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Theater
und Revolution
dtv
Über dieses Buch
Nördlingen
Printed in Germany
Jürgen Rühle:
Theater und Revolution
Von Gorki bis Brecht
Deutscher
Taschenbuch
Verlag
Inhalt
Der Theateroktober 64
Meyerhold Majakowski Eisenstein
• • •
Tairow
Wachtangow Die jüdischen Theater
-
Nachbemerkung 201
:
Weg mit den parteilosen Literaten! Weg mit den literarischen Übermenschen!
Die Sache der Literatur muß zu einem Teil der allgemeinen Sache des Prole-
tariats werden, zu einem »Rädchen und Schräubchen« des einen einheitlichen,
legen lächelnd, und fuhr sich nervös mit den Fingern durch die wil-
den Haarsträhnen, »wißt ihr, das das ist äußerst unangenehm
. . . . . .
Ich bin kein Opernstar, keine Diva, keine Ballerina das ist schon . . .
8
beit bereit, für den es doch keinen Weg nach oben mehr gibt, der
Schauspieler, dessen poetische Welt nur noch im Suff besteht, der
Dieb, der auf der sozialen Stufenleiter immer tiefer rutscht und als
Mörder endet ... Es war eine düstere, verborgene Welt des Leids
und des Elends, unter dem Parkett einer glanzvollen Gesellschaft
vegetierend, die Gorki beschwor. Mit dem >Nachtasyl< trat ein un-
heimliches Gespenst aus dem Untergrund, aus dem Unterbewußt-
sein der Gesellschaft auf die Bühne und warf einen Schlagschatten,
der mehr als alle sozialdemokratischen Proklamationen das Grauen
bevorstehender Umwälzungen ahnen ließ. Die zaristische Regierung
war so beunruhigt, daß sie Aufführungsbeschränkungen gegen das
Stück verhängte: Es durfte in der Provinz nur mit Einverständnis
der Gouverneure gespielt werden, die Gouverneure aber erhielten
den Geheimbefehl, die Genehmigung nach Möglichkeit nicht zu
erteilen.
Gorki warf in seinem Drama die Frage nach der Erlösung aus dem
Elend auf. Und er stellte zwei Wege einander gegenüber Da ist ein- :
mal der alte Luka, der Typus des Tolstojaners, ein sanfter Prediger
der Güte und des Mitleids, der als Trostspender durch die Asyle der
Verzweifelten zieht. Für jeden hat er eine den Kummer lindernde
Illusion bereit dem Mädchen rät er, nur ja an die Liebe zu glauben -
;
heilst du die Seele mit der Wahrheit .«, so rechtfertigt der Alte . .
seine Trostlügen und erzählt die Geschichte von dem Manne, der
sein Lebtag hoffnungsfroh und glücklich das »Land der Gerechten«
suchte - bis ihm ein Gelehrter bewies, daß es ein solches Land nicht
gibt da erhängte er sich.
:
kert aber es geschah aus Mitleid mit euch, weiß der Teufel Es
. . . !
gibt viele solche Leute, die aus Mitleid mit dem Nächsten lügen ...
ich weiß es, hab' darüber gelesen Sie lügen so schön, so begeistert, !
Eine solche Lüge bringt es fertig, den Klotz zu rechtfertigen, der die
Hand des Arbeiters zermalmt und den Verhungernden anzu- . . .
klagen Ich - kenne die Lüge! Wer ein schwaches Herz hat
. . . . . .
oder wer sich von fremden Säften nährt - der bedarf der Lüge . . .
aber sein eigener Herr ist wer unabhängig ist und nicht vom
. . .
Schweiße der andern lebt - was braucht der die Lüge? Die Lüge ist
!!
die Religion der Knechte und Herren ... die Wahrheit - ist die Gott-
heit des freien Menschen!«
In dem berühmten Monolog am Ende des Stücks postuliert Satin
seine Philosophie mit aller Klarheit »Der Mensch kann glauben oder :
nicht glauben das ist seine Sache Der Mensch - ist frei ... er hat
. . . !
seine Liebe, seine Vernunft. Der Mensch trägt selbst die Kosten für
alles, und darum ist er - frei Der Mensch - ist die Wahrheit ! . . .
Was heißt überhaupt Mensch? Das bist nicht du, und nicht ich bin's,
und nicht sie sind es nein! Sondern du, ich, sie, der alte Luka,
. . .
alle Enden Alles im Menschen, alles für den Menschen Nur der
. . . !
Mensch existiert, alles übrige - ist das Werk seiner Hände und seines
Gehirns Der M-ensch Einfach großartig So erhaben klingt das
! ! !
respektieren Trinken wir auf das Wohl des Menschen, Baron Wie
! !
schön ist's doch, sich als Mensch zu fühlen! Ich bin ein ehe- . . .
den? (lacht laut auf) Ich habe die Menschen immer verachtet, die um
das Sattwerden gar zu besorgt sind. Nicht darauf kommt's an, Ba-
ron! Nicht darauf! Der Mensch ist die Hauptsache! Der Mensch
steht höher als der satte Magen!« Und als der Baron leise meint, daß
er sich manchmal vor der Zukunft fürchte, setzt Satin stolz hinzu:
»Dummes Zeug! Vor wem soll der Mensch sich fürchten?«
Einzelne Sätze des Satin-Monologs wurden zu geflügelten Worten
im Zitatenschatz der Kommunisten, aber man findet keine sowjeti-
sche Interpretation, die die Rede des Vagabunden ohne Kürzungen
und Verstümmelungen zitierte. Das ist begreiflich, denn Fragestel-
lung, Tendenz der Antwort, selbst Terminologie verraten nur zu
deutlich die Quelle, aus der der junge Gorki diese Weisheiten
schlürfte. Es ist eine Predigt von der Art Zarathustras. Viele Jahre
später hat Gorki selbst zu dem Vorwurf Stellung genommen, daß er
die Vagabunden idealisiert und ihnen Gedankengänge Nietzsches
unterschoben habe. Mit einer Gereiztheit, die sich wohl aus der Ver-
ärgerung erklärt, an eine Jugendsünde erinnert zu werden, wies er
die Behauptung zurück, er habe jemals das Lumpenproletariat ver-
herrlichen wollen, gab aber zu, daß er Motive der Nietzscheschen
Philosophie verarbeitet hat. »Ich glaube«, schrieb er in einem Auf-
satz, »ich war durchaus berechtigt, den >gewesenen Menschen < den
Anarchismus des Nietzscheanertums, den Anarchismus der >Besieg-
10
ten< beizugeben. Warum? Darum, weil die >gewesenen Menschern,
die das Leben aus dem mormalen Leben in die Nachtasyle geworfen
<
11
ihn herum auch noch so widerwärtig sein. Er verstand es, sich
unter den unwirtlichsten Umständen, bei quälendem Hunger in die
poetische Welt der Bücher, die er irgendwo aufgetrieben hatte, zu
versenken und seinen Träumen nachzugehen. Seine dichterische
Laufbahn begann er erstaunlicherweise mit schwärmerischer, me-
lancholischer Lyrik. Sein erster Lehrer, der ukrainische Bauerndich-
ter Wladimir Korolenko, warf ihm vor: »Wenn das ein junges Mäd-
chen geschrieben hätte, das zu viele Verse von Musset gelesen
hat ., so würde ich ihr sagen: >Nicht übel! Aber heiraten Sie lie-
. .
ber < Daß aber so ein grimmiger Lulatsch wie Sie zarte Verse macht,
!
blutet Aber es wird erstehen der Tag, da jäh deines heißen Herz-
. . .
12
.
Weisheit des alten Luka besonders imponiert habe. Auf die Frage,
wozu eigentlich die Menschen lebten, habe der Alte geantwortet:
»Die Menschen? Ei, die leben um des Tüchtigsten willen! Da leben
zum Beispiel die Tischler, wollen wir annehmen - lauter elendes Volk
. und mit einem Male wird aus ihrer Mitte ein Tischler geboren
. . . .
solch ein Tischler, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat; allen ist
er über, kein anderer Tischler kommt ihm gleich. Dem ganzen Tisch-
lerhandwerk gibt er ein neues Gesicht sein eigenes sozusagen... . . .
und mit einem Stoß rückt die Tischlerei um zwanzig Jahre vorwärts
. Und so leben auch alle anderen
. . die Schlosser und die Schuh- . . .
macher und die übrigen Arbeitsleute auch die Bauern und so- . . . . . .
gar die Herren - nur um des Tüchtigsten willen Jeder denkt, er sei !
für sich selbst auf der Welt, und nun stellt sich's heraus, daß er für
jenen da ist für den Tüchtigsten! Hundert Jahre
. . . oder viel- . . .
leicht noch länger leben sie so für den Tüchtigsten - Alle, mein
. . . !
Nutzen . . .«
Gorki Thesen Nietzsches ins Soziale und
hatte eine eigene Art, die
Revolutionäre umzudenken. Diese Tendenz prägte auch seine Vor-
stellung vom Marxismus, als er sich von den Bauernrevolutionären
zu lösen und der Arbeiterbewegung zuzuwenden begann. Vergleicht
man mit dem >Nachtasyl< sein anderes Schauspiel >Die Kleinbürger <,
so kann man eine interessante Weiterentwicklung der Elite-Idee fest-
stellen. >Die Kleinbürger < wurden zwar als erstes Stück fertig und
kurz vor dem anderen aufgeführt, drücken aber in ihrer ganzen Kon-
zeption und Gedankenwelt ein späteres Entwicklungsstadium Gor-
kis aus als das >Nachtasyl<, das der Dichter ja schon sehr früh kon-
zipierte und mit dem er lange schwanger ging.
In den Kleinbürgern < stehen sich wieder die beiden Gruppen von
Menschen gegenüber: die Schwachen, Verängstigten, Schlechtweg-
gekommenen, die verzweifeln und resignieren, und die Starken,
Tüchtigen, Tapferen, die Kämpfer und Sieger, die ja zum Leben
sagen und sich ihrer Zukunft gewiß sind. Aber jetzt ist das keine
ethische Konfrontation mehr, sondern eine soziale Kleinbürger und :
Beruf hat sich geändert, aber sonst hat er noch alle Züge des Gorki-
schen Heldenideals ein Herr auf seine Art, makellos und stolz, der
:
sich als Eroberer des Lebens, als Schöpfer aller Werte fühlt und alles
Schwache und Morbide verachtet, ein furchtloser und mitleidloser
*3
Zertrümmerer der alten Tafeln. »Siehst du«, sagt Nil, »ich liebe es
zum Beispiel leidenschaftlich, Eisen zu schmieden. Vor dir liegt eine
rote, formlose Masse, voll zorniger, sengender Glut ... Sie mit dem
Hammer zu bearbeiten - ist ein wahrer Genuß. Sie speit dich mit
ihrem zischenden, feurigen Speichel an, will dir die Augen ausbren-
nen, will dich blenden, dich mit Gewalt verjagen. Sie ist so voll Le-
ben, so prall . Und du formst mit weit ausholenden kräftigen
. .
Schlägen alles aus ihr, was du brauchst .« Das ist eine Allegorie,
. .
die nicht schwer zu deuten ist. Nirgendwo ist der Übergang vom
Nietzscheschen Übermenschen zum positiven Helden des Sozialisti-
schen Realismus so deutlich wie hier. In einem sowjetischen Kom-
mentar heißt es »Es besteht kein Zweifel, daß Nil nach der gesam-
:
Rolle des Nil, eine wundervolle Rolle. Sie muß etwa doppelt bis drei-
mal so lang werden, muß das Stück abschließen, zur Hauptrolle
werden. Machen Sie aber keinen Gegenspieler zu Pjotr und Tatjana
daraus« - den melancholischen Gestalten. »Er soll für sich stehen
und die beiden anderen auch. So sind es lauter wunderbare, groß-
artige Menschen, aber unabhängig voneinander. Wenn Nil sich
den Anschein gibt, als stände er über Pjotr und Tatjana, und von
sich selbst sagt, er wäre ein Teufelskerl, so geht ein Merkmal ver-
loren, das jeden unserer Arbeiter auszeichnet, nämlich die Beschei-
denheit. Er prahlt, er trumpft auf; dabei ist ohnehin zu sehen, was
für ein Mensch er ist. Mag er doch lustig sein, mag er
Spaße treiben,
und sei es vier Akte nach der Arbeit viel essen - das
lang, mag er
allein genügt schon, das Publikum für ihn zu gewinnen.« Gorki ant-
wortete, das Stück sei ihm in der Tat mißlungen, es sei »grob und
ungeschickt«, Nil durch »das Räsonieren verpatzt« usw. - änderte
aber nichts. Sie redeten offensichtlich aneinander vorbei. Tschechow,
der einmal über eine Arbeit von Gorki sagte, sie erinnere ihn an die
Predigt eines jungen Popen, eines bartlosen, der mit tiefer Stimme
das O betont .bezeichnete die fertigen >Kleinbürger< schließlich
. .,
14
!
sind, wenn sie geschliffen und geschärft werden müssen, denn nur
mit ihnen kann man siegen.«
Einmal sagte er zu Tolstoj im Gespräch, daß er aktive Menschen
gut leiden möge, die gewillt seien, sich dem Bösen auf jede nur mög-
liche Weise, selbst unter Anwendung von Gewalt, zu widersetzen.
»Die Gewalt ist das größte Übel!« rief Tolstoj aus. »Wie wollen Sie
sich aus diesem Widerspruch lösen?« Und als Gorki auf die feindliche
Umwelt verwies, in der sich der Mensch doch durchzusetzen habe,
wehrte der Alte von Jasnaja Poljana ab »Daraus lassen sich äußerst
:
semble sein Schauspiel >Der Alte< vor. Das war am Tage im kalten
Zuschauerraum. Gorki hatte seinen Mantel über die Schulter ge-
hängt und las langsam und mit leiser Stimme. Er veränderte die
Stimme kaum merklich, aber wir sahen seine Helden vor uns, als
lebten sie. Nach dem Lesen und während der Proben fragte jeder von
uns Alexej Maximowitsch begierig über die Rolle aus, die er spielen
sollte. Er antwortete bereitwillig, überlegt und gründlich. Über den
> Alten < sagte er: >Ich habe mich bemüht, zu zeigen, wie abstoßend
es sein kann, wenn sich der Mensch in sein eigenes Leid versenkt und
allmählich glaubt, andere dafür quälen zu dürfen. Wenn ein solcher
Mensch wirklich glaubt, daß er dieses Recht gewonnen habe und daß
er ein auserwähltes Werkzeug der Rache sei, so verliert er damit je-
den Anspruch auf menschliche Achtung. <« Diese Äußerung Gorkis,
die in eine wesentlich spätere Entwicklungsphase gehört (das Stück
ist 1915 geschrieben, die erwähnte Aufführung fand 1919 statt), läßt
freilich schon einen neuen, bei ihm ganz ungewohnten Ton auf-
klingen In die Kritik an der Dekadenz mischt sich die Kritik an der
:
16
Jaures beteiligten) setzte man ihn gegen eine Kaution wieder auf
freien Fuß. Er arbeitete an der ersten legalen marxistischen Zeitung
Rußlands >Nowaja Shisn< (Neues Leben) mit, für die auch Lenin
schrieb. Während des Dezember- Aufstandes in Moskau nahm er an
der illegalen revolutionären Arbeit teil in seiner Wohnung wurden
;
Roman >Die Mutter < und das Drama >Die Feinde <, die als die ersten
klassischen Werke des Sozialistischen Realismus bezeichnet werden.
Von dem Schauspiel >Feinde< können wir am besten einen Ein-
druck geben, wenn wir zwei kritische Stimmen zu Worte kommen
lassen. In dem Bericht der russischen Zensur hieß es: »In diesem
Stück wird die unversöhnliche Feindschaft zwischen Arbeitnehmern
und Arbeitgebern äußerst klar behandelt. Die Erstgenannten werden
als standhafte Kämpfer dargestellt, die bewußt auf das vorgezeich-
nete Ziel hinsteuern - Vernichtung des Kapitals -, die anderen wer-
den als engstirnige Egoisten gezeigt. Übrigens ist es nach den Wor-
ten einer der handelnden Personen vollkommen gleichgültig, wie
die Charaktereigenschaften des Unternehmers sind. Es genügt, daß
er ein Unternehmer ist, um von den Arbeitern als Feind angesehen
zu werden. Durch die Frau des Bruders des Fabrikdirektors, Tat-
jana, sagt der Verfasser den Sieg der Arbeiter voraus. Das ganze
Stück ist reine Propaganda gegen die besitzenden Klassen, weshalb
es zur Aufführung nicht zugelassen werden kann.«
Während über Rußland eine Welle der Reaktion hinwegging,
wurden >Die Feinde < bereits 1906 in Berlin aufgeführt. Der Kritiker
Kerr, weiß Gott kein Bolschewik, schrieb darüber: »Geht hinein,
seht dieses Stück. Ihr werdet zwei Akte lang warten; ihr werdet den
Kopf schütteln ihr werdet zwei Akte lang sprechen >Nun, selbst
; :
*7
::
Schiffes, das ihr Leben ist . Nein, nein das Stück ist nicht bewe-
. . :
18
bendigen Augen blitzten freundlich es erwies sich, daß er das Ma-
;
nuskript gelesen hatte. Ich sagte, ich hätte mich beeilt, das Buch zu
schreiben, und ehe ich Zeit hatte zu erklären, warum, nickte Lenin
zustimmend und gab selbst die Erklärung: Ich hätte gut daran ge-
tan, mich zu beeilen, das Buch sei notwendig, viele Arbeiter hätten
an der revolutionären Bewegung unbewußt, spontan teilgenommen
und würden jetzt >Die Mutter < mit großem Nutzen lesen.
>Ein sehr aktuelles Buch < - das war sein einziges, für mich aber
!
*9
Unter dem Einfluß der russischen revolutionären Tradition (Be-
linski, Tschernyschewski, Dobroljubow und Pissarew), für die die
Kunst immer nur eine Fortsetzung der Politik mit anderen, den Zu-
griffen der Zensur weniger ausgesetzten Mitteln war, vollzog Lenin
mit dem Postulat einer Parteiliteratur einen - ihm selbst vielleicht
nicht einmal bewußten - Bruch mit dem klassischen Marxismus, wie
er es ja auch auf anderen Gebieten tat. Für Marx und Engels, Per-
sönlichkeiten von umfassender humanistischer Bildung, wäre die
Idee, die Literatur unter Parteibefehl zu stellen, ganz unvorstellbar
gewesen. Alle Lieblingsdichter von Marx - Äschylos, Shakespeare,
Goethe, Scott, Balzac, E. T. A. HofTmann - waren keine Revolu-
tionäre. In einem der Briefe von Engels, die man heranziehen muß,
weil die Väter des Marxismus es für ganz unnötig erachteten, eine
eigene, politisch fundierte Ästhetik zu schaffen, heißt es: »Ich bin
weit davon entfernt, darin einen Fehler zu sehen, daß Sie nicht einen
waschechten sozialistischen Roman geschrieben haben, einen Ten-
denzroman, wie wir Deutschen es nennen, um die sozialen und po-
litischen Anschauungen des Autors zu verherrlichen. Das habeich
keineswegs gemeint. Je mehr die Ansichten des Autors verborgen
bleiben, desto besser für das Kunstwerk .« Und an anderer Stelle:
. .
