wurde die Handlung vollkommen
realistisch Militär drang in Schwarmlinien vor, Automobile mit Be-
:

waffneten rasten heran, Kanonen fuhren auf, und es kam zu einer

64
allgemeinen wilden Schießerei, an welcher sich auch der auf der
Newa liegende Panzerkreuzer > Aurora < eifrig beteiligte.
Schließlich wurde auch das Winterpalais, der letzte Zufluchtsort
der Reaktion, erstürmt. An der Front des Gebäudes flammte das
mächtige Transparent eines roten Sowjetsterns auf, die Musik
stimmte die Internationale an, und es entwickelte sich ein großer
Parademarsch der siegreichen Roten Truppen mit allgemeinem Chor-
gesang.« Ein mächtiges Feuerwerk am Abendhimmel beschloß die
Veranstaltung.
Die >Erstürmung des Winterpalais < war nur eines jener imposanten
Volksfeste, wie sie in den ersten Jahren nach der Revolution in Ruß-
land stattfanden. Sie wurden vor allem an den Feiertagen des soge-
nannten Roten Kalenders veranstaltet, also am Jahrestag der Okto-
berrevolution, am Ersten Mai usw. Eine der ersten Aufführungen
dieser Art wurde von Nikolaj Jewreinow und dem Maler Annenkow
vor der Petersburger Börse in Szene gesetzt In Form eines Mysterien-
:

spiels wurde da in einer Reihe von Bildern dargestellt, wie im Laufe


der Menschheitsgeschichte die Massen immer wieder vergeblich ver-
sucht hätten, das Joch der Sklavenhalter, Feudalherren, Priester und
Kapitalisten abzuschütteln, bis es dann endlich der bolschewisti-
schen Revolution gelungen sei. Piaton Kershenzew, ein prominenter
Theoretiker des Massentheaters, Freund Lenins (später Vorsitzender
des allgewaltigen Kunstkomitees der UdSSR), arrangierte persön-
lich zum 1. Mai 1920 ein Mysterium >Hymnus der freien Arbeit <, an
dem 4000 Rotarmisten und zahllose andere Personen mitwirkten,
und zu Ehren des II. Weltkongresses der Komintern ein Massen-
schauspiel, das die Geschichte der Arbeiterbewegung von 1848 bis
zur Gegenwart veranschaulichen sollte und Abertausende von Men-
schen in Bewegung setzte. Als eine mächtige Unternehmung war die
Revolutionsfeier 1921 auf dem Chodynka-Feld bei Moskau gedacht;
der Regisseur Meyerhold wollte mit einem Aufgebot von 2300 Mann
Infanterie, 200 Reitern, 16 Geschützen, 5 Flugzeugen, diversen Pan-
zerzügen, Tanks, Motorrädern, Kapellen und Chören >Kampf und
Sieg der Sowjets < darstellen. Aber das Projekt erwies sich als so über-
dimensional, daß es nicht realisiert werden konnte.
Der politische Einsatz des Theaters blieb nicht auf die Haupt-
städte beschränkt. Von den Zentren ausgesandt, zogen theaterspie-
lende Agitationstrupps durch das ganze Land, um die kommunisti-
schen Ideen zu verbreiten. Man zählte während des Bürgerkrieges
in der Sowjetunion 3000 Theaterorganisationen. Diese Ziffer gibt
aber nicht einmal ein annäherndes Bild von der außerordentlichen
Bedeutung des Theaters in der damaligen Zeit, denn fast jede Fabrik,
Parteiorganisation auf dem Dorf, Einheit der Roten Armee spielte
in irgendeiner Weise Theater. In einem Land, das überwiegend von
Analphabeten bevölkert war, stellte das theatralische Spiel, sei es
auch in einer Werkhalle, in einer Scheune, auf dem Dorfanger oder
sonstwo im Freien, das wirkungsvollste Agitationsmittel dar. (Drei-

65
ßig Jahre später bedienten sich die Kommunisten der gleichen Me-
thode zur Massenbeeinflussung in China, sie bildeten in den Dör-
fern und bei der Armee Agitationstrupps, nach einer alten Volks-
kunst »Yangko «-Gruppen genannt, welche spielen, singen, mu-
sizieren und tanzen und dabei Propaganda machen.) Viele der
Spiele entstanden aus dem Volk heraus ; so war ein verschiedentlich
aufgeführtes Stück >Der Kampf des roten Ural< von einem Schuster
im Schützengraben geschrieben worden. Andere Aufführungen wur-
den von den Agitatoren improvisiert. Da gab es die »Roten Revuen«
der »Blauen Blusen« (Proletkult-Brigaden). Da gab es die »Le-
bende Zeitung«, eine Szenenfolge, in der man die neuesten politi-
schen Ereignisse darzustellen und zu kommentieren pflegte. Da gab
es die »Agitgerichte«, wo unter allgemeiner Beteiligung des Publi-
kums die weißgardistischen Generale, die Ententemächte, die Ham-
sterer, aber auch das Analphabetentum, der Hunger, der Typhus
usw. verurteilt wurden.
Als eine mächtige Veranstaltung fand 1920 das >Gericht über
Wrangel< in der Kuban-Staniza (Siedlung) Krimskaja unter freiem
Himmel statt. Es nahmen etwa 10000 Rotarmisten und Kosaken am
Spiel teil. Jeder Mitwirkende erhielt ein Gerippe seiner Rolle und
improvisierte dann; alle waren geschminkt und kostümiert. Der
Oberbefehlshaber der weißen Südfront, General Wrangel, wurde
symbolisch vor das »Gericht« gestellt. Die Mitwirkenden waren mit
Enthusiasmus bei der Sache, und es hagelte Zwischenrufe wie »Du
Uns betrügst du nicht, du Blutsäufer!« und dergleichen. -
lügst!
Noch im Jahre 1923 fand in der Stadt Iwanowo-Wosnessensk eine
Massenaufführung statt, an der sich die gesamte Bevölkerung be-
teiligte; es wurden der große Streik und die blutigen Unruhen des
Jahres 1915 dargestellt.
An klassischen Autoren wurde eigentlich nur Schiller gespielt. Der
zu den Bolschewisten übergegangene Schriftsteller Graf Alexej Tol-
stoj schildert humorvoll eine Aufführung der >Räuber< durch Rot-
armisten an der Front:
»Das Publikum brach bei Beginn der Vorstellung in dröhnendes
Lachen aus, als es in dem geschminkten Alten mit Haar aus Werg
und in dem aus einem Meßgewand des Popen zurechtgeschneiderten
Kittel den Rotarmisten Wanin erkannte >Das ist er < riefen sie.
. . . I

>Los, Wanin, mach's gut, keine Angst < Als hinter dem zwischen
. . .

den Kulissen angebrachten Bettvorhang ein Mann mit merkwürdig


schleichenden Schritten in schlotternder Kleidung mit zwei Schö-
ßen, in Frauenstrümpfen - die Zähne gefletscht, die Augen schief-
stehend - hervorkam und wie eine Schlange zu zischen begann:
>Vater, hier bin ich, euer treuer Sohn Franz < - erkannte das Publi-
kum auch sofort Kusma Kusmitsch und bog sich vor Lachen . . .

Die Darsteller wurden jedoch der fröhlichen Stimmung im Zu-


schauerraum Herr. Das Publikum hatte alle erkannt und begann zu-
zuhören. Latugin trat an die qualmenden Funzeln heran - sie be-

66
leuchteten von unten sein mächtiges Gesicht mit dem angeklebten
Bärtchen aus Schafwolle, mit grimmig hochgebogenen Brauen -, er
preßte die Hände auf der Brust so fest zusammen, daß der schwarze
Advokatengehrock fast in den Nähten platzte, und sprach mit kraft-
voller Stimme: >Oh, daß ich durch die ganze Natur das Hörn des
Aufruhrs blasen könnte, Luft, Erde und Meer wider das Hyänen-
gezücht ins Treffen führen < Hier verstummte das Publikum

bereits, denn es begriff, wo das Stück hinaus wollte.


Die Dekorationen wurden nicht gewechselt, besondere Umbauten
nicht vorgenommen. Vor Beginn jedes Bildes schob Sergej Sergeje-
witsch den Kopf durch den Vorhang - sein Gesicht lächelte, als
wisse er etwas Besonderes >Drittes Bild. Stellen Sie sich das präch-
:

tige Schloß des Grafen Moor vor. Ins Fenster gießt sich Blumen-
duft aus dem Garten. Die schöne Amalie sitzt in ihrem Zimmer < . . .

Sein von Ölfunzeln beleuchtetes Gesicht verschwand. Der Vor-


hang ging auseinander. Keiner wollte in dieser zornigen Schönen
im weiten Rock, mit einem bunten, kreuzweise über die Brust gebun-
denen Tuch - rotwangig, mit lockigem Haar, die fast das ganze Ge-
sicht ausfüllten - Anisja Nasarowa aus der zweiten Kompanie wie-
dererkennen. Mit tiefer, bebender, singender Stimme begann sie zu
sprechen und schlug beim Anblick Franzens mit der kleinen Faust
auf den Tisch >Hinweg, du Schuft
: < Kusma Kusmitsch fürch-
. . .

tete die Stelle, wo Amalie ihm einen Backenstreich versetzen müßte.


Bei all ihrem träumerischen Wesen hatte sie doch die Hand eines
Rotarmisten. Kusma Kusmitsch wollte ihr schon zuflüstern >Etwas :

sanfter . < Sie aber - aus tiefster Seele


. . >Geh, Lotterbube < - holte
: !

aus, schlug zu, als laste die ganze Schwere ihres früheren Lebens auf
ihrer Hand -, und Kusma Kusmitsch flog in die Kulisse. Aber keiner
lachte. Aus dem Publikum wurden Rufe laut: >Recht so .< Und . .

alle klatschten, denn jeder hatte den Wunsch, dem Schuft einen eben-
solchen Schlag zu versetzen.
Weiter lief die Vorstellung wie am Schnürchen. Die Darsteller
waren nach dem ersten Akt in Schweiß gebadet, ihre gestrafften
Muskeln hatten sich gelockert, die zusammengeschnürten Stimmen
waren menschlich geworden, und es war ihnen jetzt ganz egal, wenn
sie etwas von dem, was ihnen der soufflierende Sergej Sergejewitsch
mit zischender Flüsterstimme vorsagte, nicht verstanden - ungeniert
erfanden sie eigene Worte, kräftigere als bei Schiller und auf jeden
Fall - für die Zuschauer verständlichere « . . .

