Sie sind auf Seite 1von 220

Jürgen Rühle

Theater
und Revolution

dtv
Über dieses Buch

Jürgen Rühle berichtet über die Situation des Theaters unter


kommunistischem Vorzeichen. Er schildert nicht nur den bru-
talen Mechanismus der parteigebundenen Kulturpolitik, son-
dern gibt darüber hinaus ein farbiges Bild vom faszinierenden
Avantgardismus des Revolutionstheaters in den zwanziger
Jahren. Er läßt Wirken und Schicksal künstlerischer Persön-
lichkeiten erstehen, die aus der Kulturgeschichte nicht fort-
zudenken sind, darunter Gorki, Stanislawski, Obraszow, Pisca-
tor und Brecht. Rühle analysiert die Stücke, beschreibt die In-
szenierungen und geht auf die Reaktion von Publikum und
Partei ein. Die Glanzzeit des sowjetischen Revolutionstheaters
nahm ein jähes Ende durch die engstirnige Kulturpolitik Sta-
lins, der nicht davor zurückschreckte, auch mit Verhaftungen
und Liquidierungen in die Entwicklung des Theaters einzu-
greifen. Erst nach Stalins Tod war eine Neubelebung des Thea-
ters möglich. Davon zeugt das abschließende Kapitel, das die
heutige Situation des Sowjettheaters beleuchtet.
September 1963
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,
München
Vom Autor neu bearbeitete Ausgabe des Bandes
>Das gefesselte Theater <
Lizenzausgabe des Verlages Kiepenheuer & Witsch
GmbH, Köln
Ausstattung: Celestino Piatti
Gesamtherstellung C. H. Beck'sche Buchdruckerei,
:

Nördlingen
Printed in Germany
Jürgen Rühle:
Theater und Revolution
Von Gorki bis Brecht

Deutscher
Taschenbuch
Verlag
Inhalt

Gorki und die Geburt des Sozialistischen Realismus .... 7

Stanislawski und sein System 38

Der Theateroktober 64
Meyerhold Majakowski Eisenstein
• • •
Tairow
Wachtangow Die jüdischen Theater
-

Der Puppenspieler Obraszow 108

Das Theater der deutschen Revolution 127


Reinhardt und Jeßner Piscator Die Agitprop-Truppen
• •

Brecht und die Dialektik des Epischen Theaters 159


Das Sowjettheater heute 196

Nachbemerkung 201
:

DiesesBuch ist den Persönlichkeiten des revolutionären Theaters ge-


widmet, die unter den Diktaturen zugrunde gingen

Isaak Babel Ernst Barlach


Alexander Block Heinrich George
Kurt Gerron Reinhard Goering
Maxim Gorki Bruno Jasienski
Walter Hasenclever Wladimir Kirschon
Mikola Kulisch Les Kurbas
Federico Garcia Lorca Wladimir Majakowski
Wsewolod Meyerhold Salomon Michoels
Iwan Mikitenko Erich Mühsam
Carola Neher Hans Otto
Sinaida Reich Moritz Seeler
Ernst Toller Sergej Tretjakow
Gorki und die Geburt des Sozialistischen Realismus

Weg mit den parteilosen Literaten! Weg mit den literarischen Übermenschen!
Die Sache der Literatur muß zu einem Teil der allgemeinen Sache des Prole-
tariats werden, zu einem »Rädchen und Schräubchen« des einen einheitlichen,

großen sozialdemokratischen Mechanismus, der von der ganzen bewußten


Vorhut der gesamten Arbeiterklasse in Bewegung gesetzt wird. Die literarische
Tätigkeit muß zu einem Bestandteil der organisierten, planmäßigen, vereinig-
ten sozialdemokratischen Parteiarbeit werden.
Lenin 1905

Im Jahre 1902, zehn Jahre nach Erscheinen seiner ersten Erzählung,


wurde der dreiunddreißig jährige Schriftsteller Alexe Maximo witsch
j

Peschkow, genannt Gorki (Der Bittere), zum Ehrenmitglied der


kaiserlich russischen Akademie der Wissenschaften gewählt. Das war
ein ganz ungewöhnlicher und unerhörter Akt, denn der Erwählte
galt als notorischer Revolutionär, war mehrfach verhaftet gewesen,
unter Polizeiaufsicht gestellt und aus seiner Heimatstadt Nishni Now-
gorod (dem heutigen Gorki) verbannt worden. Als man dem Zaren
die Ernennung Gorkis vorlegte, versah er das Schreiben mit der
Randbemerkung: »Mehr als originell!« und erteilte dem Minister
für Volksbildung den Befehl, die Wahl für ungültig zu erklären. Zum
Zeichen des Protestes gegen diese Haltung der Regierung legten dar-
aufhin die neben Tolstoj damals bedeutendsten Dichter Rußlands
und der Ukraine, Tschechow und Korolenko, ihrerseits ihre akade-
mischen Würden nieder. Die Auflagenziffer von Gorkis Schriften er-
reichte derweil die bis dahin einzigartige Höhe von einer halben Mil-
lion; Sammlungen seiner Werke erschienen im Ausland in verschie-
denen Sprachen.
Zu jener Zeit wurde zum ersten Mal in dem illegalen Organ der
russischen Sozialdemokratie, der >Iskra< (Funke), der Name Gorkis
genannt als eines »Schriftstellers von europäischer Berühmtheit«, der
das Opfer eines Willküraktes der autoritären Regierung geworden
sei.Autor dieses Artikels war Lenin. Und die zaristische Polizei fing
den Brief eines führenden Bolschewisten auf, aus dem hervorging,
daß Gorki sich bereit erklärt hatte, an der >Iskra< mitzuarbeiten
und ihr »mit allem Möglichen zu helfen«. - Die Lebensbahnen
zweier welthistorischer Persönlichkeiten begannen aufeinander zu-
zustreben . . .

In demselben Jahr 1902 vollendete Maxim Gorki sein Schauspiel


>Nachtasyl< (im Original: >Aus der Tiefe <), das Drama der Verdamm-
ten dieser Erde. Es wurde sofort nach Beendigung der Niederschrift
vom Moskauer Künstlertheater uraufgeführt; Stanislawski selbst
übernahm die Regie und die Hauptrolle. Financier der Aufführung
und Mitwirkender war übrigens der Großindustrielle Morosow, bei
dessen Arbeitern der junge Gorki einige Jahre früher gelernt hatte,
wie man einen Streik organisiert» Die Premiere hatte einen tumultua»
rischen Erfolg. Stanislawski erzählt in seinen Erinnerungen, wie der
über alle Maßen überraschte Autor, vom begeisterten Applaus des
Publikums achtzehnmal vor den Vorhang gerufen, voller Verwir-
rung dort erschien, die Zigarette noch zwischen die Zähne geklemmt
und völlig außerstande, sich zu verbeugen oder sonst eine vernünf-
tige Äußerung von sich zu geben. »Brüder .«, stotterte er, ver-
. .

legen lächelnd, und fuhr sich nervös mit den Fingern durch die wil-
den Haarsträhnen, »wißt ihr, das das ist äußerst unangenehm
. . . . . .

wahrhaftig .Ehrenwort! Was müßt ihr mich denn so angaffen?


. .

Ich bin kein Opernstar, keine Diva, keine Ballerina das ist schon . . .

eine Geschichte. Ach, weiß Gott, Ehrenwort .« Das Stück brachte


. .

den Durchbruch Gorkis zum Theater, binnen Jahresfrist ging es im


Triumphzug über die führenden Bühnen Europas. In Berlin wurde
es von Max Reinhardt
aufgeführt.
Im
>Nachtasyl< legte Gorki das Resümee seines ganzen bisherigen
Lebens nieder, »den Ertrag fast zwanzigjähriger Beobachtungen der
Welt derer, die auch einmal Menschen waren«. Gorki, 1868 als eltern-
loses Proletarierkind geboren, kam selbst aus dem tiefsten Grund
des Volkes ; keiner kannte das qualvolle Schicksal der Millionen von
Ausgebeuteten, Gestrandeten, Verfemten und Deklassierten so wie
er. Die endlosen Landstraßen, darüber die von der Industrialisierung
entwurzelten Bauern und Landarbeiter als »Barfüßler« wanderten -
die Ströme und Flußläufe mit ihren Dampfern und Kähnen, das
Treibgut der Zeit verspülend - die Elendsquartiere der großen
Städte, in denen ein getretenes Lumpenproletariat lichtscheu und
hoffnungslos dahinlebte das waren seine »Universitäten«. Als Lauf-
:

bursche, Hausknecht, Flurhüter, Tellerwäscher, als Küchenjunge


auf dem Schiff, Zeichner in einer Ikonenwerkstatt, Sammler von
Lumpen und Knochen und Singvogelfänger, als Bäckerlehrling,
Bierausträger, Theaterstatist, Chorsänger, Schreiber, Vagabund und
wer weiß was noch alles zog er die Wolga, den Don entlang, durch
die Ukraine, über die Krim und durch den Kaukasus, lernte er Ruß-
land und seine Menschen kennen, die Ärmsten der Armen vor allem,
und lernte sie Heben.
Jahrelang rang er um die Gestaltung dieser seiner Erlebnisse.
»Können Sie sich vorstellen, wie das ist?« sagte er zu Stanislawski,
der auf die Vollendung des Theaterstücks drängte, »sie stehen immer
um mich, diese Leute, drängeln und schieben sich, doch ich kann sie
nicht placieren, kann mich nicht zwischen ihnen zurechtfinden. Wahr-
haftig! Sie reden und reden, und was sie sagen, ist nicht einmal
schlecht, so daß es wirklich schade ist, sie unterbrechen zu müssen.
Weiß Gott, mein Ehrenwort!« In seinem Stück kehrten sie alle wie-
der, denen er begegnet war: der heruntergekommene Baron, der
dem verflossenen Reichtum, den Leibeigenen, den Pferden, den Kö-
chen nachtrauert, die Prostituierte, die sich nach ein bißchen Liebe
sehnt, der arbeitslos gewordene Schlosser, gesund, fleißig, zur Ar-

8
beit bereit, für den es doch keinen Weg nach oben mehr gibt, der
Schauspieler, dessen poetische Welt nur noch im Suff besteht, der
Dieb, der auf der sozialen Stufenleiter immer tiefer rutscht und als
Mörder endet ... Es war eine düstere, verborgene Welt des Leids
und des Elends, unter dem Parkett einer glanzvollen Gesellschaft
vegetierend, die Gorki beschwor. Mit dem >Nachtasyl< trat ein un-
heimliches Gespenst aus dem Untergrund, aus dem Unterbewußt-
sein der Gesellschaft auf die Bühne und warf einen Schlagschatten,
der mehr als alle sozialdemokratischen Proklamationen das Grauen
bevorstehender Umwälzungen ahnen ließ. Die zaristische Regierung
war so beunruhigt, daß sie Aufführungsbeschränkungen gegen das
Stück verhängte: Es durfte in der Provinz nur mit Einverständnis
der Gouverneure gespielt werden, die Gouverneure aber erhielten
den Geheimbefehl, die Genehmigung nach Möglichkeit nicht zu
erteilen.
Gorki warf in seinem Drama die Frage nach der Erlösung aus dem
Elend auf. Und er stellte zwei Wege einander gegenüber Da ist ein- :

mal der alte Luka, der Typus des Tolstojaners, ein sanfter Prediger
der Güte und des Mitleids, der als Trostspender durch die Asyle der
Verzweifelten zieht. Für jeden hat er eine den Kummer lindernde
Illusion bereit dem Mädchen rät er, nur ja an die Liebe zu glauben -
;

»Woran du glaubst, das gibt's ...«-, dem trunksüchtigen Schau-


spieler erzählt er von einer geheimnisvollen, wundertuenden Heil-
anstalt, und in dem gezeichneten Verbrecher erweckt er die Hoff-
nung auf ein alles wiedergutmachendes Neuland Sibirien. »Die
Wahrheit ist nicht immer gut für den Menschen nicht immer . . .

heilst du die Seele mit der Wahrheit .«, so rechtfertigt der Alte . .

seine Trostlügen und erzählt die Geschichte von dem Manne, der
sein Lebtag hoffnungsfroh und glücklich das »Land der Gerechten«
suchte - bis ihm ein Gelehrter bewies, daß es ein solches Land nicht
gibt da erhängte er sich.
:

In eigenartiger Polarität zu Luka, in Gegensätzlichkeit und wieder


Berührung, steht Satin, die zentrale Gestalt des Stücks. »Ein Schar-
latan soll der Alte sein?« fragt er die Kumpane. »Was heißt Wahr-
heit? Der Mensch ist die Wahrheit! Das hat er begriffen ... ihr aber
nicht Ich versteh' ihn ganz gut, den Alten ... Er hat wohl geflun-
!

kert aber es geschah aus Mitleid mit euch, weiß der Teufel Es
. . . !

gibt viele solche Leute, die aus Mitleid mit dem Nächsten lügen ...
ich weiß es, hab' darüber gelesen Sie lügen so schön, so begeistert, !

so wundervoll Es gibt so trostreiche, so versöhnende Lügen


1 . . .

Eine solche Lüge bringt es fertig, den Klotz zu rechtfertigen, der die
Hand des Arbeiters zermalmt und den Verhungernden anzu- . . .

klagen Ich - kenne die Lüge! Wer ein schwaches Herz hat
. . . . . .

oder wer sich von fremden Säften nährt - der bedarf der Lüge . . .

Jenem Courage ein, diesem leiht sie ein Mäntelchen


flößt sie Wer . . .

aber sein eigener Herr ist wer unabhängig ist und nicht vom
. . .

Schweiße der andern lebt - was braucht der die Lüge? Die Lüge ist
!!

die Religion der Knechte und Herren ... die Wahrheit - ist die Gott-
heit des freien Menschen!«
In dem berühmten Monolog am Ende des Stücks postuliert Satin
seine Philosophie mit aller Klarheit »Der Mensch kann glauben oder :

nicht glauben das ist seine Sache Der Mensch - ist frei ... er hat
. . . !

selbst für alles aufzukommen für seinen Glauben, seinen Unglauben, :

seine Liebe, seine Vernunft. Der Mensch trägt selbst die Kosten für
alles, und darum ist er - frei Der Mensch - ist die Wahrheit ! . . .

Was heißt überhaupt Mensch? Das bist nicht du, und nicht ich bin's,
und nicht sie sind es nein! Sondern du, ich, sie, der alte Luka,
. . .

Napoleon, Mohammed alle miteinander sind es (zeichnet in die


. . . !

Luft die Umrisse einer menschlichen Gestalt) Verstanden! Das ist


- etwas ganz Großes Das ist etwas, worin alle Anfänge stecken und
!

alle Enden Alles im Menschen, alles für den Menschen Nur der
. . . !

Mensch existiert, alles übrige - ist das Werk seiner Hände und seines
Gehirns Der M-ensch Einfach großartig So erhaben klingt das
! ! !

M-men-nsch! Man soll den Menschen respektieren! Nicht bemit-


leiden . .nicht durch Mitleid erniedrigen soll man ihn
. sondern . . .

respektieren Trinken wir auf das Wohl des Menschen, Baron Wie
! !

schön ist's doch, sich als Mensch zu fühlen! Ich bin ein ehe- . . .

maliger Sträfling, ein Totschläger, ein Falschspieler ... na ja! Wenn


ich auf der Straße gehe, gucken die Leute mich an, als war' ich der
ärgste Spitzbube ... sie gehen mir aus dem Wege ... sie starren hin-
ter mir her und öfter sagen sie zu mir: Halunke! Windbeutel!
. . .

Warum arbeitest du nicht? Arbeiten? Wozu? Um satt zu wer- . . .

den? (lacht laut auf) Ich habe die Menschen immer verachtet, die um
das Sattwerden gar zu besorgt sind. Nicht darauf kommt's an, Ba-
ron! Nicht darauf! Der Mensch ist die Hauptsache! Der Mensch
steht höher als der satte Magen!« Und als der Baron leise meint, daß
er sich manchmal vor der Zukunft fürchte, setzt Satin stolz hinzu:
»Dummes Zeug! Vor wem soll der Mensch sich fürchten?«
Einzelne Sätze des Satin-Monologs wurden zu geflügelten Worten
im Zitatenschatz der Kommunisten, aber man findet keine sowjeti-
sche Interpretation, die die Rede des Vagabunden ohne Kürzungen
und Verstümmelungen zitierte. Das ist begreiflich, denn Fragestel-
lung, Tendenz der Antwort, selbst Terminologie verraten nur zu
deutlich die Quelle, aus der der junge Gorki diese Weisheiten
schlürfte. Es ist eine Predigt von der Art Zarathustras. Viele Jahre
später hat Gorki selbst zu dem Vorwurf Stellung genommen, daß er
die Vagabunden idealisiert und ihnen Gedankengänge Nietzsches
unterschoben habe. Mit einer Gereiztheit, die sich wohl aus der Ver-
ärgerung erklärt, an eine Jugendsünde erinnert zu werden, wies er
die Behauptung zurück, er habe jemals das Lumpenproletariat ver-
herrlichen wollen, gab aber zu, daß er Motive der Nietzscheschen
Philosophie verarbeitet hat. »Ich glaube«, schrieb er in einem Auf-
satz, »ich war durchaus berechtigt, den >gewesenen Menschen < den
Anarchismus des Nietzscheanertums, den Anarchismus der >Besieg-
10
ten< beizugeben. Warum? Darum, weil die >gewesenen Menschern,
die das Leben aus dem mormalen Leben in die Nachtasyle geworfen
<

hat, und einige Grüppchen >besiegter< Intellektueller völlig klare


Symptome einer psychischen Verwandtschaft aufweisen. Hier habe
ich von dem Recht des Schriftstellers, das Material >zu Ende zu den-
ken <, Gebrauch gemacht . . . Zwischen den >gewesenen Menschen <

der Nachtasyle und den politisierenden Emigranten in Warschau,


Prag, Berlin, Paris sehe ich keinen anderen Unterschied als den for-
mal wörtlichen. Der Vagabund Promtow [aus der Erzählung >Der
Vagabund <] und der philosophierende Falschspieler Satin sind noch
immer lebendig, aber sie sind anders gekleidet und arbeiten in der
Emigrantenpresse, predigen die >Moral der Herren < und rechtferti-
gen in jeder Weise deren Dasein. Das ist ihr Beruf, ihr Amt. Die
Rolle, Lakai der Herren zu sein, befriedigt sie.«
Wir sehen, wie der alte Gorki mit einer eigentümlichen Lässigkeit
des Gedächtnisses, die wir bei ihm noch öfter bemerken werden,
versucht, die Aussage einer einst von ihm geschaffenen Gestalt zu
verdrehen, um sie seiner späteren negativen Auffassung von der Phi-
losophie Nietzsches anzugleichen. In Wirklichkeit revoltiert Satin
ja gerade mit Argumenten Nietzsches gegen eine »Moral der
Knechte und Herren«, gegen eine Ideologie, die ungerechte Zu-
stände durch schöne Worte zu bemänteln sucht. Es existiert auch
ein Brief von Gorki aus der Entstehungszeit des Stücks, in dem der
Dichter selbst schreibt, daß er seine eigenen Gedanken dem Satin in
den Mund gelegt habe, »weil außer Satin niemand da ist, der sie sa-
gen könnte, und weil sie bei niemand anderem besser und überzeu-
gender klingen würden«.
Natürlich kann man nicht sagen, daß Gorki zu irgendeiner Zeit
ein orthodoxer Anhänger Nietzsches gewesen sei. Aber der Einfluß
des Philosophen, dessen Spuren sich auch in vielen epischen Werken
des frühen Gorki nachweisen lassen, hat eine nicht zu unterschätzende
Rolle bei der Persönlichkeitsbildung des jungen Peschkow, bei sei-
ner Entwicklung vom romantischen Anarchismus zum Bolschewis-
mus gespielt und ist, so seltsam es klingen mag, sogar in die Ideologie
des Sozialistischen Realismus eingegangen. Gorki hat im zartesten
Alter unendlich Schweres durchgemacht, er wurde fast verschlungen
von einer Flut von Schmutz, Erniedrigung und Gemeinheit, dem
Morast in den Niederungen des russischen Lebens. Mit noch nicht
zwanzig Jahren unternahm er einen Selbstmordversuch; er schoß
sich in die Brust, was ihm für das ganze Leben eine kranke Lunge
einbrachte. »Es ist merkwürdig«, sagte später einmal Leo Tolstoj zu
ihm, »daß Sie trotzdem gut sind, obwohl Sie das Recht hätten,
schlecht zu sein. Ja, Sie könnten schon ein böser Mensch sein. Sie
sind stark, und das ist gut .« Daß Gorki nicht in dem Schlamm,
. .

der seine Jugend umspülte, unterging, daß er nicht in Zynismus und


Nihilismus verkam, dankte er seiner eisernen Willenskraft und den
romantischen Idealen, die er sich bewahrte, mochte das Leben um

11
ihn herum auch noch so widerwärtig sein. Er verstand es, sich
unter den unwirtlichsten Umständen, bei quälendem Hunger in die
poetische Welt der Bücher, die er irgendwo aufgetrieben hatte, zu
versenken und seinen Träumen nachzugehen. Seine dichterische
Laufbahn begann er erstaunlicherweise mit schwärmerischer, me-
lancholischer Lyrik. Sein erster Lehrer, der ukrainische Bauerndich-
ter Wladimir Korolenko, warf ihm vor: »Wenn das ein junges Mäd-
chen geschrieben hätte, das zu viele Verse von Musset gelesen
hat ., so würde ich ihr sagen: >Nicht übel! Aber heiraten Sie lie-
. .

ber < Daß aber so ein grimmiger Lulatsch wie Sie zarte Verse macht,
!

ist beinah eine Gemeinheit, jedenfalls ein Verbrechen . Sie sind


. .

Realist, nicht Romantiker. Realist!«


Diese romantische Note hat Gorki niemals aufgegeben. Wohl aber
verlor seine Romantik mit der Zeit der Reife ihren ätherischen Cha-
rakter und paßte sich den realen Bedingungen des Lebenskampfes an.
Durch seine politische Tätigkeit kam er mit der legendären Bewe-
gung der Narodnaja Wolja (»Volkswille«) in Berührung, mit der
auch der Dichter Korolenko sympathisierte. Die Narodniki, wie man
sie nannte, waren eine illegale revolutionäre Organisation von jungen
Intellektuellen, die durch Terroranschläge die Volksmassen »wek-
ken« wollten (ihren Attentaten fiel u. a. Zar Alexander II. zum Op-
fer). Sicher war es die Ideologie der Narodniki, in welcher die »Hel-
den«, die »Befreier« eine solche Rolle spielten, von der aus Gorki die
Brücke zu Nietzsche fand. Als ein Beispiel dieser Entwicklungs-
periode, in der revolutionäre und nietzscheanische Elemente ver-
schmolzen, sei das berühmte >Lied vom Falken < genannt, dessen
Schlußfolgerung lautet: »Im Wahn der Tapferen - liegt die Weis-
heit des Lebens Falke, du kühner Mannhaft im Kampfe bist du ver-
! !

blutet Aber es wird erstehen der Tag, da jäh deines heißen Herz-
. . .

blutes Tropfen feurig entbrennen: Funken im Dunst des Lebens,


entzünden tief sie in vielen tapferen Herzen Wahnwitz und Sehn-
sucht, Sehnsucht nach Licht und Freiheit! - Du bist nun tot! ...
Doch im Lied der Tapfern und Starken lebst du als Beispiel fort und
als stolzerWeckruf zum Licht, zur Freiheit Dem Wahn der Tapfe-
!

ren singen ein Lied wir ..."


Schon an diesem Zitat sehen wir, daß bei Gorkis Narodnikitum
weniger die Idee der Bauernrevolution als die der heroischen Tat des
einzelnen im Vordergrund stand. Er kannte die Mushiks und »Bar-
füßler« zu gut, als daß er sich über das russische Volk solche wirk-
lichkeitsfremden Illusionen gemacht hätte wie die Literaten und Stu-
denten in den großen Städten. Er versuchte Korolenko an Gestal-
ten aus dessen eigenen Werken klarzumachen, daß der Bauer nur ein
»Held für eine Stunde« sei, der wohl einmal eine edle Tat vollbrin-
gen kann, aber anschließend sein Weib halbtot prügelt und dem
Nachbarn den Schädel einschlägt, der vielleicht eine Volkserhebung
anzuzetteln vermag, aber hinterher alles versäuft und sich von Läu-
sen auffressen läßt. Gorki, der aus den Massen stammte, glaubte

12
.

nicht an einen revolutionären Elan der Massen, sondern an die Taten


kühner und willensstarker Menschen, wie er selbst einer war.
Im >Nachtasyl<, das ganz von dem Elitegedanken durchsetzt ist,
gibt es eine bezeichnende Stelle Satin erwähnt einmal, daß ihm eine
:

Weisheit des alten Luka besonders imponiert habe. Auf die Frage,
wozu eigentlich die Menschen lebten, habe der Alte geantwortet:
»Die Menschen? Ei, die leben um des Tüchtigsten willen! Da leben
zum Beispiel die Tischler, wollen wir annehmen - lauter elendes Volk
. und mit einem Male wird aus ihrer Mitte ein Tischler geboren
. . . .

solch ein Tischler, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat; allen ist
er über, kein anderer Tischler kommt ihm gleich. Dem ganzen Tisch-
lerhandwerk gibt er ein neues Gesicht sein eigenes sozusagen... . . .

und mit einem Stoß rückt die Tischlerei um zwanzig Jahre vorwärts
. Und so leben auch alle anderen
. . die Schlosser und die Schuh- . . .

macher und die übrigen Arbeitsleute auch die Bauern und so- . . . . . .

gar die Herren - nur um des Tüchtigsten willen Jeder denkt, er sei !

für sich selbst auf der Welt, und nun stellt sich's heraus, daß er für
jenen da ist für den Tüchtigsten! Hundert Jahre
. . . oder viel- . . .

leicht noch länger leben sie so für den Tüchtigsten - Alle, mein
. . . !

Lieber, alle leben einzig um des Tüchtigsten willen! Darum sollen


wir auch jeden Menschen respektieren Wissen wir doch nicht, . . .

wer er ist, wozu er geboren wurde, und was er noch vollbringen


kann Vielleicht wurde er uns zum Glück geboren ... zu großem
. . .

Nutzen . . .«
Gorki Thesen Nietzsches ins Soziale und
hatte eine eigene Art, die
Revolutionäre umzudenken. Diese Tendenz prägte auch seine Vor-
stellung vom Marxismus, als er sich von den Bauernrevolutionären
zu lösen und der Arbeiterbewegung zuzuwenden begann. Vergleicht
man mit dem >Nachtasyl< sein anderes Schauspiel >Die Kleinbürger <,
so kann man eine interessante Weiterentwicklung der Elite-Idee fest-
stellen. >Die Kleinbürger < wurden zwar als erstes Stück fertig und
kurz vor dem anderen aufgeführt, drücken aber in ihrer ganzen Kon-
zeption und Gedankenwelt ein späteres Entwicklungsstadium Gor-
kis aus als das >Nachtasyl<, das der Dichter ja schon sehr früh kon-
zipierte und mit dem er lange schwanger ging.
In den Kleinbürgern < stehen sich wieder die beiden Gruppen von
Menschen gegenüber: die Schwachen, Verängstigten, Schlechtweg-
gekommenen, die verzweifeln und resignieren, und die Starken,
Tüchtigen, Tapferen, die Kämpfer und Sieger, die ja zum Leben
sagen und sich ihrer Zukunft gewiß sind. Aber jetzt ist das keine
ethische Konfrontation mehr, sondern eine soziale Kleinbürger und :

Proletarier werden einander entgegengesetzt. An Stelle eines Satin


ist nun der Lokomotivführer Nil der Philosoph der Stärke. Sein

Beruf hat sich geändert, aber sonst hat er noch alle Züge des Gorki-
schen Heldenideals ein Herr auf seine Art, makellos und stolz, der
:

sich als Eroberer des Lebens, als Schöpfer aller Werte fühlt und alles
Schwache und Morbide verachtet, ein furchtloser und mitleidloser

*3
Zertrümmerer der alten Tafeln. »Siehst du«, sagt Nil, »ich liebe es
zum Beispiel leidenschaftlich, Eisen zu schmieden. Vor dir liegt eine
rote, formlose Masse, voll zorniger, sengender Glut ... Sie mit dem
Hammer zu bearbeiten - ist ein wahrer Genuß. Sie speit dich mit
ihrem zischenden, feurigen Speichel an, will dir die Augen ausbren-
nen, will dich blenden, dich mit Gewalt verjagen. Sie ist so voll Le-
ben, so prall . Und du formst mit weit ausholenden kräftigen
. .

Schlägen alles aus ihr, was du brauchst .« Das ist eine Allegorie,
. .

die nicht schwer zu deuten ist. Nirgendwo ist der Übergang vom
Nietzscheschen Übermenschen zum positiven Helden des Sozialisti-
schen Realismus so deutlich wie hier. In einem sowjetischen Kom-
mentar heißt es »Es besteht kein Zweifel, daß Nil nach der gesam-
:

ten Anlage seiner Persönlichkeit und nach seinen Überzeugungen zu


jeder Zeit und in jeder Lage auf Seiten der Bolschewiki stehen wird.«
Die aktivistische Tendenz, die Gorki auf die Bühne brachte, un-
terschied ihn von der gesamten vorhergehenden russischen Literatur,
dem Kritischen Realismus, der nur darstellen, analysieren und ent-
hüllen, nicht aber moralisieren und revolutionieren wollte. Auf-
schlußreich sind die Differenzen Gorkis mit seinen Lehrmeistern
und Freunden Tolstoj und Tschechow, denen er im übrigen, was
Welt- und Menschenkenntnis, literarisches Handwerk, Stil und der-
gleichen angeht, viel zu verdanken hat. Als die ersten Akte der >Klein-
bürger< vorlagen, schrieb Tschechow dem Autor eine Kritik, in der
er über die Figur des Nil ein hintergründiges Urteil fällte ». die : . .

Rolle des Nil, eine wundervolle Rolle. Sie muß etwa doppelt bis drei-
mal so lang werden, muß das Stück abschließen, zur Hauptrolle
werden. Machen Sie aber keinen Gegenspieler zu Pjotr und Tatjana
daraus« - den melancholischen Gestalten. »Er soll für sich stehen
und die beiden anderen auch. So sind es lauter wunderbare, groß-
artige Menschen, aber unabhängig voneinander. Wenn Nil sich
den Anschein gibt, als stände er über Pjotr und Tatjana, und von
sich selbst sagt, er wäre ein Teufelskerl, so geht ein Merkmal ver-
loren, das jeden unserer Arbeiter auszeichnet, nämlich die Beschei-
denheit. Er prahlt, er trumpft auf; dabei ist ohnehin zu sehen, was
für ein Mensch er ist. Mag er doch lustig sein, mag er
Spaße treiben,
und sei es vier Akte nach der Arbeit viel essen - das
lang, mag er
allein genügt schon, das Publikum für ihn zu gewinnen.« Gorki ant-
wortete, das Stück sei ihm in der Tat mißlungen, es sei »grob und
ungeschickt«, Nil durch »das Räsonieren verpatzt« usw. - änderte
aber nichts. Sie redeten offensichtlich aneinander vorbei. Tschechow,
der einmal über eine Arbeit von Gorki sagte, sie erinnere ihn an die
Predigt eines jungen Popen, eines bartlosen, der mit tiefer Stimme
das O betont .bezeichnete die fertigen >Kleinbürger< schließlich
. .,

als eine Schülerarbeit und behauptete, den letzten Akt überhaupt


nicht verstanden zu haben.
Andererseits hatte Gorki eine nicht viel positivere Meinung über
einige Werke Tschechows. Er äußerte sich über den berühmten

14
!

>Kirschgarten<: »Ich habe jetzt Tschechows Stück gesehen - beim


Lesen hat man nicht das Empfinden, daß es sich um ein großes Werk
handelt. Es enthält nichts Neues. Stimmungen, Ideen, soweit man
von Ideen reden kann, alles ist schon in früheren Stücken enthalten.
Immerhin - sehr schön; und selbstverständlich wird dem Publikum
von der Bühne her eine wehmütige Sehnsucht eingeflößt. Wonach
aber - das weiß ich nicht .« Und über Tschechows Dramen-
. .

gestalten schrieb er an einer anderen Stelle »Sie haben es versäumt,


:

rechtzeitig zu sterben, und jammern nun, ohne zu sehen oder gar zu


verstehen, was um sie her vorgeht, Schmarotzer, die keine Kraft mehr
haben, sich wieder am Leben festzusaugen . .«.

Am meisten opponierte Gorki natürlich gegen das Menschen-


ideal von Tolstoj und Dostojewski. »Der prachtvolle Spiegel der
russischen Literatur spiegelt aus irgendeinem Grunde nicht die Aus-
brüche des Volkszornes, jene klaren Anzeichen für sein Streben
nach Freiheit, wider. Sie gestaltete eine endlose Reihe kluger, aber
stammelnder und stummer Menschen ... Sie hat keine Helden ge-
sucht, sondern es vorgezogen, über Menschen zu schreiben, die
stark im Dulden waren, über sanfte, weiche Menschen, die vom
Paradies im Himmel träumten und das Leid schweigend ertrugen«,
bemerkte er, und ein andermal: »Das Leben ist Kampf, immer
Kampf! Aber nicht gegen sich, sondern für sich muß man kämpfen
. Warum soll ich meine Leidenschaften besiegen, wenn sie Waffen
. .

sind, wenn sie geschliffen und geschärft werden müssen, denn nur
mit ihnen kann man siegen.«
Einmal sagte er zu Tolstoj im Gespräch, daß er aktive Menschen
gut leiden möge, die gewillt seien, sich dem Bösen auf jede nur mög-
liche Weise, selbst unter Anwendung von Gewalt, zu widersetzen.
»Die Gewalt ist das größte Übel!« rief Tolstoj aus. »Wie wollen Sie
sich aus diesem Widerspruch lösen?« Und als Gorki auf die feindliche
Umwelt verwies, in der sich der Mensch doch durchzusetzen habe,
wehrte der Alte von Jasnaja Poljana ab »Daraus lassen sich äußerst
:

gefährliche Schlüsse ziehen Sie sind ein sehr fragwürdiger Sozialist


!

Ein Romantiker sind Sie . .«


.

Der Auseinandersetzung mit der unentschlossenen bzw. reaktio-


nären Haltung der Intellektuellen im Klassenkampf hat Gorki einen
großen Teil seines Werkes gewidmet; die meisten Dramen, die er in
seiner mittleren Schaffensperiode (dem Jahrzehnt vor dem ersten
Weltkrieg) schrieb, handeln davon: >Sommergäste<, >Kinder der
Sonne <, >Barbaren<, >Die Letzten <, > Sonderlinge^ >Die Sykows<.
Alle diese Stücke haben sich auf der Bühne nicht behaupten können,
sie sind nach dem Westen kaum gedrungen, da sie allzu spezifisch
im Milieu der vorrevolutionären russischen Intelligenz angesiedelt
und ganz von philosophischen Dialogen und Reflexionen über-
wuchert sind. Eine drastische Charakterisierung der intellektuellen
Daseinsweise, wie Gorki sie da angeprangert hat, gibt in den >Som-
mergästen< ein Dienstmann, allegorisch auf die Vorstellung eines
.

Liebhabertheaters anspielend: »Sie ziehen sich fremde Kleider an und


reden . allerhand Zeug, wie's ihnen in den Mund kommt
. . Sie . . .

schreien, laufen hin und her tun irgendwas


. . . ärgern sich über . . .

irgendwas kurz und gut, sie beschwindeln sich gegenseitig. Der


. . .

eine sagt Ich bin ein kluger Kopf


: oder Ich bin ein Pechvogel
. . . : . .

kurz, was gerade einem einfällt - das stellt er vor.«


Während Gorki seinen Lehrern Tschechow und Tolstoj bei aller
Kritik immer noch ehrfurchtsvoll entgegentrat, entlud er auf Dosto-
jewski seinen ganzen Zorn. Als das Moskauer Künstlertheater eine
Dramatisierung der >Dämonen< herausbrachte, schrieb er ein ge-
radezu haßerfülltes Pamphlet, in dem er den Dichter einen Reaktio-
när, Begründer des biologischen Nationalismus, einen rabiaten
Chauvinisten und Antisemiten, Prediger der Demut und Feind des
Fortschritts nannte - »unseren bösen Genius«. Das letzte in der
Reihe seiner vorrevolutionären Dramen über die Intelligenz, >Der
Alte<, zielte direkt gegen die »karamasowsche Seele«, gegen die
Ideenwelt Dostojewskis. Eine Schauspielerin des Kleinen Theaters
in Moskau berichtet über Gorkis persönliche Anteilnahme an der
Vorbereitung einer Aufführung » Alexe Maximowitsch las dem En-
: j

semble sein Schauspiel >Der Alte< vor. Das war am Tage im kalten
Zuschauerraum. Gorki hatte seinen Mantel über die Schulter ge-
hängt und las langsam und mit leiser Stimme. Er veränderte die
Stimme kaum merklich, aber wir sahen seine Helden vor uns, als
lebten sie. Nach dem Lesen und während der Proben fragte jeder von
uns Alexej Maximowitsch begierig über die Rolle aus, die er spielen
sollte. Er antwortete bereitwillig, überlegt und gründlich. Über den
> Alten < sagte er: >Ich habe mich bemüht, zu zeigen, wie abstoßend

es sein kann, wenn sich der Mensch in sein eigenes Leid versenkt und
allmählich glaubt, andere dafür quälen zu dürfen. Wenn ein solcher
Mensch wirklich glaubt, daß er dieses Recht gewonnen habe und daß
er ein auserwähltes Werkzeug der Rache sei, so verliert er damit je-
den Anspruch auf menschliche Achtung. <« Diese Äußerung Gorkis,
die in eine wesentlich spätere Entwicklungsphase gehört (das Stück
ist 1915 geschrieben, die erwähnte Aufführung fand 1919 statt), läßt

freilich schon einen neuen, bei ihm ganz ungewohnten Ton auf-
klingen In die Kritik an der Dekadenz mischt sich die Kritik an der
:

Selbstgerechtigkeit des bislang so geschätzten Ubermenschentums.


Damit Gorki von seinem Heldenideal abrückte, mußte er durch eine
bittere politische Lehre gehen - Begegnung und Bruch mit Lenin.

Die politische Aktivität Gorkis erreichte einen Höhepunkt in der


revolutionären Erhebung des Jahres 1905. Tage nach dem Pe- Am
tersburger Blutsonntag, an dem die Polizei eine Bittschriftprozession
zusammengeschossen hatte, veröffentlichte der Dichter eine Prokla-
mation gegen die zaristische Regierung. Er wurde verhaftet und in
die berüchtigte Peter-Paul-Festung gebracht. Auf Grund einer Pro-
testwelle aus ganz Europa (an der sich u. a. Curie, Rodin, Monet,

16
Jaures beteiligten) setzte man ihn gegen eine Kaution wieder auf
freien Fuß. Er arbeitete an der ersten legalen marxistischen Zeitung
Rußlands >Nowaja Shisn< (Neues Leben) mit, für die auch Lenin
schrieb. Während des Dezember- Aufstandes in Moskau nahm er an
der illegalen revolutionären Arbeit teil in seiner Wohnung wurden
;

Bomben für die Arbeiterkampfgruppen hergestellt, und er sammelte


große Summen zum Kauf von Waffen. Um einer erneuten Verhaf-
tung zu entgehen, ging er 1906 ins Ausland; die Partei schickte ihn
auf Agitationsreise durch Europa und Amerika, um Geld für die
russische Revolution zu sammeln. Diese Mission war aber nicht
sehr erfolgreich, er kehrte enttäuscht zurück und ließ sich auf Capri
nieder, um seine Lungenkrankheit zu kurieren. Er vollendete zwei
Werke, in denen er seine revolutionären Erlebnisse gestaltet hat den
:

Roman >Die Mutter < und das Drama >Die Feinde <, die als die ersten
klassischen Werke des Sozialistischen Realismus bezeichnet werden.
Von dem Schauspiel >Feinde< können wir am besten einen Ein-
druck geben, wenn wir zwei kritische Stimmen zu Worte kommen
lassen. In dem Bericht der russischen Zensur hieß es: »In diesem
Stück wird die unversöhnliche Feindschaft zwischen Arbeitnehmern
und Arbeitgebern äußerst klar behandelt. Die Erstgenannten werden
als standhafte Kämpfer dargestellt, die bewußt auf das vorgezeich-
nete Ziel hinsteuern - Vernichtung des Kapitals -, die anderen wer-
den als engstirnige Egoisten gezeigt. Übrigens ist es nach den Wor-
ten einer der handelnden Personen vollkommen gleichgültig, wie
die Charaktereigenschaften des Unternehmers sind. Es genügt, daß
er ein Unternehmer ist, um von den Arbeitern als Feind angesehen
zu werden. Durch die Frau des Bruders des Fabrikdirektors, Tat-
jana, sagt der Verfasser den Sieg der Arbeiter voraus. Das ganze
Stück ist reine Propaganda gegen die besitzenden Klassen, weshalb
es zur Aufführung nicht zugelassen werden kann.«
Während über Rußland eine Welle der Reaktion hinwegging,
wurden >Die Feinde < bereits 1906 in Berlin aufgeführt. Der Kritiker
Kerr, weiß Gott kein Bolschewik, schrieb darüber: »Geht hinein,
seht dieses Stück. Ihr werdet zwei Akte lang warten; ihr werdet den
Kopf schütteln ihr werdet zwei Akte lang sprechen >Nun, selbst
; :

zugegeben, daß dem so ist . .<; ihr werdet fragen: >Kommt es


.

jetzt? <; ihr werdet vielleicht Ungeduld empfinden - aber gegen


Schluß werdet ihr, wenn euer Fühlen dem meinen verwandt ist, er-
schüttert sein; ihr werdet auf die Bühne springen wollen und den
Leuten die Hand drücken. Denn in einer einzigen schlichten Gruppe
seht ihr, was heute tausendfach und jeden Tag in diesem Lande ge-
schieht - und was fortgeschehen wird, bis die armen Helden, die
Namenlosen, ihr armes, langsames, lastvolles, dumpfes Riesenwerk
erblutet, erblutet, erkerkert und erschmachtet haben: das Aufrücken;
die Knebelung der Verbrecher, von denen sie im Kohlenraum gehal-
ten werden das Atmen in etwas menschlicherer Luft und das Recht,
; ;

einen Wachthabenden mit auf die Kommandobrücke zu senden des

*7
::

Schiffes, das ihr Leben ist . Nein, nein das Stück ist nicht bewe-
. . :

gend. Sondern die Revolution ist bewegend, die es darstellt. Nicht


die Kunst wirkt auf mich, sondern das, was auf Gorki stärker wirken
muß als die Kunst.«
Im Mai des Jahres 1907 trafen sich Lenin und Gorki in London
auf dem V. Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Ruß-
lands - der eine als Führer der linken, bolschewistischen Fraktion
der Partei, der andere als Gast, als »Delegierter mit beratender
Stimme«. In seinen Erinnerungen gab Gorki später eine in mancher
Hinsicht aufschlußreiche Charakteristik ihrer damaligen Begegnung
»Auch jetzt noch sehe ich deutlich die kahlen Wände der in ihrer
Dürftigkeit komisch wirkenden Holzkirche am Rande Londons vor
mir, die Spitzbogenfenster des kleinen, schmalen Raumes, der dem
Klassenzimmer einer armseligen Schule glich. Nur von außen er-
innerte das Gebäude an eine Kirche, im Innern dagegen fehlten völ-
lig Gegenstände des Kults, und sogar die niedrige Kanzel des Predi-
gers dominierte nicht in der Tiefe des Raumes, sondern befand sich
am Eingang zwischen den Türen.
Bis dahin war ich Lenin nicht begegnet, auch habe ich nicht so viel
von ihm gelesen, wie ich es hätte tun sollen. Doch das, was ich gele-
sen hatte, und ganz besonders die begeisterten Schilderungen der
Genossen, die ihn persönlich kannten, all das übte auf mich eine
große Anziehungskraft aus. Als man uns bekannt machte, drückte
er fest meine Hand, tastete mich, wie um mich zu ergründen, mit
scharfem Blick ab und sagte scherzend, als wären wir alte Bekannte
>Das ist gut, daß Sie gekommen sind Sie sind doch ein Freund von
!

Raufereien? Hier wird's eine große Rauferei geben. <


Ich hatte mir Lenin anders vorgestellt. Ich vermißte etwas an ihm.
Er schnarrte das r, die Hände unter die Weste in die Achselhöhlen
geschoben, steht er stutzerhaft da. Und überhaupt - der ganze
Mensch ist irgendwie zu schlicht, man verspürte an ihm nichts von
einem >Führer<. Ich bin Schriftsteller. Von Berufs wegen bin ich ver-
pflichtet, auf Einzelheiten zu achten. Diese Pflicht ist zu einer manch-
mal schon lästigen Gewohnheit geworden.
Als man mich G. W. Plechanow [Exponent des rechten, mensche-
wistischen Flügels der Partei] >vorführte<, stand er vor mir, die
Arme über die Brust verschränkt, mit strengem, etwas gelangweil-
tem Ausdruck, so wie ein von seinen Pflichten ermüdeter Lehrer auf
einen weiteren neuen Schüler blickt. Er sagte mir die recht gewöhn-
liche Phrase: >Ich bin ein Verehrer Ihres Talents. < Sonst sagte er
nichts, was in meinem Gedächtnis haftengeblieben wäre. Und wäh-
rend des ganzen Kongresses hatten weder er noch ich den Wunsch,
miteinander offen und herzlich zu reden. Aber dieser kahlköpfige,
stämmige, kräftige Mensch, der das r nicht richtig aussprechen
konnte, fing sofort an, von den Mängeln des Buches >Die Mutter <
zu sprechen, dabei rieb er mit der einen Hand seine sokratische Stirn,
mit der anderen zerrte er an meinem Arm, und seine merkwürdig le-

18
bendigen Augen blitzten freundlich es erwies sich, daß er das Ma-
;

nuskript gelesen hatte. Ich sagte, ich hätte mich beeilt, das Buch zu
schreiben, und ehe ich Zeit hatte zu erklären, warum, nickte Lenin
zustimmend und gab selbst die Erklärung: Ich hätte gut daran ge-
tan, mich zu beeilen, das Buch sei notwendig, viele Arbeiter hätten
an der revolutionären Bewegung unbewußt, spontan teilgenommen
und würden jetzt >Die Mutter < mit großem Nutzen lesen.
>Ein sehr aktuelles Buch < - das war sein einziges, für mich aber
!

äußerst wertvolles Kompliment.«


Lenin hatte, wie aus Gorkis Darstellung hervorgeht, eine höchst
seltsame Art, an Fragen der Literatur heranzugehen. Er taxierte den
Wert von Büchern nach ihrem politischen Nutzeffekt. Von diesem
Standpunkt aus hat er mehr als ein halbes Dutzend Aufsätze über
Tolstoj geschrieben, in denen er das Lebenswerk des Dichters fein
säuberlich in seine einzelnen politischen Ingredienzien zerlegte.
Nicht, daß er für die eigentlich künstlerische Wirkung der Literatur
empfindungslos gewesen wäre - da unterschied er sich sehr von den
Stalin und Shdanow, welche die von ihm eingeleitete Entwicklung
zu Ende bringen sollten -, aber gerade weil er die Macht der Literatur
an sich selbst verspürte, schien es ihm unerläßlich, sie in den Dienst
zu nehmen. Er fühlte sich ganz und gar als Generalstäbler der Re-
volution, dem die Aufgabe gestellt ist, alle nur greifbaren Elemente
der ihn umgebenden Welt - Politik, Ökonomie, Wissenschaft, Phi-
losophie, Moral,Kunst usw. - darauf zu untersuchen, wie sie am
Hebelarme der revolutionären Machtergreifung verwandelt
besten in
werden könnten. Und er meisterte die Aufgabe mit ebensoviel Ge-
waltsamkeit wie dialektischem Genie.
Seine Ansichten über Literatur legte er in dem Aufsatz Partei-
organisation und Parteiliteratur < nieder, der 1905 in der von Gorki
mitbegründeten Zeitschrift >Nowaja Shisn< veröffentlicht wurde.
»Die Literaten müssen unbedingt den Parteiorganisationen bei-
treten«, schrieb Lenin mit Nachdruck. »Die Verlage und Lager, die
Läden und Lesehallen, die Bibliotheken und Buchhandlungen - alles
das muß im Dienste der Partei stehen und ihr zur Rechenschaft ver-
pflichtet sein.« Man müsse »dem altherkömmlichen Prinzip: der
Schriftsteller schreibt irgendwas, und der Leser liest irgendwas, je-
den Boden entziehen«. Die Literatur habe »das letzte Wort des re-
volutionären Denkens und die Erfahrung des Proletariats« zu ver-
körpern. Was nun in diesem Zusammenhang die Freiheit der Litera-
tur angehe, so meinte Lenin, stünde' es erstens ja jedem frei, außer-
halb des Rahmens der Partei »zu faseln, was ihm paßt« (eine zynische
Äußerung, deren ganze Tragweite sich erst in dem Moment offen-
barte, als die Partei nach der Revolution den gesamten Staat und da-
mit alle Publikationsmittel verschluckte), und zweitens sei die so-
genannte Freiheit des bürgerlichen Künstlers sowieso nur die mas-
kierte Abhängigkeit vom Geldsack, von der Korruption, vom Aus-
gehaltenwerden.

*9
Unter dem Einfluß der russischen revolutionären Tradition (Be-
linski, Tschernyschewski, Dobroljubow und Pissarew), für die die
Kunst immer nur eine Fortsetzung der Politik mit anderen, den Zu-
griffen der Zensur weniger ausgesetzten Mitteln war, vollzog Lenin
mit dem Postulat einer Parteiliteratur einen - ihm selbst vielleicht
nicht einmal bewußten - Bruch mit dem klassischen Marxismus, wie
er es ja auch auf anderen Gebieten tat. Für Marx und Engels, Per-
sönlichkeiten von umfassender humanistischer Bildung, wäre die
Idee, die Literatur unter Parteibefehl zu stellen, ganz unvorstellbar
gewesen. Alle Lieblingsdichter von Marx - Äschylos, Shakespeare,
Goethe, Scott, Balzac, E. T. A. HofTmann - waren keine Revolu-
tionäre. In einem der Briefe von Engels, die man heranziehen muß,
weil die Väter des Marxismus es für ganz unnötig erachteten, eine
eigene, politisch fundierte Ästhetik zu schaffen, heißt es: »Ich bin
weit davon entfernt, darin einen Fehler zu sehen, daß Sie nicht einen
waschechten sozialistischen Roman geschrieben haben, einen Ten-
denzroman, wie wir Deutschen es nennen, um die sozialen und po-
litischen Anschauungen des Autors zu verherrlichen. Das habeich
keineswegs gemeint. Je mehr die Ansichten des Autors verborgen
bleiben, desto besser für das Kunstwerk .« Und an anderer Stelle:
. .

». . . ich meine, die Tendenz muß aus der Situation und Handlung
selbst entspringen, ohne daß ausdrücklich darauf hingewiesen wird,
und der Dichter ist nicht genötigt, die geschichtliche zukünftige
Lösung der gesellschaftlichen Konflikte, die er schildert, dem Leser
in die Hand zu geben.«
Der große Theoretiker des Marxismus in Rußland war Plechanow,
den ursprünglich auch Lenin als seinen Lehrmeister anerkannte. Ge-
treu den Auffassungen von Marx und Engels sah Plechanow in der
Kunst wohl eine Widerspiegelung gesellschaftlicher Verhältnisse,
aus der man gewisse politische Schlüsse zu ziehen vermag, lehnte es
aber ab, sie als Instrument der Parteipolitik zu betrachten »Die wis-
:

senschaftliche Ästhetik macht der Kunst keinerlei Vorschriften; sie


sagt ihr nicht: Du mußt dich an diese und jene Regeln oder Beispiele
halten. Sie beschränkt sich bescheiden auf die Beobachtung dessen,
wie die verschiedenen Regeln und Beispiele entstehen, die zu ver-
schiedenen historischen Epochen geherrscht haben ... sie findet alles
gut zu seiner Zeit ... sie ist objektiv wie die Physik.«
Über Gorkis >Feinde< schrieb Plechanow eine sehr ausführliche,
gründliche und kluge Kritik. Er ging bei seiner Untersuchung von
der auffälligen Tatsache aus, daß im Mittelpunkt des Stücks nicht
ein einzelner, strahlender Held, sondern eine ganze Plejade ein-
facher, kraftvoller und disziplinierter Revolutionäre steht - eine bei
Gorki ja völlig neue Erscheinung, die unter dem unmittelbaren Ein-
druck der Arbeitererhebung von 1905, deren künstlerischer Reflex
das Schauspiel ist, zustande kam. Plechanow folgerte: »Der Frei-
heitskampf des Proletariats ist eine Massenbewegung. Darum ist
auch die Psychologie dieser Bewegung eine Psychologie der Masse.

20
Natürlich besteht die Masse aus Einzelpersonen, und die Einzel-
personen sind einander nicht identisch. An der Massenbewegung
nehmen Magere und Dicke, Kleine und Große, Blonde und
Schwarzhaarige, Ängstliche und Kühne, Schwache und Starke,
Zarte und Robuste teil. Aber die Individuen, die die Masse hervor-
bringt, die ihr eigenes Fleisch und Blut sind, stellen sich ihr nicht
gegenüber - wie sich die Helden aus dem bürgerlichen Milieu so
gern dem gemeinen Haufen gegenüberstellen -, sondern sind sich
bewußt, daß sie ein Teil der Masse sind, und es ist ihnen um so woh-
ler zumute, je deutlicher sie spüren, wie eng sie mit ihr verbunden
sind ... Je mehr sich die Einzelpersonen, welche die Masse bilden, in
ihren Anstrengungen zusammenschließen, desto wahrscheinlicher
wird der Sieg .« . .

Plechanow übertrug nun diese Erkenntnis aus dem Drama


>Feinde< auf die Differenzen zwischen Menschewiki und Bolsche-
wiki: »Wie die Zeitumstände auch sein mögen, die Tatsache steht
fest, daß der intellektuelle < mehr dazu neigt, seine Hoffnung auf die
Persönlichkeit < zu setzen, der klassenbewußte Arbeiter aber - auf
die Masse . Die Revolutionäre aus dem bürgerlichen Milieu lassen
. .

sich sehr gern von übertriebenen Hoffnungen irreführen. Sie brau-


chen diese Hoffnungen wie die Luft zum Atmen. Ihre Energie wird
manchmal gerade nur durch solche Hoffnungen aufrechterhalten. Die
lange, mühsame Arbeit der systematischen Einwirkung auf die Mas-
sen erscheint ihnen direkt langweilig; sie vermissen an ihr Leiden-
schaft und Heldentum. Und solange die proletarische Bewegung
ihrem Einfluß unterworfen ist, wird sie selbst halb und halb von
dem romantischen Optimismus angesteckt ... Es ist interessant, daß
Gorki, der in der >Nowaja Shisn< schrieb, in dieser Hinsicht offenbar
selbst sehr stark unter den Einfluß der Intelligenz geriet. Die Taktik
der >Bolschewiki< erscheint ihm als die leidenschaftlichste < und >he-
roischste<. Wir wollen hoffen, daß sein proletarischer Instinkt ihm
früher oder später das Falsche jener taktischen Methoden offenbart,
die Engels schon Anfang der fünfziger Jahre so treffend als revo-
lutionäre Alchimie < bezeichnet hat.«
Auf dem Londoner Parteitag schieden sich die Geister. Es war
nur natürlich, daß Gorki sich zu Lenin und den Bolschewiki hin-
gezogen fühlte, die seiner ganzen geistigen Konzeption am meisten
entgegenkamen. Der Roman >Die Mutter < und das Drama >Die
Feinde waren Sonderfälle, Produkte einer historischen Stunde, wel-
<

che von Gorki zwar geschildert und gestaltet, aber noch längst nicht
philosophisch verarbeitet worden war. Mit der Emigration verlor
der Dichter den direkten Kontakt mit der Arbeiterbewegung wieder;
die Werke von 1906 blieben die einzigen seines Lebens, in deren
Mittelpunkt er Industriearbeiter stellte. Er war noch lange kein kon-
sequenter Marxist geworden, sondern träumte davon, das Rationale
des Marxismus mit dem Emotionalen der Narodniki zu vereinen. Die
Leninsche Modifikation des Marxismus schien seinen Vorstellungen

21
nahezukommen. Vieles, was ihm an den Narodniki und an Nietzsche
teuer geworden war, kehrte in Lenins Konzeption wieder. Die Auf-
fassung von der Partei als einer klassenlosen Avantgarde von Berufs-
revolutionären - entsprach das nicht der alten Idee der Elite? Der
voluntaristische Zug, die Tendenz zum Putschismus und zur revo-
lutionären Romantik, zur Intoleranz und Bevormundung der Klasse
und Masse - das alles, was die Bolschewiki von der marxistischen Ar-
beiterbewegung Europas unterschied, traf bei Gorki damals auf ver-
wandte Reminiszenzen und Sehnsüchte, die eine harte Jugend und
ein auswegloses Milieu in ihm erweckt hatten. Auch Lenins Auffas-
sung von der Aufgabe der Literatur, Partei zu ergreifen und politi-
sche Ideale zu propagieren, stimmte weitgehend mit der Meinung
Gorkis überein, die wir in seiner Polemik mit Tschechow, Tolstoj
und Dostojewski kennengelernt haben. Es mußte für ihn, der sich
über eine mangelnde Anerkennung seiner künstlerischen Fähigkei-
ten nie zu beklagen hatte, sehr schmeichelhaft sein, von einem pro-
minenten Mann wie Lenin nun auch den politischen Nutzen seiner
Arbeit, der ihm so viel mehr bedeutete, bestätigt zu bekommen.
Wenn man die Erinnerungen Gorkis an die Londoner Begegnung
unter die Lupe nimmt, kann man erstaunliche tiefenpsychologische
Entdeckungen machen. Sowohl das, was er sagt, wie das, was un-
gesagt bleibt, hat seine Bedeutung. Schon der Irrtum, es sei das erste
Zusammentreffen mit Lenin gewesen, ist bemerkenswert. In Wirk-
lichkeit waren die beiden schon anderthalb Jahre früher in Peters-
burg zusammengetroffen. Aber der Eindruck, den Lenin auf dem
Parteitag machte, der des energischen, sprühenden Parteiführers in
Aktion, stellte die Erinnerung an die vorhergehende persönliche Be-
kanntschaft völlig in den Schatten. Wenn Gorki ausdrücklich be-
tont, Lenin habe nicht wie ein »Führer« gewirkt, so sieht das einem
Ablenkungsmanöver auffallend ähnlich. Natürlich hatte Lenin nichts
von der prätentiösen Heldenpose eines Nil, der eher einem Backfisch-
Ideal entsprach. Wie sehr dennoch persönliche Faszinationskraft im
Spiele war, spürt man aus der Beschreibung Lenins, die Gorki in
seinen Memoiren gibt »Mich entzückte der in ihm so ausgesprochen
:

verkörperte Wille zum Leben und sein tätiger Haß gegen die Ab-
scheulichkeiten des Daseins. Ich freute mich am jugendlichen Wage-
mut, mit dem er alles erfüllte, was er tat, und ich bewunderte seine
übermenschliche Arbeitskraft. Seine Bewegungen waren leicht, ge-
wandt, und die sparsamen, aber starken Gesten harmonierten durch-
aus mit seiner Redeweise, die gleichfalls mit Worten kargte, aber
überreich war an Gedanken. Und in seinem etwas mongolisch ge-
schnittenen Gesicht glühten und funkelten die scharfen Augen eines
unermüdlichen Kämpfers gegen Lüge und Elend des Daseins, zu-
gekniffen, zwinkernd, ironisch lächelnd oder zornig blitzend. Der
Glanz dieser Augen machte seine Rede noch zündender und klarer.
Manchmal schien es, als sprühe die unbändige Energie seines Geistes
wie Funken aus diesen Augen, als leuchteten seine Worte in der Luft,

22
geladen mit dieser Energie. Seine Worte erzeugten stets das phy-
sische Empfinden unumstößlicher Wahrheit - und obwohl diese
Wahrheit für mich oft nicht annehmbar war, konnte ich mich doch
dem Einfluß ihrer Wucht nicht entziehen.« In der Tat, das war ganz
das Heldenideal, das die Narodniki und Nietzsche in Gorkis Seele
geformt hatten.
Plechanow, der Typus des Gelehrten und geistigen Parteiarbei-
ters, entsprach diesem Ideal nicht. Gorki geht in seinen Erinnerungen
sehr unredlich und unfair gegen ihn vor. Es ist einfach nicht wahr,
daß Plechanow nur eine »recht gewöhnliche Phrase« für ihn übrig
gehabt hätte. Zur gleichen Zeit, da Lenin ein paar Bemerkungen über
den politischen Nutzen der >Mutter< von sich gab, schrieb sein men-
schewistischer Rivale gründliche ästhetisch-ideologische Analysen
über diesen Roman wie über das Schauspiel >Feinde<. Plechanow ver-
ehrte Gorki tief und aufrichtig - aber als Dichter, nicht als Propagan-
disten. Er riet ihm, den Marxismus besser zu studieren, damit er er-
kenne, wie wenig sich »die Rolle des Verkünders, d. h. eines Men-
schen, der vorzugsweise die Sprache der Logik spricht, für den
Künstler eignet, . .der vor allem in der Sprache der Bilder zu spre-
.

chen hat«. Gorki kannte Plechanows Kritiken recht gut, was eine
weitere Verschleierungsmanipulation seiner Erinnerungen verrät.
Auf den paar Seiten, die dem Londoner Parteitag gewidmet sind,
wird mehr als ein halbdutzendmal und meist völlig unmotiviert dar-
auf angespielt, daß die bolschewistische Fraktion die der Arbeiter
gewesen sei (eben das, was Plechanow in seiner Kritik der >Feinde<
bestritten hatte): »die bolschewistischen Arbeiter ... die Arbeiter
neben und hinter Lenin die Arbeiter auf den Bänken der Bolsche-
. . .

wiki . .« usw. usf. In Wirklichkeit waren natürlich die Wortführer


.

beider Fraktionen Intellektuelle, wie es bei einem so rückständigen


Land auch nicht anders zu erwarten ist, doch hatten die Menschewiki
bis ins Jahr 1917 den größten Einfluß auf die Arbeiterschaft, wäh-
rend die Bolschewisten sich vornehmlich auf die Berufsrevolutionäre
orientierten.
Die Londoner Begegnung war der Höhepunkt in der Zusammen-
arbeit zwischen Lenin und Gorki. Für den Parteichef war der Dichter
ein Talent, das »der Arbeiterbewegung so gewaltigen Nutzen ge-
bracht hat und ihr noch so viel Nutzen bringen wird«, und er gab
sich alle Mühe, ihn bei der Stange zu halten. »Was macht er?« fragte
er einen seiner Funktionäre. »Beteiligt er sich an der literarischen
Arbeit der örtlichen Organisationen? ... Es ist sehr, sehr gut, daß
Gorki mit uns ist.« An den Kulturspezialisten der Partei, Luna-
tscharski, schrieb er voller Aufmerksamkeit für den Dichter: »Wenn
Sie der Meinung sind, daß wir der Arbeit Alexej Maximowitschs
nicht schaden, indem wir ihm die reguläre Parteiarbeit aufbürden -
die Parteiarbeit gewinnt dadurch eine Menge -, so bemühen Sie sich,
!

das in die Wege zu leiten.« Er zog den stets willigen Gorki zu allen
möglichen literarpolitischen Aufgaben heran. Sein Rat mutet uns

23
heute zuweilen kurios an, wurde aber von Gorki stets beherzigt. Ein-
mal sagte er: »Sie sollten ihre Erfahrung nicht in kleinen Erzählun-
gen verzetteln, für Sie ist es an der Zeit, sie in einem Buch, in irgend-
einem großen Roman niederzulegen.« Ein andermal: »Für ein dickes
Buch ist jetzt nicht die Zeit, vom dicken Buch nährt sich die Intelli-
genz . wir brauchen eine Zeitung, Broschüren
. . , wir müßten
. . . ,

Zehntausende, Hunderttausende von Flugschriften unter die Massen


bringen .« Als Gorki ihm die Absicht auseinandersetzte, einen
. .

großen Familienroman zu schreiben, meinte Lenin »Nein, das muß


:

man nach der Revolution schreiben, jetzt aber wäre etwas in der Art
der >Mutter< vonnöten.« Und setzte hinzu: ». .ich sehe nicht, wo-
.

mit Sie den Familienroman abschließen wollen. Die Wirklichkeit bie-


tet ja kein Ende. Nein, das muß nach der Revolution geschrieben wer-
den . .« Gorki bemerkte dazu später: »Ein Ende des Buches sah
.

selbstverständlich auch ich selbst nicht.« Lenin war freilich viel zu


klug und zu taktvoll, um dem Dichter direkte Vorschriften zu
machen.
Dennoch kam es zwischen den beiden in zunehmendem Maße zu
Differenzen, die aber weniger künstlerischer als weltanschaulicher
Natur waren. Einige führende bolschewistische Intellektuelle, die
sich um die Parteischule auf Capri gruppierten, an der Spitze Bog-
danow, Lunatscharski und Gorki, hatten die Leninsche Ummode-
lung des Marxismus konsequent zu Ende gedacht und ihr eine philo-
sophische Grundlage zu geben versucht. Sie führten z. B. den »Em-
piriokritizismus« von Mach, eine Spielart des Positivismus, in die
revolutionäre Ideologie ein. Und Gorki entwickelte seinen Kultus
der Persönlichkeit zu einer Vergöttlichung des Menschen weiter, zu
einer diesseitigen Religion. Der Mensch als Gott und Gottschöpfer -
da finden wir wieder Nietzsche-Gedanken par excellence. Lenin
selbst sah in solchen Reformversuchen weniger eine Frage der
Theorie - so glänzend er auch die philosophische Argumentation
handhabte - als der Praxis. Er fragte nüchtern: Was gewinnen wir
bei dem Tausch? Als sich dann Plechanow anschickte, den ortho-
doxen Marxismus gegen die bolschewistischen »Gottschöpfer« zu
verteidigen, sah auch Lenin sich gezwungen einzugreifen, weil er
fürchtete, bei offen eingestandenem Bruch mit Marx würden die
Bolschewiki die Sympathien der Arbeiter ganz verlieren. Er schlug
mit der ihm eigenen Energie dazwischen.
»Ich weiß, Alexej Maximowitsch«, erklärte er kategorisch beim
Besuch auf Capri, »Sie hoffen auf die Möglichkeit meiner Aussöh-
nung mit den Machisten, obwohl ich Ihnen brieflich im voraus mit-
geteilt habe: es ist unmöglich. Machen Sie also keine Versuche.« Als
Gorki in einem Aufsatz den Unterschied darzulegen suchte zwischen
der passiven, hinnehmenden Gottsucherei Dostojewskis und seinem
eigenen, aktiv und mobilisierend gemeinten Gottschöpfertum,
meinte Lenin, von seinem Standpunkt aus vollkommen logisch:
»Die Gottsucherei unterscheidet sich von der Gottbildnerei oder
Gottmacherei oder Gottschöpfung usf. keineswegs mehr, als sich
ein gelber Teufel von einem blauen unterscheidet.« Nach der Affäre
von Capri, die ihre im Grunde doch sehr verschiedene Weltanschau-
ung offenbarte, lebten sich Lenin und Gorki politisch immer mehr
auseinander, wenn sie auch persönlich und brieflich in einem gewis-
sen Kontakt blieben. Der Dichter trennte sich von der Partei. Die
Krise kommt in dem deutlichen Wort Gorkis zum Ausdruck: »Ich
habe eine geradezu organische Abneigung gegen Politik und bin ein
sehr fragwürdiger Marxist.«
Nach und nach entdeckte der Dichter an Lenin jene Züge des
Übermenschen, die er als leiderfahrener Humanist verabscheute; er
schrieb, auf Lenins adlige Herkunft anspielend: »Als sehr begabter
Mensch besitzt er alle >Führerqualitäten <, vor allem die nötige
Morallosigkeit, die er für diese Rolle und die Verachtung des Lebens
der breiten Volksmassen als echter Barin [Herr] braucht. Lenin ist
ein >Führer<, ein russischer Barin, er besitzt die moralischen Quali-
täten dieser untergehenden Herrenklasse.« Und aus dem Unter-
bewußtsein taucht bei Gorki jenes Bild wieder auf, das seinerzeit
sein Nil beschworen hat - nur jetzt kritisch empfunden: »Für die
Leninisten ist die Arbeiterklasse das, was für den Metallfachmann
das Erz ist .« Im Jahre 1917 wandte sich der Dichter - welche
. .