». . . ich meine, die Tendenz muß aus der Situation und Handlung
selbst entspringen, ohne daß ausdrücklich darauf hingewiesen wird,
und der Dichter ist nicht genötigt, die geschichtliche zukünftige
Lösung der gesellschaftlichen Konflikte, die er schildert, dem Leser
in die Hand zu geben.«
Der große Theoretiker des Marxismus in Rußland war Plechanow,
den ursprünglich auch Lenin als seinen Lehrmeister anerkannte. Ge-
treu den Auffassungen von Marx und Engels sah Plechanow in der
Kunst wohl eine Widerspiegelung gesellschaftlicher Verhältnisse,
aus der man gewisse politische Schlüsse zu ziehen vermag, lehnte es
aber ab, sie als Instrument der Parteipolitik zu betrachten »Die wis-
:
20
Natürlich besteht die Masse aus Einzelpersonen, und die Einzel-
personen sind einander nicht identisch. An der Massenbewegung
nehmen Magere und Dicke, Kleine und Große, Blonde und
Schwarzhaarige, Ängstliche und Kühne, Schwache und Starke,
Zarte und Robuste teil. Aber die Individuen, die die Masse hervor-
bringt, die ihr eigenes Fleisch und Blut sind, stellen sich ihr nicht
gegenüber - wie sich die Helden aus dem bürgerlichen Milieu so
gern dem gemeinen Haufen gegenüberstellen -, sondern sind sich
bewußt, daß sie ein Teil der Masse sind, und es ist ihnen um so woh-
ler zumute, je deutlicher sie spüren, wie eng sie mit ihr verbunden
sind ... Je mehr sich die Einzelpersonen, welche die Masse bilden, in
ihren Anstrengungen zusammenschließen, desto wahrscheinlicher
wird der Sieg .« . .
che von Gorki zwar geschildert und gestaltet, aber noch längst nicht
philosophisch verarbeitet worden war. Mit der Emigration verlor
der Dichter den direkten Kontakt mit der Arbeiterbewegung wieder;
die Werke von 1906 blieben die einzigen seines Lebens, in deren
Mittelpunkt er Industriearbeiter stellte. Er war noch lange kein kon-
sequenter Marxist geworden, sondern träumte davon, das Rationale
des Marxismus mit dem Emotionalen der Narodniki zu vereinen. Die
Leninsche Modifikation des Marxismus schien seinen Vorstellungen
21
nahezukommen. Vieles, was ihm an den Narodniki und an Nietzsche
teuer geworden war, kehrte in Lenins Konzeption wieder. Die Auf-
fassung von der Partei als einer klassenlosen Avantgarde von Berufs-
revolutionären - entsprach das nicht der alten Idee der Elite? Der
voluntaristische Zug, die Tendenz zum Putschismus und zur revo-
lutionären Romantik, zur Intoleranz und Bevormundung der Klasse
und Masse - das alles, was die Bolschewiki von der marxistischen Ar-
beiterbewegung Europas unterschied, traf bei Gorki damals auf ver-
wandte Reminiszenzen und Sehnsüchte, die eine harte Jugend und
ein auswegloses Milieu in ihm erweckt hatten. Auch Lenins Auffas-
sung von der Aufgabe der Literatur, Partei zu ergreifen und politi-
sche Ideale zu propagieren, stimmte weitgehend mit der Meinung
Gorkis überein, die wir in seiner Polemik mit Tschechow, Tolstoj
und Dostojewski kennengelernt haben. Es mußte für ihn, der sich
über eine mangelnde Anerkennung seiner künstlerischen Fähigkei-
ten nie zu beklagen hatte, sehr schmeichelhaft sein, von einem pro-
minenten Mann wie Lenin nun auch den politischen Nutzen seiner
Arbeit, der ihm so viel mehr bedeutete, bestätigt zu bekommen.
Wenn man die Erinnerungen Gorkis an die Londoner Begegnung
unter die Lupe nimmt, kann man erstaunliche tiefenpsychologische
Entdeckungen machen. Sowohl das, was er sagt, wie das, was un-
gesagt bleibt, hat seine Bedeutung. Schon der Irrtum, es sei das erste
Zusammentreffen mit Lenin gewesen, ist bemerkenswert. In Wirk-
lichkeit waren die beiden schon anderthalb Jahre früher in Peters-
burg zusammengetroffen. Aber der Eindruck, den Lenin auf dem
Parteitag machte, der des energischen, sprühenden Parteiführers in
Aktion, stellte die Erinnerung an die vorhergehende persönliche Be-
kanntschaft völlig in den Schatten. Wenn Gorki ausdrücklich be-
tont, Lenin habe nicht wie ein »Führer« gewirkt, so sieht das einem
Ablenkungsmanöver auffallend ähnlich. Natürlich hatte Lenin nichts
von der prätentiösen Heldenpose eines Nil, der eher einem Backfisch-
Ideal entsprach. Wie sehr dennoch persönliche Faszinationskraft im
Spiele war, spürt man aus der Beschreibung Lenins, die Gorki in
seinen Memoiren gibt »Mich entzückte der in ihm so ausgesprochen
:
verkörperte Wille zum Leben und sein tätiger Haß gegen die Ab-
scheulichkeiten des Daseins. Ich freute mich am jugendlichen Wage-
mut, mit dem er alles erfüllte, was er tat, und ich bewunderte seine
übermenschliche Arbeitskraft. Seine Bewegungen waren leicht, ge-
wandt, und die sparsamen, aber starken Gesten harmonierten durch-
aus mit seiner Redeweise, die gleichfalls mit Worten kargte, aber
überreich war an Gedanken. Und in seinem etwas mongolisch ge-
schnittenen Gesicht glühten und funkelten die scharfen Augen eines
unermüdlichen Kämpfers gegen Lüge und Elend des Daseins, zu-
gekniffen, zwinkernd, ironisch lächelnd oder zornig blitzend. Der
Glanz dieser Augen machte seine Rede noch zündender und klarer.
Manchmal schien es, als sprühe die unbändige Energie seines Geistes
wie Funken aus diesen Augen, als leuchteten seine Worte in der Luft,
22
geladen mit dieser Energie. Seine Worte erzeugten stets das phy-
sische Empfinden unumstößlicher Wahrheit - und obwohl diese
Wahrheit für mich oft nicht annehmbar war, konnte ich mich doch
dem Einfluß ihrer Wucht nicht entziehen.« In der Tat, das war ganz
das Heldenideal, das die Narodniki und Nietzsche in Gorkis Seele
geformt hatten.
Plechanow, der Typus des Gelehrten und geistigen Parteiarbei-
ters, entsprach diesem Ideal nicht. Gorki geht in seinen Erinnerungen
sehr unredlich und unfair gegen ihn vor. Es ist einfach nicht wahr,
daß Plechanow nur eine »recht gewöhnliche Phrase« für ihn übrig
gehabt hätte. Zur gleichen Zeit, da Lenin ein paar Bemerkungen über
den politischen Nutzen der >Mutter< von sich gab, schrieb sein men-
schewistischer Rivale gründliche ästhetisch-ideologische Analysen
über diesen Roman wie über das Schauspiel >Feinde<. Plechanow ver-
ehrte Gorki tief und aufrichtig - aber als Dichter, nicht als Propagan-
disten. Er riet ihm, den Marxismus besser zu studieren, damit er er-
kenne, wie wenig sich »die Rolle des Verkünders, d. h. eines Men-
schen, der vorzugsweise die Sprache der Logik spricht, für den
Künstler eignet, . .der vor allem in der Sprache der Bilder zu spre-
.
chen hat«. Gorki kannte Plechanows Kritiken recht gut, was eine
weitere Verschleierungsmanipulation seiner Erinnerungen verrät.
Auf den paar Seiten, die dem Londoner Parteitag gewidmet sind,
wird mehr als ein halbdutzendmal und meist völlig unmotiviert dar-
auf angespielt, daß die bolschewistische Fraktion die der Arbeiter
gewesen sei (eben das, was Plechanow in seiner Kritik der >Feinde<
bestritten hatte): »die bolschewistischen Arbeiter ... die Arbeiter
neben und hinter Lenin die Arbeiter auf den Bänken der Bolsche-
. . .
das in die Wege zu leiten.« Er zog den stets willigen Gorki zu allen
möglichen literarpolitischen Aufgaben heran. Sein Rat mutet uns
23
heute zuweilen kurios an, wurde aber von Gorki stets beherzigt. Ein-
mal sagte er: »Sie sollten ihre Erfahrung nicht in kleinen Erzählun-
gen verzetteln, für Sie ist es an der Zeit, sie in einem Buch, in irgend-
einem großen Roman niederzulegen.« Ein andermal: »Für ein dickes
Buch ist jetzt nicht die Zeit, vom dicken Buch nährt sich die Intelli-
genz . wir brauchen eine Zeitung, Broschüren
. . , wir müßten
. . . ,
man nach der Revolution schreiben, jetzt aber wäre etwas in der Art
der >Mutter< vonnöten.« Und setzte hinzu: ». .ich sehe nicht, wo-
.
Trotzki und ihre Anhänger sind schon angesteckt von dem verder-
benden Gift der Macht, wie ihre beschämende Einstellung gegenüber
der freien Meinungsäußerung und der Freiheit des Individuums
zeigt, um die die Demokratie gekämpft hat. Blinde, fanatische und
skrupellose Abenteurer schreien nach einer angeblich sozialen Revo-
lution . .Auf dem Wege dahin, so glauben Lenin und seine Clique,
.
25
Volkskommissare genauso kritisieren wie jede andere Regierung.
Wir haben nicht gegen die Selbstherrschaft der Kanaillen gekämpft,
damit sie durch eine Selbstherrschaft der Barbaren ersetzt werde .« . .
allzuoft kann ich Musik nicht hören. Sie wirkt auf die Nerven. Man
möchte nette törichte Dinge sagen und den Menschen, die in dieser
schmutzigen Hölle leben und trotzdem solche Schönheit schaffen
können, den Kopf streicheln. Aber heutzutage darf man niemand
den Kopf streicheln - die Hand wird einem sonst abgebissen. Schla-
gen muß man auf die Köpfe, unbarmherzig schlagen, obwohl wir der
Idee nach gegen jede Gewalt am Menschen sind. Hm, hm - ein
höllisch schweres Amtl«
Obwohl Gorki die persönliche Integrität und echte menschliche
Tragik bei Lenin achtete - » . . . Kind dieser verfluchten
ein großes
Welt, ein prächtiger Mensch, der sich der Feindschaft und dem Haß
zum Opfer bringen mußte, um das Werk der Liebe zu verwirklichen !«
-, konnte er, der die Menschen so liebte, sich nicht mit der Praxis des
Terrors abfinden. Er hatte auch menschlich etwas von Nietzsche, der
die »blonde Bestie« propagierte, persönlich aber niemanden leiden
sehen konnte. »Finden Sie nicht«, fuhr Lenin den Dichter zornig an,
»daß Sie sich mit Torheiten und Bagatellen abgeben?« Gorki
schreibt dazu in seinen Erinnerungen den schönen, lakonischen
Satz »Doch ich tat, was ich für nötig hielt
: « Schließlich drängte
. . .
Lenin ihn, er möge Rußland während der harten Jahre, die seiner
Meinung nach nur eine Übergangserscheinung sein konnten, ver-
lassen.
27
cpoche auseinandergesetzt hat (die Oktoberrevolution und den kom-
munistischen Aufbau hat er nie gestaltet), und beschäftigt sich mit
der Vorgeschichte des Schachty-Prozesses, des ersten in einer Reihe
von Schauprozessen, in denen Wissenschaftler, Ingenieure, Tech-
niker und Meister, angebliche Mitglieder einer industriellen Ver-
schwörung, wegen Sabotage zu schweren Strafen verurteilt wurden.
Die zuweilen abenteuerlichen Beschuldigungen und die wie am
Schnürchen abrollenden Geständnisse, erste Anzeichen der von Sta-
lin eingeführten juristischen Praxis, lassen es heute schwer glaubhaft
erscheinen, daß es sich um ein echtes Komplott gehandelt hat. Rich-
tiger wird sein, daß die von Stalin bald nach Lenins Tod ohne Rück-
sicht auf Verluste forcierte Industrialisierung bei der technischen
Intelligenz, die die Verantwortung zu tragen hatte, auf passiven
Widerstand stieß, den man durch brutale Einschüchterungsmaß-
nahmen zu brechen suchte, daß man ferner Sündenböcke brauchte,
um das Volk, das über die anhaltend katastrophale wirtschaftliche
Lage aufgebracht war, zu beschwichtigen. Daß es mit der ganzen
Verschwörung nicht allzu ernst gewesen sein dürfte, geht daraus
hervor, daß der Gelehrte Prof. Ramsin, den man in einem der Pro-
zesse als Führer der »Industrie-Partei« zum Tode verurteilt hatte,
anschließend begnadigt wurde und die Möglichkeit bekam, seine
Forschungsarbeiten fortzusetzen. Im Jahre 1943 wurde er für die
Erfindung eines neuartigen Turbogenerators mit dem Lenin-Orden
und dem Stalin-Preis ausgezeichnet; auf ausdrückliche Anweisung
des Kreml erhielt der Turbogenerator den Namen seines Erfinders,
des »Volksfeindes« Ramsin. Das war nicht die Art, wie Stalin mit
ernsthaften und gefährlichen Gegnern umzugehen pflegte.
Gorki schrieb aus Anlaß des Schachty-Prozesses in dem Regie-
rungsorgan >Iswestija< einen Leitartikel unter der Überschrift:
»Wenn der Feind sich nicht ergibt, muß er vernichtet werden!« Er
kannte die Verhältnisse in der Sowjetunion allein von zwei Besichti-
gungs-Rundreisen, bei denen er natürlich nur zu sehen bekommen
hatte, was die Sowjetregierung für wünschenswert hielt. Von dem
Chaos der überstürzten Industrialisierung und den Greueln der
Zwangskollektivierung, von der Hungersnot und den Strafarbeits-
lagern hatte er keine Ahnung. Unter diesen Umständen mußten ihm
die »Schädlinge« von Schachty als ewiggestrige Bourgeois, vielleicht
gar Faschisten erscheinen, die von purer Mißgunst gegen den auf-
blühenden Staat der Arbeiter und Bauern getrieben wurden.
Charakteristisch für sein Stück ist, daß es sich weder mit den kon-
kreten Ursachen noch mit dem konkreten Ablauf der angeblichen
Verschwörung befaßt. Da läßt er es bei Andeutungen bewenden und
verbohrt sich dessen in das Seelenleben der Intellektuellen, wo
statt
er die tieferen Ursachen für ihren Widerstand gegen das Sowjet-
system vermutet. Sein Somow ist ein waschechter Faschist, ein ehr-
geiziger und skrupelloser Bursche, der davon träumt, ein Napoleon
zu werden. Umihn herum gruppiert der Dichter ein Sammelsurium
28
verkrachter Existenzen, die aus den Stücken seiner vorrevolutionä-
ren Zeit auferstanden zu sein scheinen: dekadente und lebensuntaug-
liche Ästheten, feige und raffgierige Kleinbürger, heruntergekom-
mene, versoffene Vagabunden und Strolche - eben »gewesene Men-
schen«. Er zeichnet köstliche Typen zum Teil, prachtvolle, vitale
Szenen, es knistert die Spannung unterirdischen Klassenkampfes,
aber das alles hat etwas Zerrissenes, Uneinheitliches, Unausgegore-
nes. Es geht um überlebte philosophische Scheinprobleme, um Res-
sentiments und psychopathische Verirrungen statt um die funda-
mentalen Fragen sozialer und ethischer Natur, die damals überall in
der Sowjetunion zur Debatte standen. Nicht daß Gorki sich für die
Bolschewiki entscheidet, ist die Schwäche des Stücks, sondern daß
er den wirklichen Konflikt kaum anrührt.
Es gibt in dem Schauspiel allerdings eine Figur, eine einzige, wenn
auch mehr am Rande gestaltet, die das Interesse weckt. Es ist der
junge Ingenieur Jaropjegow, der an der Sabotage nicht teilnimmt,
aber auch für die Bolschewisten nichts übrig hat. Tüchtig, kamerad-
schaftlich, fröhlich, überall angesehen und beliebt, besonders bei der
Jugend, den Komsomolzen, ist er die vielleicht sympathischste Ge-
kampf!
Wahrscheinlich dachte er an einen Brief, den Stalin ihm kurz zuvor
geschrieben hatte, in dem es hieß: ». . wenn man die Jugend
.
nimmt, die (ihrer sozialen Lage nach) zu uns gehört, so bringt nicht
ein jeder Nerven, Kraft, Charakter und Verständnis genug auf, um
das grandiose Bild der Niederreißung des Alten und des fieberhaften
Aufbaus des Neuen als ein Bild dessen zu betrachten, was notwendig
und folglich wünschenswert ist, zumal dieses Bild wenig dem para-
diesischen Idyll des allgemeinen Wohlergehens < gleicht, das die
Möglichkeit bieten soll, sich >auszuruhen< und das >Glück zu ge-
nießen <. Begreiflicherweise kann es bei diesem >Kopfschmerzen ver-
ursachenden Getriebe < nicht anders sein, als daß es bei uns Leute
gibt, die müde werden, die Nerven verlieren, sich aufreiben, in Ver-
zweiflung geraten, abtreten und schließlich in das Lager der Feinde
überlaufen. Unvermeidliche Spesen < der Revolution!« Dieser Brief
>
30
einmal mehr politische Kunst möglich, sondern nur noch Propa-
ganda, Politik in Bildern. Da Gorki Künstler, aber nicht Funktionär
war, mußten sich die Geister, die er hatte rufen helfen, eines Tages
auch gegen ihn selbst wenden.
Nur dem Anschein nach hielten sich die Direktiven der Partei an
die Prinzipien, die Gorki in seinem widerspruchsvollen Leben ge-
formt hatte. Im Jahr 1912 hatte der Dichter in einem Brief zum
erstenmal geäußert: »Hinsichtlich der sozialistischen Kunst, ins-
besondere der Literatur, werde ich Ihnen noch besonders schreiben.