Nur aus dieser Woge volkstümlichen Theaterspiels, dem »Thea-


teroktober« mit seinen Volksfesten, Laienspielen und Agitations-
abenden heraus ist das Sowjettheater der zwanziger Jahre zu ver-
stehen. Was in den Massenveranstaltungen elementar aufkam, fand
dann in kultivierter Form seinen Eingang in die Schauspielhäuser
von Moskau, Leningrad, Kiew. Viele Eigenschaften des frühen
Sowjettheaters, die ihm zum Weltruf verhalfen, haben ihren Ur-
sprung ganz einfach in den Anforderungen, die das Spiel auf der

67
;

Straße und auf dem Lande Da war zuerst einmal die sou-
stellte.
veräne Herrschaft des Regisseurs, denn er war ja der entscheidende
Mann, der bei den Massenveranstaltungen und den Agitationsein-
sätzen wie ein Feldherr die Marschrouten und Aktionen der Mit-
wirkenden festzulegen und zu dirigieren hatte. Da war der Vorrang
von Arrangement und Improvisation gegenüber dem dichterischen
Wort, das für die agitatorischen Aufgaben allenfalls als Ausgangs-
punkt, als Rohstoff in Frage kam und im übrigen in dem allgemeinen
Trubel sowieso ertrank. Für Psychologie und individuelle Gestal-
tung in der Schauspielkunst hatte man ebenfalls keine Verwendung
was man brauchte, waren Ausdrucksformen, die weithin vernehm-
bar und von den Darstellern ohne Vorkenntnisse zu bewältigen wa-
ren, also Massenbewegungen, Chöre sowie heroische oder satirische
Formeln und Symbolismen. Die Grenze zwischen Schauspielern und
Zuschauern wurde verwischt allesamt waren sie Mitwirkende einer
;

politischen Aktion. Auch die Grenze zwischen den einzelnen Kunst-


arten fiel, denn je nach den vorhandenen Fähigkeiten wurden neben
der Schauspielkunst Pantomime, Rezitation, Tanz, Musik, Malerei,
Akrobatik, Clownerie usw. eingesetzt.
Vor allem aber folgten das Theater der Massen und das Theater
der jungen Sowjetbühnen demselben, bestimmenden Impuls: dem
politischen Auftrag; wie das alte griechische Theater aus dem Kul-
tus ging das Sowjettheater aus dem politischen Leben, aus Versamm-
lung, Meeting und Demonstration hervor. Nicht zufällig wurden
alle theaterrevolutionären Tendenzen der Zeit - die Agitprop-Trup-
pen (abgekürzt aus: Agitation und Propaganda), der Proletkult (ab-
gekürzt aus: Proletarische Kultur) wie der Avantgardismus der
Bühnen - von ein und demselben Manne inspiriert und gelenkt,
dem Direktor der Sektion Theater beim Volkskommissariat für
Volksbildung, in dessen Persönlichkeit, wie Volkskommissar
Lunatscharski sagte, linke Ästhetik und linke Politik miteinander
verschmolzen von Wsewolod Meyerhold.
:

Als er sich in den Dienst der Revolution stellte, hatte der Regis-
seur Meyerhold bereits eine bewegte und glanzvolle Karriere hinter
sich. Er war 1874 als Kind deutscher Eltern in Rußland geboren
worden; sein Vater war vermögender Schnapsfabrikant in einer rus-
sischen Provinzstadt. Dem Jungen fiel der Besuch des russischen
Gymnasiums schwer, er brauchte elf Jahre, bis er mit Mühe sein
Abitur absolvierte. Auf der Moskauer Universität erwarb er die rus-
sische Staatsbürgerschaft, gleichzeitig trat er zur orthodoxen Kirche
über. Zu Ehren des Schriftstellers Garschin, der aus Verzweiflung
über die tristen Verhältnisse der Zeit im Selbstmord geendet hatte,
wählte er sich den Vornamen Wsewolod. Bald kehrte er der Univer-
sität den Rücken und interessierte sich, wie viele Kinder des reichen
Moskauer Bürgertums, fürs Theater; als der Vater starb und das
»Handelshaus E. F. Meyerhold und Söhne« zusammenbrach, ergriff

68
er den Beruf des Schauspielers. Er trat in die Theaterschule von
Nemirowitsch-Dantschenko ein. Als er sie 1897 verließ, schrieb ihm
sein Direktor ins Abgangszeugnis »Meyerhold ist unter den Eleven
:

der Theaterschule eine Ausnahmeerscheinung. Es genügt die Fest-


stellung, daß er bislang der einzige Schüler ist, der die höchste Note
in Geschichte des Dramas, der Literatur und Kunst bekommen hat.
Eine unter den männlichen Eleven seltene Gewissenhaftigkeit und
ernstes Verhalten zur Sache. Meyerhold hat alle Voraussetzungen,
um in jeder Truppe eine sehr angesehene Stellung einzunehmen. Die
beste Eigenschaft seiner szenischen Persönlichkeit ist seine um-
fassende, mannigfaltige Verwendbarkeit. Er arbeitet viel, hält gut
im Ton, schminkt sich gut, bekundet Temperament und ist erfahren
wie ein fertiger Schauspieler.« Aus dem jüngsten Jahrgang, der die
Theaterschule absolviert hatte, wurden nur drei angehende Schau-
spieler in das gerade von Nemirowitsch-Dantschenko und Stani-
slawski gegründete Künstlertheater übernommen, darunter die
Knipper und Meyerhold.
Am Künstlertheater stieß Meyerhold sehr schnell zur ersten Gar-
nitur vor. In der denkwürdigen Uraufführung von Tschechows
>Möwe< spielte er den Treplew, die männliche Hauptrolle. Der sehr
anspruchsvolle Stanislawski sah in ihm seinen begabtesten Schüler
und betraute ihn schon nach wenigen Jahren mit Regieaufgaben -
eine ganz ungewöhnliche Auszeichnung für den jungen Mann. Nach
vier Jahren der Arbeit am Künstlertheater trennte sich Meyerhold
von seinen Lehrmeistern Stanislawski und Dantschenko, um eigene
Wege zu gehen. Er tat sich mit der hervorragenden Schauspielerin
Vera Kommissarshewskaja zusammen, die - ebenfalls aus dem
Stanislawski-Kreis hervorgegangen - in Petersburg ein avantgardi-
stisches Theateraufgemacht hatte, und entwickelte im Gegensatz zu
dem Naturalismus des Künstlertheaters die Prinzipien einer Stil-
bühne. Als Stanislawski 1905 an der eigenen Arbeit zu zweifeln be-
gann, rief er Meyerhold zurück und eröffnete mit ihm zusammen ein
Studio, jenes an der Powarskaja, das dann aus finanziellen Gründen
wieder zusammenbrach. In den Jahren vor dem ersten Weltkrieg er-
oberte sich der als Revolutionär verschriene Meyerhold die Kaiser-
lichen Bühnen in Petersburg. Im Zusammenwirken mit dem Maler
Golowin erstrebte er eine malerisch-dekorative Komposition des
Bühnenvorgangs und gruppierte die Schauspieler in der Art leben-
der Basreliefs und Fresken. Er inszenierte u. a. Tolstojs >Lebenden
Leichnam <, Molieres >Don Juan<, Lermontows >Maskerade< mit der
Musik von Glasunow sowie Wagners >Tristan< und die >Elektra<
von Strauß und Hofmannsthal. Der Dichter Alexander Block, dessen
>Schaubude< Meyerhold kreiert hatte, schrieb dem Regisseur begei-
stert, dieInszenierung habe selbst ihm, dem Autor, neue Perspekti-
ven des Werkes eröffnet.
Meyerhold war von den führenden Theaterleuten der vorrevolu-
tionären Zeit der einzigerer sich -sofort und vorbehaltlos - der bol-

69
schewistischen Partei anschloß. Diese Haltung war gewiß kein Akt
des Opportunismus - Meyerhold war bis zu seinem tragischen Tod
kein Mann der Anpassung -, sondern ehrlicher Überzeugung. Als
konsequentester Theaterrevolutionär Rußlands, der bei seinen Un-
ternehmungen immer wieder auf materielle und gesellschaftliche
Schranken gestoßen war, entdeckte er in der Revolution ungeahnte
schöpferische Möglichkeiten. Plötzlich war das ganze starre Gefüge
theatralischer Konventionen und Bedingtheiten hinweggefegt, und
er stand als souveräner, seinen Intentionen folgender Herr über
einen mächtigen und modernen Darstellungsapparat den unverbil-
deten, für alle kulturellen Erlebnisse dankbaren Massen gegenüber.
Das nachrevolutionäre Theaterleben bot ihm ein unermeßliches und
vollkommen freies Experimentierfeld, wo er in wenigen Jahren alles
ausprobieren und kreieren konnte, was dann in den anderen Ländern
der Welt erst in jahrzehntelangen Kämpfen der Avantgardisten mit
dem Theaterbetrieb und dem konventionellen Publikum durchge-
gesetzt wurde. Die Revolution war für Meyerhold der große
Dammbruch der Befreiung - nur zu begreiflich, daß er auch für die
soziale Emanzipation der Arbeiter und Bauern alles Verständnis
hatte und seine Bestrebungen mit den ihren verband. Von bol-
schewistischer Ideologie hatte er keine Ahnung; er hat in seinem
Theater auch nie die spezifisch bolschewistische Variante der Re-
volution gestaltet (wie später Brecht), sondern die Revolution an
sich, den Aufstand der Massen.
Bei aller Mannigfaltigkeit und Experimentierfreudigkeit seiner
Arbeit stützte sich Meyerhold in seiner nachrevolutionären Phase
auf einige konstante, von ihm selbst eingeführte Grundelemente der
Gestaltung. Seine schauspielerische Methode war die sogenannte
Biomechanik. Man hat darunter ein darstellerisches Prinzip zu ver-
stehen, das die rationellste und lapidarste Bewegung auf der Bühne
und die Umsetzung seelischer Erlebnisse in körperliche Ausdrucks-
formen erstrebt. Jede Bewegung, jede Geste des Spiels wird mit
mathematischer Gewissenhaftigkeit kalkuliert und hat symbolische
Bedeutung. Soll eine Gestalt dargestellt werden, die von einem tragi-
schen Schicksal betroffen ist, hat der Schauspieler das nicht durch
Mimik, Rede, Stimmung auszudrücken, sondern durch sein äußeres
Erscheinungsbild: Er läßt also die Schultern vornüberhängen, be-
wegt sich ruckartig, vernachlässigt seine Kleidung usw. Bei freudi-
ger Erregung der darzustellenden Person vollführt der Schauspieler
vielleicht ein Tänzchen. In der Inszenierung von Verhaerens >Mor-
genröte< wurde beispielsweise die Morgenstimmung durch macht-
volles Ausschreiten eines zuversichtlichen, gespannten Chores, die
Abenddämmerung durch den müden Gang von Reihen aus der Fa-
brik heimkehrender Arbeiter zum Ausdruck gebracht. Meyerhold
entwickelte auf experimentellem Wege ein ganzes System von Be-
wegungssymbolen und Stilgriffen, die er seinen Schauspielern, mög-
lichstjungen, die noch nicht durch konventionelle Schauspiel-