Wendung! - ebenso wie Plechanow gegen die »bolschewistische


Hysterie«. In seiner Zeitschrift >NowajaShisn<nahm er temperament-
voll gegen die bolschewistischen Anschläge Stellung, die demokra-
tische Republik zu stürzen »Die breiten Schwingen unserer jungen
:

Freiheit wurden mit unschuldigem Blut befleckt. Es ist verbreche-


risch und nichtswürdig, einander zu töten, jetzt, da wir alle das herr-
liche Recht haben, ehrenhaft zu argumentieren und verschiedener
Meinung zu sein.« Er gab oppositionellen Bolschewiki wie Sino-
wjew und Kamenew in seinem Organ Raum, gegen Lenins Putschis-
mus zu schreiben.
Nach der Oktoberrevolution erklärte er voller Empörung »Lenin, :

Trotzki und ihre Anhänger sind schon angesteckt von dem verder-
benden Gift der Macht, wie ihre beschämende Einstellung gegenüber
der freien Meinungsäußerung und der Freiheit des Individuums
zeigt, um die die Demokratie gekämpft hat. Blinde, fanatische und
skrupellose Abenteurer schreien nach einer angeblich sozialen Revo-
lution . .Auf dem Wege dahin, so glauben Lenin und seine Clique,
.

ist es erlaubt, alle Verbrechen zu begehen - wie den blutigen Kampf

in Petersburg, die Verwüstungen in Moskau, die Aufhebung der


Redefreiheit und die sinnlosen Verhaftungen . . . Lenin ist kein all-
mächtiger Magier, sondern ein kaltblütiger Taschenspieler, ohne
Achtung vor der Ehre und dem Leben der Proletarier.« Die maßlose
Erbitterung, in der er das sagte, ist wie immer bei Gorki Zeichen des
Ärgers über den Irrtum, dem er sich selbst einmal hingegeben hatte.
Als man drohte, seine Zeitschrift bei weiterer Opposition zu ver-
bieten, erklärte er: »Die >Nowaja Shisn< wird die Regierung der

25
Volkskommissare genauso kritisieren wie jede andere Regierung.
Wir haben nicht gegen die Selbstherrschaft der Kanaillen gekämpft,
damit sie durch eine Selbstherrschaft der Barbaren ersetzt werde .« . .

Das Blatt wurde verboten.


Gorki tat sein möglichstes,die Schrecken des Regimes zu mildern.
Viele kulturelle Einrichtungen haben ihm ihr Überleben zu danken.
Seine Fürsprache rettete zahlreiche Menschen, vornehmlich Künst-
ler und Gelehrte, aus den Kellern der Tscheka (der Geheimpolizei,
später GPU, NKWD, MWD, MGB usw. genannt). den Dichter Um
zu gewinnen, kamen Lenin und sein Polizeichef Dsershinski ihm in
vielen Fällen entgegen; man schuf unter seiner Leitung eine »Zen-
tralkommission zur Verbesserung der Lebenslage der Wissenschaft-
ler«, die manches getan hat, die Intelligenz vor Verfolgungen zu
schützen. In den hartnäckigen, heftigen und ganz aufrichtigen Dis-
kussionen, die Lenin und Gorki in jenen Jahren über die Frage des
Terrors führten, kamen sie einander wieder näher. Gorki sah, wie
auch der stählerne Revolutionär unter den Greueln litt, für die er die
Verantwortung trug. Eines Abends hörten sie gemeinsam Beet-
hovensche Sonaten. »Ich kenne nichts Schöneres als die >Appas-
sionata< und könnte sie jeden Tag hören«, sagte Lenin. »Eine wun-
derbare, nicht mehr menschliche Musik.« Dann kniff er die Augen zu,
lächelte und setzte mit einem Anflug von Traurigkeit hinzu »Aber :

allzuoft kann ich Musik nicht hören. Sie wirkt auf die Nerven. Man
möchte nette törichte Dinge sagen und den Menschen, die in dieser
schmutzigen Hölle leben und trotzdem solche Schönheit schaffen
können, den Kopf streicheln. Aber heutzutage darf man niemand
den Kopf streicheln - die Hand wird einem sonst abgebissen. Schla-
gen muß man auf die Köpfe, unbarmherzig schlagen, obwohl wir der
Idee nach gegen jede Gewalt am Menschen sind. Hm, hm - ein
höllisch schweres Amtl«
Obwohl Gorki die persönliche Integrität und echte menschliche
Tragik bei Lenin achtete - » . . . Kind dieser verfluchten
ein großes
Welt, ein prächtiger Mensch, der sich der Feindschaft und dem Haß
zum Opfer bringen mußte, um das Werk der Liebe zu verwirklichen !«
-, konnte er, der die Menschen so liebte, sich nicht mit der Praxis des
Terrors abfinden. Er hatte auch menschlich etwas von Nietzsche, der
die »blonde Bestie« propagierte, persönlich aber niemanden leiden
sehen konnte. »Finden Sie nicht«, fuhr Lenin den Dichter zornig an,
»daß Sie sich mit Torheiten und Bagatellen abgeben?« Gorki
schreibt dazu in seinen Erinnerungen den schönen, lakonischen
Satz »Doch ich tat, was ich für nötig hielt
: « Schließlich drängte
. . .

Lenin ihn, er möge Rußland während der harten Jahre, die seiner
Meinung nach nur eine Übergangserscheinung sein konnten, ver-
lassen.

Dieser Ratschlag war ein kluger Schachzug des großen Menschen-


führers.Denn im fernen Italien verblaßte für Maxim Gorki tatsäch-
26
lieh nach und nach die furchtbare Realität des Bolschewismus, das
in Millionen von Einzelfällen aufgelöste Leid, und es erhob sich
darüber das imposante, erhabene Antlitz der Revolution, das die
romantischen Empfindungen in seiner Seele weckte. Als der Dichter
ein Jahrzehnt später, Anfang der dreißiger Jahre, in die Sowjetunion
zurückkehrte, getrieben vom Heimweh und fasziniert von dem er-
regenden Bild der neuen Fabriken, Hochöfen, Schächte und Bohr-
türme, die Stalin aus dem Boden stampfte, da hatte er sich - zumin-
dest nach außen hin - mit der vollendeten Tatsache der bolschewisti-
schen Herrschaft abgefunden.
Noch ein anderer, sehr ernster Beweggrund führte ihn zur Aus-
söhnung mit dem Sowjetsystem, den man nicht übersehen darf, will
man nicht die ganze Haltung des alten Gorki mißdeuten. Der Dich-
ter kam aus einem faschistischen Land zurück. Sein Lebensabend ist
umdüstert von der Sorge um das über Europa heraufziehende Ver-
hängnis, dessen erste barbarische Äußerungen er in unmittelbarer
Nähe während sich die russischen Ereignisse in weiter
erlebt hatte,
Ferne abspielten. Das Aufkommen des Rassenwahns, dessen ab-
scheuliche Erscheinungen er in den Pogromen des alten Rußland
erlebt (und in seinem Theaterstück >Kinder der Sonne < gestaltet)
hatte, der Kriegsgefahr, der Aggressionsdrohung gegen Rußland,
sein Vaterland - das alles veranlaßte ihn zu einer politischen Stel-
lungnahme an der Seite der Bolschewisten, die ihm unter diesen
Umständen als das bei weitem kleinere Übel erscheinen mußten.
Wenn man die zahlreichen publizistischen Arbeiten seiner Spätzeit
durchsieht, entdeckt man, daß in ihnen viel weniger von den bol-
schewistischen Errungenschaften als von den faschistischen Schrek-
ken die Rede ist. Der sechzigjährige Dichter, der sich stets als Pazifist
bekannt hatte, erklärte, er sei bereit, als einfacher Soldat in der Roten
Armee zu kämpfen, wenn es die Sowjetunion gegen einen faschisti-
schen Angriff zu verteidigen gelte. »Ich selbst«, schrieb er, »würde
alle diese Hitler und Mussolini eigenhändig nehmen und umbringen.«
Auch in seinem literarischen Schaffen spielte nun die Auseinander-
setzung mit den geistigen Wurzeln des Faschismus die zentrale Rolle.
Hatte er sich in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg vor allem gegen
die dekadente, entschlußlose und egozentrische Haltung der Intelli-
genz, ihre Teilnahmslosigkeit gegenüber den revolutionären Auf-
gaben gewandt, so zog er jetzt gegen faschistische oder vermeintlich
faschistische Tendenzen zu Felde. Die Einseitigkeit und Starrheit,
mit der er dieser Abrechnung nachging, trug in die Werke jener Zeit
Züge von Verbissenheit und Härte, die sie manchmal kalt und un-
menschlich erscheinen lassen. Es ist sehr viel mehr Haß in ihnen als
Liebe. Mit besonderer Schärfe wandte er sich gegen jede Art von
Führer- und Elite-Ideologie, gegen den »Nietzscheanismus«, mit
dem er selbst einst geliebäugelt hatte.
Nach langer Pause schrieb er 1931 wieder ein Theaterstück: >So-
mow und andere Es ist das einzige, in dem
<. er sich mit der Sowjet-

27
cpoche auseinandergesetzt hat (die Oktoberrevolution und den kom-
munistischen Aufbau hat er nie gestaltet), und beschäftigt sich mit
der Vorgeschichte des Schachty-Prozesses, des ersten in einer Reihe
von Schauprozessen, in denen Wissenschaftler, Ingenieure, Tech-
niker und Meister, angebliche Mitglieder einer industriellen Ver-
schwörung, wegen Sabotage zu schweren Strafen verurteilt wurden.
Die zuweilen abenteuerlichen Beschuldigungen und die wie am
Schnürchen abrollenden Geständnisse, erste Anzeichen der von Sta-
lin eingeführten juristischen Praxis, lassen es heute schwer glaubhaft
erscheinen, daß es sich um ein echtes Komplott gehandelt hat. Rich-
tiger wird sein, daß die von Stalin bald nach Lenins Tod ohne Rück-
sicht auf Verluste forcierte Industrialisierung bei der technischen
Intelligenz, die die Verantwortung zu tragen hatte, auf passiven
Widerstand stieß, den man durch brutale Einschüchterungsmaß-
nahmen zu brechen suchte, daß man ferner Sündenböcke brauchte,
um das Volk, das über die anhaltend katastrophale wirtschaftliche
Lage aufgebracht war, zu beschwichtigen. Daß es mit der ganzen
Verschwörung nicht allzu ernst gewesen sein dürfte, geht daraus
hervor, daß der Gelehrte Prof. Ramsin, den man in einem der Pro-
zesse als Führer der »Industrie-Partei« zum Tode verurteilt hatte,
anschließend begnadigt wurde und die Möglichkeit bekam, seine
Forschungsarbeiten fortzusetzen. Im Jahre 1943 wurde er für die
Erfindung eines neuartigen Turbogenerators mit dem Lenin-Orden
und dem Stalin-Preis ausgezeichnet; auf ausdrückliche Anweisung
des Kreml erhielt der Turbogenerator den Namen seines Erfinders,
des »Volksfeindes« Ramsin. Das war nicht die Art, wie Stalin mit
ernsthaften und gefährlichen Gegnern umzugehen pflegte.
Gorki schrieb aus Anlaß des Schachty-Prozesses in dem Regie-
rungsorgan >Iswestija< einen Leitartikel unter der Überschrift:
»Wenn der Feind sich nicht ergibt, muß er vernichtet werden!« Er
kannte die Verhältnisse in der Sowjetunion allein von zwei Besichti-
gungs-Rundreisen, bei denen er natürlich nur zu sehen bekommen
hatte, was die Sowjetregierung für wünschenswert hielt. Von dem
Chaos der überstürzten Industrialisierung und den Greueln der
Zwangskollektivierung, von der Hungersnot und den Strafarbeits-
lagern hatte er keine Ahnung. Unter diesen Umständen mußten ihm
die »Schädlinge« von Schachty als ewiggestrige Bourgeois, vielleicht
gar Faschisten erscheinen, die von purer Mißgunst gegen den auf-
blühenden Staat der Arbeiter und Bauern getrieben wurden.
Charakteristisch für sein Stück ist, daß es sich weder mit den kon-
kreten Ursachen noch mit dem konkreten Ablauf der angeblichen
Verschwörung befaßt. Da läßt er es bei Andeutungen bewenden und
verbohrt sich dessen in das Seelenleben der Intellektuellen, wo
statt
er die tieferen Ursachen für ihren Widerstand gegen das Sowjet-
system vermutet. Sein Somow ist ein waschechter Faschist, ein ehr-
geiziger und skrupelloser Bursche, der davon träumt, ein Napoleon
zu werden. Umihn herum gruppiert der Dichter ein Sammelsurium

28
verkrachter Existenzen, die aus den Stücken seiner vorrevolutionä-
ren Zeit auferstanden zu sein scheinen: dekadente und lebensuntaug-
liche Ästheten, feige und raffgierige Kleinbürger, heruntergekom-
mene, versoffene Vagabunden und Strolche - eben »gewesene Men-
schen«. Er zeichnet köstliche Typen zum Teil, prachtvolle, vitale
Szenen, es knistert die Spannung unterirdischen Klassenkampfes,
aber das alles hat etwas Zerrissenes, Uneinheitliches, Unausgegore-
nes. Es geht um überlebte philosophische Scheinprobleme, um Res-
sentiments und psychopathische Verirrungen statt um die funda-
mentalen Fragen sozialer und ethischer Natur, die damals überall in
der Sowjetunion zur Debatte standen. Nicht daß Gorki sich für die
Bolschewiki entscheidet, ist die Schwäche des Stücks, sondern daß
er den wirklichen Konflikt kaum anrührt.
Es gibt in dem Schauspiel allerdings eine Figur, eine einzige, wenn
auch mehr am Rande gestaltet, die das Interesse weckt. Es ist der
junge Ingenieur Jaropjegow, der an der Sabotage nicht teilnimmt,
aber auch für die Bolschewisten nichts übrig hat. Tüchtig, kamerad-
schaftlich, fröhlich, überall angesehen und beliebt, besonders bei der
Jugend, den Komsomolzen, ist er die vielleicht sympathischste Ge-

stalt Er wird, obwohl vollkommen unschuldig, am


des Stücks.
Schluß zusammen mit den Verschwörern verhaftet, was er mit einer
großartigen Nonchalance trägt, die ihn zum Herrn der Situation
macht. Man weiß nicht recht, was Gorki mit dieser Darstellung
sagen wollte, entweder: Seht ihr, so geht es einem, wenn man
schwankt - oder So brutal führen die Bolschewisten ihren Klassen-
! :

kampf!
Wahrscheinlich dachte er an einen Brief, den Stalin ihm kurz zuvor
geschrieben hatte, in dem es hieß: ». . wenn man die Jugend
.

nimmt, die (ihrer sozialen Lage nach) zu uns gehört, so bringt nicht
ein jeder Nerven, Kraft, Charakter und Verständnis genug auf, um
das grandiose Bild der Niederreißung des Alten und des fieberhaften
Aufbaus des Neuen als ein Bild dessen zu betrachten, was notwendig
und folglich wünschenswert ist, zumal dieses Bild wenig dem para-
diesischen Idyll des allgemeinen Wohlergehens < gleicht, das die
Möglichkeit bieten soll, sich >auszuruhen< und das >Glück zu ge-
nießen <. Begreiflicherweise kann es bei diesem >Kopfschmerzen ver-
ursachenden Getriebe < nicht anders sein, als daß es bei uns Leute
gibt, die müde werden, die Nerven verlieren, sich aufreiben, in Ver-
zweiflung geraten, abtreten und schließlich in das Lager der Feinde
überlaufen. Unvermeidliche Spesen < der Revolution!« Dieser Brief
>

war die Antwort auf ein unveröffentlichtes Schreiben Gorkis, in dem


der Dichter offenbar einen anderen Standpunkt vertreten hatte: daß
es alles andere als natürlich und höchst beklagenswert sei, wenn
nicht einmal mehr die jungen, fortschrittlich gesinnten werktätigen
Menschen die bolschewistischen Maßnahmen verstünden. (In dem-
selben Jahr, als Stalin seinen Brief schrieb, hatte derjenige, den er
selbst als den »besten und begabtesten Dichter der So wjetepoche«
:

bezeichnet hat, Majakowski, »die Nerven verloren« und war »ab-


getreten« - durch Selbstmord.)
In Jaropjegow gestaltete Gorki nun einen solchen Jungen, der
durchaus nicht »müde ist und greint«, wie Stalin meinte, sondern ein
gesunder, lebensfroher und vernünftiger Mensch ist, nur die Eigen-
schaft hat, nachzudenken. Diese Prise Realität in dem ansonsten li-
nientreuen Stück genügte, um es suspekt zu machen. Es wurde wäh-
rend der Ära Stalins nicht gespielt, schier vergessen und erst wieder
ausgegraben, als man während des Tauwetters unter Malenkow nach
Stücken suchte, die nicht ganz durch Schönfärberei verdorben waren.
In den ersten Jahren nach Gorkis Rückkehr wurde die Sowjet-
literatur auf den Sozialistischen Realismus ausgerichtet. Über den
Anteil, der dem Dichter an diesem Ereignis zukommt, gehen selbst
in der offiziellen sowjetischen Literaturgeschichtsschreibung die Mei-
nungen auseinander. In der >Großen Sowjet-Enzyklopädie < heißt es
»Ausgehend von der J. W. Stalin zu verdankenden Definition der
künstlerischen Methode der Sowjetliteratur entwickelte Gorki die
Hauptprinzipien der Kunst des sozialistischen Realismus.« In der
>Geschichte der russischen Literatur < steht genau das Gegenteil: »So
hat Gorki jenes künstlerische Schaffensprinzip gefunden, das J. W.
Stalin später in einer Unterredung mit Schriftstellern als die Methode
des sozialistischen Realismus definiert hat.«
Tatsache ist, daß Gorki der Aktion seine Autorität, sein Ansehen
als Dichter geliehen hat. Das besagte Gespräch Stalins mit den
Schriftstellern fand in der Villa Gorkis statt der Dichter hielt auch
;

auf dem ersten sowjetischen Schriftstellerkongreß 1934, der den


Startschuß für die neue Kunstpolitik abgab, neben Shdanow das
Hauptreferat. Tatsache ist ferner, daß ein so amusischer und kulturell
ungebildeter Mensch wie Stalin - ». . was bin ich für ein Kritiker,
.

in Teufels Namen!« sagte er in einem Anfall von Bescheidenheit ein-


mal selbst - niemals künstlerische Prinzipien hätte formulieren kön-
nen. Andererseits ist Gorki gewiß unschuldig an der dogmatischen
und terroristischen Durchsetzung der neuen Methode, denn sie steht
in eindeutigem Gegensatz zu seiner Auffassung vom Selbstbestim-
mungsrecht des Menschen und des Künstlers. Noch Lenin hatte, als
er die Forderung nach einer Parteiliteratur erhob, ausdrücklich be-
tont: »Kein Zweifel, die literarische Tätigkeit verträgt am aller-
wenigsten eine mechanische Gleichmacherei, eine Nivellierung, eine
Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit. Kein Zweifel, auf die-
sem Gebiet ist die Sicherung eines größeren Spielraums für persön-
liche Initiative, für individuelle Neigungen, eines Spielraums für Ge-
danken und Phantasie, für Form und Inhalt unbedingt notwendig.«
Was dann unter Stalin und Shdanow geschah, gehört nicht mehr in
das Gebiet der Ästhetik, hat nichts mit der Erarbeitung und Dis-
kussion künstlerischer Gestaltungsfragen zu tun, sondern stellt den
brutalen und direkten Einbruch der Politik in das Reich der Kunst
dar, um sie sich zu unterwerfen. Von diesem Zeitpunkt an ist nicht

30
einmal mehr politische Kunst möglich, sondern nur noch Propa-
ganda, Politik in Bildern. Da Gorki Künstler, aber nicht Funktionär
war, mußten sich die Geister, die er hatte rufen helfen, eines Tages
auch gegen ihn selbst wenden.
Nur dem Anschein nach hielten sich die Direktiven der Partei an
die Prinzipien, die Gorki in seinem widerspruchsvollen Leben ge-
formt hatte. Im Jahr 1912 hatte der Dichter in einem Brief zum
erstenmal geäußert: »Hinsichtlich der sozialistischen Kunst, ins-
besondere der Literatur, werde ich Ihnen noch besonders schreiben.
Der Gedanke, daß das kein Realismus und keine Romantik, sondern
irgendeine Synthese von beiden sein wird, scheint mir annehmbar.
Ja, es ist möglich, daß es so sein wird.« Diesen Gedanken, der das
logische Produkt seiner eigenen Entwicklung ist, spann er ständig
weiter. 1919 schrieb er in einem Theater- Almanach »Unsere Zeit :

braucht ein heroisches Theater, ein Theater, das sich die Idealisie-
rung der Persönlichkeit zum Ziel setzt, das die Romantik wieder-
erweckt, den Menschen dichterisch verherrlicht . Die Bühne des
. .

modernen Theaters braucht einen Helden im wahrsten Sinne des


Wortes; den Menschen muß eine Idealgestalt gezeigt werden, nach
der sich die ganze Welt schon von alters her sehnt .«In den Jahren
. .

nach seiner Rückkehr in die UdSSR formulierte er seine Ansichten


immer bestimmter »Die revolutionäre Romantik ist im Grunde ge-
:

nommen ein Pseudonym des sozialistischen Realismus, dessen Be-


stimmung nicht allein die kritische Darstellung der Vergangenheit
in der Gegenwart ist, sondern hauptsächlich, die Festigung der revo-
lutionären Errungenschaften in der Gegenwart und die Erhellung
der hohen Ziele der sozialistischen Zukunft zu fördern.« Die Sowjet-
kunst müsse sich, so erklärte er, »über die Wirklichkeit erheben, sie
muß auf den dahinfließenden Tag von der Höhe jener herrlichen
Ziele herabblicken, die sich die Arbeiterklasse, der Stammvater der
neuen Menschheit, gestellt hat«. All diese seine Ideen und Gedanken
- Reflexionen über den eigenen Werdegang und nicht zuletzt auch
Äußerung mancher verdrängten Wünsche - faßte er zusammen in
seinem berühmten Referat auf dem ersten Kongreß der Sowjet-
schriftsteller: »Der sozialistische Realismus bestätigt das Dasein als
Handlung, als Schaffen, dessen Ziel die unaufhörliche Entwicklung
der wertvollsten individuellen Fähigkeiten des Menschen ist, für
seinen Sieg über die Kräfte der Natur, für seine Gesundheit und ein
langes Leben, für das große Glück, auf der Erde leben zu dürfen, die
er in Übereinstimmung mit dem unentwegten Anwachsen seiner Be-
dürfnisse gänzlich bebauen will als die herrliche Wohnstatt der zu
einer einzigen Familie vereinten Menschheit.«
Wenn man diese Worte liest, begreift man, wie fern die Vorstel-
lung Gorkis von der Kunst jenen Machwerken steht, die nur allzu-
bald nach dieser Rede in seinem Namen und unter der Marke des
Sozialistischen Realismus den kommunistischen Literaturmarkt über-
schwemmen sollten. Auf welche erstaunliche Weise verwandelten
31
sich doch Gorkis Ideen, als sie in den Normen des Sozialistischen
Realismus Substanz und Macht gewannen: Aus der sozialistischen
Romantik wurde Schönfärberei, aus der Parteilichkeit Schwarzweiß-
malerei, aus der Volksverbundenheit Primitivität und Banalität, aus
der Berücksichtigung der schöpferischen Rolle der Arbeit die Be-
grenzung der Handlung auf den Produktionsprozeß und aus dem
positiven Helden der makellose und unfehlbare, gravitätisch stolzie-
rende Parteifunktionär. 1936 stellte Gorki betroffen fest: »Beschä-
mend armselig sind die Kräfte unserer Dichter, kalte Verse werden
bei uns geschrieben. Allzu gleichgültig ist diese Froschpoesie. Und
sogar wenn von der revolutionären Erektion geschrieben wird,
spürt man, daß politisch Impotente schreiben.«
Wie wenig Gorki seine Prinzipien doktrinär und verbindlich
meinte, geht daraus hervor, daß er am Ende seines Lebens drei ge-
waltige Werke schuf, drei seiner stärksten Theaterstücke, die man
beim besten Willen nicht in das Schema des Sozialistischen Realis-
mus pressen kann, nämlich >Jegor Bulytschow und andere < (1932),
>Dostigajew und andere < (1933) und die Zweitfassung von >Wassa
Shelesnowa< (1935). Die Partei stellte denn auch keines dieser letzten
Dramen als Modell der neuen Lehre heraus, sondern die ein Men-
schenalter früher geschriebenen >Feinde<, die 1935 auf ausdrück-
lichen Wunsch Stalins am Moskauer Künstlertheater einstudiert
werden mußten.
Gorkis ». . und andere «-Dramen sollten ein Zyklus werden, der
.

vor der Revolution im Jahre 1917 einsetzt und irgendwie zur Gegen-
wart führt, dabei den Anschluß an >Somow und andere < findet. Der
Personenbestand der einzelnen Stücke greift ineinander, wie es in den
Romanen von Balzacs >Comedie humaine< der Fall ist. Der Dichter
hat aber nur die beiden ersten Teile vollendet und die kritische
Grenze, die durch die bolschewistische Oktoberrevolution, das von
ihm einst verurteilte Ereignis, markiert wird, nicht zu überschreiten
vermocht. Das als drittes geplante Stück >Rjabinin und andere <, in
dessen Mittelpunkt zum erstenmal ein Revolutionär stehen sollte,
hat er gar nicht mehr in Angriff genommen. Auch der Inhalt der
beiden fertiggestellten Dramen erscheint vom parteidoktrinären
Standpunkt aus etwas fragwürdig. Jegor Bulytschow, der Held des
ersten, ist ein »weißer Rabe«, ein »anständiger Kapitalist«, der am
Ende seines Lebens begreift, daß die Revolution unaufhaltsam ist
und er selbst »an der falschen Straße gelebt hat«. Als Vorbild diente
Gorki bei dieser Figur der Millionär Bugrow, von dem er in seinen
Erinnerungen berichtet: »Bugrow, der ein Stück Fruchtzucker ab-
gebissen hatte, trank gierig den Tee aus, strich sich über den Bart und
fuhr inständig und leise fort >Es kam eine gefährliche Zeit, eine Zeit
:

der großen Unruhe der Seele. Sie sagen eben - Revolution dazu, die
Auferstehung aller Kräfte der Erde ... Sie eilen voraus, ja voraus
und immer weiter . < « - Dostigajew ist ein glänzender, wendiger
. .

Geschäftsmann, ein Chamäleon von Format, der die Kunst, »sich

32
anzupassen«, bis zur Vollendung entwickelt hat. Der erstaunliche
Schluß des Stückes besteht darin, daß es ihm sogar gelingt, sich der
bolschewistischen Macht anzupassen.
In seinen späten Werken entwickelte Gorki einen eigenartigen,
unverwechselbaren Stil von letzter Reife. Sein bedeutendstes Merk-
mal besteht darin, daß die äußere Handlung immer mehr zurück-
tritt. Es gibt ganze Akte, in denen so gut wie nichts geschieht, und

unscheinbare Episoden können zu menetekelhafter Bedeutung


wachsen. Alle Dynamik wird in den Seelen und Hirnen der Persön-
lichkeiten gestaut. »Wenn die Charaktere nur fest umrissen sind,
dann ist ihr Zusammenstoß unvermeidlich«, sagte Gorki. Der Re-
gisseur des Künstlertheaters, Nemirowitsch-Dantschenko, schrieb
einmal in einem Brief an den Dichter: »Sie erfassen ein Stück Epoche
in einer festgefügten politischen Montage, enthüllen sie aber nicht
durch eine Kette äußerer Ereignisse, sondern durch eine charakteri-
stische Gruppe künstlerischer Porträts, die wie in einer klugen
Schachkomposition mit- und gegeneinander ausgespielt werden. Ich
würde sogar sagen: einer weisen Komposition. Die Weisheit liegt
darin, daß die schärfste politische Tendenz in den dargestellten Zu-
sammenstößen der Charaktere nicht nur künstlerisch überzeugend,
sondern auch dem Leben entsprechend objektiv unanfechtbar ist.
Gleichzeitig stellt ihre Dramatik im Material die Forderung nach
einem besonderen Stil - dem Stil eines erhöhten Realismus, wenn
dieser Ausdruck gestattet ist -, ein Realismus der krassen Einfach-
heit, der großen Wahrheit, der besonderen charakteristischen Züge,
einer großartigen,strengen Sprache, die nie naturalistisch auf-
geweicht werden darf, und einer mit echtem Pathos gesättigten
Idee.«
Die Schwierigkeit bei der Darstellung von Gorkis Spätwerken,
die ihnen zuUnrecht den Ruf schwacher Bühnenwirksamkeit ein-
getragen hat, liegt in der lapidaren Sparsamkeit und rücksichtslosen
Verdichtung der Gestaltung. Da ist alles Rankenwerk weggeschnit-
ten, und man ist gezwungen, vieles über die Entwicklung der Men-
schen, über den Verlauf der Handlung zu erraten. Die Personen
haben nur ganz wenige Auftritte, manchmal nur einen, in dem sie
dann die Erregung im Innern ihrer Seele mit elementarer Gewalt
entladen. Die Stücke haben kaum eine Exposition und kaum einen
Abschluß, sie ziehen wie ein Gewitter vorbei. In dem Titel ». . und
.

andere« dokumentiert sich schon, daß auch der Held nur ein Kraft-
element unter anderen ist, eingebettet in den breit sich dahinwälzen-
den Strom gesellschaftlicher Gestalten und Ereignisse. Ein weiteres
Merkmal dieses Stils kann man darin erblicken, daß die Unterschiede
im Genre, zwischen Tragödie und Komödie, verschwimmen. Gorki
nannte seine Stücke Szenen, Dramen oder bezeichnete sie überhaupt
nicht näher. Der abgründige Haß, mit dem er der bürgerlichen Ge-
sellschaft gegenüberstand, schlug sich in einer aggressiven Zuspit-
zung der Darstellung nieder, die ihr manchmal groteske und ge-

33
spens tische Züge »Die Tragödie«, sagte Gorki einmal,
verleiht.
»schließt alle die so bezeichnende Lächerlichkeit der kleinen spieß-
bürgerlichen Dramen aus, die das Leben von oben bis unten be-
sudeln. Ist es etwa eine Tragödie, wenn sich im zoologischen Garten
Affen raufen?« Henri Barbusse hat für Gorkis Art die treffende Be-
zeichnung »satirisches Panorama« geprägt.
Auch die Heldin des Dramas >Wassa Shelesnowa< ist eine nega-
tive Gestalt, eine Kapitalistin, Besitzerin eines großen Handelsunter-
nehmens an der Wolga. In der ersten Fassung, die Gorki 1910 ge-
schrieben hat, wird geschildert, wie Wassa, um im erbarmungslosen
Konkurrenzkampf zu bestehen, von Verbrechen zu Verbrechen ge-
trieben wird und dem Moloch Kapital all ihre Menschlichkeit, die
Bindung selbst zu den engsten Angehörigen, opfern muß. In der um-
gearbeiteten Fassung stellt Gorki der Wassa Shelesnowa, der eiser-
nen (shelesno heißt Eisen), unerbittlichen Herrin, ihre Schwiegertoch-
ter Rachel entgegen, die Revolutionärin ist. Der Konflikt bekommt
dadurch einen anderen Akzent es geht nun nicht mehr bloß um die
:

menschlichen Werte in der Seele der Unternehmer - deren Preisgabe


im kapitalistischen Getriebe erscheint dem
Dichter selbstverständ-
lich -, sondern überhaupt um ihre Existenz. Wassa kämpft mit
Rachel um ihren Enkel, den einzigen gesunden Familienerben, ohne
den ihr ganzes Werk sinnlos würde. In der Auseinandersetzung, die
- nicht mehr als einDialog - doch bis an die Wurzeln beider Wesen
geht, enthüllen sich die Horizonte zweier Welten. Rachels revolu-
tionäre Impulse erweisen sich als stärker, und die mächtige Wassa
Shelesnowa bricht zusammen.
Wenn man die beiden Fassungen vergleicht, erkennt man als den
Grundgedanken der Umarbeitung die Tendenz, von der bloßen Kri-
tik an der alten Gesellschaft zur Darstellung ihres Untergangs weiter-
zuschreiten, also den Übergang vom kritischen zum sozialistischen
Realismus, so wie Gorki ihn verstand, zu vollziehen. Aber gerade an
diesem Lehrbeispiel, das der alte Gorki vorexerzierte, kann man
studieren, wie wenig das, was ihm vorschwebte, mit parteipoliti-
schem Schematismus zu tun hat. Es ist ein Drama der Seelen, nicht
der Prinzipien, und läßt eine ganze Reihe von Charakteristika ver-
missen, die nach den Regeln des Sozialistischen Realismus, die er
angeblich formuliert haben soll, unerläßlich sind es beschäftigt sich
:

mit der Vergangenheit statt mit der Gegenwart bzw. Zukunft, greift
seinen Stoff aus der Familiengeschichte statt aus dem Produktions-
prozeß und dem politischen Kampf, hat im Mittelpunkt keinen posi-
tiven Helden, sondern einen negativen, eine reaktionäre Kapitalistin,
der er auch noch Züge einer echten Tragik gibt, usw. Hätte das
Stück ein junger Nachwuchsdichter geschrieben, so hätte es für
einen Stalin-Preis nie gelangt.
Die Neufassung war Gorkis letztes Werk. Nach der endgültigen
Übersiedlung in die Sowjetunion im Jahre 1932 hat er noch vier
Jahre gelebt. Die sowjetische Legende berichtet, ihn habe mit Stalin

34
dieselbe innige Freundschaft wie mit Lenin verbunden. In den Me-
moiren des Schriftstellers Iwanow, des Autors des Schauspiels
> Panzerzuge der nachträglich auch dem distinguierten Bürger Sta-

nislawski den Jargon eines fanatischen Bolschewisten zulegte,


kommt die wunderschöne Stelle vor: »Alexej Maximowitsch blickte
uns mit einem gerührten Blick ins Auge und sagte >Ein Meister und,
:

wir setzen hinzu, ein Herr der Zeit - das ist unser Josef Wissariono-
witsch « Zum Leidwesen der stalinistischen Biographen finden sich
! <

aber für diese Version absolut keine dokumentarischen Unterlagen.


Ein literarisches Porträt Stalins, das der Dichter analog zu dem
Lenins gleich nach seiner Rückkehr aus dem Exil zu schreiben beab-
sichtigte, kam nicht zustande. Der Unterschied im intellektuellen
Niveau, ganz abgesehen von der Weltanschauung, war so beträcht-
lich, daß ein menschlicher Kontakt zwischen dem Dichter und Lenins
Nachfolger ganz undenkbar war, obwohl der Diktator sich darum
bemühte. Bezeichnend ist eine Episode: Als Gorki 1931 zu Besuch
in Moskau weilte, las er den Parteiführern u. a. sein Poem >Das Mäd-
chen und der Tod< vor. Nach der Lesung schrieb der große Stalin
auf die letzte Textseite des frühen und wahrlich nicht sehr starken
Gedichts: »Diese Sache ist stärker als Goethes >Faust< (Die Liebe
besiegt den Tod).«
Aus dem einzigen Brief Stalins an Gorki, der veröffentlicht wurde,
geht hervor, daß es zwischen beiden eine Reihe von Meinungsver-
schiedenheiten gab. Unter anderem hatte der Dichter vorgeschlagen,
zum Kampf gegen die Kriegsgefahr eine besondere Zeitschrift
>Über den Krieg < zu schaffen. Stalin lehnte diesen Vorschlag rund-
weg ab und bemerkte: »Was die Erzählungen über den Krieg be-
trifft, so sind sie nur nach sorgfältiger Auswahl zu veröffentlichen.

Auf dem Büchermarkt ist eine Menge Erzählungen


belletristischer
anzutreffen, die die >Schrecken< des Krieges malen und Abscheu
gegen jeglichen Krieg (nicht nur den imperialistischen, sondern auch
jeden anderen Krieg) einflößen. Das sind bürgerlich-pazifistische Er-
zählungen, die keinen großen Wert haben. Wir brauchen Erzählun-
gen, die die Leser, ausgehend von den Schrecken des imperialisti-
schen Krieges, an die Notwendigkeit der Überwindung der imperia-
listischen Regierungen, die diese Kriege organisieren, heranführen.
Außerdem sind wir doch nicht gegen jeglichen Krieg. Wir sind gegen
den imperialistischen Krieg» als konterrevolutionären Krieg. Aber
wir sind für den Befreiungskrieg, den antiimperialistischen, revolu-
tionären Krieg, ungeachtet, daß ein solcher Krieg bekanntlich nicht
frei ist von den >Schrecken des Blutvergießens <, sondern diese sogar
reichlich aufweist.« Man beachte dabei den Unterschied zu der Ein-
stellung Gorkis, der zwar auch bereit war, die Waffe in die Hand zu
nehmen, aber nur bei einem Verteidigungskrieg gegen die Faschisten.
Drei Jahre nach Gorkis Tod, im Jahre 1939, erklärte die Sowjet-
regierung den Krieg Hitlers gegen den Westen für einen gerechten,
antiimperialistischen Krieg . . .

35
:

Aus dem Briefwechsel ist auch zu entnehmen, warum der Dichter


keine öffentliche Kritik am Sowjetregime äußerte. Er drückte die
Befürchtung aus, daß allzu offenherzige Kritik und Selbstkritik den
Feinden, also den Faschisten, Material liefere. Das bestätigt aber nur,
daß er im internen Kreis genauso rückhaltlos seine Meinung ver-
treten haben dürfte, wie er es zu Lenins Zeiten getan hat. Er war in
jenen Jahren, da Stalin seine Diktatur blutig stabilisierte, die letzte
souveräne Großmacht im sowjetischen Raum. Und er merkte, was
gespielt wurde. Als er ins Ausland zurück wollte, verweigerte ihm
die Regierung das Ausreisevisum. Während der großen Säuberung
gelang es einmal der Frau eines von der Geheimpolizei (GPU) ver-
hafteten Schriftstellers, bis zu ihm vorzudringen. Gorki antwortete
auf ihre Bitte um Hilfe mit unbewegtem Gesicht: »Bürgerin, ich
kann nichts für Sie tun.« Man kann sich vorstellen, wie es in seiner
Seele ausgesehen haben mag. Es waren doch seine alten Freunde
und Kampfgefährten, die damals in die Lubjanka (das Moskauer
Zentralgefängnis) geschickt wurden. Selbst seinen begabtesten Schü-
ler, den Romancier Boris Pilnjak, konnte er nur vorübergehend
schützen unmittelbar nach Gorkis eigenem Tod wurde er liquidiert.
;

Auseinandersetzungen zwischen Gorki und Stalin in der Frage der


Säuberung treten sogar in jenem einzigen veröffentlichten Brief in
Erscheinung. Gorki hatte damals (1930) für eine wichtige publizisti-
sche Unternehmung Karl Radek vorgeschlagen, den glänzenden Po-
litiker und Literaten aus der alten bolschewistischen Garde. Stalin
antwortete unmißverständlich »Nur muß hinzugefügt werden, daß
:

wir keine dieser Unternehmungen der Führung Radeks oder eines


anderen seiner Freunde überlassen dürfen. Es handelt sich nicht um
die guten Absichten Radeks oder seine Gewissenhaftigkeit. Es han-
delt sich um die Logik des Fraktions kämpfes, von dem er und seine
Freunde sich nicht völlig losgesagt haben (es sind einige wichtige
Meinungsverschiedenheiten geblieben, die sie zum Kampf treiben
werden). Die Geschichte unserer Partei (und nicht nur unserer Partei)
lehrt, daß die Logik der Dinge stärker ist als die Logik der Absichten
der Menschen. Es wird richtiger sein, wenn wir die Führung dieser
Unternehmungen politisch standhaften Genossen übertragen, Radek
aber und seine Freunde als Mitarbeiter heranziehen. Das wird richti-
ger sein.« Stalin schloß diesen Brief an den Dichter mit der leutseli-
gen Frage, ob er ihm einen russischen Arzt zur Behandlung nach
Italien schicken solle.
Die Ereignisse gingen dramatisch zu Ende
Juni 1936: Tod Gorkis - August 1936: Prozeß gegen Sinowjew,
Kamenew und andere (16 Todesurteile) - Januar 1937 Prozeß gegen :

Pjatakow, Radek und andere (13 Todesurteile) - Juni 1937: Prozeß


gegen Marschall Tuchatschewski und andere (8 Todesurteile) -
März 1938: Prozeß gegen Bucharin, Rykow, Jagoda und andere
(18 Todesurteile) . . .

In dem letzten der Prozesse wurden die Hintergründe von Gorkis

36
Tod aufgedeckt. Stalins bisheriger GPU-Chef Jagoda, nun als
»Trotzkist« selbst unter Anklage, wurde für die Ermordung des
Dichters und seines Sohnes M. A. Peschkow verantwortlich ge-
macht. Nach der offiziellen Darstellung, die damals ausgegeben
wurde, erkrankte Gorki im Frühjahr 1936 in Moskau an einer schwe-
ren Grippe. Sein Leibarzt Dr. Lewin führte unter Druck Jagodas
eine künstliche Verschlechterung herbei; die Krankheit entwickelte
sich - wie schon zuvor bei Gorkis Sohn - zu einer kruppösen Lun-
genentzündung. Lewin gestand: »Die bei Gorki angewandte Taktik
bestand in der Verwendung von Medikamenten, die bei einer solchen
Erkrankung im allgemeinen indiziert sind und deren Verabreichung
daher weder Zweifel noch Verdacht erregen konnte. Zu den Mitteln,
die der Anregung der Herztätigkeit dienen, gehören Kampfer,
Koffein, Cardiazol und Digalen. Wir [Ärzte] haben das Recht, diese
Medikamente bei bestimmten Herzkrankheiten zu gebrauchen. Aber
im vorliegenden wurden enorme Dosen verabreicht. Der Patient
Fall
erhielt beispielsweise im Laufe von 24 Stunden vierzig Kampfer-
injektionen. Diese Dosis war für ihn zu stark.
. Dazu kamen zwei
. .

Digalen-, vier Koffein- und zwei Strychnin-Injektionen .«


. .

Diese grausige Darstellung vom Tod des Dichters ist bis heute
nicht widerrufen worden.
:

Stanislawski und sein System

Sie sprechen über das System wie über ein Strafgesetzbuch. Dem einen Dar-
stellerwerfen Sie vor, daß er keine Beziehung zu seinen Partnern hat, dem
anderen, daß er nicht an die gegebenen Umstände glaubt, dem dritten, daß
er nicht sieht, dem vierten, daß er nicht hört usw. Wenn man Ihnen so zuhört,
dann ist es nicht ein schöpferischer Prozeß, sondern irgendein obligatorischer
Erlaß, nach dem zu leben und zu arbeiten allen Theatern vom Stadthaupt-
mann Stanislawski befohlen wurde. Ich garantiere Ihnen, daß die Schauspieler
das System hassen werden, wenn man es mit Gewalt einführen will . . .

Stanislawski zu einem »Stanislawskisten«

In seinen Lebenserinnerungen berichtet Stanislawski, wie das Mos-


kauer Künstlertheater (MCHAT) die Oktoberrevolution erlebte
»An diesem Abend wurden Truppen in Richtung auf den Kreml
hin zusammengezogen, man spürte allerlei geheimnisvolle Vorberei-
tungen; schweigende Menschenmassen strömten in einer bestimm-
ten Richtung. Im Gegensatz dazu waren die Straßen in anderen Ge-
genden vollkommen leer, die Laternen gelöscht, die Polizeiposten
eingezogen. Im Theater sammelte sich zur gleichen Zeit eine tau-
sendköpfige Menge, um den >Kirschgarten< anzusehen, in welchem
das Leben gerade der Leute dargestellt wird, gegen die der Aufstand
vorbereitet wurde.
Der Zuschauerraum war diesmal fast ausschließlich mit einfachem
Publikum gefüllt. Er summte vor Erregung. Die Stimmung zu bei-
den Seiten der Rampe war sehr unruhig. Wir Schauspieler standen
in Erwartung des Spielbeginns maskiert am Vorhang und lauschten
dem Getöse der Menge. >Wir werden das Stück nicht zu Ende spie-
len können !< sagten wir. >Man wird uns von der Bühne jagen. <
Als der Vorhang aufging, schlugen unsere Herzen in Erwartung
etwaiger Ausschreitungen, aber Mochten Tschechows Lyrik,
. . .

die Schönheit der russischen Poesie in der Darstellung des dahin-


sterbenden Herrengartens noch so unzeitgemäß für den damaligen
Augenblick scheinen, übten sie doch auch in dieser Umgebung ihre
Wirkung aus. Es war eine der gelungensten Aufführungen, was die
Aufmerksamkeit des Zuschauers betrifft. Es hatte den Anschein, als
wollten sie noch einmal aufatmen in der Atmosphäre der Poesie, sich
für immer vom alten, Sühneopfer fordernden Leben verabschieden.
Die Aufführung endete mit lärmendem Beifall doch aus dem Thea-
;

ter gingen die Zuschauer schweigend - vielleicht waren unter ihnen


auch solche, die sich zum Kampf für ein neues Leben rüsteten. Sehr
bald begann eine Schießerei, und ihr ausweichend, gelangten wir mit
knapper Not nach Hause.
Die Oktoberrevolution war ausgebrochen. Das Eintrittsgeld
wurde abgeschafft, die Eintrittskarten wurden eineinhalb Jahre lang
nicht verkauft, sondern in die Behörden und Fabriken geschickt,
und wir hatten nach Erlaß des Dekrets über das Theater ganz neue
38
Zuschauer, von denen wohl die meisten weder in unserem noch
überhaupt in einem Theater gewesen waren. Gestern hatte ein ge-
mischtes Publikum das Theater gefüllt, unter dem sich auch Intelli-
genz befand; heute hatten wir eine, völlig neue Zuhörerschaft vor
uns, von der wir nicht wußten, wie wir uns ihr gegenüber verhalten
sollten. Auch sie wußte nicht, wie sie uns begegnen und wie sie sich
mit dem Theater anfreunden sollte. Natürlich änderten sich in der
ersten Zeit das Regime und die Atmosphäre des Theaters mit einem
Schlag. Wir mußten ganz von vorn anfangen, den in seiner Einstel-
lung zur Kunst völlig primitiven Zuschauer stillsitzen lehren, ihm
beibringen, daß er sich nicht unterhalten, rechtzeitig seinen Platz ein-
nehmen, nicht rauchen, keine Nüsse knabbern, den Hut abnehmen
solle und daß man im Theater nicht seine Butterbrote auspackt.«
Aus diesen Zeilen spürt man recht deutlich, wie fern 1917 das
Moskauer Künstlertheater den revolutionären Massen stand. Stani-
slawski empfand sich und sein Werk ganz bewußt als einen integralen
Bestandteil jener alten Welt, die damals in Rußland zugrunde ging.
Sein Instinkt täuschte ihn nicht: Zwar rettete die Verstaatlichung
sein immer in finanziellen Nöten befindliches Theater vor dem Bank-
rott, aber zugleich fiel die gesamte parteiamtliche Kritik über Sta-
nislawskis »bürgerlich-intelligenzlerische« Kunst her. Als der Mei-
ster seine Loyalität gegenüber dem bolschewistischen Regime er-
klärte, höhnte die Sowjetpresse: »Die Rede K. S. Stanislawskis, des
Vertreters aller Greise des Moskauer Künstlertheaters, zeigt die
äußerste ideologische Hilflosigkeit und geistige Entfremdung dieser
Gruppe von unserer Epoche. Sie verstehen ganz und gar nicht, in
welcher Epoche sie leben, und darum ist es äußerst naiv, an sie ir-
gendwelche Forderungen ideologischer Art zu stellen .« Stani-
. .

slawskis System sei durch und durch bürgerlich, subjektiver Idealis-


mus, durchdrungen von Metaphysik, Mystizismus, Sensualismus,
Mechanistizismus und allen anderen idealistischen Übeln - »nichts
anderes als ein Selbstbetrug, eine abstrakte hysterische Moral, die von
bürgerlichen Ideologen zur besseren Erhaltung der kapitalistischen
Grundsätze erdacht wurde«.
Es bedurfte der Autorität einiger gebildeter hoher Parteiführer,
um Rußlands bestes und berühmtestes Theater vor der Liquidierung
zu bewahren. »Wenn es ein Theater gibt, das wir aus der Vergangen-
heit auf jeden Fall herüberretten und erhalten müssen, dann ist es na-
türlich das Moskauer Akademische Künstlertheater«, schrieb Lenin
persönlich, und der einsichtige Volkskommissar für Volksbildung,
Lunatscharski, schickte das umstrittene Ensemble erst mal für zwei
Jahre auf Tournee durch Europa und Amerika, auf daß es den ärg-
sten revolutionären Wirbel überstehen und derweil Propaganda für
die kulturelle Toleranz der Sowjetregierung machen sollte.
Niemand kam damals auf die Idee, daß Stanislawskis Theater-
arbeit auch nur das geringste mit dem Kommunismus zu tun haben
könnte. Er galt allenfalls als der große Unzeitgemäße, dem sogar die

39
Revolution ihre Reverenz erweist. Doch als Stanislawski 1938 starb
- ohne inzwischen sein System geändert und zu seiner Lebensarbeit
etwas Nennenswertes hinzugefügt zu haben -, war er mit den höch-
sten Auszeichnungen des bolschewistischen Regimes, dem Orden
des Roten Banners und dem Lenin-Orden, dekoriert worden; sein
System galt als kommunistisches Dogma, als die alleingültige Me-
thode des Sozialistischen Realismus auf dem Theater. Um diese er-
staunliche Metamorphose zu verstehen, muß man den ganzen Wust
von Legenden und Mißverständnissen abtragen, unter dem in-
zwischen Leben, Werk und Gedankengut Stanislawskis begraben
wurden.