Der Gedanke, daß das kein Realismus und keine Romantik, sondern
irgendeine Synthese von beiden sein wird, scheint mir annehmbar.
Ja, es ist möglich, daß es so sein wird.« Diesen Gedanken, der das
logische Produkt seiner eigenen Entwicklung ist, spann er ständig
weiter. 1919 schrieb er in einem Theater- Almanach »Unsere Zeit :
braucht ein heroisches Theater, ein Theater, das sich die Idealisie-
rung der Persönlichkeit zum Ziel setzt, das die Romantik wieder-
erweckt, den Menschen dichterisch verherrlicht . Die Bühne des
. .
vor der Revolution im Jahre 1917 einsetzt und irgendwie zur Gegen-
wart führt, dabei den Anschluß an >Somow und andere < findet. Der
Personenbestand der einzelnen Stücke greift ineinander, wie es in den
Romanen von Balzacs >Comedie humaine< der Fall ist. Der Dichter
hat aber nur die beiden ersten Teile vollendet und die kritische
Grenze, die durch die bolschewistische Oktoberrevolution, das von
ihm einst verurteilte Ereignis, markiert wird, nicht zu überschreiten
vermocht. Das als drittes geplante Stück >Rjabinin und andere <, in
dessen Mittelpunkt zum erstenmal ein Revolutionär stehen sollte,
hat er gar nicht mehr in Angriff genommen. Auch der Inhalt der
beiden fertiggestellten Dramen erscheint vom parteidoktrinären
Standpunkt aus etwas fragwürdig. Jegor Bulytschow, der Held des
ersten, ist ein »weißer Rabe«, ein »anständiger Kapitalist«, der am
Ende seines Lebens begreift, daß die Revolution unaufhaltsam ist
und er selbst »an der falschen Straße gelebt hat«. Als Vorbild diente
Gorki bei dieser Figur der Millionär Bugrow, von dem er in seinen
Erinnerungen berichtet: »Bugrow, der ein Stück Fruchtzucker ab-
gebissen hatte, trank gierig den Tee aus, strich sich über den Bart und
fuhr inständig und leise fort >Es kam eine gefährliche Zeit, eine Zeit
:
der großen Unruhe der Seele. Sie sagen eben - Revolution dazu, die
Auferstehung aller Kräfte der Erde ... Sie eilen voraus, ja voraus
und immer weiter . < « - Dostigajew ist ein glänzender, wendiger
. .
32
anzupassen«, bis zur Vollendung entwickelt hat. Der erstaunliche
Schluß des Stückes besteht darin, daß es ihm sogar gelingt, sich der
bolschewistischen Macht anzupassen.
In seinen späten Werken entwickelte Gorki einen eigenartigen,
unverwechselbaren Stil von letzter Reife. Sein bedeutendstes Merk-
mal besteht darin, daß die äußere Handlung immer mehr zurück-
tritt. Es gibt ganze Akte, in denen so gut wie nichts geschieht, und
andere« dokumentiert sich schon, daß auch der Held nur ein Kraft-
element unter anderen ist, eingebettet in den breit sich dahinwälzen-
den Strom gesellschaftlicher Gestalten und Ereignisse. Ein weiteres
Merkmal dieses Stils kann man darin erblicken, daß die Unterschiede
im Genre, zwischen Tragödie und Komödie, verschwimmen. Gorki
nannte seine Stücke Szenen, Dramen oder bezeichnete sie überhaupt
nicht näher. Der abgründige Haß, mit dem er der bürgerlichen Ge-
sellschaft gegenüberstand, schlug sich in einer aggressiven Zuspit-
zung der Darstellung nieder, die ihr manchmal groteske und ge-
33
spens tische Züge »Die Tragödie«, sagte Gorki einmal,
verleiht.
»schließt alle die so bezeichnende Lächerlichkeit der kleinen spieß-
bürgerlichen Dramen aus, die das Leben von oben bis unten be-
sudeln. Ist es etwa eine Tragödie, wenn sich im zoologischen Garten
Affen raufen?« Henri Barbusse hat für Gorkis Art die treffende Be-
zeichnung »satirisches Panorama« geprägt.
Auch die Heldin des Dramas >Wassa Shelesnowa< ist eine nega-
tive Gestalt, eine Kapitalistin, Besitzerin eines großen Handelsunter-
nehmens an der Wolga. In der ersten Fassung, die Gorki 1910 ge-
schrieben hat, wird geschildert, wie Wassa, um im erbarmungslosen
Konkurrenzkampf zu bestehen, von Verbrechen zu Verbrechen ge-
trieben wird und dem Moloch Kapital all ihre Menschlichkeit, die
Bindung selbst zu den engsten Angehörigen, opfern muß. In der um-
gearbeiteten Fassung stellt Gorki der Wassa Shelesnowa, der eiser-
nen (shelesno heißt Eisen), unerbittlichen Herrin, ihre Schwiegertoch-
ter Rachel entgegen, die Revolutionärin ist. Der Konflikt bekommt
dadurch einen anderen Akzent es geht nun nicht mehr bloß um die
:
mit der Vergangenheit statt mit der Gegenwart bzw. Zukunft, greift
seinen Stoff aus der Familiengeschichte statt aus dem Produktions-
prozeß und dem politischen Kampf, hat im Mittelpunkt keinen posi-
tiven Helden, sondern einen negativen, eine reaktionäre Kapitalistin,
der er auch noch Züge einer echten Tragik gibt, usw. Hätte das
Stück ein junger Nachwuchsdichter geschrieben, so hätte es für
einen Stalin-Preis nie gelangt.
Die Neufassung war Gorkis letztes Werk. Nach der endgültigen
Übersiedlung in die Sowjetunion im Jahre 1932 hat er noch vier
Jahre gelebt. Die sowjetische Legende berichtet, ihn habe mit Stalin
34
dieselbe innige Freundschaft wie mit Lenin verbunden. In den Me-
moiren des Schriftstellers Iwanow, des Autors des Schauspiels
> Panzerzuge der nachträglich auch dem distinguierten Bürger Sta-
wir setzen hinzu, ein Herr der Zeit - das ist unser Josef Wissariono-
witsch « Zum Leidwesen der stalinistischen Biographen finden sich
! <
35
:
36
Tod aufgedeckt. Stalins bisheriger GPU-Chef Jagoda, nun als
»Trotzkist« selbst unter Anklage, wurde für die Ermordung des
Dichters und seines Sohnes M. A. Peschkow verantwortlich ge-
macht. Nach der offiziellen Darstellung, die damals ausgegeben
wurde, erkrankte Gorki im Frühjahr 1936 in Moskau an einer schwe-
ren Grippe. Sein Leibarzt Dr. Lewin führte unter Druck Jagodas
eine künstliche Verschlechterung herbei; die Krankheit entwickelte
sich - wie schon zuvor bei Gorkis Sohn - zu einer kruppösen Lun-
genentzündung. Lewin gestand: »Die bei Gorki angewandte Taktik
bestand in der Verwendung von Medikamenten, die bei einer solchen
Erkrankung im allgemeinen indiziert sind und deren Verabreichung
daher weder Zweifel noch Verdacht erregen konnte. Zu den Mitteln,
die der Anregung der Herztätigkeit dienen, gehören Kampfer,
Koffein, Cardiazol und Digalen. Wir [Ärzte] haben das Recht, diese
Medikamente bei bestimmten Herzkrankheiten zu gebrauchen. Aber
im vorliegenden wurden enorme Dosen verabreicht. Der Patient
Fall
erhielt beispielsweise im Laufe von 24 Stunden vierzig Kampfer-
injektionen. Diese Dosis war für ihn zu stark.
. Dazu kamen zwei
. .
Diese grausige Darstellung vom Tod des Dichters ist bis heute
nicht widerrufen worden.
:
Sie sprechen über das System wie über ein Strafgesetzbuch. Dem einen Dar-
stellerwerfen Sie vor, daß er keine Beziehung zu seinen Partnern hat, dem
anderen, daß er nicht an die gegebenen Umstände glaubt, dem dritten, daß
er nicht sieht, dem vierten, daß er nicht hört usw. Wenn man Ihnen so zuhört,
dann ist es nicht ein schöpferischer Prozeß, sondern irgendein obligatorischer
Erlaß, nach dem zu leben und zu arbeiten allen Theatern vom Stadthaupt-
mann Stanislawski befohlen wurde. Ich garantiere Ihnen, daß die Schauspieler
das System hassen werden, wenn man es mit Gewalt einführen will . . .
39
Revolution ihre Reverenz erweist. Doch als Stanislawski 1938 starb
- ohne inzwischen sein System geändert und zu seiner Lebensarbeit
etwas Nennenswertes hinzugefügt zu haben -, war er mit den höch-
sten Auszeichnungen des bolschewistischen Regimes, dem Orden
des Roten Banners und dem Lenin-Orden, dekoriert worden; sein
System galt als kommunistisches Dogma, als die alleingültige Me-
thode des Sozialistischen Realismus auf dem Theater. Um diese er-
staunliche Metamorphose zu verstehen, muß man den ganzen Wust
von Legenden und Mißverständnissen abtragen, unter dem in-
zwischen Leben, Werk und Gedankengut Stanislawskis begraben
wurden.
40
punkt der Generation, die es so herrlich weit gebracht, blickte Sta-
nislawski nun auf die Theatergeschichte und wunderte sich, »daß ein
so ehrwürdiger Greis wie unser Theater, das schon vor Christi Ge-
burt entstand, sich bis heute noch beinahe im Urzustand befindet und
immer noch naiv seine Kunst einerseits auf die >Intuition< gründet,
das heißt auf die zufällige Eingebung, die vom Himmel hernieder-
gesandt wird, und andererseits auf die grobe, äußerliche, veraltete,
rein handwerksmäßige Schauspielertechnik, die man für inneres
Schöpfertum hält«. Er sah seine Lebensaufgabe darin, die Schauspiel-
kunst so zu vervollkommnen, daß sie den Ansprüchen des wissen-
schaftlichen Zeitalters genüge.
Es ist erstaunlich, mit welcher Herablassung er nicht nur auf die
ohne Zweifel heruntergekommene Schauspielerei der akademischen
Theater seiner Jugendzeit, sondern auch auf die berühmtesten Thea-
terepochen niedersah. »Ich habe versucht, auf den Trümmern des
Theaters von Pompeji zu rezitieren«, berichtete er einmal in einem
Aufsatz. »Obgleich ich gewohnt bin, laut zu sprechen, konnte man
mich nur hören, wenn ich die Stimme sehr anstrengte und jedes Wort
scharf prononciert hervorbrachte. Und je mehr ich meine Ohnmacht
in dem grenzenlosen Raum des offenen Theaters fühlte, um so stärker
wurde der Wunsch, mir durch Schreien, Bewegungen und Mimik zu
helfen, um so mehr empfand ich die Notwendigkeit des Kothurns,
um größer zu sein, des Schalltrichters, um besser gehört zu werden,
einer outrierten Sprechweise, um besser verstanden zu werden, scharf-
geschnittener Masken und übertriebener Gesten, um ausdrucksvoller
zu wirken.« Und er folgerte: »Bei diesen äußeren Bedingungen des
Schaffens konnte die Kunst der Schauspieler des antiken Griechen-
lands nicht groß sein, wenigstens von unserem Standpunkt aus.«
In dieser Einschätzung haben wir bereits die entscheidende Schwä-
che in Stanislawskis Überlegungen: sein Unverständnis dafür, daß es
in der Schauspielkunst so etwas wie einen Stil gibt, daß sich der Aus-
druckswille, daß sich das künstlerische Ziel der Zeiten ändert und
die größtmögliche Annäherung an die alltägliche Wirklichkeit durch-
aus nicht immer und überall als der Gipfel der Kunst angesehen wird.
Der Gedanke kam ihm gar nicht, daß die Akteure des alten Mimos
oder die Schauspieler am Hof des französischen Sonnenkönigs viel-
leicht überhaupt keinen Wert auf die Natürlichkeit der Empfindun-
gen legten, daß sie sie bewußt verwarfen wie die mittelalterlichen
Maler die Perspektive.
Schon in einigen Kindheitserlebnissen, die sich tief in Stanislaws-
kis Seele eingeprägt haben, kommt die Grundtendenz seiner komö-
diantischen Entwicklung zum Ausdruck. Einmal beschäftigte man
sich im Landhaus der Alexejews mit dem Stellen lebender Bilder,
einer damals beliebten Unterhaltung der guten Gesellschaft, und for-
derte den vierjährigen Konstantin auf, zum Schein ein Hölzchen ins
Feuer zu stecken. »Verstehst du? Nur so tun, als ob - aber nicht in
Wirklichkeit!« Der Kleine verursachte prompt einen Brand, so daß
41
eine Panik ausbrach. Stanislawski kommentierte dieses Erlebnis in
seinen Erinnerungen »Ich hatte sicher schon damals, wenn vielleicht
:
büt gab (Zar und Zarin: Iwan Moskwin und Olga Knipper, zwei
junge, unbekannte Schauspieler, die bald weltberühmt sein sollten),
42
da stand und fiel für Stanislawski die Aufführung mit der Beschaf-
fung historisch getreuer Gewänder und Requisiten. Man durch-
stöberte Museen und Gewandkammern, fuhr über Land, um in den
Lagern der Kaufleute und in den Truhen der Bauern nach verborge-
nen Kostbarkeiten zu suchen. Berge von Stickereien, Stoffetzen,
Schmuckgegenständen wurden zusammengetragen. Als das Ma-
terial ihn immer noch nicht befriedigte, fuhr Stanislawski selbst auf
den Nishni Nowgoroder Jahrmarkt und ergatterte von einem Tröd-
ler einen regelrechten Kehrichthaufen, aus dem er Goldstickereien
und altes Schnitzwerk hervorlugen sah. Als man >Othello< zu spielen
beabsichtigte, schickte man eine Expedition nach Cypern, um am
Ort der Handlung (der Shakespeare selber bei der Niederschrift völ-
lig unbekannt gewesen sein dürfte) Studien anzustellen. Vor der
Aufführung von > Julius Cäsar < reisten der Regisseur Nemirowitsch-
Dantschenko und der Bühnenbildner Simow nach Rom; für die
Inszenierung eines Ibsen-Stückes bestellte man Möbel aus Nor-
wegen.
Stanislawski baute hinter der Bühne noch ganze Zimmer auf, die
zwar das Publikum nicht sehen konnte, die aber die Schauspieler
schon vor dem Auftritt in die rechte Stimmung versetzen sollten.
Einmal führte ein Schauspieler des Künstlertheaters einen deutschen
Gast über die Bühne und zeigte ihm unter Zeichen der Ehrfurcht in
einem verschlossenen Schrank einen kleinen, gleichfalls verschlos-
senen Schrein, in dem sich eine erlesene Kostbarkeit befand. Der
Deutsche fragte erstaunt: »Ja, ich habe doch das Stück mindestens
dreimal gesehen: der Schrein wird doch bei euch während dieses
Stückes niemals geöffnet?« Der Russe erwiderte lächelnd: »Es ist
ja auch nicht nötig, daß er geöffnet wird. Wenn wir spielen, freuen
43
:
44
gönnen hatte, errang das Spiel der Stanislawski-Truppe einen trium-
phalen Erfolg. Der Dichter Gerhart Hauptmann schrieb »Ich habe
:
für meine Stücke immer solch ein Spiel erträumt, wie ich es bei Ihnen
gesehen habe - ohne jede theatralische Vergewaltigung und Kon-
vention -, ein einfaches, tiefes, gehaltvolles Spiel. Die deutschen
Schauspieler haben immer behauptet, meine Träume seien unerfüll-
bar, das Theater besäße Forderungen und Konventionen, die nicht
verletzt werden dürften. Jetzt aber habe ich gesehen, wovon ich mein
ganzes Leben geträumt habe.« Und Alfred Kerr, Berlins gefürchtet-
ster Kritiker, rief den Russen nach »Das schmerzlichste ist Jetzt
: :
geht ihr weg, und ich weiß nicht genau, wer ihr gewesen seid. Doch
ich weiß, daß ihr etwas Köstliches gewesen seid. Den Umfang eures
Wertes vermag ich nicht zu erforschen . .« Wenn das Spiel des Mos-
.
war keine geistige Finsternis vorhanden, und deshalb schien auch die
äußere, die naturalistische Finsternis überflüssig.«
45
Tschechows >Möwe< war schon an einem Petersburger Theater
mit großem Skandal durchgefallen, als Nemirowitsch-Dantschenko
sie im ersten Jahr des Künstlertheaters auf den Spielplan setzte. Nur
mit Mühe gewann er die Zustimmung des Dichters, der einen neuer-
lichen Eklat befürchtete. Als Tschechow einmal bei einer Probe er-
schien, erzählte ihm ein Schauspieler, daß man bei der Aufführung
Frösche quaken, Hunde bellen und Grillen zirpen hören werde. »Wo-
zu das?« fragte Tschechow. »Das ist realistisch!« antwortete der
Schauspieler. »Realistisch?« erwiderte Tschechow. »Die Bühne ist
das Reich der Kunst. Wenn man in einem der schönen Gesichter auf
einem Genrebild von Kramskoj die gemalte Nase ausschneiden und
eine aus Fleisch und Blut einsetzen würde, wäre die Nase wohl
realistisch, aber das Bild zerstört.«
Vor der Aufführung wurde Tschechow krank, und man befürch-
tete, daß er bei seinem angegriffenen Gemütszustand einen neuen
Mißerfolg nicht überleben würde. Seine Schwester ersuchte die
Direktion des Theaters, die Premiere zu verschieben, was aber aus
finanziellen Gründen nicht möglich war. Bei der Premiere fieberten
die Mitwirkenden (in Hauptrollen Olga Knipper, die spätere Frau
:
Vogel zu hören, kein Hund bellt, kein Kuckuck ruft, keine Eule
schreit, keine Nachtigall singt, keine Uhr schlägt, keine Glocken
läuten und nicht ein einziges Heimchen zirpt!«
Wie Stanislawski selber in seinen Erinnerungen zugibt, war das
naturalistisch orientierte Ensemble anfangs nicht imstande, die
Eigenart der Tschechowschen Stücke im Spiel der Darsteller zu er-
fassen, jenes »Aroma«, das der Dichter ausdrückt vor allem in den
poetischen Assoziationen und Valeurs, im Strom eingeschobener
Lyrik und in den unterschwelligen Stimmungen, den Nebentönen
und Pausen des Dialogs (dem »Untertext«, wie Stanislawski sagt).