70
schulen gegangen waren, in einem intensiven Studium beibrachte.
Seine Methode setzte artistische Körperbeherrschung, gutes Re-
aktionsvermögen, Gefühl für Raum und Zeit, für Stellung und Wir-
kung des eigenen Körpers, Musikalität und Intelligenz voraus; er
schulte sein Ensemble immer wieder im Gehen, Laufen, Turnen,
Springen, Klettern und derartigen grundlegenden Übungen der
Körpererziehung.
Sinn und Zweck der Biomechanik bestand darin, die Emotion in
eine Formel zu verwandeln, die Vergesellschaftung und Normie-
rung der individuellen Erlebnisse zu ermöglichen, wie es einem
Theater, das auf Kollektiverlebnisse und Massenaktionen zielte,
wünschenswert schien. Meyerhold ging so weit, für seine Schau-
spieler einen einheitlichen blauen Overall einzuführen, in dem kaum
Männlein und Weiblein, geschweige denn einzelne Persönlichkeiten
zu unterscheiden waren. Um den »Klassenkern« des gesprochenen
Wortes bloßlegen ?u können, erarbeitete er eine besondere Tech-
nik, wie man das, was man im Text zu sagen hat, durch Miene und
Geste vorwegnehmen, ergänzen und kommentieren könne - also
eine Keimform der späteren Brechtschen »Verfremdung«. (Beide,
Meyerhold wie Brecht, knüpften da u. a. an das ostasiatische Thea-
ter an.)
Mit der biomechanischen Schauspielertechnik berührte sich eine
andere Komponente des neuen Theaters, der Rückgriff auf die russi-
sche Hanswurst-Tradition. Man ging davon aus, daß die Jahrmarkt-
spiele viel inniger im russischen Volksboden verwurzelt sind als das
erst spät aus dem Westen importierte Theater, daß sie sich vor allem
immer unmittelbar an das einfache Volk gewandt haben, während
die Opern- und Schauspielhäuser den besitzenden Klassen vor-
behalten waren. In dem Schalksnarren, eben dem Hanswurst,
welcher selbst dem Zaren die Wahrheit ins Gesicht sagen durfte, er-
blickte man so etwas wie einen revolutionären Vorfahren. Meyerhold
hoffte sein Theater populärer zu machen, indem er in der Art der
fahrenden Schausteller früherer Jahrhunderte den Vortrag durch
akrobatische Kunststückchen und äquilibristische Tricks würzte.
Vom formalen Gesichtspunkt ergab die Einbeziehung der Hans-
wurst-Tradition eine reizvolle Bereicherung des Spiels und die Mög-
lichkeit, solche Mittel wie Parodie und Groteske, Übertreibung und
Exzentrik anzuwenden.
Das dritte Grundelement des Meyerholdschen Theaters war der
dynamische Konstruktivismus des Bühnenraums, von ihm selbst
entworfen. Vorhang, Guckkasten, Kulissen verschwanden ganz;
dem Zuschauer bot sich beim Betreten des Theaters ein Bild der
Bühne, wie es dann für den ganzen Abend blieb, allenfalls korrigiert
durch das Hereintragen oder Hinausräumen einzelner Versatzstücke
und Requisiten. Im Hintergrund waren die nackten Brandmauern
sichtbar. Der aller konventionellen Theateraufmachung entblößte
Bühnenraum war nun keineswegs leer, sondern mit Gerüsten,

7*
Blöcken, Treppen, Bögen und dergleichen bebaut. Auf diese Weise
wurde eine großzügige Raumbezogenheit des Spiels möglich ge-
macht. Das verblüffendste aber war, daß dieser ganze Konstruk-
tionsapparat in Bewegung gesetzt wurde. Das geschah mit Hilfe von
fahrbaren Spielflächen, Drehscheiben, auf- und niederschwebenden
Terrassen, Lifts, Rolltreppen, Drahtseilbahnen, Hebekränen, ro-
tierenden Wänden, Versenkungen usw. Auf der Meyerhold-Bühne
war ununterbrochen alles in Bewegung. Die Schauspieler bewegten
sich nicht nur horizontal, sondern auch vertikal über die Bühne, in-
dem sieüber die Gerüste turnten und sogar an Strickleitern hangel-
ten. Einmal war die ganze Spielfläche von einem Gehänge von Bam-
busstöcken mit Kupferringen umgeben, die beim Auf- und Abtreten
der Darsteller aneinanderschlugen und klapperten. Die Vorstellun-
gen begannen nicht mit Gong oder Klingel, sondern mit schrillem
Pfiff. Das Spiel der Lichteffekte, Einblenden von Projektionen, die

Beigabe von Musik, von der Harmonika bis zur Jazzband, rundete
den Eindruck ab. Es war eine Sinfonie der Bewegung, erfüllt von
Tempo und Rhythmus - vielleicht würde man besser, passender
sagen ein motorisches Getriebe, aber keineswegs monoton, sondern
:

in der großartigen Präzision, Logik und Harmonie, dem wunder-


baren Ineinanderspiel moderner Produktionsprozesse.
Was bezweckte Meyerhold mit diesem gewaltigen Bühnen-
mechanismus ? Zuerst einmal wollte er das veraltete, verstaubte Bild
der bequemen und gefälligen Illusionsbühne, die verblichene Hof-
theaterherrlichkeit durch einen Anblick ersetzen, der der modernen
Wirklichkeit gemäßer wäre. Als er die Basis all seiner Unternehmun-
gen, die Meyerhold- Werkstätten, schuf, sagte er »Unsere Künstler
:

müssen den Pinsel wegwerfen und den Zirkel, das Beil und den Ham-
mer ergreifen, um die Bühne nach dem Vorbild unserer technischen
Welt neu zu formen.« Die Wirkensstätten des Proletariats, des Hel-
den der Revolution: Fabriken, Werkhallen, Maschinensäle, waren
in das Zentrum der russischen Gesellschaft getreten, und Meyerhold
übertrug diese Atmosphäre auf die Bühne. Das Bild, das in seinem
Theater geboten wurde, stand als Symbol für den rastlosen und
enthusiastischen Aufbau im ganzen Land.
Weiter sollte die neue Theaterform Bühnenvorgang und Publi-
kum aneinanderrücken. »Der Zweck des Theaters ist nicht, ein fer-
tiges Kunstprodukt zu zeigen«, erklärte Meyerhold, »sondern viel-
mehr den Zuschauer zum Mitschöpfer des Dramas zu machen. Das
Fluidum soll nicht nur von der Bühne ins Publikum, sondern auch
umgekehrt zurückstrahlen.« Das komplizierte und bewegte System
der Meyerhold-Bühne beschäftigte und entwickelte fortwährend die
Phantasie der Zuschauer. Das aus dem starren Bühnenraum ge-
löste Spiel trat in beinahe physische Berührung mit dem Publikum,
welches die Bühnenhandlung von den verschiedensten Blickpunkten
aus wahrnahm, durch kreuz und quer im Raum verlaufende Vor-
gänge völlig in das Geschehen eingespannt war und auf die ver-

72
-

schiedenste Art direkt angesprochen wurde (einmal ließ Meyerhold


minutenlang auf die Leute im Parkett schießen, daß einige Frauen
ohnmächtig hinausgetragen werden mußten). In dem von Meyer-
hold geplanten, aber nicht mehr fertiggestellten hypermodernen
Theaterbau wollte er die Sessel der Zuschauer schwenkbar ein-
richten und die ganze Bühne durch den Zuschauerraum bewegen.
Der enorme personelle und technische Apparat hätte sich in
Effekthascherei und dröhnendem Leerlauf erschöpfen können, wenn
nicht ein genialer Künstler darauf wie auf einer Klaviatur zu spielen
vermocht hätte. Man schildert ihn, wie er, die Arme über der Brust
verschränkt, inmitten des Parketts stand und die Bewegungen auf
der Bühne dirigierte. »Meyerhold ist die personifizierte Unruhe, er
ist vom Feuer eines ungeheuren Temperaments versengt, er wird

von dreister Schöpferkraft getrieben, er ist starrsinnig, ein unbe-


zähmbarer Phantast, und er hat sein Theater in eine Höhe gerissen,
von wo aus jedes andere Theater als langweilig und grau erscheint.«
Er fühlte sich als Organisator des gesamten Bühnenwerks und unter-
warf sich rigoros nicht nur den Darstellungsapparat, sondern auch
die literarische Vorlage, mit der er mehr als großzügig umsprang.
Die Geschmeidigkeit des Materials - der Darsteller wie der Bühnen-
einrichtung - benötigte er, um die unerschöpfliche Fülle seiner Ideen
sofort und an Ort und Stelle realisieren zu können. Er probte viele
Monate und schuf dabei das Opus änderte den Text, hatte Einfälle,
:

gestaltete Szenen, warf alles wieder um, improvisierte - bis sich die
endgültige Gestalt der Inszenierung formte wie eine Plastik unter
den Händen des Bildhauers. Wohl hieb er gelegentlich mächtig da-
neben, verhunzte ein Stück oder machte es unverständlich, aber nie-
mals konnte man ihm vorwerfen, daß er in Schematismus oder Ma-
unbändigen Phantasie
nieriertheit verfallen wäre. Sicher fehlte seiner
oft die Disziplin, aber anregend und fruchtbar wirkten seine Auf-
führungen immer. Er war der Picasso des Theaters; von der Über-
fülle seiner Einfälle und Entdeckungen können Generationen zeh-
ren. Jelagin schreibt in seinem Buch »Ich kann mit bestem Gewissen
:

sagen, daß ich auf den Bühnen Europas und Amerikas später keinen
szenischen Kunstgriff gesehen habe, den Meyerhold nicht schon ein-
mal angewandt oder zur Diskussion gestellt hatte.« Wie immer man
zu Meyerholds Unternehmungen im einzelnen stehen mag, es ist un-
bestreitbar, daß dieser Mann auf das Welttheater einen Einfluß aus-
übte wie in unserem Jahrhundert nur noch Stanislawski, Reinhardt
und Craig.
Meyerhold entwickelte seinen Stil vor allem in Zusammenarbeit
mit Wladimir Majakowski, dem ebenso wortgewaltigen wie exzen-
trischen »Kommunisten und Futuristen«. Majakowski ist bekannt
geworden als der Sänger der Revolution, er war aber auch der talen-
tierteste und originellste Dramatiker der Sowjetepoche, und seine
bildkünstlerischen Phantasien haben das Gesicht des Meyerhold
Theaters prägen helfen. Sein >Mysterium BurTo<, ein »heroisches,

73
;

epischesund satirisches Abbild unseres Weltalters«, 1918 von Meyer-


hold in Szene gesetzt, wurde zum klassischen Libretto des Revo-
lutionstheaters. Die Welt ertrinkt in einer Sinflut (1. Akt), selbst
der Pol, das letzte trockene Fleckchen, zu dem sich Menschen aller
Klassen und Nationen geflüchtet haben, hat schon ein Leck, ein
Eskimo hält den Finger drauf, wird aber weggestoßen, so daß die
Fluten hervorbrechen; sieben Paar reiner Wesen, d. h. Bourgeois,
und sieben Paar unreiner Wesen, d. h. Proletarier, retten sich auf eine
Arche (2. Akt), auf der erst der Negus von Abessinien, dann die bür-
gerliche Demokratie herrscht; trotz der Beschwichtigungsversuche
eines Versöhnlers bricht an Bord der Klassenkampf aus, und die
Arche geht in Trümmer; unbeirrt durch Hölle (3. Akt) und Himmel
(4. Akt) stürmen die Proletarier vorwärts und aufwärts sie räumen
;

das von den Katastrophen verwüstete Trümmerfeld auf (5 Akt) .