Konstantin Sergejewitsch Alexejew wurde 1863 in Moskau als


Sohn eines Fabrikanten geboren. Im Hause der Alexejews spielte
man Liebhaber-Theater, wie man auf die Jagd zu gehen pflegt, reitet
und Roulette spielt, eine Loge in der Großen Oper hat und rau-
schende Bälle veranstaltet. Mit dem wachsenden Reichtum, den der
jähe Aufschwung des Kapitalismus in Rußland in die Häuser der
Großkaufleute und Unternehmer spülte, erwachte aber nicht nur
das Interesse, sondern auch das Verantwortungsbewußtsein dieser
Klasse für die Künste. Ein Tretjakow förderte die Malerei, ein Ma-
montow die Oper - Konstantin Alexejew, der sich auf der Bühne
Stanislawski nannte, um den Ruf seiner Familie nicht zu gefährden,
opferte nach und nach sein ganzes Vermögen dem Theater. In der
Moskauer Öffentlichkeit nannte man seine Theaterideen den törich-
ten Spleen eines eingebildeten und eigenwilligen Kapitalisten. Das
Künstlertheater, das Stanislawski zusammen mit dem Schriftsteller
und Dramaturgen Wladimir Nemirowitsch-Dantschenko im Jahre
1898 gründete, wurde finanziert von der Direktion der Philharmoni-
schen Gesellschaft, einer Institution der reichen Moskauer Kaufmann-
schaft, später ganz allein von dem Großindustriellen Sawwa Moro-
sow. Dieser Mann, der viele Eisenbahnlinien Rußlands baute, Zehn-
tausende von Rubeln für den Parteifonds der Bolschewisten stiftete
und sich schließlich nach einer Revolte seiner Arbeiter erschoß, be-
diente in Stanislawskis Theater höchstpersönlich den Beleuchtungs-
und Maschinenapparat. Der Kern des Ensembles stammte aus Alexe-
jews privatem Theater klub, in dem sich Söhne und Töchter der Mos-
kauer Bourgeoisie mit angesehenen Schauspielern zusammengefun-
den hatten.
Man muß Stanislawskis Ideen aus diesem, sozialen Ursprung heraus
verstehen. Sie sind geboren aus dem Fortschrittsoptimismus der
Gründerjahre. »Ich wurde an der Grenze zweier Epochen geboren«,
so beginnt Stanislawski seine Autobiographie. »Ich war Zeuge der
Entwicklung vom Talglicht zum elektrischen Scheinwerfer, von der
Reisekutsche zum Flugzeug, vom Segelschiff zum U-Boot, von der
Kurierpost zum Telegraphen, vom Steinschloßgewehr zur Dicken
Bertha, von der Leibeigenschaft zum Bolschewismus.« Vom
Stand-

40
punkt der Generation, die es so herrlich weit gebracht, blickte Sta-
nislawski nun auf die Theatergeschichte und wunderte sich, »daß ein
so ehrwürdiger Greis wie unser Theater, das schon vor Christi Ge-
burt entstand, sich bis heute noch beinahe im Urzustand befindet und
immer noch naiv seine Kunst einerseits auf die >Intuition< gründet,
das heißt auf die zufällige Eingebung, die vom Himmel hernieder-
gesandt wird, und andererseits auf die grobe, äußerliche, veraltete,
rein handwerksmäßige Schauspielertechnik, die man für inneres
Schöpfertum hält«. Er sah seine Lebensaufgabe darin, die Schauspiel-
kunst so zu vervollkommnen, daß sie den Ansprüchen des wissen-
schaftlichen Zeitalters genüge.
Es ist erstaunlich, mit welcher Herablassung er nicht nur auf die
ohne Zweifel heruntergekommene Schauspielerei der akademischen
Theater seiner Jugendzeit, sondern auch auf die berühmtesten Thea-
terepochen niedersah. »Ich habe versucht, auf den Trümmern des
Theaters von Pompeji zu rezitieren«, berichtete er einmal in einem
Aufsatz. »Obgleich ich gewohnt bin, laut zu sprechen, konnte man
mich nur hören, wenn ich die Stimme sehr anstrengte und jedes Wort
scharf prononciert hervorbrachte. Und je mehr ich meine Ohnmacht
in dem grenzenlosen Raum des offenen Theaters fühlte, um so stärker
wurde der Wunsch, mir durch Schreien, Bewegungen und Mimik zu
helfen, um so mehr empfand ich die Notwendigkeit des Kothurns,
um größer zu sein, des Schalltrichters, um besser gehört zu werden,
einer outrierten Sprechweise, um besser verstanden zu werden, scharf-
geschnittener Masken und übertriebener Gesten, um ausdrucksvoller
zu wirken.« Und er folgerte: »Bei diesen äußeren Bedingungen des
Schaffens konnte die Kunst der Schauspieler des antiken Griechen-
lands nicht groß sein, wenigstens von unserem Standpunkt aus.«
In dieser Einschätzung haben wir bereits die entscheidende Schwä-
che in Stanislawskis Überlegungen: sein Unverständnis dafür, daß es
in der Schauspielkunst so etwas wie einen Stil gibt, daß sich der Aus-
druckswille, daß sich das künstlerische Ziel der Zeiten ändert und
die größtmögliche Annäherung an die alltägliche Wirklichkeit durch-
aus nicht immer und überall als der Gipfel der Kunst angesehen wird.
Der Gedanke kam ihm gar nicht, daß die Akteure des alten Mimos
oder die Schauspieler am Hof des französischen Sonnenkönigs viel-
leicht überhaupt keinen Wert auf die Natürlichkeit der Empfindun-
gen legten, daß sie sie bewußt verwarfen wie die mittelalterlichen
Maler die Perspektive.
Schon in einigen Kindheitserlebnissen, die sich tief in Stanislaws-
kis Seele eingeprägt haben, kommt die Grundtendenz seiner komö-
diantischen Entwicklung zum Ausdruck. Einmal beschäftigte man
sich im Landhaus der Alexejews mit dem Stellen lebender Bilder,
einer damals beliebten Unterhaltung der guten Gesellschaft, und for-
derte den vierjährigen Konstantin auf, zum Schein ein Hölzchen ins
Feuer zu stecken. »Verstehst du? Nur so tun, als ob - aber nicht in
Wirklichkeit!« Der Kleine verursachte prompt einen Brand, so daß

41
eine Panik ausbrach. Stanislawski kommentierte dieses Erlebnis in
seinen Erinnerungen »Ich hatte sicher schon damals, wenn vielleicht
:

auch unbewußt, bei der völlig gedankenleeren Untätigkeit auf der


Bühne ein Gefühl der Ungeschicktheit und Verlegenheit und fürchte
bis auf den heutigen Tag auf der Bühne nichts mehr als dieses.« Et-
was älter, zog er mit einem Freund als Bettler und Trunkenbold ver-
kleidet auf den Bahnhof und erschreckte dort Fremde und Bekannte.
Man schenkte ihnen Kleingeld, ließ die Hunde auf sie los, und die
Wärter jagten sie vom Bahnsteig. »Und je schlimmer man mit uns
umsprang, desto mehr war unser Schauspielergefühl befriedigt. Je-
der erneute Rausschmiß bedeutete ja, daß wir gut spielten. Durch die
Praxis hatte ich nun genau beurteilen gelernt, was Gefühl für richti-
ges Maß ist.«
Daßes jedoch mit dem so gewonnenen Gefühl eine zweischnei-
dige Sache ist, mußte er bei seinem ersten ernsthaften Debüt als
Schauspieler erleben. Er sollte einen Ritter in einem Stück von
Puschkin spielen und ließ sich zur seelischen Vorbereitung in den
Keller eines alten Schlosses einsperren: »Es war gruselig dort und
einsam; es war finster, Ratten gab es in Unmengen, und es war feucht.
All diese Widerwärtigkeiten machten es mir unmöglich, mich auf die
Rolle zu konzentrieren. Und als ich nun noch anfing, den mir be-
reits zum Halse heraushängenden Text vor mich hin zu sprechen,
war das vollkommener Blödsinn. Dann wurde mir entsetzlich kalt,
und ich fürchtete allen Ernstes, mir eine Lungenentzündung zu ho-
len. In dieser Angst war mir nun ganz und gar nicht nach Rollen-
studium zumute. Ich klopfte, doch niemand öffnete. Mir wurde tat-
sächlich himmelangst, und ich fürchtete um meine Gesundheit. Aber
diese Furcht hatte nicht das geringste mit meiner Rolle zu tun. Das
einzige Ergebnis des Experiments war ein heftiger Schnupfen und
eine noch größere Verzweiflung.« Stanislawski sah ein: »Es lag offen
zutage, daß, um ein Tragöde zu werden, es nicht genügt, sich mit
Ratten in einen Keller einzusperren, sondern daß doch noch etwas
anderes notwendig ist.« Zu solcher Erkenntnis sollte Stanislawski in
seinem Theaterleben noch öfter kommen. Als großer intuitiver
Künstler begriff er durchaus, daß der nackte Naturalismus nicht ge-
nügt, er versuchte immer wieder, sich davon frei zu machen, fiel aber
jedesmal auf seine ursprüngliche Plattform zurück. Alle Versuche
Stanislawskis waren Variationen zum Grundthema des Naturalismus,
Versuche seiner Überwindung, Bereicherung, Vergeistigung, aber
stets doch nur Arabesken um ein und dieselbe Linie, die er die
»Wahrheit der Empfindung« nannte.
Im Leben Stanislawskis gab es eine ganze Kette von Grotesken
und Absurditäten, die aus der naturalistischen Konzeption geboren
wurden. Als das Künstlertheater mit dem lange verboten gewesenen
Stück des älteren Alexe Tolstoj >Zar Fjodor Iwano witsch < sein De-
j

büt gab (Zar und Zarin: Iwan Moskwin und Olga Knipper, zwei
junge, unbekannte Schauspieler, die bald weltberühmt sein sollten),

42
da stand und fiel für Stanislawski die Aufführung mit der Beschaf-
fung historisch getreuer Gewänder und Requisiten. Man durch-
stöberte Museen und Gewandkammern, fuhr über Land, um in den
Lagern der Kaufleute und in den Truhen der Bauern nach verborge-
nen Kostbarkeiten zu suchen. Berge von Stickereien, Stoffetzen,
Schmuckgegenständen wurden zusammengetragen. Als das Ma-
terial ihn immer noch nicht befriedigte, fuhr Stanislawski selbst auf
den Nishni Nowgoroder Jahrmarkt und ergatterte von einem Tröd-
ler einen regelrechten Kehrichthaufen, aus dem er Goldstickereien
und altes Schnitzwerk hervorlugen sah. Als man >Othello< zu spielen
beabsichtigte, schickte man eine Expedition nach Cypern, um am
Ort der Handlung (der Shakespeare selber bei der Niederschrift völ-
lig unbekannt gewesen sein dürfte) Studien anzustellen. Vor der
Aufführung von > Julius Cäsar < reisten der Regisseur Nemirowitsch-
Dantschenko und der Bühnenbildner Simow nach Rom; für die
Inszenierung eines Ibsen-Stückes bestellte man Möbel aus Nor-
wegen.
Stanislawski baute hinter der Bühne noch ganze Zimmer auf, die
zwar das Publikum nicht sehen konnte, die aber die Schauspieler
schon vor dem Auftritt in die rechte Stimmung versetzen sollten.
Einmal führte ein Schauspieler des Künstlertheaters einen deutschen
Gast über die Bühne und zeigte ihm unter Zeichen der Ehrfurcht in
einem verschlossenen Schrank einen kleinen, gleichfalls verschlos-
senen Schrein, in dem sich eine erlesene Kostbarkeit befand. Der
Deutsche fragte erstaunt: »Ja, ich habe doch das Stück mindestens
dreimal gesehen: der Schrein wird doch bei euch während dieses
Stückes niemals geöffnet?« Der Russe erwiderte lächelnd: »Es ist
ja auch nicht nötig, daß er geöffnet wird. Wenn wir spielen, freuen

wir uns alle in dem Gedanken, daß hier in dem verschlossenen


Schrein diese kleine Schönheit steht.« Der Schauspieler Friedrich
Kayßler, der diese Anekdote mitteilte, sah in dem unsichtbaren Re-
quisit so etwas wie einen Talisman des Ensembles, der das innige
Zusammengehörigkeitsgefühl der Truppe verkörpert - auf die Idee,
daß die Anordnung mit dem schauspielerischen Produktionspro-
zeß zusammenhängen könnte, kam er nicht.
Alles wurde getan, um die Wirklichkeit selbst, das ganz unmittel-
bare, natürliche Erlebnis auf die Bühne zu bringen: Köstlich ist die
Geschichte, wie man für Tolstojs >Macht der Finsternis < eine ver-
hutzelte alte Bäuerin auftrieb, deren urwüchsiges Stegreifspiel das
ganze Ensemble in Entzücken versetzte - leider mußte man sie dann
doch noch kurz vor der Premiere absetzen, weil sie zu viele Unflätig-
keiten in den Tolstojschen Text mischte. (Stanislawski hätte das noch
hingehen lassen, aber man mußte mit der zaristischen Zensur rech-
nen.) Und mit Schmunzeln liest man Stanislawskis befriedigten Be-
richt, wie er einmal den Ferdinand in >Kabale und Liebe < besonders
überzeugend gespielt habe: Er war nämlich in die Darstellerin der
Luise, seine Kollegin Lilina, verliebt, und die beiden küßten sich so

43
:

natürlich, daß das Publikum seine Freude hatte. (Maria Perewostschi-


kowa, genannt Lilina, wurde später seine Frau.) »In dieser Auf-
führung spielte ich weniger mit Technik, dafür um so mehr aus der
Intuition. Aber es war nicht schwer zu erraten, wer uns inspirierte
Apoll oder Hymen?« Ach, wenn man doch immer so natürlich spie-
len könnte - das ist und bleibt der Stoßseufzer Stanislawskis.
Als Stanislawski auf die Bühne des russischen Theaterlebens trat,
war das Bedürfnis nach Natürlichkeit die Forderung des Tages. Die
tonangebend gewordenen kommerziellen und intellektuellen Kreise
verlangten eine Verbürgerlichung des Theaters. Bis dahin herrschte
auf den Bühnen der elegante, glatte, formalartistische Stil des höfi-
schen Theaters, die erstarrte Pose, die nichtssagende Tänzelei, die
geheiligte, verstaubte Konvention - das Theater als Schaustellung.
Nun wollte man Wahrheit - nicht schönen Schein, Leben - nicht Stil,
Natur - nicht überzüchteten Ästhetizismus. Es war eine gesamt-
europäische Bewegung, die da vor sich ging. Die Gastspiele der
Meininger, der berühmten Truppe des Theaterherzogs Georg IL,
lösten bei Stanislawski die entscheidenden Impulse aus. Zum ersten
Mal sahen er und seine theaterbegeisterten Freunde aus der Mos-
kauer Jeunesse doree auf der Bühne ein Spiel, wie sie es immer er-
sehnt hatten - »mit historischer Treue der jeweiligen Epoche, mit
Volksszenen, mit einer wunderschönen äußeren Form der Auffüh-
rung, mit einer erstaunlichen Disziplin und der ganzen Organisation
eines großartigen Feiertags der Kunst«. Stanislawski versäumte
und studierte regelrecht
nicht eine Vorstellung die Inszenierungs-
methoden des Meininger Regisseurs Chronegk.
Auch die Einrichtung eines »Künstlertheaters für alle« durch
Stanislawski und Nemirowitsch-Dantschenko hatte westeuro-
päische Vorbilder: das Th6atre libre von Andr6 Antoine in Paris
und die Freie Bühne von Otto Brahm in Berlin. Das Programm der
Stanislawskischen Theaterrevolution, das Programm des Künstler-
theaters, entsprach weitgehend den Tendenzen des französischen
und deutschen Naturalismus: »Wir protestierten gegen die frühere
Art des Spielens, gegen die schauspielerische Routine, gegen das ver-
logene Pathos, die Deklamiererei, gegen das schauspielerische Über-
treiben, gegen die albernen Konventionen in Inszenierung und
Bühnenbild, gegen das Starsystem, welches das Ensemble verdirbt,
überhaupt gegen den ganzen gewöhnlichen Ablauf der Vorstellun-
gen sowie gegen den nichtigen Spielplan der damaligen Theater.«
Dies alles - Stil, Programm und Organisation - war also Ausläufer
der allgemeinen naturalistischen Woge, die mit einer gewissen Ver-
spätung auch in die Hauptstädte Rußlands trieb.
Andererseits wird man aber der Leistung des Künstlertheaters
nicht gerecht, wenn man in seiner Arbeit nur einen Abklatsch des
westlichen Naturalismus sieht. Als das Ensemble 1906 in Berlin ga-
stierte, zu einer Zeit also, da das Berliner Publikum des Naturalismus
längst überdrüssig war, da die Epoche Max Reinhardts schon be-

44
gönnen hatte, errang das Spiel der Stanislawski-Truppe einen trium-
phalen Erfolg. Der Dichter Gerhart Hauptmann schrieb »Ich habe
:

für meine Stücke immer solch ein Spiel erträumt, wie ich es bei Ihnen
gesehen habe - ohne jede theatralische Vergewaltigung und Kon-
vention -, ein einfaches, tiefes, gehaltvolles Spiel. Die deutschen
Schauspieler haben immer behauptet, meine Träume seien unerfüll-
bar, das Theater besäße Forderungen und Konventionen, die nicht
verletzt werden dürften. Jetzt aber habe ich gesehen, wovon ich mein
ganzes Leben geträumt habe.« Und Alfred Kerr, Berlins gefürchtet-
ster Kritiker, rief den Russen nach »Das schmerzlichste ist Jetzt
: :

geht ihr weg, und ich weiß nicht genau, wer ihr gewesen seid. Doch
ich weiß, daß ihr etwas Köstliches gewesen seid. Den Umfang eures
Wertes vermag ich nicht zu erforschen . .« Wenn das Spiel des Mos-
.

kauer Künstlertheaters Naturalismus war, europäische Theaterkunst


des ausgehenden 19. Jahrhunderts - und in diesen Zusammenhang
gehört es gewiß, wenn auch viel Urrussisches aus tiefsten Quellen
dazuströmte -, so war es sein Höhepunkt, eine oft ans Wundersame
grenzende Vollendung. Daß das Ensemble zu solcher Meisterschaft
reifte, verdankte es nicht nur der bei aller Einseitigkeit genialen Re-
giekunst Stanislawskis, sondern vor allem der Begegnung mit dreien
der größten russischen Dichter: Leo Tolstoj, Anton Tschechow und
Maxim Gorki.
Obwohl besonders die beiden letzteren vom Künstlertheater über-
haupt erst durchgesetzt wurden, war ihre Entdeckung nicht eigent-
lich Stanislawskis Verdienst. Was den Wert einer Dichtung angeht,
war er immer unsicher; er verschwendete an ein Schauerstück von
Gutzkow und an irgendwelche banalen Opern denselben En-
thusiasmus wie an die Werke Shakespeares. Der literarische Mentor
des Theaters, dessen Urteil er sich willig unterwarf, war Nemiro-
witsch-Dantschenko. In der achtzehn Stunden währenden Unter-
haltung der beiden Theaterleute, die der Gründung des Künstler-
theaters vorausging, wurde protokollarisch festgelegt, daß Stani-
slawski das bühnenkünstlerische, Dantschenko das literarische Veto
zustünde. Das eigentliche Verdienst Stanislawskis war die Erschlie-
ßung der Werke, die Herausarbeitung ihrer Bühnenwirksamkeit.
Leo Tolstoj z. B. erinnerte sich eines Gespräches, in dem Stanislawski
eine Änderung des Stückes >Macht der Finsternis < angeregt hatte,
noch nach Jahren, er ließ den damals noch wenig bekannten Regis-
seur zu sich kommen und eröffnete ihm: »Erzählen Sie mir doch
einmal, wie Sie den vierten Akt wiedergeben wollten. Ich werde es
Ihnen dann so niederschreiben, und Sie werden es danach spielen.«
An Tolstoj s Stücken entwickelte Stanislawski mit wechselndem
Glück seine sogenannte »historisch-wirklichkeitsgetreue Linie«. Er
erkannte dabei erstmals, daß der Naturalismus seine Grenzen hat,
und notierte nach einer Aufführung der >Macht der Finsternis < »Es :

war keine geistige Finsternis vorhanden, und deshalb schien auch die
äußere, die naturalistische Finsternis überflüssig.«

45
Tschechows >Möwe< war schon an einem Petersburger Theater
mit großem Skandal durchgefallen, als Nemirowitsch-Dantschenko
sie im ersten Jahr des Künstlertheaters auf den Spielplan setzte. Nur
mit Mühe gewann er die Zustimmung des Dichters, der einen neuer-
lichen Eklat befürchtete. Als Tschechow einmal bei einer Probe er-
schien, erzählte ihm ein Schauspieler, daß man bei der Aufführung
Frösche quaken, Hunde bellen und Grillen zirpen hören werde. »Wo-
zu das?« fragte Tschechow. »Das ist realistisch!« antwortete der
Schauspieler. »Realistisch?« erwiderte Tschechow. »Die Bühne ist
das Reich der Kunst. Wenn man in einem der schönen Gesichter auf
einem Genrebild von Kramskoj die gemalte Nase ausschneiden und
eine aus Fleisch und Blut einsetzen würde, wäre die Nase wohl
realistisch, aber das Bild zerstört.«
Vor der Aufführung wurde Tschechow krank, und man befürch-
tete, daß er bei seinem angegriffenen Gemütszustand einen neuen
Mißerfolg nicht überleben würde. Seine Schwester ersuchte die
Direktion des Theaters, die Premiere zu verschieben, was aber aus
finanziellen Gründen nicht möglich war. Bei der Premiere fieberten
die Mitwirkenden (in Hauptrollen Olga Knipper, die spätere Frau
:

Tschechows, Maria Lilina, die Frau Stanislawskis, und der junge


Meyerhold) vor Aufregung, eine Schauspielerin fiel in Ohnmacht -
das Schicksal des Theaters hing ja vom Ausgang des Abends ab. Als
nach dem ersten Akt der Vorhang fiel, herrschte minutenlang
Schweigen im Zuschauerraum, den Schauspielern dünkte es eine
Ewigkeit. Dann setzte ein Applaus ein, wie ihn das Theater noch nie
erlebt hatte ... - Die Möwe wurde von nun an das Wappentier des
Künstlertheaters.
Später hat Tschechow sich die Aufführung in einer Exklusivvor-
stellung angesehen. Er war sehr wenig angetan und wollte zuerst so-
gar die Erlaubnis zur Aufführung zurückziehen. »Wissen Sie«,
sagte er gelegentlich, »ich werde ein neues Stück schreiben, und das
wird folgendermaßen beginnen Wie wunderbar still ist es hier, kein
:

Vogel zu hören, kein Hund bellt, kein Kuckuck ruft, keine Eule
schreit, keine Nachtigall singt, keine Uhr schlägt, keine Glocken
läuten und nicht ein einziges Heimchen zirpt!«
Wie Stanislawski selber in seinen Erinnerungen zugibt, war das
naturalistisch orientierte Ensemble anfangs nicht imstande, die
Eigenart der Tschechowschen Stücke im Spiel der Darsteller zu er-
fassen, jenes »Aroma«, das der Dichter ausdrückt vor allem in den
poetischen Assoziationen und Valeurs, im Strom eingeschobener
Lyrik und in den unterschwelligen Stimmungen, den Nebentönen
und Pausen des Dialogs (dem »Untertext«, wie Stanislawski sagt).
Stanislawski konzentrierte sich auf die szenischen Elemente, auf De-
koration, Beleuchtung, Geräusche. Mit ihrer Hilfe hat er erstmals,
wenn auch oberflächlich, die Stimmung der Tschechowschen Dich-
tung bloßgelegt, jenes schwer bestimmbare Air träger Melancholie,
das in den angelsächsischen Ländern als chekhovian sprichwörtlich

46
geworden ist; er hat ferner die eigenartig verschwebenden, hand-
lungsarmen poetischen Gebilde, die wir niemals wieder missen
möchten, zu spielbaren Bühnenstücken entwickelt - ihre ganze Tiefe
freilich hat er, wie er mit der ihm eigenen intellektuellen Ehrlichkeit
zugesteht, noch nicht ausschöpfen können. Seine an Tschechow
orientierte »Linie der Intuition und des Gefühls« erscheint uns heute
als eine in ihrer Art bemerkenswerte impressionistische Variante des
Naturalismus.
Die Werke Gorkis boten Stanislawski Anlaß, seinem Stil eine
neue Nuance hinzuzufügen: die sogenannte »gesellschaftliche Linie«.
Im wesentlichen spielte er die Gorki-Stücke naturalistisch. Beispiels-
weise ließ er in der Pogromszene des Dramas >Kinder der Sonne <
eine tobende, schreiende und wild gestikulierende Menge derart
lebensecht in die Handlung einbrechen, daß viele Zuschauer an
wirklichen Aufruhr glaubten und Anstalten trafen, zu flüchten man ;

mußte in aller Eile den Vorhang fallen lassen. Als die Aufführung
des >Nachtasyl< vorbereitet wurde/ zog die ganze Schauspieler-
gesellschaft zwecks Milieustudium zum Chitrowmarkt, dem Mos-
kauer Landstreicherviertel. Sie schleppten Wodka und Wurst ins
Nachtasyl und tafelten mit den Vagabunden. Um
ein Haar wäre es
dabei zu einer ernsten Schlägerei gekommen, weil der Bühnenbild-
ner Simow ein aus der Illustrierten ausgeschnittenes Bild, das die
Asylbewohner zu Tränen rührte, nicht schön finden wollte.
Nun trat jedoch bei der Darstellung von Gorkis Werken eine zu-
sätzliche Schwierigkeit auf, wie man nämlich deren aufdringliche po-
litische Tendenz bewältigen sollte. Die Auseinandersetzung mit die-
sem Problem führte Stanislawski zu einer sehr fruchtbaren Auffas-
sung von der Interpretation politischer Stücke, die schon deshalb
näher zu betrachten lohnt, weil sie in eklatantem Gegensatz zum bol-
schewistischen Prinzip der Parteilichkeit steht. Der Regisseur machte
sich eine Erfahrung zunutze, die ihm in der revolutionären Zeit von
1905 mit einer Aufführung von Ibsens > Volksfeind < widerfahren war.
»In jener politisch erregten Zeit war in der Öffentlichkeit ein sehr
starkes Gefühl des Protestes lebendig. Man erwartete einen Helden,
der es wagen würde, der Regierung geradeheraus die grausame Wahr-
heit ins Gesicht zu sagen. Man brauchte ein revolutionäres Stück -
und machte den > Volksfeind < zu einem solchen. Das Werk wurde
beliebt, ungeachtet dessen, daß der Held eigentlich die geschlossene
Masse verachtet und sich in Lobeserhebungen für die Individualität
einzelner Persönlichkeiten ergeht, denen er die Leitung des Lebens
übertragen möchte. Doch Stockmann protestiert. Stockmann spricht
unerschrocken die Wahrheit, und das genügte, um einen politischen
Helden aus ihm zu machen Fortwährend, zudem an Stellen, bei
. . .

denen man es gar nicht erwartete, mitten in der Handlung, brausten


Stürme tendenziösen Händeklatschens durch das Haus. Es wurde
eine politische Demonstration. Die Atmosphäre im Saal war derart
gespannt, daß man jeden Augenblick die Schließung der Vorstellung

47
und Verhaftungen erwarten konnte. Im letzten Akt, in dem Stock-
mann seine durch die Menge verwüstete Wohnung
wieder in Ord-
nung bringt, findet er inmitten des allgemeinen Durcheinanders
seine schwarzen Hosen, die er am Tage vorher auf der öffentlichen
Versammlung getragen hat. Beim Anblick der Löcher in ihnen sagt
Stockmann zu seiner Frau: >Man soll nie seine besten Hosen an-
ziehen, wenn man hingeht und für Wahrheit und Freiheit ficht. <
Die im Theater Anwesenden bezogen diesen Satz unwillkürlich auf
den Zusammenstoß auf dem Kasaner Platz, wo wahrscheinlich eben-
falls viele neue Kleidungsstücke im Namen der Freiheit und der
Wahrheit zerrissen worden waren. Nach diesen Worten erhob sich
im Saal so lärmender Beifall, daß wir notgedrungen das Spiel unter-
brechen mußten. Einige sprangen von ihren Plätzen, stürzten an die
Rampe und streckten mir die Hände entgegen .« . .

Stanislawski fährt dann fort : »Doch wir, die Darsteller des Wer-
kes und der Rollen, dachten, als wir auf der Bühne standen, nicht an
Politik. Im Gegenteil, die durch die Aufführung hervorgerufenen
Demonstrationen kamen uns unerwartet, für uns war Stockmann
kein Politiker oder Versammlungsredner, sondern lediglich ein von
seinen Ideen besessener, ehrlicher und gerechter Mensch, ein
Freund seiner Heimat und des Volkes, wie es jeder ehrliche und
wahre Bürger des Landes sein sollte. So erschien die Aufführung
dem Zuschauer politisch, für mich hingegen war der >Volksfeind<
eines der Werke und der Inszenierungen, welche auf der Linie der
Intuition und des Gefühls lagen Ganz unerwartet sah ich mich
. . .

daher im Endergebnis auf der gesellschaftlichen Linie - von der In-


tuition über Wirklichkeitswiedergabe und Symbol zur Politik.«
In Gorkis >Nachtasyl< spielte Stanislawski den Satin (neben
Moskwin als Luka, Katschalow als Baron und der Knipper als Dirne
Nastja). Und da mußte er nun eine merkwürdige und unliebsame
Entsprechung zu den Erfahrungen im > Volksfeind < konstatieren:
»Als Darsteller ergab sich für mich eine Schwierigkeit Ich mußte in:

szenischer Interpretation die gesellschaftliche Stimmung der damali-


gen Zeit und die politische Tendenz des Autors, die in der Predigt
und den Monologen Satins ihren Ausdruck finden, wiedergeben. Ich
konnte daher in der Rolle des Satin mit Bewußtsein nicht das errei-
chen, was ich in der Rolle Stockmanns unbewußt erreicht hatte. Als
Satin spielte ich lediglich die Tendenz und dachte an die gesellschaft-
liche Bedeutung des Stückes, und die kam wie zum Trotz nicht
heraus. In der Rolle Stockmanns hatte ich weder an Politik noch an
Tendenz gedacht, und da war sie ganz intuitiv entstanden.« Daraus
folgerte er: »Gorkis lehrhafte, wie Predigten wirkende Monologe
muß man schlicht, mit natürlicher Anteilnahme, ohne verlogene
Theaterhaftigkeit und ohne Schwulst sprechen können. Sonst ver-
wandelt sich das seriöse Werk in eine Moritat.«
Diese Folgerung entspricht konsequent dem naturalistischen Den- !

ken, dem es ja nur um die Reproduktion der Wirklichkeit selbst

48
ging - die Tendenz des Naturalismus lag eben in dem Bekenntnis zur
untendenziösen Wahrheit, die nach Meinung der naturalistischen
Theoretiker allein deshalb revolutionär wirkt, weil die alte, aristo-
kratische Welt sich von der Wahrheit gelöst, das Leben vergewaltigt
hat. Um das Beispiel Stanislawskis zu strapazieren: Hätte nicht die
zaristische Polizei am Petersburger Blutsonntag die Demonstranten
so unmenschlich niedergeknüppelt, wäre aus Ibsens > Volksfeind <
nie ein revolutionäres Stück geworden. Daraus ergab sich die Kon-
sequenz, Gorkis aufgesetztes politisches Pathos nach Möglichkeit zu
unterspielen - eine Lösung, mit der Gorki selbst keineswegs einver-
standen war (so äußerte sich der Dichter über die erfolgreiche Auf-
führung des >Nachtasyl< »Mir ist dabei nicht sehr wohl zumute ...«).
:

Eine endgültige Meinung zu dem Problem hat Stanislawski dann


1925 in seinen Erinnerungen niedergelegt. Er schreibt da: »Tendenz
und Kunst sind unvereinbar, eins schließt das andere aus. Geht man
an die Kunst lediglich mit tendenziösen, zweckbetonten und anderen
nicht künstlerischen Grundideen heran, so welkt sie wie die Blume in
der Hand. In der Kunst muß die fremde Tendenz zur eigenen Idee
werden, sich in Gefühl verwandeln, zu aufrichtigem Streben, zur
zweiten Natur des Schauspielers werden. Dann geht sie in das geistige
Leben des Schauspielers, der Rolle, des ganzen Stückes ein und wird
nicht Tendenz, sondern eigenes Kredo. Mag der Zuschauer dann
seine eigenen Schlüsse ziehen und aus dem im Theater Aufgenom-
menen sich eine Tendenz schaffen. Die natürliche Folgerung bildet
sich im Geist und in der Seele des Zuschauers ganz von selbst aus der
durch den Schauspieler geschaffenen Prämisse.« In dieser Stellung-
nahme, die bereits vom Standpunkt des vollendeten Systems aus-
geht, wiederholt Stanislawski seine Absage an jede Tendenz im
Theater, und zwar mit außergewöhnlicher Schärfe, die sich aus seiner
Aversion gegen die nach der Oktoberrevolution ins Kraut geschos-
sene Parteidramatik erklärt. Doch leugnet er nun nicht mehr die
Rolle von Ideen in der Kunst. Das heißt, er hat inzwischen die platt
naturalistische Position zumindest philosophisch überwunden.

Stanislawskis Versuch, über den Naturalismus hinauszugehen, er-


folgteim Zuge einer tiefen inneren Schaffenskrise, deren Eigenart es
war, daß sie mit dem Höhepunkt des äußeren Erfolges, der ersten
großen Auslandstournee des Moskauer Künstlertheaters, zusammen-
fiel. Diese Periode, eine der folgenschwersten in seinem Leben, wird

im allgemeinen in der Literatur recht flüchtig behandelt und ist ins-


besondere von sowjetischen Verfälschungen derart verdeckt, daß
ihre Rekonstruktion geradezu sensationelle Aufschlüsse gewährt.
Mit den Ereignissen des Jahres 1905 (Niederlage Rußlands im Krieg
gegen Japan, erste russische Revolution und nach deren blutiger Nie-
derwerfung Einsetzen einer Periode finsterster politischer Reaktion)
hatte in Rußland die Epoche der großen Kriege, Revolutionen und
Konterrevolutionen begonnen, die den selbstgefälligen Fortschritts-

49
Optimismus des Bürgertums mit einem Schlage hinwegfegte. Auf die
Arbeit des Künstlertheaters wirkten sich diese Ereignisse vor allem
in der Notwendigkeit aus, das Repertoire umzustellen. Tschechow
war ein Jahr zuvor gestorben, Gorki mußte ins Exil, und im euro-
päischen Theaterleben trat eine neue literarische Richtung auf, die
mit naturalistischen Mitteln nicht mehr zu bewältigen war. Auf dem
Spielplan des Künstlertheaters herrschten nun Hamsun, Maeterlinck,
Dostojewski, der russische Dekadente Andrejew, der mittlere Haupt-
mann und der späte Ibsen.
Welch eine Wandlung ist festzustellen, wenn man die jetzt folgen-
den Inszenierungen des Künstlertheaters betrachtet! Über die Auf-
führung von Hamsuns >Spiel ins Leben < berichtet Stanislawski: »Auf
dem Jahrmarkt zwischen den Läden, die mit Lasten von Waren voll-
gestopft sind, zwischen der Menge der Käufer und Händler wütet
eine Choleraepidemie, die wie ein Alp auf allem lastet. Über die wei-
ßen Zelte der Händler gleiten wie auf einer Filmleinwand deren
schwarze, unheimlich wirkende gespenstische Schatten. Die Schat-
ten messen Stoff ab, während die Käufer teils unbeweglich stehen,
teils sich in ununterbrochener Folge vorbeischieben. Die Zelte er-
strecken sich in Reihen über die Absätze des Berges, wodurch die
ganze Fläche des Berges mit Schatten angefüllt ist, während andere
Schemen wie rasend auf dem Jahrmarktskarussell durch die Luft
sausen, sich hoch erheben und wieder zu Boden sinken. Gleich einer
Höllenmusik stürmen die Töne einer Drehorgel zischend und pfei-
fend hinter den Vergnügungssüchtigen her. Andere tanzen auf dem
Proszenium im Ausbruch der Verzweiflung wild umher und fallen
während ihres leidenschaftlichen Tanzes tot um, Opfer der Cholera.
Inmitten dieser >Orgie während der Pest< und des sinnlichen Chaos
muten das Erscheinen gespenstischer Musikanten oder das Nordlicht
auf dem Winterhimmel, ebenso wie das Getöse unterirdischer
Schläge im Steinbruch, wo athletische Arbeiter Marmor für den Gei-
zigen gewinnen, wie prophetische Zeichen an .« Die Aufführung
. .

endete mit einem spektakulären Erfolg. Die eine Hälfte der Zu-
schauer applaudierte ungestüm und schrie: »Tod dem Realismus!
Nieder mit den Heimchen und den Mücken! Hoch das fortschritt-
liche Theater! Es leben die Linken!« Die andere Hälfte zischte und
beklagte sich: »Schande dem Künstlertheater! Nieder mit den De-
kadenten! Es lebe das alte Theater!«
Bei der Aufführung von Andrejews tief pessimistischem >Leben
des Menschen < kleidete man alles in schwarzen Samt, der »den Büh-
nenraum zu einer grauenerregenden Gruft werden ließ, in der wir
Todeshauch zu spüren glaubten«. So nahm Stanislawski mit außer-
ordentlicher Kühnheit und Konsequenz die Zeichen der Zeit auf, die
seiner Arbeit völlig neue Perspektiven eröffneten.
Ein Kreis neuer Freunde trat in sein Leben ein. Da war der hoch-
begabte, einfallsreiche Musiker Ilja Saz, ein Komponist der linken
Richtung, der die Bühnenmusik auf neue Weise mit dem Spiel ver-

50
schmolz und eigenartige Volksmusik-Instrumente, Hirtenpfeifen,
Lyren, wie sie die alten Psalmodisten gebraucht hatten, und kau-
kasische Instrumente heranzog. Für seine Bühnenbilder gewann
das Künstlertheater moderne Maler, so den lyrischen Dobushinski,
den späteren Avantgardisten des Films Jegorow, schließlich Rörich
und Benois, die dem Djaghilew-Ballett nahestanden. Diese Berüh-
rung mit den Revolutionären verwandter Künste inspirierte Stanis-
lawski zu Experimenten auf dem eigenen Gebiet. Er gründete zu-
sammen mit seinem ehemaligen Schüler Meyerhold, der sich einst
aus Abneigung gegen den Naturalismus von ihm gelöst hatte, das
Studio auf der Powarskaja, das aber recht bald aus finanziellen Grün-
den wieder zusammenbrach. Die Legende von einer Urfehde zwi-
schen Stanislawski und Meyerhold wird am besten durch einige
Äußerungen des Meisters über ihr damaliges Verhältnis widerlegt:
»Ich war auf die Persönlichkeit gestoßen, die ich damals in der
Periode des Suchens so notwendig brauchte. Ich beschloß, Meyer-
hold bei seinen Neuinszenierungen zu helfen, die, wie es schien, mit
meinen Träumen ziemlich identisch waren.« Und an einer anderen
Stelle: »Aus den Protokollen und Briefen entnahm ich, daß wir
grundsätzlich einer Meinung waren und das suchten, was in anderen
Künsten schon gefunden war, in unserer aber noch nicht angewendet
werden konnte.«
Einige Jahre nach dem gescheiterten Unternehmen auf der Po-
warskaja gründete Stanislawski ein neues Studio (das sogenannte
erste, dem bald weitere folgen sollten), und zwar in Zusammenarbeit
mit einem seiner faszinierendsten Regieschüler, Leopold Sulershitzki.
Suler war früher einmal wegen Militärdienst- Verweigerung zu
Festungshaft verurteilt worden. Er war ein überzeugter Tolstojaner,
übertrug des Dichters Manuskripte ins reine und bekam von ihm den
Auftrag, die religiöse Sekte der Duchoborzen, pazifistische »Geistes-
kämpfer«, aus dem Kaukasus nach Kanada zu evakuieren. Zwei
Jahre leitete er diese kanadische Kolonie und ruinierte unter den un-
wirtlichen Verhältnissen seine Gesundheit. Zur Zeit seiner Arbeit
am Künstlertheater lebte er illegal in Moskau und nächtigte oft auf
den Boulevards. Durch ihn sind manche Elemente des Tolstojaner-
tums insbesondere in Stanislawskis Ethik eingegangen, z. B. die Vor-
stellung vom Theater als Stätte sittlicher Läuterung, von der Schau-
spielergemeinschaft als einer Art geistigen Ordens, einer Verbin-
dung von Schauspielpraxis mit tätiger Landarbeit und einer asketi-
schen Selbstvervollkommnung des Menschen als Voraussetzung
künstlerischen Schaffens. Sulershitzkis früher Tod im Jahre 1916
hatte die seltsame Folge, daß ausgerechnet er neben dem ebenfalls
jung dahingegangenen Wachtangow der einzige der großen Stani-
slawski-Schüler war, den die offizielle sowjetische Theatergeschichts-
schreibung gelten ließ; die beiden Frühvollendeten wurden nicht
mehr in die Kunstdiskussionen der Stalin-Zeit verstrickt.
Etwa zu gleicher Zeit geriet Stanislawski unter den Einfluß zweier
51
großer Künstler aus dem Westen: Isadora Duncan und Gordon
Craig. Als er zum ersten Mal den Ausdruckstanz der Duncan sah,
empfand er sofort, »daß in den verschiedensten Enden der Welt auf
Grund uns unbekannter Bedingungen verschiedene Menschen in
verschiedenen Gebieten von verschiedenen Seiten her in der Kunst
ein und dieselben regelmäßigen, ganz organisch entstandenen Schaf-
fensprinzipien suchen. Wenn sie sich treffen, sind sie über die Ge-
meinsamkeit und Verwandtschaft ihrer Ideen erstaunt. Gerade das
ereignete sich auch bei dieser Begegnung: wir verstanden einander
bei der ersten Andeutung«. Auf Anregung der Tänzerin lud Stani-
slawski ihren Freund Gordon Craig nach Moskau ein. Craig war
der große Bahnbrecher des symbolistischen Theaters und verstand
es, Stanislawski für seine Idee einer »Kunst der Bewegung« zu be-
geistern. Unter Assistenz von Stanislawski und Suler inszenierte er
den >Hamlet<, eine berühmt gewordene, anspruchsvolle, von vielen
revolutionären Regie- und Dekorationsideen getragene Aufführung,
die dem Künstlertheater neuen Glanz einbrachte (Hamlet: Wassili
Katschalow). Wenn man noch die Freundschaft und gegenseitige
Anregung berücksichtigt, die zwischen Stanislawski und Max Rein-
hardt bestand, wird deutlich, wie sehr der große Russe mit dem ge-
samteuropäischen Theater verbunden war, an dessen vorderster
Front er kämpfte und rang, bis die kommunistische Machtübernahme
diese Tendenz schließlich rigoros abschnitt.
Spricht man also davon, daß Stanislawski den Naturalismus in
Rußland durchgesetzt hat, darf man nicht vergessen, daß er auch den
Symbolismus und Surrealismus kreierte. Wir können heute schwer
beurteilen, welcher Rang den Aufführungen in Stanislawskis mitt-
lerer Periode, die man von 1905 bis 1917 rechnen muß, zukommt. In
Rußland errangen sie einen demonstrativen Erfolg, im Ausland sind
sie kaum bekannt geworden. Die sowjetische Literatur geht über
diese Periode, die Stanislawski als die seiner »künstlerischen Reife«
bezeichnet hat, begreiflicherweise mit wenigen Andeutungen, einem
dunklen Hinweis auf irgendwelche »idealistischen Irrtümer« hin-
weg. Stanislawski selbst steht in seinen Erinnerungen den Leistun-
gen dieser Zeit recht kritisch gegenüber, aber das will nicht viel be-
sagen, denn dieselbe negative Meinung hat er auch über die natura-
listischen Inszenierungen der Frühzeit, die in der ganzen Welt Sen-
sation machten. Die Wahrheit wird sein, daß diese mittleren Ein-
studierungen sich wie die frühen durch eine einseitige Genialität
oder geniale Einseitigkeit ausgezeichnet haben dürften.
Ihre entscheidende Schwäche war offensichtlich der Widerspruch,
der sich zwischen den neuen, ins Metaphysische zielenden Regievisio-
nen und der alten, am Naturalismus geschulten Schauspielerpraxis
auftat. »Nun begriff ich den Zwiespalt in mir«, notierte Stanislawski,
»das Mißverhältnis zwischen den inneren Anlässen schöpferischer
Gefühle und ihrer Darstellung durch den eigenen Körper.« Es ging ja
nicht mehr darum, die Alltagswelt widerzuspiegeln, sondern Träume,

52
Ahnungen und Sehnsüchte auszudrücken. Um dieses Ziel zu erreichen,
nahm er den Schauspielern bewußt alle äußeren Mittel der Verkör-
perung - Gesten, Bewegungen, Gänge und Handlungen -, »weil sie
mir damals als zu körperlich, realistisch, materiell erschienen, wäh-
rend ich eine körperlose Leidenschaft in ihrer unverbildeten Urform
brauchte, wie sie geradewegs aus der Seele des Schauspielers ent-
springt«. Der Erfolg war aber nur eine Verkrampfung, die sich nicht
wesentlich von jenen schauspielerischen Schablonen unterschied,
gegen die der junge Stanislawski einst ins Feld gezogen war.
Neidvoll studierte Stanislawski die Aussageweise der expressio-
nistischen Malerei und versuchte vor dem Spiegel, ihre Formen ins
Mimische zu übertragen. Aber er erblickte da nur eine Karikatur
seiner selbst - der Körper ließ sich nicht beliebig spiritualisieren.
»Mein Gott«, rief er aus, »sind wir Bühnenkünstler durch die Mate-
rialgebundenheit unseres Körpers also ewig dazu verdammt, Grob-
realem zu dienen und auch nur dieses darzustellen? Sollten wir wirk-
lich nicht berufen sein, über das hinausgehen zu können, was unse-
ren Realisten in der Malerei« - den heute in der Sowjetunion so ge-
feierten Genremalern des 19. Jahrhunderts - »zu ihrer Zeit so gut
gelang? Sollte unsere künstlerische Tätigkeit nicht mehr als die jener
Maler sein?« Er dachte an das schier immateriell erscheinende Ballett,
an die Akrobaten im Zirkus, die wie Vögel von Trapez zu Trapez
fliegen. In solcher Weise wünschte er seinen Körper beherrschen zu
lernen. Er wandte sich dem Sprachstudium zu und ersehnte für seine
Stimme einen Klang wie Musik. Es muß doch möglich sein, dies zu
erreichen, so sagte er sich, und erinnerte sich eines Erlebnisses, wie
einmal ein Schauspieler mit ausgesprochen schwacher Stimme ur-
plötzlich, als er von großen Schäferhunden angefallen wurde, einen
Schrei hervorstieß, der kilometerweit zu hören war. Also bedeutet
das, folgerte er, daß es nur darauf ankommt, ganz in dem Rollen-
erlebnis aufzugehen. Aber wie erreicht man solche Inspiration ohne
Krampf?
Schließlich gelang es ihm, eine höchst eigenartige Brücke von
seiner alten naturalistischen Schauspielermethodik zu den neuen
Ideen zu schlagen, nämlich vermittels der indischen Mystik, die da-
mals in Rußland gerade in Mode kam. Es ist eigentlich erstaunlich,
daß die meisten Biographen Stanislawskis (bei den sowjetischen ist
es allerdings selbstverständlich) an diesem Phänomen vorübergehen,
obwohl die Parallelität seines Systems zum Yoga doch schlagend ist.
Von hier stammt offensichtlich der Grundgedanke : die Beschwörung
der Intuition durch physische Übungen. Direkt nach dem Vorbild
der Yogi führte Stanislawski Konzentrations- und Autosuggestions-
übungen in den Schauspielunterricht ein. Von einer seiner Schau-
spielerinnen wird berichtet, daß sie sich vor dem Auftritt mit einem
Tuch bedeckte: Keiner durfte sie anreden; als einige Frechdachse
das Tuch hochhoben, um zu sehen, was sie mache, wurde sie böse
und sagte: »Sie reißen mich aus dem Kreis, und ich muß gleich auf

53
dieBühne.« Unter dem Einfluß der Yogamystik bekam der Grund-
gedanke seines Systems, das Aufgehen im Milieu, einen ganz ver-
änderten, seinen endgültigen Charakter. »Zur Zeit des Naturalis-
mus«, so schreibt er, »glaubte ich, daß der Regisseur den Alltag des
Lebens in Rolle und Stück deshalb studieren und erfühlen müsse,
um ihn dem Zuschauer so plastisch vor Augen führen zu können,
daß dieser veranlaßt wird, in dem auf der Bühne dargestellten Milieu
ganz selbstverständlich mitzuleben. Erst später erkannte ich die
wahre Bedeutung der echten Milieutreue. Die Milieutreue endet dort,
wo das Unterbewußtsein beginnt. Ohne Milieutreue, die mitunter
bis zum Naturalismus gehen kann, gibt es kein Eindringen in die
Sphäre des Unbewußten. Wenn der Körper nicht zu leben anfängt,
kann die Seele auch nicht glauben.«
Diese Rolle des Unbewußten beim schauspielerischen Gestal-
tungsprozeß, an der Stanislawski bis zum Ende festhielt, sollte es
eigentlich unmöglich machen, das System in den dialektischen Ma-
terialismus, der von der grundsätzlichen Erkennbarkeit der Welt
ausgeht, einzugliedern. In der Tat ist das Fallenlassen dieser Kom-
ponente einer der Gründe für die Verarmung der Methode unter
Stanislawskis sowjetischen Epigonen. Die Begegnung mit der indi-
schen Lehre und den irrationalen Strömungen in Europa am Anfang
des zwanzigsten Jahrhunderts war für Stanislawski das zweite Grund-
erlebnis seiner Laufbahn, nicht weniger aufwühlend als der Ein-
druck, den das naturwissenschaftlich-materialistische Denken des
ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts auf ihn ausgeübt hat. Leider
hat er keine Gelegenheit mehr gehabt, seine Erkenntnisse voll aus-
reifen zu lassen; die Vorbereitungen zu einer Aufführung von
Rabindranath Tagores > König der dunklen Kammer < wurden durch
die Oktoberrevolution abgebrochen. Der wesentliche Erfolg der
neuen Methode gelang eigentlich auf einer Nebenlinie: Die Auf-
führungen russischer Klassiker realistischen Typs, die im Künstler-
theater nach wie vor neben den modernistischen Unternehmungen
herliefen, verloren ihre naturalistische Erdenschwere und gerieten
lichter, subtiler, vergeistigter; Turgenjews Komödie >Ein Monat auf
dem Lande < wurde - noch vor dem Kriege - einer der schönsten
Erfolge des MCHAT. Da nach der Revolution nur noch diese Rich-
tung akzeptiert wurde (abgesehen von der kommunistischen Ten-
denzdramatik, die Stanislawski nicht spielte), blieb die Entwicklung
des Systems zwangsläufig in diesem Stadium stecken.

Die bolschewistische Oktoberrevolution bedeutete für das Mos-


kauer Künstlertheater einen tiefen Einschnitt in seine Arbeit, eine
neue, die zweite Krise, die dem zweiten Höhepunkt folgte. Stani-
slawski hat sich von diesem Schlag nicht wieder erholt, wenn auch
seine letzten Lebensjahre noch vom Glänze Stalinschen Wohlwollens
vergoldet waren. Nach der Revolution hatte der Meister versucht,
den Stimmungen der Zeit gerecht zu werden, und eine symbolisti-

54
sehe Aufführung von Byrons Mysterium >Kain< in Szene gesetzt,
die aber völlig mißverstanden wurde und trotz der Glanzleistung des
Hauptdarstellers Leonid Leonidow mit Pauken und Trompeten
durchfiel. Stanislawski machte seiner Verärgerung Luft, indem er
nun höchst unzeitgemäß Lecocqs alte Operette >Madame Angot<,
eine Verspottung der Französischen Revolution, auf den Plan seines
Musikalischen Studios setzte - eine Anzüglichkeit, die ihm natürlich
neue Anfeindungen eintrug. Nach der Auslandsreise, die dem Künst-
lertheater eine gewisse Atempause gewährte, geriet Stanislawski in
zunehmende Vereinsamung. Suler, Wachtangow, Ilja Saz und der
dem Theater verbundene russische Dramatiker Andrejew waren tot;
einige der besten Kräfte des Ensembles, darunter die Germanowa,
waren nach der Tournee im Ausland geblieben, wo auch Gorki und
Benois weilten. Meyerhold hatte einen ganz anderen Weg beschrit-
ten und stand als Theaterrevolutionär auf dem Gipfel der öffent-
lichen Anerkennung er forderte seinen ehemaligen Lehrer auf, sein
;

System zu verbrennen, sich von der alten »unseligen« Literatur zu


lösen und sich der revolutionären Bewegung zuzuwenden. Sogar der
treue Dantschenko - dessen eigene Stücke bei den Kommunisten
nicht gespielt werden durften - wandte sich avantgardistischen Ex-
perimenten zu; er übertrug die Prinzipien der Stilbühne auf das
Opernschaffen und arbeitete an der Heranbildung eines »syntheti-
schen«, d. h. universalen Schauspielers (über den Stanislawski ein-
mal spöttisch bemerkte: »Er macht alles: er singt Romanzen und
Couplets, deklamiert Verse, spricht den Text einer Rolle, spielt
Klavier oder Geige, tanzt Foxtrott, spielt Fußball, kann radschlagen
und auf den Händen gehen, spielt Tragödien und Vaudevilles -
natürlich das alles nicht als Fachmann, sondern als Dilettant . .«).
.

In dem Aufsatz eines sowjetischen Theaterkritikers von damals


hieß es: »Gerade zu dieser Zeit beginnt Stanislawski, sich vom
Künstlertheater zu entfernen. Er nähert sich allmählich jener Grenze,
hinter der für ihn die Zeit der tragischen Einsamkeit beginnt . . .

Man versteht ihn nicht mehr - ein Führer ohne Armee, ein Lehrer
ohne Schüler . . Zeugt diese ihrem Wesen nach tragische Erschei-
.

nung nicht von der furchtbaren Rache des Theaterschicksals, das


dem Künstler diesen einsamen Herbst sendet, nach einem hellen
Frühling und heißen Sommer, die in den Dienst eines entarteten
Theaters gestellt wurden?« Nur Volksbildungskommissar Luna-
tscharski hielt seine Hand schützend über den großen alten Mann,
wie er sie auch über Meyerhold hielt, als das Blatt sich wendete.
Stanislawski trat nur noch selten ans Regiepult, so um Klassiker
wie Ostrowski (>Heißes Herz<) und Gogol (>Tote Seelen <) zu insze-
nieren. An der glanzvollen Theaterepoche, die nach der Oktober-
revolution einsetzte, hatte er keinen Anteil; er verstand die neue Zeit
nicht mehr. »Ich glaube, daß ich viel von den Bestrebungen der
Jugend organisch nicht mehr erfassen kann«, bekannte er resigniert.
»Man muß den Mut haben, das einzugestehen. Sie wissen nach mei-
55
nen Erzählungen, wie man uns erzog. Vergleichen Sie uns mit der
jetzigen, in Gefahren und Foltern der Revolution gehärteten Gene-
ration! Unsere Epoche war die Zeit des friedlichen Rußlands, die
aber nur wenigen Zufriedenheit brachte. Die heutige Generation
steht unter dem Zeichen des Krieges und der Welterschütterungen
mit Hunger, Haß und Nichtverstehen. Wir erfuhren viel Glück,
teilten es aber selten mit unseren Nächsten und bezahlen jetzt für
unseren Egoismus. Die neue Generation kennt fast keine Freude, sucht
und schafft sie sich erst, ihren neuen Lebensbedingungen entspre-
chend, und ist bemüht, auf ihre Art die für das persönliche Leben ver-
lorenen Jugendjahre einzuholen. Wir dürfen sie nicht verurteilen .«
. .

Was hinderte eigentlich Stanislawski, der doch zweimal an der


Spitze einer Theaterrevolution in Rußland gestanden hatte, sich an
der Bewegung dieser erregenden Jahre zu beteiligen? War er zu alt
geworden, um noch einmal von vorn zu beginnen? Fühlte er sich
wirklich so sehr als Bürger, als Repräsentant des alten Rußlands,
welches die Revolution hinweggefegt hatte ? Oder schreckte ihn, den
doch ewigen Neuerer und Experimentator, etwa der avantgardisti-
sche Charakter der Bewegung, verabscheute er ihren »Formalismus«,
wie die spätere sowjetische Legende es wahrhaben will?
Es war primär etwas anderes die Abneigung gegen die Agitations-
:

und Tendenzdramatik. »Die Tragik der neuen Theaterrevolution


bestand darin, daß ihr Dichter noch nicht geboren war. Doch eben
auf ihm beruht unser Kollektivschaffen - ohne Dichter können
Schauspieler und Regisseure nichts anfangen. Das wollten offensicht-
lich die jetzigen Neuerer und Revolutionäre nicht wahrhaben. Hier-
aus entsprang naturgegeben eine Reihe von Fehlern und Mißver-
ständnissen, die die Kunst den verlogenen äußeren Weg gehen Hes-
sen. Erschiene heute ein Bühnenstück, das die Seele des modernen
Menschen genial widerspiegelte - in welcher Form es auch geschrie-
ben sein möge: impressionistisch, realistisch, futuristisch -, so
würden sich alle Theaterleute daraufstürzen und um seines geistigen
Gehalts willen beginnen, eine möglichst klare und anschauliche Dar-
stellungsform dafür zu suchen. Dieser innere Gehalt des Lebens des
menschlichen Geistes aber ist so groß und tief, da er aus schweren
Leiden, Kämpfen und Heldentaten, unter unendlich grausamen Ka-
tastrophen, Hungersnöten und revolutionärem Ringen hervor-
gewachsen ist.«
Was Stanislawski abstieß, war sicher nicht einmal sosehr das nied-
rige intellektuelle Niveau der Sowjetstücke - er hat in seiner natura-
listischen und symbolistischen Periode manche Machwerke ein-
studiert, außerdemhätte er ja Majakowski und Gorki spielen kön-
nen -, als vielmehr die Enge des Horizonts, die Verwandlung des
Theaters in eine Tribüne, die mit seiner Vorstellung von der Auf-
gabe des Theaters, das Leben des menschlichen Geistes darzustellen,
nicht vereinbar war. »Schön ist, was das Leben des menschlichen
Geistes auf der Bühne und von der Bühne herab erhaben macht, d. h.

56
die Gefühle und Gedanken der Darsteller und Zuschauer. Mögen die
Inszenierung des Regisseurs und das Spiel der Darsteller getrost na-
turalistisch, konventionell, links oder rechts gerichtet sein, mögen
sie impressionistisch, futuristisch sein! Ist das alles nicht unwesent-
lich, wenn sie nur überzeugend sind, das heißt wirklichkeitsgetreu
oder glaubhaft und schön, nämlich künstlerisch erhaben, und das
wirkliche Leben des menschlichen Geistes wiedergeben, ohne das
keine Kunst bestehen kann?«
Stanislawskis Antipathie gegen jegliche politische Tendenz auf
der Bühne trübte ihm nicht den Blick für die formalen Errungen-
schaften der kommunistischen Theaterrevolution - »Auch ich singe
ihnen Lobeshymnen«, schrieb er einmal, »doch mit Vorbehalt« -,
aber sie hielt ihn ab, sich an einer Bewegung zu beteiligen, die er für
theaterfremd hielt. Nur einmal studierte er mit Hingabe ein Sowjet-
stück ein, Iwanows >Panzerzug 14-69 <, und diese Inszenierung war
bezeichnend genug für seine Einstellung. Sie fand aus Anlaß der
Zehnjahresfeier der Revolution 1927 statt, als das Künstlertheater
nicht mehr umhin konnte, von der neuen Zeit Notiz zu nehmen. Ein
nichtkommunistisches Bürgerkriegsstück, >Die Tage der Turbins<
von Bulgakow, das ein Jahr zuvor am MCHAT uraufgeführt wor-
den war, hatte einen unbeschreiblichen Skandal in der SowjetöfTent-
lichkeit ausgelöst und vom Spielplan abgesetzt werden müssen.
>Panzerzug< sollte ein Dokument des guten Willens werden. Stani-
slawski arbeitete monatelang mit dem Autor und setzte sein ganzes
Genie als Regisseur, glänzende Schauspieler (Katschalow, Chmel-
jow u. a.) ein, um das letzte herauszuholen. Er schuf eine grandiose
Massenszene auf dem Dach der Dorf kirche, dem Versammlungsplatz
der sibirischen Partisanen, ein Panorama voller Pathos, Kraft und
Weite. Er ließ den Panzerzug, der einen chinesischen Revolutionär
zermalmt, aus dem dunklen Bühnenraum unter entsetzlichem Getöse
direkt auf die Zuschauer zurasen.
Und er tat sein möglichstes, dem Stück die aufdringliche Tendenz
zu nehmen. So berichtet der Autor Iwanow, wie ihn Stanislawski
einmal während einer Probe ansprach »Wie ist Ihrer Meinung nach
:

der Kommandeur des Panzerzugs, Hauptmann Neselassow, geklei-


det?« Iwanow schilderte ihn nun so, wie man dazumal in der Propa-
ganda einen weißgardistischen Offizier eben darzustellen pflegte in:

einer mit Silber bestickten schwarzen Jacke mit aufgenähtem weißem


Totenkopf und gekreuzten Knochen auf dem Ärmel, »seiner Phra-
seologie nach ein Intellektueller, nach Handlungsweise und Kleidung
aber ein Lakai der amerikanischen Interventen«. Stanislawski sagte
ruhig »Finden Sie nicht, daß es besser wäre, wenn man alles Exoti-
:

sche beiseite ließe? Russen sind an sich kein exotisches Volk. Nese-
lassow ist ein gewöhnlicher Armeeangehöriger, der in den Dienst
der Amerikaner und Japaner geraten ist. Ich glaube nicht, daß er ein
Gefallen daran findet, sich als Sklave zu fühlen. Es ist ihm unan-
genehm. Aber andererseits haßt er die Bolschewiki derart, daß er

57
sich aus Haß damit abfindet, ein Sklave der Amerikaner zu sein. Die
Bolschewiki, sehen Sie, haben ihm sein Gut, sein Häuschen, sein
Geld auf der Bank weggenommen, er hat daher das Gefühl, als sei
ganz Rußland des Russischen beraubt! Er ist im Grunde dumm,
kurzsichtig, ein kleiner Mensch. Kleiden Sie ihn exotisch, so wird er
höchstwahrscheinlich in nichts glaubhaft.« Auch den kommunisti-
schen Helden holte er vom Kothurn herunter. Er nahm ihm alles
Heroische, Pathetische, Deklamatorische. Der Revolutionär trat zu-
rückhaltend auf, sprach leise, war kurzsichtig und machte den Ein-
druck eines sonderbaren Kauzes, hinter dessen äußerer Unzugäng-
lichkeit sich aber Verstand, Energie und Empfindung verbargen.
»In der Aufführung spürt man nichts von der Revolution, sosehr
auch auf der Bühne aus Gewehren und sogar Geschützen gefeuert
wird«, schrieb einer der damals führenden sowjetischen Kritiker.
»So führte man in diesem Theater bereits vor dreißig Jahren die
Stücke Tschechows und die historischen Chroniken auf. Es sind
immer noch dieselben Masken auf der Bühne, es ist immer noch der-
selbe trostlose Naturalismus und dasselbe Psychologisieren.«
Der alte Stanislawski zog sich nun ganz in das Schneckenhaus
seines Studios zurück. Er rekapitulierte sein System: 553 Proben
wandte er an eine Experimental-Einstudierung des >Tartuffe< von
Moliere. Und erklärte »Ein Gebiet gibt es, auf dem wir noch nicht
:

veraltet sind, sondern im Gegenteil, je mehr wir leben, desto er-


fahrener und stärker in ihm werden . Das ist das Gebiet der
. .

inneren und äußeren Technik unserer Kunst, die für alle gleich ver-
bindlich ist - Junge und Alte linker oder rechter Richtung, Frauen
oder Männer, Talentierte oder Durchschnittsmenschen. Eine rich-
tige Stimmschulung, Rhythmik, eine gute Diktion benötigt der-
jenige, der in alter Zeit >Behüte Gott den Zaren < sang, ebenso wie
!

der, welcher jetzt die Internationale singt. Auch die Vorgänge des
schauspielerischen Schaffens bleiben in ihren natürlichen Grund-
lagen für die neue Generation die gleichen wie für die alte.« Stani-
slawski fragt: »Wie kann ich nun der jungen Generation die Ergeb-
nisse meiner Erfahrungen mitteilen?« und kommt zu dem Schluß,
den er ganz am Ende seiner Lebenserinnerungen ausspricht: »Das
Gold auf meinem künstlerischen Wege, Ergebnis des Suchens wäh-
rend meines ganzen Lebens, ist mein System .« . .