Stanislawski konzentrierte sich auf die szenischen Elemente, auf De-
koration, Beleuchtung, Geräusche. Mit ihrer Hilfe hat er erstmals,
wenn auch oberflächlich, die Stimmung der Tschechowschen Dich-
tung bloßgelegt, jenes schwer bestimmbare Air träger Melancholie,
das in den angelsächsischen Ländern als chekhovian sprichwörtlich
46
geworden ist; er hat ferner die eigenartig verschwebenden, hand-
lungsarmen poetischen Gebilde, die wir niemals wieder missen
möchten, zu spielbaren Bühnenstücken entwickelt - ihre ganze Tiefe
freilich hat er, wie er mit der ihm eigenen intellektuellen Ehrlichkeit
zugesteht, noch nicht ausschöpfen können. Seine an Tschechow
orientierte »Linie der Intuition und des Gefühls« erscheint uns heute
als eine in ihrer Art bemerkenswerte impressionistische Variante des
Naturalismus.
Die Werke Gorkis boten Stanislawski Anlaß, seinem Stil eine
neue Nuance hinzuzufügen: die sogenannte »gesellschaftliche Linie«.
Im wesentlichen spielte er die Gorki-Stücke naturalistisch. Beispiels-
weise ließ er in der Pogromszene des Dramas >Kinder der Sonne <
eine tobende, schreiende und wild gestikulierende Menge derart
lebensecht in die Handlung einbrechen, daß viele Zuschauer an
wirklichen Aufruhr glaubten und Anstalten trafen, zu flüchten man ;
mußte in aller Eile den Vorhang fallen lassen. Als die Aufführung
des >Nachtasyl< vorbereitet wurde/ zog die ganze Schauspieler-
gesellschaft zwecks Milieustudium zum Chitrowmarkt, dem Mos-
kauer Landstreicherviertel. Sie schleppten Wodka und Wurst ins
Nachtasyl und tafelten mit den Vagabunden. Um
ein Haar wäre es
dabei zu einer ernsten Schlägerei gekommen, weil der Bühnenbild-
ner Simow ein aus der Illustrierten ausgeschnittenes Bild, das die
Asylbewohner zu Tränen rührte, nicht schön finden wollte.
Nun trat jedoch bei der Darstellung von Gorkis Werken eine zu-
sätzliche Schwierigkeit auf, wie man nämlich deren aufdringliche po-
litische Tendenz bewältigen sollte. Die Auseinandersetzung mit die-
sem Problem führte Stanislawski zu einer sehr fruchtbaren Auffas-
sung von der Interpretation politischer Stücke, die schon deshalb
näher zu betrachten lohnt, weil sie in eklatantem Gegensatz zum bol-
schewistischen Prinzip der Parteilichkeit steht. Der Regisseur machte
sich eine Erfahrung zunutze, die ihm in der revolutionären Zeit von
1905 mit einer Aufführung von Ibsens > Volksfeind < widerfahren war.
»In jener politisch erregten Zeit war in der Öffentlichkeit ein sehr
starkes Gefühl des Protestes lebendig. Man erwartete einen Helden,
der es wagen würde, der Regierung geradeheraus die grausame Wahr-
heit ins Gesicht zu sagen. Man brauchte ein revolutionäres Stück -
und machte den > Volksfeind < zu einem solchen. Das Werk wurde
beliebt, ungeachtet dessen, daß der Held eigentlich die geschlossene
Masse verachtet und sich in Lobeserhebungen für die Individualität
einzelner Persönlichkeiten ergeht, denen er die Leitung des Lebens
übertragen möchte. Doch Stockmann protestiert. Stockmann spricht
unerschrocken die Wahrheit, und das genügte, um einen politischen
Helden aus ihm zu machen Fortwährend, zudem an Stellen, bei
. . .
47
und Verhaftungen erwarten konnte. Im letzten Akt, in dem Stock-
mann seine durch die Menge verwüstete Wohnung
wieder in Ord-
nung bringt, findet er inmitten des allgemeinen Durcheinanders
seine schwarzen Hosen, die er am Tage vorher auf der öffentlichen
Versammlung getragen hat. Beim Anblick der Löcher in ihnen sagt
Stockmann zu seiner Frau: >Man soll nie seine besten Hosen an-
ziehen, wenn man hingeht und für Wahrheit und Freiheit ficht. <
Die im Theater Anwesenden bezogen diesen Satz unwillkürlich auf
den Zusammenstoß auf dem Kasaner Platz, wo wahrscheinlich eben-
falls viele neue Kleidungsstücke im Namen der Freiheit und der
Wahrheit zerrissen worden waren. Nach diesen Worten erhob sich
im Saal so lärmender Beifall, daß wir notgedrungen das Spiel unter-
brechen mußten. Einige sprangen von ihren Plätzen, stürzten an die
Rampe und streckten mir die Hände entgegen .« . .
Stanislawski fährt dann fort : »Doch wir, die Darsteller des Wer-
kes und der Rollen, dachten, als wir auf der Bühne standen, nicht an
Politik. Im Gegenteil, die durch die Aufführung hervorgerufenen
Demonstrationen kamen uns unerwartet, für uns war Stockmann
kein Politiker oder Versammlungsredner, sondern lediglich ein von
seinen Ideen besessener, ehrlicher und gerechter Mensch, ein
Freund seiner Heimat und des Volkes, wie es jeder ehrliche und
wahre Bürger des Landes sein sollte. So erschien die Aufführung
dem Zuschauer politisch, für mich hingegen war der >Volksfeind<
eines der Werke und der Inszenierungen, welche auf der Linie der
Intuition und des Gefühls lagen Ganz unerwartet sah ich mich
. . .
48
ging - die Tendenz des Naturalismus lag eben in dem Bekenntnis zur
untendenziösen Wahrheit, die nach Meinung der naturalistischen
Theoretiker allein deshalb revolutionär wirkt, weil die alte, aristo-
kratische Welt sich von der Wahrheit gelöst, das Leben vergewaltigt
hat. Um das Beispiel Stanislawskis zu strapazieren: Hätte nicht die
zaristische Polizei am Petersburger Blutsonntag die Demonstranten
so unmenschlich niedergeknüppelt, wäre aus Ibsens > Volksfeind <
nie ein revolutionäres Stück geworden. Daraus ergab sich die Kon-
sequenz, Gorkis aufgesetztes politisches Pathos nach Möglichkeit zu
unterspielen - eine Lösung, mit der Gorki selbst keineswegs einver-
standen war (so äußerte sich der Dichter über die erfolgreiche Auf-
führung des >Nachtasyl< »Mir ist dabei nicht sehr wohl zumute ...«).
:
49
Optimismus des Bürgertums mit einem Schlage hinwegfegte. Auf die
Arbeit des Künstlertheaters wirkten sich diese Ereignisse vor allem
in der Notwendigkeit aus, das Repertoire umzustellen. Tschechow
war ein Jahr zuvor gestorben, Gorki mußte ins Exil, und im euro-
päischen Theaterleben trat eine neue literarische Richtung auf, die
mit naturalistischen Mitteln nicht mehr zu bewältigen war. Auf dem
Spielplan des Künstlertheaters herrschten nun Hamsun, Maeterlinck,
Dostojewski, der russische Dekadente Andrejew, der mittlere Haupt-
mann und der späte Ibsen.
Welch eine Wandlung ist festzustellen, wenn man die jetzt folgen-
den Inszenierungen des Künstlertheaters betrachtet! Über die Auf-
führung von Hamsuns >Spiel ins Leben < berichtet Stanislawski: »Auf
dem Jahrmarkt zwischen den Läden, die mit Lasten von Waren voll-
gestopft sind, zwischen der Menge der Käufer und Händler wütet
eine Choleraepidemie, die wie ein Alp auf allem lastet. Über die wei-
ßen Zelte der Händler gleiten wie auf einer Filmleinwand deren
schwarze, unheimlich wirkende gespenstische Schatten. Die Schat-
ten messen Stoff ab, während die Käufer teils unbeweglich stehen,
teils sich in ununterbrochener Folge vorbeischieben. Die Zelte er-
strecken sich in Reihen über die Absätze des Berges, wodurch die
ganze Fläche des Berges mit Schatten angefüllt ist, während andere
Schemen wie rasend auf dem Jahrmarktskarussell durch die Luft
sausen, sich hoch erheben und wieder zu Boden sinken. Gleich einer
Höllenmusik stürmen die Töne einer Drehorgel zischend und pfei-
fend hinter den Vergnügungssüchtigen her. Andere tanzen auf dem
Proszenium im Ausbruch der Verzweiflung wild umher und fallen
während ihres leidenschaftlichen Tanzes tot um, Opfer der Cholera.
Inmitten dieser >Orgie während der Pest< und des sinnlichen Chaos
muten das Erscheinen gespenstischer Musikanten oder das Nordlicht
auf dem Winterhimmel, ebenso wie das Getöse unterirdischer
Schläge im Steinbruch, wo athletische Arbeiter Marmor für den Gei-
zigen gewinnen, wie prophetische Zeichen an .« Die Aufführung
. .
endete mit einem spektakulären Erfolg. Die eine Hälfte der Zu-
schauer applaudierte ungestüm und schrie: »Tod dem Realismus!
Nieder mit den Heimchen und den Mücken! Hoch das fortschritt-
liche Theater! Es leben die Linken!« Die andere Hälfte zischte und
beklagte sich: »Schande dem Künstlertheater! Nieder mit den De-
kadenten! Es lebe das alte Theater!«
Bei der Aufführung von Andrejews tief pessimistischem >Leben
des Menschen < kleidete man alles in schwarzen Samt, der »den Büh-
nenraum zu einer grauenerregenden Gruft werden ließ, in der wir
Todeshauch zu spüren glaubten«. So nahm Stanislawski mit außer-
ordentlicher Kühnheit und Konsequenz die Zeichen der Zeit auf, die
seiner Arbeit völlig neue Perspektiven eröffneten.
Ein Kreis neuer Freunde trat in sein Leben ein. Da war der hoch-
begabte, einfallsreiche Musiker Ilja Saz, ein Komponist der linken
Richtung, der die Bühnenmusik auf neue Weise mit dem Spiel ver-
50
schmolz und eigenartige Volksmusik-Instrumente, Hirtenpfeifen,
Lyren, wie sie die alten Psalmodisten gebraucht hatten, und kau-
kasische Instrumente heranzog. Für seine Bühnenbilder gewann
das Künstlertheater moderne Maler, so den lyrischen Dobushinski,
den späteren Avantgardisten des Films Jegorow, schließlich Rörich
und Benois, die dem Djaghilew-Ballett nahestanden. Diese Berüh-
rung mit den Revolutionären verwandter Künste inspirierte Stanis-
lawski zu Experimenten auf dem eigenen Gebiet. Er gründete zu-
sammen mit seinem ehemaligen Schüler Meyerhold, der sich einst
aus Abneigung gegen den Naturalismus von ihm gelöst hatte, das
Studio auf der Powarskaja, das aber recht bald aus finanziellen Grün-
den wieder zusammenbrach. Die Legende von einer Urfehde zwi-
schen Stanislawski und Meyerhold wird am besten durch einige
Äußerungen des Meisters über ihr damaliges Verhältnis widerlegt:
»Ich war auf die Persönlichkeit gestoßen, die ich damals in der
Periode des Suchens so notwendig brauchte. Ich beschloß, Meyer-
hold bei seinen Neuinszenierungen zu helfen, die, wie es schien, mit
meinen Träumen ziemlich identisch waren.« Und an einer anderen
Stelle: »Aus den Protokollen und Briefen entnahm ich, daß wir
grundsätzlich einer Meinung waren und das suchten, was in anderen
Künsten schon gefunden war, in unserer aber noch nicht angewendet
werden konnte.«
Einige Jahre nach dem gescheiterten Unternehmen auf der Po-
warskaja gründete Stanislawski ein neues Studio (das sogenannte
erste, dem bald weitere folgen sollten), und zwar in Zusammenarbeit
mit einem seiner faszinierendsten Regieschüler, Leopold Sulershitzki.
Suler war früher einmal wegen Militärdienst- Verweigerung zu
Festungshaft verurteilt worden. Er war ein überzeugter Tolstojaner,
übertrug des Dichters Manuskripte ins reine und bekam von ihm den
Auftrag, die religiöse Sekte der Duchoborzen, pazifistische »Geistes-
kämpfer«, aus dem Kaukasus nach Kanada zu evakuieren. Zwei
Jahre leitete er diese kanadische Kolonie und ruinierte unter den un-
wirtlichen Verhältnissen seine Gesundheit. Zur Zeit seiner Arbeit
am Künstlertheater lebte er illegal in Moskau und nächtigte oft auf
den Boulevards. Durch ihn sind manche Elemente des Tolstojaner-
tums insbesondere in Stanislawskis Ethik eingegangen, z. B. die Vor-
stellung vom Theater als Stätte sittlicher Läuterung, von der Schau-
spielergemeinschaft als einer Art geistigen Ordens, einer Verbin-
dung von Schauspielpraxis mit tätiger Landarbeit und einer asketi-
schen Selbstvervollkommnung des Menschen als Voraussetzung
künstlerischen Schaffens. Sulershitzkis früher Tod im Jahre 1916
hatte die seltsame Folge, daß ausgerechnet er neben dem ebenfalls
jung dahingegangenen Wachtangow der einzige der großen Stani-
slawski-Schüler war, den die offizielle sowjetische Theatergeschichts-
schreibung gelten ließ; die beiden Frühvollendeten wurden nicht
mehr in die Kunstdiskussionen der Stalin-Zeit verstrickt.
Etwa zu gleicher Zeit geriet Stanislawski unter den Einfluß zweier
51
großer Künstler aus dem Westen: Isadora Duncan und Gordon
Craig. Als er zum ersten Mal den Ausdruckstanz der Duncan sah,
empfand er sofort, »daß in den verschiedensten Enden der Welt auf
Grund uns unbekannter Bedingungen verschiedene Menschen in
verschiedenen Gebieten von verschiedenen Seiten her in der Kunst
ein und dieselben regelmäßigen, ganz organisch entstandenen Schaf-
fensprinzipien suchen. Wenn sie sich treffen, sind sie über die Ge-
meinsamkeit und Verwandtschaft ihrer Ideen erstaunt. Gerade das
ereignete sich auch bei dieser Begegnung: wir verstanden einander
bei der ersten Andeutung«. Auf Anregung der Tänzerin lud Stani-
slawski ihren Freund Gordon Craig nach Moskau ein. Craig war
der große Bahnbrecher des symbolistischen Theaters und verstand
es, Stanislawski für seine Idee einer »Kunst der Bewegung« zu be-
geistern. Unter Assistenz von Stanislawski und Suler inszenierte er
den >Hamlet<, eine berühmt gewordene, anspruchsvolle, von vielen
revolutionären Regie- und Dekorationsideen getragene Aufführung,
die dem Künstlertheater neuen Glanz einbrachte (Hamlet: Wassili
Katschalow). Wenn man noch die Freundschaft und gegenseitige
Anregung berücksichtigt, die zwischen Stanislawski und Max Rein-
hardt bestand, wird deutlich, wie sehr der große Russe mit dem ge-
samteuropäischen Theater verbunden war, an dessen vorderster
Front er kämpfte und rang, bis die kommunistische Machtübernahme
diese Tendenz schließlich rigoros abschnitt.
Spricht man also davon, daß Stanislawski den Naturalismus in
Rußland durchgesetzt hat, darf man nicht vergessen, daß er auch den
Symbolismus und Surrealismus kreierte. Wir können heute schwer
beurteilen, welcher Rang den Aufführungen in Stanislawskis mitt-
lerer Periode, die man von 1905 bis 1917 rechnen muß, zukommt. In
Rußland errangen sie einen demonstrativen Erfolg, im Ausland sind
sie kaum bekannt geworden. Die sowjetische Literatur geht über
diese Periode, die Stanislawski als die seiner »künstlerischen Reife«
bezeichnet hat, begreiflicherweise mit wenigen Andeutungen, einem
dunklen Hinweis auf irgendwelche »idealistischen Irrtümer« hin-
weg. Stanislawski selbst steht in seinen Erinnerungen den Leistun-
gen dieser Zeit recht kritisch gegenüber, aber das will nicht viel be-
sagen, denn dieselbe negative Meinung hat er auch über die natura-
listischen Inszenierungen der Frühzeit, die in der ganzen Welt Sen-
sation machten. Die Wahrheit wird sein, daß diese mittleren Ein-
studierungen sich wie die frühen durch eine einseitige Genialität
oder geniale Einseitigkeit ausgezeichnet haben dürften.
Ihre entscheidende Schwäche war offensichtlich der Widerspruch,
der sich zwischen den neuen, ins Metaphysische zielenden Regievisio-
nen und der alten, am Naturalismus geschulten Schauspielerpraxis
auftat. »Nun begriff ich den Zwiespalt in mir«, notierte Stanislawski,
»das Mißverhältnis zwischen den inneren Anlässen schöpferischer
Gefühle und ihrer Darstellung durch den eigenen Körper.« Es ging ja
nicht mehr darum, die Alltagswelt widerzuspiegeln, sondern Träume,
52
Ahnungen und Sehnsüchte auszudrücken. Um dieses Ziel zu erreichen,
nahm er den Schauspielern bewußt alle äußeren Mittel der Verkör-
perung - Gesten, Bewegungen, Gänge und Handlungen -, »weil sie
mir damals als zu körperlich, realistisch, materiell erschienen, wäh-
rend ich eine körperlose Leidenschaft in ihrer unverbildeten Urform
brauchte, wie sie geradewegs aus der Seele des Schauspielers ent-
springt«. Der Erfolg war aber nur eine Verkrampfung, die sich nicht
wesentlich von jenen schauspielerischen Schablonen unterschied,
gegen die der junge Stanislawski einst ins Feld gezogen war.
Neidvoll studierte Stanislawski die Aussageweise der expressio-
nistischen Malerei und versuchte vor dem Spiegel, ihre Formen ins
Mimische zu übertragen. Aber er erblickte da nur eine Karikatur
seiner selbst - der Körper ließ sich nicht beliebig spiritualisieren.