und am Ende öffnen sich vor ihren staunenden Augen die Pforten
des Gelobten Landes: eine strahlende Gartenstadt mit Wolken-
kratzern, Straßenbahnen und Autos.
>Mysterium Buffo< mit seinen Gerüsten und simultanen Spiel-
flächen, technischen und Lichteffekten, Massenumzügen wurde zum
Ausgangspunkt für immer kühnere Inszenierungen Meyerholds.
Das Trotzki gewidmete Revolutionsstück >Die Erde bäumt sich<
von Tretjakow wurde als ein kriegerisches und revolutionäres Fu-
rioso in Szene gesetzt. Auf der kahlen Bühne war ein Eisengerüst
aufgebaut worden, davor bemerkte man mehrere Kanonen, ein Flug-
zeug und eine Feldküche. Quer durch den Zuschauerraum führte
eine Verbindungsbrücke zur Bühne; darüber rasten während der
ganzen Vorstellung fast unentwegt Autos, Motorräder und Rad-
fahrerkolonnen. Im ersten Teil des Stücks wurde die letzte Phase
des Weltkrieges abgehandelt Die Geschütze und Maschinengewehre
:

schössen wie wild, Verwundete wurden zum Verbandsplatz ge-


schleppt, karikierte Generäle schrien ihre Befehle, und von der Höhe
der Gerüste herunter riefen Soldaten zur Revolution auf. Im weiteren
Verlauf wurden die revolutionäre Erhebung und der Bürgerkrieg
dargestellt Wieder wurde aus allen Rohren geschossen, wieder don-
:

nerten die Motorfahrzeuge durch den Zuschauerraum, sanken Ge-


fallene und Verwundete zusammen. Schließlich erstürmten die sieg-
reichen Bolschewiken die Bühnenaufbauten, die Tribünen, den Zu-
schauerraum und das Foyer und hißten überall rote Fahnen. Das
sich, und alles sang gemeinsam die Internationale.
Publikum erhob
Aus dem Roman von Ilja Ehrenburg >Der Trust D. E.<, ergänzt
durch Passagen aus Kellermannns >Tunnel<, bastelte Meyerhold ein
Agitationsstück zurecht. In der Handlung ging es darum, daß die
amerikanischen Kapitalisten ganz Europa erobert haben und Sowjet-
rußland bedrohen, die Bolschewisten aber insgeheim einen unter-
seeischen Tunnel von Leningrad nach New York bauen und auf
diese Weise in Amerika selbst einrücken. Die Vorstellung spielte sich
vor beweglichen Wandschirmen ab, die mit Hilfe weniger Dekora-

74
tionsstücke und bestimmter Beleuchtungseffekte
die verschieden-
artigsten Schauplätze abgaben. Die aneinandergereihten Szenen-
fetzen beleuchteten Situationen in der ganzen Welt; soweit es sich
um die Sowjetunion handelte, in plakativer und monumentalisierter
Form, soweit es die kapitalistischen Länder anging, in Form von
Sketchen und Buffonerien (beispielsweise zeigte eine Szene, die in
England spielt, vom Untergang bedrohten Lords gegen-
wie sich die
Kinomontagen, Agitationsreden, Dokumentatio-
seitig auffressen).
nen umrahmten und durchsetzten die Aufführung.
Bei der Jahre später unternommenen Inszenierung von Tretjakows
>Brülle,China < erwies sich die Regie bereits maßvoller und über-
zeugender; sie zeichnete den Grundgedanken der Aufführung in
großen und kräftigen szenischen Linien. Der Massenrhythmus der
chinesischen Kulis und der gedrillte Automatismus der Europäer
wurden einander gegenübergestellt. Das erste Bild zeigte z. B. das
Verladen von Tee Ein Kuli nach dem anderen kommt heran, fängt
:

seinen Ballen im Flug, wirft ihn auf die Schulter und schleppt ihn
schnell weg, begleitet von den Takten des chinesischen Arbeits-
liedes und den Zurufen des Aufsehers. So wurden immer wieder ein-
drucksvolle Massenszenen arrangiert, die ihr Vorbild entweder in
Produktionsvorgängen oder in Straßendemonstrationen hatten, also
aus dem Leben selbst stammten. Die Europäer waren mit Masken
ausgestattet und bewegten sich wie Marionetten; ihre ganze Er-
scheinungswelt trug im Gegensatz zu dem Realismus der Chinesen-
szenen operettenhafte Züge.
Parallel zur Tendenz seiner ausgesprochenen Agitationsstücke,
und sie schließlich verdrängend, entwickelte Meyerhold die Linie
des musikalisch-pantomimischen Darstellungsstils in seinen Klassi-
ker-Transformationen. Eine der ersten und wichtigsten Stationen
auf diesem Wege war die Aufführung der Komödie >Der großartige
Hahnrei < von Crommelynck. Der Grundgedanke der Handlung -
Liebe und Eifersucht im Rahmen eines Dreiecksverhältnisses -
wurde ohne Rücksicht auf die konkrete Handlungsführung in kon-
struktivistische und dynamische Formprinzipien übertragen. Die
Schauspieler, allesamt im blauen Dreß, bewegten sich auf einem
verschachtelten System von Podesten, Treppen und Rutschbahnen;
ihre Gänge und Gebärden folgten streng den Gesetzen geometri-
scher Figuren und musikalischer Rhythmen. Große Schwungräder
und Windmühlenflügel im Hintergrund unterstrichen die Bewegun-
gen und Erregungen der Darsteller, indem sie je nach dem Impuls der
Handlung schneller oder langsamer rotierten. Die Bewegungen und
Konflikte der drei Zentralfiguren (Ilinski, Saitschikow und Maria
Babanowa, später Sinaida Reich) wurden im harmonischen oder
kontrapunktischen Zusammenspiel bzw. Widerspiel veranschaulicht
und durch abgestimmte pantomimische Haltungen und Gesten sym-
bolisiert.
Ein Schritt weiter war die Einstudierung von Alexander Ostrow-

75
skis >Wald<, bei der die politische und die formale Erneuerung in-
einandergriffen. Meyerhold zerlegte das Stück in 33 Episoden, die
sich teils auf, teils unter einer hoch in den freien Raum hinauffüh-
renden Treppenspirale abspielten. Die Inszenierung bezog ihre
Spannung aus einer weit über die Absichten des Originals hinaus-
gehenden sozialkritischen Konfrontation der adligen Gutsbesitzer
mit den einfachen Menschen aus dem Volk, wobei die einen karika-
turenhaft überzeichnet, die anderen heroisiert wurden. Dabei ließ
Meyerhold sich ganz von den alten russischen Traditionen inspirie-
ren, den Hanswurst-Possen und dem Volkslied. Die satirisch ge-
dachten Szenen wurden in der Art Chaplinscher Situationskomik
ausgekostet, die lyrischen leitmotivartig vom Schmelz der Ziehhar-
monika begleitet; die schöne Sinaida Reich und der spritzige Igor
Ilinski, die beiden vollkommensten Interpreten Meyerholds, zogen
allekomödiantischen und poetischen Register.
Die Inszenierung, die am meisten Aufsehen erregte, war wohl >Der
Revisor < von Gogol (mit der Reich und der Babanowa als Frau und
Tochter des Stadthauptmanns, Garin, später Martinson als Chlesta-
kow). Meyerhold kombinierte das Stück mit Szenen aus anderen
Komödien Gogols und sogar aus dem Roman >Die toten Seelen <.
Die Handlung wurde nach dem Bilderbogenmuster in fünfzehn Epi-
soden aufgelöst, der konkrete, realistische Vorfall in einem russi-
schen Provinznest zu einem Gleichnis für die ganze verrottete Be-
amtenwelt des alten Rußlands überhöht. Die Regie arbeitete wieder-
um musikalisch-pantomimisch, sie sättigte die Aufführung mit Sym-
bolen. Die Enge der alten Verhältnisse wurde dadurch zum Ausdruck
gebracht, daß man viele Szenen auf winzigen, tablettähnlichen Flä-
chen, die auf Roll wägeichen über die Bühne glitten, spielen ließ, wo-
durch der Eindruck eines Gedränges der Figuren entstand. Bei sei-
nem Monolog folgte Chlestakow, der falsche Revi-
prahlerischen
sor, in Worten und Bewegungen den Takten eines Walzers, was die
Überschwenglichkeit seiner Stimmung unterstreichen sollte. In der
Bestechungsszene öffneten sich im Halbkreis des blitzblanken Hinter-
grundes lauter Türen, aus denen immer neue Beamte ihre Hände mit
zerknitterten Rubelnoten hervorstreckten und in der Art einer Fuge
in einem fort wiederholten: »300 Rubel von mir! - 300 Rubel von
mir! ..« Gegen Schluß sank mit der Stimmung der Gesellschaft auf
.

der Bühne auch die Helligkeit der Beleuchtung, schließlich brannten


nur noch Kerzen die Darsteller umkreisten unentwegt und wirr das
;

Spielfeld, bis sie fast unmerklich durch richtige Wachspuppen ersetzt


wurden und damit erstarrten - es blieb der Schlußeindruck eines
gespenstischen Panoptikums.
Die Inszenierung wurde von einem Teil der Öffentlichkeit mit
Entzücken, von einem anderen mit Empörung aufgenommen. Wäh-
rend z. B. Lunatscharski schrieb: »Wie glücklich wäre Gogol, wenn
er der Aufführung seines >Revisor< als Zuschauer hätte beiwohnen
können«, nannte Stalins Lieblingsschriftsteller Demjan Bedny den