Gerade dieses System aber, und damit greift Stanislawskis persön-


liche Tragik noch über seinen Tod hinaus, ist bis auf den heutigen
Tag den gröbsten Mißdeutungen ausgesetzt. Man kann getrost
sagen, daß von den Abertausenden von Theaterleuten in allen Län-
dern des Ostblocks, die ständig den Namen Stanislawski im Munde
führen, nur die wenigsten etwas von seinen Ideen begriffen haben.
Das hat verschiedene Gründe. Die Schwierigkeit beginnt bei Stani-
slawski selbst. Wohl war er ein besserer Schriftsteller, als infolge
einiger holpriger Übersetzungen sein Ruf ist, aber unter allen seinen
hinterlassenen Manuskripten - man sagt, daß es rund 12000 seien -

58
ist auch nicht eines, in dem System klar und verständlich
er sein
dargestellt hätte. Stanislawskis Schwäche, andererseits natürlich auch
wieder seine Stärke, war es, daß er mehr ein intuitiver als theoreti-
scher Denker war. Er entwickelte seine Methode an Hand ganz kon-
kreter Fälle und vermittelte seine Erkenntnis wiederum im Rahmen
konkreter, praktischer Unterrichtsaufgaben. Terminologie, Argu-
mentation und Ausdeutung wechseln ständig, Erkenntnisse aus ver-
schiedenen Reifestadien gehen durcheinander oder laufen nebenein-
ander her. Zudem ist er nach seinen eigenen Angaben nie zu einem
eigentlichen Abschluß gelangt, er hat seine Methode bis zum Schluß
als einen komplizierten und widerspruchsvollen Prozeß des Suchens
und Tastens aufgefaßt, vor dessen dogmatischer Nachahmung er
ausdrücklich warnte. Wahrscheinlich war dieser fragmentarische
Charakter des Werkes unvermeidlich, wenn man bedenkt, daß es sich
um die diffizilsten psychologischen und ästhetischen Fragen, um die
Analyse des künstlerischen Schaffensprozesses handelte.
Stanislawskis stalinistische Epigonen haben dann versucht, das
wolkige System auf ein mathematisches Koordinatengitter aufzu-
spießen, es durchzurationalisieren, und dabei eine »Technik der
Zaubersprüche« entwickelt, von der ein Zitat aus dem Standardwerk
von Albakin >Das Stanislawski-System und das Sow et- Theater <
j

einen Begriff gibt: »Während das Stück studiert wird, wird die
> Überaufgabe < bestimmt, die die Grundidee der bevorstehenden
Aufführung ausdrückt, es wird die Linie der durchgehenden Hand-
lung <, die zielbewußt auf die Überaufgabe gerichtet ist, für das ganze
Stück und für die Aufführung festgelegt. Außerdem wird der >Unter-
text< des Stückes und der einzelnen Rollen studiert, es wird der
>Kern< jeder Bühnengestalt, es wird die Perspektive des Schau-
spielers < und die Perspektive der Rolle < festgelegt, aus denen sich
die Perspektive der Aufführung ergeben muß. Die vorgeschlagenen
Umstände < des Stückes werden studiert und erforscht, der ganze
Text wird in >Teile und Aufgaben < für den Schauspieler und für den
Regisseur zerlegt.« Wenn man bedenkt, daß dieses Gestrüpp trok-
kener, ausgetüftelter Vorschriften als unantastbares stalinistisches
Dogma dargeboten wurde, gegen das keinen Zweifel und kein
es
Aufmucken geben durfte, so versteht man, warum der Name Stani-
slawski für die Schauspieler hinter dem Eisernen Vorhang zu einem
Alptraum geworden ist.
Wir wollen den Versuch wagen, einen knappen Umriß von Stani-
slawskis System zu geben. Es ruht, vereinfacht gesagt, im wesent-
lichen auf zwei Säulen, die mit den Termini technici »Physische
Handlungen« und »Überaufgabe« bezeichnet werden. Das Prinzip
der sogenannten Physischen Handlungen besteht darin, daß der
Schauspieler angehalten wird, auf der Bühne nicht so fühlen zu wol-
len, als ob verkörpernde Gestalt wäre, sondern so zu han-
er die zu
deln. »Ich verstehe alles, Konstantin Sergejewitsch, was Sie von uns
fordern«, bemerkte ein Darsteller bei der Probe. »Sie verlangen von

59
uns nicht sosehr ein >Erleben<, wie es bisher in der schauspieleri-
schen Arbeit üblich war, als vielmehr ein organisches Handeln ..« .

Stanislawski unterbrach ihn »Und die Gefühle, die Erlebnisse wer-


:

den als Ergebnis Ihres Urteils über die faktischen Vorgänge und
Handlungen, die Sie zu vollführen begonnen haben, von selbst in
Ihnen entstehen.« Der Begriff Physische Handlung ist nicht ganz
korrekt, denn es ist die komplexe menschliche Handlung gemeint,
also nicht nur die mechanisch-physische, sondern auch die psychische
Äußerung, der Wille, die Worthandlung. Stanislawski wollte mit
seiner Formulierung nur betonen, daß es ihm auf das einfache, reale
Verhalten ankommt, und seine Methode abgrenzen von dem krampf-
haften Erzeugenwollen der Gefühle aus dem Blauen heraus, das zur
Schmiere führt, und von einem routinemäßigen Einlernen gewisser
genormter menschlicher Ausdrucksformen, z. B. Augenrollen bei
Zorn, Grinsen bei Freude usw. Der Schauspieler soll seine Rolle
jedesmal neu erleben, indem er ihre Handlungen absolviert. Um die
Wirkung auf den Zuschauer soll er sich überhaupt nicht kümmern,
nur um das Handeln in der Rolle und das Zusammenspiel mit dem
Partner. Schauspieler, die unter Stanislawski nach dieser Methode
gearbeitet haben, berichten, daß sie zuerst ein befremdendes Gefühl
der Unsicherheit, der Ungenauigkeit gehabt hätten, weil sie bei jeder
Vorstellung völlig neu und etwas anders reagiert hätten. Das Prin-
zip führt zu einer Freiheit und Unmittelbarkeit, zu einer Nuancierung
der Empfindungen, die besonders lebensecht und glaubwürdig wirkt.
In der Tat bewegen sich die meisten großen Schauspieler ganz spon-
tan in solcher Weise auf der Bühne. Nicht Verstellung ist die Auf-
gabe des Schauspielers, sondern Verwandlung. Stanislawskis Ver-
dienst, ebenso einfach wie genial, besteht darin, bewußt gemacht zu
haben, auf welche Weise der Verwandlungsprozeß am ungezwun-
gensten vor sich geht.
Die sogenannte Überaufgabe, die man aus Ablauf und Aussage
des Stücks destilliert, ist die schöpferische Grundformel der Auffüh-
rung. Stanislawski erläuterte es einmal am >Hamlet<: »Ich kann im
>Hamlet< die Aufgabe entdecken, die ich auf die Formel bringe: >Ich
will das Andenken meines Vaters ehren. < Wenn ich bei dieser Formel
bleibe, wird ein Familiendrama entstehen. Ich kann aber auch eine
höhere Aufgabe entdecken: >Ich will die Geheimnisse des Seins er-
kennen^ Jetzt kann schon die Tragödie eines Menschen entstehen,
der über die Schwelle des Lebens geblickt hat und nicht mehr existie-
ren kann, ohne die Frage nach dem Sinn des Lebens zu beantworten.
Ich kann aber auch eine noch höhere Aufgabe entdecken: >Ich will
die Menschheit retten. < Diese Aufgabenstellung wird zur Verbreite-
rung und Vertiefung der Tragödie führen.« Die Postulierung einer
Überaufgabe hat den Zweck, erstens ein wildes Drauflosinszenieren,
das die Aufführung und die Rollen zerflattern läßt, unmöglich zu
machen, zweitens die Aufmerksamkeit des Regisseurs statt auf irgend-
welche Gags und Stimmungen auf die Aussage der Dichtung zu kon-

60
zentrieren. Wenn man allerdings hört, daß kommunistische Regis-
seure im >Hamlet< die Überaufgabe entdeckt haben: »Ich will, daß
der Feudalstaat zugrunde geht«, wird man die Problematik des Ver-
fahrens erkennen.
Die Verbindung zwischen den Elementen Physische Handlung
und Überaufgabe, gewissermaßen den Architrav über den beiden
Säulen des Systems, stellt der Begriff der Durchgehenden Handlung
dar. Stanislawski schilderte in einem fingierten Gespräch, wie er sich
die Verknüpfung der einzelnen Handlungen mit der Grundidee der
Aufführung vorstellt:
»Wenn ich auf die Bühne gehe«, sagt einer der Schauspieler, »dann
denke ich an die erste nächstliegende Aufgabe. Nach ihrer Ausfüh-
rung entsteht von selbst die zweite. Wenn ich diese gespielt habe,
denke ich an die dritte, vierte und so weiter.«
»Und ich beginne mit der durchgehenden Handlung. Wie eine
fast endlose Chaussee dehnt sie sich vor mir aus, und genau an ihrem
Ende erglänzt die Kuppel der Überaufgabe«, sagt ein alter Schau-
spieler.
»Wie aber sind Sie bestrebt, das Endziel zu erreichen?« fragt Tor-
zow (Schauspiellehrer).
»Indem Aufgabe nach der anderen erfülle.«
ich logisch eine
»Sie handeln, und dieses Handeln führt Sie immer näher an das
Endziel heran, nicht wahr?« forscht Arkadi Nikolajewitsch (Torzow).
»Natürlich, und so mache ich es in jeder Rolle.«
»Wie kommen Ihnen denn diese Handlungen in einer gut erlebten
Rolle vor? Schwer, kompliziert, unfaßbar, nicht wahr?« fragt Tor-
zow, die vermutete Antwort vorwegnehmend.
»So war es früher tatsächlich, aber schließlich bin ich zu einem
Dutzend sehr klarer, realer, leicht verständlicher Handlungen ge-
kommen, die Sie das Schema oder die Fahrrinnen des Stückes und
der Rolle nennen.«
Ohne ihre Unterordnung unter die Durchgehende Handlung
würden die Physischen Handlungen in uferlose naturalistische Zu-
standsmalerei ausarten, ein Fehler, der sich bei sehr vielen Stanislaw-
ski-Epigonen findet, aber nicht unbedingt dem Meister in die Schuhe
geschoben werden sollte. Er sagt ausdrücklich, daß das Geheimnis
nicht in der Handlung selbst liegt, sondern in den gegebenen Um-
ständen, »man kann ein Glas Wasser trinken - das ist eine einfache
physische Handlung, um aber ein Glas mit Gift zu trinken, muß man
ein ganzes Stück schreiben .« Die Methode setzt geradezu eine
. .

Bewußtseinsspaltung voraus »Mit einer Hälfte seiner Seele geht der


:

Schauspieler ganz in der Uberaufgabe, in der durchgehenden Hand-


lung, im Untertext, in der Sicht auf, mit dem anderen Teil seines
. . .

inneren Wesens aber lebt der Schauspieler in der Psychotechnik. Der


Schauspieler spaltet sich im Moment des Schaffens in zwei Teile. Die
Zweiteilung behindert die Inspiration nicht. Im Gegenteil, das eine
fördert das andere.«
Wenn man die Stanislawskische Magie auf ihren realen Kern redu-
ziert hat, kann man die Bedeutung des Systems einschätzen. Es ist
weder eine überlebte Stilform des 19. Jahrhunderts, wie viele Kriti-
ker behaupten, noch ein schauspielerisches Universalmittel, wie die
Apologeten sagen. Das System ist der Ausgangspunkt, die Grund-
lage jeder Theaterkunst, wie das Naturstudium die Grundlage jeder
Malerei Wenn die Methode Stanislawskis, die ja die Zusammen-
ist.

fassung von Erkenntnissen der verschiedensten Theaterpersönlich-


keiten ist, an allen Schauspielschulen, an den vielen kleinen Theatern
angewandt würde, so könnte man mancher Schmiere, Routine, Ef-
fekthascherei das Wasser abgraben. Aber der große Irrtum Stani-
slawskis war es, bedingt durch die nie ganz überwundene Bindung
an den Naturalismus und die unfreiwillige Beschränkung auf russi-
sche Klassiker, daß er glaubte, allein mit der »Wahrheit der Emp-
findung« und der »Logik der Handlung« auskommen zu können.
Der Riegel gegen den Naturalismus, den er mit der Überaufgabe vor-
gelegt hat, reicht nicht aus. Er ignorierte solche bedeutenden und
bei vielen Werken unerläßlichen Mittel der Gestaltung wie Stilisie-
rung, Groteske, Verfremdung, Lichtregie, Bewegungsregie u. ä., die
er selbst zuzeiten oft genug angewendet hat. Sein System ist nur das
Einmaleins der Theaterkunst, das deren höhere Mathematik nicht
ersetzen kann.
Ein weiterer Irrtum Stanislawskis, darin blieb er im rationalisti-
schen Denken des 19. Jahrhunderts befangen, bestand darin, daß er
die Möglichkeiten einer Lehrbarkeit der Kunst überschätzte. Er hat
die Intuition des Schauspielers und den Genius des Regisseurs stets
als selbstverständlich einkalkuliert. Das mochte hingehen, da es ihm
nach seinen immer wieder ausgesprochenen Absichten nur um die
Schaffung technischer Voraussetzungen für die eigentliche Inspira-
tion ging und er wiederholt betont hat, daß sein System weder dem
Genie noch dem Unbegabten helfen könne; es sei lediglich für den
durchschnittlichen Schauspieler gedacht als »Nachschlagebuch in
den Minuten des Zweifels«. Dennoch ist er nicht ganz unschuldig
daran, daß bei seinen Schülern nach und nach der Eindruck ent-
stand, das System sei ein wahres Hexeneinmaleins, mit dessen Hilfe
man alles machen könne. Es bedurfte nur einer Katechisierung und
Dogmatisierung dessen, was der Meister tatsächlich gelehrt hatte,
und es trat eine katastrophale Verarmung und Ernüchterung der
Theaterkunst ein, in der für Einfälle, Eingebungen und Wagnisse,
für alles Neue, Kühne und Unerwartete kein Platz mehr war (so
steht z. B. Gorkis >Nachtasyl< seit 1902, also seit sechzig Jahren, in
einund derselben Inszenierung auf dem Spielplan).
Tatsache ist, daß die nach der Methode Stanislawskis arbeitenden
sowjetischen Bühnen schon Ibsen nicht recht bewältigen konnten,
geschweige denn die westeuropäischen und antiken Klassiker. Alba-
kin nimmt in seinem als offiziös anzusehenden Buch zu dem Vor-
wurf Stellung, daß das Künstlertheater Shakespeare deshalb nicht
62
aufführe, weil es mit ihm nicht fertig werde. Albakin gibt die be-
zeichnende Antwort: »Warum muß denn ausgerechnet Shakespeare
das entscheidende Kriterium der Echtheit und Lebensfähigkeit der
klassischen Theorie des Sowjettheaters sein? Um über das Stani-
slawski-System zu urteilen, muß man seine Zuflucht nicht bei Shake-
speare oder Schiller, bei Lope de Vega oder Gozzi nehmen. Die
Gegenwart ist das einzige und echte Kriterium für seine Beurteilung.«
Aus dieser Äußerung kann man ersehen, was den Stalinismus zur
Okkupation des Stanislawski-Systems veranlaßt hat. Man kann näm-
lich mit Hilfe der (freilich falsch verstandenen) Physischen Hand-
lungen das langweiligste, ganz spannungs- und konfliktlose Sowjet-
stück einigermaßen spielbar machen, indem man es zur Pantomime
auflockert, man kann mit Hilfe der (ebenfalls falsch verstandenen)
Uberaufgabe jedem Werk eine politische Tendenz aufzwingen. Fer-
ner kommen die rationalistischen und didaktischen Elemente im
System einer Interpretation im Sinne des Dialektischen Materialis-
mus entgegen, der ja derselben Wurzel, der Fortschrittsideologie
des 19. Jahrhunderts, entsprang. (Immerhin war es dazu notwendig,
Stanislawskis Hauptwerk >Die Arbeit des Schauspielers an sich
selbst < als »idealistisch« zu unterdrücken.) Die Beschränkung der
Anwendbarkeit auf russische Klassiker und Gegenwartsstücke
schmeichelte dem großrussischen Nationalismus, die Betonung des
Konventionellen und Plausiblen im Spiel auf der Bühne dem spieß-
bürgerlichen Geschmack der Funktionäre. So wurde das System
Stanislawskis, weiß Gott ohne subjektive Schuld seines Schöpfers,
schließlich zu einem Zahnrad im Mechanismus des totalitären Staa-
tes. Man schauert zusammen, wenn man - wie ein gespenstisches
Menetekel am Ende von Stanislawskis Lebensweg - die Mitteilung
der amtlichen sowjetischen Nachrichtenagentur TASS vom 22. April
1937 liest:
»Gestern abend fand im Moskauer Künstlertheater die Erstauf-
führung der Tolstoj-Dramatisierung >Anna Karenina < statt. Dieser
Aufführung wohnten der Genosse Stalin und die Genossen Molo-
tow, Kaganowitsch, Woroschilow und Shdanow bei. Die Auffüh-
rung ergriff die Zuschauer. Die hervorragenden Schauspieler und
Verdienten Künstler der RSFSR erschütterten durch ihr begeister-
tes Spiel und durch die Tiefe ihres Erlebens. In der Karenina der
Tarassowa sah und fühlte der Zuschauer mit äußerster Klarheit die
Tragödie der russischen Frau, die von der unerträglichen Schwere
des Besitzsystems erdrückt wurde. Das Spiel Chmeljows erzeugte
den Haß gegen Karenin, der in der genialen Schöpfung Tolstojs als
die Verkörperung aller Gemeinheiten des reaktionären bürokrati-
schen Rußlands und der Heuchelei der Kirchenmoral dargestellt ist.
Der Erfolg der Premiere war ganz ungewöhnlich. Der Genosse
Stalin und die Genossen Molotow, Kaganowitsch, Woroschilow und
Shdanow applaudierten begeistert gemeinsam mit allen anderen Zu-
schauern . . .«

63
.

Der Theateroktober

Der Singvogel der Poesie - die Nachtigall - und der Vogel der Weisheit - die
Eule - erscheinen erst nach Sonnenuntergang. Jetzt ist das Tagewerk voll-
bracht. Im Lichte der Dämmerung werden Verstand und Gefühl sich des Ge-
leisteten erst richtig bewußt
. .

Trotzki 1923

Am 7. November 1920, zum dritten Jahrestag der bolschewistischen


Oktoberrevolution, fand an Ort und Stelle des Umsturzes, vor dem
Winterpalais in Petrograd (dem heutigen Leningrad), ein Massen-
schauspiel statt, das die historischen Vorgänge rekapitulierte. An
der Veranstaltung waren als Darsteller etwa 15000 Personen be-
teiligt, vornehmlich Rotarmisten und einige Schauspieler. Die
Zahl der Zuschauer auf den anliegenden Plätzen schätzte man auf
annähernd 100000; d. h. von den 800000 Einwohnern, die Pet-
rograd damals besaß, war mindestens jeder neunte bis zehnte an-
wesend. Der Verlauf des Unternehmens wird von Fülöp-Miller be-
schrieben:
»Nach dem von Jewreinow ausgearbeiteten Szenarium waren vor
dem Schloß zwei große, miteinander durch eine Brücke verbundene
Estraden errichtet worden, auf denen sich die theatralische Handlung
abspielte. Die eine, die > Weiße Estrade <, versinnbildlichte die Welt
der Reaktion, die andere, die >Rote Estrade <, hingegen die der Revo-
lution. Ja, nach dem Gang der Ereignisse wurde bald die eine, bald
die andere beleuchtet oder verdunkelt, und auf ihnen spielten sich
nun, teils in symbolistischer, teils in realistischer Darstellung die
politischen Geschehnisse, vom Sturz des Zaren bis zum Siege des
Bolschewismus, ab. Das Fest begann um zehn Uhr nachts mit einem
Kanonenschuß und mit Fanfaren; dann flammten die Scheinwerfer
auf und zeigten die auf der > Weißen Bühne < versammelten reaktio-
nären Machthaber: Die Provisorische Regierung mit Kerenski an
der Spitze, Beamte des alten Regimes, Vertreter des Adels, Junker,
Bankiers und ähnliche Gestalten aus der vorrevolutionären Welt, alle
in sehr karikierter Darstellung. Zwischen diesen Leuten entwickelte
sich nun ein ebenso geschäftiges wie sinnloses Treiben von gegen-
seitiger Liebedienerei, von Servilismus und Pathetik, bis dann auf der
> Roten Bühne < das werktätige Proletariat sichtbar wurde, das sich

bereits zum entscheidenden Kampf rüstete. Bald kam es zu einem


Handgemenge auf der Verbindungsbrücke, das längere Zeit unent-
schieden hin- und herwogte, endlich aber mit dem Siege der Revo-
lutionäre endete. Die >weiße< Regierung mußte flüchten und zog
sich, entsprechend den wirklichen Vorgängen des Jahres 1917, in das
Winterpalais zurück. Von jetzt an wurde die Handlung vollkommen
realistisch Militär drang in Schwarmlinien vor, Automobile mit Be-
:

waffneten rasten heran, Kanonen fuhren auf, und es kam zu einer

64
allgemeinen wilden Schießerei, an welcher sich auch der auf der
Newa liegende Panzerkreuzer > Aurora < eifrig beteiligte.
Schließlich wurde auch das Winterpalais, der letzte Zufluchtsort
der Reaktion, erstürmt. An der Front des Gebäudes flammte das
mächtige Transparent eines roten Sowjetsterns auf, die Musik
stimmte die Internationale an, und es entwickelte sich ein großer
Parademarsch der siegreichen Roten Truppen mit allgemeinem Chor-
gesang.« Ein mächtiges Feuerwerk am Abendhimmel beschloß die
Veranstaltung.
Die >Erstürmung des Winterpalais < war nur eines jener imposanten
Volksfeste, wie sie in den ersten Jahren nach der Revolution in Ruß-
land stattfanden. Sie wurden vor allem an den Feiertagen des soge-
nannten Roten Kalenders veranstaltet, also am Jahrestag der Okto-
berrevolution, am Ersten Mai usw. Eine der ersten Aufführungen
dieser Art wurde von Nikolaj Jewreinow und dem Maler Annenkow
vor der Petersburger Börse in Szene gesetzt In Form eines Mysterien-
:

spiels wurde da in einer Reihe von Bildern dargestellt, wie im Laufe


der Menschheitsgeschichte die Massen immer wieder vergeblich ver-
sucht hätten, das Joch der Sklavenhalter, Feudalherren, Priester und
Kapitalisten abzuschütteln, bis es dann endlich der bolschewisti-
schen Revolution gelungen sei. Piaton Kershenzew, ein prominenter
Theoretiker des Massentheaters, Freund Lenins (später Vorsitzender
des allgewaltigen Kunstkomitees der UdSSR), arrangierte persön-
lich zum 1. Mai 1920 ein Mysterium >Hymnus der freien Arbeit <, an
dem 4000 Rotarmisten und zahllose andere Personen mitwirkten,
und zu Ehren des II. Weltkongresses der Komintern ein Massen-
schauspiel, das die Geschichte der Arbeiterbewegung von 1848 bis
zur Gegenwart veranschaulichen sollte und Abertausende von Men-
schen in Bewegung setzte. Als eine mächtige Unternehmung war die
Revolutionsfeier 1921 auf dem Chodynka-Feld bei Moskau gedacht;
der Regisseur Meyerhold wollte mit einem Aufgebot von 2300 Mann
Infanterie, 200 Reitern, 16 Geschützen, 5 Flugzeugen, diversen Pan-
zerzügen, Tanks, Motorrädern, Kapellen und Chören >Kampf und
Sieg der Sowjets < darstellen. Aber das Projekt erwies sich als so über-
dimensional, daß es nicht realisiert werden konnte.
Der politische Einsatz des Theaters blieb nicht auf die Haupt-
städte beschränkt. Von den Zentren ausgesandt, zogen theaterspie-
lende Agitationstrupps durch das ganze Land, um die kommunisti-
schen Ideen zu verbreiten. Man zählte während des Bürgerkrieges
in der Sowjetunion 3000 Theaterorganisationen. Diese Ziffer gibt
aber nicht einmal ein annäherndes Bild von der außerordentlichen
Bedeutung des Theaters in der damaligen Zeit, denn fast jede Fabrik,
Parteiorganisation auf dem Dorf, Einheit der Roten Armee spielte
in irgendeiner Weise Theater. In einem Land, das überwiegend von
Analphabeten bevölkert war, stellte das theatralische Spiel, sei es
auch in einer Werkhalle, in einer Scheune, auf dem Dorfanger oder
sonstwo im Freien, das wirkungsvollste Agitationsmittel dar. (Drei-

65
ßig Jahre später bedienten sich die Kommunisten der gleichen Me-
thode zur Massenbeeinflussung in China, sie bildeten in den Dör-
fern und bei der Armee Agitationstrupps, nach einer alten Volks-
kunst »Yangko «-Gruppen genannt, welche spielen, singen, mu-
sizieren und tanzen und dabei Propaganda machen.) Viele der
Spiele entstanden aus dem Volk heraus ; so war ein verschiedentlich
aufgeführtes Stück >Der Kampf des roten Ural< von einem Schuster
im Schützengraben geschrieben worden. Andere Aufführungen wur-
den von den Agitatoren improvisiert. Da gab es die »Roten Revuen«
der »Blauen Blusen« (Proletkult-Brigaden). Da gab es die »Le-
bende Zeitung«, eine Szenenfolge, in der man die neuesten politi-
schen Ereignisse darzustellen und zu kommentieren pflegte. Da gab
es die »Agitgerichte«, wo unter allgemeiner Beteiligung des Publi-
kums die weißgardistischen Generale, die Ententemächte, die Ham-
sterer, aber auch das Analphabetentum, der Hunger, der Typhus
usw. verurteilt wurden.
Als eine mächtige Veranstaltung fand 1920 das >Gericht über
Wrangel< in der Kuban-Staniza (Siedlung) Krimskaja unter freiem
Himmel statt. Es nahmen etwa 10000 Rotarmisten und Kosaken am
Spiel teil. Jeder Mitwirkende erhielt ein Gerippe seiner Rolle und
improvisierte dann; alle waren geschminkt und kostümiert. Der
Oberbefehlshaber der weißen Südfront, General Wrangel, wurde
symbolisch vor das »Gericht« gestellt. Die Mitwirkenden waren mit
Enthusiasmus bei der Sache, und es hagelte Zwischenrufe wie »Du
Uns betrügst du nicht, du Blutsäufer!« und dergleichen. -
lügst!
Noch im Jahre 1923 fand in der Stadt Iwanowo-Wosnessensk eine
Massenaufführung statt, an der sich die gesamte Bevölkerung be-
teiligte; es wurden der große Streik und die blutigen Unruhen des
Jahres 1915 dargestellt.
An klassischen Autoren wurde eigentlich nur Schiller gespielt. Der
zu den Bolschewisten übergegangene Schriftsteller Graf Alexej Tol-
stoj schildert humorvoll eine Aufführung der >Räuber< durch Rot-
armisten an der Front:
»Das Publikum brach bei Beginn der Vorstellung in dröhnendes
Lachen aus, als es in dem geschminkten Alten mit Haar aus Werg
und in dem aus einem Meßgewand des Popen zurechtgeschneiderten
Kittel den Rotarmisten Wanin erkannte >Das ist er < riefen sie.
. . . I

>Los, Wanin, mach's gut, keine Angst < Als hinter dem zwischen
. . .

den Kulissen angebrachten Bettvorhang ein Mann mit merkwürdig


schleichenden Schritten in schlotternder Kleidung mit zwei Schö-
ßen, in Frauenstrümpfen - die Zähne gefletscht, die Augen schief-
stehend - hervorkam und wie eine Schlange zu zischen begann:
>Vater, hier bin ich, euer treuer Sohn Franz < - erkannte das Publi-
kum auch sofort Kusma Kusmitsch und bog sich vor Lachen . . .

Die Darsteller wurden jedoch der fröhlichen Stimmung im Zu-


schauerraum Herr. Das Publikum hatte alle erkannt und begann zu-
zuhören. Latugin trat an die qualmenden Funzeln heran - sie be-

66
leuchteten von unten sein mächtiges Gesicht mit dem angeklebten
Bärtchen aus Schafwolle, mit grimmig hochgebogenen Brauen -, er
preßte die Hände auf der Brust so fest zusammen, daß der schwarze
Advokatengehrock fast in den Nähten platzte, und sprach mit kraft-
voller Stimme: >Oh, daß ich durch die ganze Natur das Hörn des
Aufruhrs blasen könnte, Luft, Erde und Meer wider das Hyänen-
gezücht ins Treffen führen < Hier verstummte das Publikum

bereits, denn es begriff, wo das Stück hinaus wollte.


Die Dekorationen wurden nicht gewechselt, besondere Umbauten
nicht vorgenommen. Vor Beginn jedes Bildes schob Sergej Sergeje-
witsch den Kopf durch den Vorhang - sein Gesicht lächelte, als
wisse er etwas Besonderes >Drittes Bild. Stellen Sie sich das präch-
:

tige Schloß des Grafen Moor vor. Ins Fenster gießt sich Blumen-
duft aus dem Garten. Die schöne Amalie sitzt in ihrem Zimmer < . . .

Sein von Ölfunzeln beleuchtetes Gesicht verschwand. Der Vor-


hang ging auseinander. Keiner wollte in dieser zornigen Schönen
im weiten Rock, mit einem bunten, kreuzweise über die Brust gebun-
denen Tuch - rotwangig, mit lockigem Haar, die fast das ganze Ge-
sicht ausfüllten - Anisja Nasarowa aus der zweiten Kompanie wie-
dererkennen. Mit tiefer, bebender, singender Stimme begann sie zu
sprechen und schlug beim Anblick Franzens mit der kleinen Faust
auf den Tisch >Hinweg, du Schuft
: < Kusma Kusmitsch fürch-
. . .

tete die Stelle, wo Amalie ihm einen Backenstreich versetzen müßte.


Bei all ihrem träumerischen Wesen hatte sie doch die Hand eines
Rotarmisten. Kusma Kusmitsch wollte ihr schon zuflüstern >Etwas :

sanfter . < Sie aber - aus tiefster Seele


. . >Geh, Lotterbube < - holte
: !

aus, schlug zu, als laste die ganze Schwere ihres früheren Lebens auf
ihrer Hand -, und Kusma Kusmitsch flog in die Kulisse. Aber keiner
lachte. Aus dem Publikum wurden Rufe laut: >Recht so .< Und . .

alle klatschten, denn jeder hatte den Wunsch, dem Schuft einen eben-
solchen Schlag zu versetzen.
Weiter lief die Vorstellung wie am Schnürchen. Die Darsteller
waren nach dem ersten Akt in Schweiß gebadet, ihre gestrafften
Muskeln hatten sich gelockert, die zusammengeschnürten Stimmen
waren menschlich geworden, und es war ihnen jetzt ganz egal, wenn
sie etwas von dem, was ihnen der soufflierende Sergej Sergejewitsch
mit zischender Flüsterstimme vorsagte, nicht verstanden - ungeniert
erfanden sie eigene Worte, kräftigere als bei Schiller und auf jeden
Fall - für die Zuschauer verständlichere « . . .

Nur aus dieser Woge volkstümlichen Theaterspiels, dem »Thea-


teroktober« mit seinen Volksfesten, Laienspielen und Agitations-
abenden heraus ist das Sowjettheater der zwanziger Jahre zu ver-
stehen. Was in den Massenveranstaltungen elementar aufkam, fand
dann in kultivierter Form seinen Eingang in die Schauspielhäuser
von Moskau, Leningrad, Kiew. Viele Eigenschaften des frühen
Sowjettheaters, die ihm zum Weltruf verhalfen, haben ihren Ur-
sprung ganz einfach in den Anforderungen, die das Spiel auf der

67
;

Straße und auf dem Lande Da war zuerst einmal die sou-
stellte.
veräne Herrschaft des Regisseurs, denn er war ja der entscheidende
Mann, der bei den Massenveranstaltungen und den Agitationsein-
sätzen wie ein Feldherr die Marschrouten und Aktionen der Mit-
wirkenden festzulegen und zu dirigieren hatte. Da war der Vorrang
von Arrangement und Improvisation gegenüber dem dichterischen
Wort, das für die agitatorischen Aufgaben allenfalls als Ausgangs-
punkt, als Rohstoff in Frage kam und im übrigen in dem allgemeinen
Trubel sowieso ertrank. Für Psychologie und individuelle Gestal-
tung in der Schauspielkunst hatte man ebenfalls keine Verwendung
was man brauchte, waren Ausdrucksformen, die weithin vernehm-
bar und von den Darstellern ohne Vorkenntnisse zu bewältigen wa-
ren, also Massenbewegungen, Chöre sowie heroische oder satirische
Formeln und Symbolismen. Die Grenze zwischen Schauspielern und
Zuschauern wurde verwischt allesamt waren sie Mitwirkende einer
;

politischen Aktion. Auch die Grenze zwischen den einzelnen Kunst-


arten fiel, denn je nach den vorhandenen Fähigkeiten wurden neben
der Schauspielkunst Pantomime, Rezitation, Tanz, Musik, Malerei,
Akrobatik, Clownerie usw. eingesetzt.
Vor allem aber folgten das Theater der Massen und das Theater
der jungen Sowjetbühnen demselben, bestimmenden Impuls: dem
politischen Auftrag; wie das alte griechische Theater aus dem Kul-
tus ging das Sowjettheater aus dem politischen Leben, aus Versamm-
lung, Meeting und Demonstration hervor. Nicht zufällig wurden
alle theaterrevolutionären Tendenzen der Zeit - die Agitprop-Trup-
pen (abgekürzt aus: Agitation und Propaganda), der Proletkult (ab-
gekürzt aus: Proletarische Kultur) wie der Avantgardismus der
Bühnen - von ein und demselben Manne inspiriert und gelenkt,
dem Direktor der Sektion Theater beim Volkskommissariat für
Volksbildung, in dessen Persönlichkeit, wie Volkskommissar
Lunatscharski sagte, linke Ästhetik und linke Politik miteinander
verschmolzen von Wsewolod Meyerhold.
:

Als er sich in den Dienst der Revolution stellte, hatte der Regis-
seur Meyerhold bereits eine bewegte und glanzvolle Karriere hinter
sich. Er war 1874 als Kind deutscher Eltern in Rußland geboren
worden; sein Vater war vermögender Schnapsfabrikant in einer rus-
sischen Provinzstadt. Dem Jungen fiel der Besuch des russischen
Gymnasiums schwer, er brauchte elf Jahre, bis er mit Mühe sein
Abitur absolvierte. Auf der Moskauer Universität erwarb er die rus-
sische Staatsbürgerschaft, gleichzeitig trat er zur orthodoxen Kirche
über. Zu Ehren des Schriftstellers Garschin, der aus Verzweiflung
über die tristen Verhältnisse der Zeit im Selbstmord geendet hatte,
wählte er sich den Vornamen Wsewolod. Bald kehrte er der Univer-
sität den Rücken und interessierte sich, wie viele Kinder des reichen
Moskauer Bürgertums, fürs Theater; als der Vater starb und das
»Handelshaus E. F. Meyerhold und Söhne« zusammenbrach, ergriff

68
er den Beruf des Schauspielers. Er trat in die Theaterschule von
Nemirowitsch-Dantschenko ein. Als er sie 1897 verließ, schrieb ihm
sein Direktor ins Abgangszeugnis »Meyerhold ist unter den Eleven
:

der Theaterschule eine Ausnahmeerscheinung. Es genügt die Fest-


stellung, daß er bislang der einzige Schüler ist, der die höchste Note
in Geschichte des Dramas, der Literatur und Kunst bekommen hat.
Eine unter den männlichen Eleven seltene Gewissenhaftigkeit und
ernstes Verhalten zur Sache. Meyerhold hat alle Voraussetzungen,
um in jeder Truppe eine sehr angesehene Stellung einzunehmen. Die
beste Eigenschaft seiner szenischen Persönlichkeit ist seine um-
fassende, mannigfaltige Verwendbarkeit. Er arbeitet viel, hält gut
im Ton, schminkt sich gut, bekundet Temperament und ist erfahren
wie ein fertiger Schauspieler.« Aus dem jüngsten Jahrgang, der die
Theaterschule absolviert hatte, wurden nur drei angehende Schau-
spieler in das gerade von Nemirowitsch-Dantschenko und Stani-
slawski gegründete Künstlertheater übernommen, darunter die
Knipper und Meyerhold.
Am Künstlertheater stieß Meyerhold sehr schnell zur ersten Gar-
nitur vor. In der denkwürdigen Uraufführung von Tschechows
>Möwe< spielte er den Treplew, die männliche Hauptrolle. Der sehr
anspruchsvolle Stanislawski sah in ihm seinen begabtesten Schüler
und betraute ihn schon nach wenigen Jahren mit Regieaufgaben -
eine ganz ungewöhnliche Auszeichnung für den jungen Mann. Nach
vier Jahren der Arbeit am Künstlertheater trennte sich Meyerhold
von seinen Lehrmeistern Stanislawski und Dantschenko, um eigene
Wege zu gehen. Er tat sich mit der hervorragenden Schauspielerin
Vera Kommissarshewskaja zusammen, die - ebenfalls aus dem
Stanislawski-Kreis hervorgegangen - in Petersburg ein avantgardi-
stisches Theateraufgemacht hatte, und entwickelte im Gegensatz zu
dem Naturalismus des Künstlertheaters die Prinzipien einer Stil-
bühne. Als Stanislawski 1905 an der eigenen Arbeit zu zweifeln be-
gann, rief er Meyerhold zurück und eröffnete mit ihm zusammen ein
Studio, jenes an der Powarskaja, das dann aus finanziellen Gründen
wieder zusammenbrach. In den Jahren vor dem ersten Weltkrieg er-
oberte sich der als Revolutionär verschriene Meyerhold die Kaiser-
lichen Bühnen in Petersburg. Im Zusammenwirken mit dem Maler
Golowin erstrebte er eine malerisch-dekorative Komposition des
Bühnenvorgangs und gruppierte die Schauspieler in der Art leben-
der Basreliefs und Fresken. Er inszenierte u. a. Tolstojs >Lebenden
Leichnam <, Molieres >Don Juan<, Lermontows >Maskerade< mit der
Musik von Glasunow sowie Wagners >Tristan< und die >Elektra<
von Strauß und Hofmannsthal. Der Dichter Alexander Block, dessen
>Schaubude< Meyerhold kreiert hatte, schrieb dem Regisseur begei-
stert, dieInszenierung habe selbst ihm, dem Autor, neue Perspekti-
ven des Werkes eröffnet.
Meyerhold war von den führenden Theaterleuten der vorrevolu-
tionären Zeit der einzigerer sich -sofort und vorbehaltlos - der bol-

69
schewistischen Partei anschloß. Diese Haltung war gewiß kein Akt
des Opportunismus - Meyerhold war bis zu seinem tragischen Tod
kein Mann der Anpassung -, sondern ehrlicher Überzeugung. Als
konsequentester Theaterrevolutionär Rußlands, der bei seinen Un-
ternehmungen immer wieder auf materielle und gesellschaftliche
Schranken gestoßen war, entdeckte er in der Revolution ungeahnte
schöpferische Möglichkeiten. Plötzlich war das ganze starre Gefüge
theatralischer Konventionen und Bedingtheiten hinweggefegt, und
er stand als souveräner, seinen Intentionen folgender Herr über
einen mächtigen und modernen Darstellungsapparat den unverbil-
deten, für alle kulturellen Erlebnisse dankbaren Massen gegenüber.
Das nachrevolutionäre Theaterleben bot ihm ein unermeßliches und
vollkommen freies Experimentierfeld, wo er in wenigen Jahren alles
ausprobieren und kreieren konnte, was dann in den anderen Ländern
der Welt erst in jahrzehntelangen Kämpfen der Avantgardisten mit
dem Theaterbetrieb und dem konventionellen Publikum durchge-
gesetzt wurde. Die Revolution war für Meyerhold der große
Dammbruch der Befreiung - nur zu begreiflich, daß er auch für die
soziale Emanzipation der Arbeiter und Bauern alles Verständnis
hatte und seine Bestrebungen mit den ihren verband. Von bol-
schewistischer Ideologie hatte er keine Ahnung; er hat in seinem
Theater auch nie die spezifisch bolschewistische Variante der Re-
volution gestaltet (wie später Brecht), sondern die Revolution an
sich, den Aufstand der Massen.
Bei aller Mannigfaltigkeit und Experimentierfreudigkeit seiner
Arbeit stützte sich Meyerhold in seiner nachrevolutionären Phase
auf einige konstante, von ihm selbst eingeführte Grundelemente der
Gestaltung. Seine schauspielerische Methode war die sogenannte
Biomechanik. Man hat darunter ein darstellerisches Prinzip zu ver-
stehen, das die rationellste und lapidarste Bewegung auf der Bühne
und die Umsetzung seelischer Erlebnisse in körperliche Ausdrucks-
formen erstrebt. Jede Bewegung, jede Geste des Spiels wird mit
mathematischer Gewissenhaftigkeit kalkuliert und hat symbolische
Bedeutung. Soll eine Gestalt dargestellt werden, die von einem tragi-
schen Schicksal betroffen ist, hat der Schauspieler das nicht durch
Mimik, Rede, Stimmung auszudrücken, sondern durch sein äußeres
Erscheinungsbild: Er läßt also die Schultern vornüberhängen, be-
wegt sich ruckartig, vernachlässigt seine Kleidung usw. Bei freudi-
ger Erregung der darzustellenden Person vollführt der Schauspieler
vielleicht ein Tänzchen. In der Inszenierung von Verhaerens >Mor-
genröte< wurde beispielsweise die Morgenstimmung durch macht-
volles Ausschreiten eines zuversichtlichen, gespannten Chores, die
Abenddämmerung durch den müden Gang von Reihen aus der Fa-
brik heimkehrender Arbeiter zum Ausdruck gebracht. Meyerhold
entwickelte auf experimentellem Wege ein ganzes System von Be-
wegungssymbolen und Stilgriffen, die er seinen Schauspielern, mög-
lichstjungen, die noch nicht durch konventionelle Schauspiel-

70
schulen gegangen waren, in einem intensiven Studium beibrachte.
Seine Methode setzte artistische Körperbeherrschung, gutes Re-
aktionsvermögen, Gefühl für Raum und Zeit, für Stellung und Wir-
kung des eigenen Körpers, Musikalität und Intelligenz voraus; er
schulte sein Ensemble immer wieder im Gehen, Laufen, Turnen,
Springen, Klettern und derartigen grundlegenden Übungen der
Körpererziehung.
Sinn und Zweck der Biomechanik bestand darin, die Emotion in
eine Formel zu verwandeln, die Vergesellschaftung und Normie-
rung der individuellen Erlebnisse zu ermöglichen, wie es einem
Theater, das auf Kollektiverlebnisse und Massenaktionen zielte,
wünschenswert schien. Meyerhold ging so weit, für seine Schau-
spieler einen einheitlichen blauen Overall einzuführen, in dem kaum
Männlein und Weiblein, geschweige denn einzelne Persönlichkeiten
zu unterscheiden waren. Um den »Klassenkern« des gesprochenen
Wortes bloßlegen ?u können, erarbeitete er eine besondere Tech-
nik, wie man das, was man im Text zu sagen hat, durch Miene und
Geste vorwegnehmen, ergänzen und kommentieren könne - also
eine Keimform der späteren Brechtschen »Verfremdung«. (Beide,
Meyerhold wie Brecht, knüpften da u. a. an das ostasiatische Thea-
ter an.)
Mit der biomechanischen Schauspielertechnik berührte sich eine
andere Komponente des neuen Theaters, der Rückgriff auf die russi-
sche Hanswurst-Tradition. Man ging davon aus, daß die Jahrmarkt-
spiele viel inniger im russischen Volksboden verwurzelt sind als das
erst spät aus dem Westen importierte Theater, daß sie sich vor allem
immer unmittelbar an das einfache Volk gewandt haben, während
die Opern- und Schauspielhäuser den besitzenden Klassen vor-
behalten waren. In dem Schalksnarren, eben dem Hanswurst,
welcher selbst dem Zaren die Wahrheit ins Gesicht sagen durfte, er-
blickte man so etwas wie einen revolutionären Vorfahren. Meyerhold
hoffte sein Theater populärer zu machen, indem er in der Art der
fahrenden Schausteller früherer Jahrhunderte den Vortrag durch
akrobatische Kunststückchen und äquilibristische Tricks würzte.
Vom formalen Gesichtspunkt ergab die Einbeziehung der Hans-
wurst-Tradition eine reizvolle Bereicherung des Spiels und die Mög-
lichkeit, solche Mittel wie Parodie und Groteske, Übertreibung und
Exzentrik anzuwenden.
Das dritte Grundelement des Meyerholdschen Theaters war der
dynamische Konstruktivismus des Bühnenraums, von ihm selbst
entworfen. Vorhang, Guckkasten, Kulissen verschwanden ganz;
dem Zuschauer bot sich beim Betreten des Theaters ein Bild der
Bühne, wie es dann für den ganzen Abend blieb, allenfalls korrigiert
durch das Hereintragen oder Hinausräumen einzelner Versatzstücke
und Requisiten. Im Hintergrund waren die nackten Brandmauern
sichtbar. Der aller konventionellen Theateraufmachung entblößte
Bühnenraum war nun keineswegs leer, sondern mit Gerüsten,

7*
Blöcken, Treppen, Bögen und dergleichen bebaut. Auf diese Weise
wurde eine großzügige Raumbezogenheit des Spiels möglich ge-
macht. Das verblüffendste aber war, daß dieser ganze Konstruk-
tionsapparat in Bewegung gesetzt wurde. Das geschah mit Hilfe von
fahrbaren Spielflächen, Drehscheiben, auf- und niederschwebenden
Terrassen, Lifts, Rolltreppen, Drahtseilbahnen, Hebekränen, ro-
tierenden Wänden, Versenkungen usw. Auf der Meyerhold-Bühne
war ununterbrochen alles in Bewegung. Die Schauspieler bewegten
sich nicht nur horizontal, sondern auch vertikal über die Bühne, in-
dem sieüber die Gerüste turnten und sogar an Strickleitern hangel-
ten. Einmal war die ganze Spielfläche von einem Gehänge von Bam-
busstöcken mit Kupferringen umgeben, die beim Auf- und Abtreten
der Darsteller aneinanderschlugen und klapperten. Die Vorstellun-
gen begannen nicht mit Gong oder Klingel, sondern mit schrillem
Pfiff. Das Spiel der Lichteffekte, Einblenden von Projektionen, die

Beigabe von Musik, von der Harmonika bis zur Jazzband, rundete
den Eindruck ab. Es war eine Sinfonie der Bewegung, erfüllt von
Tempo und Rhythmus - vielleicht würde man besser, passender
sagen ein motorisches Getriebe, aber keineswegs monoton, sondern
:

in der großartigen Präzision, Logik und Harmonie, dem wunder-


baren Ineinanderspiel moderner Produktionsprozesse.
Was bezweckte Meyerhold mit diesem gewaltigen Bühnen-
mechanismus ? Zuerst einmal wollte er das veraltete, verstaubte Bild
der bequemen und gefälligen Illusionsbühne, die verblichene Hof-
theaterherrlichkeit durch einen Anblick ersetzen, der der modernen
Wirklichkeit gemäßer wäre. Als er die Basis all seiner Unternehmun-
gen, die Meyerhold- Werkstätten, schuf, sagte er »Unsere Künstler
:

müssen den Pinsel wegwerfen und den Zirkel, das Beil und den Ham-
mer ergreifen, um die Bühne nach dem Vorbild unserer technischen
Welt neu zu formen.« Die Wirkensstätten des Proletariats, des Hel-
den der Revolution: Fabriken, Werkhallen, Maschinensäle, waren
in das Zentrum der russischen Gesellschaft getreten, und Meyerhold
übertrug diese Atmosphäre auf die Bühne. Das Bild, das in seinem
Theater geboten wurde, stand als Symbol für den rastlosen und
enthusiastischen Aufbau im ganzen Land.
Weiter sollte die neue Theaterform Bühnenvorgang und Publi-
kum aneinanderrücken. »Der Zweck des Theaters ist nicht, ein fer-
tiges Kunstprodukt zu zeigen«, erklärte Meyerhold, »sondern viel-
mehr den Zuschauer zum Mitschöpfer des Dramas zu machen. Das
Fluidum soll nicht nur von der Bühne ins Publikum, sondern auch
umgekehrt zurückstrahlen.« Das komplizierte und bewegte System
der Meyerhold-Bühne beschäftigte und entwickelte fortwährend die
Phantasie der Zuschauer. Das aus dem starren Bühnenraum ge-
löste Spiel trat in beinahe physische Berührung mit dem Publikum,
welches die Bühnenhandlung von den verschiedensten Blickpunkten
aus wahrnahm, durch kreuz und quer im Raum verlaufende Vor-
gänge völlig in das Geschehen eingespannt war und auf die ver-

72
-

schiedenste Art direkt angesprochen wurde (einmal ließ Meyerhold


minutenlang auf die Leute im Parkett schießen, daß einige Frauen
ohnmächtig hinausgetragen werden mußten). In dem von Meyer-
hold geplanten, aber nicht mehr fertiggestellten hypermodernen
Theaterbau wollte er die Sessel der Zuschauer schwenkbar ein-
richten und die ganze Bühne durch den Zuschauerraum bewegen.
Der enorme personelle und technische Apparat hätte sich in
Effekthascherei und dröhnendem Leerlauf erschöpfen können, wenn
nicht ein genialer Künstler darauf wie auf einer Klaviatur zu spielen
vermocht hätte. Man schildert ihn, wie er, die Arme über der Brust
verschränkt, inmitten des Parketts stand und die Bewegungen auf
der Bühne dirigierte. »Meyerhold ist die personifizierte Unruhe, er
ist vom Feuer eines ungeheuren Temperaments versengt, er wird

von dreister Schöpferkraft getrieben, er ist starrsinnig, ein unbe-


zähmbarer Phantast, und er hat sein Theater in eine Höhe gerissen,
von wo aus jedes andere Theater als langweilig und grau erscheint.«
Er fühlte sich als Organisator des gesamten Bühnenwerks und unter-
warf sich rigoros nicht nur den Darstellungsapparat, sondern auch
die literarische Vorlage, mit der er mehr als großzügig umsprang.
Die Geschmeidigkeit des Materials - der Darsteller wie der Bühnen-
einrichtung - benötigte er, um die unerschöpfliche Fülle seiner Ideen
sofort und an Ort und Stelle realisieren zu können. Er probte viele
Monate und schuf dabei das Opus änderte den Text, hatte Einfälle,
:

gestaltete Szenen, warf alles wieder um, improvisierte - bis sich die
endgültige Gestalt der Inszenierung formte wie eine Plastik unter
den Händen des Bildhauers. Wohl hieb er gelegentlich mächtig da-
neben, verhunzte ein Stück oder machte es unverständlich, aber nie-
mals konnte man ihm vorwerfen, daß er in Schematismus oder Ma-
unbändigen Phantasie
nieriertheit verfallen wäre. Sicher fehlte seiner
oft die Disziplin, aber anregend und fruchtbar wirkten seine Auf-
führungen immer. Er war der Picasso des Theaters; von der Über-
fülle seiner Einfälle und Entdeckungen können Generationen zeh-
ren. Jelagin schreibt in seinem Buch »Ich kann mit bestem Gewissen
:

sagen, daß ich auf den Bühnen Europas und Amerikas später keinen
szenischen Kunstgriff gesehen habe, den Meyerhold nicht schon ein-
mal angewandt oder zur Diskussion gestellt hatte.« Wie immer man
zu Meyerholds Unternehmungen im einzelnen stehen mag, es ist un-
bestreitbar, daß dieser Mann auf das Welttheater einen Einfluß aus-
übte wie in unserem Jahrhundert nur noch Stanislawski, Reinhardt
und Craig.
Meyerhold entwickelte seinen Stil vor allem in Zusammenarbeit
mit Wladimir Majakowski, dem ebenso wortgewaltigen wie exzen-
trischen »Kommunisten und Futuristen«. Majakowski ist bekannt
geworden als der Sänger der Revolution, er war aber auch der talen-
tierteste und originellste Dramatiker der Sowjetepoche, und seine
bildkünstlerischen Phantasien haben das Gesicht des Meyerhold
Theaters prägen helfen. Sein >Mysterium BurTo<, ein »heroisches,

73
;

epischesund satirisches Abbild unseres Weltalters«, 1918 von Meyer-


hold in Szene gesetzt, wurde zum klassischen Libretto des Revo-
lutionstheaters. Die Welt ertrinkt in einer Sinflut (1. Akt), selbst
der Pol, das letzte trockene Fleckchen, zu dem sich Menschen aller
Klassen und Nationen geflüchtet haben, hat schon ein Leck, ein
Eskimo hält den Finger drauf, wird aber weggestoßen, so daß die
Fluten hervorbrechen; sieben Paar reiner Wesen, d. h. Bourgeois,
und sieben Paar unreiner Wesen, d. h. Proletarier, retten sich auf eine
Arche (2. Akt), auf der erst der Negus von Abessinien, dann die bür-
gerliche Demokratie herrscht; trotz der Beschwichtigungsversuche
eines Versöhnlers bricht an Bord der Klassenkampf aus, und die
Arche geht in Trümmer; unbeirrt durch Hölle (3. Akt) und Himmel
(4. Akt) stürmen die Proletarier vorwärts und aufwärts sie räumen
;

das von den Katastrophen verwüstete Trümmerfeld auf (5 Akt) .

und am Ende öffnen sich vor ihren staunenden Augen die Pforten
des Gelobten Landes: eine strahlende Gartenstadt mit Wolken-
kratzern, Straßenbahnen und Autos.
>Mysterium Buffo< mit seinen Gerüsten und simultanen Spiel-
flächen, technischen und Lichteffekten, Massenumzügen wurde zum
Ausgangspunkt für immer kühnere Inszenierungen Meyerholds.
Das Trotzki gewidmete Revolutionsstück >Die Erde bäumt sich<
von Tretjakow wurde als ein kriegerisches und revolutionäres Fu-
rioso in Szene gesetzt. Auf der kahlen Bühne war ein Eisengerüst
aufgebaut worden, davor bemerkte man mehrere Kanonen, ein Flug-
zeug und eine Feldküche. Quer durch den Zuschauerraum führte
eine Verbindungsbrücke zur Bühne; darüber rasten während der
ganzen Vorstellung fast unentwegt Autos, Motorräder und Rad-
fahrerkolonnen. Im ersten Teil des Stücks wurde die letzte Phase
des Weltkrieges abgehandelt Die Geschütze und Maschinengewehre
:

schössen wie wild, Verwundete wurden zum Verbandsplatz ge-


schleppt, karikierte Generäle schrien ihre Befehle, und von der Höhe
der Gerüste herunter riefen Soldaten zur Revolution auf. Im weiteren
Verlauf wurden die revolutionäre Erhebung und der Bürgerkrieg
dargestellt Wieder wurde aus allen Rohren geschossen, wieder don-
:

nerten die Motorfahrzeuge durch den Zuschauerraum, sanken Ge-


fallene und Verwundete zusammen. Schließlich erstürmten die sieg-
reichen Bolschewiken die Bühnenaufbauten, die Tribünen, den Zu-
schauerraum und das Foyer und hißten überall rote Fahnen. Das
sich, und alles sang gemeinsam die Internationale.
Publikum erhob
Aus dem Roman von Ilja Ehrenburg >Der Trust D. E.<, ergänzt
durch Passagen aus Kellermannns >Tunnel<, bastelte Meyerhold ein
Agitationsstück zurecht. In der Handlung ging es darum, daß die
amerikanischen Kapitalisten ganz Europa erobert haben und Sowjet-
rußland bedrohen, die Bolschewisten aber insgeheim einen unter-
seeischen Tunnel von Leningrad nach New York bauen und auf
diese Weise in Amerika selbst einrücken. Die Vorstellung spielte sich
vor beweglichen Wandschirmen ab, die mit Hilfe weniger Dekora-

74
tionsstücke und bestimmter Beleuchtungseffekte
die verschieden-
artigsten Schauplätze abgaben. Die aneinandergereihten Szenen-
fetzen beleuchteten Situationen in der ganzen Welt; soweit es sich
um die Sowjetunion handelte, in plakativer und monumentalisierter
Form, soweit es die kapitalistischen Länder anging, in Form von
Sketchen und Buffonerien (beispielsweise zeigte eine Szene, die in
England spielt, vom Untergang bedrohten Lords gegen-
wie sich die
Kinomontagen, Agitationsreden, Dokumentatio-
seitig auffressen).
nen umrahmten und durchsetzten die Aufführung.
Bei der Jahre später unternommenen Inszenierung von Tretjakows
>Brülle,China < erwies sich die Regie bereits maßvoller und über-
zeugender; sie zeichnete den Grundgedanken der Aufführung in
großen und kräftigen szenischen Linien. Der Massenrhythmus der
chinesischen Kulis und der gedrillte Automatismus der Europäer
wurden einander gegenübergestellt. Das erste Bild zeigte z. B. das
Verladen von Tee Ein Kuli nach dem anderen kommt heran, fängt
:

seinen Ballen im Flug, wirft ihn auf die Schulter und schleppt ihn
schnell weg, begleitet von den Takten des chinesischen Arbeits-
liedes und den Zurufen des Aufsehers. So wurden immer wieder ein-
drucksvolle Massenszenen arrangiert, die ihr Vorbild entweder in
Produktionsvorgängen oder in Straßendemonstrationen hatten, also
aus dem Leben selbst stammten. Die Europäer waren mit Masken
ausgestattet und bewegten sich wie Marionetten; ihre ganze Er-
scheinungswelt trug im Gegensatz zu dem Realismus der Chinesen-
szenen operettenhafte Züge.
Parallel zur Tendenz seiner ausgesprochenen Agitationsstücke,
und sie schließlich verdrängend, entwickelte Meyerhold die Linie
des musikalisch-pantomimischen Darstellungsstils in seinen Klassi-
ker-Transformationen. Eine der ersten und wichtigsten Stationen
auf diesem Wege war die Aufführung der Komödie >Der großartige
Hahnrei < von Crommelynck. Der Grundgedanke der Handlung -
Liebe und Eifersucht im Rahmen eines Dreiecksverhältnisses -
wurde ohne Rücksicht auf die konkrete Handlungsführung in kon-
struktivistische und dynamische Formprinzipien übertragen. Die
Schauspieler, allesamt im blauen Dreß, bewegten sich auf einem
verschachtelten System von Podesten, Treppen und Rutschbahnen;
ihre Gänge und Gebärden folgten streng den Gesetzen geometri-
scher Figuren und musikalischer Rhythmen. Große Schwungräder
und Windmühlenflügel im Hintergrund unterstrichen die Bewegun-
gen und Erregungen der Darsteller, indem sie je nach dem Impuls der
Handlung schneller oder langsamer rotierten. Die Bewegungen und
Konflikte der drei Zentralfiguren (Ilinski, Saitschikow und Maria
Babanowa, später Sinaida Reich) wurden im harmonischen oder
kontrapunktischen Zusammenspiel bzw. Widerspiel veranschaulicht
und durch abgestimmte pantomimische Haltungen und Gesten sym-
bolisiert.
Ein Schritt weiter war die Einstudierung von Alexander Ostrow-

75
skis >Wald<, bei der die politische und die formale Erneuerung in-
einandergriffen. Meyerhold zerlegte das Stück in 33 Episoden, die
sich teils auf, teils unter einer hoch in den freien Raum hinauffüh-
renden Treppenspirale abspielten. Die Inszenierung bezog ihre
Spannung aus einer weit über die Absichten des Originals hinaus-
gehenden sozialkritischen Konfrontation der adligen Gutsbesitzer
mit den einfachen Menschen aus dem Volk, wobei die einen karika-
turenhaft überzeichnet, die anderen heroisiert wurden. Dabei ließ
Meyerhold sich ganz von den alten russischen Traditionen inspirie-
ren, den Hanswurst-Possen und dem Volkslied. Die satirisch ge-
dachten Szenen wurden in der Art Chaplinscher Situationskomik
ausgekostet, die lyrischen leitmotivartig vom Schmelz der Ziehhar-
monika begleitet; die schöne Sinaida Reich und der spritzige Igor
Ilinski, die beiden vollkommensten Interpreten Meyerholds, zogen
allekomödiantischen und poetischen Register.
Die Inszenierung, die am meisten Aufsehen erregte, war wohl >Der
Revisor < von Gogol (mit der Reich und der Babanowa als Frau und
Tochter des Stadthauptmanns, Garin, später Martinson als Chlesta-
kow). Meyerhold kombinierte das Stück mit Szenen aus anderen
Komödien Gogols und sogar aus dem Roman >Die toten Seelen <.
Die Handlung wurde nach dem Bilderbogenmuster in fünfzehn Epi-
soden aufgelöst, der konkrete, realistische Vorfall in einem russi-
schen Provinznest zu einem Gleichnis für die ganze verrottete Be-
amtenwelt des alten Rußlands überhöht. Die Regie arbeitete wieder-
um musikalisch-pantomimisch, sie sättigte die Aufführung mit Sym-
bolen. Die Enge der alten Verhältnisse wurde dadurch zum Ausdruck
gebracht, daß man viele Szenen auf winzigen, tablettähnlichen Flä-
chen, die auf Roll wägeichen über die Bühne glitten, spielen ließ, wo-
durch der Eindruck eines Gedränges der Figuren entstand. Bei sei-
nem Monolog folgte Chlestakow, der falsche Revi-
prahlerischen
sor, in Worten und Bewegungen den Takten eines Walzers, was die
Überschwenglichkeit seiner Stimmung unterstreichen sollte. In der
Bestechungsszene öffneten sich im Halbkreis des blitzblanken Hinter-
grundes lauter Türen, aus denen immer neue Beamte ihre Hände mit
zerknitterten Rubelnoten hervorstreckten und in der Art einer Fuge
in einem fort wiederholten: »300 Rubel von mir! - 300 Rubel von
mir! ..« Gegen Schluß sank mit der Stimmung der Gesellschaft auf
.

der Bühne auch die Helligkeit der Beleuchtung, schließlich brannten


nur noch Kerzen die Darsteller umkreisten unentwegt und wirr das
;

Spielfeld, bis sie fast unmerklich durch richtige Wachspuppen ersetzt


wurden und damit erstarrten - es blieb der Schlußeindruck eines
gespenstischen Panoptikums.
Die Inszenierung wurde von einem Teil der Öffentlichkeit mit
Entzücken, von einem anderen mit Empörung aufgenommen. Wäh-
rend z. B. Lunatscharski schrieb: »Wie glücklich wäre Gogol, wenn
er der Aufführung seines >Revisor< als Zuschauer hätte beiwohnen
können«, nannte Stalins Lieblingsschriftsteller Demjan Bedny den

76
Regisseur den »Mörder Gogols«. Im wesentlichen nahm die Partei
damals, 1926, noch für Meyerhold Stellung und feierte die Premiere
des >Revisor< als Beginn einer neuen Theaterära.
Ende der zwanziger Jahre sagte sich Meyerhold vom Theater-
oktober los: »Die Zeit der >Agitkas< (Agitationsstücke) ist vorbei.
Wir werden eine Reihe höchst komplizierter Probleme aufgreifen
und sie mit den kompliziertesten Verfahren der Theatertechnik
lösen. Wir nehmen den Kampf gegen die > Agitka < auf und treten für
eine kompliziertere Lösung der Probleme unserer Übergangszeit
ein.« Die dritte, die Spätphase im Schaffen Meyerholds (nach der
Stilbühne vor dem ersten Weltkrieg und dem Konstruktivismus des
Theateroktober) ist im Westen kaum bekannt geworden, da sich die
Sowjetunion auch künstlerisch immer mehr isolierte. Meyerholds
Regie wurde sublimer und behutsamer; der im >Wald< und im
>Revisor< herangereifte musikalisch-komödiantische Darstellungs-
stil verdrängte das politische Pathos; psychologische, gesellschafts-

kritische, aber auch spielerische und sogar absurde Elemente dran-


gen ein.
Zu Beginn der dreißiger Jahre inszenierte Meyerhold >Die Kame-
liendame < von Dumas (mit Sinaida Reich). Das Stück paßte recht
wenig in die Sowjetwirklichkeit, aber er konnte sich darauf berufen,
daß Lenin einmal bei einer Aufführung in Genf, in der Sarah Bern-
hardt die Hauptrolle spielte, Tränen der Ergriffenheit geweint hatte.
Meyerholds Inszenierung war ein Kammerspiel von erlesener Grazie
und Delikatesse. Er hatte die Bühne mit echtem antikem Mobiliar
ausstatten lassen; die Schauspieler bewegten sich zwischen Maha-
gonimöbeln, silbernen Spiegeln, Sevresvasen und kostbaren Porzel-
lanfiguren. Nach dem Bericht von Jelagin kommentierte Meyerhold
seine Inszenierungsidee »Schöne alte Dinge, die vor Jahrhunderten
:

angefertigt wurden, als man noch die Kunst des Handwerks kannte,
haben eine besondere Ausstrahlung. Sie schaffen eine Atmosphäre,
die uns das Wesen und den Geist einer alten Epoche anschaulich
macht. Von diesen schönen alten Dingen umgeben, werden die
Schauspieler in der Lage sein, die Lebensart und die Leidenschaften
jener Tage nachzuempfinden und sie mit großer Natürlichkeit dar-
zustellen.« Das Prinzip erinnert auf den ersten Blick an die Methode
Stanislawskis, dem es ja stets darum ging, wahre Empfindungen in
den Seelen der Schauspieler wachzurufen, aber möglicherweise
dachte Meyerhold mehr an den Bewegungsstil seiner Darsteller, der
durch den Umgang mit zierlichen und zerbrechlichen Gegenständen
notwendig einen feingliedrigen und feinnervigen Charakter erhielt.
Eine der letzten Arbeiten Meyerholds war die Dramatisierung des
Romans >Wie der Stahl gehärtet wurde <, der Autobiographie des
jungen Sowjetschriftstellers Nikolaj Ostrowski, der teilweise gelähmt
und blind aus dem Bürgerkrieg heimgekehrt war und sein Buch auf
dem Krankenlager niedergeschrieben hatte. Die Aufführung wurde -
wie so manche der späten Inszenierungen Meyerholds - nach der

77
Generalprobe verboten; offenbar verstieß die Bühnenversion gegen
die gereinigte und kanonisierte Fassung, die die Stalinisten nach dem
Hinscheiden Ostrowskis von dem Buch hergestellt hatten. In der
Meyerholdschen Inszenierung soll, wie Stewart Cheney berichtet,
besonders eindrucksvoll die Sterbeszene eines der Genossen Ostrow-
skis gestaltet gewesen sein: »Wenige Augenblicke vor dem Tode des
jungen Mannes gleiten einige Ereignisse aus seinem Leben vor sei-
nem inneren Auge vorüber, die hinter ihm auf eine Leinwand proji-
ziert werden. Der Sterbende durchlebt z. B. noch einmal einen Ko-
sakenangriff auf sein Heim, wobei die Musik, die den nahenden Tod
vorausahnen läßt, die Illusion noch verstärkt. Der Mann wirft den
Kopf hoch, ein furchtbarer Schrei aus seiner Kehle läßt die Musik
abbrechen, während gleichzeitig das Bild verblaßt. Ein anderes tritt
an seine Stelle. Es ist eine Kindheitserinnerung. Seine Schwester
spielt Klavier . . . Langsam sinkt das Haupt des Mannes zurück, die
Musik bricht plötzlich auf dem höchsten Ton ab. Nun hört er nichts
mehr, und Totenstille herrscht auf der Bühne .« Gerade dieser
. .

menschlich ergreifende Ton der Inszenierung wurde von der Partei


als pessimistisch und defätistisch verurteilt.
Im Gefolge von Meyerhold befand sich in den ersten anderthalb
Jahrzehnten nach der Revolution ein ganzer Schwärm von Sowjet-
bühnen, die sich daranmachten, einzelne Aspekte aus der Ideenwelt
des Meisters bis zur letzten Konsequenz weiterzuentwickeln. Es
wurde die Losung ausgegeben »Von der Emotion zur - Maschine,
:

von der Überreizung zum - Trick. Die Schauspielkunst ist - ein


Zirkus, die Psychologie - stellen wir auf den Kopf.« Die bemerkens-
wertesten derartigen Institute waren die Forregger- Werkstätten und
Eisensteins Proletkult-Bühne. Forregger löste das Theaterspiel fast
ganz durch Clownerien und Exzentrikszenen ab, weil er der Mei-
nung war, man bringe die bourgeoise Welt am besten durch Ver-
ulkung und Verhöhnung zu Fall. Ferner ersetzte er die Musik durch
Geräusche eines »Lärmorchesters« und das Ballett durch den »Ma-
schinentanz«. Die Proletkult-Bühne stellte sich ganz darauf ein, die
alte Volkskunst der Narrenspossen und Jahrmarktsakrobatik zu er-
neuern. Da wurde denn Theater gespielt und Agitation getrieben,
indem die Artisten herumrannten und herumsprangen, turnten,
kletterten, jonglierten, balancierten und auf dem Kopf standen.
(Eisenstein inszenierte mit solchen Darstellungsmitteln ein klassi-
sches Stück von Alexander Ostrowski !) Der Theaterraum wurde in
eine Manege verwandeltem sogenannten »Projektionstheater«, einer
der Proletkult-Bühne verwandten Einrichtung, verschwand denn
auch das Bühnenpodest, und die Vorführungen wurden wie beim
Zirkus in die Mitte des Raumes verlegt. In der Tat hat der russische
Zirkus, der heute in Blüte steht, uneingestandenermaßen vom Pro-
letkult manche Anregung empfangen: im positiven Sinne durch die
Auffrischung und Erweiterung der formalen Mittel, im negativen
durch die Einbeziehung der Agitation in das zirzensische Spiel. Für

78
das Theater erwies sich die Praxis des Proletkults als Sackgasse;
Meyerhold selbst hat sich später gegen die veräußerlichte »Meyer-
hold-Manie« seiner Epigonen verwahrt. Der Regisseur Sergej Eisen-
stein gab die unfruchtbare Tätigkeit beim Proletkult schließlich auf
und ging zum Film er übertrug den Geist des Theateroktober, Dy-
;

namik und Pathos der Massenfeste, auf die Leinwand und wurde der
große Bahnbrecher des Monumentalfilms.