»Mein Gott«, rief er aus, »sind wir Bühnenkünstler durch die Mate-
rialgebundenheit unseres Körpers also ewig dazu verdammt, Grob-
realem zu dienen und auch nur dieses darzustellen? Sollten wir wirk-
lich nicht berufen sein, über das hinausgehen zu können, was unse-
ren Realisten in der Malerei« - den heute in der Sowjetunion so ge-
feierten Genremalern des 19. Jahrhunderts - »zu ihrer Zeit so gut
gelang? Sollte unsere künstlerische Tätigkeit nicht mehr als die jener
Maler sein?« Er dachte an das schier immateriell erscheinende Ballett,
an die Akrobaten im Zirkus, die wie Vögel von Trapez zu Trapez
fliegen. In solcher Weise wünschte er seinen Körper beherrschen zu
lernen. Er wandte sich dem Sprachstudium zu und ersehnte für seine
Stimme einen Klang wie Musik. Es muß doch möglich sein, dies zu
erreichen, so sagte er sich, und erinnerte sich eines Erlebnisses, wie
einmal ein Schauspieler mit ausgesprochen schwacher Stimme ur-
plötzlich, als er von großen Schäferhunden angefallen wurde, einen
Schrei hervorstieß, der kilometerweit zu hören war. Also bedeutet
das, folgerte er, daß es nur darauf ankommt, ganz in dem Rollen-
erlebnis aufzugehen. Aber wie erreicht man solche Inspiration ohne
Krampf?
Schließlich gelang es ihm, eine höchst eigenartige Brücke von
seiner alten naturalistischen Schauspielermethodik zu den neuen
Ideen zu schlagen, nämlich vermittels der indischen Mystik, die da-
mals in Rußland gerade in Mode kam. Es ist eigentlich erstaunlich,
daß die meisten Biographen Stanislawskis (bei den sowjetischen ist
es allerdings selbstverständlich) an diesem Phänomen vorübergehen,
obwohl die Parallelität seines Systems zum Yoga doch schlagend ist.
Von hier stammt offensichtlich der Grundgedanke : die Beschwörung
der Intuition durch physische Übungen. Direkt nach dem Vorbild
der Yogi führte Stanislawski Konzentrations- und Autosuggestions-
übungen in den Schauspielunterricht ein. Von einer seiner Schau-
spielerinnen wird berichtet, daß sie sich vor dem Auftritt mit einem
Tuch bedeckte: Keiner durfte sie anreden; als einige Frechdachse
das Tuch hochhoben, um zu sehen, was sie mache, wurde sie böse
und sagte: »Sie reißen mich aus dem Kreis, und ich muß gleich auf
53
dieBühne.« Unter dem Einfluß der Yogamystik bekam der Grund-
gedanke seines Systems, das Aufgehen im Milieu, einen ganz ver-
änderten, seinen endgültigen Charakter. »Zur Zeit des Naturalis-
mus«, so schreibt er, »glaubte ich, daß der Regisseur den Alltag des
Lebens in Rolle und Stück deshalb studieren und erfühlen müsse,
um ihn dem Zuschauer so plastisch vor Augen führen zu können,
daß dieser veranlaßt wird, in dem auf der Bühne dargestellten Milieu
ganz selbstverständlich mitzuleben. Erst später erkannte ich die
wahre Bedeutung der echten Milieutreue. Die Milieutreue endet dort,
wo das Unterbewußtsein beginnt. Ohne Milieutreue, die mitunter
bis zum Naturalismus gehen kann, gibt es kein Eindringen in die
Sphäre des Unbewußten. Wenn der Körper nicht zu leben anfängt,
kann die Seele auch nicht glauben.«
Diese Rolle des Unbewußten beim schauspielerischen Gestal-
tungsprozeß, an der Stanislawski bis zum Ende festhielt, sollte es
eigentlich unmöglich machen, das System in den dialektischen Ma-
terialismus, der von der grundsätzlichen Erkennbarkeit der Welt
ausgeht, einzugliedern. In der Tat ist das Fallenlassen dieser Kom-
ponente einer der Gründe für die Verarmung der Methode unter
Stanislawskis sowjetischen Epigonen. Die Begegnung mit der indi-
schen Lehre und den irrationalen Strömungen in Europa am Anfang
des zwanzigsten Jahrhunderts war für Stanislawski das zweite Grund-
erlebnis seiner Laufbahn, nicht weniger aufwühlend als der Ein-
druck, den das naturwissenschaftlich-materialistische Denken des
ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts auf ihn ausgeübt hat. Leider
hat er keine Gelegenheit mehr gehabt, seine Erkenntnisse voll aus-
reifen zu lassen; die Vorbereitungen zu einer Aufführung von
Rabindranath Tagores > König der dunklen Kammer < wurden durch
die Oktoberrevolution abgebrochen. Der wesentliche Erfolg der
neuen Methode gelang eigentlich auf einer Nebenlinie: Die Auf-
führungen russischer Klassiker realistischen Typs, die im Künstler-
theater nach wie vor neben den modernistischen Unternehmungen
herliefen, verloren ihre naturalistische Erdenschwere und gerieten
lichter, subtiler, vergeistigter; Turgenjews Komödie >Ein Monat auf
dem Lande < wurde - noch vor dem Kriege - einer der schönsten
Erfolge des MCHAT. Da nach der Revolution nur noch diese Rich-
tung akzeptiert wurde (abgesehen von der kommunistischen Ten-
denzdramatik, die Stanislawski nicht spielte), blieb die Entwicklung
des Systems zwangsläufig in diesem Stadium stecken.
54
sehe Aufführung von Byrons Mysterium >Kain< in Szene gesetzt,
die aber völlig mißverstanden wurde und trotz der Glanzleistung des
Hauptdarstellers Leonid Leonidow mit Pauken und Trompeten
durchfiel. Stanislawski machte seiner Verärgerung Luft, indem er
nun höchst unzeitgemäß Lecocqs alte Operette >Madame Angot<,
eine Verspottung der Französischen Revolution, auf den Plan seines
Musikalischen Studios setzte - eine Anzüglichkeit, die ihm natürlich
neue Anfeindungen eintrug. Nach der Auslandsreise, die dem Künst-
lertheater eine gewisse Atempause gewährte, geriet Stanislawski in
zunehmende Vereinsamung. Suler, Wachtangow, Ilja Saz und der
dem Theater verbundene russische Dramatiker Andrejew waren tot;
einige der besten Kräfte des Ensembles, darunter die Germanowa,
waren nach der Tournee im Ausland geblieben, wo auch Gorki und
Benois weilten. Meyerhold hatte einen ganz anderen Weg beschrit-
ten und stand als Theaterrevolutionär auf dem Gipfel der öffent-
lichen Anerkennung er forderte seinen ehemaligen Lehrer auf, sein
;
Man versteht ihn nicht mehr - ein Führer ohne Armee, ein Lehrer
ohne Schüler . . Zeugt diese ihrem Wesen nach tragische Erschei-
.
56
die Gefühle und Gedanken der Darsteller und Zuschauer. Mögen die
Inszenierung des Regisseurs und das Spiel der Darsteller getrost na-
turalistisch, konventionell, links oder rechts gerichtet sein, mögen
sie impressionistisch, futuristisch sein! Ist das alles nicht unwesent-
lich, wenn sie nur überzeugend sind, das heißt wirklichkeitsgetreu
oder glaubhaft und schön, nämlich künstlerisch erhaben, und das
wirkliche Leben des menschlichen Geistes wiedergeben, ohne das
keine Kunst bestehen kann?«
Stanislawskis Antipathie gegen jegliche politische Tendenz auf
der Bühne trübte ihm nicht den Blick für die formalen Errungen-
schaften der kommunistischen Theaterrevolution - »Auch ich singe
ihnen Lobeshymnen«, schrieb er einmal, »doch mit Vorbehalt« -,
aber sie hielt ihn ab, sich an einer Bewegung zu beteiligen, die er für
theaterfremd hielt. Nur einmal studierte er mit Hingabe ein Sowjet-
stück ein, Iwanows >Panzerzug 14-69 <, und diese Inszenierung war
bezeichnend genug für seine Einstellung. Sie fand aus Anlaß der
Zehnjahresfeier der Revolution 1927 statt, als das Künstlertheater
nicht mehr umhin konnte, von der neuen Zeit Notiz zu nehmen. Ein
nichtkommunistisches Bürgerkriegsstück, >Die Tage der Turbins<
von Bulgakow, das ein Jahr zuvor am MCHAT uraufgeführt wor-
den war, hatte einen unbeschreiblichen Skandal in der SowjetöfTent-
lichkeit ausgelöst und vom Spielplan abgesetzt werden müssen.
>Panzerzug< sollte ein Dokument des guten Willens werden. Stani-
slawski arbeitete monatelang mit dem Autor und setzte sein ganzes
Genie als Regisseur, glänzende Schauspieler (Katschalow, Chmel-
jow u. a.) ein, um das letzte herauszuholen. Er schuf eine grandiose
Massenszene auf dem Dach der Dorf kirche, dem Versammlungsplatz
der sibirischen Partisanen, ein Panorama voller Pathos, Kraft und
Weite. Er ließ den Panzerzug, der einen chinesischen Revolutionär
zermalmt, aus dem dunklen Bühnenraum unter entsetzlichem Getöse
direkt auf die Zuschauer zurasen.
Und er tat sein möglichstes, dem Stück die aufdringliche Tendenz
zu nehmen. So berichtet der Autor Iwanow, wie ihn Stanislawski
einmal während einer Probe ansprach »Wie ist Ihrer Meinung nach
:
sche beiseite ließe? Russen sind an sich kein exotisches Volk. Nese-
lassow ist ein gewöhnlicher Armeeangehöriger, der in den Dienst
der Amerikaner und Japaner geraten ist. Ich glaube nicht, daß er ein
Gefallen daran findet, sich als Sklave zu fühlen. Es ist ihm unan-
genehm. Aber andererseits haßt er die Bolschewiki derart, daß er
57
sich aus Haß damit abfindet, ein Sklave der Amerikaner zu sein. Die
Bolschewiki, sehen Sie, haben ihm sein Gut, sein Häuschen, sein
Geld auf der Bank weggenommen, er hat daher das Gefühl, als sei
ganz Rußland des Russischen beraubt! Er ist im Grunde dumm,
kurzsichtig, ein kleiner Mensch. Kleiden Sie ihn exotisch, so wird er
höchstwahrscheinlich in nichts glaubhaft.« Auch den kommunisti-
schen Helden holte er vom Kothurn herunter. Er nahm ihm alles
Heroische, Pathetische, Deklamatorische. Der Revolutionär trat zu-
rückhaltend auf, sprach leise, war kurzsichtig und machte den Ein-
druck eines sonderbaren Kauzes, hinter dessen äußerer Unzugäng-
lichkeit sich aber Verstand, Energie und Empfindung verbargen.
»In der Aufführung spürt man nichts von der Revolution, sosehr
auch auf der Bühne aus Gewehren und sogar Geschützen gefeuert
wird«, schrieb einer der damals führenden sowjetischen Kritiker.
»So führte man in diesem Theater bereits vor dreißig Jahren die
Stücke Tschechows und die historischen Chroniken auf. Es sind
immer noch dieselben Masken auf der Bühne, es ist immer noch der-
selbe trostlose Naturalismus und dasselbe Psychologisieren.«
Der alte Stanislawski zog sich nun ganz in das Schneckenhaus
seines Studios zurück. Er rekapitulierte sein System: 553 Proben
wandte er an eine Experimental-Einstudierung des >Tartuffe< von
Moliere. Und erklärte »Ein Gebiet gibt es, auf dem wir noch nicht
:
inneren und äußeren Technik unserer Kunst, die für alle gleich ver-
bindlich ist - Junge und Alte linker oder rechter Richtung, Frauen
oder Männer, Talentierte oder Durchschnittsmenschen. Eine rich-
tige Stimmschulung, Rhythmik, eine gute Diktion benötigt der-
jenige, der in alter Zeit >Behüte Gott den Zaren < sang, ebenso wie
!
der, welcher jetzt die Internationale singt. Auch die Vorgänge des
schauspielerischen Schaffens bleiben in ihren natürlichen Grund-
lagen für die neue Generation die gleichen wie für die alte.« Stani-
slawski fragt: »Wie kann ich nun der jungen Generation die Ergeb-
nisse meiner Erfahrungen mitteilen?« und kommt zu dem Schluß,
den er ganz am Ende seiner Lebenserinnerungen ausspricht: »Das
Gold auf meinem künstlerischen Wege, Ergebnis des Suchens wäh-
rend meines ganzen Lebens, ist mein System .« . .
58
ist auch nicht eines, in dem System klar und verständlich
er sein
dargestellt hätte. Stanislawskis Schwäche, andererseits natürlich auch
wieder seine Stärke, war es, daß er mehr ein intuitiver als theoreti-
scher Denker war. Er entwickelte seine Methode an Hand ganz kon-
kreter Fälle und vermittelte seine Erkenntnis wiederum im Rahmen
konkreter, praktischer Unterrichtsaufgaben. Terminologie, Argu-
mentation und Ausdeutung wechseln ständig, Erkenntnisse aus ver-
schiedenen Reifestadien gehen durcheinander oder laufen nebenein-
ander her. Zudem ist er nach seinen eigenen Angaben nie zu einem
eigentlichen Abschluß gelangt, er hat seine Methode bis zum Schluß
als einen komplizierten und widerspruchsvollen Prozeß des Suchens
und Tastens aufgefaßt, vor dessen dogmatischer Nachahmung er
ausdrücklich warnte. Wahrscheinlich war dieser fragmentarische
Charakter des Werkes unvermeidlich, wenn man bedenkt, daß es sich
um die diffizilsten psychologischen und ästhetischen Fragen, um die
Analyse des künstlerischen Schaffensprozesses handelte.
Stanislawskis stalinistische Epigonen haben dann versucht, das
wolkige System auf ein mathematisches Koordinatengitter aufzu-
spießen, es durchzurationalisieren, und dabei eine »Technik der
Zaubersprüche« entwickelt, von der ein Zitat aus dem Standardwerk
von Albakin >Das Stanislawski-System und das Sow et- Theater <
j
einen Begriff gibt: »Während das Stück studiert wird, wird die
> Überaufgabe < bestimmt, die die Grundidee der bevorstehenden
Aufführung ausdrückt, es wird die Linie der durchgehenden Hand-
lung <, die zielbewußt auf die Überaufgabe gerichtet ist, für das ganze
Stück und für die Aufführung festgelegt. Außerdem wird der >Unter-
text< des Stückes und der einzelnen Rollen studiert, es wird der
>Kern< jeder Bühnengestalt, es wird die Perspektive des Schau-
spielers < und die Perspektive der Rolle < festgelegt, aus denen sich
die Perspektive der Aufführung ergeben muß. Die vorgeschlagenen
Umstände < des Stückes werden studiert und erforscht, der ganze
Text wird in >Teile und Aufgaben < für den Schauspieler und für den
Regisseur zerlegt.« Wenn man bedenkt, daß dieses Gestrüpp trok-
kener, ausgetüftelter Vorschriften als unantastbares stalinistisches
Dogma dargeboten wurde, gegen das keinen Zweifel und kein
es
Aufmucken geben durfte, so versteht man, warum der Name Stani-
slawski für die Schauspieler hinter dem Eisernen Vorhang zu einem
Alptraum geworden ist.
Wir wollen den Versuch wagen, einen knappen Umriß von Stani-
slawskis System zu geben. Es ruht, vereinfacht gesagt, im wesent-
lichen auf zwei Säulen, die mit den Termini technici »Physische
Handlungen« und »Überaufgabe« bezeichnet werden. Das Prinzip
der sogenannten Physischen Handlungen besteht darin, daß der
Schauspieler angehalten wird, auf der Bühne nicht so fühlen zu wol-
len, als ob verkörpernde Gestalt wäre, sondern so zu han-
er die zu
deln. »Ich verstehe alles, Konstantin Sergejewitsch, was Sie von uns
fordern«, bemerkte ein Darsteller bei der Probe. »Sie verlangen von
59
uns nicht sosehr ein >Erleben<, wie es bisher in der schauspieleri-
schen Arbeit üblich war, als vielmehr ein organisches Handeln ..« .
den als Ergebnis Ihres Urteils über die faktischen Vorgänge und
Handlungen, die Sie zu vollführen begonnen haben, von selbst in
Ihnen entstehen.« Der Begriff Physische Handlung ist nicht ganz
korrekt, denn es ist die komplexe menschliche Handlung gemeint,
also nicht nur die mechanisch-physische, sondern auch die psychische
Äußerung, der Wille, die Worthandlung. Stanislawski wollte mit
seiner Formulierung nur betonen, daß es ihm auf das einfache, reale
Verhalten ankommt, und seine Methode abgrenzen von dem krampf-
haften Erzeugenwollen der Gefühle aus dem Blauen heraus, das zur
Schmiere führt, und von einem routinemäßigen Einlernen gewisser
genormter menschlicher Ausdrucksformen, z. B. Augenrollen bei
Zorn, Grinsen bei Freude usw. Der Schauspieler soll seine Rolle
jedesmal neu erleben, indem er ihre Handlungen absolviert. Um die
Wirkung auf den Zuschauer soll er sich überhaupt nicht kümmern,
nur um das Handeln in der Rolle und das Zusammenspiel mit dem
Partner. Schauspieler, die unter Stanislawski nach dieser Methode
gearbeitet haben, berichten, daß sie zuerst ein befremdendes Gefühl
der Unsicherheit, der Ungenauigkeit gehabt hätten, weil sie bei jeder
Vorstellung völlig neu und etwas anders reagiert hätten. Das Prin-
zip führt zu einer Freiheit und Unmittelbarkeit, zu einer Nuancierung
der Empfindungen, die besonders lebensecht und glaubwürdig wirkt.
In der Tat bewegen sich die meisten großen Schauspieler ganz spon-
tan in solcher Weise auf der Bühne. Nicht Verstellung ist die Auf-
gabe des Schauspielers, sondern Verwandlung. Stanislawskis Ver-
dienst, ebenso einfach wie genial, besteht darin, bewußt gemacht zu
haben, auf welche Weise der Verwandlungsprozeß am ungezwun-
gensten vor sich geht.
Die sogenannte Überaufgabe, die man aus Ablauf und Aussage
des Stücks destilliert, ist die schöpferische Grundformel der Auffüh-
rung. Stanislawski erläuterte es einmal am >Hamlet<: »Ich kann im
>Hamlet< die Aufgabe entdecken, die ich auf die Formel bringe: >Ich
will das Andenken meines Vaters ehren. < Wenn ich bei dieser Formel
bleibe, wird ein Familiendrama entstehen. Ich kann aber auch eine
höhere Aufgabe entdecken: >Ich will die Geheimnisse des Seins er-
kennen^ Jetzt kann schon die Tragödie eines Menschen entstehen,
der über die Schwelle des Lebens geblickt hat und nicht mehr existie-
ren kann, ohne die Frage nach dem Sinn des Lebens zu beantworten.