76
Regisseur den »Mörder Gogols«. Im wesentlichen nahm die Partei
damals, 1926, noch für Meyerhold Stellung und feierte die Premiere
des >Revisor< als Beginn einer neuen Theaterära.
Ende der zwanziger Jahre sagte sich Meyerhold vom Theater-
oktober los: »Die Zeit der >Agitkas< (Agitationsstücke) ist vorbei.
Wir werden eine Reihe höchst komplizierter Probleme aufgreifen
und sie mit den kompliziertesten Verfahren der Theatertechnik
lösen. Wir nehmen den Kampf gegen die > Agitka < auf und treten für
eine kompliziertere Lösung der Probleme unserer Übergangszeit
ein.« Die dritte, die Spätphase im Schaffen Meyerholds (nach der
Stilbühne vor dem ersten Weltkrieg und dem Konstruktivismus des
Theateroktober) ist im Westen kaum bekannt geworden, da sich die
Sowjetunion auch künstlerisch immer mehr isolierte. Meyerholds
Regie wurde sublimer und behutsamer; der im >Wald< und im
>Revisor< herangereifte musikalisch-komödiantische Darstellungs-
stil verdrängte das politische Pathos; psychologische, gesellschafts-

kritische, aber auch spielerische und sogar absurde Elemente dran-


gen ein.
Zu Beginn der dreißiger Jahre inszenierte Meyerhold >Die Kame-
liendame < von Dumas (mit Sinaida Reich). Das Stück paßte recht
wenig in die Sowjetwirklichkeit, aber er konnte sich darauf berufen,
daß Lenin einmal bei einer Aufführung in Genf, in der Sarah Bern-
hardt die Hauptrolle spielte, Tränen der Ergriffenheit geweint hatte.
Meyerholds Inszenierung war ein Kammerspiel von erlesener Grazie
und Delikatesse. Er hatte die Bühne mit echtem antikem Mobiliar
ausstatten lassen; die Schauspieler bewegten sich zwischen Maha-
gonimöbeln, silbernen Spiegeln, Sevresvasen und kostbaren Porzel-
lanfiguren. Nach dem Bericht von Jelagin kommentierte Meyerhold
seine Inszenierungsidee »Schöne alte Dinge, die vor Jahrhunderten
:

angefertigt wurden, als man noch die Kunst des Handwerks kannte,
haben eine besondere Ausstrahlung. Sie schaffen eine Atmosphäre,
die uns das Wesen und den Geist einer alten Epoche anschaulich
macht. Von diesen schönen alten Dingen umgeben, werden die
Schauspieler in der Lage sein, die Lebensart und die Leidenschaften
jener Tage nachzuempfinden und sie mit großer Natürlichkeit dar-
zustellen.« Das Prinzip erinnert auf den ersten Blick an die Methode
Stanislawskis, dem es ja stets darum ging, wahre Empfindungen in
den Seelen der Schauspieler wachzurufen, aber möglicherweise
dachte Meyerhold mehr an den Bewegungsstil seiner Darsteller, der
durch den Umgang mit zierlichen und zerbrechlichen Gegenständen
notwendig einen feingliedrigen und feinnervigen Charakter erhielt.
Eine der letzten Arbeiten Meyerholds war die Dramatisierung des
Romans >Wie der Stahl gehärtet wurde <, der Autobiographie des
jungen Sowjetschriftstellers Nikolaj Ostrowski, der teilweise gelähmt
und blind aus dem Bürgerkrieg heimgekehrt war und sein Buch auf
dem Krankenlager niedergeschrieben hatte. Die Aufführung wurde -
wie so manche der späten Inszenierungen Meyerholds - nach der

77
Generalprobe verboten; offenbar verstieß die Bühnenversion gegen
die gereinigte und kanonisierte Fassung, die die Stalinisten nach dem
Hinscheiden Ostrowskis von dem Buch hergestellt hatten. In der
Meyerholdschen Inszenierung soll, wie Stewart Cheney berichtet,
besonders eindrucksvoll die Sterbeszene eines der Genossen Ostrow-
skis gestaltet gewesen sein: »Wenige Augenblicke vor dem Tode des
jungen Mannes gleiten einige Ereignisse aus seinem Leben vor sei-
nem inneren Auge vorüber, die hinter ihm auf eine Leinwand proji-
ziert werden. Der Sterbende durchlebt z. B. noch einmal einen Ko-
sakenangriff auf sein Heim, wobei die Musik, die den nahenden Tod
vorausahnen läßt, die Illusion noch verstärkt. Der Mann wirft den
Kopf hoch, ein furchtbarer Schrei aus seiner Kehle läßt die Musik
abbrechen, während gleichzeitig das Bild verblaßt. Ein anderes tritt
an seine Stelle. Es ist eine Kindheitserinnerung. Seine Schwester
spielt Klavier . . . Langsam sinkt das Haupt des Mannes zurück, die
Musik bricht plötzlich auf dem höchsten Ton ab. Nun hört er nichts
mehr, und Totenstille herrscht auf der Bühne .« Gerade dieser
. .

menschlich ergreifende Ton der Inszenierung wurde von der Partei


als pessimistisch und defätistisch verurteilt.
Im Gefolge von Meyerhold befand sich in den ersten anderthalb
Jahrzehnten nach der Revolution ein ganzer Schwärm von Sowjet-
bühnen, die sich daranmachten, einzelne Aspekte aus der Ideenwelt
des Meisters bis zur letzten Konsequenz weiterzuentwickeln. Es
wurde die Losung ausgegeben »Von der Emotion zur - Maschine,
:

von der Überreizung zum - Trick. Die Schauspielkunst ist - ein


Zirkus, die Psychologie - stellen wir auf den Kopf.« Die bemerkens-
wertesten derartigen Institute waren die Forregger- Werkstätten und
Eisensteins Proletkult-Bühne. Forregger löste das Theaterspiel fast
ganz durch Clownerien und Exzentrikszenen ab, weil er der Mei-
nung war, man bringe die bourgeoise Welt am besten durch Ver-
ulkung und Verhöhnung zu Fall. Ferner ersetzte er die Musik durch
Geräusche eines »Lärmorchesters« und das Ballett durch den »Ma-
schinentanz«. Die Proletkult-Bühne stellte sich ganz darauf ein, die
alte Volkskunst der Narrenspossen und Jahrmarktsakrobatik zu er-
neuern. Da wurde denn Theater gespielt und Agitation getrieben,
indem die Artisten herumrannten und herumsprangen, turnten,
kletterten, jonglierten, balancierten und auf dem Kopf standen.
(Eisenstein inszenierte mit solchen Darstellungsmitteln ein klassi-
sches Stück von Alexander Ostrowski !) Der Theaterraum wurde in
eine Manege verwandeltem sogenannten »Projektionstheater«, einer
der Proletkult-Bühne verwandten Einrichtung, verschwand denn
auch das Bühnenpodest, und die Vorführungen wurden wie beim
Zirkus in die Mitte des Raumes verlegt. In der Tat hat der russische
Zirkus, der heute in Blüte steht, uneingestandenermaßen vom Pro-
letkult manche Anregung empfangen: im positiven Sinne durch die
Auffrischung und Erweiterung der formalen Mittel, im negativen
durch die Einbeziehung der Agitation in das zirzensische Spiel. Für

78
das Theater erwies sich die Praxis des Proletkults als Sackgasse;
Meyerhold selbst hat sich später gegen die veräußerlichte »Meyer-
hold-Manie« seiner Epigonen verwahrt. Der Regisseur Sergej Eisen-
stein gab die unfruchtbare Tätigkeit beim Proletkult schließlich auf
und ging zum Film er übertrug den Geist des Theateroktober, Dy-
;

namik und Pathos der Massenfeste, auf die Leinwand und wurde der
große Bahnbrecher des Monumentalfilms.

Neben der Gruppe der »proletarischen« Theater gab es die »aka-


demischen«, die Volksbildungskommissar Lunatscharski, um sie dem
Zugriff der revolutionären Bilderstürmer zu entziehen, sozusagen
unter Denkmalschutz gestellt hatte. Als »akademische Bühnen« gal-
ten, nur weil es sich um vorrevolutionäre Gründungen handelte,
solche heterogenen Institute wie in Moskau die Große Oper (Bolschoi
Teatr), das Kleine (Maly) Theater, Stanislawskis Künstlertheater
und Tairows Kammertheater. Wie wenig diese schematische sozio-
logisch-politische Einteilung über die Kunst aussagte, ist daraus er-
sichtlich, daß aus der Schar der »Akademischen« nicht weniger
Theaterrevolutionäre hervorgingen als aus der der »Proletarischen«.
Als Tairow mit seinem Kammertheater einige Jahre nach der Revo-
lution in Paris gastierte, schrieb Frankreichs großer Theatermann
Andrd Antoine, erschreckt über den revolutionären Elan dieses
»akademischen« Theaters: »Alles bei diesen Vorstellungen, Deko-
rationen, Kostüme und die Art der Interpretation, zielt auf die Zer-
störung unserer dramatischen Kunst ab. Die russischen Schauspieler,
die hier als Emissionäre auftreten, werden von unserer kühlen Ab-
lehnung um so weniger überrascht sein, als wir nie ermangelt haben,
auf ihre oft originellen Ideen aufmerksam zu machen und ihre inter-
essanten Tendenzen zu betonen. Es geht aber nicht an, daß wir uns
vollkommen vernichten lassen.«
Alexander Tairow, mit bürgerlichem Namen Kornfeld, geboren
1885, begann - wie alle großen russischen Theaterpersönlichkeiten
der Epoche - in den Fußtapfen Stanislawskis. Als Meyerhold sich
selbständig machte, wurde er dessen Anhänger und spielte im Thea-
ter der Kommissarshewskaja. Aber weder der Weg Stanislawskis
noch der Meyerholds befriedigten ihn. So hatte er sich nach der
Spielzeit. 1912/13 schon entschlossen, der Bühne ganz zu entsagen,
als er plötzlich doch noch eine schöpferische Möglichkeit entdeckte.
Er berichtet darüber selbst:
»Es vergingen nur wenige Tage, und die gewonnene Ruhe, auf
die ich so stolz gewesen war, begann mich zu verlassen.
Die Morgenzeitungen brachten jeden Tag neue, sensationelle Be-
richte über das neu entstehende Freie Theater: >das Theater aller
Gattungen der Bühnenkunst <, >Monachow, Schaljapin, Dawydow,
die Koonen, die Andrejewa, Balturschaitis, die Düse, die Sarah
Bernhardt, Salvini sind verpflichtet worden <, >die Vorarbeiten sind
in vollem Gang - aller Art Versuche haben bereits Millionen ver-

79
schlungen <, >für einzelne Aufführungen sind Max Reinhardt, Georg
Fuchs, Gordon Craig - ja der römische Papst - hinzugezogen <, >der
Spielplan umfaßt Drama, Lustspiel, Operette, Pantomime < - und
noch manches andere.
Und zwischen allen diesen Berichten tauchte die merkwürdige,
fast phantastische Gestalt Mardshanows auf, eines Mannes, der zwei-
fellos allgegenwärtig sein mußte denn nach den Zeitungen zu schlie-
;