Neben der Gruppe der »proletarischen« Theater gab es die »aka-


demischen«, die Volksbildungskommissar Lunatscharski, um sie dem
Zugriff der revolutionären Bilderstürmer zu entziehen, sozusagen
unter Denkmalschutz gestellt hatte. Als »akademische Bühnen« gal-
ten, nur weil es sich um vorrevolutionäre Gründungen handelte,
solche heterogenen Institute wie in Moskau die Große Oper (Bolschoi
Teatr), das Kleine (Maly) Theater, Stanislawskis Künstlertheater
und Tairows Kammertheater. Wie wenig diese schematische sozio-
logisch-politische Einteilung über die Kunst aussagte, ist daraus er-
sichtlich, daß aus der Schar der »Akademischen« nicht weniger
Theaterrevolutionäre hervorgingen als aus der der »Proletarischen«.
Als Tairow mit seinem Kammertheater einige Jahre nach der Revo-
lution in Paris gastierte, schrieb Frankreichs großer Theatermann
Andrd Antoine, erschreckt über den revolutionären Elan dieses
»akademischen« Theaters: »Alles bei diesen Vorstellungen, Deko-
rationen, Kostüme und die Art der Interpretation, zielt auf die Zer-
störung unserer dramatischen Kunst ab. Die russischen Schauspieler,
die hier als Emissionäre auftreten, werden von unserer kühlen Ab-
lehnung um so weniger überrascht sein, als wir nie ermangelt haben,
auf ihre oft originellen Ideen aufmerksam zu machen und ihre inter-
essanten Tendenzen zu betonen. Es geht aber nicht an, daß wir uns
vollkommen vernichten lassen.«
Alexander Tairow, mit bürgerlichem Namen Kornfeld, geboren
1885, begann - wie alle großen russischen Theaterpersönlichkeiten
der Epoche - in den Fußtapfen Stanislawskis. Als Meyerhold sich
selbständig machte, wurde er dessen Anhänger und spielte im Thea-
ter der Kommissarshewskaja. Aber weder der Weg Stanislawskis
noch der Meyerholds befriedigten ihn. So hatte er sich nach der
Spielzeit. 1912/13 schon entschlossen, der Bühne ganz zu entsagen,
als er plötzlich doch noch eine schöpferische Möglichkeit entdeckte.
Er berichtet darüber selbst:
»Es vergingen nur wenige Tage, und die gewonnene Ruhe, auf
die ich so stolz gewesen war, begann mich zu verlassen.
Die Morgenzeitungen brachten jeden Tag neue, sensationelle Be-
richte über das neu entstehende Freie Theater: >das Theater aller
Gattungen der Bühnenkunst <, >Monachow, Schaljapin, Dawydow,
die Koonen, die Andrejewa, Balturschaitis, die Düse, die Sarah
Bernhardt, Salvini sind verpflichtet worden <, >die Vorarbeiten sind
in vollem Gang - aller Art Versuche haben bereits Millionen ver-

79
schlungen <, >für einzelne Aufführungen sind Max Reinhardt, Georg
Fuchs, Gordon Craig - ja der römische Papst - hinzugezogen <, >der
Spielplan umfaßt Drama, Lustspiel, Operette, Pantomime < - und
noch manches andere.
Und zwischen allen diesen Berichten tauchte die merkwürdige,
fast phantastische Gestalt Mardshanows auf, eines Mannes, der zwei-
fellos allgegenwärtig sein mußte denn nach den Zeitungen zu schlie-
;

ßen, arbeitete er zu ein und derselben Zeit in Moskau an der Insze-


nierung der >Schönen Helena <, pflog in Petersburg Unterhandlungen
mit Warlamow, in Florenz mit Gordon Craig, sah sich in China die
>Gelbe Jacke < an, stellte in Prag ein Orchester zusammen, traf in
London Abmachungen über ein Auslandsgastspiel und kaufte in der
Ukraine Stiere für den > Jahrmarkt von Sorotschinzi<.
Nach ein paar Tagen traf ich mit Mardshanow zusammen.«
Dieser reiche Theaterenthusiast, der übrigens auch aus dem Kreis
um Stanislawski hervorgegangen war, hatte zwar schon eine so
stattliche Belegschaft beisammen, daß er mit ihr das ganze Parkett
seines Theaters hätte füllen können, engagierte aber auch noch
Tairow und trug ihm auf, am Freien Theater eine Pantomime zu
inszenieren. Damit wurde der junge Künstler auf einen Weg ge-
stoßen, der ihm völlig neue Perspektiven eröffnete. Diesem Weg
blieb er treu, auch als das Mardshanowsche Mammutunternehmen
nach der ersten Spielzeit wie ein Kartenhaus zusammenklappte. Im
bewegten Jahre 1914, schon nach Kriegsausbruch, eröffnete Tairow
seine eigene Experimentalbühne, das Moskauer Kammertheater.
Die Linie seines Theaters bestimmte Tairow zuerst einmal negativ,
d. h. im Gegensatz sowohl zum Naturalismus Stanislawskis als auch
zur Stilbühne Meyerholds. Beide Richtungen vergewaltigten seiner
Meinung nach das Theater, vor allem dessen Herzstück die Schau-
:

spielkunst, die er als Ausdruckskunst des menschlichen Körpers be-


griff.Das naturgetreue Erleben, das die Methode Stanislawskis vor-
schreibt, verdamme den Schauspieler zu einer Tätigkeit, die mit
Kunst nichts zu tun habe. »Bei einiger Beobachtungsgabe und leich-
ter nervöser Erregbarkeit oder bei neurotischen Störungen kann ein
jeder das zum Erleben Nötige sich aneignen. Dazu gehört keine
schöpferische Tat, es genügt, das gesunde menschliche Schamgefühl
so weit zu überwinden, daß man vor allen Leuten das zu tun vermag,
was man naturgemäß besser fern von den andern, allein mit sich
selber abmachte.« Die Stilbühne wiederum, die den Schauspieler
dekorativen oder (beim nachrevolutionären Meyerhold) raumkon-
struktivistischen Prinzipien unterwirft, töte dessen eigentümliche
menschliche Substanz. Die naturalistische Methode komme darauf
hinaus, den Schauspieler zu einem in seiner Seele herumwühlenden
Psychopathen, die der Stilisierung, ihn zum bloßen Farbfleck bzw.
zum Maschinenteil zu machen. Beide Methoden stünden wie These
und Antithese zueinander; der ungeformten Natur sei die unnatür-
liche Form entgegengesetzt worden. Die richtige Synthese könne nur

80
sein, aus derNatur des Schauspielers die schauspielerische Form zu
entwickeln, eine Form, die organisch und emotionsgefüllt dem We-
sen der Schauspielkunst gemäß sei.
Tairow erstrebte also ein Theater der reinen Schauspielkunst, die
von allen psychologischen, literarischen, bildkünstlerischen und
technischen Ambitionen befreit ist. In diesem Sinne muß man den
Slogan »Entfesseltes Theater« verstehen, der sich nach dem Titel
von Tairows Buch für seine ganze künstlerische Arbeit eingebürgert
hat: Der Schauspieler von allen seiner Kunst fremden
soll sich frei
Einwirkungen entfalten können,gebunden jedoch an seine eigene
physische Struktur. Der Ausdruck »nicht gefesselt« würde den Kern
des Gedankens besser treffen als der mißverständliche »entfesselt«,
worunter man doch gemeinhin soviel wie überschäumend, ausgelas-
sen, anarchistisch zu verstehen pflegt. Ein Theater der Zügellosig-
keit hatte Tairow keineswegs im Sinn; neben Meyerholds Revolu-
tionstheater wirkte das seine ausgesprochen formstreng und dis-
zipliniert. Worauf er hinauswollte, war Part pour Part in Reinkultur:
die Schauspielkunst nur um der Schauspielkunst willen.
Im Mittelpunkt der Tairowschen Ästhetik steht der Begriff der
»Emotionsgeste«. Das ist eine Transponierung seelischer Empfin-
dungen in körperlichen Ausdruck, die man aber nicht mit der Meyer-
holdschen Biomechanik verwechseln darf. Es geht nicht um die
Schaffung von Bewegungssymbolen, sondern um die szenische Äuße-
rung der schauspielerischen Phantasie. Die Produktion einer solchen
szenischen Äußerung beschreibt Tairow folgendermaßen:
»Das erste Element, das Element des Suchens nach dem szenischen
Gebilde, unterliegt keinen bestimmten Regeln und läßt sich in kein
System fassen. Es ist ein tief individualistisches Element, das sich
bei jedem Schauspieler anders kundtut. Das Geheimnis des ersten
Auf keimens eines szenischen Gebildes ist ebenso wunderbar und un-
mitteilbar wie das Geheimnis des Lebens und des Todes Ein . . .

und derselbe Schauspieler schlägt auf der Suche nach verschiedenen


szenischen Gebilden oft diametral entgegengesetzte Wege ein. Und
wenn ihm in einem Falle eine pantomimische Inbegriffnahme be-
hilflich sein kann, das Gesuchte zu finden, so entzündet er sich ein
anderes Mal an klanglichen Vorstellungen, ein drittes Mal an einer
plötzlichen inneren Erregung usw.
Nur wenn der Schauspieler das Gebilde in seinem Innern erfaßt
hat, kann die sogenannte Arbeit an den Rollen beginnen, die sich als
das zweite Grundelement des schauspielerischen Schaffens erweist
und schon bedeutend leichter ist. Denn diese Arbeit läßt sich in be-
stimmter Weise regeln und unterliegt einer planvollen Gesetz-
mäßigkeit, die in der Einfügung des szenischen Gebildes in das Ge-
samtgebild des aufzuführenden Werkes zutage tritt. In diesem Pro-
zeß des Zusammenstoßes mit dem gesamten Szenarium und mit den
andern handelnden Personen gießt sich das vom Schauspieler er-
fühlte szenische Gebilde in die ihm entsprechende sichtbare und

81
präzise Form und vollendet so den schöpferischen schauspielerischen
Vorgang.«
Tairow näherte sich bewußt tänzerischen Ausdrucksformen. Als
die Kritik einmal seiner Hauptdarstellerin, seiner Frau Alice Koo-
nen, vorwarf, habe ihre Rolle nicht gespielt, sondern getanzt,
sie
empfand Lob. Im Ballett sah er eine Darstellungs-
er dieses Urteil als
kunst, die ihrem Wesen nach der seinen näherstand als alle zeit-
genössischen Schauspielpraktiken er verglich seine eigene Arbeit als
;

Regisseur gern mit der des Ballettmeisters. Nur daß er im Unter-


schied zum Tanz und zur Pantomime das Wort in die Gestaltung
einbezog, freilich ebenfalls in gehobener, sublimierter Form. Es ist
interessant zu bemerken, wie der theatralische Expressionismus Tai-
rows da dem tänzerischen Expressionismus, dem Ausdruckstanz, be-
gegnete, der ihm von der anderen Seite, vom Ballett her, entgegen-
kam und nun wieder durch theatralische Mittel wie Schreie, Atem-
bewegungen, dramatische Emotionen um stärkere menschliche Aus-
drucksformen rang.
Analog zum Corps de ballet wünschte Tairow sich ein ebenso
gründlich trainiertes Corps de th6atre. Der Schauspieler sollte im
Besitz vollkommener und umfassender körperlicher Qualitäten sein,
denn der Körper sei das Material seiner Kunst. Der Theaterreformer
zitierte die Forderungen, die das Theater des alten Indiens an die Er-
scheinung des Schauspielers stellte: »Frische, Schönheit, angeneh-
mes, volles Gesicht, rote Lippen, schöne Zähne, ein Hals rund wie
ein Armband, schöngeformte Hände, vornehmer Wuchs, kräftige
Hüften, Zauber, Grazie, Würde, Edelmut, Stolz, von der Beschaf-
fenheit des Talents gar nicht zu sprechen.«
Um allen Regungen der Phantasie nuanciert Ausdruck verleihen
zu können, sei ein »synthetischer Schauspieler« nötig, ein »Uber-
schauspieler«, der alle Ausdrucksformen beherrscht, also spielen,
singen, tanzen, turnen, jonglieren kann. Schon Mardshanow hatte
ein »synthetisches Theater« angestrebt und in der einen Spielzeit, die
seinem Institut beschieden war, Oper, Operette, Pantomime, Drama
und Melodram gespielt. Tairow ging über den synthetischen Spiel-
plan hinaus, indem er die synthetische Aufführung forderte, wo in
ein und demselben Stück alle Elemente der Bühnenkunst zum Tra-
gen kommen sollten, und den synthetischen Schauspieler, der alle
vorkommenden Rollen in gleicher Vollkommenheit bewältigt. Cha-
rakteristisch für sein Theater war nicht nur, daß er in bunter Reihen-
folge z. B. Wildes Seelendrama >Salome<, Debussys Pantomime >Die
Spielzeugschachtel <, Scribes Melodram >Adrienne Lecouvreur<,
E. T. A. Hoffmanns Harlekinade >Prinzessin Brambilla<, Claudels
Mysterium >Verkündigung<, Racines klassische Tragödie >Phädra<
und Lecocqs Operette >Girofl6-Girofla< aufführte, sondern daß in
jeder Aufführung dramatische, pantomimische, tänzerische und mu-
sikalische Formen wirksam waren und daß er alle Werke mit den-
selben Darstellern besetzte - Alice Koonen verkörperte in nahezu

82
Vollkommenheit die Salome, die Phädra, eine revolutionäre
gleicher
Kommissarin in Wischnewskis optimistischer Tragödie< und die
Hauptrolle in der Operette >Girofl6-Girofla<, wo sie voller Charme
tanzte und sang. Diese Universalität war natürlich nur möglich, weil
bei Tairow die Besonderheiten der Genres und der Rollentypen ver-
wischt wurden und es in jedem Falle nur darum ging, durch Mimik,
Gestik, Intonation und Bewegung der Phantasie entsprungene
szenische Gebilde zu kreieren.
Die augenfälligste Neuerung des Kammertheaters war die Um-
gestaltung des Bühnenraums. Tairow lenkte die Aufmerksamkeit
der Bühnenbildner (Exter, Wesnin, Jakulow, Gebr. Stenberg u. a.)
von der Beschäftigung mit Hintergrundkulissen und Dekorationen
auf die Gestaltung des Bühnenbodens, den er als das wichtigste Ele-
ment der Szene, die Plattform der schauspielerischen Arbeit ansah.
Um der Bewegung des Schauspielers in ausreichendem Maße Ent-
faltungs- und Variationsmöglichkeiten zu geben, sollte der Bühnen-
boden gegliedert sein:
»Man stelle sich vor, es sei einem die Aufgabe gestellt, die Herab-
kunft der Gottesmutter zu inszenieren. Wie muß die Bühne gestaltet
sein, um einen intensiven Eindruck der Herabkunft zu erzielen? Auf
einer ebenen Fläche läßt sich ein solcher Eindruck natürlich nicht
erreichen. Der Boden muß gebrochen werden und aus mehreren
verschieden hohen Flächen bestehen, die in ihrer Gesamtheit so etwas
wie eine unendliche Treppe darstellen müssen, auf der die Gottes-
mutter erdwärts schreitet. Wie aber muß diese Treppe konstruiert,
wie muß das Wechselverhältnis zwischen ihren Stufen beschaffen
sein? Die Lösung hängt ganz von der rhythmischen Absicht des
Spielleiters ab. Wenn der Zuschauer den Eindruck erhalten soll, sie
schwebe gleichsam herab und berühre mit ihren Füßen kaum den
Boden, wenn der Herabkunft ein feierlich-liturgischer Charakter
verliehen werden soll, so müssen die Stufen so konstruiert sein, daß
ihre Abstände überall gleichmäßig sind; ihre rhythmische Entspre-
chung muß sich durch i 4 oder 1 8 ausdrücken, wodurch die Be-
: :

wegung der Schauspielerin einen gleichmäßigen und ununterbro-


chen fließenden Rhythmus erhält.
Will man aber der Bühne beispielsweise den Charakter eines stür-
misch flammenden Bacchanals zu Ehren des Dionysos verleihen, so
wird man, der neuen Aufgabe entsprechend, den Bühnenboden der-
art brechen, daß alle verschieden hohen Flächen durch vielfältige
und verschiedenartige Rhythmen miteinander verbunden sind, durch
die die bacchischen Gebärden und satyrhaften Sprünge auf der Bühne
ein vielfältiges rhythmisches Schwanken erhalten und so den ge-
wünschten Eindruck einer bacchischen Handlung im Zuschauer her-
vorrufen.«
So bot sich denn die Bühne des Kammertheaters dem Auge dar
als ein Panorama von mächtigen Kuben, Quadern, Kegeln, Pyrami-
den, Schrägen, Treppen und Stufenreihen. An bestimmten Höhe-

83
punkten des Geschehens wandte Tairow das Prinzip der »dynami-
schen Umschwünge« an, worunter er eine jähe Umwandlung des
Bühnenbildes verstand, einen szenischen Akt, der eine besonders
prononcierte schauspielerische Gebärde über die Grenze der mensch-
lichen Ausdrucksmöglichkeit hinaus steigern sollte » wenn dann
: . . .

im Verlauf der Handlung die dynamische Energie sich im unerwar-


teten Ausruf der Salome entlädt >Ich werde für dich tanzen, Tetr-
:

arch<, so zerreißt der gierige Freudenschrei, der sich der Brust


des Herodes entringt, den hinteren Vorhang der Bühne, löst ihn
in zitternde Ätherwellen auf und enthüllt den vom Blute trunkener
Mondstrahlen befleckten roten Vorhang des Tanzes und des To-
des.«
Das von großen stereometrischen Formen beherrschte Bild der
Bühne erhielt seinen jeweils besonderen Charakter durch die Viel-
falt und Stärke der Farbschattierungen. Tairow ließ sich da wieder
vom altindischen Theater anregen, dessen Bühne im Hintergrund
von einem Vorhang abgeschlossen war, der die Farbe der jeweiligen
Grundstimmung trug: Bunt für eine Komödie, Schwarz für eine
Tragödie, Rot für die Leidenschaft, Weiß für die Liebe usw. Im
Kammertheater wurde die Komposition der Farben mit Hilfe des
Lichts zu raffinierten Wirkungen gesteigert: »Die Farbenkompo-
sition des >Thamyra Kitharedes< z. B. beruhte auf Schwarz, Blau und
Gold und sättigte gleichsam die ganze szenische Atmosphäre mit der
Sonnensehnsucht des Thamyra nach Apollo, die sich in der düsteren
Tragödie seiner Erblindung vollendet. Die farbigen Aufgaben einer
Harlekinade wiederum können den Maler zu ganz anderen Kompo-
sitionen führen, die funkelnd und bunt sind wie ein Harlekinmantel
(z. B. >König Harlekin <, >PrinzessinBrambilla<).<<

In diesem Rahmen erstrebte Tairow auch eine Erneuerung des


Kostüms, das er nicht als historisierende Attitüde, sondern als die
»zweite Haut« des Schauspielers aufgefaßt wissen wollte. »Das Ko-
stüm ist das Mittel, den ganzen Körper, die ganze Gestalt des Schau-
spielers noch beredter und klingender zu machen, ihr Schlankheit
und Leichtigkeit oder Starrheit und Schwere zu verleihen.« Die
Kostüme Harlekins, Pierrots und Colombines schienen ihm in ihrer
Anschmiegsamkeit und ihrem Ausdrucksgehalt beispielhaft manche ;

seiner Figurinen verraten in ihren Formen und Farben, daß sie von
diesen historischen Vorbildern angeregt worden sind.
Von den beiden theatralischen Epochen, denen er sich am ver-
wandtesten fühlte, dem altindischen Theater und der Commedia
delParte (er eröffnete 1914 sein Theater programmatisch mit Kali-
dasas >Sakuntala< und spielte als nächstes Goldonis >Fächer<), über-
nahm Tairow auch das laxe Verhältnis zur Literatur. Die literarische
Vorlage sollte seiner Meinung nach nur das Material abgeben, aus
dem dann das Theater ein neues und eigenwertiges Kunstwerk zu
schaffen hat. »Nur ein derartiges Verhältnis ist ein echt theatralisches,
denn sonst hört das Theater unweigerlich auf, als auf sich selbst ge-

84
:

stellte Kunst zu existieren, und verwandelt sich in einen besseren


oder schlechteren Diener der Literatur, in eine Grammophonplatte,
die die Ideen des Autors wiedergibt.«
Bezeichnend für die Einstellung Tairows zum Wort war eine
Episode: In dem Drama >Stepan Rasin< des zeitgenössischen russi-
schen Schriftstellers Wassili Kamenski, einem historischen Stück um
den legendären Bauernführer von der Wolga, das 1919 im Romani-
schen Theater, einer Filiale des Kammertheaters, aufgeführt wurde,
gab es in der von Alice Koonen gespielten Rolle einer persischen
Fürstin eine Passage, die beim besten Willen niemand verstand. Sie
lautete

»Ai ehjal bura ben


Siwerim sise tschok
Ai salma
Ai gurmuish dschanamai«

Tairow schrieb dazu »Zuerst versuchte Kamenski uns einzureden,


:

daß dies altpersische Worte seien, nachher aber bekannte er, diese
Worte seien - zu seiner Ehre - in keiner Sprache zu finden. Nichts-
destoweniger wurden sie von den Zuschauern gierig aufgenommen.
Warum? Weil sie, ohne Zweifel, was die Stimme und die Sprech-
weise betrifft, meisterhaft in Klang und Rhythmus des szenischen
Gebildes eingefügt waren.«
Es erhebt sich die Frage, in was für einem Verhältnis der pure
Ästhetizismus dieses Theaters denn nun zur bolschewistischen Revo-
lution stand.Von einer bewußten politischen Beziehung kann sicher
nicht die Rede sein. Nicht nur, daß Tairow in seiner persönlichen
Haltung und Gesinnung alles andere als ein Bolschewist war, er
mußte von seinem künstlerischen Standpunkt aus natürlich alle
Tendenzen ablehnen, das Theater zu einem Forum der Agitation und
Mobilisierung der Massen zu machen. Über jenen Vorfall 1830 in
Brüssel meditierend, wo eine Aufführung der Oper >Die Stumme
von Portici< von Auber die belgische Revolution auslöste, konsta-
tierte er »Hier war ohne Zweifel der Geist des großen Verbunden-
:

seins im Theater aufgeflammt, hier hatten sich endlich die >zwei ge-
trennten Körper < durch den gemeinsamen Blutumlauf schöpferi-
scher Energie vereinigt, hier hatte das Theater die schöne und edle
<

Rolle der Fackel gespielt, an der sich die Flammen der Revolution
entzündeten, aber - die Vorstellung war damit abgebrochen. Der
Pulsschlag des Verbundenseins, der im Theater erwacht war, hatte
die Revolution entzündet, aber die theatralische Handlung aus-
gelöscht.« In diesem Punkte divergierte seine Auffassung entschie-
den von der Meyerholds und seiner Gesinnungsgenossen; er wollte
nicht eine Erneuerung des kultischen, sondern des ästhetischen Thea-
ters, nicht eine Theatralisierung des Lebens, wie es Jewreinow for-
muliert hatte, sondern eine »Theatralisierung des Theaters«. Den-
noch war es sicher kein bloßes Mißverständnis, wenn die ganze Welt

85
(und nicht zuletzt die russische Intelligenz selbst) in Tairows Dar-
bietungen ein Element des Revolutionstheaters sah.
Tairow entstammte genauso wie Meyerhold, Jewreinow und die
meisten Wortführer des Theateroktober jener avantgardistischen Re-
formbewegung, die in den Jahren von 1905 bis 1914 das russische
Theaterleben ergriffen hatte. Diese Bewegung war eine Reaktion auf
die Niederlage der Revolution von 1905, gewissermaßen ihre Subli-
mierung: Nachdem die politischen Hoffnungen der Intelligenz zer-
stört waren, schlug deren Emanzipationsstreben ins Ästhetische um.
Die betont apolitische und antiideologische Tendenz der künstleri-
schen Reformen widerspricht nicht dem dialektischen Zusammen-
hang sie erklärt sich als ein tiefenpsychologischer Akt der Verdrän-
;

gung. Als der Alpdruck, der auf dem politischen Leben lastete, im
Jahre 1917 verschwand, mündete die künstlerische Revolution denn
auch sofort in den Strom der politischen Revolution ein. Die Ex-
pressionisten, Futuristen, Symbolisten der Literatur wie des Theaters
stellten die ersten Protagonisten der revolutionären Kunst; ihre
lange vor der Revolution und unabhängig von ihr, aber aus dem-
selben Impuls heraus entwickelten neuen Formen erwiesen sich als
durchaus angemessen dem ungestümen Geist der Zeit. Viele Kunst-
griffe, die Tairow auf seiner Experimentalbühne ausprobiert hatte,
z. B. die synthetische Darstellungsmethode und die stereometrische

Raumgestaltung, wurden vom Revolutionstheater ohne weiteres


integriert.
Andererseits aber brachte das Jahr 1917 auch für Tairow selbst
eine entscheidende Wende. Zunächst einmal kam das Kammertheater
- wie ja auch das Künstlertheater - aus der ewigen finanziellen Misere
heraus und konnte großzügiger wirtschaften. Das allein hätte viel-
leicht noch nicht viel genützt (für Stanislawski bedeutete die Revo-
lution trotz mancher materieller Vergünstigungen den Schlußpunkt
seiner schöpferischen Entwicklung), wenn sich die nachrevolutio-
näre Atmosphäre nicht zugleich als fruchtbar für Tairows Intentio-
nen erwiesen hätte. Die für Neuerungen aller Art aufgeschlossene
Öffentlichkeit nahm die extravagantesten Einfälle mit Begeisterung
auf, empfand revolutionäre Taten, so daß der Künstler seiner
sie als
Phantasie, die er in den ersten Spielzeiten des Kammertheaters oft
genug hatte zügeln müssen, freien Lauf lassen konnte. Tairows
Theaterarbeit wurde aus der weltfremden und esoterischen Exklu-
sivität, in der sie sich bis dahin abgespielt hatte, in den Trubel des
öffentlichen Lebens versetzt. Dieser Kontakt wirkte belebend und
anregend auf den Künstler und nahm seinen Schöpfungen den etwas
dekadenten, verstiegenen Zug, der ihnen ursprünglich angehaftet
hatte. Erst der Theateroktober, dieses Kraftfeld theaterrevolutionärer
Aufgaben und Impulse, induzierte jenen Elan, der das Kammer-
theater zu einer faszinierenden Bühne von Weltbedeutung machte.
Eine der ersten Einstudierungen nach der Revolution war die
Harlekinade >Prinzessin Brambilla nach E. T. A. Hoffmann. Tairow
<

86
hatte eine besondere Vorliebe für den deutschen Romantiker, weil
er in dessen phantastischen Geschichten ein reiches Materialan Vi-
sionen und Archetypen fand, an dem sich seine szenische Phantasie
entzünden konnte. Die Hoffmannsche Traum- und Wunderwelt,
die ihre Bilder nicht in fertiger Gestalt, sondern in einem funkelnden
Kaleidoskop von Andeutungen, Assoziationen, Ideenblitzen und
Gaukeleien darbietet, gab Tairow die Möglichkeit, in aller Frei-
zügigkeit auf der ganzen Klaviatur seines synthetischen Theaters zu
spielen. Musikalisch beschwingt, traumhaft tanzend und torkelnd,
hintergründig spielerisch lief die Aufführung ab - ein »Capriccio des
Kammertheaters«, wie der Regisseur selbst sagte.
Die beiden modernen Lieblingsautoren des Kammertheaters wa-
ren Claudel und O'Neill, von denen eine ganze Reihe von Dramen
aufgeführt wurden. Es war sicher weder der Katholizismus des Fran-
zosen noch die gesellschaftskritische Tendenz des Amerikaners, was
Tairow anzog, sondern das ganz modern empfundene Weltgefühl
der Dichter und die in metaphysische Tiefen lotende Unergründlich-
keit ihrer Werke. O'Neills >Gier unter Ulmen < inszenierte er als ein
elementares Drama des erotischen Besitzes, wobei er den interessan-
ten Versuch machte, den solange abstrakt gegliederten Bühnenauf-
bau zu konkretisieren: Er stellte das ganze Haus, in dem sich die
Handlung abspielt, auf die Szene und gab den handelnden Personen
gewissermaßen räumlichen Anlauf und Auslauf, »man kann die
ahnungslosen Spieler der folgenden Szene schon kommen sehen,
während die vorhergehende noch im Gange ist; die Wirkungen der
zweiten werden gesehen, während das Spiel der dritten noch weiter-
läuft usw.« (so berichtet Gregor). Es erscheint verständlich, daß die
antiken Stoffe, die im Repertoire des Kammertheaters einen wich-
tigen Platz einnahmen, meist durch das Prisma eines modernen Dich-
ters gesehen waren: Wildes >Salome<, Hasenclevers >Antigone<,
Werfeis >Troerinnen<, denn es kam Tairow ja nicht auf die Handlung,
sondern auf die emotionale Grundmelodie an.
Kostbarkeiten in ihrer Art waren die Aufführungen der alten
Operetten von Lecocq >Girofle-Girofla< und >Tag und Nacht <. Die
funkelnde und sprühende Musikalität dieser frühen Werke ihres
Genres erlaubte es Tairow, die ganze kitschige Operettenherrlichkeit
beiseite zu lassen und ein Feuerwerk bunter szenischer Leuchtkugeln
abzubrennen. Das Bühnenbild beschränkte sich auf einen groß und
abstrakt geformten, schirmartigen Hintergrund, vor dem ein paar
Podeste, Estraden und Schrägflächen aufgebaut waren, die kunter-
bunten Kostüme ließen ans Variete denken, das Spiel brillierte in
Tempo, Nuancenreichtum und abgezirkelter Exzentrizität und gab
der Handlung, ohne sich beim konkreten Inhalt aufzuhalten, kari-
katuristische Zuspitzung und feinen, glitzernden Schliff.
In Tairows Inszenierung >Der Mann, der Donnerstag war<, nach
dem satirischen Roman von Chesterton, machten sich erstmals Ein-
flüsse des Meyerholdschen Konstruktivismus bemerkbar. Der Schau-

87
platz des Spiels war diesmal ein komplizierter Bau von Leitern und
Etagen, dem auf-und abfahrende Lifts, Leuchtreklamen und Plakate
ein effektvolles Aussehen verliehen. In die Aufführung waren rhyth-
mische Darbietungen eingestreut, die an biomechanische Übungen
gemahnten. Die neue Linie wurde mit der Einstudierung der >Drei-
groschenoper< 1930 fortgesetzt (übrigens der einzigen Brecht- Auf-
führung in der Sowjetunion zu Lebzeiten des Dichters). Manche aus-
ländischen Beobachter haben diese Variation des Kammertheater-
stils für den Versuch einer Anpassung an die Parteilinie, die damals

Meyerhold folgte, gehalten; das braucht aber durchaus nicht der Fall
gewesen zu sein, denn Tairows Beziehungen zu Meyerhold beruhten
auf Gegenseitigkeit: Alle Theaterrevolutionäre jener Zeit haben
naturgemäß aufeinander eingewirkt. Die Partei selbst übte in den
zwanziger Jahren in formaler Hinsicht noch keinen Druck auf die
Künstler aus.
Der originellste Schüler Tairows war der Regisseur Ferdinandow,
der ein eigenes, dem Kammertheater verbundenes Studio unterhielt.
Er systematisierte die künstlerische Methode seines Meisters zu einer
Theorie des Metro-Rhythmus.

Auch im Bereich des Moskauer Künstlertheaters regte sich nach


der Revolution neues theatralisches Leben. Unter den Fittichen
Stanislawskis, des Grandseigneurs der russischen Theaterkunst, der
zwar persönlich mit der neuen Zeit nicht mehr zurechtkam, aber in
großartiger Noblesse allen fortschrittlichen Ideen Förderung ge-
währte, wuchs eine Schar hochbegabter und revolutionär gestimm-
ter Theaterenthusiasten heran. Um
diesen jungen Kräften im Rahmen
seiner Schule Gelegenheit zu geben, ihre Begabungen und Intentio-
nen vollkommen frei ausreifen und sich entfalten zu lassen, gründete
der Altmeister um sein eigentliches, die konservativen Traditionen
pflegendes Stammhaus herum eine ganze Reihe von Experimentier-
bühnen die musikalischen Studios, vier Schauspielstudios, das jüdi-
:

sche Studio Habima und ein armenisches Studio. Jedes dieser Toch-
terinstitute des Künstlertheaters hat einen nicht unbedeutenden Bei-
trag zum sowjetischen Theaterleben der zwanziger Jahre geleistet.
Aus ihrer Mitte ging die dritte große Persönlichkeit des Revolu-
tionstheaters hervor: Wachtangow.
Jewgeni Wachtangow, 1883 geboren, wurde in der Schauspiel-
schule des Künstlertheaters ausgebildet und arbeitete dann als Schau-
spieler und Regieassistent im Ensemble. Einige Jahre vor dem ersten
Weltkrieg schickte Stanislawski ihn zusammen mit Sulershizki nach
Paris, wo die beiden im Theatre R£jane Maeterlincks >Blauen Vogel <
genau nach dem Muster der Moskauer Standardaufführung in Szene
zu setzen hatten. Damals war der junge Regieschüler noch hell be-
geistert von der Methode seines Meisters und schrieb nach Moskau:
»Der Gedanke, daß das Stanislawski-System etwas Großes ist, hat
sich mir endgültig bestätigt.« Weniger angetan von der Einstudie-

88
rung, die nach außen hin einen großen Erfolg hatte, war der belgi-
sche Autor Maurice Maeterlinck selbst. Wohl hatte Stanislawski ihn
vor Beginn der Inszenierungsarbeit eigens auf seinem romantischen
Landsitz, einer Klosterruine in der Normandie, aufgesucht und kon-
sultiert, aber beim Besuch der Aufführung empfand der Dichter
dann doch recht deutlich, wie sehr die gutbürgerliche Darstellungs-
weise des Künstlertheaters dem in seinem Werk zum Ausdruck kom-
menden neuartigen Lebensgefühl widersprach.
Auch Stanislawski empfand diesen Widerspruch und suchte ver-
zweifelt nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Da wurde er von
Gorki, der sich zu jener Zeit ebenfalls mit neuen Ideen herumschlug
(man denke an seinen Disput mit Lenin über die „Gottmacherei«),
nach Capri eingeladen. Gorki entwickelte dem Theatermann seine
Idee einer Bühne der Improvisation. Unter dem Eindruck der Steg-
reifspiele, die er im neapolitanischen Theater gesehen hatte, war er
auf den Gedanken gekommen, die Tradition der Commedia delParte
zu erneuern. Und zwar stellte er sich das folgendermaßen vor: Ein
Dramatiker sollte ein Szenarium entwerfen, in dem Thema, Per-
sonen und Schauplatz des Stücks angegeben sind. Im Verlaufe von
Diskussionen und Proben mit den Schauspielern, die sich ein eigenes
Bild von den Rollen machen, wird das »skizzierte Schema der Cha-
raktere« durch neue, lebenswahre und detaillierte Züge bereichert.
Beim Herausarbeiten der Charaktere ergeben sich dann auch deren
Widersprüche, und es entstehen die Konflikte des Stücks. Der Au-
tor verfaßt den endgültigen Text während der Arbeit des Kollek-
tivs an der Einstudierung. - Stanislawski griff die Idee interessiert
auf und richtete ein Studio ein, das sogenannte Erste, um das Ver-
fahren praktisch auszuprobieren. Leiter des Studios wurde Suler-
shizki, sein Assistent Wachtangow.
Gorki stellte dem Studio für die Improvisationsarbeit seine Szena-
rien zur Verfügung. Und es ist ein Brief Sulers an Gorki erhalten,
in dem ausführlich geschildert wird, wie »die Schauspieler selbst die
Stücke schaffen«. Aber bei den Versuchen kam nicht viel heraus.
Man wird den Grund für den Mißerfolg wohl vornehmlich darin
suchen müssen, daß die Weltanschauungen Gorkis und des Künstler-
theaters nicht miteinander harmonierten. Beide spürten wohl die
Zeichen der Zeit, strebten aber verschiedene Lösungen an. Während
Gorki nach wie vor von politischer Romantik bewegt wurde, hat-
ten Stanislawski und Sulershizki, die Gesinnungsgenossen Tolstojs,
eine künstlerische und humanitäre Erneuerung im Sinn. Zur bloßen
Propagierung von Ideen wäre die Improvisationstechnik sicher ge-
eignet gewesen (das sollte sich nach der Revolution zeigen), nicht
aber zu deren tiefgreifender Gestaltung. Doch fielen Gorkis An-
regungen bei dem jungen Wachtangow, der im Verlaufe der Arbei-
ten zu eigenem Denken erwacht war, auf fruchtbaren Boden.
Die Differenz zwischen Wachtangow und der Linie des Künstler-
theaters wurde offensichtlich, als er 1914 im Studio seine Inszenie-

89
rung von Hauptmanns >Friedensfest< herausbrachte. Im Anschluß an
die Vorstellung entspann sich unter den führenden Persönlichkeiten
des MCHAT eine Diskussion über Methode und Tendenz der In-
szenierung. Dantschenko meinte, man hätte das Stück im Ton ein
wenig dämpfen und seine Dramatik nicht so sehr verdichten sollen.
Stanislawski und Sulershizki schlössen sich seiner Meinung an, auch
sie fanden den von Wachtangow bis zum äußersten, mitunter über
jedes Maß hinausgetriebenen »Nervenkitzel« nicht vertretbar. Suler
erklärte, daß man im >Friedensfest< das Schwergewicht auf das Ver-
söhnende, das Gute im Menschen hätte legen müssen, auf das, was
die Menschen verbindet, nicht aber auf das, was sie trennt. Nur
Gorki stellte sich auf die Seite des Regisseurs Wachtangow, er teilte
methodisch wie weltanschaulich dessen Auffassung und empfand
die grellen Töne und die »entblößten Wunden der Familie Scholz«,
der bürgerlichen Familie, als echte Kunst, als »Kunst des Protestes«.
Aus jener Zeit stammt Wachtangows Inszenierung der >Sintflut<
von Henning Berger, die Lenin, als er sie nach der Revolution sah,
so gefiel - während der Parteiführer andere Einstudierungen des
Künstlertheaters, z. B. Gorkis >Nachtasyl< und Dickens' >Heimchen
am Herd< (Regie: Sulershizki), langweilig und kleinbürgerlich-sen-
timental fand.
Als Leiter verschiedener Studiengruppen von Schauspielschülern
und nach dem frühen Tod Sulershizkis (1916) als Leiter des Ersten
Studios hat Wachtangow dann noch wiederholt versucht, Gorkis
Improvisationsmethode zu beleben. Aber auch er hatte im Endeffekt
keinen Erfolg - die Zeit war noch nicht reif. Erst nach der Revo-
lution, unter den Auspizien des Theateroktober, bekam das Im-
provisieren einen realen Sinn und wurde allgemeine Mode. Kein
Wunder, daß Wachtangow sofort in das Schlepptau Meyerholds ge-
riet und alles, was er im Künstlertheater gelernt hatte, rigoros über
Bord warf. Er organisierte 1918 ein »Volks künstlertheater« und
schrieb in sein Tagebuch »Wir müssen den aufrührerischen Geist
:

des Volkes spielen ... Es wäre gut, wenn irgend jemand ein Stück
schreiben würde, in dem es keine Einzelrolle gibt. In allen Akten
spielt nur die Masse . . . Sie stürmt die Hindernisse, überwindet sie.

Sie triumphiert. Bestattet ihre Gefallenen. Singt das Weltlied der


Freiheit.« Von
der extremen Individualpsychologie Stanislawskis
war er zurextremen Massenbewegung Meyerholds übergegangen.
Sicherlich wäre er nur der talentierte Mitläufer der Theaterrevolution
geblieben, wie er zuvor der talentierte Schüler des Künstlertheaters
war, wenn er nicht schließlich doch ganz zu sich selbst gefunden
hätte.Den besten Tendenzen seiner Lehrmeister, dem künstlerischen
Ernst Stanislawskis, der humanistischen Romantik Gorkis und der
Theaterbesessenheit Meyerholds, in gleicher Weise verpflichtet wie
Tairows empfindsamer Musikalität, gelang es dem bereits vom Tode
gezeichneten Jüngling Wachtangow, zu neuen Herrlichkeiten des
Theaters vorzustoßen.

90
:

Die Stunde Wachtangows war eine der dunkelsten Rußlands. Er


rang die vier großen Inszenierungen, die seinen bleibenden Ruhm
ausmachen >Erik XIV. < von Strindberg, >Das Wunder des St. An-
:

tonius < von Maeterlinck, >Dybuk< nach einer jüdischen Legende


und Gozzis >Prinzessin Turandou, den letzten anderthalb Jahren
seines Lebens ab, den Jahren 1921/22. Das Land blutete aus allen
Wunden, die die Revolution und der Bürgerkrieg gerissen hatten.
Es war die Zeit des kriegskommunistischen Regimes, des Hungers
und der Kälte, da das Elend auf allen Straßen schrie und der Mob die
Lebensmitteldiebe in der Moskwa ersäufte, da die Bolschewisten auf
Lastwagenkolonnen in die Dörfer fuhren, um mit der Waffe in der
Hand das Getreide zu requirieren, und die Häscher der Tscheka in
allen Häusern nach Opfern suchten, da die heroischen Aufstände der
Matrosen von Kronstadt und der Bauern von Tambow, die Massen-
streiks der Arbeiter in den großen Städten in Strömen von Blut er-
stickt wurden, da der Dichter Maxim Gorki, von Entsetzen ge-
packt, die Sowjetunion verließ, der Dichter Alexander Block elend
verhungerte und der Dichter Nikolaj Gumiljow als »Konterrevolu-
tionär« erschossen wurde, da Trotzki sich betroffen von der Lei-
tung des Staates zurückzog und der dahinsiechende Lenin in einer
letzten verzweifelten Anstrengung den Versuch machte, seine ganze
Politik herumzureißen, um den Bestand seines Lebenswerkes zu ret-
ten - inmitten von Not, Grauen und Hoffnungslosigkeit schuf
Wachtangow seine glanzvollen Inszenierungen. Jelagin schildert
inseinem Buch ergreifend die letzte Schaffenszeit des Künstlers
»In diesem hungernden, frierenden, von Angst geschüttelten
Moskau studierte Wachtangow, selbst ein todkranker Mann, Prin-
zessin Turandot< ein. Seine Krankheit war als Krebs erkannt worden,
aber er lehnte es ab, dem Theater nur einen einzigen Tag fernzublei-
ben. Er schien nur von einem Drang besessen zu sein in den weni-
:

gen Monaten, die ihm noch blieben, soviel wie möglich zu schaffen.
Er arbeitete Tag und Nacht. Vom eigenen Studio ging er zum Studio
des Habima-Theaters, von dort zum Ersten Studio des Künstler-
theaters und von dort wieder in sein eigenes Theater, wo er mit kur-
zer Unterbrechung in den Morgenstunden rastlos weiterarbeitete.
Während der letzten Proben von >Prinzessin Turandot< zog er sich
eine Lungenentzündung zu, aber auch das konnte seinen Geist und
seine Willenskraft nicht niederzwingen. In Pelze gehüllt, ein feuch-
tesHandtuch um den fieberheißen Kopf, saß er im ungeheizten Zu-
schauerraum und arbeitete mit unverminderter Intensität und Be-
geisterung.
Auf die Nacht vor der Premiere hatte er die Generalprobe fest-
gesetzt. Er und seine Kräfte ließen rasch nach.
hatte hohes Fieber,
Es sollte seine letzte Probe sein. Das Stück klappte mäßig. Die
Schauspieler waren erschöpft und konnten nicht geben, was Wach-
tangow verlangte. Immer wieder unterbrach er sie mit schwacher
Stimme, ließ einzelne Stellen und ganze Szenen wiederholen. Um

91
zwei Uhr morgens endlich war alles vorüber. Als jedoch der Schluß-
marsch verklungen war, sagte Wachtangow: >Bitte, lassen Sie uns
das Stück noch einmal von vorn durchspielen. <
Am nächsten Abend fand
die Premiere statt. Das kleine Theater
war dicht was Rang und Namen in Moskauer Künst-
besetzt. Alles,
lerkreisen hatte, voran Stanislawski, war erschienen. Nur Wachtan-
gow war nicht mehr zugegen. Die Aufführung wurde mit stürmi-
scher Begeisterung aufgenommen. Die Zuschauer standen auf,
klatschten und riefen und wollten das Theater nicht verlassen. Der
Wortlaut des Telefongesprächs, das Stanislawski unmittelbar nach
der Aufführung mit Wachtangow führte, ist überliefert. Es waren
herzliche, bewegende Worte, mit denen der große Lehrmeister des
Moskauer Schauspiels seinen Schüler beglückwünschte und ihm
seine Bewunderung aussprach. Wenige Monate später starb
Wachtangow.«
Jewgeni Wachtangow setzte sich mit einem Schlage und unbe-
stritten durch.Jeder der anderen Theaterrevolutionäre hatte zuerst
einmal ein bestimmtes Publikum gewonnen: Stanislawski das Bür-
gertum, Tairow die künstlerische Intelligenz, Meyerhold die Partei-
kader. Wachtangow eroberte im Sturm die Herzen aller; ja, was viel-
leicht noch mehr bedeutete, er eroberte sogar die vorbehaltlose An-
erkennung seiner berühmten Kollegen - die späten Inszenierungen
von Meyerhold, Tairow, Nemirowitsch-Dantschenko tragen unver-
kennbar den Stempel seines Einflusses. Diese durchschlagende und
bezwingende Wirksamkeit Wachtangows erklärt sich offensichtlich
aus dem Umstand, daß er in einer kritischen Stunde die Hoffnungen
des ganzen Volkes zu theatralischen Visionen gestaltet hat, die Hoff-
nungen auf Frieden, auf Freiheit, auf Schönheit, auf Glück. Der junge
Regisseur, der die Revolution anfangs begeistert begrüßt hatte, emp-
fand wie andern, wie Lenin selbst, daß es an der Zeit war, sie zu
alle
beenden in seinen künstlerischen Schöpfungen nahm er den »Ther-
:

midor« - das Ende des Schreckens, auf das alle warteten -, vorweg.
Der Siegeszug, den seine >Turandot< antrat, als er selbst schon auf
dem Totenbett lag, fiel in die Zeit der NEP (Neue Ökonomische Po-
litik), in jene kurze Spanne politischer und wirtschaftlicher Zuge-

ständnisse, die dem russischen Volk einen Atemzug der Freiheit


schenkte. Die Inszenierungen Wachtangows schienen ein Verspre-
chen auf das schönere Leben, das da kommen sollte, auf die Ernte
der Revolution.
Als er 1921 im Ersten Studio des MCHAT die Einstudierung des
Schauspiels >Erik XIV. < begann, war Wachtangow sich des program-
matischen Charakters seiner Arbeit bewußt. »Dies ist das erste Ex-
periment des Studios auf seiner Suche nach neuen theatralischen For-
men«, erklärte er. »Die Revolution fordert von uns Bedeutung und
Lebhaftigkeit.« Schon Strindbergs historisches Seelendrama wurde,
mit dem bedeutenden Schauspieler Michail Tschechow in der Titel-
rolle, ein eindrucksvoller Erfolg; Wachtangow gab es jenseits allen

92
Historismus und Naturalismus als die »Verallgemeinerung der Kö-
nigsmacht, verbunden mit einem bedrückenden persönlichen Schick-
sal«. Die Aufführung wurde später in sein eigenes, das Dritte Studio
desMCHAT übernommen. Dort inszenierte er Maeterlincks Legen-
denstück >Das Wunder des St. Antonius < mit so viel Überzeugungs-
kraft, daß man die Inszenierung scherzhaft »Das Wunder des Jewgeni
Wachtangow« nannte. Es hat Leute gegeben, die von der Ausstrah-
lung der Aufführung derart ergriffen waren, daß sie hinterher steif
und fest behaupteten, sie hätten um das Haupt des heiligen Antonius,
den der Schauspieler Sawadski spielte, eine Gloriole schimmern sehen.
Seine Erfüllung fand der Stil Wachtangows in der denkwürdigen
Aufführung der >Turandot<, zu der Niwinski die Ausstattung und
Sisow die Musik schufen der großartige Boris Schtschukin begann
;

in der Rolle des Tartaglia seine Bühnenlaufbahn. Es war ein reiz-


volles Ineinander von Chinoiserie und Commedia delParte, von Mär-
chen und Stegreifspiel, von tänzerischer Musikalität und marionetten-
hafter Burleske, von Anmut, Ironie und heimlicher Romantik, von
Traum und Leben.
Charakteristisch für Wachtangow war, daß er seine Aufführungen
zuerst einmal in Kontrast zur Wirklichkeit setzte: »Der Zuschauer
soll in jedem Augenblick spüren, daß er im Theater und seinem All-
tag entrückt ist. Das Theater soll eine schöne Umgebung, ein beson-
derer, festlicher Anlaß für ihn sein. Verwendet darum leuchtende
Farben; sorgt dafür, daß Logenschließer in roten, goldgestickten
Uniformen die Zuschauer zu ihren Plätzen geleiten. Laßt die Musik
strahlend und festlich sein. Erinnert die Zuschauer auf dem Höhe-
punkt der dramatischen Spannung nochmals daran, daß es sich um
ein Spiel und nicht um die Wirklichkeit handelt, daß man es nicht
zu ernst nehmen soll, denn Theater ist nicht das Leben.« Anderer-
seits aber überschritt Wachtangow wieder auf verschiedenste Art
die Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit. Zum Beispiel kamen
die Schauspieler zu Beginn der >Turandot< in Frack und Abendkleid
auf die Bühne und begrüßten das Publikum; sie kostümierten sich
dann vor aller Augen, aber so, daß unter Maske und Draperie der
Gesellschaftsanzug noch sichtbar blieb; während der Vorstellung
spazierten jene Schauspieler, die auf der Bühne gerade nicht be-
nötigt wurden, im Zuschauerraum umher und amüsierten die Leute
usw. Auf diese Weise erzielte Wachtangow einen eigentümlichen
Eindruck dialektischer Korrespondenz zwischen der Kunst und der
Welt: Weder als Leben noch als Traum sollte das Spiel empfunden
werden, nicht als Wirklichkeit, sondern als Möglichkeit, als die mög-
liche Verwirklichung eines Traumes.
Diesem Ziel diente auch die Methode der Improvisation, die
Wachtangow anwandte. Improvisiert wurde eigentlich nur bei den
Proben: Da hatte jedes Mitglied des Ensembles Gelegenheit, Phan-
tasie, Schlagfertigkeit und Einfallsreichtum zur Geltung zu bringen.
Aus der Fülle der Vorschläge und Einfälle kristallisierte dann der

93
Regisseur die gültige Gestalt der Inszenierung heraus. Bei der Auf-
führung improvisierten die Schauspieler nicht mehr es kam nur auf
;

das Gefühl des Improvisierens an, das sie gewonnen hatten. Man
sollte so spielen, als ob man improvisierte. Das Verfahren hat viel
Ähnlichkeit mit der Idee, die Gorki auf Capri dem Künstlertheater
offeriert hatte. Und in der Tat war dem Dichter das Wachtangow-
Theater von allen Moskauer Theatern. Dennoch hat
stets das liebste
er nicht mit dieser Bühne zusammengearbeitet. Er hat seine Ver-
suche dessen 1919 mit dem Improvisationstheater der Volks-
statt
komödie inLeningrad sowie 1930/31 mit dem Ersten Arbeiter-
theater in Leningrad durchgeführt. (Beide Unternehmungen Gorkis
scheiterten - wohl nicht sosehr aus künstlerischen Gründen, son-
dern im ersten Fall, weil er emigrierte, im zweiten, weil da die Zeit
revolutionärer Experimente überhaupt vorbei war.)
Warum war ungeachtet der gegenseitigen Hochschätzung eine
Zusammenarbeit zwischen Gorki und Wachtangow nicht möglich?
Offensichtlich standen - wie bei jenen ersten vergeblichen Versuchen
damals vor dem Kriege - weltanschauliche Meinungsverschieden-
heiten im Hintergrund. Gorki blieb trotz aller persönlichen Ent-
täuschungen und Erschütterungen bis an sein Lebensende Anhänger
der sozialen Utopie und erstrebte, wenn auch in wesentlich anderer
Form als Stalin und Shdanow, eine Kunst des Sozialistischen Realis-
mus. »Man soll nicht glauben«, sagte er, als er auf seine Idee einer Er-
neuerung der Comedia dell'arte zu sprechen kam, »ich wäre für ein
Zurückgehen auf die Technik des siebzehnten Jahrhunderts, als die
Theaterstücke aus einer fremden Materie aufgebaut wurden - aus
Novellen, geschichtlichen Fakten, Mythen, Legenden - und zur Un-
terhaltung des Adels und der reichen Bürgerwelt geschaffen wurden.
Mein Vorschlag ist, dieses Experiment mit einer lebendigen, aktuel-
len Materie zu machen . .« Das Wesentliche am Gedanken der Im-
.

provisation bei Gorki wie bei Meyerhold war, daß die Schauspieler
selbst die Stücke schaffen, wobei die Schauspieler als stellvertretend
aufgefaßt werden für die Volksmassen, die, wie es im kommunisti-
schen Sprachgebrauch heißt, »ihr Geschick in die eigenen Hände
nehmen«. Die Methode hatte also in diesem Falle einen ausgespro-
chen revolutionären Akzent.
Ganz anders war es bei Wachtangow. Er hatte zwar zeitweise mit
den Vorstellungen Gorkis und Meyerholds sympathisiert, aber in sei-
nen reifen Inszenierungen findet sich keine Spur mehr eines wie auch
immer gearteten Sozialistischen Realismus, keine Spur einer politi-
schen Kunst. Wohl schwebte auch ihm - bewußt oder unbewußt -
ein gesellschaftliches Ideal vor, aber das war kein utopisches sozial-
politisches Experiment, sondern ganz einfach eine Gesellschaft, in
der die Menschen frei und glücklich leben können. Für ihn war der
entscheidende Gesichtspunkt bei der Anwendung der Improvisation
nicht die kollektive Produktion kulturpolitischer Aussagen, son-
dern das freie, gelöste und heitere Spiel, das als Sinnbild eines freien,

94
gelösten und heiteren Lebens stand. Die Methode erhielt somit bei
ihm einen demokratischen Akzent. Das Improvisationstheater Wach-
tangows unterschied sich also seinem Wesen nach von dem Gorkis,
was sich sowohl in der Auswahl des thematischen Materials wie in
einigen Zügen der Methodik äußerte.
Der Unterschied der Auffassungen wird an einem Vorfall deutlich,
der sich Jahre später abgespielt hat. Anfang der dreißiger Jahre sah
sich auch das Wachtangow-Theater gezwungen, eine kulturpoliti-
sche Musteraufführung zu bewerkstelligen (wie es das Künstler-
theater mit >Panzerzug< und das Kammertheater mit >Optimistische
Tragödie < taten). Die Nachfolger Wachtangows wählten zu diesem
Zweck das Stück >Jegor Bulytschow< des befreundeten Dichters
Gorki. Sie vereinbarten mit dem Autor, daß nach erprobter Sitte
Improvisationsszenen eingefügt werden sollten. Doch als Gorki
dann einmal unvermutet zu einer Vorstellung kam, war er nicht we-
nig entsetzt über die Art, in der die Theaterleute unter Leitung des
Wachtangow-Schülers Sachawa von dem Recht der Improvisation
Gebrauch gemacht hatten. Einige Partien des Stückes hatten sie aus
einer gesellschaftskritischen Tragödie in eine Groteske verwandelt.
Beispielsweise hatten sie die Schlußszene so arrangiert, daß der ster-
benskranke Jegor Bulytschow, gespielt von Schtschukin, die Popen,
welche ihm die letzte Ölung verabreichen wollen, zum Teufel jagt
und, vor Wut und Schmerzen laut brüllend, mit Kissen und anderen
Gegenständen nach ihnen schmeißt. Gorki verbot sofort die Auf-
führung der Improvisationsvariante, obwohl sie theatralisch sehr
wirkungsvoll war - vermutlich zum Glück des Theaters, das sonst
kaum die Prüfung in Sozialistischem Realismus bestanden hätte.
Der Einfluß Wachtangows machte sich innerhalb der »Stani-
slawski-Familie«, d. h. der verschwisterten Studios am stärksten be-
merkbar. Unter seinem Einfluß entfernte sich das Erste Studio des
MCHAT, das schon unter Sulershizki seinen eigenen Akzent gehabt
hatte, so weit von seinem Stammhaus, daß es sich schließlich 1924
von Stanislawski trennte und als Zweites Moskauer Künstlertheater
selbständig machte. Als profilierte und qualifizierte Bühne gehörte
das sogenannte MCHAT II während der ganzen zwanziger Jahre zu
den führenden Stätten der sowjetischen Theaterkultur. Seine bedeu-
tendsten Persönlichkeiten waren der Schauspieler und Regisseur
Michail Tschechow, ein Neffe des Dichters, und der temperament-
volle Regisseur Alexej Diki. Das Theater zeichnete sich vor allem
durch eine moderne und großangelegte Shakespeare-Interpretation
aus (> König Lear<, >Hamlet<). Einen geradezu sensationellen Er-
folg erzielte Diki mit seiner brillanten Inszenierung des >Floh<, eines
geistvollen Stückes, das der Schriftsteller Samjatin, der später nach
Frankreich emigrierte, nach einer Erzählung des klassischen russi-
schen Dichters Leskow geschrieben hatte. Die Aufführung des
>Floh< wurde in Stil und Niveau oft mit Wachtangows >Turandot<
verglichen.