Ich kann aber auch eine noch höhere Aufgabe entdecken: >Ich will
die Menschheit retten. < Diese Aufgabenstellung wird zur Verbreite-
rung und Vertiefung der Tragödie führen.« Die Postulierung einer
Überaufgabe hat den Zweck, erstens ein wildes Drauflosinszenieren,
das die Aufführung und die Rollen zerflattern läßt, unmöglich zu
machen, zweitens die Aufmerksamkeit des Regisseurs statt auf irgend-
welche Gags und Stimmungen auf die Aussage der Dichtung zu kon-
60
zentrieren. Wenn man allerdings hört, daß kommunistische Regis-
seure im >Hamlet< die Überaufgabe entdeckt haben: »Ich will, daß
der Feudalstaat zugrunde geht«, wird man die Problematik des Ver-
fahrens erkennen.
Die Verbindung zwischen den Elementen Physische Handlung
und Überaufgabe, gewissermaßen den Architrav über den beiden
Säulen des Systems, stellt der Begriff der Durchgehenden Handlung
dar. Stanislawski schilderte in einem fingierten Gespräch, wie er sich
die Verknüpfung der einzelnen Handlungen mit der Grundidee der
Aufführung vorstellt:
»Wenn ich auf die Bühne gehe«, sagt einer der Schauspieler, »dann
denke ich an die erste nächstliegende Aufgabe. Nach ihrer Ausfüh-
rung entsteht von selbst die zweite. Wenn ich diese gespielt habe,
denke ich an die dritte, vierte und so weiter.«
»Und ich beginne mit der durchgehenden Handlung. Wie eine
fast endlose Chaussee dehnt sie sich vor mir aus, und genau an ihrem
Ende erglänzt die Kuppel der Überaufgabe«, sagt ein alter Schau-
spieler.
»Wie aber sind Sie bestrebt, das Endziel zu erreichen?« fragt Tor-
zow (Schauspiellehrer).
»Indem Aufgabe nach der anderen erfülle.«
ich logisch eine
»Sie handeln, und dieses Handeln führt Sie immer näher an das
Endziel heran, nicht wahr?« forscht Arkadi Nikolajewitsch (Torzow).
»Natürlich, und so mache ich es in jeder Rolle.«
»Wie kommen Ihnen denn diese Handlungen in einer gut erlebten
Rolle vor? Schwer, kompliziert, unfaßbar, nicht wahr?« fragt Tor-
zow, die vermutete Antwort vorwegnehmend.
»So war es früher tatsächlich, aber schließlich bin ich zu einem
Dutzend sehr klarer, realer, leicht verständlicher Handlungen ge-
kommen, die Sie das Schema oder die Fahrrinnen des Stückes und
der Rolle nennen.«
Ohne ihre Unterordnung unter die Durchgehende Handlung
würden die Physischen Handlungen in uferlose naturalistische Zu-
standsmalerei ausarten, ein Fehler, der sich bei sehr vielen Stanislaw-
ski-Epigonen findet, aber nicht unbedingt dem Meister in die Schuhe
geschoben werden sollte. Er sagt ausdrücklich, daß das Geheimnis
nicht in der Handlung selbst liegt, sondern in den gegebenen Um-
ständen, »man kann ein Glas Wasser trinken - das ist eine einfache
physische Handlung, um aber ein Glas mit Gift zu trinken, muß man
ein ganzes Stück schreiben .« Die Methode setzt geradezu eine
. .
63
.
Der Theateroktober
Der Singvogel der Poesie - die Nachtigall - und der Vogel der Weisheit - die
Eule - erscheinen erst nach Sonnenuntergang. Jetzt ist das Tagewerk voll-
bracht. Im Lichte der Dämmerung werden Verstand und Gefühl sich des Ge-
leisteten erst richtig bewußt
. .
Trotzki 1923
64
allgemeinen wilden Schießerei, an welcher sich auch der auf der
Newa liegende Panzerkreuzer > Aurora < eifrig beteiligte.
Schließlich wurde auch das Winterpalais, der letzte Zufluchtsort
der Reaktion, erstürmt. An der Front des Gebäudes flammte das
mächtige Transparent eines roten Sowjetsterns auf, die Musik
stimmte die Internationale an, und es entwickelte sich ein großer
Parademarsch der siegreichen Roten Truppen mit allgemeinem Chor-
gesang.« Ein mächtiges Feuerwerk am Abendhimmel beschloß die
Veranstaltung.
Die >Erstürmung des Winterpalais < war nur eines jener imposanten
Volksfeste, wie sie in den ersten Jahren nach der Revolution in Ruß-
land stattfanden. Sie wurden vor allem an den Feiertagen des soge-
nannten Roten Kalenders veranstaltet, also am Jahrestag der Okto-
berrevolution, am Ersten Mai usw. Eine der ersten Aufführungen
dieser Art wurde von Nikolaj Jewreinow und dem Maler Annenkow
vor der Petersburger Börse in Szene gesetzt In Form eines Mysterien-
:
65
ßig Jahre später bedienten sich die Kommunisten der gleichen Me-
thode zur Massenbeeinflussung in China, sie bildeten in den Dör-
fern und bei der Armee Agitationstrupps, nach einer alten Volks-
kunst »Yangko «-Gruppen genannt, welche spielen, singen, mu-
sizieren und tanzen und dabei Propaganda machen.) Viele der
Spiele entstanden aus dem Volk heraus ; so war ein verschiedentlich
aufgeführtes Stück >Der Kampf des roten Ural< von einem Schuster
im Schützengraben geschrieben worden. Andere Aufführungen wur-
den von den Agitatoren improvisiert. Da gab es die »Roten Revuen«
der »Blauen Blusen« (Proletkult-Brigaden). Da gab es die »Le-
bende Zeitung«, eine Szenenfolge, in der man die neuesten politi-
schen Ereignisse darzustellen und zu kommentieren pflegte. Da gab
es die »Agitgerichte«, wo unter allgemeiner Beteiligung des Publi-
kums die weißgardistischen Generale, die Ententemächte, die Ham-
sterer, aber auch das Analphabetentum, der Hunger, der Typhus
usw. verurteilt wurden.
Als eine mächtige Veranstaltung fand 1920 das >Gericht über
Wrangel< in der Kuban-Staniza (Siedlung) Krimskaja unter freiem
Himmel statt. Es nahmen etwa 10000 Rotarmisten und Kosaken am
Spiel teil. Jeder Mitwirkende erhielt ein Gerippe seiner Rolle und
improvisierte dann; alle waren geschminkt und kostümiert. Der
Oberbefehlshaber der weißen Südfront, General Wrangel, wurde
symbolisch vor das »Gericht« gestellt. Die Mitwirkenden waren mit
Enthusiasmus bei der Sache, und es hagelte Zwischenrufe wie »Du
Uns betrügst du nicht, du Blutsäufer!« und dergleichen. -
lügst!
Noch im Jahre 1923 fand in der Stadt Iwanowo-Wosnessensk eine
Massenaufführung statt, an der sich die gesamte Bevölkerung be-
teiligte; es wurden der große Streik und die blutigen Unruhen des
Jahres 1915 dargestellt.
An klassischen Autoren wurde eigentlich nur Schiller gespielt. Der
zu den Bolschewisten übergegangene Schriftsteller Graf Alexej Tol-
stoj schildert humorvoll eine Aufführung der >Räuber< durch Rot-
armisten an der Front:
»Das Publikum brach bei Beginn der Vorstellung in dröhnendes
Lachen aus, als es in dem geschminkten Alten mit Haar aus Werg
und in dem aus einem Meßgewand des Popen zurechtgeschneiderten
Kittel den Rotarmisten Wanin erkannte >Das ist er < riefen sie.
. . . I
>Los, Wanin, mach's gut, keine Angst < Als hinter dem zwischen
. . .
66
leuchteten von unten sein mächtiges Gesicht mit dem angeklebten
Bärtchen aus Schafwolle, mit grimmig hochgebogenen Brauen -, er
preßte die Hände auf der Brust so fest zusammen, daß der schwarze
Advokatengehrock fast in den Nähten platzte, und sprach mit kraft-
voller Stimme: >Oh, daß ich durch die ganze Natur das Hörn des
Aufruhrs blasen könnte, Luft, Erde und Meer wider das Hyänen-
gezücht ins Treffen führen < Hier verstummte das Publikum
tige Schloß des Grafen Moor vor. Ins Fenster gießt sich Blumen-
duft aus dem Garten. Die schöne Amalie sitzt in ihrem Zimmer < . . .
aus, schlug zu, als laste die ganze Schwere ihres früheren Lebens auf
ihrer Hand -, und Kusma Kusmitsch flog in die Kulisse. Aber keiner
lachte. Aus dem Publikum wurden Rufe laut: >Recht so .< Und . .
alle klatschten, denn jeder hatte den Wunsch, dem Schuft einen eben-
solchen Schlag zu versetzen.
Weiter lief die Vorstellung wie am Schnürchen. Die Darsteller
waren nach dem ersten Akt in Schweiß gebadet, ihre gestrafften
Muskeln hatten sich gelockert, die zusammengeschnürten Stimmen
waren menschlich geworden, und es war ihnen jetzt ganz egal, wenn
sie etwas von dem, was ihnen der soufflierende Sergej Sergejewitsch
mit zischender Flüsterstimme vorsagte, nicht verstanden - ungeniert
erfanden sie eigene Worte, kräftigere als bei Schiller und auf jeden
Fall - für die Zuschauer verständlichere « . . .
67
;
Straße und auf dem Lande Da war zuerst einmal die sou-
stellte.
veräne Herrschaft des Regisseurs, denn er war ja der entscheidende
Mann, der bei den Massenveranstaltungen und den Agitationsein-
sätzen wie ein Feldherr die Marschrouten und Aktionen der Mit-
wirkenden festzulegen und zu dirigieren hatte. Da war der Vorrang
von Arrangement und Improvisation gegenüber dem dichterischen
Wort, das für die agitatorischen Aufgaben allenfalls als Ausgangs-
punkt, als Rohstoff in Frage kam und im übrigen in dem allgemeinen
Trubel sowieso ertrank. Für Psychologie und individuelle Gestal-
tung in der Schauspielkunst hatte man ebenfalls keine Verwendung
was man brauchte, waren Ausdrucksformen, die weithin vernehm-
bar und von den Darstellern ohne Vorkenntnisse zu bewältigen wa-
ren, also Massenbewegungen, Chöre sowie heroische oder satirische
Formeln und Symbolismen. Die Grenze zwischen Schauspielern und
Zuschauern wurde verwischt allesamt waren sie Mitwirkende einer
;
Als er sich in den Dienst der Revolution stellte, hatte der Regis-
seur Meyerhold bereits eine bewegte und glanzvolle Karriere hinter
sich. Er war 1874 als Kind deutscher Eltern in Rußland geboren
worden; sein Vater war vermögender Schnapsfabrikant in einer rus-
sischen Provinzstadt. Dem Jungen fiel der Besuch des russischen
Gymnasiums schwer, er brauchte elf Jahre, bis er mit Mühe sein
Abitur absolvierte. Auf der Moskauer Universität erwarb er die rus-
sische Staatsbürgerschaft, gleichzeitig trat er zur orthodoxen Kirche
über. Zu Ehren des Schriftstellers Garschin, der aus Verzweiflung
über die tristen Verhältnisse der Zeit im Selbstmord geendet hatte,
wählte er sich den Vornamen Wsewolod. Bald kehrte er der Univer-
sität den Rücken und interessierte sich, wie viele Kinder des reichen
Moskauer Bürgertums, fürs Theater; als der Vater starb und das
»Handelshaus E. F. Meyerhold und Söhne« zusammenbrach, ergriff
68
er den Beruf des Schauspielers. Er trat in die Theaterschule von
Nemirowitsch-Dantschenko ein. Als er sie 1897 verließ, schrieb ihm
sein Direktor ins Abgangszeugnis »Meyerhold ist unter den Eleven
:
69
schewistischen Partei anschloß. Diese Haltung war gewiß kein Akt
des Opportunismus - Meyerhold war bis zu seinem tragischen Tod
kein Mann der Anpassung -, sondern ehrlicher Überzeugung. Als
konsequentester Theaterrevolutionär Rußlands, der bei seinen Un-
ternehmungen immer wieder auf materielle und gesellschaftliche
Schranken gestoßen war, entdeckte er in der Revolution ungeahnte
schöpferische Möglichkeiten. Plötzlich war das ganze starre Gefüge
theatralischer Konventionen und Bedingtheiten hinweggefegt, und
er stand als souveräner, seinen Intentionen folgender Herr über
einen mächtigen und modernen Darstellungsapparat den unverbil-
deten, für alle kulturellen Erlebnisse dankbaren Massen gegenüber.
Das nachrevolutionäre Theaterleben bot ihm ein unermeßliches und
vollkommen freies Experimentierfeld, wo er in wenigen Jahren alles
ausprobieren und kreieren konnte, was dann in den anderen Ländern
der Welt erst in jahrzehntelangen Kämpfen der Avantgardisten mit
dem Theaterbetrieb und dem konventionellen Publikum durchge-
gesetzt wurde. Die Revolution war für Meyerhold der große
Dammbruch der Befreiung - nur zu begreiflich, daß er auch für die
soziale Emanzipation der Arbeiter und Bauern alles Verständnis
hatte und seine Bestrebungen mit den ihren verband. Von bol-
schewistischer Ideologie hatte er keine Ahnung; er hat in seinem
Theater auch nie die spezifisch bolschewistische Variante der Re-
volution gestaltet (wie später Brecht), sondern die Revolution an
sich, den Aufstand der Massen.
Bei aller Mannigfaltigkeit und Experimentierfreudigkeit seiner
Arbeit stützte sich Meyerhold in seiner nachrevolutionären Phase
auf einige konstante, von ihm selbst eingeführte Grundelemente der
Gestaltung. Seine schauspielerische Methode war die sogenannte
Biomechanik. Man hat darunter ein darstellerisches Prinzip zu ver-
stehen, das die rationellste und lapidarste Bewegung auf der Bühne
und die Umsetzung seelischer Erlebnisse in körperliche Ausdrucks-
formen erstrebt. Jede Bewegung, jede Geste des Spiels wird mit
mathematischer Gewissenhaftigkeit kalkuliert und hat symbolische
Bedeutung. Soll eine Gestalt dargestellt werden, die von einem tragi-
schen Schicksal betroffen ist, hat der Schauspieler das nicht durch
Mimik, Rede, Stimmung auszudrücken, sondern durch sein äußeres
Erscheinungsbild: Er läßt also die Schultern vornüberhängen, be-
wegt sich ruckartig, vernachlässigt seine Kleidung usw. Bei freudi-
ger Erregung der darzustellenden Person vollführt der Schauspieler
vielleicht ein Tänzchen. In der Inszenierung von Verhaerens >Mor-
genröte< wurde beispielsweise die Morgenstimmung durch macht-
volles Ausschreiten eines zuversichtlichen, gespannten Chores, die
Abenddämmerung durch den müden Gang von Reihen aus der Fa-
brik heimkehrender Arbeiter zum Ausdruck gebracht. Meyerhold
entwickelte auf experimentellem Wege ein ganzes System von Be-
wegungssymbolen und Stilgriffen, die er seinen Schauspielern, mög-
lichstjungen, die noch nicht durch konventionelle Schauspiel-
70
schulen gegangen waren, in einem intensiven Studium beibrachte.
Seine Methode setzte artistische Körperbeherrschung, gutes Re-
aktionsvermögen, Gefühl für Raum und Zeit, für Stellung und Wir-
kung des eigenen Körpers, Musikalität und Intelligenz voraus; er
schulte sein Ensemble immer wieder im Gehen, Laufen, Turnen,
Springen, Klettern und derartigen grundlegenden Übungen der
Körpererziehung.
Sinn und Zweck der Biomechanik bestand darin, die Emotion in
eine Formel zu verwandeln, die Vergesellschaftung und Normie-
rung der individuellen Erlebnisse zu ermöglichen, wie es einem
Theater, das auf Kollektiverlebnisse und Massenaktionen zielte,
wünschenswert schien. Meyerhold ging so weit, für seine Schau-
spieler einen einheitlichen blauen Overall einzuführen, in dem kaum
Männlein und Weiblein, geschweige denn einzelne Persönlichkeiten
zu unterscheiden waren. Um den »Klassenkern« des gesprochenen
Wortes bloßlegen ?u können, erarbeitete er eine besondere Tech-
nik, wie man das, was man im Text zu sagen hat, durch Miene und
Geste vorwegnehmen, ergänzen und kommentieren könne - also
eine Keimform der späteren Brechtschen »Verfremdung«. (Beide,
Meyerhold wie Brecht, knüpften da u. a. an das ostasiatische Thea-
ter an.)
Mit der biomechanischen Schauspielertechnik berührte sich eine
andere Komponente des neuen Theaters, der Rückgriff auf die russi-
sche Hanswurst-Tradition. Man ging davon aus, daß die Jahrmarkt-
spiele viel inniger im russischen Volksboden verwurzelt sind als das
erst spät aus dem Westen importierte Theater, daß sie sich vor allem
immer unmittelbar an das einfache Volk gewandt haben, während
die Opern- und Schauspielhäuser den besitzenden Klassen vor-
behalten waren. In dem Schalksnarren, eben dem Hanswurst,
welcher selbst dem Zaren die Wahrheit ins Gesicht sagen durfte, er-
blickte man so etwas wie einen revolutionären Vorfahren. Meyerhold
hoffte sein Theater populärer zu machen, indem er in der Art der
fahrenden Schausteller früherer Jahrhunderte den Vortrag durch
akrobatische Kunststückchen und äquilibristische Tricks würzte.
Vom formalen Gesichtspunkt ergab die Einbeziehung der Hans-
wurst-Tradition eine reizvolle Bereicherung des Spiels und die Mög-
lichkeit, solche Mittel wie Parodie und Groteske, Übertreibung und
Exzentrik anzuwenden.