ßen, arbeitete er zu ein und derselben Zeit in Moskau an der Insze-


nierung der >Schönen Helena <, pflog in Petersburg Unterhandlungen
mit Warlamow, in Florenz mit Gordon Craig, sah sich in China die
>Gelbe Jacke < an, stellte in Prag ein Orchester zusammen, traf in
London Abmachungen über ein Auslandsgastspiel und kaufte in der
Ukraine Stiere für den > Jahrmarkt von Sorotschinzi<.
Nach ein paar Tagen traf ich mit Mardshanow zusammen.«
Dieser reiche Theaterenthusiast, der übrigens auch aus dem Kreis
um Stanislawski hervorgegangen war, hatte zwar schon eine so
stattliche Belegschaft beisammen, daß er mit ihr das ganze Parkett
seines Theaters hätte füllen können, engagierte aber auch noch
Tairow und trug ihm auf, am Freien Theater eine Pantomime zu
inszenieren. Damit wurde der junge Künstler auf einen Weg ge-
stoßen, der ihm völlig neue Perspektiven eröffnete. Diesem Weg
blieb er treu, auch als das Mardshanowsche Mammutunternehmen
nach der ersten Spielzeit wie ein Kartenhaus zusammenklappte. Im
bewegten Jahre 1914, schon nach Kriegsausbruch, eröffnete Tairow
seine eigene Experimentalbühne, das Moskauer Kammertheater.
Die Linie seines Theaters bestimmte Tairow zuerst einmal negativ,
d. h. im Gegensatz sowohl zum Naturalismus Stanislawskis als auch
zur Stilbühne Meyerholds. Beide Richtungen vergewaltigten seiner
Meinung nach das Theater, vor allem dessen Herzstück die Schau-
:

spielkunst, die er als Ausdruckskunst des menschlichen Körpers be-


griff.Das naturgetreue Erleben, das die Methode Stanislawskis vor-
schreibt, verdamme den Schauspieler zu einer Tätigkeit, die mit
Kunst nichts zu tun habe. »Bei einiger Beobachtungsgabe und leich-
ter nervöser Erregbarkeit oder bei neurotischen Störungen kann ein
jeder das zum Erleben Nötige sich aneignen. Dazu gehört keine
schöpferische Tat, es genügt, das gesunde menschliche Schamgefühl
so weit zu überwinden, daß man vor allen Leuten das zu tun vermag,
was man naturgemäß besser fern von den andern, allein mit sich
selber abmachte.« Die Stilbühne wiederum, die den Schauspieler
dekorativen oder (beim nachrevolutionären Meyerhold) raumkon-
struktivistischen Prinzipien unterwirft, töte dessen eigentümliche
menschliche Substanz. Die naturalistische Methode komme darauf
hinaus, den Schauspieler zu einem in seiner Seele herumwühlenden
Psychopathen, die der Stilisierung, ihn zum bloßen Farbfleck bzw.
zum Maschinenteil zu machen. Beide Methoden stünden wie These
und Antithese zueinander; der ungeformten Natur sei die unnatür-
liche Form entgegengesetzt worden. Die richtige Synthese könne nur

80
sein, aus derNatur des Schauspielers die schauspielerische Form zu
entwickeln, eine Form, die organisch und emotionsgefüllt dem We-
sen der Schauspielkunst gemäß sei.
Tairow erstrebte also ein Theater der reinen Schauspielkunst, die
von allen psychologischen, literarischen, bildkünstlerischen und
technischen Ambitionen befreit ist. In diesem Sinne muß man den
Slogan »Entfesseltes Theater« verstehen, der sich nach dem Titel
von Tairows Buch für seine ganze künstlerische Arbeit eingebürgert
hat: Der Schauspieler von allen seiner Kunst fremden
soll sich frei
Einwirkungen entfalten können,gebunden jedoch an seine eigene
physische Struktur. Der Ausdruck »nicht gefesselt« würde den Kern
des Gedankens besser treffen als der mißverständliche »entfesselt«,
worunter man doch gemeinhin soviel wie überschäumend, ausgelas-
sen, anarchistisch zu verstehen pflegt. Ein Theater der Zügellosig-
keit hatte Tairow keineswegs im Sinn; neben Meyerholds Revolu-
tionstheater wirkte das seine ausgesprochen formstreng und dis-
zipliniert. Worauf er hinauswollte, war Part pour Part in Reinkultur:
die Schauspielkunst nur um der Schauspielkunst willen.
Im Mittelpunkt der Tairowschen Ästhetik steht der Begriff der
»Emotionsgeste«. Das ist eine Transponierung seelischer Empfin-
dungen in körperlichen Ausdruck, die man aber nicht mit der Meyer-
holdschen Biomechanik verwechseln darf. Es geht nicht um die
Schaffung von Bewegungssymbolen, sondern um die szenische Äuße-
rung der schauspielerischen Phantasie. Die Produktion einer solchen
szenischen Äußerung beschreibt Tairow folgendermaßen:
»Das erste Element, das Element des Suchens nach dem szenischen
Gebilde, unterliegt keinen bestimmten Regeln und läßt sich in kein
System fassen. Es ist ein tief individualistisches Element, das sich
bei jedem Schauspieler anders kundtut. Das Geheimnis des ersten
Auf keimens eines szenischen Gebildes ist ebenso wunderbar und un-
mitteilbar wie das Geheimnis des Lebens und des Todes Ein . . .

und derselbe Schauspieler schlägt auf der Suche nach verschiedenen


szenischen Gebilden oft diametral entgegengesetzte Wege ein. Und
wenn ihm in einem Falle eine pantomimische Inbegriffnahme be-
hilflich sein kann, das Gesuchte zu finden, so entzündet er sich ein
anderes Mal an klanglichen Vorstellungen, ein drittes Mal an einer
plötzlichen inneren Erregung usw.
Nur wenn der Schauspieler das Gebilde in seinem Innern erfaßt
hat, kann die sogenannte Arbeit an den Rollen beginnen, die sich als
das zweite Grundelement des schauspielerischen Schaffens erweist
und schon bedeutend leichter ist. Denn diese Arbeit läßt sich in be-
stimmter Weise regeln und unterliegt einer planvollen Gesetz-
mäßigkeit, die in der Einfügung des szenischen Gebildes in das Ge-
samtgebild des aufzuführenden Werkes zutage tritt. In diesem Pro-
zeß des Zusammenstoßes mit dem gesamten Szenarium und mit den
andern handelnden Personen gießt sich das vom Schauspieler er-
fühlte szenische Gebilde in die ihm entsprechende sichtbare und

81
präzise Form und vollendet so den schöpferischen schauspielerischen
Vorgang.«
Tairow näherte sich bewußt tänzerischen Ausdrucksformen. Als
die Kritik einmal seiner Hauptdarstellerin, seiner Frau Alice Koo-
nen, vorwarf, habe ihre Rolle nicht gespielt, sondern getanzt,
sie
empfand Lob. Im Ballett sah er eine Darstellungs-
er dieses Urteil als
kunst, die ihrem Wesen nach der seinen näherstand als alle zeit-
genössischen Schauspielpraktiken er verglich seine eigene Arbeit als
;

Regisseur gern mit der des Ballettmeisters. Nur daß er im Unter-


schied zum Tanz und zur Pantomime das Wort in die Gestaltung
einbezog, freilich ebenfalls in gehobener, sublimierter Form. Es ist
interessant zu bemerken, wie der theatralische Expressionismus Tai-
rows da dem tänzerischen Expressionismus, dem Ausdruckstanz, be-
gegnete, der ihm von der anderen Seite, vom Ballett her, entgegen-
kam und nun wieder durch theatralische Mittel wie Schreie, Atem-
bewegungen, dramatische Emotionen um stärkere menschliche Aus-
drucksformen rang.
Analog zum Corps de ballet wünschte Tairow sich ein ebenso
gründlich trainiertes Corps de th6atre. Der Schauspieler sollte im
Besitz vollkommener und umfassender körperlicher Qualitäten sein,
denn der Körper sei das Material seiner Kunst. Der Theaterreformer
zitierte die Forderungen, die das Theater des alten Indiens an die Er-
scheinung des Schauspielers stellte: »Frische, Schönheit, angeneh-
mes, volles Gesicht, rote Lippen, schöne Zähne, ein Hals rund wie
ein Armband, schöngeformte Hände, vornehmer Wuchs, kräftige
Hüften, Zauber, Grazie, Würde, Edelmut, Stolz, von der Beschaf-
fenheit des Talents gar nicht zu sprechen.«
Um allen Regungen der Phantasie nuanciert Ausdruck verleihen
zu können, sei ein »synthetischer Schauspieler« nötig, ein »Uber-
schauspieler«, der alle Ausdrucksformen beherrscht, also spielen,
singen, tanzen, turnen, jonglieren kann. Schon Mardshanow hatte
ein »synthetisches Theater« angestrebt und in der einen Spielzeit, die
seinem Institut beschieden war, Oper, Operette, Pantomime, Drama
und Melodram gespielt. Tairow ging über den synthetischen Spiel-
plan hinaus, indem er die synthetische Aufführung forderte, wo in
ein und demselben Stück alle Elemente der Bühnenkunst zum Tra-
gen kommen sollten, und den synthetischen Schauspieler, der alle
vorkommenden Rollen in gleicher Vollkommenheit bewältigt. Cha-
rakteristisch für sein Theater war nicht nur, daß er in bunter Reihen-
folge z. B. Wildes Seelendrama >Salome<, Debussys Pantomime >Die
Spielzeugschachtel <, Scribes Melodram >Adrienne Lecouvreur<,
E. T. A. Hoffmanns Harlekinade >Prinzessin Brambilla<, Claudels
Mysterium >Verkündigung<, Racines klassische Tragödie >Phädra<
und Lecocqs Operette >Girofl6-Girofla< aufführte, sondern daß in
jeder Aufführung dramatische, pantomimische, tänzerische und mu-
sikalische Formen wirksam waren und daß er alle Werke mit den-
selben Darstellern besetzte - Alice Koonen verkörperte in nahezu

82
Vollkommenheit die Salome, die Phädra, eine revolutionäre
gleicher
Kommissarin in Wischnewskis optimistischer Tragödie< und die
Hauptrolle in der Operette >Girofl6-Girofla<, wo sie voller Charme
tanzte und sang. Diese Universalität war natürlich nur möglich, weil
bei Tairow die Besonderheiten der Genres und der Rollentypen ver-
wischt wurden und es in jedem Falle nur darum ging, durch Mimik,
Gestik, Intonation und Bewegung der Phantasie entsprungene
szenische Gebilde zu kreieren.
Die augenfälligste Neuerung des Kammertheaters war die Um-
gestaltung des Bühnenraums. Tairow lenkte die Aufmerksamkeit
der Bühnenbildner (Exter, Wesnin, Jakulow, Gebr. Stenberg u. a.)
von der Beschäftigung mit Hintergrundkulissen und Dekorationen
auf die Gestaltung des Bühnenbodens, den er als das wichtigste Ele-
ment der Szene, die Plattform der schauspielerischen Arbeit ansah.
Um der Bewegung des Schauspielers in ausreichendem Maße Ent-
faltungs- und Variationsmöglichkeiten zu geben, sollte der Bühnen-
boden gegliedert sein:
»Man stelle sich vor, es sei einem die Aufgabe gestellt, die Herab-
kunft der Gottesmutter zu inszenieren. Wie muß die Bühne gestaltet
sein, um einen intensiven Eindruck der Herabkunft zu erzielen? Auf
einer ebenen Fläche läßt sich ein solcher Eindruck natürlich nicht
erreichen. Der Boden muß gebrochen werden und aus mehreren
verschieden hohen Flächen bestehen, die in ihrer Gesamtheit so etwas
wie eine unendliche Treppe darstellen müssen, auf der die Gottes-
mutter erdwärts schreitet. Wie aber muß diese Treppe konstruiert,
wie muß das Wechselverhältnis zwischen ihren Stufen beschaffen
sein? Die Lösung hängt ganz von der rhythmischen Absicht des
Spielleiters ab. Wenn der Zuschauer den Eindruck erhalten soll, sie
schwebe gleichsam herab und berühre mit ihren Füßen kaum den
Boden, wenn der Herabkunft ein feierlich-liturgischer Charakter
verliehen werden soll, so müssen die Stufen so konstruiert sein, daß
ihre Abstände überall gleichmäßig sind; ihre rhythmische Entspre-
chung muß sich durch i 4 oder 1 8 ausdrücken, wodurch die Be-
: :

wegung der Schauspielerin einen gleichmäßigen und ununterbro-


chen fließenden Rhythmus erhält.
Will man aber der Bühne beispielsweise den Charakter eines stür-
misch flammenden Bacchanals zu Ehren des Dionysos verleihen, so
wird man, der neuen Aufgabe entsprechend, den Bühnenboden der-
art brechen, daß alle verschieden hohen Flächen durch vielfältige
und verschiedenartige Rhythmen miteinander verbunden sind, durch
die die bacchischen Gebärden und satyrhaften Sprünge auf der Bühne
ein vielfältiges rhythmisches Schwanken erhalten und so den ge-
wünschten Eindruck einer bacchischen Handlung im Zuschauer her-
vorrufen.«
So bot sich denn die Bühne des Kammertheaters dem Auge dar
als ein Panorama von mächtigen Kuben, Quadern, Kegeln, Pyrami-
den, Schrägen, Treppen und Stufenreihen. An bestimmten Höhe-