95
Im Zweiten Studio des MCHAThatten sich die orthodoxen
Stanislawskisten zusammengefunden. Ihr größter Erfolg war die sehr
lebendige Aufführung des >Grünen Ringes <, eines Werkes der emi-
grierten Schriftstellerin Sinaida Hippius. Tairow bemerkte zu der
Einstudierung bissig, daß er sich getraue, das Stück mit richtigen Gym-
nasiasten und Gymnasiastinnen genausogut zu spielen - die jungen
Leute vom Zweiten Studio seien ja nur deshalb so überzeugend ge-
wesen, weil sie das Vergnügen der Schulpausen noch in lebhafter
Erinnerung gehabt hätten. Als das Künstlertheater 1924 von der
Auslandsreise zurückkam und einen bedeutenden Teil des Ensem-
bles durch Emigration verloren hatte, ging das Zweite Studio im
Stammhaus auf; es stellte dessen »zweite Generation«, u. a. die Ta-
rassowa und die Regisseure Sudakow und Chmeljow.
Das Dritte Studio, das Wachtangow gegründet und geleitet hatte,
wurde nach seinem Tode in Wachtangow-Theater umbenannt.
Seine Nachfolger brachten mit ebensoviel Geschick wie Mut das
Kunststück fertig, ihr Theater als einziges der berühmten Revolu-
tionstheater über die ganze Epoche des Stalinismus hinüberzuretten
und dennoch hin und wieder in den Darbietungen eine eigene Note
zur Geltung zu bringen. Aus der Schule Wachtangows gingen einige
begabte und originelle Regisseure hervor, die das sowjetische Thea-
terleben um manchen glänzenden Aspekt bereichert haben: Boris
Sachawa, Juri Sawadski, Alexej Popow, Rüben Simonow und vor
allem Nikolaj Akimow. Die Leistung Akimows, die am meisten Auf-
sehen erregt hat, war seine ausgelassene Inszenierung des >Hamlet<,
zu der Schostako witsch die Musik schrieb. »Auf uns wirkt nur das
abenteuerliche Element der Tragödie«, so umriß - nach dem Bericht
Jelagins - Akimow die Idee der Inszenierung. »Wir wollen Duelle,
blitzende Degen, hinterlistige Intrigen, blutige Händel, rauschende
Feste im Palast und den jungen Fortinbras sehen, den edlen Helden,
der siegreich in sein Land zurückkehrt. An Stelle einer bleichen, gei-
stigumnachteten Ophelia werden wir eine bezaubernde Schönheit mit
einer etwas nachlässigen, fragwürdigen Moral sehen. Unser Hamlet
wird ein Mann der Tat, ein kraftstrotzender, rauflustiger junger
Mann sein, der mit dem Schwert schnell bei der Hand ist. In unsere
Inszenierung werden wir aufregende Hetzjagden, Zweikämpfe und
ganze Schlachten einfügen. Ritter in schimmernden Rüstungen wer-
den über die Bühne reiten, natürlich auf richtigen Pferden. Das Pu-
blikum wird beim Anblick der rauschenden Feste am Königshof den
Atem anhalten. Und eine prächtige Musik wird unserem >Hamlet<
den letzten Glanz geben.« Die vom Publikum mit Begeisterung,
von der Parteikritik mit Empörung aufgenommene Einstudierung
wurde nicht nur in Moskau, sondern auch in Leningrad aufgeführt,
wo Akimow später Leiter des Komödientheaters wurde.
Das Vierte Studio des MCHAT gewann einen eigenen Stil durch
Nikolaj Ochlopkow, der das Haus in Realistisches Theater um-
benannte. Seine revolutionär erregten, pathetischen und stark stili-

96
:

sierten Inszenierungen standen dem Revolutionstheater Meyerholds


nahe. Der Ostberliner Intendant Langhoff hat sehr eindrucksvoll
eine Einstudierung beschrieben, die Ochlopkow in der relativ li-
beralen Periode kurz nach dem letzten Krieg - als das Realistische
Theater längst geschlossen war - noch in der alten, markanten Hand-
schrift gestalten konnte (es handelte sich um die Theaterfassung
der > Jungen Garde < von Alexander Fadejew, die bald darauf das
Mißfallen Stalins erregte und abgesetzt werden mußte)
»Bei Ochlopkow war alles auf eine dynamische, expressive Weise
dargestellt. Die riesige Bühne war dekorativ nur durch drei Ele-
mente belebt: die ständig kreisende Drehscheibe, auf der nur die
allernotwendigsten, frei in den Raum gestellten Versatzstücke sich
befanden, eine große, vorwärts und rückwärts bewegliche Projek-
tionswand, auf die zum Teil von hinten als Schattenriß, von vorn
als Projektion große Motive des Ortes, in dem die Handlung spielt,
geworfen wurden, und als drittes Element ein riesiges rotes seide-
nes Tuch, das wie eine Wolke am Himmel über der ganzen Deko-
ration hing und das je nach dem inneren dramaturgischen Auf-
bau der Handlung seine Form veränderte: einmal schwer und la-
stend, einmal wie jagende Wolkenfetzen vom Winde bewegt, einmal
schlaff wie ein entleerter Sack herabhängend und zum Schluß wie
das große Symbol einer überdimensionierten Fahne schräg von unten
in die Höhe steigend. Mit diesen drei Elementen und einer rhythmi-
schen, untermalenden Musik schuf der Regisseur Ochlopkow eine
der erregendsten Aufführungen, die ich in Moskau gesehen habe.«
Das jüdische Studio Habima war eine der vielen fremdsprachi-
gen Bühnen der Sowjetunion, die nach der Oktoberrevolution aus
dem Boden geschossen waren und das kulturelle Erwachen der so
lange vom Zarismus unterdrückten und verfolgten Minderheiten be-
zeugten. Im Jahre 1917 hatten sich in Moskau einige junge jüdische
Intellektuellezusammengefunden, die teils aus Palästina zugewan-
dert waren, aus den Provinzen Rußlands stammten, wo sie
teils
schon früher heimlich und unter der Gefahr des Pogroms und der
Verbannung jüdisches Theater gespielt hatten. Sie wandten sich an
Stanislawski mit der Bitte, sie beim Aufbau eines nationalen jüdi-
schen Theaters zu unterstützen. Im
Auftrage Stanislawskis baute
dann sein Lieblingsschüler Wachtangow
das hebräische Studio auf,
welches Habima, zu deutsch: Bühne, genannt wurde. Obwohl der
russische Regisseur selbst kein Wort Hebräisch verstand, gelang es
ihm, aus den jungen Juden eine hervorragende Theatergruppe
heranzubilden. Im Studio Habima wurde die Improvisationsmethode
der Inszenierung in ausgeprägter Form angewandt. Man arbeitete
an einer Einstudierung jahrelang: Im ersten Halbjahr wurde das
Stück immer wieder vorgelesen; die einzelnen Mitglieder des En-
sembles machten Vorschläge zur Bearbeitung und Darstellung; die
Ideen wurden dann im Kollektiv diskutiert; die Konzeption wurde
festgelegt; die Proben der Rollen verliefen mit unendlicher Ge-

97
duld und unter gegenseitiger Kritik und Anteilnahme; manchmal
wurde ein Stück, an dem man schon monatelang geprobt hatte, im
letzten Moment verworfen; die Schauspieler gingen während der
Einstudierungszeit immer noch einem Nebenerwerb nach, um die
lange Vorbereitungsdauer materiell durchhalten zu können; sie
wohnten allesamt im Theatergebäude, oft in der Garderobe, um
möglichst viel Zeit der Theaterarbeit widmen zu können - bis dann
schließlich Aufführungen vor dem Auge und Ohr des Publikums
standen, die den Stempel einer fanatischen, beinahe missionarischen
Theaterbesessenheit trugen.
Charakteristisch für das Theater, das nach Wachtangows Tod
Zemach leitete, waren die drei Stücke, die den Kern seines Spiel-
plans ausmachten: >Der Dybuk<, >Der Golem < und >Der ewige
Jude <, alle drei tragische, apokalyptische Äußerungen ahasverischer
Geworfenheit und Heimatlosigkeit. Das Stück >Dybuk< von Anski,
das wir als das interessanteste Beispiel beschreiben wollen, geht auf
eine chassidische Legende zurück. Zwei junge jüdische Menschen,
Lea und Chanan, lieben einander. Aber Leas Vater willigt nicht in
die Verbindung, er will einen reichen Schwiegersohn. Da stirbt Cha-
nan unter Verwünschungen und wird zum Dybuk, einem ruhelosen
Dämon. Lea wird von diesem Dämon besessen, sie stößt beim Hoch-
zeitsmahl den vom Vater zugewiesenen' Bräutigam von sich und
stirbt, als ein Wunderrabbi den Alb aus ihrer Seele zu vertreiben
sucht. - Das Spiel, noch von Wachtangow selbst in 200 Proben ein-
studiert, war faszinierend in seiner expressiven Ausdrucksgewalt,
seiner erregenden, schaurigen Überhöhung das gespenstische Hell-
:

dunkel, die visionäre Schau, die Bannkraft der Bilder, puppenhafte


Gestalten mit bemalten Gesichtern, die Ekstatik und die Rhythmik
der Gänge, die Magie der Sprache, melodischer Singsang wechselnd
mit heiseren Kehllauten und sonorem Pathos. Die Darstellung stei-
gerte sich zum Furioso wenn die Braut, in weißem Seidenkleid, mit
:

weißem, schmerzhaft verzerrtem Wachsgesicht, wie in Krämpfen


sich windet unter der Gewalt des Dämons, von Krüppeln makaber
umtanzt.
Die Wiedergeburt des nationalen jüdischen Theaters wurde außer
von Habima vom Jüdischen Kammertheater in Moskau vollzogen,
einer Bühne von nicht geringerer künstlerischer Bedeutung. Im Un-
terschied zu Habima, wo Hebräisch gesprochen wurde, war die
Sprache dieses Theaters das Jiddische. Es besaß in seinem Gründer,
dem Reinhardt- Schüler Alexander Granowski, einen vorzüglichen
Intendanten und Regisseur und in dem Schauspieler Michoels, nach
dem das Theater später benannt wurde, einen Darsteller von ergrei-
fender Größe; Bühnenbilder schuf neben Rabinowitsch und Alt-
mann der später emigrierte Marc Chagall. »Ich bin erschüttert und
erschrocken«, schrieb Joseph Roth einmal, »der grelle Glanz der
Farben hat mich geblendet, der Lärm betäubt, die Lebhaftigkeit der
Bewegung verwirrt. Dieses Theater ist nicht mehr gesteigerte Welt,
98
andere Welt. Diese Schauspieler sind nicht mehr Träger
es ist eine
von Rollen, sondern verwunschene Träger eines Fluches. Sie spre-
chen mit Stimmen, wie ich sie noch in keinem Theater der Welt ge-
hört habe; sie singen mit der Inbrunst der Verzweiflung; wenn sie
tanzen, erinnern sie mich an Bacchanten ebenso wie an Chassidim;
ihre Gespräche sind wie die Gebete der Juden im Talles am Jörn
Kipur und wie die lauten Lästerungen der Rotte Korah, ihre Bewe-
gungen sind wie ein Ritual und wie ein Wahnsinn; die Szenen sind
nicht gestellt und nicht gemalt, sondern geträumt. Ich brauche einen
ganzen Abend, um meine Ohren an diese Lautheit zu gewöhnen,
meine Augen in dieser Grelle heimisch werden zu lassen.«
Vielleicht machte es die Besonderheit dieses Theaters gegenüber
der Habima aus, daß in seinen Darbietungen inmitten urtümlich jü-
dischen Kolorits die Mittel der Ironie und der Groteske sich hervor-
drängten. Roth sprach kritisch von »Chuzpe« und bemerkte: »Das
jiddische Theater in Moskau ist der einzige Ort, wo die jüdische
Ironie mit einem gesunden Witz über das zensurierte und sogar vor-
geschriebene >re volutionäre < Pathos triumphiert. Im jiddischen
Theater herrscht jene kritische Begabung, die man in den staatlichen
Bildungsanstalten der Sowjets so dringend braucht und so vergeblich
suchen würde. Aber eine Ironie, die gegen das >Narkompros ((Volks-
kommissariat für Volksbildung) noch wirksam ist, kann, gegen den
Talmud angebracht, nur lächerlich wirkungslos sein.« Ernst Toller
wieder schrieb erklärend: »Gegner Granowskis sagen, er verspotte
jüdisches Gettoleben . Das ist nicht richtig. Granowski läßt, mit
. .

den Mitteln bewegter Leiber und Gesten, die Tragik dieser Menschen
gleichsam sich überschlagen, daß sie erschrecken und lächeln über
die Komik, die sie mitschleppen im Gehäuse des Alltags.«

Warum ging die Revolutionsepoche des sowjetischen Theaters,


die so reichund farbenprächtig erblüht war, so bald zu Ende? Es ist
sehr aufschlußreich, heute einen Bericht zu lesen, den ein unbefan-
gener Beobachter wie Fülöp-Miller Ende der zwanziger Jahre unter
dem unmittelbaren Eindruck eines Besuches in der Sowjetunion nie-
derschrieb »Als man in Moskau bei der letzten großen Jubiläums-
:

feier den zahlreichen fremden Gästen im Großen Theater eine Fest-


vorstellung gab, stand auf der rotgeschmückten Bühne wieder, wie
schon so oft, der bengalisch erleuchtete, riesige >Befreite Erdball <,
ein unentbehrliches Bühnenrequisit der ersten pathetischen Epoche
der Sowjetkunst. Diese Kugel war von Menschen umgeben, deren
schwere Ketten aus Papiermache symbolisch die Sklaverei der frühe-
ren Weltordnung andeuten sollten; ein Dichter der >Linken Litera-
turfront < deklamierte revolutionäre Hymnen; dann erglühte die
Bühne in rotem Schein, die Sklaven warfen ihre Pappketten von sich,
der >Erdball< spaltete sich und spie aus seinem Innern Menschen-
massen hervor, die alsbald den stereotypen Triumphgesang der Re-
volution anstimmten. Aber wie unecht wirkte jetzt diese Szene Was !

99
<

einst in seiner naiven Symbolik der künstlerische Ausdruck einer


siegestrunkenen Gläubigkeit gewesen war, das entsprach nun so gar
nicht mehr der wahren Stimmung des Publikums. Der pathetische
Impuls, der einst diese Theaterform geschaffen hatte, war eben
schon seit langem an den tausend Sorgen und Schwierigkeiten des
Alltags zuschanden geworden; so blieb von der früheren Begeiste-
rung nichts als der falsche Bühnenzauber übrig.«
Eindringlicher als jede theoretische Erörterung erhellt dieser Be-
richt, warum das Revolutionstheater untergehen mußte. Seine Zeit
war vorbei; die revolutionäre Illusion wandelte sich zur Lüge. Ruß-
land stand am Kreuzweg: Es mußte entweder zum Despotismus
zurückkehren oder zur Demokratie vorwärtsschreiten - eine Per-
manenz der Revolution, wie Trotzki sie im Sinne hatte, war unmög-
lich. Auch die Künstler mußten sich entscheiden - vom Theater-
oktober führte der Weg entweder zurück zum theatralischen By-
zantinismus oder weiter zu einem freien Theater in einer freien Ge-
sellschaft. Getreu dem Gesetz, nach dem sie angetreten, wählten die
darstellenden Künstler - soweit es sich um die großen Namen han-
delte, ausnahmslos - den Weg zu einem vorurteilslosen, wahrhafti-
gen und menschlichen Theater, den der frühvollendete Wachtangow
abgesteckt hatte. An diesem Punkte aber brach das Bündnis zwischen
der linken Kunst und der linken Politik.
1929/30 führte Meyerhold (unter Mitwirkung des Komponisten
Schostakowitsch und des Künstlerkollektivs Kukryniksy) die Sa-
tiren Majakowskis >Die Wanze < und >Das Schwitzbad < auf. In diesen
Satiren hatte Majakowski seinem immer mehr wachsenden Haß auf
die Parteibürokratie freien Lauf gelassen. Mit den Mitteln der Exzen-
trik (Zirkus und Feuerwerk), der Groteske (die Funktionäre als Spie-
ßer, Schmarotzer und Dummköpfe) und der Utopie (Konfrontation
mit dem kommenden Jahrtausend) hielt er Gericht über die hoch-
gekommene neue Klasse, die »rote Bourgeoisie«. >Das Schwitzbad
schließt mit der provokatorischen Frage, ob solche Funktionäre für
den Kommunismus zu gebrauchen seien. Die Aufführungen lösten
bei der parteiamtlichen Kritik unbeschreibliche Empörung aus; die
Stücke mußten vom Spielplan verschwinden. Majakowski, über den
eine Welle der Hetze und Diffamierung, des Boykotts hereinbrach,
schoß sich eine Kugel ins Herz.
Einige Jahre später inszenierte Meyerhold die Komödie >Der
Selbstmörder < von Nikolaj Erdmann, obwohl das Zentrale Spiel-
plankomitee, die oberste Zensurbehörde im sowjetischen Theater-
leben, zuvor schon dem Wachtangow-Theater eine Aufführung des
Stücks untersagt hatte. Erdmann behandelt in seiner bissigen Komö-
die das Schicksal eines kleinen, unscheinbaren Sowjetbürgers, der,
von der Trostlosigkeit des Lebens zermürbt, den Entschluß faßt, sei-
nem Leben ein Ende zu machen. Dieser Vorsatz, den er allen seinen
Bekannten strahlend mitteilt, verwandelt den kleinen Mann in einen
richtigen Flelden, der sich nun, da alle kleinlichen Ängste von ihm

100
!

abfallen,vor nichts mehr fürchtet. Er bringt es schließlich, ange-


schwipst und in fröhlicher Gesellschaft, sogar fertig - Gipfel der
Kühnheit -, den Kreml anzurufen und den Vorsitzenden des Rates
der Volkskommissare ans Telefon zu bitten Das Stück gelangte
. . .

auch bei Meyerhold nicht über die Generalprobe hinaus, die Presse
schrieb von einer »Demonstration gegen die Diktatur des Proletari-
ats« und der Schriftsteller Erdmann wurde ins Konzentrationslager
geschickt.
Im Kammertheater löste u. a. >Die Verschwörung der Gleichen <

von Lewidow einen politischen Skandal aus. Es geht in dem Stück


um die Verschwörung des Gracchus Babeuf, des letzten Jakobiners,
der sich am Ende der Französischen Revolution gegen das bourgeoi-
se Directoire empörte. Bei der Aufführung brach nach dem Mono-
log des zum Tode verurteilten Helden, der die »Verräter der Revo-
lution« anprangert, demonstrativer Beifall los - man muß wissen,
daß man damals Trotzki, Stalins Todfeind, den russischen Babeuf
nannte. Das Stück wurde auf persönliche Anweisung des Diktators
verboten.
Die Oper des klassischen russischen Komponisten Borodin >Die
Recken war von dem gefeierten Agitprop-Dichter Demjan Bedny,
<

bis dahin Günstling Stalins, mit einem aktuellen Libretto versehen


worden. Dabei war dem Autor das Unglück passiert, daß er den
Kurswechsel von der revolutionären Verachtung aller Vergangen-
heit zum großrussischen Nationalismus, der unter der Ägide Stalins
erfolgt war, übersehen hatte. So goß er denn seinen ganzen Spott
über die alten russischen Ritter und Helden waffenklirrender Hi-
storien aus. Molotow, der der Premiere 1936 beiwohnte, verließ nach
dem ersten Akt das Kammertheater mit den Worten »Eine Schande:

Die Recken waren große Männer!« Die Oper wurde abgesetzt,


Bedny aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen.
Es war nur die Kehrseite derselben Medaille, wenn zu gleicher
Zeit im gleichen Hause das ukrainische Revolutionsstück >Sonata
pathetique< wegen »Nationalismus« verboten, sein Autor Mikola
Kulisch ins Lager verbannt wurde - denn es war natürlich nicht russi-
scher, sondern angeblicher ukrainischer Nationalismus, den man
dem Werke vorwarf.
Während Glinkas antiquierte Oper >Das Leben für den Zaren <
unter dem Titel >Iwan Sussanin< erstmals wieder auf dem Spielplan
erschien, ereilte der Fausthieb der Partei die bedeutendste Oper von
Dimitri Schostako witsch, >Lady Macbeth von Mzensk<, die 1936 in
Leningrad uraufgeführt wurde. Das Libretto geht auf eine Novelle
des Dichters Leskow zurück, der ebenso wie Dostojewski von den
Sowjets wenig geschätzt wurde. Es erregte Anstoß, einmal durch die
Darstellung einer verzehrenden Liebesleidenschaft, die der spießigen
Prüderie des Stalinismus mitten ins Gesicht schlug, zum anderen
durch das erschütternde Schlußbild, das einen Zug in Ketten ge-
bannter Zwangsarbeiter auf dem Wege nach Sibirien zeigt. Über die

101
musikalische Gestaltung, die auf der Höhe der modernen Musik, wie
sie in der ganzen Welt vertreten wird, sich befindet, schrieb das Zen-
tralorgan der Partei >Prawda< in einem Leitartikel unter der Über-
schrift »Chaos statt Musik«: »Der Komponist hat sich offensichtlich
nicht die Aufgabe gestellt, dem Gehör zu schenken, was die sowjeti-
schen Opernbesucher von der Musik erwarten und in ihr suchen. Als
hätte er bewußt seine Musik chiffriert, hat er alle Töne in ihr so
durcheinandergebracht, daß sie nur für Ästheten und Formalisten,
die ihren gesunden Geschmack verloren haben, genießbar bleibt.«
Wie das Beispiel der Musik zeigt, richtete sich die Kunstdiktatur
der Partei nicht nur gegen den Inhalt, sondern auch gegen die Form
der Werke. Von nun an wurde der Vorwurf des »Formalismus« zu
einem furchterregenden Bannfluch, der die Existenz eines jeden
ernsthaften Künstlers bedrohte. Man versteht den Begriff des For-
malismus, der von der bolschewistischen Ästhetik niemals exakt defi-
niert worden ist, am besten, wenn man ihn mit dem nationalsozia-
listischen Schlagwort Entartete Kunst vergleicht. Er gab während
der ganzen stalinistischen Epoche und darüber hinaus die Argumen-
tation her, um gegen jede künstlerische Leistung vorzugehen, die die
ihr zugedachte Propagandafunktion nicht oder nur unzulänglich er-
füllte, die gegen die Prinzipien des Tendenziösen, Plausiblen und
Konventionellen, gegen das »gesunde Volksempfinden« verstieß.
Stalin selbst, der sich in allen Theatern unsichtbare, kugelsichere
Logen einbauen ließ, nahm an der Ausrichtung des Theaterlebens
regen Anteil. Er forderte die Schriftsteller auf, »Ingenieure der
menschlichen Seele« zu werden. Er animierte Dramatiker, die er be-
sonders schätzte, zur Arbeit an aktuellen Stoffen und verlieh beim
Gelingen eines Projektes großzügig Stalin-Preise und andere Aus-
zeichnungen an Autor und Darsteller. Er ließ Nemirowitsch-
Dantschenko, den Direktor des MCHAT, zu sich kommen und for-
derte ihn auf, Gorkis >Feinde< und das Revolutionsstück >Ljubow
Jarowaja< von Trenjow im naturalistischen Stil als Modellaufführun-
gen herauszubringen. Während er die moderne Musik verabscheute,
besuchte er die epigonale Oper >Der stille Don< des jungen Sowjet-
komponisten Dsershinski mehrere Male. Der Inhalt dieses Werkes
zeichnet sich dadurch aus, daß der Held des berühmten Romans von
Scholochow, der im kosakischen Freiheitskampf gegen die Sowjets
zugrunde geht, zu einem treuen Bolschewisten umgefälscht wird.
Die wohlgefällige Musik lehnt sich an die Folklore an und über-
nimmt z. B. notengetreu ganze Kosakenlieder. Im Gespräch mit dem
Komponisten erklärte der Diktator, daß jetzt die Zeit reif sei, eine
sowjetische klassische Oper zu schaffen, und meinte zur. Form des
wünschenswerten Werkes »In ihr soll das Gesangliche des Volks-
:

liedes weitgehend verwendet werden, sie soll auch ihrer Form nach
dem Zuhörer nah und verständlich sein .« . .

Im Zuge der blutigen Säuberung, die Tausende und aber Tau-


sende aus der politischen und geistigen Elite Rußlands, eine ganze

102
:

Generation von Revolutionären verschlang, wurde der tödliche


Schlag gegen das russische Theater geführt. Eine Reihe weltberühm-
ter Bühnen wurde liquidiert, darunter das traditionsreiche Moskauer
Theater Korsch, das Zweite Künstlertheater (MCHAT II), das Reali-
stische Theater Ochlopkows, die zuletzt von Diki geleitete Prolet-
kultbühne, sämtliche avantgardistischen und experimentierenden
Studios und vor allem das Bollwerk des Theateroktobers, das Meyer-
hold-Theater. Die jüdische Bühne Habima emigrierte rechtzeitig
nach Palästina sie ist heute das Nationaltheater Israels in Tel Aviv.
;

Von den prominenten Theaterrevolutionären gelang es Michail


Tschechow, Jewreinow und Granowski, Rußland zu verlassen. Unter
den Zurückgebliebenen hielt der Terror reiche Ernte. Die Begrün-
derin des sowjetischen Kindertheaters, Natalia Saz (Tochter des
Komponisten Ilja Saz), und die Dramatiker Juri Olescha und Niko-
laj Erdmann wurden deportiert, kamen aber mit dem Leben davon.

Der große Erneuerer des ukrainischen Theaters, Les Kurbas, die


Dramatiker Isaak Babel, Sergej Tretjakow, Wladimir Kirschon, Mi-
kola Kulisch, Iwan Mikitenko, Bruno Jasienski und alle führenden
Kritiker starben im Erschießungskeller oder im Zwangsarbeitslager.
Charakteristisch war das Schicksal einiger berühmter Schauspiele-
rinnen Moskaus: Sie waren mit Parteiführern oder hohen Offizie-
ren verheiratet und kamen, als ihre Männer in Ungnade fielen, auto-
matisch für zehn Jahre ins KZ.
Von erschütternder Tragik und Größe war das Ende Meyerholds.
Nach der Schließung seines Theaters lebte der Künstler frei, aber ver-
femt in Moskau. Stanislawski, der große alte Mann, bot dem ver-
lorenen Sohn ein Asyl in seinem persönlichen Studio an, der einzigen
Stätte, über die er noch Macht hatte, nachdem man ihm sein Theater
entfremdet und die Tochterinstitute geschlossen hatte. Im Jahre 1939
glaubte die sowjetische Führung, daß die Zeit reif sei, Meyerhold
zu verzeihen und ihn in den Schoß des Sozialistischen Realismus auf-
zunehmen. Man lud ihn zum Unionskongreß der Regisseure und
gab ihm das Wort in der Erwartung, daß er Selbstkritik ablegen
und sich zur neuen Lehre bekennen werde. Von demonstrativem,
ovationsartigem Beifall der Kollegen begrüßt, trat Meyerhold, nun
schon ein Mann von 65 Jahren, in grauem Haar, ans Podium. Jelagin,
der der Versammlung beiwohnte, hat in seinem Buch >Zähmung der
Künste < die historische Rede aufgezeichnet
»Ich möchte den Veranstaltern der Ersten Unionsversammlung
der Theaterregisseure zunächst meinen aufrichtigen Dank ausspre-
chen, daß sie mich eingeladen haben, an ihrer Arbeit teilzunehmen,
und daß sie mir damit Gelegenheit gaben, vor Ihnen meine Ansich-
ten über die künstlerischen Prinzipien, die mich in meiner Arbeit ge-
leitet haben, und über die zahlreichen Kritiken, die mir dabei in den
letzten Jahren zuteil wurden, darzulegen. Ich bin einer Reihe von
Fehlern angeklagt worden, die bei der Arbeit eines Theaterregisseurs
unvermeidlich sind und zu denen ich mich in den meisten Fällen be-

103
kenne. Ich möchte mich mit diesen Fehlern im einzelnen befassen
und beginnen, sie der Reihe nach aufzuzählen.
Harte Worte sind über den schlechten Einfluß gefallen, den ich
auf einige junge sowjetische Theaterregisseure ausgeübt haben soll.
Ich wurde für eine traurige und verderbliche Erscheinung verant-
wortlich gemacht, der man die geistvolle Bezeichnung >Meyerhold-
Manie< gegeben hat. Ich beklage aus grundsätzlichen Erwägungen,
daß ich den zahlreichen einfallslosen und ungebildeten Regisseuren,
die meinen Stil mit halbem Herzen imitierten, ihn beständig ver-
zerrten und entwerteten, nicht energischer entgegengetreten bin.
Sie haben nicht den geringsten Versuch gemacht, meine künstleri-
schen Prinzipien zu begreifen, und sie verfälschten meine Gedanken,
ohne mein künstlerisches Ziel auch nur von fern zu ahnen. Wenn Sie
diese erbärmlichen, mühsamen Anstrengungen einiger Theaterregis-
seure >Meyerhold-Manie< nennen, dann verwahre ich, Meyerhold,
mich öffentlich dagegen. Soviel zur ersten Anklage.
Harte Worte sind ebenfalls gefallen über die Art und Weise, in der
ich unser klassisches Erbe entweiht haben soll. Man hat mich an-
geklagt, mit den verehrungswürdigen Werken von Gogol, Gribo-
jedow und Ostrowski unentschuldbare Experimente angestellt zu
haben. An dieser Beschuldigung ist etwas Wahres. In der Inszenie-
rung mancher dieser Stücke ging ich im Experimentieren zu weit
und ließ meiner schöpferischen Phantasie zuviel Freiheit. Ich vergaß
gelegentlich, daß der künstlerische Wert des Stoffes, mit dem ich ar-
beitete, unendlich viel größer war als alles, was ich noch hinzufügen
konnte. Ich gebe zu, daß ich bei der Inszenierung klassischer Werke
häufiger meine Grenzen und das künstlerische Maß besser hätte er-
kennen sollen. Dies trifft jedoch nicht auf meine > Wald (-Inszenie-
rung zu und nicht auf meine Inszenierung der >Kameliendame <. Ich
bin auch heute noch davon überzeugt, daß beide Inszenierungen gut
waren und daß meine Arbeit die Stücke interessanter und anziehen-
der gemacht hat und dem Sowjetpublikum half, den Gehalt leichter
zu verstehen und die Idee zu erkennen, die sich hinter den Werken
verbirgt. Soviel zur zweiten Anklage.
Drittens und worden, in meiner künst-
letztens bin ich angeklagt
lerischen Arbeit ein Formalist zu sein, bei meiner Suche nach neuen
und originellen Formen den Inhalt verfälscht und den Hauptzweck,
die Suche nach dem Sinn, vergessen zu haben. Das ist eine schwer-
wiegende Anklage, und ich akzeptiere sie nur in einem Punkt. Ich
gebe zu, daß ich im Verlauf meines künstlerischen Lebens für einige
Inszenierungen verantwortlich bin, in denen ich einige neue Ideen
und Einfälle auf dem Gebiet der dramatischen Form erproben
wollte. Es waren experimentierende Inszenierungen, bei denen die
Form dominierte. Aber die Zahl dieser Inszenierungen ist klein - ich
kann sie an einer Hand aufzählen. Abgesehen davon muß ein Mei-
ster - und ich habe die Kühnheit, mich als einen solchen zu betrach-
ten - das Recht zum Experiment haben. Er muß das moralische

104
Recht haben, seine künstlerischen Ideen zu erproben, gleichgültig,
wie der Ausgang sein mag. Er muß das Recht haben, Fehler zu ma-
chen, weil alle Sterblichen dieses Recht haben und er ein Sterblicher
ist wie alle anderen.

Ich habe mich sehr selten mit Experimenten und Kühnheiten be-
faßt, die man als formalistisch bezeichnen könnte. Die meisten mei-
ner künstlerischen Arbeiten weisen keine Spur von Formalismus
auf. Meine Bemühung war im Gegenteil darauf gerichtet, einen
organischen Stil zu finden, der zu dem gegebenen Inhalt paßt, und
ich glaube, daß ich damit meistens Erfolg hatte. Es war nicht Stani-
slawskis Stil oder Tairows Stil, es war nicht Sidorows, Petrows oder
Iwanows Stil - es war Meyerholds Stil, in dem sich meine künst-
lerische Eigenart ausdrückte.
Warum soll das Formalismus genannt werden, und wie lautet Ihre
Definition des Formalismus ? Ich möchte umgekehrt fragen Was ist :

Antiformalismus ? Was ist Sozialistischer Realismus? Wie es scheint,


ist Sozialistischer Realismus orthodoxer Antiformalismus. Ich möchte

diese Frage mehr praktisch und nicht theoretisch beleuchten. Wie


würden Sie die Entwicklung des gegenwärtigen Sowjettheaters be-
urteilen? Ich fürmeinen Teil möchte offen aussprechen: Wenn das,
was heute auf den besten Moskauer Bühnen geschieht, eine Großtat
des neuen Sowjettheaters ist, dann ziehe ich es vor, als Formalist be-
zeichnet zu werden. Ich für meinen Teil finde das, was gegenwärtig
in unseren Theatern geleistet wird, erbärmlich und erschreckend. Ich
weiß nicht,ob es Antiformalismus oder Realismus oder Naturalis-
mus oder irgendein anderer >Ismus < ist, ich weiß nur, daß es geistlos
und schlecht ist.

Dieses erbärmliche und sterile Etwas, das den Namen Sozialisti-


scher Realismus < beansprucht, hat mit Kunst nichts zu tun. Theater
aber ist Kunst, und ohne Kunst gibt es kein Theater. Gehen Sie in die
Moskauer Theater und sehen Sie sich die blassen, langweiligen Auf-
führungen an, die sich alle gleichen und nur im Grad ihrer Wertlosig-
keit unterscheiden. Niemand vermag mehr die künstlerische Hand-
schrift des Maly-Theaters, des Wachtangow-Theaters, des Kammer-
theaters, des Moskauer Künstlertheaters zu erkennen. An den großen
Stätten, an denen es einstmals nur sprudelndes, stets sich erneuerndes
künstlerisches Leben gab, an denen Männer der Kunst suchten, ex-
perimentierten, irrten und neue Wege fanden, um Inszenierungen zu
gestalten, von denen einige schlecht und andere großartig waren, an
diesen Stätten ist nichts mehr zu finden als eine deprimierende, wohl-
meinende, aber hoffnungslose Mittelmäßigkeit und ein verheerender
Mangel an Begabung.
War das Ihr Ziel? Wenn dann haben Sie eine furchtbare Tat
ja,

begangen. Dann haben Sie das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.
Dann haben Sie in Ihrem Bestreben, den Formalismus auszurotten,
dieKunst zerstört!«
Kompromißlos, wie er gelebt und gearbeitet, ging Meyerhold in

105
den Tod. Am Tage nach seiner Rede wurde er verhaftet. Ihm wurde
vorgeworfen, ein deutscher Spion zu sein; nach glaubhaften Infor-
mationen von verschiedenen Seiten ist er bereits nach einer Woche
den Torturen der Vernehmung erlegen. Seine Frau, die berühmte
Ehe mit dem Dichter Jessenin
Schauspielerin Sinaida Reich (in erster
verheiratet), wurde wenige Wochen nach der Festnahme ihres Man-
nes in ihrer Wohnung ermordet aufgefunden, von siebzehn Messer-
stichen zerfetzt. Die Wohnung wurde von der NKWDbeschlag-
nahmt und versiegelt.
Soweit die Theater die Große Säuberung, die Jeshowschtschina
(so genannt nach dem damaligen Chef der Geheimpolizei), überstan-
den hatten, gerieten sie nach dem Kriege in die chauvinistische Welle,
die Shdanowschtschina (so genannt nach Stalins berüchtigtem Kul-
turinquisitor Andrej Shdanow). Alexander Tairow, der Leiter des
Moskauer Kammertheaters, und Nikolaj Akimow, der Leiter der Le-
ningrader Komödie, wurden als »bürgerliche Ästheten« und »Kos-
mopoliten« ihrer Positionen enthoben, dem einen warf man u. a. vor,
daß er O'Neill, dem anderen, daß er Priestley gespielt hatte. Tairow
starb bald darauf, einsam und abgekämpft. Zusammen mit allen ande-
ren jüdischen Kulturinstituten - den Schulen, Verlagen, Zeitungen,
Bühnen - wurde das Michoels-Theater, das berühmte jiddische
Kammertheater in Moskau, geschlossen. Zahlreiche jüdische Schrift-
steller, Künstler und Kritiker wanderten im Verlaufe der Kampagne
gegen »Zionismus« und »Kosmopolitismus«, der Stalinschen Juden-
verfolgung, in die Konzentrationslager; 26 wurden 1952 erschossen.
Der große Schauspieler Salomon Michoels starb just zu Beginn der
Säuberung unter verdächtigen Umständen; er wurde nach seinem
Tode als »zionistischer Spion« diffamiert. Das Wachtangow-Theater
entging der bereits angedrohten Liquidation nur dadurch, daß seine
Chefs schleunigst Selbstkritik ablegten und noch in den Theater-
ferien gleich vier Tendenzstücke auf einmal einstudierten, mit denen
sie dann eine Tournee durch die Industriegebiete absolvierten. In
einer von der Partei gelenkten öffentlichen Diskussion im Jahre
1950 wurde die Pseudo-Stanislawski-Methode, wie sie die Regisseure
Kedrow und Toporkow nach dem Tode der ganzen alten Garde am
Künstlertheater entwickelt hatten, für alle Sowjetbühnen verbind-
lich erklärt.
Der endgültige Schlag gegen die russische Musik wurde 1948 an-
läßlich derUraufführung der Oper >Die große Freundschaft von <

Muradeli geführt. Die Oper wurde verboten, weil sie in ihrem Inhalt
den Freiheitskampf jener Kaukasusvölker verherrlichte, die Stalin
inzwischen mit Kind und Kegel nach Sibirien hatte verschleppen las-
sen, und vor allem, weil sie in ihrer musikalischen Gestaltung der
modernen Richtung folgte. Auf Antrag von Shdanow wurde durch
Beschluß des Zentralkomitees der Bolschewistischen Partei das
Schaffen ausnahmslos aller bedeutenden sowjetischen Komponisten,
das Werk Prokofiews, Schostakowitsch, Chatschaturians, Mjas-

106
kowskis, Schebalins, geächtet. Zu gleicher Zeit verurteilte das Zen-
tralkomitee in einem Beschluß die Arbeit der berühmten sowjetischen
Filmregisseure Eisenstein, Pudowkin und anderer.
Das Wort Trotzkis, zu Beginn einergroßen Kulturepoche ge-
sprochen, daß die Abenddämmerung für die revolutionäreKunst die
rechte Stunde sei, wurde auf eine dämonische Weise bestätigt - denn
auf die Dämmerung folgte die Nacht.
:

Der Puppenspieler Obraszow

Das Puppentheater ist die »allertheatermäßigste« von allen


Ausdrucksformen des Theaters überhaupt.
Obraszow

In seinen Lebenserinnerungen gibt Sergej Obraszow, geboren 1901,


die ebenso köstliche wie bezeichnende Anekdote zum besten, wie er
am Anfang seiner Schauspielerlaufbahn in das Stanislawski-System
eingeführt werden sollte:
»Als zweite oder dritte Romanze hatte ich in der Gesangsstunde
Tschaikowskis >In einer rauschenden Ballnacht < zu singen. Da ich
die Baritonstimme sang, war der höchste Ton >mi<, der mir keine be-
sonderen Schwierigkeiten bereitete. Mit dem Üben war ich verhält-
nismäßig schnell fertig, so daß mir die Romanze keineswegs über
wurde. Ich sang sie am Ende der Unterrichtsstunde und fand selbst
Gefallen daran. Als ich nun diese Romanze der Lehrerin des Stani-
slawski-Systems vorsang, erklärte sie mir, daß mein Vortrag falsch
sei und daß sie gerade diese Romanze mit mir nach dem >System<
durchnehmen wolle. Um sie richtig zu singen, müßte ich vor allem
an ein eigenes Erlebnis denken, das dem in der Romanze beschriebe-
nen Vorgang ähnelte. War es nicht gerade eine tauschende Ball-
nacht <, an die man sich erinnern konnte - nun, so konnte es zur Not
auch ein Tanzkränzchen sein. Vor allem kam es darauf an, daß man
sich an einen Augenblick erinnerte, in dem man sich >verlassen und
einsam < gefühlt hatte. Während man alle diese Erinnerungen wach-
rief, mußte man sich konzentrieren und bemüht sein, sich in das
Mädchen, von dem man einst verlassen worden war, erneut zu ver-
lieben. Erst wenn man dessen sicher war, konnte man der Begleiterin
am Flügel das Zeichen zum Beginn geben, da sie ja sonst nicht hätte
wissen können, ob ich mich nun schon verliebt fühlte oder nicht.
Um sich selbst nicht abzulenken und dadurch den Zustand des Ver-
liebtseins zu verscheuchen, mußte dieses Zeichen - ein Kopfnicken,
eine Handbewegung oder ein Wink mit den Augen - sehr vorsichtig
gegeben werden. Alles das kam mir eher lächerlich als schwierig vor
und ähnelte einer spiritistischen Seance oder der Sitzung bei einem
Amateurhypnotiseur.
Da steht man nun am Flügel und konzentriert sich, die Beglei-
terin wartet, die Lehrerin wartet, die Schüler warten und fragen sich
Wann hat er sich nun endlich verliebt? Man bemüht sich krampfhaft,
an die tauschende Ballnacht < zu denken. Aber 1919 wäre es wirklich
lächerlich gewesen, auch nur von einer solchen zu reden - damals
gab es keine Ballnächte. Gewiß, früher hatte es wohl Bälle gegeben,
aber da war ich noch viel zu klein gewesen, um sie zu besuchen. Und
Erinnerungen an Mädchen, die mich verlassen hatten - die hatte ich
schon gar nicht. Im übrigen war es mir einfach peinlich, angesichts

108
f
so vieler Zuschauer an ganz private Gefühle denken zu sollen. Doch
die Zeit drängt. Ich stehe immer noch am Flügel, und endlich be-
greife ich, daß etwas geschehen muß und die Begleiterin das Zeichen
erwartet. Ich sang. Die Lehrerin lobte mich, und ich ging an meinen
Platz. Zu Hause ließ ich meinen Neger [eine Puppe] >In einer rau-
schenden Ballnacht < genauso singen, wie es die Lehrerin von mir ver-
langt hatte. Ihm bereitete das offensichtlich Vergnügen, und alle
meine Hausgenossen amüsierten sich köstlich. In der nächsten
>System-Stunde< führte ich meinen Neger vor. Er konzentrierte sich,
gab der Pianistin vorsichtig das Zeichen und sang, indem er das
Kinn in die Hand stützte oder sich die Tränen aus den Augen
wischte. So sang er von seiner Heißgeliebten. Alles lachte .« . .

Diese Episode illustriert sehr hübsch die künstlerische Tendenz


Obraszows, die Geburt seines Puppentheaters aus der Verneinung
Stanislawskis. »Man kann nicht lernen, ein Stanislawski zu sein«,
schreibt er nach seiner persönlichen Begegnung mit dem Meister.
»Und doch muß man von ihm lernen, aber nicht nur >die Arbeit mit
dem Schauspieler <. Es würde nichts daraus werden, selbst wenn man
alle Regeln des >Kernes<, der durchgehenden Handlung < und des
>Untertextes< beobachten würde. Es kann nichts daraus werden,
wenn der Schüler nicht über das Wesentliche, das Stanislawski zu
eigen ist, verfügt: über eine jugendfrische Auffassung des Lebens
und ein ausgesprochenes Gefühl für die Wahrheit, über die Fähig-
keit, kompromißlos für diese Wahrheit zu kämpfen, und über den
unerschütterlichen Glauben an die eigene Sache . .Als ich von
.

Stanislawski zurückkehrte, dachte ich nur daran, wie wichtig es ist,


daß der Künstler die Augen zur unmittelbaren, unvoreingenomme-
nen Aufnahme der Umwelt offenhält und an seine Sache glaubt. An
den eigenen Weg mußt du glauben . .«
.

Schon wenn man die Erinnerungen Obraszows an die Kindheit


mit denen Stanislawskis vergleicht, wird man einen charakteristi-
schen Unterschied zwischen den beiden Künstlern entdecken. Der
kleine Stanislawski vergnügte sich damit, Gestalten des Lebens täu-
schend nachzuahmen, und freute sich diebisch, wenn man ihn für
einen echten Stromer hielt und die Hunde auf ihn hetzte. Der Knabe
Obraszow nahm zwar auch wie alle Kinder den Stoff für seine Spiele
aus Eindrücken der ihn umgebenden Welt, er spielte Eisenbahn und
Tigerjagd, Theater und Kino, Puppenstube und Revolution, aber
diese Schauspielereien hatten ihren Platz niemals in der Wirklichkeit,
sondern in einer besonderen Zauberwelt der Phantasie. So erzählt er:
»Ganz deutlich sehe ich mich noch als Kuh umherlaufen. Meine
Taufpatin, Oma Kapa, nähte mir zwei Hörner aus Stoff, die sie mit
Watte ausstopfte. Ich befestigte die Hörner an der Stirn und begann
im Zimmer auf dem grünen Teppich zu weiden. Der Teppich war
geblümt, und ich rupfte, auf allen vieren umherkriechend, diese Blu-
men ab. An dieses Gefühl, eine weidende Kuh zu sein, erinnere ich
109
mich noch heute so stark, als ob ich wirklich irgendwann einmal eine
richtige Kuh gewesen wäre, eine rotbraune mit weißen Flecken, ob-
wohl an mir nichts Rothaariges gewesen ist. Aber ich weiß auch
heute noch, daß ich dieses Spiel abbrach, sobald ich bemerkte, daß
mich die Erwachsenen aufmerksam beobachteten. Ich wurde ärger-
lich oder weinte gar und zerrte mir die Hörner vom Kopf.« Für den
kleinen Obraszow war das Spiel nur Spiel, es hatte keinen eigent-
lichen Sinn und Zweck, weder das Leben zu kopieren noch ein
Schauspiel zu bieten. »Alle diese Spiele hatten keine Zuschauer,
denn selbst diejenigen, die der Vorstellung zusahen, spielten
>Publikum<.«
Obraszow hat wiederholt darauf aufmerksam gemacht, welchen
entscheidenden Einfluß seine familiäre Herkunft auf die Tendenz
seines künstlerischen Denkens, auf den, wie er sagt, »Stil seiner
Weltauffassung« hatte. Er stammte nämlich nicht wie Stanislawski
aus dem Besitzbürgertum, der kulturtragenden Schicht vor und nach
der Jahrhundertwende, sondern aus einer neuen Elite, die erst im
Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts maßgebend wurde, der wirt-
schaftlich-technischen Managerschicht. Demgemäß nahm in seiner
Jugend die Kunst einen anderen Platz ein als im Leben und Treiben
der Jeunesse doree, die in der Pflege und Förderung der Künste ent-
weder, im Normalfall, einen Zeitvertreib, oder, bei verantwortungs-
vollen Persönlichkeiten, eine Sinngebung, eine Veredelung ihres
Daseins sahen. »Meine Eltern hatten keine besonderen Beziehungen
zur Kunst«, schreibt Obraszow. »Meine Mutter war Pädagogin,
russische Sprachlehrerin, mein Vater Wegebauingenieur. Beide ar-
beiteten viel und waren immer beschäftigt. In ihrem Leben nahm die
Kunst nur so viel Raum ein, wie die Berufsarbeit, der sie eifrig nach-
gingen, übrigließ. Es war eine werktätige Familie unter tausend
anderen. Ihr Lieblingsschriftsteller war Tolstoj, ihr Lieblingskom-
ponist Tschaikowski, ihr Lieblingssänger Schaljapin und ihr Lieb-
lingstheater das Künstlertheater. Aber diese Liebe zur Kunst war
ruhig und stetig. Die literarischen und Theaterereignisse wurden
nicht zu Familienereignissen. Obgleich es in unserem Bekannten-
kreise künstlerisch tätige Menschen gab, konnte man das Milieu, in
dem ich aufwuchs, keineswegs ein künstlerisches nennen. Und
dennoch erfolgten meine ersten Begegnungen mit der Kunst inner-
halb der Familie, was, wie sonderbar dies auch klingen mag, dem
eben Gesagten durchaus nicht widerspricht.«
In Obraszows Elternhaus liebte man die Kunst, aber nicht als
Lebensaufgabe oder Lebensersatz, sondern schlicht und einfach als
Entspannung und Freude, als Genuß in der Freizeit. Sein Vater
nahm ihn und seinen Bruder auf die Knie, während sie in der Ka-
lesche über das Moskauer Kopfsteinpflaster preschten, und erzählte
ihnen selbsterdachte Geschichten. »Natürlich kam er gar nicht auf
den Gedanken, daß er ein Kunstwerk schuf, auch verfolgte er keiner-
lei pädagogische Absichten.« Oft saß die ganze Familie abends beim

110
Schein der Petroleumlampe beisammen und sang allerlei Lieder.
»Nicht unser > Vortrag < gefiel uns - wir sangen meist leise -, sondern
die Lieder an und für sich, ihre lustigen oder rührenden Worte, ihre
Motive. Wir hatten unsere Freude daran, wie die Melodien der Duette
sich miteinander verflochten oder in >Führe mich nicht ohne Not in
Versuchung < einander suchten und fanden. Auch daran hatten wir
unsere Freude, wie in >Nächte, ihr sinnlosen . < die untere Stimme
. .

um eine Oktave anstieg und die obere, die eine Oktave höher be-
gann, ihr entgegenstrebte und wie sie sich dann verbanden, um sich
nach einiger Zeit wieder zu trennen. Wir sangen unsere Lieder nicht
mit >betontem< Ausdruck, sangen sie niemals mit >Gefühl<, weil wir
die Stimmungen in den Liedern nie mit unseren eigenen in Verbin-
dung brachten. Natürlich empfanden wir das Lied als traurig, wenn
wir >Einsam trete ich den Weg an< sangen, oder als lustig, wenn es
das ukrainische Lied >Der Bauer fährt zur Mühle < war mit dem ko-
mischen Refrain >furdalu posafurdy furdy werdaly - viele Täler gibt
es bis zur Mühle <. Aber das Lustige oder das Traurige kam aus dem
Liede selbst, aus seiner Melodie, seinen Worten, seinem Rhythmus.
Das war das Schöne daran. Weil fast immer nur wir vier für uns allein
sangen, verwandelte sich dieses Singen in echte Begegnungen mit
der Kunst.«
Seine Kindheitserlebnisse und -eindrücke zusammenfassend,
schreibt Obraszow in seinen Erinnerungen: »Das allerwichtigste
waren doch nicht diese einzelnen Begegnungen mit der Kunst, son-
dern das ihnen allen Gemeinsame die Beziehung meiner Eltern zu
:

den Erscheinungen der Kunst und des Lebens. Mein Vater - ein
Wissenschaftler -, Mitglied der Akademie, war Begründer einer gan-
zen Schule von Ingenieuren. Er war weit vorausschauend und sah
das Leben des Landes in großen Perspektiven. Er erging sich jedoch
niemals in großen Worten über die Wissenschaft. Er liebte Kunst
und Literatur, erzählte voller Hingabe von einem Buch, einem Schau-
spieloder einem Film, ohne jedoch dabei pathetisch zu werden . . .