Das dritte Grundelement des Meyerholdschen Theaters war der
dynamische Konstruktivismus des Bühnenraums, von ihm selbst
entworfen. Vorhang, Guckkasten, Kulissen verschwanden ganz;
dem Zuschauer bot sich beim Betreten des Theaters ein Bild der
Bühne, wie es dann für den ganzen Abend blieb, allenfalls korrigiert
durch das Hereintragen oder Hinausräumen einzelner Versatzstücke
und Requisiten. Im Hintergrund waren die nackten Brandmauern
sichtbar. Der aller konventionellen Theateraufmachung entblößte
Bühnenraum war nun keineswegs leer, sondern mit Gerüsten,
7*
Blöcken, Treppen, Bögen und dergleichen bebaut. Auf diese Weise
wurde eine großzügige Raumbezogenheit des Spiels möglich ge-
macht. Das verblüffendste aber war, daß dieser ganze Konstruk-
tionsapparat in Bewegung gesetzt wurde. Das geschah mit Hilfe von
fahrbaren Spielflächen, Drehscheiben, auf- und niederschwebenden
Terrassen, Lifts, Rolltreppen, Drahtseilbahnen, Hebekränen, ro-
tierenden Wänden, Versenkungen usw. Auf der Meyerhold-Bühne
war ununterbrochen alles in Bewegung. Die Schauspieler bewegten
sich nicht nur horizontal, sondern auch vertikal über die Bühne, in-
dem sieüber die Gerüste turnten und sogar an Strickleitern hangel-
ten. Einmal war die ganze Spielfläche von einem Gehänge von Bam-
busstöcken mit Kupferringen umgeben, die beim Auf- und Abtreten
der Darsteller aneinanderschlugen und klapperten. Die Vorstellun-
gen begannen nicht mit Gong oder Klingel, sondern mit schrillem
Pfiff. Das Spiel der Lichteffekte, Einblenden von Projektionen, die
Beigabe von Musik, von der Harmonika bis zur Jazzband, rundete
den Eindruck ab. Es war eine Sinfonie der Bewegung, erfüllt von
Tempo und Rhythmus - vielleicht würde man besser, passender
sagen ein motorisches Getriebe, aber keineswegs monoton, sondern
:
müssen den Pinsel wegwerfen und den Zirkel, das Beil und den Ham-
mer ergreifen, um die Bühne nach dem Vorbild unserer technischen
Welt neu zu formen.« Die Wirkensstätten des Proletariats, des Hel-
den der Revolution: Fabriken, Werkhallen, Maschinensäle, waren
in das Zentrum der russischen Gesellschaft getreten, und Meyerhold
übertrug diese Atmosphäre auf die Bühne. Das Bild, das in seinem
Theater geboten wurde, stand als Symbol für den rastlosen und
enthusiastischen Aufbau im ganzen Land.
Weiter sollte die neue Theaterform Bühnenvorgang und Publi-
kum aneinanderrücken. »Der Zweck des Theaters ist nicht, ein fer-
tiges Kunstprodukt zu zeigen«, erklärte Meyerhold, »sondern viel-
mehr den Zuschauer zum Mitschöpfer des Dramas zu machen. Das
Fluidum soll nicht nur von der Bühne ins Publikum, sondern auch
umgekehrt zurückstrahlen.« Das komplizierte und bewegte System
der Meyerhold-Bühne beschäftigte und entwickelte fortwährend die
Phantasie der Zuschauer. Das aus dem starren Bühnenraum ge-
löste Spiel trat in beinahe physische Berührung mit dem Publikum,
welches die Bühnenhandlung von den verschiedensten Blickpunkten
aus wahrnahm, durch kreuz und quer im Raum verlaufende Vor-
gänge völlig in das Geschehen eingespannt war und auf die ver-
72
-
gestaltete Szenen, warf alles wieder um, improvisierte - bis sich die
endgültige Gestalt der Inszenierung formte wie eine Plastik unter
den Händen des Bildhauers. Wohl hieb er gelegentlich mächtig da-
neben, verhunzte ein Stück oder machte es unverständlich, aber nie-
mals konnte man ihm vorwerfen, daß er in Schematismus oder Ma-
unbändigen Phantasie
nieriertheit verfallen wäre. Sicher fehlte seiner
oft die Disziplin, aber anregend und fruchtbar wirkten seine Auf-
führungen immer. Er war der Picasso des Theaters; von der Über-
fülle seiner Einfälle und Entdeckungen können Generationen zeh-
ren. Jelagin schreibt in seinem Buch »Ich kann mit bestem Gewissen
:
sagen, daß ich auf den Bühnen Europas und Amerikas später keinen
szenischen Kunstgriff gesehen habe, den Meyerhold nicht schon ein-
mal angewandt oder zur Diskussion gestellt hatte.« Wie immer man
zu Meyerholds Unternehmungen im einzelnen stehen mag, es ist un-
bestreitbar, daß dieser Mann auf das Welttheater einen Einfluß aus-
übte wie in unserem Jahrhundert nur noch Stanislawski, Reinhardt
und Craig.
Meyerhold entwickelte seinen Stil vor allem in Zusammenarbeit
mit Wladimir Majakowski, dem ebenso wortgewaltigen wie exzen-
trischen »Kommunisten und Futuristen«. Majakowski ist bekannt
geworden als der Sänger der Revolution, er war aber auch der talen-
tierteste und originellste Dramatiker der Sowjetepoche, und seine
bildkünstlerischen Phantasien haben das Gesicht des Meyerhold
Theaters prägen helfen. Sein >Mysterium BurTo<, ein »heroisches,
73
;
und am Ende öffnen sich vor ihren staunenden Augen die Pforten
des Gelobten Landes: eine strahlende Gartenstadt mit Wolken-
kratzern, Straßenbahnen und Autos.
>Mysterium Buffo< mit seinen Gerüsten und simultanen Spiel-
flächen, technischen und Lichteffekten, Massenumzügen wurde zum
Ausgangspunkt für immer kühnere Inszenierungen Meyerholds.
Das Trotzki gewidmete Revolutionsstück >Die Erde bäumt sich<
von Tretjakow wurde als ein kriegerisches und revolutionäres Fu-
rioso in Szene gesetzt. Auf der kahlen Bühne war ein Eisengerüst
aufgebaut worden, davor bemerkte man mehrere Kanonen, ein Flug-
zeug und eine Feldküche. Quer durch den Zuschauerraum führte
eine Verbindungsbrücke zur Bühne; darüber rasten während der
ganzen Vorstellung fast unentwegt Autos, Motorräder und Rad-
fahrerkolonnen. Im ersten Teil des Stücks wurde die letzte Phase
des Weltkrieges abgehandelt Die Geschütze und Maschinengewehre
:
74
tionsstücke und bestimmter Beleuchtungseffekte
die verschieden-
artigsten Schauplätze abgaben. Die aneinandergereihten Szenen-
fetzen beleuchteten Situationen in der ganzen Welt; soweit es sich
um die Sowjetunion handelte, in plakativer und monumentalisierter
Form, soweit es die kapitalistischen Länder anging, in Form von
Sketchen und Buffonerien (beispielsweise zeigte eine Szene, die in
England spielt, vom Untergang bedrohten Lords gegen-
wie sich die
Kinomontagen, Agitationsreden, Dokumentatio-
seitig auffressen).
nen umrahmten und durchsetzten die Aufführung.
Bei der Jahre später unternommenen Inszenierung von Tretjakows
>Brülle,China < erwies sich die Regie bereits maßvoller und über-
zeugender; sie zeichnete den Grundgedanken der Aufführung in
großen und kräftigen szenischen Linien. Der Massenrhythmus der
chinesischen Kulis und der gedrillte Automatismus der Europäer
wurden einander gegenübergestellt. Das erste Bild zeigte z. B. das
Verladen von Tee Ein Kuli nach dem anderen kommt heran, fängt
:
seinen Ballen im Flug, wirft ihn auf die Schulter und schleppt ihn
schnell weg, begleitet von den Takten des chinesischen Arbeits-
liedes und den Zurufen des Aufsehers. So wurden immer wieder ein-
drucksvolle Massenszenen arrangiert, die ihr Vorbild entweder in
Produktionsvorgängen oder in Straßendemonstrationen hatten, also
aus dem Leben selbst stammten. Die Europäer waren mit Masken
ausgestattet und bewegten sich wie Marionetten; ihre ganze Er-
scheinungswelt trug im Gegensatz zu dem Realismus der Chinesen-
szenen operettenhafte Züge.
Parallel zur Tendenz seiner ausgesprochenen Agitationsstücke,
und sie schließlich verdrängend, entwickelte Meyerhold die Linie
des musikalisch-pantomimischen Darstellungsstils in seinen Klassi-
ker-Transformationen. Eine der ersten und wichtigsten Stationen
auf diesem Wege war die Aufführung der Komödie >Der großartige
Hahnrei < von Crommelynck. Der Grundgedanke der Handlung -
Liebe und Eifersucht im Rahmen eines Dreiecksverhältnisses -
wurde ohne Rücksicht auf die konkrete Handlungsführung in kon-
struktivistische und dynamische Formprinzipien übertragen. Die
Schauspieler, allesamt im blauen Dreß, bewegten sich auf einem
verschachtelten System von Podesten, Treppen und Rutschbahnen;
ihre Gänge und Gebärden folgten streng den Gesetzen geometri-
scher Figuren und musikalischer Rhythmen. Große Schwungräder
und Windmühlenflügel im Hintergrund unterstrichen die Bewegun-
gen und Erregungen der Darsteller, indem sie je nach dem Impuls der
Handlung schneller oder langsamer rotierten. Die Bewegungen und
Konflikte der drei Zentralfiguren (Ilinski, Saitschikow und Maria
Babanowa, später Sinaida Reich) wurden im harmonischen oder
kontrapunktischen Zusammenspiel bzw. Widerspiel veranschaulicht
und durch abgestimmte pantomimische Haltungen und Gesten sym-
bolisiert.
Ein Schritt weiter war die Einstudierung von Alexander Ostrow-
75
skis >Wald<, bei der die politische und die formale Erneuerung in-
einandergriffen. Meyerhold zerlegte das Stück in 33 Episoden, die
sich teils auf, teils unter einer hoch in den freien Raum hinauffüh-
renden Treppenspirale abspielten. Die Inszenierung bezog ihre
Spannung aus einer weit über die Absichten des Originals hinaus-
gehenden sozialkritischen Konfrontation der adligen Gutsbesitzer
mit den einfachen Menschen aus dem Volk, wobei die einen karika-
turenhaft überzeichnet, die anderen heroisiert wurden. Dabei ließ
Meyerhold sich ganz von den alten russischen Traditionen inspirie-
ren, den Hanswurst-Possen und dem Volkslied. Die satirisch ge-
dachten Szenen wurden in der Art Chaplinscher Situationskomik
ausgekostet, die lyrischen leitmotivartig vom Schmelz der Ziehhar-
monika begleitet; die schöne Sinaida Reich und der spritzige Igor
Ilinski, die beiden vollkommensten Interpreten Meyerholds, zogen
allekomödiantischen und poetischen Register.
Die Inszenierung, die am meisten Aufsehen erregte, war wohl >Der
Revisor < von Gogol (mit der Reich und der Babanowa als Frau und
Tochter des Stadthauptmanns, Garin, später Martinson als Chlesta-
kow). Meyerhold kombinierte das Stück mit Szenen aus anderen
Komödien Gogols und sogar aus dem Roman >Die toten Seelen <.
Die Handlung wurde nach dem Bilderbogenmuster in fünfzehn Epi-
soden aufgelöst, der konkrete, realistische Vorfall in einem russi-
schen Provinznest zu einem Gleichnis für die ganze verrottete Be-
amtenwelt des alten Rußlands überhöht. Die Regie arbeitete wieder-
um musikalisch-pantomimisch, sie sättigte die Aufführung mit Sym-
bolen. Die Enge der alten Verhältnisse wurde dadurch zum Ausdruck
gebracht, daß man viele Szenen auf winzigen, tablettähnlichen Flä-
chen, die auf Roll wägeichen über die Bühne glitten, spielen ließ, wo-
durch der Eindruck eines Gedränges der Figuren entstand. Bei sei-
nem Monolog folgte Chlestakow, der falsche Revi-
prahlerischen
sor, in Worten und Bewegungen den Takten eines Walzers, was die
Überschwenglichkeit seiner Stimmung unterstreichen sollte. In der
Bestechungsszene öffneten sich im Halbkreis des blitzblanken Hinter-
grundes lauter Türen, aus denen immer neue Beamte ihre Hände mit
zerknitterten Rubelnoten hervorstreckten und in der Art einer Fuge
in einem fort wiederholten: »300 Rubel von mir! - 300 Rubel von
mir! ..« Gegen Schluß sank mit der Stimmung der Gesellschaft auf
.
76
Regisseur den »Mörder Gogols«. Im wesentlichen nahm die Partei
damals, 1926, noch für Meyerhold Stellung und feierte die Premiere
des >Revisor< als Beginn einer neuen Theaterära.
Ende der zwanziger Jahre sagte sich Meyerhold vom Theater-
oktober los: »Die Zeit der >Agitkas< (Agitationsstücke) ist vorbei.
Wir werden eine Reihe höchst komplizierter Probleme aufgreifen
und sie mit den kompliziertesten Verfahren der Theatertechnik
lösen. Wir nehmen den Kampf gegen die > Agitka < auf und treten für
eine kompliziertere Lösung der Probleme unserer Übergangszeit
ein.« Die dritte, die Spätphase im Schaffen Meyerholds (nach der
Stilbühne vor dem ersten Weltkrieg und dem Konstruktivismus des
Theateroktober) ist im Westen kaum bekannt geworden, da sich die
Sowjetunion auch künstlerisch immer mehr isolierte. Meyerholds
Regie wurde sublimer und behutsamer; der im >Wald< und im
>Revisor< herangereifte musikalisch-komödiantische Darstellungs-
stil verdrängte das politische Pathos; psychologische, gesellschafts-
angefertigt wurden, als man noch die Kunst des Handwerks kannte,
haben eine besondere Ausstrahlung. Sie schaffen eine Atmosphäre,
die uns das Wesen und den Geist einer alten Epoche anschaulich
macht. Von diesen schönen alten Dingen umgeben, werden die
Schauspieler in der Lage sein, die Lebensart und die Leidenschaften
jener Tage nachzuempfinden und sie mit großer Natürlichkeit dar-
zustellen.« Das Prinzip erinnert auf den ersten Blick an die Methode
Stanislawskis, dem es ja stets darum ging, wahre Empfindungen in
den Seelen der Schauspieler wachzurufen, aber möglicherweise
dachte Meyerhold mehr an den Bewegungsstil seiner Darsteller, der
durch den Umgang mit zierlichen und zerbrechlichen Gegenständen
notwendig einen feingliedrigen und feinnervigen Charakter erhielt.
Eine der letzten Arbeiten Meyerholds war die Dramatisierung des
Romans >Wie der Stahl gehärtet wurde <, der Autobiographie des
jungen Sowjetschriftstellers Nikolaj Ostrowski, der teilweise gelähmt
und blind aus dem Bürgerkrieg heimgekehrt war und sein Buch auf
dem Krankenlager niedergeschrieben hatte. Die Aufführung wurde -
wie so manche der späten Inszenierungen Meyerholds - nach der
77
Generalprobe verboten; offenbar verstieß die Bühnenversion gegen
die gereinigte und kanonisierte Fassung, die die Stalinisten nach dem
Hinscheiden Ostrowskis von dem Buch hergestellt hatten. In der
Meyerholdschen Inszenierung soll, wie Stewart Cheney berichtet,
besonders eindrucksvoll die Sterbeszene eines der Genossen Ostrow-
skis gestaltet gewesen sein: »Wenige Augenblicke vor dem Tode des
jungen Mannes gleiten einige Ereignisse aus seinem Leben vor sei-
nem inneren Auge vorüber, die hinter ihm auf eine Leinwand proji-
ziert werden. Der Sterbende durchlebt z. B. noch einmal einen Ko-
sakenangriff auf sein Heim, wobei die Musik, die den nahenden Tod
vorausahnen läßt, die Illusion noch verstärkt. Der Mann wirft den
Kopf hoch, ein furchtbarer Schrei aus seiner Kehle läßt die Musik
abbrechen, während gleichzeitig das Bild verblaßt. Ein anderes tritt
an seine Stelle. Es ist eine Kindheitserinnerung. Seine Schwester
spielt Klavier . . . Langsam sinkt das Haupt des Mannes zurück, die
Musik bricht plötzlich auf dem höchsten Ton ab. Nun hört er nichts
mehr, und Totenstille herrscht auf der Bühne .« Gerade dieser
. .
78
das Theater erwies sich die Praxis des Proletkults als Sackgasse;
Meyerhold selbst hat sich später gegen die veräußerlichte »Meyer-
hold-Manie« seiner Epigonen verwahrt. Der Regisseur Sergej Eisen-
stein gab die unfruchtbare Tätigkeit beim Proletkult schließlich auf
und ging zum Film er übertrug den Geist des Theateroktober, Dy-
;
namik und Pathos der Massenfeste, auf die Leinwand und wurde der
große Bahnbrecher des Monumentalfilms.
79
schlungen <, >für einzelne Aufführungen sind Max Reinhardt, Georg
Fuchs, Gordon Craig - ja der römische Papst - hinzugezogen <, >der
Spielplan umfaßt Drama, Lustspiel, Operette, Pantomime < - und
noch manches andere.
Und zwischen allen diesen Berichten tauchte die merkwürdige,
fast phantastische Gestalt Mardshanows auf, eines Mannes, der zwei-
fellos allgegenwärtig sein mußte denn nach den Zeitungen zu schlie-
;
80
sein, aus derNatur des Schauspielers die schauspielerische Form zu
entwickeln, eine Form, die organisch und emotionsgefüllt dem We-
sen der Schauspielkunst gemäß sei.
Tairow erstrebte also ein Theater der reinen Schauspielkunst, die
von allen psychologischen, literarischen, bildkünstlerischen und
technischen Ambitionen befreit ist. In diesem Sinne muß man den
Slogan »Entfesseltes Theater« verstehen, der sich nach dem Titel
von Tairows Buch für seine ganze künstlerische Arbeit eingebürgert
hat: Der Schauspieler von allen seiner Kunst fremden
soll sich frei
Einwirkungen entfalten können,gebunden jedoch an seine eigene
physische Struktur. Der Ausdruck »nicht gefesselt« würde den Kern
des Gedankens besser treffen als der mißverständliche »entfesselt«,
worunter man doch gemeinhin soviel wie überschäumend, ausgelas-
sen, anarchistisch zu verstehen pflegt. Ein Theater der Zügellosig-
keit hatte Tairow keineswegs im Sinn; neben Meyerholds Revolu-
tionstheater wirkte das seine ausgesprochen formstreng und dis-
zipliniert. Worauf er hinauswollte, war Part pour Part in Reinkultur:
die Schauspielkunst nur um der Schauspielkunst willen.