83
punkten des Geschehens wandte Tairow das Prinzip der »dynami-
schen Umschwünge« an, worunter er eine jähe Umwandlung des
Bühnenbildes verstand, einen szenischen Akt, der eine besonders
prononcierte schauspielerische Gebärde über die Grenze der mensch-
lichen Ausdrucksmöglichkeit hinaus steigern sollte » wenn dann
: . . .

im Verlauf der Handlung die dynamische Energie sich im unerwar-


teten Ausruf der Salome entlädt >Ich werde für dich tanzen, Tetr-
:

arch<, so zerreißt der gierige Freudenschrei, der sich der Brust


des Herodes entringt, den hinteren Vorhang der Bühne, löst ihn
in zitternde Ätherwellen auf und enthüllt den vom Blute trunkener
Mondstrahlen befleckten roten Vorhang des Tanzes und des To-
des.«
Das von großen stereometrischen Formen beherrschte Bild der
Bühne erhielt seinen jeweils besonderen Charakter durch die Viel-
falt und Stärke der Farbschattierungen. Tairow ließ sich da wieder
vom altindischen Theater anregen, dessen Bühne im Hintergrund
von einem Vorhang abgeschlossen war, der die Farbe der jeweiligen
Grundstimmung trug: Bunt für eine Komödie, Schwarz für eine
Tragödie, Rot für die Leidenschaft, Weiß für die Liebe usw. Im
Kammertheater wurde die Komposition der Farben mit Hilfe des
Lichts zu raffinierten Wirkungen gesteigert: »Die Farbenkompo-
sition des >Thamyra Kitharedes< z. B. beruhte auf Schwarz, Blau und
Gold und sättigte gleichsam die ganze szenische Atmosphäre mit der
Sonnensehnsucht des Thamyra nach Apollo, die sich in der düsteren
Tragödie seiner Erblindung vollendet. Die farbigen Aufgaben einer
Harlekinade wiederum können den Maler zu ganz anderen Kompo-
sitionen führen, die funkelnd und bunt sind wie ein Harlekinmantel
(z. B. >König Harlekin <, >PrinzessinBrambilla<).<<

In diesem Rahmen erstrebte Tairow auch eine Erneuerung des


Kostüms, das er nicht als historisierende Attitüde, sondern als die
»zweite Haut« des Schauspielers aufgefaßt wissen wollte. »Das Ko-
stüm ist das Mittel, den ganzen Körper, die ganze Gestalt des Schau-
spielers noch beredter und klingender zu machen, ihr Schlankheit
und Leichtigkeit oder Starrheit und Schwere zu verleihen.« Die
Kostüme Harlekins, Pierrots und Colombines schienen ihm in ihrer
Anschmiegsamkeit und ihrem Ausdrucksgehalt beispielhaft manche ;

seiner Figurinen verraten in ihren Formen und Farben, daß sie von
diesen historischen Vorbildern angeregt worden sind.
Von den beiden theatralischen Epochen, denen er sich am ver-
wandtesten fühlte, dem altindischen Theater und der Commedia
delParte (er eröffnete 1914 sein Theater programmatisch mit Kali-
dasas >Sakuntala< und spielte als nächstes Goldonis >Fächer<), über-
nahm Tairow auch das laxe Verhältnis zur Literatur. Die literarische
Vorlage sollte seiner Meinung nach nur das Material abgeben, aus
dem dann das Theater ein neues und eigenwertiges Kunstwerk zu
schaffen hat. »Nur ein derartiges Verhältnis ist ein echt theatralisches,
denn sonst hört das Theater unweigerlich auf, als auf sich selbst ge-

84
:

stellte Kunst zu existieren, und verwandelt sich in einen besseren


oder schlechteren Diener der Literatur, in eine Grammophonplatte,
die die Ideen des Autors wiedergibt.«
Bezeichnend für die Einstellung Tairows zum Wort war eine
Episode: In dem Drama >Stepan Rasin< des zeitgenössischen russi-
schen Schriftstellers Wassili Kamenski, einem historischen Stück um
den legendären Bauernführer von der Wolga, das 1919 im Romani-
schen Theater, einer Filiale des Kammertheaters, aufgeführt wurde,
gab es in der von Alice Koonen gespielten Rolle einer persischen
Fürstin eine Passage, die beim besten Willen niemand verstand. Sie
lautete

»Ai ehjal bura ben


Siwerim sise tschok
Ai salma
Ai gurmuish dschanamai«

Tairow schrieb dazu »Zuerst versuchte Kamenski uns einzureden,


:

daß dies altpersische Worte seien, nachher aber bekannte er, diese
Worte seien - zu seiner Ehre - in keiner Sprache zu finden. Nichts-
destoweniger wurden sie von den Zuschauern gierig aufgenommen.
Warum? Weil sie, ohne Zweifel, was die Stimme und die Sprech-
weise betrifft, meisterhaft in Klang und Rhythmus des szenischen
Gebildes eingefügt waren.«
Es erhebt sich die Frage, in was für einem Verhältnis der pure
Ästhetizismus dieses Theaters denn nun zur bolschewistischen Revo-
lution stand.Von einer bewußten politischen Beziehung kann sicher
nicht die Rede sein. Nicht nur, daß Tairow in seiner persönlichen
Haltung und Gesinnung alles andere als ein Bolschewist war, er
mußte von seinem künstlerischen Standpunkt aus natürlich alle
Tendenzen ablehnen, das Theater zu einem Forum der Agitation und
Mobilisierung der Massen zu machen. Über jenen Vorfall 1830 in
Brüssel meditierend, wo eine Aufführung der Oper >Die Stumme
von Portici< von Auber die belgische Revolution auslöste, konsta-
tierte er »Hier war ohne Zweifel der Geist des großen Verbunden-
:

seins im Theater aufgeflammt, hier hatten sich endlich die >zwei ge-
trennten Körper < durch den gemeinsamen Blutumlauf schöpferi-
scher Energie vereinigt, hier hatte das Theater die schöne und edle
<

Rolle der Fackel gespielt, an der sich die Flammen der Revolution
entzündeten, aber - die Vorstellung war damit abgebrochen. Der
Pulsschlag des Verbundenseins, der im Theater erwacht war, hatte
die Revolution entzündet, aber die theatralische Handlung aus-
gelöscht.« In diesem Punkte divergierte seine Auffassung entschie-
den von der Meyerholds und seiner Gesinnungsgenossen; er wollte
nicht eine Erneuerung des kultischen, sondern des ästhetischen Thea-
ters, nicht eine Theatralisierung des Lebens, wie es Jewreinow for-
muliert hatte, sondern eine »Theatralisierung des Theaters«. Den-
noch war es sicher kein bloßes Mißverständnis, wenn die ganze Welt

85
(und nicht zuletzt die russische Intelligenz selbst) in Tairows Dar-
bietungen ein Element des Revolutionstheaters sah.
Tairow entstammte genauso wie Meyerhold, Jewreinow und die
meisten Wortführer des Theateroktober jener avantgardistischen Re-
formbewegung, die in den Jahren von 1905 bis 1914 das russische
Theaterleben ergriffen hatte. Diese Bewegung war eine Reaktion auf
die Niederlage der Revolution von 1905, gewissermaßen ihre Subli-
mierung: Nachdem die politischen Hoffnungen der Intelligenz zer-
stört waren, schlug deren Emanzipationsstreben ins Ästhetische um.
Die betont apolitische und antiideologische Tendenz der künstleri-
schen Reformen widerspricht nicht dem dialektischen Zusammen-
hang sie erklärt sich als ein tiefenpsychologischer Akt der Verdrän-
;

gung. Als der Alpdruck, der auf dem politischen Leben lastete, im
Jahre 1917 verschwand, mündete die künstlerische Revolution denn
auch sofort in den Strom der politischen Revolution ein. Die Ex-
pressionisten, Futuristen, Symbolisten der Literatur wie des Theaters
stellten die ersten Protagonisten der revolutionären Kunst; ihre
lange vor der Revolution und unabhängig von ihr, aber aus dem-
selben Impuls heraus entwickelten neuen Formen erwiesen sich als
durchaus angemessen dem ungestümen Geist der Zeit. Viele Kunst-
griffe, die Tairow auf seiner Experimentalbühne ausprobiert hatte,
z. B. die synthetische Darstellungsmethode und die stereometrische

Raumgestaltung, wurden vom Revolutionstheater ohne weiteres


integriert.
Andererseits aber brachte das Jahr 1917 auch für Tairow selbst
eine entscheidende Wende. Zunächst einmal kam das Kammertheater
- wie ja auch das Künstlertheater - aus der ewigen finanziellen Misere
heraus und konnte großzügiger wirtschaften. Das allein hätte viel-
leicht noch nicht viel genützt (für Stanislawski bedeutete die Revo-
lution trotz mancher materieller Vergünstigungen den Schlußpunkt
seiner schöpferischen Entwicklung), wenn sich die nachrevolutio-
näre Atmosphäre nicht zugleich als fruchtbar für Tairows Intentio-
nen erwiesen hätte. Die für Neuerungen aller Art aufgeschlossene
Öffentlichkeit nahm die extravagantesten Einfälle mit Begeisterung
auf, empfand revolutionäre Taten, so daß der Künstler seiner
sie als
Phantasie, die er in den ersten Spielzeiten des Kammertheaters oft
genug hatte zügeln müssen, freien Lauf lassen konnte. Tairows
Theaterarbeit wurde aus der weltfremden und esoterischen Exklu-
sivität, in der sie sich bis dahin abgespielt hatte, in den Trubel des
öffentlichen Lebens versetzt. Dieser Kontakt wirkte belebend und
anregend auf den Künstler und nahm seinen Schöpfungen den etwas
dekadenten, verstiegenen Zug, der ihnen ursprünglich angehaftet
hatte. Erst der Theateroktober, dieses Kraftfeld theaterrevolutionärer
Aufgaben und Impulse, induzierte jenen Elan, der das Kammer-
theater zu einer faszinierenden Bühne von Weltbedeutung machte.
Eine der ersten Einstudierungen nach der Revolution war die
Harlekinade >Prinzessin Brambilla nach E. T. A. Hoffmann. Tairow
<