In unseren Gesprächen über Kunst tauchten niemals Worte wie >Er-


leuchtung<, >hohe Berufung < oder >Dienst an der Kunst < auf. Bis
heute erscheint es mir als eine Beleidigung des Künstlers, wenn man,
wie es geschieht, Raffaels Madonna oder das geheimnisvolle Lä-
cheln < der Mona Lisa des Leonardo da Vinci mit schwülstigen Phra-
sen beweihräuchert. Ich empfand in meiner Kindheit die Kunst ein-
fach und klar als einen organischen Teil des menschlichen Lebens.
Dieses Empfinden, glaube ich, ist wohl auch das Wichtigste von
allem gewesen, was mir mein Elternhaus gegeben hat. Das Wichtigste
für meinen Beruf.«
Da der junge Sergej Obraszow niemals von missionarischen Ideen
besessen war, begann er seinen künstlerischen Weg ohne große
Ambitionen über die Berufswahl, zum anderen über eine
einerseits
Ursprünglich wollte er Maler werden. Von
vielseitige Liebhaberei.
früher Kindheit an betätigte er sich mit Buntstift und Pinsel, im

in
Alter von zehn Jahren bekam er den ersten systematischen Unter-
richt.Als er das Gymnasium verließ, trat er in die Schule für Malerei,
Plastik und Architektur ein. Von der Klasse für Maler wechselte er
in die graphische Werkstatt über, die Faworski leitete, ein bemer-
kenswerter Künstler, der sich - auf dem etwas abgelegenen Gebiet
der Buchillustration - allen Prinzipien des Sozialistischen Realismus
zum Trotz bis zur Gegenwart einen eigenwilligen ornamentalen Stil
zu bewahren wußte. Neben seinem künstlerischen Studium hörte
Sergej Vorlesungen über Philosophie an der Universität. Und er ließ
an einem Konservatorium seine Stimme ausbilden. Durch irgend-
einen zufälligen Umstand geriet er in die Aufnahmeprüfung für das
Musikalische Studio des Künstlertheaters, das Nemirowitsch-Dan-
tschenko aufgebaut hatte. Als er sich vorstellte, wußte er nicht ein-
mal, welche Stimme er wohl singe: »Ich weiß nicht, höchstwahr-
scheinlich Tenor.« Seine Aufnahme, so meint er, habe er wohl nur
einem glücklichen Zwischenfall zu verdanken. Nemirowitsch-Dan-
tschenko fragte ihn, den blonden Benjamin unter den Prüflingen:
»Wie jung sind Sie?« und er antwortete voller Aufregung und Ver-
wirrung mechanisch: »Ich bin 21 Jahre alt -« Alles lachte. Obraszow
schreibt in seinen Erinnerungen, daß es vermutlich diese unfreiwillige
Schlagfertigkeit war, die den amüsierten Dantschenko bewog, ihn,
wenn auch vorerst ohne Gage, einzustellen. Jedenfalls betrachtete
der frischgebackene Theatereleve das neue Metier lange Zeit als ein
belangloses Abenteuer und setzte das Kunststudium neben dem
Theaterspiel fort. Später hat er sein künstlerisches Werden mit einem
Kontrapunkt verglichen, bei dem ja auch mehrere Melodien, meh-
rere Themen gleich bedeutungsvoll nebeneinanderlaufen und mit-
einander korrespondieren.
Eine solche Melodie unter anderen und anfangs nur wenig be-
achtet war auch die Beschäftigung mit Puppen. Als Kind besaß er
ein kleines komisches Püppchen, Bi-Ba-Bo genannt, das aus einem
grotesken Zelluloidköpfchen mit Fez und einem blauen Kittelchen
bestand, das wie ein Handschuh über die Hand gezogen werden
konnte. Mit diesem bunten Kerlchen gab er vor der Spiegelglas-
scheibe eines großen Moskauer Geschäftes, in Konkurrenz mit den
mechanischen Schaufensterpuppen, sozusagen seine erste Vorstel-
lung. Als Kunststudent verfertigte er mit Kommilitonen zusammen
ein paar niedliche Spielzeugpuppen, um durch ihren Verkauf etwas
Geld zu verdienen. Nachher gefielen den Künstlern aber die eigenen
Geschöpfe so gut, daß aus dem Verkaufen doch nichts wurde. Von
irgendeiner besonderen Vorliebe für Puppen und Puppenspiel konnte
jedoch bei dem jungen Obraszow noch keine Rede sein. Es gab
offensichtlich in seiner Kindheit nicht einmal eindrucksvolle Erleb-
nisse von Puppenspiel- Aufführungen, denn in seinen Erinnerungen
erwähnt er nichts davon.
Die künstlerische Universalität des heranreifenden Obraszow -
bildende Kunst, Musik, Theater, Kabarett - war für seine spätere

112
E itwicklung in mancher Hinsicht von Bedeutung. Zunächst einmal
ihm, das Puppenspiel in einem bisher unbekannten Maße zu
lf sie
enem Gesamtkunstwerk zu entwickeln. Darstellungskunst, Musik,
Ausstattung, Beleuchtung haben am Erfolg seiner Inszenierungen
dm gleichen Anteil. Bei der technischen Herstellung der Puppen, die
ii seinem Produktionsprozeß keine geringere Rolle als die eigentliche

Aufführung spielt, kam ihm die solide kunsthandwerkliche Ausbil-


dung sehr zustatten. »Ich liebte den Geruch des Holzes, der Farben
und der Grundierung, aber auch das Darzustellende und seinen Farb-
ton. Ich lernte das Material lieben. Der Regisseur eines Puppenthea-
ters, der es mit äußerst materialgebundenen Gestalten zu tun hat,

muß in Material, Machart, Rauminhalt und Maß denken.« Darüber


hinaus aber gab ihm das Studium der verschiedenen Kunstgattungen
noch etwas anderes. »Vielleicht«, so sagte er, »wäre ich gar nicht da-
hintergekommen, wieviel schöpferische Gesetze die verschiedenen
Kunstarten gemeinsam haben.« Er bekam ein ausgesprochenes Fein-
gefühl für das Wesen und die Besonderheit der Kunst, er hat später
manchen klugen Aufsatz über die Grenzen der einzelnen Kunstarten
geschrieben.
Seine Jugendentwicklung, die sachliche und organische Begeg-
nung mit der Kunst, das früh anerzogene Verständnis für den an-
gemessenen Platz, der der Kunst im Leben zukommt, hat Obraszow
vor der Überschätzung des Künstlerischen, der ständigen Grenz-
überschreitung bewahrt, der das ganze vor- und nachrevolutionäre
russische Theater, Stanislawski genauso wie Meyerhold, verfallen
war. Er hatte für den Naturalismus nichts übrig, nichts für den Sym-
bolismus und nichts für den Proletkult, er wollte weder die »Wahr-
heit des Lebens« darstellen noch das »Reich der Ideen«, noch den
»Geist der Revolution«. In seinen Lebenserinnerungen, die er
schlicht >Mein Beruf < überschrieb, muß man lange nach irgendeiner
sittlichen Erklärung oder Legitimation seiner Arbeit suchen. Die
Frage nach der Notwendigkeit seiner künstlerischen Tätigkeit taucht
eigentlich nur einmal auf, während des zweiten Weltkrieges. Erst
da erschien ihm »der Gedanke besonders drückend, daß sich plötz-
lich all das, was man versteht und was man zu tun gewohnt war,
als unnötig erweisen könnte«. Und aufschlußreich ist seine Antwort.
Er schildert in ergreifender Weise, wie er mit seiner Truppe in die
Lazarette geht und dort Freude spendet. Zwei Einarmige klatschen
gemeinsam, indem sie ihre übriggebliebenen Hände zusammenschla-
gen. Ein Schwerverwundeter vergißt seine Schmerzen, lacht und
sagt zu seinem Nachbarn: »Klatsch du für mich!« In einer Kranken-
stube liegen zwei Todeskandidaten, vor denen zu spielen ihm der Arzt
besonders nahegelegt hat. »In meinem ganzen Leben«, so berichtet
der Künstler, »hatte ich noch nicht vor zwei Zuschauern gespielt.
Aber ich habe auch noch nie in meinem Beruf meine Arbeit so sehr
als eine Notwendigkeit empfunden wie an diesem Tage.«
Am Schluß seines Buches >Mein Beruf < wirft er noch einmal die

1*3
Frage nach dem »Was habe ich denn nun
Sinn seines Schaffens auf:
Bühne geleistet, hat meine Arbeit einen wenn auch
tatsächlich auf der
noch so kleinen Nutzen gebracht?« Bescheiden klingt seine Ant-
wort »Ich möchte glauben, daß das Lachen, mit dem die Zuschauer
:

meine Aufführungen beantworten, nicht dem gleicht, das ein ab-


geschmackter Witz hervorruft. Ich möchte glauben, daß ich bei
meinen Zuschauern keine einzige schlechte Emotion hervorgerufen
und deshalb auch keinen Schaden angerichtet habe. Im Gegenteil,
ich glaube daran, daß ich unabhängig vom Maßstab des von mir ge-
stifteten Nutzens, eine wichtige, nötige und gute Sache vertrete. Es
istmir unmöglich, dies alles nicht zu glauben, denn sonst könnte ich
nicht arbeiten und in meiner Arbeit glücklich sein.« Er macht dann
einen Versuch, den Nutzen seiner Arbeit zu definieren, aber das ge-
lingt ihm nur für ein Teilgebiet seines Schaffens, die Satire. All das
andere aber - der Zauber, die Romantik, die unbeschwerte Heiter-
keit, die Schönheit - wozu ist das nötig? Das kann und will Obraszow
nicht beantworten, es ist so selbstverständlich wie die Spiele seiner
Kindheit.
In einem Aufsatz schreibt er zu der Frage, was ihn an seiner Kunst
denn so fessele: »Ich bereiste Hunderte von Städten in meiner Hei-
mat. Ich trat in Riesensälen vor Tausenden von Zuschauern auf, aber
auch in Baracken vor zwei, drei Schwerverwundeten. Ich spielte im
Kremlpalast, aber auch auf dem Schlachtfeld vor Soldaten, die eine
Stunde später in den Kampf zogen. Sowohl vor Akademikern als
auch vor Kolchosbauern spielte ich. Ich führte meine Puppen
J. W. Stalin vor, Maxim Gorki, Henri Barbusse, aber auch den
Grubenarbeitern des Donbas. Ich trat vor 5000 Zuschauern im Iran
auf, unter denen ich 1 3 Nationalitäten zählte das war in einer finste-
;

ren Nacht da unten irgendwo am Persischen Golf. Ich spielte in


einem kleinen, schneeverwehten Städtchen, und meine Zuschauer
waren Partisanen. Sollte ich für all das meinem Schicksal nicht dank-
bar sein?« Mit einem Satz: Obraszow sieht seine Aufgabe und seine
Befriedigung darin, sich selbst und anderen Freude und Lebensmut
zu schenken, nicht mehr und nicht weniger. Damit steht seine Auf-
fassung vom Theater (er hat sich stets mehr als Theaterkünstler denn
alsPuppenspieler gefühlt) gleich weit entfernt von der Stanislawskis
wie von der Meyerholds. Sein Vorbild ist das Spieltheater Wach-
tango WS.

In der Tat vollzog sich die Herausbildung seiner komödiantischen


Eigenart unter dem Einfluß Wachtango ws. Als Kleindarsteller am
Musikalischen Studio, das als Kind des Künstlertheaters dem Wach-
tangowschen Studio ja verschwistert war, besorgte er sich oft eine
Freikarte für die berühmte >Turandot<-Inszenierung Wachtangows.
Da saß er dann auf den Stufen zum Balkon und sah hingerissen eine
Aufführung, deren tänzerischer, marionettenhafter Stil sich tief in
sein Bewußtsein grub. Mehr als alle Aufgaben, mit denen man ihn

114
arh Musikalischen Studio beschäftigte, hatte auf seine Entwicklung
eine Rolle Einfluß, in der er in keiner Vorstellung aufgetreten ist der
:

Tjrtaglia in Gozzis >Turandot<, und zwar in der Art, wie ihn der
Schauspieler Schtschukin bei Wachtango w spielte. Er vermochte
diesen Tartaglia so trefflich zu imitieren, daß er damit auf Wunsch
vqn Nemirowitsch-Dantschenko sogar auf einem Bunten Abend
auftreten mußte. Auf Grund dieses Erfolges betraute ihn sein Thea-
ter erstmalig mit einer ernst zu nehmenden Rolle, dem Zeremonien-
meister Terapot in >Pericola< von Offenbach. Sein Regisseur war
dabei Xenia Kotlubaj, die einige Zeit zuvor Assistentin Wachtangows
und an der >Turandot<-Einstudierung beteiligt gewesen war. Obra-
s2ows Versuch, mit Hilfe des Stanislawski-Systems in die Rolle ein-
zudringen, schlug völlig fehl. Da machte ihm die Kotlubaj, die von
seiner bildkünstlerischen Vorbildung wußte, den Vorschlag, eine
Puppe in Gestalt des Terapot zu basteln. Er schuf nacheinander drei
verschiedene Fassungen des Typs, mit denen dann geprobt wurde.
Über diesen Umweg zur Gestaltung begriff er die Rolle.
Obraszow gehörte zu der in den Studios um Wachtangow und
Nemirowitsch-Dantschenko gruppierten Opposition im Künstler-
theater, die über die Grenzen des Stanislawski-Systems, das sie nur
als Ausgangsstellung ansahen, kühn hinauszudringen versuchten.
Ihre Kritik richtete sich vor allem gegen die Lehre von der »Wahr-
heit der Empfindung«, gegen die Forderung nach völliger Identi-
fizierung mit der Rolle. Dantschenko sagte dem jungen Obraszow:
»Sie spielen den Terapot als einen bösen, mißgestalteten, schleimigen
Menschen, und das ist richtig. Aber diese Widerwärtigkeit und dieses
Mißgestaltetsein dürfen nur dem Terapot selbst, nur der Gestalt an-
haften und nicht auf Sie selbst übergehen. Die Gestalt kann unan-
genehm sein, aber im Zuschauer darf nicht der Eindruck entstehen,
daß der Schauspieler selbst ein unangenehmer und mißgestalteter
Mensch sei. Dieses Gesetz bezieht sich nicht allein auf den Schau-
spieler, sondern auf alles, was der Zuschauer als szenische Gestal-
tung wahrnimmt, das heißt auf alles, was auf der Bühne mitspielt.
So liegen zum Beispiel in der Aufführung von >Nachtasyl< schmie-
rige Lumpen auf den Pritschen. Der Zuschauer weiß wohl, daß sie
schmutzig sind, aber er denkt doch keinen Augenblick lang, daß sie
voller Wanzen sein könnten. Wenn er das dächte, würde es ihm
geradezu ekelhaft sein.« Noch weiter ging Wachtangow in dem Aus-
spruch, den wir schon an anderer Stelle zitiert haben »Der Zuschauer
:

soll in jedem Augenblick spüren, daß er im Theater und seinem All-


tag entrückt ist. Erinnert die Zuschauer auf dem Höhepunkt der
dramatischen Spannung nochmals daran, daß es sich um ein Spiel
und nicht um die Wirklichkeit handelt, daß man es nicht so ernst
nehmen soll, denn Theater ist nicht das Leben.«
Für Obraszow wurde dieses Problem der Distanz zum Angelpunkt
seiner Auffassung vom Theater überhaupt. Er berichtet von seinem
Mißerfolg als Wolgin in Afinogenows >Sonderling<: »Ich glaubte,

"5
daß das genau die richtige Rolle für mich sei. Erstens deckten sich
die Ansichten Wolgins völlig mit den meinen, zweitens waren wir
gleichaltrig, und drittens widersprach mein Äußeres keineswegs cer
möglichen äußeren Gestalt Wolgins. Ich hätte mich nicht einmal zu
schminken brauchen. Und doch verhinderte diese scheinbare Über-
einstimmung nicht nur das Eindringen in die Rollengestalt, sondern
sie bereitete auch den Boden zu einer Selbst-Darstellung vor, also zu
einem Ersetzen der Gestalt durch mich selbst.« Achtzehn Jahre spä-
ter spielte er zufällig noch einmal den Wolgin, und da gelang ihm
die Rolle »Zwischen Wolgin und mir bestand jetzt ein erheblicher
:

Altersunterschied. Vor achtzehn Jahren waren wir gleichaltrig, und


die Jugend Wolgins wurde von mir nicht als ein charakteristisches
Element empfunden. Wenn ich mich auch jetzt noch nicht zu den
Alten zählen möchte, so gehöre ich doch jedenfalls nicht mehr zu der
Jugend. Wolgin aber war so jung geblieben, wie ihn Afinogenow
gezeichnet hatte, und deshalb fiel es mir nun leichter, ihn in den cha-
rakteristischen Merkmalen der Jugend zu empfinden und seine Ge-
stalt richtig zu erfassen. Wie paradox es auch klingen mag - gerade
unsere Gleichaltrigkeit hinderte mich damals daran, die Grenzen der
Gestalt zu erkennen.«
In einem Aufsatz polemisiert Obraszow einmal mit dem Künstler-
theater, dessen Art zu spielen den Monolog praktisch unmöglich
mache. »Nicht ohne Grund verwenden die Regisseure und Schau-
spieler der Richtung des Moskauer Künstlertheaters so viel Mühe,
den Monolog zu >entmonologisieren<. Und doch gelingt es nicht in
vollem Maße. Es gibt einen von Stanislawski eingeführten Fachaus-
druck: >Untertext<. Dieser Ausdruck verdankt sein Entstehen vor
allem dem Umstand, daß die Menschen nicht immer das sagen, was
sie denken, und daß der geschriebene Satz, je nach seinem Tonfall,
einen verschiedenen Inhalt, verschiedene Gefühle und Gefühls-
bewegungen ausdrücken kann. Der Untertext wurde der Grundtext
in der Kunst des Künstlertheaters. Aber der Untertext kann nicht
alles machen. Durch keinen irgendwie gearteten Untertext kann man
jene Gefühle, jene Empfindungen ausdrücken, die die Helden von
>Krieg und Frieden <, >Anna Karenina <, > Auferstehung <, mit einem
Wort die Lieblingshelden der Tolstojschen Romane, ausdrücken,
vor allem deshalb, weil diese Helden selbst oft nichts davon wissen,
was in ihren Seelen vorgeht * Inszenierungsschwierigkeiten zwan-
. .

gen das Moskauer Künstlertheater dazu, > Auferstehung < mit einem
Vorleser aufzuführen [Regie: Dantschenko], Mir scheint dies eine
Großleistung dieses Theaters zu sein. Der Vorleser in > Auferstehung <
ist das mnvermeidliche Ubel< der Inszenierung und stellt dennoch

ein bedeutendes Theaterereignis, die Begegnung von Literatur und


Dramatik, dar.«
Was Obraszow hier anpreist, ist ganz offensichtlich das Epische
Theater. Und sind wir erst einmal soweit, ist auch der Begriff der
Verfremdung nicht mehr fern. Der Künstler beschreibt die Vortrags-

116
kuhst des großen (aus der Sowjetunion emigrierten) Sängers Schal-
japin: »Was aber hatte es nun mit Schaljapin auf sich? Denn nicht
nut auf der Bühne, sondern auch im Konzert beschränkte er sich
keineswegs allein auf die Wiedergabe der durch Text und Musik vor-
gefceichneten Gestalt. Blick und Augenbrauen blieben bei ihm nicht
leidenschaftslos ruhig. Die Gestalt entstand aus jeder körperlichen
Bewegung des Sängers, aus einer Kopfbewegung, der Ausdrucks-
kraft derHände, aus dem ganzen wundervollen Körper Schaljapins.
Jede Romanze wurde von ihm nicht nur gesungen, er spielte sie
auch. Das stimmt wirklich. Und dennoch werden alle Leser, die das
Glück hatten, ein Schaljapin-Konzert zu erleben, sich vermutlich an
eine sehr interessante Einzelheit erinnern, die man nicht sofort
beachtete. Obwohl Schaljapin kein sehr umfangreiches Konzert-
repertoire hatte und sicherlich jede Romanze auswendig kannte,
betrat er nieohne Noten das Podium. Während seines Vortrages
nun - und darin gerade liegt das Wesentliche - führte er sein Lorgnon
immer wieder an die Augen und blickte in die Noten. Durch diese
Geste wurde die ganze Zeit über der äußerst schmale, aber sehr be-
zeichnende Grat zwischen dem singenden Schaljapin und der Ge-
stalt, in deren Namen er sang, gewahrt.«
Als die Brecht-Mitarbeiterin Käthe Rülicke einmal in einem Arti-
kel in der Zeitschrift >Sinn und Form< das Geheimnis der Überein-
stimmung zwischen dem hochgeachteten Stalinpreisträger Obraszow
und dem Erzformalisten Brecht ausplauderte, wurde sie von der offi-
ziellen Theaterzeitschrift der Sowjetzone ungnädig zurechtgewiesen,
sie solle sich zuerst einmal mit jenen Aufsätzen des Russen vertraut
machen, in denen er die Grenzen zwischen den einzelnen Kunstarten
absteckt; zwischen »Menschentheater« und Puppentheater sei doch
ein Unterschied. Hätte jedoch Frau Rülicke die besagten Arbeiten
studiert, so hätte sie nur noch weitere Bestätigungen für ihre Thesen
gefunden. Obraszow leitet seine Meinung, das Puppentheater sei die
allertheatermäßigste von allen Ausdrucksformen des Theaters über-
haupt, ja gerade daraus ab, daß ihm eine Verfremdung für die Dar-
stellungskunst des Theaters unerläßlich erscheint. Er schreibt:
»Aber so ist das Gesetz der darstellenden Kunst Je weiter sich der
:

Stoff von dem Zustand befindet, in den er verwandelt wird, desto


größer wird das Wunder der Verwandlung, das Wunder der Kunst;
und umgekehrt Je näher der Stoff sich dem Zustand befindet, in den
:

er verwandelt wird, desto mehr verringert sich das Wunder der


Kunst, das Wunder der Verwandlung; es verschwindet vollständig,
wenn der Stoff genau mit dem zusammenfällt, was er darstellt. Mit
einer Streichholzschachtel kann man keine Streichholzschachtel >dar-
stellen<;man kann sie nur zeigen. Mit Hilfe einer Streichholzschach-
tel kann man aber einen Menschen darstellen, wenn man in sie
Streichhölzer so hineinsteckt, daß Arme und Beine herausragen . . .

Wenn diese Behauptung richtig ist - und man kann ihr meines Er-
achtens nicht widersprechen -, so bedeutet das, daß man vermittels

117
eines Menschen einfach keinen Menschen, den Menschen an sich,
darstellen kann. Auf den ersten Blick erscheint dies unsinnig. Was
geht denn im gewöhnlichen Theater vor? .Die Schauspieler auf
. .

der Bühne spielen nicht den Menschen, sondern eine Sonderart des
Menschen. Wenn der Schauspieler an seiner Vorlage, an seiner Rolle
arbeitet, denkt er darüber nach, wie er seine ihm persönlich inne-
wohnenden Eigenschaften in eine neue Form verwandeln kann, die
es ihm gestattet, ein anderer Mensch zu werden. Im Theater des
lebendigen Schauspielers ruft ein Gang über die Bühne oder die
Tatsache, daß der Schauspieler sich auf einen Stuhl setzt, keine Be-
wunderung bei den Zuschauern hervor, während im Puppentheater
diese selben physischen Handlungen wunderlich erscheinen, weil sie
der unbeseelten Puppe nicht eigen sind. Wenn diese Puppe nur geht
oder sich setzt, so wirkt sie schon dadurch wunderlich, daß sie einen
Menschen überhaupt spielt, einen Menschen schlechthin. Das ist das
Hauptstück ihrer Ausdrucksfähigkeit.«
In der Verfremdung (die er nie so nennt) sieht Obraszow den
wesentlichen Unterschied des Theaters zum Film, der nicht darstelle,
sondern identifiziere »Hat man beobachtet, daß der Held des Films
:

auf der Leinwand etwa ein ganzes Faß Bier austrinken kann, so wird
man dies nicht im geringsten in Zweifel ziehen es braucht aber nur
;

der Schauspieler auf der Bühne einen Becher Champagner an die


Lippen zu führen, und schon beginnt einen die Frage zu quälen, was
es ist Zitrone oder Tee. Der Zuschauer im Theater trennt unbewußt
:

den Schauspieler vom Helden, den der Schauspieler spielt; und in


diesem Augenblick fließt der Champagner nicht in den Hals des
Helden, sondern des Schauspielers. Auf der Leinwand des Films
kann, ohne im geringsten die Gesetze des Films zu verletzen, eine
Katze laufen, soviel sie will; es braucht aber nur auf der Bühne des
Theaters eine Katze zu erscheinen, und das Schauspiel hört faktisch
auf, weil der Zuschauer sieht, wohin diese Katze laufen wird: ins
Orchester oder in die Kulissen. Auf der Leinwand können Herden
von Kühen wandern, kann Kavallerie galoppieren, können Panzer
fahren aber es braucht auf der Bühne des Theaters nur ein Pferd auf-
;

zutreten, immer wird der Zuschauer nur daran denken, ob sich dieses
Pferd manierlich aufführen wird.«
Obraszow sieht den Reiz des Theaters gerade in dem Widerspruch,
in der Spannung zwischen Dargestelltem und Darsteller. Seine Ar-
beit ist reich an allen möglichen Verfremdungseffekten. So bemühte
er sich beim Vortrag einer Fabel nicht, einmal »hasenmäßig« und
einmal »löwisch« zu sprechen, sondern behielt seinen eigenen Ton-
fall bei, gab ihm nur verschiedene Nuancen. »Die ganze Zeit über

wahre ich das Gefühl, in der dritten Person zu sprechen, selbst dort,
wo die Fabel an irgendeiner Stelle in den direkten Monolog über-
geht. Und dieses eigenartige Gefühl, ein Erzähler zu sein, gewährt
mir bei der Darstellung eine neue schauspielerische Freude.« Bei
einer anderen Szene fügt er hinter die einzelnen Episoden einer an

118
sich durchlaufenden Handlung jeweils eine Pause ein: »Man muß sie
deshalb genau beachten, weil sie den Punkt verstärkt und das Ende
des Satzes hervorhebt. Für mich ist dieser Punkt auch insofern wich-
tig, als er dem Zuschauer Zeit läßt, sein Augenmerk auf den kleinen,

bedauernswerten, komischen Menschen zu richten.«


Einmal hatte er das Miniaturfläschchen, aus dem diese Figur, »der
kleine Beamte«, zu trinken pflegte, vergessen und mußte notgedrun-
gen eine richtige Schnapsflasche benutzen. Der Kontrast im Grad
der Realität und im Größenverhältnis zwischen Flasche und Puppe
steigerte den Publikumserfolg beträchtlich. Von diesem Moment an
benutzte Obraszow die »Begegnung des Bedingten mit dem Un-
bedingten« als einen bewußten Kunstgriff. Er gab einem über-
schwenglichen Dirigenten zu einem Puppenkopf und Puppenkörper
seine eigenen, menschlichen Hände, und verwandelte diese Hände in
die einer gefühlvollen Romanzensängerin, indem er nur einen »Bril-
lant«ring an die Finger steckte. Er stellte das > Wiegenlied < von Mus-
sorgski nicht durch zwei Puppen, Vater und Kind, dar, sondern
nahm die Puppe Tjapa selbst in den Arm. »Tatsächlich spiele ich als
Vater Tjapa gegenüber genau die gleiche Rolle wie die Halbliter-
flasche beim kleinen Beamten. Die Verbindung des Nichtzuvereini-
genden wird zu einem besonderen Ausdrucksmittel. Die Verschie-
denartigkeit in der Darstellung der beiden handelnden Personen
wird zum Kunstgriff für die Nummer als Ganzes. Das ist um so
augenfälliger, als ich gleichzeitig der Darsteller beider Rollen bin.«
Obraszow entwickelt hier eine eigenartige Dialektik der Darstel-
lungskunst, die er nicht auf das Puppentheater beschränkt. »In der
Dramatik«, so sagt er, »läßt sich bei Gozzi die Begegnung des Be-
dingten mit dem Unbedingten sehr leicht nachweisen. Der bedingte
Stoff der phantastischen Erzählung Truffaldinos wird durch Tarta-
glias oder Pantalones alltägliche, auf unbedingte Tagesereignisse und
Mitmenschen bezogene Witze unterbrochen. Das gleiche finden wir
auch in Shakespeares Komödien und im alten russischen Singspiel.«
Bei der Puppe findet diese Ausdrucksform allerdings ihre höchste
Steigerung: ». die Überzeugungskraft dieses Humors beruht auf
. .

der erstaunlichen Fähigkeit der Puppe, unter beliebigen Umständen


und in allen erdenklichen Situationen ihre Ernsthaftigkeit zu bewah-
ren. Natürlich rührt dieser Ernst einfach von der Unbewegtheit des
Puppengesichts her, also von seiner >Konzentriertheit< . . Auch
.

Charlie Chaplin bediente sich bei seiner Maske dieser unbewegten


Konzentriertheit. Die exzentrischsten und unmöglichsten Handlun-
gen wurden allein dadurch glaubwürdig, daß Chaplin keine Miene
verzog. Auf diese Weise gewinnt die Komik der Buffo-Rolle den
Charakter des Lyrisch-Zarten. Auch das Spiel der Puppe bestätigt
dies . Gerade wegen dieses Ernstes in den traurigen Augen des
. .

Negers rief die unscheinbare Bewegung, mit der er der Pianistin das
Zeichen zum Beginn gab, schallendes Gelächter bei meinen ersten
Zuschauern hervor und eroberte deren Herzen.«

119
Eine weitere Zuspitzung der Ausdrucksmöglichkeiten erkannte
er in der Verwendung von Tiergestalten. Man kann gewisse mensch-
liche Charakterzüge durch Übertragung auf Tiere verabsolutieren
und überhöhen. »Erinnert euch daran, wie würdig die Krähe stol-
ziert, wie menschenähnlich sich die Fliege wäscht, mit welcher Würde
das Kamel den Kopf wendet und mit welcher Aufmerksamkeit der
Affe den Bonbon beäugt. In den Tieren erkennst du die einzelnen
menschlichen Züge wieder, wobei aber diese Züge getrennt, gewis-
sermaßen isoliert erscheinen.« Indem Obraszow die gefühlsinnigen
Romanzen von Hunden, Katzen und Affen singen ließ, trieb er die
Lächerlichkeit auf die Spitze. Als die Polarforscher der Papanin-
Expedition nach monatelanger gefährlicher Fahrt auf einer driften-
den Eisscholle in die Heimat zurückkehrten, wollte ihnen der
Künstler eine besondere Programmnummer widmen, die die Freude
über die glückliche Heimkehr ausdrücken sollte. Um nun diese Aus-
sage puppenmäßig aufzuziehen, verkehrte er sie in einer interessan-
ten dialektischen Weise. Er ließ eine Eisbärin eine tränenrührende
Romanze über den Abschied der Forscher vom Eismeer singen,
ihren Schmerz über die Trennung von Papanin. Dadurch erreichte
er zweierlei Er drückte die Freude aus Anlaß der darstellerisch we-
:

nig ergiebigen Ankunft durch Schilderung der Abfahrt vom Pol aus,
und verkehrte eine traurige Geschichte, die Romanze, indem er sie
allen Ernstes von einer verliebten Bärin vortragen ließ, ins Lustige.
Hätte er nicht diesen komplizierten Umweg eingeschlagen, wäre
nicht viel mehr als ein pathetisches Begrüßungszeremoniell heraus-
gekommen.
Die häufige Verwendung von Tieren hat Obraszows Spiel mit
dem Zeichentrickfilm gemeinsam, in dem er denn auch den nächsten
Verwandten seines Puppentheaters sieht er ist nicht zufällig ein gro-
;

ßer, wenn auch nicht unkritischer Verehrer Walt Disneys.


Die Kehrseite der Verfremdung, also der Trennung zwischen
dem Gegenstand der Darstellung und dem Darsteller, ist logischer-
weise eine größere Annäherung des Darstellers an das Publikum.
Für Stanislawski war die völlige Abschaltung des Schauspielers auf
der Bühne vom Zuschauerraum erstes Gebot, ihm schwebte sogar
vor, die Proben in einem nach allen vier Seiten hin abgeschlossenen
Raum abzuhalten, damit die Darsteller sich ganz und gar auf sich
selbst konzentrieren könnten. Obraszow vertritt einen radikal ent-
gegengesetzten Standpunkt. Seine erste Regisseurin, Xenia Kotlubaj,
hatte ihm den ausdrücklichen Rat gegeben, daß er nur vor dem Pu-
blikum, nicht aber während der Probe spielen dürfe. So hat es der
Künstler auch strikt gehalten. Er schildert einmal sehr originell, wie
seiner Meinung nach die Verkörperung der Rolle erarbeitet wird:
»Die Emotion ist das Blut der Rolle. Damit dieses Blut wirklich
kräftig pulsiert, muß es durch die Blutgefäße der Rolle, durch ihre
Arterien fließen. Die Probenarbeit ist im wesentlichen der Prozeß der
Einschaltung und Festlegung dieser Arterien, das heißt der Rich-

120
tung, in der die künstlerische Emotion schließlich verlaufen soll.
Wenn die Arterien nicht gut vorbereitet und ihre Wände zu dünn
sind, zerreißen sie, und das Blut sprudelt hervor . . . Allein der be-
setzte Zuschauerraum ermöglicht es dem Schauspieler, die Schleusen
der Emotion zu öffnen.«
Für die Wechselbeziehung des Darstellers mit dem Publikum
führte Obraszow den Begriff der »Radiolokation« ein: »Es gibt
einen Fachausdruck: >der schauspielerische Apparat <. Er umfaßt
die Summe aller Fähigkeiten des betreffenden Schauspielers; dieser
>Apparat < ist nicht nur Sender, sondern auch Empfänger, und wenn
man den Schauspieler schon mit irgendeinem technischen Apparat
vergleichen will, so gleicht er am meisten einem >Radar< und sein
Schöpfungsprozeß einer >Radiolokation<. Der Radar sendet seine
Radiowellen in bestimmte Richtungen. Auf ihrem Wege treffen die
Wellen auf Berge, Schiffe oder Flugzeuge. Sie werden zurückgewor-
fen, der Radar empfängt die von ihm ausgesandten Wellen wieder
und registriert das Hindernis, das sie zurückgeworfen hat. Der
Schauspieler sendet seine Stimme, sein Aussehen, seine Gefühle in
den Zuschauerraum. Das Publikum fängt sie auf und reflektiert
diese Wellen zum Darsteller hin, dessen Unterbewußtsein die durch
sein Spiel hervorgerufenen und reflektierten Wellen registriert.« Da
ohne Zweifel das Puppentheater diejenige Gattung des Theaters ist,
die am unmittelbarsten mit dem Publikum korrespondiert, mußte
es ihm auch in dieser Hinsicht am »allertheatermäßigsten« er-
scheinen.

Die ganze Eigenart dieses Puppentheaters wird nur verständlich,


wenn man die gesellschaftlichen Verhältnisse betrachtet, unter denen
es groß wurde. Obraszow wurde im Jahre 1901 geboren. Da er zur
Zeit der Oktoberrevolution sehr jung war, sein Vater als technischer
Spezialist mit der bolschewistischen Regierung ohne Schwierigkeit
auskam, stellte ihn die Umwälzung weder im positiven noch im ne-
gativen Sinne vor besondere Probleme. Er wuchs trotz aller Ent-
behrungen jener Jahre fröhlich und guten Muts in den neuen Tag
hinein. Als er ins künstlerische Leben trat, war die Revolution voll-
zogen; die sozialen Spannungen, aus denen das russische Theater
jahrzehntelang seine Energien bezogen hatte, waren explosiv ent-
laden worden. Das Land war ausgeblutet und müde und sehnte sich
nach Ruhe. In Kronstadt, Tambow, der Ukraine und vielen anderen
Gegenden der Sowjetunion erhoben sich die Volksmassen, die 1917
noch mit den Bolschewiki sympathisiert hatten, gegen die Permanenz
der Revolution und ihres Terrors, gegen den harten Druck des
kriegskommunistischen Regimes. Auch im Theaterleben machten
sich Anfang der zwanziger Jahre Strömungen bemerkbar, die der
ewigen Posaunen- und Fanfarentöne müde waren und eine heitere
und gelöste Kunst verlangten. Der erste, der diesen Stimmungen
Ausdruck verlieh, war der junge Wachtangow. Da Obraszow bei den
121
Studios des Künstlertheaters seine Theaterlaufbahn begann, war er
rasch in den Bannkreis der neuen Richtung geraten.
Lenin, der das Beben unter seinen Füßen verspürte, verkündete
die NEP (Neue Ökonomische Kurs wirtschaftlicher
Politik), einen
Liberalisierung, der dem Land Aufatmen schenkte. Im gesell-
ein
schaftlichen Leben, das ganz allgemein von dem Bedürfnis nach Ab-
lenkung und Entspannung bestimmt war, tauchten Typen einer
neuen Bourgeoisie auf, Leute, die aus den Konzessionen, die die bol-
schewistische Regierung dem Kapital gewährte, Spekulations-
gewinne zogen. Für diese NEP-Leute, wie man sie nannte, veran-
stalteten die Studios des Künstlertheaters einmal eine »Ungewöhn-
liche Nacht«, deren Erlös notleidenden Schauspielern zugedacht
war. Das Fest, eine Sensation im Moskauer Theaterleben, wurde aus-
gelassen und parodistisch arrangiert: Man ließ nachgemachte »Zi-
geunerchöre« und Jazzbands mit »Negern« auftreten, stellte aus den
Bühnengeräuschen: Windmaschine, Donnerblech usw., ein inferna-
lisches Orchester zusammen und ließ das Publikum auf der Dreh-
bühne, die zu anderer Zeit die Dekoration vom >Kirschgarten< trug,
Karussell fahren, was den Neureichen und ihren mondänen Damen
keinen geringen Nervenkitzel bereitete. In dieser Atmosphäre debü-
tierte Obraszow als Puppenspieler. Bald wurde er immer häufiger zu
Veranstaltungen herangezogen; er gastierte auf Bunten Abenden
und bei Betriebsfeiern, in Künstlerklubs, in Schulen, Sanatorien und
Erholungsparks. Er spielte unentgeltlich und für Honorar. Er hatte
Erfolge und Mißerfolge. Schließlich wurde er populär: über seine
Puppen lachten Kinder und Erwachsene, Künstler und Banausen,
NEP-Leute und - Kommunisten.
»Jetzt verstehe ich«, schreibt er später einmal, »daß meine erste
Puppe aus einem Kuckucksei geschlüpft ist. gab sich den An-
Sie
schein, als sei sie ein tadelloser Nestvogel, sperrte unentwegt den
Schnabel auf und verlangte Futter. Aber als sie heranwuchs, drängte
sie mitleidslos alle anderen Vögelchen aus dem Nest!« Daß es so
kam, hatte seine letzte Ursache wieder in gesellschaftlichen Wand-
lungsprozessen. Obraszow gründete das Staatliche Puppentheater
im Jahre Das war ein für die sowjetische Kunst entscheidender
1932.
Zeitpunkt. Die revolutionären Künstlerorganisationen wurden
durch Parteidekret aufgelöst, Stalin persönlich erklärte in einer Un-
terredung mit Schriftstellern den Sozialistischen Realismus zur obli-
gatorischen Gestaltungsmethode. Die glanzvolle Epoche des Sow-
jettheaters war zu Ende. Wahrscheinlich hätte Obraszow, der vier-
zehn Jahre lang Schauspieler an den Studios des Künstlertheaters
war, niemals sein Steckenpferd zu seinem Beruf gemacht, und wahr-
scheinlich wäre das Puppenspiel in der Sowjetunion wie in anderen
Ländern eine wenig beachtete Kleinkunst im Schatten der großen
Künste geblieben, wenn nicht zu jener Zeit die Partei mit brutaler
Hand alle schöpferische Initiative und alle Spielfreude von den re-
präsentativen Bühnen hinweggefegt hätte. Es kam Obraszow zu-

122
statten,daß er sich nie ideologischen Ambitionen hingegeben hatte
und weltanschaulichen Richtungs kämpfe stand. Er war
jenseits aller
nur ein kleiner Puppenspieler am Rande der großen Welt, den man
ohne allzu große Gefahr für die Seelen sein Handwerk treiben lassen
konnte. Er begann in einem kleinen Zimmer mit einem halben
Dutzend Mitarbeitern.
Der Künstler schildert, wie er sozusagen seine Prüfung vor den
Persönlichkeiten abzulegen hatte, die damals im sowjetischen Kul-
turleben tonangebend waren Gorki, Stanislawski und Stalin. Gorki
:

hatte kurz zuvor eine Revue besucht und auf die Frage der Tänzerin-
nen, wie es ihm gefallen habe, erwidert: »Sie haben eine große, kom-
plizierte und völlig unnötige Arbeit geleistet.« Obraszow fürchtete
nun, der strenge Kunstrichter könnte bei seinem Puppenspiel zu
einem ähnlichen Urteil kommen. Aber Gorki mußte sich bei der Vor-
stellung dicke Lachtränen aus dem Gesicht wischen und gab sogar
den Versuch, einige gewichtige Themen anzuraten, nach kurzem
Nachdenken mit den Worten auf: »Vorschläge eines Außenstehen-
den können Ihnen keinen Nutzen bringen. Sie arbeiten organisch
und wahrhaftig.« Das Spiel vor Stanislawski fand in dessen Privat-
wohnung statt. Da nur Kollegen anwesend waren, die das Programm
schon kannten, hatte Obraszow Bedenken, es könnte keine rechte
Stimmung aufkommen. Aber der Altmeister des Theaters lachte so
herzlich, laut und fröhlich, daß er einen ganzen Saal animierten Pu-
blikums ersetzte. Anläßlich des fünfzehnten Jahrestages der Ersten
Roten Reiterarmee gastierte der Puppenkünstler zum ersten Mal im
Kreml. Er wurde zwischen Aufregung und Ehrfurcht hin- und her-
gerissen. Stalin saß mit Gorki und den Mitgliedern des Politbüros
dicht vor dem Podium. Der Alte, in Stiefel und Joppe, gab sich
wie immer bei solchen Gelegenheiten schlicht und jovial und
schmauchte sein Pfeifchen. Nach der ersten Nummer streifte Obras-
zow in begreiflicher Erregung die Puppe von der Hand, trat vor den
Schirm, hinter dem er zu spielen pflegte, und sah - in Stalins lachen-
des Gesicht. Das Examen war bestanden.
Man kann den triumphalen Erfolg des Puppentheaters in der So-
wjetunion nur daraus erklären, daß es eine der wenigen Oasen in einer
durch und durch politisierten Gesellschaft war. Die Puppenbühne
produzierte eine farbenprächtige, märchenhafte und burleske Welt,
die den grauen Alltag mit Sollerfüllung und Spitzelfurcht für einige
Stunden vergessen machte. Und was die Satiren auf Hitler und Mus-
solini, auf den Kapitalismus und Hollywood anging, mit denen
Obraszow den Anforderungen der Partei Rechnung tragen mußte, so
boten sie doch wenigstens noch Stoff zum Lachen. Selbst den Funk-
tionären des Politbüros, den hartgesottenen Berufsrevolutionären,
mochte ein Stündchen der Kurzweil und der Heiterkeit eine Labsal
sein; Obraszows Puppentheater fehlte hinfort bei keinem festlichen
Empfang im Georgssaal des Kreml.
Daß nun das Puppentheater nicht in bloßem Zeitvertreib aufging,

* 23
daß es sich nicht mit dem Niveau
des Zirkus begnügte, der ja auch
eine Stätte unbeschwerter Unterhaltung und deshalb in der Sowjet-
union besonders populär ist, macht die Größe und Einmaligkeit Ser-
gej Obraszows aus. »Wenn sich auf die schmalen Schultern der Pup-
pen«, so erklärte er, »nicht die gleiche Last, die gleiche Verantwor-
tung legen läßt, die auf den Schultern der >großen Kunst < ruht, so
will ich weder über die Puppen schreiben noch mich mit dieser Kunst
befassen, denn in dem Falle wäre sie nichts als ein zufälliges > kind-
liches Vergnügen < oder eine ästhetische Effekthascherei Erwachse-
ner.« Mit dem traditionellen Puppenspiel der Volksfeste und Rum-
melplätze, der Leierkastenmänner auf den Hinterhöfen hat seine Ar-
beit in der Tat kaum etwas zu tun. Wohl hat er die Puppen- und Ma-
rionettenspiele in aller Welt studiert und ihre Figuren in dem Mu-
seum, das seinem Theater angeschlossen ist, gesammelt, aber über-
nommen hat er nicht mehr als ein paar Kniffe und Details. »Den Auf-
führungen anderer Puppentheater stehe ich oft ablehnend, gewisser-
maßen mit einer inneren Opposition gegenüber. Ich glaube aber, das
ist kein Zeichen von bösem Willen, auch nicht etwa eine Art von

Eifersucht, sondern es liegt an der oft unvermeidlichen Verschieden-


heit meiner Ziele und meines Geschmackes von dem, was sich mir
als die Arbeit anderer zeigt. Jedenfalls vermitteln mir fremde Pup-
penvorstellungen keineswegs immer neue Kenntnisse und Ideen. Be-
deutend öfter und in viel höherem Maße sah ich mich durch die Be-
gegnung mit anderen Theatergattungen bereichert. Hier könnte ich
Hunderte und Tausende von Fällen aufzählen, wo das Gesehene
mich entzückt und mich veranlaßt hat, nachzudenken. «Mit der volks-
tümlichen russischen »Petruschka «-Puppe, die dem deutschen »Kas-
perle«, dem englischen »Punch« und dem französischen »Guignol«
entspricht, wußte er so wenig anzufangen, daß er auf die gewiß vor-
eingenommene Idee kam, sie sei zum Aussterben verurteilt. Er hat
einem der letzten Petruschka-Spieler, Iwan Saizew, einem eigenarti-
gen, tief religiösen Menschen, zwar ein Asyl an seinem Theater ge-
boten, aber der Versuch, ihn nachzuahmen, scheiterte gründlich, und
in den Rahmen des Ensembles fügte sich der Volkskünstler nie ein.
Schon der technische Aufwand, den Obraszow treibt, unterschei-
det ihn von allen anderen Puppentheatern. In seinem Haus am Maja-
kowski Platz in Moskau arbeiten jetzt mehr als 250 Personen. Es
wird zweimal täglich gespielt, einmal für Kinder und einmal für Er-
wachsene, in den nicht seltenen Zeiten der Hochkonjunktur sogar
viermal täglich. Puppenbildner, Bühnenmaler, Beleuchter vollbrin-
gen wahre Wunderwerke. Ein eigenes Orchester steht zur Verfü-
gung. Zur Darstellung eines Tangopaares werden z. B. fünf Perso-
nen benötigt, die ineinander verschränkt hinter dem Schirm im
Tangoschritt hin- und herschreiten. Bei der Aufführung des Mär-
chens > Aladin und die Wunderlampe < benutzt Obraszow die Form
der alten javanischen Puppen, die er für seine Zwecke zurechtstutzte.
Sie werden mit Hilfe von Stäbchen von unten geführt und gestatten

124
weitausladende Gesten und besonders edle Bewegungen. Umin Go-
gols >Nacht vor dem Weihnachtsfest < die Perspektive eines ukraini-
schen Dorfes wiederzugeben, zerlegte er seinen Schirm in fünf hori-
zontale, übereinandergelegene Ebenen. Auf der ersten ist die Puppe
60 cm groß, auf der nächsten 30 cm, auf der folgenden 20 cm usf.
Auf diese Weise entsteht der Eindruck, daß ganz in der Ferne weih-
nachtliche »Sternsinger« auftauchen und immer näher kommen -
man setzt eben in den hintereinander gelegenen »Gassen« der Bühne
Puppen in verschiedener Größenordnung ein. In einer Szene, die auf
einem sowjetischen Fußballplatz spielt, erscheint eine Puppe in vier-
zehn verschiedenen Ausführungen. Für Kiplings >Mowgli< schuf
man Figuren mit beweglichen Mäulern, Ohren und Augen und der
Biegsamkeit von Tierkörpern. Tiger, Löwen und Panther werden
jeweils von zwei Spielern geführt, die Schlange Kaa, die mehr als 3 m
lang ist, sogar von fünf Spielern.
Deutlicher noch als in der Hypertrophie der Technik kommt der
Bruch mit dem alten Puppentheater in der Darstellungsweise zum
Ausdruck. Während die volkstümlichen Petruschka- und Kasperle-
spieler stets die völlige Identifizierung von Bühnenvorgang und
Publikum anstrebten, ermöglicht es Obraszow das Prinzip der Ver-
fremdung, sich von dem Lebenskreis, in dem er wirkt und den er
darstellt, zu distanzieren. Jede Verfremdung enthält auch stets ein
Quantum Ironie. So wie die Studios des Künstlertheaters seinerzeit
die sensationslüsternen NEP-Leute nicht nur unterhielten, sondern
sich gleichzeitig über sie lustig machten, verspottet das Moskauer
Puppentheater viele Sitten und Charakterzüge der neuen Sowjet-
bourgeoisie, jene Züge, die man im Parteijargon die »Überreste des
Kapitalismus im Bewußtsein der Menschen« zu nennen pflegt.
»Meine Verspottung der Abgeschmacktheit«, sagt Obraszow, »rich-
tet sich sowohl gegen ihre Hersteller wie gegen ihre Abnehmer.«
Wir erinnern uns an seine Persiflage des geheiligten Stanislawski-
Systems, aus der die komische Romanze des Negers entstand. Die
Satiren Majakowskis und die Fabeln Michalkows, die Humoresken
von Ilf und Petrow, in denen die Erscheinungen des Funktionärs-
wesens und der Sowjetbürokratie bissig kritisiert werden, gehören
zu den beliebtesten und brillantesten Stücken der Puppenbühne.
Obraszow teilt sein Repertoire in »positive«, »negative« und »pa-
rodistische« Nummern ein. Bei den positiven entspricht die Inter-
pretation den Absichten des Autors. Handelt es sich um Märchen
oder Lyrik, wirkt sich die Verfremdung nur als liebenswürdige und
freundliche Ironie im Spiel aus; ist es eine Satire, so zielt sie in die
Richtung, die der Autor bei der Niederschrift im Auge hatte. Das
> Wiegenlied < Mussorgskis ist eine solche positive Nummer, aber
auch die Geschichte vom Rausch des »kleinen Beamten«. Die nega-
tiven Programmnummern bleiben ebenfalls im Text und im Motiv
unverändert, aber ihre Aussage wird durch komische Darstellung,
sei es Übertreibung, Besetzung mit Tieren usw., in das Gegenteil

125
verkehrt. Zu dieser Gruppe gehören fast alle Tier-Romanzen;
Obraszow scheut sich nicht einmal, eine Romanze des National-
heiligen Tschaikowski aufs Korn zu nehmen, was in jedem anderen
Rahmen Sakrileg gelten würde. Die eigentliche Pa-
als entsetzliches
rodie schließlich karikiert einen bestimmten Typus oder eine be-
stimmte Erscheinung in der Gesellschaft, indem sie die markanten
Züge herausarbeitet, in entlarvende Umstände versetzt und der
Lächerlichkeit preisgibt. Solche Parodien sind z. B. der über-
schwengliche Dirigent und die gefühlvolle Sängerin, ein sowjeti-
scher Bürokrat, der Tänzer eines schmalzigen Tangos.
Wir hatten vorhin die Bemerkung des Künstlers zitiert, daß ihm
sein Beruf vor allem deshalb Befriedigung bereite, weil er es ihm er-
mögliche, vor so vielen Menschen zu spielen und ihnen Freude zu
schenken. »Aber es ist noch etwas anderes«, fügt er hinzu, »wes-
wegen ich dem Schicksal dankbar bin, daß es mich so listig mit die-
sem sonderbaren Beruf versorgt hat. Dieses andere trat nicht gleich
zutage, sondern wuchs mit jeder neuen Inszenierung, nämlich die
Erkenntnis, daß, wenn es auf der Welt solche Schriftsteller gibt wie
Homer, Dante, Swift, Gogol und solche Künstler wie Bosch, Grand-
ville, Dore und das Künstlerkollektiv Kukryniksy, es auch ein Pup-
pentheater geben muß!« In dieser sorgfältig zusammengestellten
Ahnenreihe, die sich genau an der Peripherie dessen bewegt, was die
Partei noch als »Kulturerbe« akzeptiert, findet man nicht einen Re-
alisten im eigentlichen Sinne. Stalin und das Politbüro, die dem Spiel
der Puppen so freundlich applaudierten, bemerkten gar nicht, was
für ein Kuckucksei ihnen der so bescheiden auftretende, zurück-
haltende Wachtangow-Schüler da ins Nest legte. All jene faszinieren-
den und aufregenden Elemente formalistischer Gestaltung, deren
sich das revolutionäre Theater der zwanziger Jahre bedient und die
der Sozialistische Realismus verworfen hatte - Phantastik, Exzentrik,
Groteske und Satire, Übertreibung und Abstraktion, episches und
lyrisches Theater -, feierten fröhliche Auferstehung auf Obraszows
Miniaturbühne. (Eine Parallele dazu bietet die Arbeit von Igor
Moissejew, dem Leiter des Staatlichen Volkskunstensembles der
UdSSR, der den als formalistisch von den sowjetischen Opernbüh-
nen vertriebenen Ausdruckstanz, bereichert durch folkloristische und
exotische Motive, über die Hintertür des Volkstanzes wieder ein-
führte.) Daß Sergej Obraszow die vom Stalinismus abgebrochenen I

Triebe des Revolutionstheaters in seinem kleinen Puppengarten hat


weiterwachsen und aufblühen lassen, ist das Geheimnis seines Welt- ]

erfolges, des einzigen, den ein sowjetischer Theatermann noch in


stalinistischer Zeit zu erringen vermochte.

126
Das Theater der deutschen Revolution

Früher einmal nannte ich das Theater ein politisches Theater, heute
möchte ich es eigentlich ein Bekenntnistheater nennen.
Piscator 1955

Die Revolution vom November 1918 hatte das deutsche Theater-


leben von Grund auf umgewühlt. Eine Berliner Tageszeitung der
bürgerlichen Mitte schrieb 1919 entsetzt: »Früher war der Theater-
besucher ein gewissenhafter Bürger, heute spielt er Revolution. Im
vorigen Winter verging kaum eine Berliner Erstaufführung, ohne
daß es einen Skandal gegeben hätte Der Theaterbesucher von
. . .

heute kommt gleichsam bis an die Zähne ausgerüstet in den Saal, er


kommt als Kämpfer, als Provokateur Intellektuelle, die mit der
. . .

zum Schlagwort erniedrigten Kinderstube ausgestattet sind, gehören


zu den ärgsten Schreiern . .« Bis zu einem gewissen Grade blieb
.

dieses Klima für die Atmosphäre des Theaterlebens in den zwanzi-


ger Jahren bestimmend. Man mag solche politische Uberhitzung als
störend für das theatralische Wohlgefallen empfinden, Tatsache ist,
daß sie sich als äußerst produktiv für künstlerische Intentionen er-
wiesen hat. Die bedeutenden Regisseure der Weimarer Republik:
Leopold Jeßner, Erwin Piscator, Karl Heinz Martin, Jürgen Fehling,
Berthold Viertel, Erich Engel, Leopold Lindtberg, Otto Falkenberg,
Erich Ziegel, Richard Weichert, Ludwig Berger, Heinz Hilpert, be-
zogen samt und sonders aus politischen Stücken, politischen In-
szenierungen, politischen Aktionen wesentliche Impulse ihres Schaf-
fens. Es ist sicher kein Zufall, daß in den zwanziger Jahren das Thea-
ter gerade in den Ländern zu weltweiter Wirkung erblühte, in denen
die Revolution gesiegt hatte, in Rußland und Deutschland. mit Um
dem Lieblingsdichter der russischen wie der deutschen Theater-
revolution, mit Schiller, zu sprechen »Das Gesetz hat noch keinen
:

großen Mann gebildet, aber die Freiheit brütet Kolosse und Extremi-
täten aus.«
Wie die Theaterepoche in Rußland von den drei glanzvollen Na-
men Stanislawski, Tairow und Meyerhold beherrscht wurde, strahlte
über dem deutschen Theaterleben jener Jahre ein Dreigestirn von
nicht geringerer Leuchtkraft Reinhardt, Jeßner und Piscator.
:

Schon Jahre vor der Revolution hatte Max Reinhardt mit der ihm
eigenen Sensibilität gespürt, daß die Theaterepoche, der er den Na-
men gegeben hatte, zu Ende ging und ein tiefgreifender gesellschaft-
licher Wandel sich anbahnte. Unter den düsteren Wolken herauf-
ziehender Katastrophen schien es ihm nicht länger möglich, jenes
heiter-festliche, genußvolle und unproblematische Illusionstheater
zu spielen, das das saturierte Bürgertum in seinen Häusern suchte.
Das Jahr 1914 kerbte eine Zäsur in sein Schaffen. Im Juli des Jahres,
wenige Tage vor Ausbruch des ersten Weltkrieges, vollendete er im

127
Deutschen Theater den denkwürdigen Shakespeare-Zyklus, Krö-
nung seines ganzen bisherigen Werkes. Nun konnte er getrost auf
die Suche nach neuen Wegen gehen.
Es drängte ihn, die Exklusivität seines Spiels und die Exklusivität
seines Publikums zu überwinden. Darum ging er - noch vor dem
Kriege - mit der Inszenierung des >König Ödipus von Sophokles in <

die Riesenarena des Zirkus Schumann in Berlin. Darum erwarb er


dieses Haus und ließ es sich - unbekümmert um Krieg und Zu-
sammenbruch - von dem Architekten Hans Poelzig zum Großen
Schauspielhaus umbauen, zu einem »Theater der Fünftausend«. In
diesem amphitheatralischen Bau gab es keine Guckkastenbühne
mehr, der Bühnenvorgang wurde unmittelbar vor das Publikum ge-
rückt. Der Regisseur wollte näher heran an die Massen, wollte die lei-
digen Schranken niederreißen, die so lange Kunst und Volk, Bühne
und Publikum voneinander trennten. Es war der erste Schritt zum
Massentheater, wie es dann später allgemein werden sollte. Zugleich
stieß Reinhardt zum Zeittheater vor. Unter seiner Hut entstand mit-
ten im Krieg Das junge Deutschland, ein Kreis jun-
die Gesellschaft
ger Dramatiker, deren radikal sozialkritische und pazifistische Stücke
im Deutschen Theater herausgebracht wurden (Sorges >Bettler<,
Goerings >Seeschlacht<, Unruhs >Geschlecht< u. a.). Mit all diesen
Unternehmungen arbeitete Reinhardt der kommenden Theaterrevo-
lution vor.
Wie nahen Umwälzung, eine ahnungs-
ein Wetterleuchten der
volle Vision desnahen Ansturms der Massen wirkte 1916/17 seine
Kreation von Büchners bis dahin schier vergessenem Revolutions-
drama >Dantons Tod<. Die erregende Inszenierung, zu der der Büh-
nenbildner Ernst Stern die Szenerie schuf, wird von Heinz Herald
beschrieben:
»Reinhardt entschloß sich, den sichtbaren Teil des großen Re-
. . .

volutionsdramas im wesentlichen aus Menschenleibern und Licht


aufzubauen. Eine neutrale Dekoration steht während des ganzen
Abends auf der Bühne, die weder Innenszene noch Außenszene und
daher beides ist. Rechts und links streben mächtige Säulenpaare von
der Farbe verwitterten grauen Steins nach oben. Die wechselnden
Hintergründe sind einfach gewählt: verschiedenfarbige Vorhänge;
Stufen, auf denen die Mitglieder des Konvents und des Revolutions-
tribunals hocken und die gleich darauf als Treppe erscheinen, über
die ein erregter Volkshaufen den Justizpalast zu stürmen versucht; ein
Gitter, eine grüne Wand mit Büchern, ein Gefängnisfenster; kaum
ein- oder zweimal taucht in der Ferne ein Stückchen Paris auf. All
das ist nicht sehr wichtig, verfliegt, wechselt im Augenblick. Was
bleibt, sind die gewaltig-grauen Säulen, ein großer Rahmen, der aber
immer und auf mannigfache Weise in das Spiel hereingezogen wird
. Diese Säulenpaare aus Stein erscheinen wie Ufer, zwischen denen
. .

ein Strom fließt, still manchmal, oft stürmend, aufzischend, brau-]


send . . .

128
Nureinzelne, Gruppen oder Haufen wurden in die Helligkeit ge-
während große Menschenmengen im Halbdunkel oder auch
stellt,

ganz unbeleuchtet blieben; aber man empfand ihre Gegenwart,


hörte mit einmal flüstern, sprechen, aufschreien, sah aus der Fin-
sie
sternis plötzlich einen Arm ins Licht greifen und hatte, wo Hun-
derte vorhanden waren, das Gefühl, Tausende vor sich zu haben.
Vor Riesenschatten und noch mehr vielleicht vor einem verirrten
Lichtschein, der zufällig auf eine weitentlegene Stelle fiel und auch
da noch Menschengesichter aufleuchten ließ, erschrak man fast . . .

Nur Sekunden trennen Szene von Szene; Lichterlöschen, Finsternis,


Lichtaufflammen spielt sich in der Zeit eines Atemzuges ab Im . . .

Dunkel werden noch die letzten Worte und schon die ersten Worte
hörbar. Singen und Pfeifen der Marseillaise, das Fußgetrampel
ziehender Scharen, Gejohl, eine in der Ferne gehaltene Rede, Bei-
fallbrausen gleiten in die Finsternis hinüber, wandeln sich langsam zu
den Geräuschen des nächsten Auftritts oder brechen unvermittelt
ab...
Auf den Stadtplätzen werden Edelleute an den Laternen aufge-
knüpft, während die Furien der Revolution um sie herum, in bunte
flatternde Lumpen gehüllt, die Carmagnole tanzen; im abgeschiede-
nen Gemach ruht Danton in den Armen einer empfindsamen Gri-
sette, während fast zu gleicher Zeit im Jakobiner klub die Meinungen,
die für ihn Leben oder Tod bedeuten, wild aufeinanderplatzen, und
noch der letzte Gang zur Guillotine wird vom Pöbel der Straße ver-
spottet, umbrüllt und umtanzt . . .

Das Nebeneinanderstehen von Hell und Dunkel, von Lärm und


Stille macht es möglich, dem Bedeutungsvollen eine ganz besondere
Kraft des Ausdrucks zu geben. So wirkt, nachdem die Massen sich
langsam beruhigten, St. Justs [Werner Krauß] große Revolutions-
rede in der Nationalversammlung vom Weg der Geschichte, auf dem
die zertretenen Millionen erbarmungslos liegenbleiben müssen -die-
ser Höhe- und Ruhepunkt des ganzen Stücks, das hier an die Ewig-
keit anknüpft -, in der plötzlichen, lautlosen, nur ein paarmal durch
kurzen brennenden Beifall auseinandergerissenen Stille doppelt
stark.«
Als dann die Revolution kam, geriet Reinhardt in eine zwie-
spältige Situation.Wie Stanislawski wurde er von der Zeit überholt.
All die kühnen und umwälzenden Unternehmungen der vorauf-
gegangenen Jahre, mit denen er der Theaterrevolution vorgearbeitet
hatte, erschienen nun mit einem Male antiquiert. Und wie Stani-
slawski widerstand es ihm, den Schritt zu tun, den die Zeit verlangte,
durch den allein er auf der Höhe der Epoche hätte bleiben können -
den Schritt zum politischen Theater. Vielleicht war es der Genera-
tionsunterschied, die Reife der Jahre, die Abgeklärtheit der Erfah-
rung und des Erfolges, daß er den politischen Enthusiasmus und
Fanatismus der Jungen nicht zu teilen vermochte. Vielleicht hat er,
der von allen Theaterleuten am meisten Künstler war, gespürt, daß

129
das Reizgift Politik die Kunst wohl aufpulvern konnte, letztlich aber
auch zerstören mußte.
So stand Reinhardt denn abseits der avantgardistischen Bewe-
gung, die das Theaterleben der zwanziger Jahre beherrschte. Schon
bald nach dem Kriege verließ er enttäuscht und verstört Berlin, auf
das er so große Hoffnungen gesetzt hatte, und kehrte nur noch be-
suchsweise wieder. Wenn er von nun an ruhelos durch Europa und
Amerika zog, immer neue Theater baute, immer größere Massen in
seinen Bann zu ziehen suchte, vor der vom Abendlicht umspielten
Barockfassade des Salzburger Doms, in Felsenklüften, in englischen
Gärten und zwischen venezianischen Palästen seine Lustbarkeiten
inszenierte, die Kathedrale Notre Dame selbst zum Schauplatz einer
religiösenPantomime machen und im Central Park von New York
das Bundeszelt für ein alttestamentarisches Spiel errichten wollte, in
Hollywood das ganze Instrumentarium des Films beschwor - wenn
er so unendlich Schönes schuf und doch in seinen letzten Zielen im-
mer wieder scheiterte, so war dies das titanische Ringen eines genialen
Künstlers mit dem widerspenstigen Geist der Zeit, den er auf seine
Weise zwingen wollte, aber auf seine Weise nicht zwingen konnte.
Und doch ist das deutsche Revolutionstheater nicht denkbar ohne
Reinhardt - wie das russische nicht ohne Stanislawski -, denn er hat
den Boden umgepflügt, aus dem die Saat dann aufgehen konnte, er hat
das hohe künstlerische Niveau geschaffen und die Fülle der Talente
erweckt, ohne die die Zeit nur taube Blüten hätte treiben können.