Im Mittelpunkt der Tairowschen Ästhetik steht der Begriff der
»Emotionsgeste«. Das ist eine Transponierung seelischer Empfin-
dungen in körperlichen Ausdruck, die man aber nicht mit der Meyer-
holdschen Biomechanik verwechseln darf. Es geht nicht um die
Schaffung von Bewegungssymbolen, sondern um die szenische Äuße-
rung der schauspielerischen Phantasie. Die Produktion einer solchen
szenischen Äußerung beschreibt Tairow folgendermaßen:
»Das erste Element, das Element des Suchens nach dem szenischen
Gebilde, unterliegt keinen bestimmten Regeln und läßt sich in kein
System fassen. Es ist ein tief individualistisches Element, das sich
bei jedem Schauspieler anders kundtut. Das Geheimnis des ersten
Auf keimens eines szenischen Gebildes ist ebenso wunderbar und un-
mitteilbar wie das Geheimnis des Lebens und des Todes Ein . . .
81
präzise Form und vollendet so den schöpferischen schauspielerischen
Vorgang.«
Tairow näherte sich bewußt tänzerischen Ausdrucksformen. Als
die Kritik einmal seiner Hauptdarstellerin, seiner Frau Alice Koo-
nen, vorwarf, habe ihre Rolle nicht gespielt, sondern getanzt,
sie
empfand Lob. Im Ballett sah er eine Darstellungs-
er dieses Urteil als
kunst, die ihrem Wesen nach der seinen näherstand als alle zeit-
genössischen Schauspielpraktiken er verglich seine eigene Arbeit als
;
82
Vollkommenheit die Salome, die Phädra, eine revolutionäre
gleicher
Kommissarin in Wischnewskis optimistischer Tragödie< und die
Hauptrolle in der Operette >Girofl6-Girofla<, wo sie voller Charme
tanzte und sang. Diese Universalität war natürlich nur möglich, weil
bei Tairow die Besonderheiten der Genres und der Rollentypen ver-
wischt wurden und es in jedem Falle nur darum ging, durch Mimik,
Gestik, Intonation und Bewegung der Phantasie entsprungene
szenische Gebilde zu kreieren.
Die augenfälligste Neuerung des Kammertheaters war die Um-
gestaltung des Bühnenraums. Tairow lenkte die Aufmerksamkeit
der Bühnenbildner (Exter, Wesnin, Jakulow, Gebr. Stenberg u. a.)
von der Beschäftigung mit Hintergrundkulissen und Dekorationen
auf die Gestaltung des Bühnenbodens, den er als das wichtigste Ele-
ment der Szene, die Plattform der schauspielerischen Arbeit ansah.
Um der Bewegung des Schauspielers in ausreichendem Maße Ent-
faltungs- und Variationsmöglichkeiten zu geben, sollte der Bühnen-
boden gegliedert sein:
»Man stelle sich vor, es sei einem die Aufgabe gestellt, die Herab-
kunft der Gottesmutter zu inszenieren. Wie muß die Bühne gestaltet
sein, um einen intensiven Eindruck der Herabkunft zu erzielen? Auf
einer ebenen Fläche läßt sich ein solcher Eindruck natürlich nicht
erreichen. Der Boden muß gebrochen werden und aus mehreren
verschieden hohen Flächen bestehen, die in ihrer Gesamtheit so etwas
wie eine unendliche Treppe darstellen müssen, auf der die Gottes-
mutter erdwärts schreitet. Wie aber muß diese Treppe konstruiert,
wie muß das Wechselverhältnis zwischen ihren Stufen beschaffen
sein? Die Lösung hängt ganz von der rhythmischen Absicht des
Spielleiters ab. Wenn der Zuschauer den Eindruck erhalten soll, sie
schwebe gleichsam herab und berühre mit ihren Füßen kaum den
Boden, wenn der Herabkunft ein feierlich-liturgischer Charakter
verliehen werden soll, so müssen die Stufen so konstruiert sein, daß
ihre Abstände überall gleichmäßig sind; ihre rhythmische Entspre-
chung muß sich durch i 4 oder 1 8 ausdrücken, wodurch die Be-
: :
83
punkten des Geschehens wandte Tairow das Prinzip der »dynami-
schen Umschwünge« an, worunter er eine jähe Umwandlung des
Bühnenbildes verstand, einen szenischen Akt, der eine besonders
prononcierte schauspielerische Gebärde über die Grenze der mensch-
lichen Ausdrucksmöglichkeit hinaus steigern sollte » wenn dann
: . . .
seiner Figurinen verraten in ihren Formen und Farben, daß sie von
diesen historischen Vorbildern angeregt worden sind.
Von den beiden theatralischen Epochen, denen er sich am ver-
wandtesten fühlte, dem altindischen Theater und der Commedia
delParte (er eröffnete 1914 sein Theater programmatisch mit Kali-
dasas >Sakuntala< und spielte als nächstes Goldonis >Fächer<), über-
nahm Tairow auch das laxe Verhältnis zur Literatur. Die literarische
Vorlage sollte seiner Meinung nach nur das Material abgeben, aus
dem dann das Theater ein neues und eigenwertiges Kunstwerk zu
schaffen hat. »Nur ein derartiges Verhältnis ist ein echt theatralisches,
denn sonst hört das Theater unweigerlich auf, als auf sich selbst ge-
84
:
daß dies altpersische Worte seien, nachher aber bekannte er, diese
Worte seien - zu seiner Ehre - in keiner Sprache zu finden. Nichts-
destoweniger wurden sie von den Zuschauern gierig aufgenommen.
Warum? Weil sie, ohne Zweifel, was die Stimme und die Sprech-
weise betrifft, meisterhaft in Klang und Rhythmus des szenischen
Gebildes eingefügt waren.«
Es erhebt sich die Frage, in was für einem Verhältnis der pure
Ästhetizismus dieses Theaters denn nun zur bolschewistischen Revo-
lution stand.Von einer bewußten politischen Beziehung kann sicher
nicht die Rede sein. Nicht nur, daß Tairow in seiner persönlichen
Haltung und Gesinnung alles andere als ein Bolschewist war, er
mußte von seinem künstlerischen Standpunkt aus natürlich alle
Tendenzen ablehnen, das Theater zu einem Forum der Agitation und
Mobilisierung der Massen zu machen. Über jenen Vorfall 1830 in
Brüssel meditierend, wo eine Aufführung der Oper >Die Stumme
von Portici< von Auber die belgische Revolution auslöste, konsta-
tierte er »Hier war ohne Zweifel der Geist des großen Verbunden-
:
seins im Theater aufgeflammt, hier hatten sich endlich die >zwei ge-
trennten Körper < durch den gemeinsamen Blutumlauf schöpferi-
scher Energie vereinigt, hier hatte das Theater die schöne und edle
<
Rolle der Fackel gespielt, an der sich die Flammen der Revolution
entzündeten, aber - die Vorstellung war damit abgebrochen. Der
Pulsschlag des Verbundenseins, der im Theater erwacht war, hatte
die Revolution entzündet, aber die theatralische Handlung aus-
gelöscht.« In diesem Punkte divergierte seine Auffassung entschie-
den von der Meyerholds und seiner Gesinnungsgenossen; er wollte
nicht eine Erneuerung des kultischen, sondern des ästhetischen Thea-
ters, nicht eine Theatralisierung des Lebens, wie es Jewreinow for-
muliert hatte, sondern eine »Theatralisierung des Theaters«. Den-
noch war es sicher kein bloßes Mißverständnis, wenn die ganze Welt
85
(und nicht zuletzt die russische Intelligenz selbst) in Tairows Dar-
bietungen ein Element des Revolutionstheaters sah.
Tairow entstammte genauso wie Meyerhold, Jewreinow und die
meisten Wortführer des Theateroktober jener avantgardistischen Re-
formbewegung, die in den Jahren von 1905 bis 1914 das russische
Theaterleben ergriffen hatte. Diese Bewegung war eine Reaktion auf
die Niederlage der Revolution von 1905, gewissermaßen ihre Subli-
mierung: Nachdem die politischen Hoffnungen der Intelligenz zer-
stört waren, schlug deren Emanzipationsstreben ins Ästhetische um.
Die betont apolitische und antiideologische Tendenz der künstleri-
schen Reformen widerspricht nicht dem dialektischen Zusammen-
hang sie erklärt sich als ein tiefenpsychologischer Akt der Verdrän-
;
gung. Als der Alpdruck, der auf dem politischen Leben lastete, im
Jahre 1917 verschwand, mündete die künstlerische Revolution denn
auch sofort in den Strom der politischen Revolution ein. Die Ex-
pressionisten, Futuristen, Symbolisten der Literatur wie des Theaters
stellten die ersten Protagonisten der revolutionären Kunst; ihre
lange vor der Revolution und unabhängig von ihr, aber aus dem-
selben Impuls heraus entwickelten neuen Formen erwiesen sich als
durchaus angemessen dem ungestümen Geist der Zeit. Viele Kunst-
griffe, die Tairow auf seiner Experimentalbühne ausprobiert hatte,
z. B. die synthetische Darstellungsmethode und die stereometrische
86
hatte eine besondere Vorliebe für den deutschen Romantiker, weil
er in dessen phantastischen Geschichten ein reiches Materialan Vi-
sionen und Archetypen fand, an dem sich seine szenische Phantasie
entzünden konnte. Die Hoffmannsche Traum- und Wunderwelt,
die ihre Bilder nicht in fertiger Gestalt, sondern in einem funkelnden
Kaleidoskop von Andeutungen, Assoziationen, Ideenblitzen und
Gaukeleien darbietet, gab Tairow die Möglichkeit, in aller Frei-
zügigkeit auf der ganzen Klaviatur seines synthetischen Theaters zu
spielen. Musikalisch beschwingt, traumhaft tanzend und torkelnd,
hintergründig spielerisch lief die Aufführung ab - ein »Capriccio des
Kammertheaters«, wie der Regisseur selbst sagte.
Die beiden modernen Lieblingsautoren des Kammertheaters wa-
ren Claudel und O'Neill, von denen eine ganze Reihe von Dramen
aufgeführt wurden. Es war sicher weder der Katholizismus des Fran-
zosen noch die gesellschaftskritische Tendenz des Amerikaners, was
Tairow anzog, sondern das ganz modern empfundene Weltgefühl
der Dichter und die in metaphysische Tiefen lotende Unergründlich-
keit ihrer Werke. O'Neills >Gier unter Ulmen < inszenierte er als ein
elementares Drama des erotischen Besitzes, wobei er den interessan-
ten Versuch machte, den solange abstrakt gegliederten Bühnenauf-
bau zu konkretisieren: Er stellte das ganze Haus, in dem sich die
Handlung abspielt, auf die Szene und gab den handelnden Personen
gewissermaßen räumlichen Anlauf und Auslauf, »man kann die
ahnungslosen Spieler der folgenden Szene schon kommen sehen,
während die vorhergehende noch im Gange ist; die Wirkungen der
zweiten werden gesehen, während das Spiel der dritten noch weiter-
läuft usw.« (so berichtet Gregor). Es erscheint verständlich, daß die
antiken Stoffe, die im Repertoire des Kammertheaters einen wich-
tigen Platz einnahmen, meist durch das Prisma eines modernen Dich-
ters gesehen waren: Wildes >Salome<, Hasenclevers >Antigone<,
Werfeis >Troerinnen<, denn es kam Tairow ja nicht auf die Handlung,
sondern auf die emotionale Grundmelodie an.
Kostbarkeiten in ihrer Art waren die Aufführungen der alten
Operetten von Lecocq >Girofle-Girofla< und >Tag und Nacht <. Die
funkelnde und sprühende Musikalität dieser frühen Werke ihres
Genres erlaubte es Tairow, die ganze kitschige Operettenherrlichkeit
beiseite zu lassen und ein Feuerwerk bunter szenischer Leuchtkugeln
abzubrennen. Das Bühnenbild beschränkte sich auf einen groß und
abstrakt geformten, schirmartigen Hintergrund, vor dem ein paar
Podeste, Estraden und Schrägflächen aufgebaut waren, die kunter-
bunten Kostüme ließen ans Variete denken, das Spiel brillierte in
Tempo, Nuancenreichtum und abgezirkelter Exzentrizität und gab
der Handlung, ohne sich beim konkreten Inhalt aufzuhalten, kari-
katuristische Zuspitzung und feinen, glitzernden Schliff.
In Tairows Inszenierung >Der Mann, der Donnerstag war<, nach
dem satirischen Roman von Chesterton, machten sich erstmals Ein-
flüsse des Meyerholdschen Konstruktivismus bemerkbar. Der Schau-
87
platz des Spiels war diesmal ein komplizierter Bau von Leitern und
Etagen, dem auf-und abfahrende Lifts, Leuchtreklamen und Plakate
ein effektvolles Aussehen verliehen. In die Aufführung waren rhyth-
mische Darbietungen eingestreut, die an biomechanische Übungen
gemahnten. Die neue Linie wurde mit der Einstudierung der >Drei-
groschenoper< 1930 fortgesetzt (übrigens der einzigen Brecht- Auf-
führung in der Sowjetunion zu Lebzeiten des Dichters). Manche aus-
ländischen Beobachter haben diese Variation des Kammertheater-
stils für den Versuch einer Anpassung an die Parteilinie, die damals
Meyerhold folgte, gehalten; das braucht aber durchaus nicht der Fall
gewesen zu sein, denn Tairows Beziehungen zu Meyerhold beruhten
auf Gegenseitigkeit: Alle Theaterrevolutionäre jener Zeit haben
naturgemäß aufeinander eingewirkt. Die Partei selbst übte in den
zwanziger Jahren in formaler Hinsicht noch keinen Druck auf die
Künstler aus.
Der originellste Schüler Tairows war der Regisseur Ferdinandow,
der ein eigenes, dem Kammertheater verbundenes Studio unterhielt.
Er systematisierte die künstlerische Methode seines Meisters zu einer
Theorie des Metro-Rhythmus.
sche Studio Habima und ein armenisches Studio. Jedes dieser Toch-
terinstitute des Künstlertheaters hat einen nicht unbedeutenden Bei-
trag zum sowjetischen Theaterleben der zwanziger Jahre geleistet.
Aus ihrer Mitte ging die dritte große Persönlichkeit des Revolu-
tionstheaters hervor: Wachtangow.
Jewgeni Wachtangow, 1883 geboren, wurde in der Schauspiel-
schule des Künstlertheaters ausgebildet und arbeitete dann als Schau-
spieler und Regieassistent im Ensemble. Einige Jahre vor dem ersten
Weltkrieg schickte Stanislawski ihn zusammen mit Sulershizki nach
Paris, wo die beiden im Theatre R£jane Maeterlincks >Blauen Vogel <
genau nach dem Muster der Moskauer Standardaufführung in Szene
zu setzen hatten. Damals war der junge Regieschüler noch hell be-
geistert von der Methode seines Meisters und schrieb nach Moskau:
»Der Gedanke, daß das Stanislawski-System etwas Großes ist, hat
sich mir endgültig bestätigt.« Weniger angetan von der Einstudie-
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rung, die nach außen hin einen großen Erfolg hatte, war der belgi-
sche Autor Maurice Maeterlinck selbst. Wohl hatte Stanislawski ihn
vor Beginn der Inszenierungsarbeit eigens auf seinem romantischen
Landsitz, einer Klosterruine in der Normandie, aufgesucht und kon-
sultiert, aber beim Besuch der Aufführung empfand der Dichter
dann doch recht deutlich, wie sehr die gutbürgerliche Darstellungs-
weise des Künstlertheaters dem in seinem Werk zum Ausdruck kom-
menden neuartigen Lebensgefühl widersprach.
Auch Stanislawski empfand diesen Widerspruch und suchte ver-
zweifelt nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Da wurde er von
Gorki, der sich zu jener Zeit ebenfalls mit neuen Ideen herumschlug
(man denke an seinen Disput mit Lenin über die „Gottmacherei«),
nach Capri eingeladen. Gorki entwickelte dem Theatermann seine
Idee einer Bühne der Improvisation. Unter dem Eindruck der Steg-
reifspiele, die er im neapolitanischen Theater gesehen hatte, war er
auf den Gedanken gekommen, die Tradition der Commedia delParte
zu erneuern. Und zwar stellte er sich das folgendermaßen vor: Ein
Dramatiker sollte ein Szenarium entwerfen, in dem Thema, Per-
sonen und Schauplatz des Stücks angegeben sind. Im Verlaufe von
Diskussionen und Proben mit den Schauspielern, die sich ein eigenes
Bild von den Rollen machen, wird das »skizzierte Schema der Cha-
raktere« durch neue, lebenswahre und detaillierte Züge bereichert.
Beim Herausarbeiten der Charaktere ergeben sich dann auch deren
Widersprüche, und es entstehen die Konflikte des Stücks. Der Au-
tor verfaßt den endgültigen Text während der Arbeit des Kollek-
tivs an der Einstudierung. - Stanislawski griff die Idee interessiert
auf und richtete ein Studio ein, das sogenannte Erste, um das Ver-
fahren praktisch auszuprobieren. Leiter des Studios wurde Suler-
shizki, sein Assistent Wachtangow.
Gorki stellte dem Studio für die Improvisationsarbeit seine Szena-
rien zur Verfügung. Und es ist ein Brief Sulers an Gorki erhalten,
in dem ausführlich geschildert wird, wie »die Schauspieler selbst die
Stücke schaffen«. Aber bei den Versuchen kam nicht viel heraus.
Man wird den Grund für den Mißerfolg wohl vornehmlich darin
suchen müssen, daß die Weltanschauungen Gorkis und des Künstler-
theaters nicht miteinander harmonierten. Beide spürten wohl die
Zeichen der Zeit, strebten aber verschiedene Lösungen an. Während
Gorki nach wie vor von politischer Romantik bewegt wurde, hat-
ten Stanislawski und Sulershizki, die Gesinnungsgenossen Tolstojs,
eine künstlerische und humanitäre Erneuerung im Sinn. Zur bloßen
Propagierung von Ideen wäre die Improvisationstechnik sicher ge-
eignet gewesen (das sollte sich nach der Revolution zeigen), nicht
aber zu deren tiefgreifender Gestaltung. Doch fielen Gorkis An-
regungen bei dem jungen Wachtangow, der im Verlaufe der Arbei-
ten zu eigenem Denken erwacht war, auf fruchtbaren Boden.
Die Differenz zwischen Wachtangow und der Linie des Künstler-
theaters wurde offensichtlich, als er 1914 im Studio seine Inszenie-
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rung von Hauptmanns >Friedensfest< herausbrachte. Im Anschluß an
die Vorstellung entspann sich unter den führenden Persönlichkeiten
des MCHAT eine Diskussion über Methode und Tendenz der In-
szenierung. Dantschenko meinte, man hätte das Stück im Ton ein
wenig dämpfen und seine Dramatik nicht so sehr verdichten sollen.
Stanislawski und Sulershizki schlössen sich seiner Meinung an, auch
sie fanden den von Wachtangow bis zum äußersten, mitunter über
jedes