86
hatte eine besondere Vorliebe für den deutschen Romantiker, weil
er in dessen phantastischen Geschichten ein reiches Materialan Vi-
sionen und Archetypen fand, an dem sich seine szenische Phantasie
entzünden konnte. Die Hoffmannsche Traum- und Wunderwelt,
die ihre Bilder nicht in fertiger Gestalt, sondern in einem funkelnden
Kaleidoskop von Andeutungen, Assoziationen, Ideenblitzen und
Gaukeleien darbietet, gab Tairow die Möglichkeit, in aller Frei-
zügigkeit auf der ganzen Klaviatur seines synthetischen Theaters zu
spielen. Musikalisch beschwingt, traumhaft tanzend und torkelnd,
hintergründig spielerisch lief die Aufführung ab - ein »Capriccio des
Kammertheaters«, wie der Regisseur selbst sagte.
Die beiden modernen Lieblingsautoren des Kammertheaters wa-
ren Claudel und O'Neill, von denen eine ganze Reihe von Dramen
aufgeführt wurden. Es war sicher weder der Katholizismus des Fran-
zosen noch die gesellschaftskritische Tendenz des Amerikaners, was
Tairow anzog, sondern das ganz modern empfundene Weltgefühl
der Dichter und die in metaphysische Tiefen lotende Unergründlich-
keit ihrer Werke. O'Neills >Gier unter Ulmen < inszenierte er als ein
elementares Drama des erotischen Besitzes, wobei er den interessan-
ten Versuch machte, den solange abstrakt gegliederten Bühnenauf-
bau zu konkretisieren: Er stellte das ganze Haus, in dem sich die
Handlung abspielt, auf die Szene und gab den handelnden Personen
gewissermaßen räumlichen Anlauf und Auslauf, »man kann die
ahnungslosen Spieler der folgenden Szene schon kommen sehen,
während die vorhergehende noch im Gange ist; die Wirkungen der
zweiten werden gesehen, während das Spiel der dritten noch weiter-
läuft usw.« (so berichtet Gregor). Es erscheint verständlich, daß die
antiken Stoffe, die im Repertoire des Kammertheaters einen wich-
tigen Platz einnahmen, meist durch das Prisma eines modernen Dich-
ters gesehen waren: Wildes >Salome<, Hasenclevers >Antigone<,
Werfeis >Troerinnen<, denn es kam Tairow ja nicht auf die Handlung,
sondern auf die emotionale Grundmelodie an.
Kostbarkeiten in ihrer Art waren die Aufführungen der alten
Operetten von Lecocq >Girofle-Girofla< und >Tag und Nacht <. Die
funkelnde und sprühende Musikalität dieser frühen Werke ihres
Genres erlaubte es Tairow, die ganze kitschige Operettenherrlichkeit
beiseite zu lassen und ein Feuerwerk bunter szenischer Leuchtkugeln
abzubrennen. Das Bühnenbild beschränkte sich auf einen groß und
abstrakt geformten, schirmartigen Hintergrund, vor dem ein paar
Podeste, Estraden und Schrägflächen aufgebaut waren, die kunter-
bunten Kostüme ließen ans Variete denken, das Spiel brillierte in
Tempo, Nuancenreichtum und abgezirkelter Exzentrizität und gab
der Handlung, ohne sich beim konkreten Inhalt aufzuhalten, kari-
katuristische Zuspitzung und feinen, glitzernden Schliff.
In Tairows Inszenierung >Der Mann, der Donnerstag war<, nach
dem satirischen Roman von Chesterton, machten sich erstmals Ein-
flüsse des Meyerholdschen Konstruktivismus bemerkbar. Der Schau-

87
platz des Spiels war diesmal ein komplizierter Bau von Leitern und
Etagen, dem auf-und abfahrende Lifts, Leuchtreklamen und Plakate
ein effektvolles Aussehen verliehen. In die Aufführung waren rhyth-
mische Darbietungen eingestreut, die an biomechanische Übungen
gemahnten. Die neue Linie wurde mit der Einstudierung der >Drei-
groschenoper< 1930 fortgesetzt (übrigens der einzigen Brecht- Auf-
führung in der Sowjetunion zu Lebzeiten des Dichters). Manche aus-
ländischen Beobachter haben diese Variation des Kammertheater-
stils für den Versuch einer Anpassung an die Parteilinie, die damals

Meyerhold folgte, gehalten; das braucht aber durchaus nicht der Fall
gewesen zu sein, denn Tairows Beziehungen zu Meyerhold beruhten
auf Gegenseitigkeit: Alle Theaterrevolutionäre jener Zeit haben
naturgemäß aufeinander eingewirkt. Die Partei selbst übte in den
zwanziger Jahren in formaler Hinsicht noch keinen Druck auf die
Künstler aus.
Der originellste Schüler Tairows war der Regisseur Ferdinandow,
der ein eigenes, dem Kammertheater verbundenes Studio unterhielt.
Er systematisierte die künstlerische Methode seines Meisters zu einer
Theorie des Metro-Rhythmus.

Auch im Bereich des Moskauer Künstlertheaters regte sich nach


der Revolution neues theatralisches Leben. Unter den Fittichen
Stanislawskis, des Grandseigneurs der russischen Theaterkunst, der
zwar persönlich mit der neuen Zeit nicht mehr zurechtkam, aber in
großartiger Noblesse allen fortschrittlichen Ideen Förderung ge-
währte, wuchs eine Schar hochbegabter und revolutionär gestimm-
ter Theaterenthusiasten heran. Um
diesen jungen Kräften im Rahmen
seiner Schule Gelegenheit zu geben, ihre Begabungen und Intentio-
nen vollkommen frei ausreifen und sich entfalten zu lassen, gründete
der Altmeister um sein eigentliches, die konservativen Traditionen
pflegendes Stammhaus herum eine ganze Reihe von Experimentier-
bühnen die musikalischen Studios, vier Schauspielstudios, das jüdi-
:

sche Studio Habima und ein armenisches Studio. Jedes dieser Toch-
terinstitute des Künstlertheaters hat einen nicht unbedeutenden Bei-
trag zum sowjetischen Theaterleben der zwanziger Jahre geleistet.
Aus ihrer Mitte ging die dritte große Persönlichkeit des Revolu-
tionstheaters hervor: Wachtangow.
Jewgeni Wachtangow, 1883 geboren, wurde in der Schauspiel-
schule des Künstlertheaters ausgebildet und arbeitete dann als Schau-
spieler und Regieassistent im Ensemble. Einige Jahre vor dem ersten
Weltkrieg schickte Stanislawski ihn zusammen mit Sulershizki nach
Paris, wo die beiden im Theatre R£jane Maeterlincks >Blauen Vogel <
genau nach dem Muster der Moskauer Standardaufführung in Szene
zu setzen hatten. Damals war der junge Regieschüler noch hell be-
geistert von der Methode seines Meisters und schrieb nach Moskau:
»Der Gedanke, daß das Stanislawski-System etwas Großes ist, hat
sich mir endgültig bestätigt.« Weniger angetan von der Einstudie-

88
rung, die nach außen hin einen großen Erfolg hatte, war der belgi-
sche Autor Maurice Maeterlinck selbst. Wohl hatte Stanislawski ihn
vor Beginn der Inszenierungsarbeit eigens auf seinem romantischen
Landsitz, einer Klosterruine in der Normandie, aufgesucht und kon-
sultiert, aber beim Besuch der Aufführung empfand der Dichter
dann doch recht deutlich, wie sehr die gutbürgerliche Darstellungs-
weise des Künstlertheaters dem in seinem Werk zum Ausdruck kom-
menden neuartigen Lebensgefühl widersprach.
Auch Stanislawski empfand diesen Widerspruch und suchte ver-
zweifelt nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Da wurde er von
Gorki, der sich zu jener Zeit ebenfalls mit neuen Ideen herumschlug
(man denke an seinen Disput mit Lenin über die „Gottmacherei«),
nach Capri eingeladen. Gorki entwickelte dem Theatermann seine
Idee einer Bühne der Improvisation. Unter dem Eindruck der Steg-
reifspiele, die er im neapolitanischen Theater gesehen hatte, war er
auf den Gedanken gekommen, die Tradition der Commedia delParte
zu erneuern. Und zwar stellte er sich das folgendermaßen vor: Ein
Dramatiker sollte ein Szenarium entwerfen, in dem Thema, Per-
sonen und Schauplatz des Stücks angegeben sind. Im Verlaufe von
Diskussionen und Proben mit den Schauspielern, die sich ein eigenes
Bild von den Rollen machen, wird das »skizzierte Schema der Cha-
raktere« durch neue, lebenswahre und detaillierte Züge bereichert.
Beim Herausarbeiten der Charaktere ergeben sich dann auch deren
Widersprüche, und es entstehen die Konflikte des Stücks. Der Au-
tor verfaßt den endgültigen Text während der Arbeit des Kollek-
tivs an der Einstudierung. - Stanislawski griff die Idee interessiert
auf und richtete ein Studio ein, das sogenannte Erste, um das Ver-
fahren praktisch auszuprobieren. Leiter des Studios wurde Suler-
shizki, sein Assistent Wachtangow.
Gorki stellte dem Studio für die Improvisationsarbeit seine Szena-
rien zur Verfügung. Und es ist ein Brief Sulers an Gorki erhalten,
in dem ausführlich geschildert wird, wie »die Schauspieler selbst die
Stücke schaffen«. Aber bei den Versuchen kam nicht viel heraus.
Man wird den Grund für den Mißerfolg wohl vornehmlich darin
suchen müssen, daß die Weltanschauungen Gorkis und des Künstler-
theaters nicht miteinander harmonierten. Beide spürten wohl die
Zeichen der Zeit, strebten aber verschiedene Lösungen an. Während
Gorki nach wie vor von politischer Romantik bewegt wurde, hat-
ten Stanislawski und Sulershizki, die Gesinnungsgenossen Tolstojs,
eine künstlerische und humanitäre Erneuerung im Sinn. Zur bloßen
Propagierung von Ideen wäre die Improvisationstechnik sicher ge-
eignet gewesen (das sollte sich nach der Revolution zeigen), nicht
aber zu deren tiefgreifender Gestaltung. Doch fielen Gorkis An-
regungen bei dem jungen Wachtangow, der im Verlaufe der Arbei-
ten zu eigenem Denken erwacht war, auf fruchtbaren Boden.
Die Differenz zwischen Wachtangow und der Linie des Künstler-
theaters wurde offensichtlich, als er 1914 im Studio seine Inszenie-

89
rung von Hauptmanns >Friedensfest< herausbrachte. Im Anschluß an
die Vorstellung entspann sich unter den führenden Persönlichkeiten
des MCHAT eine Diskussion über Methode und Tendenz der In-
szenierung. Dantschenko meinte, man hätte das Stück im Ton ein
wenig dämpfen und seine Dramatik nicht so sehr verdichten sollen.
Stanislawski und Sulershizki schlössen sich seiner Meinung an, auch
sie fanden den von Wachtangow bis zum äußersten, mitunter über
jedes