Als Leopold Jeßner 1919 mit der Inszenierung des > Wilhelm Tell<
seine Intendanz am ehemaligen Königlichen Schauspielhaus in Berlin
begann, war das ein Programm. Thematisch: der Griff zum Frei-
heitsdrama, zum politischen Stück. Formal: keine Postkarten-
Schweiz mehr, keine Kulissen, keine Illusion, statt dessen ein sym-
bolisch gegliederter Bühnenraum - die »Treppe«. Jeßner wurde der
Exponent des Expressionismus, der deutsche Tairow. Die Auffüh-
rung von Shakespeares >Richard III. <, die dem >Tell< folgte und die
neuen Prinzipien in Vollkommenheit demonstrierte, schildert der
Regisseur selbst:
»London und der Tower, das heißt nun: über einer grauen,
schicksalhaft sich erhebenden Mauer ein blutiger Himmel und. . .

jene Atmosphäre von Mord und Hinrichtung als Merkmal der Ge-
schehnisse ins Bildhafte umgesetzt. Die Krönung Glosters [Fritz
Kortner] findet auf jener gestuften Bühne statt, die ganz und gar mit
Rot, der Farbe des Blutes, ausgeschlagen ist. Auf der höchsten Stufe
steht der Neugekrönte. Zu seinen Füßen gruppiert sich die Hofge-
sellschaft, nicht mehr als historische Wiedergabe einer Kamarilla
jener Zeit, sondern im Zeichen des Symbols als einförmige, in Ne-
potismus erstarrte Gesellschaft in blutigroter Gewandung.
Die kommenden Schlachtenbilder entrollen sich ebenfalls auf
dieser gestuften Bühne, dargestellt durch den Rhythmus unzähliger

130
Pauken hinter der Szene. Nicht aber, um die Illusion einer wirklichen
Schlacht vorzutäuschen, sondern um die Dynamik eines Schlachten-
ganges in seiner unheimlichen Spannung wiederzugeben.
Bis ins Kostüm hinein vollzieht sich diese symbolische Zeichnung.
Die Partei Richmonds, das Heer, das für die Wahrheit kämpft, ist
ganz in Weiß gehüllt. Die Krieger Richards, der Blut vergießt um
des Blutes willen, sind in Rot gekleidet.
Den stärksten Ausdruck ihrer inneren Gesetzmäßigkeit fand diese
programmatische Darstellung in der Szene des Zusammenbruchs.
Der Untergang Richards indem er dieselbe rot-
III. vollzieht sich,
gestufte Bühne, auf der er als König im Höhepunkt seines Glanzes
gestanden, halb entkleidet, zerrissen, verworren, ein Wahnsinniger
bereits, von der obersten Stufe bis zur untersten torkelt, um dort von
den weißen Kriegern erstochen zu werden.«
Als Jeßner aus Königsberg nach Berlin kam, war er ein angesehe-
ner Theatermann aas der Provinz - nicht mehr. Er wurde gerufen,
weil er durch seine Tätigkeit in der Bühnengenossenschaft, durch
die Arbeit mit den Gewerkschaften am Hamburger Thalia-Theater
der Geeignetste schien, das Hoftheater zu demokratisieren. Aus die-
ser Aufgabe heraus wurde er der große Regisseur. Die Aufgabe
formte ihn. Jeßner - das zeichnete ihn vor allem aus - war der Mann
konstruktiver Aufgaben, kein Revoluzzer. »Von Stufe zu Stufe« -
das bedeutete Sinn für Maß. Er war der erklärte Repräsentant der
Republik: nicht, weil er zufällig das Staatstheater dirigierte, nicht,
weil er der bedeutendste Genius der Zeit gewesen wäre (er war allen-
fallsPrimus inter pares), sondern weil er der politisch klarste Kopf
unter lauter Schwarmgeistern war, kein Weltveränderer und Welt-
zertrümmerer, sondern ein praktischer Demokrat. Paul Lobe, der
sozialdemokratische Reichstagspräsident, schrieb an ihn: »Wir, die
wir im Politischen ringen, die wir der arbeitenden Klasse angehören,
danken Ihnen mehr. Sie sind es gewesen, lieber Jeßner, der in frühen
Tagen die Kunst zu den einfachen Seelen trug. Der, zehnmal ent-
täuscht, sein Können und Schaffen zum elften Male mit gleicher
Liebe denen entgegenbrachte, die noch im Finstern wandeln. Sie ha-
ben die Hungrigen, die mit pochendem Herzen und glühendem Auge
auf dem dritten und vierten Rang den Gaben deutscher Dichter
lauschten, eng und gedrängt und ermüdet, aber doch lern- und wiß-
und kunstbegierig, Sie haben sie heruntergeführt ins Parkett der
Theater. Vielleicht wird das von manchen gering geachtet, die uns
fernstehen und aus begreiflichen Gründen nicht fühlen können, was
Sie damit begonnen und was heute schon so weit gereift ist und seine
Früchte trägt ..« .

Man hat Jeßner oft vorgeworfen, daß er auf halbem Wege zum
politischen Theater stehenblieb, daß er sein Forum zur Erziehung,
nicht zur Mobilisierung der Massen benutzte. Sicher war das - auch
im künstlerischen Sinne - ein Verzicht. Aber er wußte, warum. Auch
er entrollte am Ende einer Aufführung (Bronnens >Rheinische Re-

*3*
bellen <) eine Fahne - aber es war nicht die rote wie beiPiscator (auch
keine von denen, die sich der rechtsradikale Autor Bronnen ge-
wünscht hatte), sondern die schwarzrotgoldene der deutschen Re-
publik.
So war denn Piscator der einzige der großen Regisseure, der sich
als Kommunist bekannte - der deutsche Meyerhold.

Erwin Piscator, 1893 geboren, aus einer Pastorenfamilie stam-


mend, durch Krieg und Revolution radikalisiert, gründete 1920 in
Berlin im Zusammenwirken mit revolutionären Gruppen ein »Pro-
letarisches Theater«. Es stellte sich die Aufgabe einer »bewußten Be-
tonung und Propagierung des Klassenkampfgedankens«. Das Wort
Kunst wurde aus dem Programm verbannt, die »Stücke« sollten Auf-
rufe sein, mit denen man in das aktuelle Geschehen eingreifen,
»Politik treiben« wollte. Der Stil sollte nicht kunstvoll, nicht ex-
pressionistisch sein, sondern einfach, eindeutig, direkt und völlig
konkreter Natur - »ähnlich dem Leninschen Manifestes«.
Stile eines
Den Autoren wurde angeraten, sich die politischen Führer zum Vor-
bild zu wählen; auf Berufsschauspieler wollte man möglichst ver-
zichten, statt dessen aus der Mitte der Zuschauer die Darsteller ge-
winnen. Die Dekorationen waren notgedrungen primitiv: Piscator
zog mit einem Handwagen, ein paar Versatzstücken, schwarzen Vor-
hängen und einem Scheinwerfer umher. Bei dem von La Jos Barta
zusammen mit dem Piscator-Kollektiv geschriebenen Agitations-
stück >Rußlands Tag< gab eine große Landkarte nicht nur das Büh-
nenbild, sondern auch einen »sozialen, politisch-geographischen und
wirtschaftlichen Aufriß«. Das Repertoire vereinte Gorkis >Feinde<
und Upton Sinclairs >Prinz Hagen < mit den Propagandaelaboraten
>Die Krüppel < von Karl Wittfogel, >Die Kanaker< und >Wie lange
noch, du Hure, bürgerliche Gerechtigkeit < von Franz Jung.
Gespielt wurde in den Sälen und Versammlungslokalen der Ber-
liner Arbeiterviertel, um die Massen in ihren Wohnbezirken zu er-
fassen. Piscator berichtet: »Wer je mit diesen Lokalitäten zu tun ge-
habt hat, mit ihren kleinen Bühnen, die den Namen kaum noch ver-
dienen, wer diese Säle kennt mit ihrem Geruch von abgestandenem
Bier und Herrentoilette, mit ihren Fähnchen und Wimpeln vom letz-
ten Bockbierfest, der kann sich vorstellen, unter welchen Schwierig-
keiten wir hier den Begriff des Theaters aufstellten.« Die Kritiker der
bürgerlichen Zeitungen wurden zu den Vorstellungen nicht zu-
gelassen. Ein Vertreter der > Vossischen Zeitung <, der sich dennoch
eingeschlichen hatte, gab ein drastisches Bild von der Atmosphäre:
Man behielt im Parkett den Hut auf, Mütter hatten ihre Babies mit-
gebracht, und alle Zuschauer äußerten sich lebhaft zu den Vorgän-
gen auf der Bühne.
Das Unternehmen, das niedrige Eintrittspreise voraussetzte (Er-
werbslose wurden meist unentgeltlich eingelassen), geriet bald in
wirtschaftliche Schwierigkeiten. Hinzu kam, daß sich überraschen-

132
:

derweise die Kommunistische Partei dem »Proletarischen Theater«


gegenüber ablehnend Die >Rote Fahne <, das Organ der
verhielt.
KPD, schrieb: »Im Programm steht ., dies solle keine Kunst sein,
. .

sondern Propaganda .Man wolle die proletarische, kommunisti-


. .

sche Idee auf der Bühne zum Ausdruck bringen, um propagandistisch


und erzieherisch zu wirken. Man will nicht >Kunst genießen <. Dazu
ist zu sagen: Dann wähle man nicht den Namen Theater, sondern

nenne das Kind beim rechten Namen Propaganda. Der Name Thea-
:

ter verpflichtet zu Kunst, zu künstlerischer Leistung! Kunst ist . . .

eine zu heilige Sache, als daß sie ihren Namen für Propagandamach-
werk hergeben dürfte Was der Arbeiter heute braucht, ist eine
! . . .

starke Kunst . .solche Kunst kann auch bürgerlichen Ursprungs


.

sein, nur sei es Kunst .« Dieser Konflikt zwischen Piscator und


. .

seinen Genossen spiegelte den Zwiespalt in der sowjetischen Kul-


turpolitik jener Jahre wider: Beide Kontrahenten konnten sich näm-
lich auf das russische Vorbild berufen, Piscator auf die Schriften der
linksradikalen Theoretiker des Proletkult, Bogdanow und Kershen-
zew, seine Widersacher auf die praktische Kulturpolitik Lenins und
Lunatscharskis. - Als dann zu den wirtschaftlichen und parteiinter-
nen Schwierigkeiten noch Streitigkeiten mit dem Polizeipräsidenten
traten, der dem Propagandaunternehmen die Theaterkonzession ver-
weigerte, ging Piscators Proletarisches Theater sang- und klanglos
dahin, ohne nennenswerten Ruhm an seinen Namen geheftet zu haben.
Piscator kehrte reumütig zur Kunst zurück. Er übernahm im
Verein mit Hans Jos6 Rehfisch das Berliner Central-Theater, eine
ehemalige Operettenbühne, die in der Inflationszeit billig zu haben
war. In der Spielzeit 1923/24 inszenierte er dort Gorkis >Kleinbür-
ger<, Rollands >Die Zeit wird kommen < und Tolstojs >Macht der
Finsternis <, Aufführungen, die ihm ideell (bürgerlicher Humanis-
mus) und formal (Naturalismus) nicht sonderlich behagten. Nach
der Saison ging das Haus an den Unterhaltungskonzern der Brüder
Rotter über. Für Piscator waren die beiden Episoden - Proletari-
sches Theater und Central-Theater -, so mäßig sie verliefen, ent-
scheidende Stationen: Er lernte, daß es allein mit der politischen
Gesinnung beim Theater nicht getan ist, daß er sich dem bürger-
lichen Theaterbetrieb zum Wettkampf stellen mußte. Er wurde, ob es
ihm genehm war oder nicht, auf den Weg der künstlerischen Bewäh-
rung gestoßen. Dabei kamen ihm die Erfahrungen der großen russi-
schen Regisseure Meyerhold und Tairow zu Hilfe. Piscators Format
äußerte sich darin, daß er diese russischen Anregungen souverän und
originell verarbeitete.
Die Grundgedanken, von denen sich Piscator bei den nun folgen-
den Inszenierungen in den großen Berliner Theatern leiten ließ, wol-
len wir der Authentizität halber in seinen eigenen, zu verschiedenen
Anlässen geäußerten Worten anführen
»Gegossen in den Schmelztiegeln der Großindustrie, gehärtet und
geschweißt in der Esse des Krieges, standen die Massen 1918 und

i33
1919 drohend und fordernd vor den Toren des Staates, nicht mehr
ein Haufe, eine wahllos zusammengewürfelte Rotte, sondern ein
neues lebendiges Wesen mit einem neuen Eigenleben, das nicht mehr
die Summe von Individuen war, sondern ein neues, gewaltiges Ich,
angetrieben und bestimmt von den ungeschriebenen Gesetzen seiner
Klasse. Will jemand angesichts dieser ungeheuren Umwälzung, von
der niemand sich auszuschließen imstande ist, im Ernst behaupten,
das Bild des Menschen, seiner Emotionen, seiner Verknüpfungen,
sei ein ewiges, von der Zeit unberührtes, absolutes? Oder wird man
endlich zugeben, daß die Klage Tassos ohne Echo gegen die Beton-
türme und Stahlwände unseres Jahrhunderts stößt und auch die
Neurasthenie Hamlets bei einer Generation von Handgranaten-
werfern und Rekordsiegern auf kein Mitleid rechnen kann? . . .

Nicht mehr das Individuum mit seinem privaten, persönlichen


Schicksal, sondern die Zeit selber, das Schicksal der Massen ist der
heroische Faktor der neuen Dramatik . Der Mensch auf der Bühne
. .

hat für uns die Bedeutung einer gesellschaftlichen Funktion. Nicht


sein Verhältnis zu sich, nicht sein Verhältnis zu Gott, sondern sein
Verhältnis zur Gesellschaft steht im Mittelpunkt. Wo er auftritt, da
tritt mit ihm zugleich seine Klasse oder seine Schicht auf. Wo er in
Konflikt gerät, moralisch, seelisch oder triebhaft, gerät er in Kon-
flikt mit der Gesellschaft . Eine Zeit, in der die Beziehungen der
. .

Allgemeinheit untereinander, die Revision aller menschlichen Werte,


die Umschichtung aller gesellschaftlichen Verhältnisse auf die Ta-
gesordnung gesetzt sind, kann den Menschen nicht anders sehen als
in seiner Stellung zur Gesellschaft und zu den gesellschaftlichen Pro-
blemen seiner Zeit, d. h. als politisches Wesen.« -
»Die Trennung der Begriffe Epik und Dramatik geht auf eine teils
unvollkommene, teils mißverständliche Anwendung der aristoteli-
schen Ästhetik zurück, die spätestens an dem Phänomen Shakespea-
re ihre Haltlosigkeit dokumentiert hat. Seit Shakespeare muß man
notgedrungen zugeben, daß die berühmte Einheit von Ort, Zeit und
Handlung eine theaterfremde Forderung ist. Shakespeare beweist,
daß seine Dramatisierung epischer Vorwürfe um vieles dramatischer
ist als die unepischen Erzeugnisse des starren französischen Dramas

und seiner Nachfahren. Einen weiteren empfindlichen Schlag gegen


die fein-säuberliche Trennung und Unterscheidung dieser Begriffe
hat uns natürlich der Film versetzt. Die Entwicklung des ernsthaften
Films geht so eindeutig auf eine neue Form des epischen Theaters
hin, daß dies nachträglich meine eigenen Theorien bestätigt.
Das epische Theater entstand aus einer Absage an die O-Mensch-
Dramatik, den Mitleidsschrei, die Bruderliebe der >Gewaltlosen<,
denen bereits mit den Kolben der Ehrhardt-Brigaden die Schädel
von den > Brüdern < zertrümmert wurden. Gerade aus der Zertrüm-
merung der >Phrase< sollte die Wahrheit gekeltert werden, das Do-
kument selbst sollte Beweiskraft erhalten, das Material sauber neben-
einander gestellt werden.« -

134
»Es ist kein Zufall, daß in einem Zeitalter, dessen technische
Schöpfungen alle anderen Leistungen so turmhoch überragen, eine
Technisierung der Bühne eintritt. Und es ist ferner nicht zufällig, wenn
diese Technisierung gerade von Anstoß er-
einer Seite her einen
fahren hat, die sich im Widerspruch mit der gesellschaftlichen Ord-
nung befindet. Geistige und soziale Revolutionen sind immer mit
technischen Umwälzungen eng verknüpft gewesen. Und auch die
Funktionsänderung der Bühne war nicht denkbar ohne eine tech-
nische Neugestaltung des Bühnenapparates Bis auf Drehscheibe
. . .

und elektrisches Licht befand sich die Bühne zu Beginn des 20. Jahr-
hunderts noch in demselben Zustand, in dem sie Shakespeare zu-
rückgelassen hatte: ein viereckiger Ausschnitt, ein Guckkasten,
durch den der Zuschauer den bekannten verbotenen Blick < in eine
fremde Welt tun durfte. Dieses Indirekte, diese gläserne Mauer
zwischen Bühne und Zuschauerraum hat drei Jahrhunderten inter-
nationaler Dramatik das Gepräge gegeben Das Theater hat drei
. . .

Jahrhunderte lang von der Fiktion gelebt, daß sich kein Zuschauer
im Theater befände. Selbst diejenigen Werke, die für ihre Zeit revo-
lutionär gewesen sind, haben sich dieser Unterstellung gebeugt.
Beugen müssen! Warum? Weil das Theater als Institution, als Appa-
rat, als Haus sich noch niemals bis zum Jahre 1917 im Besitze der
unterdrückten Klasse befunden hat und weil diese noch nie in die
Lage gekommen war, das Theater nicht nur geistig, sondern auch
strukturell zu befreien. Dieses Werk ist sofort und mit größter
Energie von den revolutionären Regisseuren Rußlands in Angriff
genommen worden. Mit Notwendigkeit mußte ich bei der Erobe-
rung des Theaters ähnliche Wege gehen .« - . .

Aus diesen drei Elementen, dem politischen, epischen und tech-


nischen, formte Piscator seinen Stil, der sich in seinen nächsten
Arbeiten markant und vielgestaltig manifestierte.
Zu den Reichstags wählen 1924 schuf Piscator im Auftrage der
Kommunistischen Partei die >Revue Roter Rummel <, das klassische
Beispiel einer politischen Revue. Den Text schrieb er gemeinsam
mit seinem Mitarbeiter und Parteigenossen Gasbarra. Es war eine
bunte Folge politischer Szenen und Bilder, die zusammengehalten
und kommentiert wurde von einem durchgehenden Diskussions-
paar (den Figuren Compere und Commere der alten Operette nach-
gebildet), dem »Proleten« und dem »Bourgeois«. So charakteri-
sierte Piscator selbst die Rote Revue: »Wie mit Eisenhämmern
sollte sie mit jeder ihrer Nummern niederschlagen, nicht nur an
einem Beispiel, sondern an Dutzenden dieses Abends ihr Leitmotiv
beweisen, ihr: Ceterum censeo, societatem civilem esse delendam!«
Jakob Altmeier berichtet »Als wir hinkamen, standen Hunderte auf
:

der Straße und begehrten vergeblich Einlaß. Die Arbeiter schlugen


sich um die Plätze. Im Saal eine Fülle und Enge und eine Luft zum
Umfallen. Aber die Gesichter strahlten und fieberten nach dem An-
fang der Vorstellung. Musik. Die Lichter verlöschen. Stille. Im

*35
Publikum streiten sich zwei, die Leute erschrecken, der Disput
pflanzt sich im Mittelgang fort, die Rampe wird hell und die Strei-
tenden erscheinen von unten vor dem Vorhang. Es sind zwei Ar-
beiter, die sich über ihre Lage unterhalten. Ein Herr im Zylinder
kommt hinzu. Bourgeois. Er hat seine eigene Weltanschauung und
lädt die Streitenden ein, einen Abend mit ihm zu verbringen. Vor-
hang hoch! Erste Szene. Jetzt geht es Schlag auf Schlag. Acker-
straße - Kurfürstendamm. Mietskasernen - Sektdielen. Blaugold-
strotzender Portier - bettelnder Kriegskrüppel. Schmerbauch und
dicke Uhrkette. Streichholzverkäufer und Sammler von Zigaretten-
stummeln. Hakenkreuz - Fememörder - Was machst du mit dem
Knie - Heil dir im Siegerkranz. Zwischen den Szenen: Leinwand,
Kino, statistische Zahlen, Bilder Neue Szenen. Der bettelnde Kriegs-
!

beschädigte wird vom Portier hinausgeworfen. Ansammlung vor


dem Lokal. Arbeiter dringen ein und demolieren die Diele. Das
Publikum spielt mit. Hei, wie sie pfeifen, schreien, toben, anfeuern,
die Arme schleudern und in Gedanken mithelfen ..« Piscators
.

Agitationstechnik hatte sich seit den Tagen des Proletarischen Thea-


ters wesentlich verfeinert: Musik, Chanson, Akrobatik, Sport, Pro-
jektion, Film, Statistik, Schnellzeichnung, Schauspielerszene, An-
sprache wurden angewandt.
Zur Eröffnung des kommunistischen Parteitages 1925 bauten Pis-
cator und Gasbarra ein »Dokumentarisches Drama« unter dem Titel
>Trotz alledem < (das war die Überschrift des letzten Aufrufes von
Karl Liebknecht unmittelbar nach Niederschlagung des Spartakus-
Aufstandes und vor seiner Ermordung). Das Ganze war eine mon-
ströse Montage von Reden, Dokumenten, Proklamationen, Zei-
tungsausschnitten, Fotos, Filmen und Szenen. Aus dem Reichsarchiv
hatte Piscator seltenes Filmmaterial bekommen von Vorkriegs-
paraden vor den Herrscherhäusern, Schützengrabenkampf, Revolu-
tion usw. Edmund Meisel machte dazu eine höllische Jazzmusik;
John Heartfield schuf die Szenerie ein unregelmäßig gegliederter,
:

terrassenförmiger Aufbau auf der Drehscheibe des Großen Schau-


spielhauses, die verschiedenen Podeste und Nischen gaben die jewei-
ligen Schauplätze ab. In den Spielszenen wurden - neben den unver-
meidlichen Massen - historische Personen dargestellt, z. B. Rosa
Luxemburg, Liebknecht, Ebert, Noske, Bethmann-Hollweg u. a.;
eine Reichstagssitzung wurde den originalen Protokollen nachgestal-
tet. An der Bewältigung dieses szenisch-dokumentarischen Sammel-

suriums bewährte sich Piscators ungestüme Gestaltungskraft, er


erzielte - auch nach den Berichten Außenstehender - einen faszi-
nierenden und mitreißenden Eindruck. »Die Masse begann mit-
zuspielen«, schrieb die >Rote Fahne <, »und sehr bald war es nicht
mehr: Bühne gegen Zuschauerraum, sondern ein einziger großer
Zuschauerraum, ein einziges großes Schlachtfeld, eine einzige große
Demonstration.« Und die frankfurter Zeitung < schildert anschau-
lich einen Höhepunkt: »Liebknecht wird verhaftet, und wie ihn

136
die Menge kampflos abführen läßt, da brüllt es im Zuschauerraum
auf vor Schmerz und Selbstanklage.« - Trotz der Erfolge der »Roten
Revue« und des »Dokumentarischen Dramas« war die Partei noch
immer nicht bereit, eine ständigeAgitationstruppe zu unterhalten -
zu Piscators Glück, der dadurch dem Theater erhalten blieb.
Inzwischen war er von dem Intendanten Holl als Spielleiter an die
Berliner Volksbühne geholt worden. In seinen aufsehenerregenden
Inszenierungen in diesem Hause (1924-1927) entwickelte er nun von
Mal zu Mal die Spezialitäten seines Darstellungsstils. Die erste Ar-
beit war >Fahnen< von Alfons Paquet, eine locker gereihte Folge
knapper Szenen um jenen Anarchistenprozeß 1886 in Chikago, in
dem unter provokativen Machenschaften sechs Arbeiterführer zum
Tode durch den Strang verurteilt wurden. Der Regisseur versah die
in ihrer Art eindrucksvolle und erregende Szenenreihe mit einem
originellen Kommentierungsapparat. Während des Prologs, der eine
Charakteristik der einzelnen Arbeiterführer, Kapitalisten, Polizei-
schergen gab, wurden die Fotografien dieser handelnden Personen
an die Projektionswand geworfen; nach jeder Szene erschien auf
zwei Tafeln, die sich rechts und links von der Bühne befanden, ein
Begleittext, der aus dem Vorgang die Lehre zog.
Paquets >Sturmflut< stand im Zeichen des Films. Das Stück ist
eine romantische Paraphrase über die russische Revolution. Der
Revolutionsführer, dem es nach der Machtergreifung an Geld fehlt,
verkauft Petersburg über einen alten Juden an England, verschwin-
det mit einer abenteuerlichen schwedischen Aristokratin in die Wäl-
der, um einen Partisanenkampf zu führen, das blonde Weib geht
zum Feind über, er selbst kehrt heimlich nach Petersburg zurück und
erobert durch einen Aufstand des Proletariats die Stadt. Piscator ver-
wandte den Film, den er zum Teil eigens für die Aufführung drehte,
nicht mehr nur als Einlage, sondern zur Ausweitung der Szene selbst;
es erschien also im Hintergrund das bewegte Bild eines Hafens mit
Kriegsschiffen, einer Massenversammlung usw., wenn die Darsteller
im Vordergrund in einer solchen Szene agierten.
Zu Paul Zechs Rimbaud- Vision >Das trunkene Schiff< wurde der
Bühnenraum von drei mächtigen Projektionswänden umstellt, auf
denen Zeichnungen von George Grosz die sozialen und politischen
Ereignisse der Zeit um 1870 in Frankreich illustrierten. >Segel am
Horizont < von Rudolf Leonhard stellte das darstellerische Problem
eines auf dem Weltmeer segelnden Schiffes als Schauplatz. Nach
einem authentischen zeitgenössischen Vorfall berichtet das Stück,
wie eine sowjetrussische Schiffsmannschaft, die ihren Kapitän ver-
loren hat, dessen Frau zur Kommandantin wählt, worauf an Bord
ein Sexualkampf entbrennt. Traugott Müller baute eine imposante
Schiffspraktikabel auf die Drehscheibe, die Piscator dramatisch glän-
zend ausnutzte. Außerdem inszenierte Piscator >Unterm karibischen
Mond< von O'Neill, >Wer weint um Juckenack?< (die Tragikomödie
eines kleinen Beamten) von Rehfisch und >Nachtasyl<. Der Regis-

137
:

seur hielt es für unerläßlich, Gor kis nun schon historisches Stück zu
modernisieren und über seine Grenzen auszuweiten: das Obdach-
losenasyl zum Slum einer modernen Großstadt und den Tumult im
Hof zu einem Aufstand des ganzen Stadtviertels gegen die Polizei.
Durch Heben und Senken der (Zimmer-)Decke erzielte er den er-
wünschten Effekt des Ineinanderaufgehens von Stube und Groß-
stadtmilieu. Er war sehr enttäuscht, als Gorki sich strikt weigerte,
bei dieser Bearbeitung Hand anzulegen.
Einen Skandal entfesselte Piscator, als er bei seiner >Räuber<-
Inszenierung im Staats theater 1926 nach ähnlichen Prinzipien, wie
er sie gegenüber Gorki angewandt hatte, nun gegen Schiller vor-
ging. »Erwin Piscator«, so berichtet Ihering, »schwächte in den
ersten beiden Akten der >Räuber< den Revolutionär aus privatem
Sentiment, Karl Moor, zugunsten des systematischen Revolutionärs
ab, des Revolutionärs aus Gesinnung, Spiegelberg Gewiß, der
. . .

Bruch der >Räuber< und der Bruch in der ganzen Dramatik Schillers
wurde nur noch deutlicher. Wenn im ersten Teil das Privatschicksal
Karl Moors zurückgedrängt und nur die Revolution der Masse ge-
zeigt wird, muß im zweiten Teil die ideologische Romantik Karl
Moors nur noch mehr auffallen. Aber die Wirkung dieser Auffüh-
rung auf das Theater und auf die Dramatik der letzten Jahre kann
nicht überschätzt werden.« Die Aufführung (Karl Moor: Carl Ebert,
Franz Erwin Faber, Amalie Maria Koppenhöfer, Spiegelberg Paul
: : :

Bildt in der Maske Trotzkis) erschien als radikale Renovierung bru- :

tale Textänderungen, halbwegs moderne Kostümierung (abgerissene


Uniformen, Cuts, »Melonen«-Hüte), das Schloß als Fort usw. Pisca-
tor gelangen eindrucksvolle Massenszenen beim Einzug der Räuber
;

zur jazzdurchwirkten Internationale verfielen die Zuschauer in rasen-


den Beifall. Am Schluß bereut Karl Moor natürlich nicht; die Auf-
führung endet mit den Worten »Freiheit! Freiheit!« (einen noch
radikaleren Schluß hatte das Staatstheater nicht zugelassen). Der
Lärm den Nationalisten und das Befremden beim Bürgertum
bei
waren immerhin so stark, daß Piscator hinfort von Experimenten
mit Klassikern absah.
Die Skandale um Piscator erreichten einen ersten Höhepunkt mit
der Inszenierung von Ehm Welks >Gewitter über Gottland <. Das
Stück behandelt den Kampf der Hanse, des mächtigen norddeut-
schen Städtebunds, gegen die kommunistisch gesinnten Vitalien-
brüder am Ausgang des Mittelalters. Aus der vieldeutigen Zeitangabe
des Autors »Nicht nur um 1400« leitete der Regisseur das Recht ab,
die Handlung bis zum März 1927, dem Datum der Aufführung, wei-
terzuführen. Er konfrontierte den »Gefühlsrevolutionär Störte-
beker, der heute Nationalsozialist sein dürfte«, mit dem »nüchternen
Tatsachenmenschen Asmus, wie er am reinsten durch Lenin ver-
körpert wird« (Heinrich George spielte den Claus Störtebeker, Alex-
ander Granach in der Maske Lenins den Asmus, ferner wirkten mit
Leonard Steckel, Albert Steinrück, Erwin Kaiser, Peter Ihle, Ernst

138
Karchow, Fritz Staudte, Fritz Genschow usw. usf., Traugott Müller
schuf das Bühnenbild, Curt Oertel den Film). »An diesem Abend war
von Kunst wirklich ganz und gar nicht mehr die Rede«, schrieb
empört >Der Tag<. »Die Politik hatte sie völlig bis auf Haut und
Haar aufgefressen. Man war ahnungslos in eine kommunistische
Wahl- und Agitationsversammlung hineingeraten, stand mitten im
Jubel einer Lenin-Feier. Der Sowjetstern stieg am Schluß strahlend
auf über der Bühne.« Alfred Kerr war tief beeindruckt »Eines von :

den erschütternden Filmbildern, die Piscator zeigt . eines der un-


. .

vergeßlichen Kinobilder ist wie dort irgendein Lenin allemal wieder


:

enthauptet wird . und allemal in neuer Gestalt, in neuer Wirkung


. .

zurückkehrt. Ja, so schrieb ich, beim Sterben dieses Mannes, für sein
russisches Gedenkbuch Wort für Wort: >Dieser Tote wird immer
wieder auferstehen - in hundert Formen - bis im Chaos der Erde
Gerechtigkeit herrschte Bolschewismus? In allen Bibeln heißt es
anders. - Als auf der Kinoleinwand jetzt vollends Schanghai erschien,
brach ein Sturm los, von unten bis hinauf zu den Rängen, ohne Bei-
spiel - aus dem Bewußtsein dieser Laufte, nie Gesehenes zu erleben.
Wie einer politisch dazu steht, fällt kaum noch ins Gewicht. Die Ge-
fühlstatsache redet, redet, schreit . . .«
Die Inszenierung bewirkte den Bruch zwischen Piscator und der
Volksbühne, in deren Haus am Bülowplatz die Aufführung statt-
gefunden hatte. Der Volksbühnen- Vorstand mißbilligte in einem
Beschluß die tendenziöse Aufmachung des Werkes und ließ die bol-
schewistischen Zutaten, insbesondere den umstrittenen Film, ent-
fernen. Die Zusammenarbeit mit Piscator wurde abgebrochen. Ande-
rerseits stellten sich die Schauspieler des Theaters hinter den Regis-
seur; am Abend der nächsten Vorstellung verlas Heinrich George
(der nach 1945 im sowjetischen KZ
umkam) eine Erklärung des
Ensembles, in der gegen die Unterdrückung des Films protestiert
wurde. Die linksradikale Opposition im Verband der Volksbühne,
die sogenannten Sonderabteilungen, beriefen eine Kundgebung ins
ehemalige Herrenhaus ein, auf der sich Ernst Toller, Kurt Tucholsky,
Erwin Kaiser, Leopold Jeßner, Karl Heinz Martin, Heinrich Mann,
George Grosz, Bert Brecht, Alfred Kerr für die »politische Tendenz-
Aufführung« aussprachen.
Sachlich gesehen, hatte der Standpunkt der Volksbühne wie der
Piscator-Anhänger seine Berechtigung. Die Volksbühne war eine
demokratische Organisation, parteipolitisch neutral; ihre radikalen
Sonderabteilungen machten nicht mehr als 2 Prozent der Mitglied-
schaft aus. Die überwältigende Mehrheit der Arbeiter, die der Or-
ganisation angehörten, war sozialdemokratisch orientiert, nicht kom-
munistisch. Es ist nur verständlich, daß sich der Vorstand dagegen
wehrte, daß man das Haus zum Forum kommunistischer Agitation
machte. Doch war Piscators Arbeit nun einmal nicht nur eine poli-
tische, sondern auch eine künstlerische Realität, Die beiden Elemente
waren - das machte den Fall so kompliziert - nicht voneinander zu

139
:

trennen; jeder Abstrich am Politischen beschädigte notwendig die


künstlerische Aussage des Werkes. Die meisten Redner im Herren-
haus waren keine Kommunisten, sondern entschiedene Demokraten;
sie verteidigten die Aufführung als künstlerische Leistung. Sie emp-
fanden sehr richtig, daß man gegen die Kunst, auch gegen die poli-
tische Kunst, nicht mit administrativen Maßnahmen vorgehen kann.
Die Kunst hat immer recht; denn sie spricht die Wahrheit - schlecht
für eine Gesellschaft, wenn sie die Wahrheit nicht vertragen kann.
Eine eigene Stellung nahm der Autor Ehm Welk ein, der die Pre-
miere noch vor Ende der Vorstellung unter Protest verlassen hatte
»Ich habe das >Gewitter< als politisches Stück geschrieben und
habe einer politischen Inszenierung zugestimmt. Ich habe auch der
Forderung des Regisseurs nach einer klareren Herausarbeitung der
revolutionären Idee gern nachgegeben und gegen die Verwendung
von Licht und Film keine Einwendungen gehabt, ich habe sogar
eifrig daran mitgearbeitet. Auch die Umstellung einiger Szenen habe
ich gutgeheißen und mich, nach längerem Widerstreben allerdings,
mit der Einfügung neuer Szenen einverstanden erklärt.
Ich habe dagegen protestiert, energisch und unmißverständlich,
beim Dramaturgen, auf Proben und in Briefen an Herrn Piscator:
gegen die Verschlampung und Verhudelung des Textes gegen den
;

Schauspieler George, der in ganzen Szenen kein Wort des Manuskrip-


tes sprach, sondern Quatsch, Kitsch und Unsinn redete, wie: >Ei,
gucke mal da Ei, du blaue Neune Kamerad in Not und Tod < und
! ! !

hundert dergleichen Lächerlichkeiten mehr. Gegen den der Regis-


seur nicht nur nicht einschritt, dem zuliebe sogar umwälzende Ände-
rungen vorgenommen wurden. Ich habe protestiert gegen das Über-
wuchern des Films und des szenischen Beiwerks gegen die Durch-
;

setzung des Textes mit Banalitäten, Parteischlagworten und Funk-


tionärsphrasen; gegen das Übermaß revolutionärer Prophezeihun-
gen. Genau gesagt, also nicht gegen eine politische Inszenierung -
ich wollte die denkbar größte Schärfe -, sondern gegen die zum poli-
tischen und künstlerischen Selbstzweck gewordene Art der Insze-
nierung ... So wurde es, wie einige Kritiken richtig sagten, eine
grandiose Regieleistung, eine Kolossalregie gegen ein Stück.«
Am lautesten war das Geschrei natürlich ganz rechts. Die deutsch-
nationale Fraktion im preußischen Landtag brachte eine Große An-
frage ein, ob der Kultusminister das Auftreten des Staatstheater-
Intendanten Jeßner im Herrenhaus billige. Außerdem wurde gegen
die Volksbühne eine Großdeutsche Theatergemeinschaft E. V. ge-
gründet.
Piscator beschloß, eine eigene kommunistische Bühne großen
Stilsaufzumachen. Das Geld für dieses Unternehmen kam freilich
nicht von der Kommunistischen Partei, sondern vom Kapital. Die
Schauspielerin Tilla Durieux, die von Piscators > Räuber (-Inszenie-
rung beeindruckt war, verschaffte ihm über ihren späteren Mann,
den Generaldirektor der Schultheiß-Brauerei, Katzenellenbogen,

140
.

400 ooo Goldmark. Kaufmännischer Leiter des Theaters wurde


Piscators Genosse Otto Katz, der sich später Andr6 Simone nannte
und 1952 in der Tschechoslowakei als »Titoist« hingerichtet wurde.
Der Leiter des Dessauer Bauhauses, Walter Gropius, entwarf auf
Anregungen Piscators hin ein hypermodernes »Totaltheater« mit
einer Reihe sensationeller Novitäten: Außer der normalen Bühnen-
anlage sollte es eine Rundbühne aufweisen, die um den ganzen Zu-
schauerraum herumführte; wenn man einen Teil des Parketts
schwenkte, konnte inmitten des Hauses eine Arena geschaffen wer-
den; eine mächtige und komplizierte Projektionsapparatur sollte es
ermöglichen, das Publikum selbst mitten in ein wogendes Meer oder
in eine demonstrierende Menschenmenge zu versetzen und das
Deckengewölbe mit Wolken, Sternbildern usw. zu überziehen. Die-
ser Gropius-Piscator-Bau konnte dann allerdings genausowenig
realisiert werden wie das nicht weniger kühne Projekt Meyerholds
in Moskau, so daß man zufrieden sein mußte, das Theater am Nollen-
dorfplatz zu mieten. Am 3. September 1927 wurde die Piscator-
bühne mit Tollers >Hoppla, wir leben < eröffnet; die Vorbereitungen
gingen bis zum letzten Moment - noch eine Viertelstunde vor Be-
ginn wurde der Zwischenfilm gecuttert und noch in der großen
Pause wurde die Beleuchtungsprobe für das Schlußbild absolviert . .

Das Stück zeigt, wie ein Revolutionär, der acht Jahre im Irrenhaus
zugebracht hat, mit der Welt von 1927 zusammenprallt. Er ist bis ins
Herz deprimiert von der Realität der Republik, für die er einst ge-
kämpft hat, und von dem Weg, den seine sozialdemokratischen Ge-
nossen gegangen sind. In der Piscator-Inszenierung endet das Stück
mit seinem Selbstmord (Ernst Toller, dem der Regisseur die zum
Teil erheblichen Änderungen erst nach hartem Widerstand ab-
ringen konnte, hat sich später von dem Schluß distanziert). Gemein-
sam mit seinen bewährten Mitarbeitern Traugott Müller, Curt Oertel
und Edmund Meisel bewerkstelligte Piscator eine hochtechnisierte
und hochpolitisierte Aufführung. Der Bühnenbildner, der dem
Wahlspruch folgte »Seit Jahren arbeite ich an der Abschaffung des
:

Bühnenbildes«, hatte eine gewaltige Eisenkonstruktion aufgebaut,


eine simultan zu bespielende, mehrstöckige Etagenbühne, fahrbar,
mit lichtdurchlässigen Wänden und mechanisch zusammenklapp-
baren Einrichtungsstücken, so daß die Szene zwanglos mit der Film-
vorführung verschmolzen werden konnte. Für den Eingangsfilm,
der die historische Entwicklung in den acht Jahren zwischen der
Revolution und der Gegenwart zu demonstrieren hatte, entstand
eigens ein Manuskript mit vierhundert Daten aus Politik, Wirtschaft,
Kultur, Gesellschaft, Sport, Mode usw.; das Material wurde ent-
weder aus Archiven besorgt oder neu gedreht. Ein abstrakter Film,
»Musik der Bewegung«, sollte den Ablauf der Zeit versinnbildlichen
(eine schwarze Fläche, die in rascher Folge in Linien und Quadrate
zerfällt), konnte aber aus Zeitmangel nicht mehr montiert werden.
Einen Clou stellte die Szene beim Radiotelegrafisten dar, wo Schau-

141
Spielertext, Lautsprecherübertragung und Filmbild ineinander ge-
koppelt waren und sogar durch Röntgenfilm und Klopftöne das
schlagende Herz eines Ozeanfliegers vorgeführt wurde. Ungeachtet
der Hypertrophie der Technik kam auch das Schauspielerische glän-
zend zur Wirkung Alexander Granach, Sybille Binder, Paul Graetz
:

spielten die Hauptrollen.


Zur Premiere fand sich das elegante, brillantengeschmückte Pu-
blikum des Berliner Westens, das bis zu 100 Mark für eine Eintritts-
karte ausgegeben hatte, einträchtig mit den jungen Proletariern und
Studenten zusammen, die von den Sonderabteilungen der Volks-
bühne entsandt worden waren. Nach den Schlußworten »Es gibt
nur eins - sich aufhängen oder die Welt verändern« erhob sich der
revolutionär gesinnte Teil des Publikums und sang die Internatio-
nale. Die Mehrheit der bürgerlichen Zeitungen, vor allem die ton-
angebenden Kritiker Kerr und Ihering, nahmen Piscators Start mit
Wohlwollen auf. Lärm gab es nur rechts und links Die einen schrien
:

Zeter und Mordio, daß die Bolschewisten am Nollendorfplatz die


Reichshauptstadt unterminierten, die anderen empörten sich über die
humanistische Gesinnung Tollers, die ihnen nicht radikal genug war-
wie so manches Mal gingen der >Lokal- Anzeiger < und die >Rote
Fahne < Hand in Hand.
>Rasputin, die Romanows, der Krieg und das Volk, das gegen sie
aufstand <, war ursprünglich ein Stück von Alexe Tolstoj und
j

Schtschegolew gewesen und von der Piscatorbühne zu einem kolos-


salen historischen Gemälde aufgedonnert worden (1927). Zu den
acht Originalszenen fügte das Kollektiv Piscator, Gasbarra und Leo
Lania neunzehn weitere hinzu. Traugott Müller konstruierte - den
Intuitionen des Regisseurs folgend - eine riesige, silberglänzende
Weltkugel (Kerr sprach boshaft von einer »schleichschleppenden
Schildkröte aus grauer Zeltleinwand«), in deren Bauch das Spiel vor
sich ging. Die komplizierte Anordnung des Schauplatzes bot die
denkbar größten technischen Schwierigkeiten: 16 Mann arbeiteten
zweimal drei Stunden, um die Anlage zu den Proben und Auffüh-
rungen zu montieren; 24 Mann waren nötig, sie nach Benutzung
wieder abzuräumen. Das Aufklappen der Segmente, durch das der
Blick auf die einzelnen Spielflächen freigegeben wurde, war ein be-
sonderes Problem. »Noch heute sehe ich uns bei der ersten Erpro-
bung . .angstvoll auf die Uhren starren«, berichtet Piscator. »Das
.

versprochene >rasche< Heben des Scheitelstücks bis zur ersten Ga-


lerie dauerte bei den ersten Versuchen nicht weniger als 7 Minuten.
Dazu machte der Motor ein Getöse, als ob ein Kohlenkran auf dem
Hafenplatz in Bewegung sei. Und wie immer werde ich mich wohl
erhoben haben mit den Worten, die leider bei uns geflügelt waren:
>Ja, dann können wir eben kein Theater machen <.« Der Film (Ope-
rateur: Hübler- Kahla) wurde auf die graue Kugelfläche, auf eine
Leinwand oberhalb des Schauplatzes und auf einen über der Szene
befindlichen Gaze Vorhang projiziert. Die Aufführung begann gleich

142
!

mit einem Vorfilm, der in Bildern mannigfacher Art (Filmszenen,


Dokumenten, historischen Bildern, Porträts) eine kritische Genealo-
gie des Hauses Romanow gab auf dem »Kalender«, einer Projek-
;

tionsfläche neben der Bühne, wurden Daten und Kommentare ver-


zeichnet. »Am Ende dieser Reihe schneidet der Scheinwerfer die
lebende Figur des letzten Romanow aus dem Dunkel. Der Film ver-
lischt. Beladen mit der tragischen Last seines Hauses, eine bereits
Symbol gewordene Gestalt, erscheint Nikolaus IL, während hinter
ihm sein Schicksal, der Schatten Rasputins, überlebensgroß auf-
wächst.« Im weiteren Verlauf des Spiels wurde der Film wiederholt
und verschiedenartig angewandt : als Kommentar, als soziales Zeit-
gemälde, dramatischer Effekt (wenn beispielsweise simultan zur
als
Handlung der Personen ihr künftiges Schicksal und das Schicksal
ihrer Pläne - Niederlage, Revolution, Erschießung der Zarenfamilie -
als Filmbild aufgeblendet wird). - Die Hauptrollen spielten Paul
Wegener (Rasputin), Tilla Durieux (Zarin), Erwin Kaiser (Zar), Sy-
bille Binder (Wyrubowa, Vertraute der Zarin), Alexander Granach
(Lenin), Oskar Sima (Trotzki).
Der Aufführung folgten die üblichen Skandale. Während Fürst
Jussupow, der Mörder Rasputins, siebenmal einer Vorstellung bei-
wohnte und sich an der Darstellung seiner Person und seiner Bluttat
ergötzte, legte der ehemalige geheime Finanzberater des Zaren, der
nun in Paris lebende Generalkonsul Dmitri Rubinstein, Einspruch
ein. »Alles nicht wahr, alles nicht wahr - dieser Tolstoj ist ein Schuft
. .«, erhitzte sich der Financier im Gespräch mit Piscator. »Ich bin
.

nur ein Geschäftsmann, ich bin nie Politiker gewesen, ich will Ge-
schäfte machen, wie soll ich Geschäfte mit Frankreich machen, wenn
ich hier oben auf der Bühne bei Ihnen in diesem Rasputin-Stück -
was weiß dieser Tolstoj von dem, was ich mit Rasputin gemacht
habe . Wie soll ich da in Paris Geschäfte machen, wenn die Zei-
. . !

tungen schreiben, ich trete hier bei Ihnen als deutscher Spion auf?
Lassen Sie das Wort weg, kommt nicht darauf an, Schieber - meinet-
wegen, aber Spion?«
Der deutsche Exkaiser Wilhelm IL in Doorn fühlte sich durch
seine Darstellung in der episodischen »Dreikaiserszene« beleidigt.
In der einstweiligen Verfügung, durch die er die Streichung seiner
Person aus dem Stück erwirkte, heißt es »Die Szene ist dem Origi-
:

naldrama >Rasputin< eingefügt. Die Maske, unter der der Antrag-


steller vorgeführt wird, ist unverkennbar. Der Antragsteller wird
mit den beiden genannten Kaisern (Franz Joseph und Nikolaus IL)
in Verbindung gebracht Indem der frühere Kaiser Franz Joseph
. . .

als völliger Trottel und der Zar Nikolaus als bigotter und charakter-
loser Dummkopf hingestellt werden, drängt sich die Auffassung auf,
daß auch der Antragsteller ebenso charakterisiert werden soll. Da-
durch wird die Ehre des Antragstellers verletzt.« Da das Gericht in
beiden Fällen den Klägern recht gab, behalf sich die Piscatorbühne
damit, den Herrn Rubinstein im Stück in Orenstein umzubenennen

143
und an Stelle des Textes von Wilhelm II. die gerichtliche Verfügung
zu verlesen, was vom Publikum mit großer Heiterkeit aufgenommen
wurde. Im übrigen waren die Vorfälle für Piscator eine glänzende
Reklame, die mit den Gerichtskosten, die dem Theater aufgebürdet
wurden, nicht zu teuer bezahlt war.
>Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk<, die Dramatisie-
rung des köstlichen antimilitaristischen Romans von Jaroslav Hasek,
wurde von Piscator aus drei Komponenten gestaltet : dem laufenden
Band, den Trickzeichnungen und Marionetten von George Grosz
und der großen Kunst Max Pallenbergs (1928).
Die ursprünglich vorliegende Bearbeitung des Romans, die Max
Brod und Hans Reimann vorgenommen hatten, war als viel zu
harmlos verworfen und durch eine Bearbeitung der Bearbeitung,
bewerkstelligt von dem Kollektiv Piscator, Brecht, Gasbarra und
Lania, ersetzt worden. (Brecht trat später noch mit einer eigenen
Version, einem in den zweiten Weltkrieg verlegten >Schwejk<, her-
vor.) Es war keine eigentliche Dramatisierung mehr, die aus dem
Stoff Spielszenen gestaltet hätte, sondern die getreue Übernahme der
wirkungsvollsten Partien des Romans. Um den Fluß des Romans,
den Fluß der Handlung, den Fluß der Geschichte adäquat zum Aus-
druck zu bringen, wurden die gegeneinander sich bewegenden Bän-
der eingeführt, auf denen die handelnden Personen, die Marionetten
und die Requisiten dahergefahren kamen. Der Gag mit den Bändern
erwies sich als besonders gelungen, weil er nicht nur das Epische des
Stoffes, sondern auch seine Komik unterstrich, denn das originelle
Heranrollen der ganzen Szenerie löste unwillkürlich Heiterkeit aus.
In Erinnerung an die Zeit, da sie gemeinsam im Zeichen von Dada
groteske Experimente angestellt hatten, holte sich Piscator seinen
alten Freund George Grosz, damit er für Schwejk eine marionetten-
hafte Umwelt herstellte. Ursprünglich schwebte dem Regisseur sogar
vor, die Aufführung allein mit Schwejk-Pallenberg als einzigem
Schauspieler zu bestreiten, dessen ganze Lebenssphäre in Form von
Marionetten, Film und Lautsprecher mechanisiert in Erscheinung
treten sollte. Grosz schuf als Vorlage für die Inszenierung ein um-
fangreiches satirisches Werk, dessen Blätter der Staatsanwalt später
zum Gegenstand eines Gotteslästerungsprozesses machte. Die Zeich-
nungen wurden zu einem Trickfilm verarbeitet. Außerdem wurde
noch ein naturalistischer Streifen eingeblendet, den Hübler-Kahla
auf holperndem Auto in den Straßen von Prag aufgenommen hatte.
Als besonderes Problem erwies sich die Gestaltung des Schlusses,
da Ha§ek gestorben war, ohne seinen Roman vollenden zu können.
Piscator und Brod arbeiteten eine Szene aus: »Schwejk im Himmel«,
in der die Kriegskrüppel vor Gott aufmaschieren sollten. Dazu wurde
folgende Regieanweisung gegeben: »20 Statisten mit Puppen. Bettler
ohne Beine engagieren. 5-6 richtige Krüppel. Einer, der seinen Kopf
unter dem Arm trägt. Arme und Beine aus dem Rucksack hängend.
Alle mit Lehm und Blut beschmiert. Zwei kleine Mädchen, sich an

144
der Hand Grosz zeichnete dazu
haltend, mit blutigen Gesichtern.«
eine grausig groteske Karikatur von Gott, im Laufe des Ge-
die
sprächs mit Schwejk zusehends zusammenschrumpft. Diese makabre
Szene wurde nur einmal vorgeführt, bei einer geschlossenen Vor-
stellung vor den Sonderabteilungen der Volksbühne, dann kapitu-
lierte selbst Piscator, weil die Darstellung einfach zu degoutant und
grausig wirkte. So brach denn die Dramatisierung der Piscator-
Bühne mitten in der Handlung ab.
Daß die Inszenierung die wahrscheinlich schönste und beglük-
kendste Piscators wurde, daß aller ideologischen Konzeption zum
Trotz die Fülle des Humors und warmer Menschlichkeit in reichem
Maße aufbrach, war wohl zu einem beträchtlichen Teil das Verdienst
des trefflichen Pallenberg, der sich als alter Reinhardt-Schauspieler
überraschend gut in die so anders geartete Methodik Piscators fand.
So heißt es in einer Kritik: »Schauspielerischer Mittelpunkt ist der
Schwejk Pallenbergs, die wunderbare Gestaltung einer legendären
Volksfigur, von der suggestive Wirkung ausgeht, als hätte sie tat-
sächlich in Prag existiert, er hat etwas von einem unschuldig leiden-
den guten Tier, das nicht weiß, nicht wissen kann, weshalb es so viel
Ungemach ernten muß. Im Blick, in der Stimme zuweilen etwas
von unendlicher Demut und Traurigkeit, ein armer Bursch von
Schlemihls Gnaden aus dem Geschlecht der Candide und Eulen-
spiegel zugleich. Pallenberg hat den Schwejk zum zweiten Mal neu
geschaffen. Es spricht für Piscator, daß sich ein so einziger Schau-
spieler wie Pallenberg zu ihm gefunden hat, es spricht noch mehr für
ihn, daß Pallenberg sich einfügt, sich beherrscht.«
Eine Komödie der Wirtschaft, eine Durchleuchtung des kapitali-
stischen Getriebes wurde mit Leo Lanias >Konjunktur< unternom-
men (1928). Das Stück schildert einen internationalen Kampf ums
Erdöl in einem Operetten- Albanien. »Vor der leeren Bühne - dem
nackten Feld«, so beschreibt Piscator seine Konzeption, »sollte sich
aus kleinsten Anfängen lawinenartig der Kampf um eine zufällig
gefundene Ölquelle entwickeln, ein Spielaufbau, der sich vor den
Augen des Zuschauers vollzieht und den ganzen technischen Her-
gang der Ölproduktion demonstriert. Von der Entdeckung der
Petroleumquelle bis zu den Vorbereitungen der Bohrungen, dem
Aufbau der Bohrtürme, bis zur Kommerzialisierung des Öls als
Ware sollte die Handlung - Rivalität, Mord, Schiebung, Korrup-
tion, Revolution - vor dem Zuschauer abrollen, ihn so in das ganze
Getriebe der internationalen Petroleumpolitik hineinreißen.« Die In-
szenierung (Bühnenbild: Traugott Müller, Musik: Kurt Weill,
Hauptrollen: Tilla Durieux als Agentin, Curt Bois als Diktator)
machte einen relativ disziplinierten und kompakten Eindruck; das
imposante Gestänge der Bohrtürme, eine als Zeitungsblatt aufge-
machte Projektionsfläche, auf die Nachrichten, Pressepolemiken,
Bilder geworfen wurden, und ein leibhaftiger Esel waren diesmal die
auffallendsten Attraktionen. - Die Aufführung fand im Lessing-

*45
Theater statt, das Piscatör nach den großen Erfolgen am Nollendorf-
platz als zweites Haus hinzugenommen hatte; sie wurde - trotz ge-
wisser operettenhafter Züge - kein Publikumserfolg.
Der Skandal kam diesmal von links, von Piscators eigener Partei,
die seine kapitalistisch subventionierten Unternehmungen sowieso
mit Mißtrauen beobachtete. In der Originalfassung von Konjunk-
tur ist die von Tilla Durieux verkörperte Erdölagentin nämlich Ab-
<

gesandte der Sowjetunion; die himmelstürmende Revolution der


Albaner kommt auf das höchst irdische Resultat hinaus, daß das
sowjetische Staatskapital im internationalen Konkurrenzkampf ums
Petroleum der lachende Dritte wird. Diese Verquickung von Welt-
revolution und russischen imperialistischen Interessen wirkte un-
freiwillig enthüllend. Bei der Generalprobe wandten sich die Ver-
treter der Kommunistischen Partei Deutschlands, der sowjetischen
Botschaft und der sowjetischen Handelsvertretung empört gegen die
offenherzige Darstellung. Sie setzten dem armen Piscatör zu, bis er
einsah, daß es »politische Grenzen der Objektivität« gibt. Dunkel
blieb nur, wie das Stück in der kurzen Zeit bis zur unaufschiebbaren
Premiere geändert werden sollte Piscatör war am Ende seiner Ner-
;

venkraft. »Der einzige, der, ewig an seiner schwarzen Zigarre sau-


gend, die Ledermütze verwegen in die Stirn gerückt, ruhig, ja fast
frohen Mutes schien, war unser alter Freund Bert Brecht. Er sah die
Möglichkeit, die ganze Rolle der weiblichen Hauptfigur in ihrer
Funktion von heute auf morgen umzustellen .« Nun bedurfte es
. .

aber dieser Umschreibe-Fertigkeit, die Brecht später zur Vollkom-


menheit entwickeln sollte, in diesem Falle nicht, da dem Piscator-
Kollektiv in letzter Minute ein genialer Einfall kam. Die ganze
Rolle der Durieux als Agentin der dritten Internationale und des
russischen Naphtha-Syndikats blieb erhalten, nur erklärt sie zum
Schluß zur allgemeinen Überraschung, daß sie diese Rolle nur vor-
getäuscht habe und in Wirklichkeit die südamerikanischen ABC-
Staaten vertrete.
Die letzte große Piscator-Inszenierung am Nollendorfplatz war
Walter Mehrings >Kaufmann von Berlin < (1929). Vor dem Hinter-
grund der Inflation wurde das Schicksal des nach Berlin verschlage-
nen Ost Juden Kaftan abgehandelt, der als Nutznießer des Kapitalis-
mus vom Kapitalismus zerrieben wird. Moholy-Nagy, der bekannte
Künstler des Bauhauses, schuf die Ausstattung und den Film, Hanns
Eisler die Jazzmusik; Paul Bar at off (Kaftan), Hermann Speelmanns,
Leonard Steckel, Leopold Lindtberg, Heinz Greif, Albert Venohr
u. a. wirkten mit. Wieder wurde ein mächtiger, dröhnender tech-
nischer Apparat bemüht Drehscheibe, laufende Bänder, Fahrstuhl-
:

brücken. Auf den Bändern wanderte Kaftan durch die Straßen von
Berlin wie weiland Schwejk durch das k. k. Böhmen; die Szenerien
wurden von den Brücken herabgelassen oder auf der Drehscheibe
herantransportiert. Ein Drei-Etagen-System sollte die Bühne in drei
soziale Stufen teilen: eine tragische (Proletariat), eine tragikomische

146
(Mittelstand) und eine groteske (Großbourgeoisie und Militär). Um
das revolutionäre Element, das in Mehrings Stück fehlt, zum Aus-
druck zu bringen, wurden in reichem Maße revolutionäre Songs ein-
gestreut, als deren zündender Sänger Ernst Busch, der »Barrikaden-
Tauber«, hervortrat.
Die Aufführung fand keine günstige Aufnahme. Die Kommuni-
sten vermißten das revolutionäre Proletariat, die liberale Mitte emp-
fand die Darstellung des Juden als antisemitisch, und die Rechte
tobte über die Besudelung der nationalen Ehre. »Dreck! Weg da-
mit!« verkündete der >Lokal- Anzeiger < als Schlagzeile auf der ersten
Seite. Walter Mehring nahm zu den nationalistischen Angriffen Stel-
lung: »Die böseste Erregung entfachte eine Songszene: nach dem
Ende des Höllenspuks der Inflation kommen die drei Straßenkehrer
und machen Kehraus. Sie stoßen auf das Papiergeld (den entwerteten
Sold), auf einen Stahlhelm (die entwertete Macht), auf einen Leich-
nam (der Leichnam ist liegengeblieben, entseelt, entwertet. >Das
war mal ein Mensch gewesen <.). Und wieder sagen die Straßenkehrer
die böse Erkenntnis Dreck Weg damit (Ich schrieb nicht Soldat,
: ! ! :

sondern Leichnam. Ich schrieb nicht man wirft ihn auf einen Mist-
: :

haufen Ich bin nicht verantwortlich für die Ungeschicklichkeit eines


!

Darstellers bei der Premiere. Piscator, als er das Gedicht las, sagte:
es wäre die erschütterndste, die tragischste Szene des ganzen Stückes.)
Aber seit wann identifiziert man den Verfasser mit einer objektiven
Erkenntnis von der Nichtigkeit aller Wesen nach dem Tode?« Und
er führte zum Vergleich jene berühmte Hamlet-Stelle an: »Glaubst
du, daß Alexander in der Erde solchergestalt aussah? Und so roch?
Pah! (wirft den Schädel weg).« Mehring fuhr fort: »Ein >nationales<
Blatt schrieb, ich verhöhne die Toten des Weltkrieges. Gegen solche
Verleumdung - nach allem, was ich geschrieben - verteidige ich
mich nicht. Ich erwidere etwas anderes Zwölf Millionen Tote hat
:

dieser Krieg gekostet! Seht euch . an, wie man die Leichen ins
. .

Massengrab warf. .« .

Derweil brach das Theater wirtschaftlich zusammen. Die an-


spruchsvollen Piscator-Inszenierungen mit den erstklassigen Beset-
zungen, den langen Probezeiten und dem enormen technischen Auf-
wand verschlangen Unsummen - eine Gastinszenierung Karl Heinz
Martins >Der letzte Kaiser < von Jean Richard Bloch (mit Ernst
Deutsch, Frieda Richard, Sybille Binder, Albert Steinrück) war nicht
billiger gewesen. Der Betrieb in zwei Häusern hatte die Unkosten
verdoppelt und das Publikum halbiert die Piscatorbühne machte sich
;

selber Konkurrenz. Zu gleicher Zeit zertrümmerte die Weltwirt-


schaftskrise die soziale Basis des Theaters. Die kapitalistischen Geld-
geber zogen sich zurück, der Theaterbesuch ließ nach. Vor allem:
Piscators eigentliches Publikum - das liberale Bürgertum, die libe-
rale Intelligenz - wurde zwischen den Mühlrädern der Krise zer-
rieben. Die Öffentlichkeit wurde radikalisiert und zerfiel zusehends
in zwei fanatisierte, waffenklirrende Heerlager, die Nationalsoziali-

i47
: ;

sten und die Kommunisten, von denen die einen der Arbeit Piscators
extrem feindlich gegenüberstanden, die anderen aber versuchten,
diese Arbeit unter ihr^ Kontrolle zu bekommen. Die Demokratie
sank ins Grab und mit ihr die Kunst.
Von den Aufführungen, die Piscator nach der Krise 1929/30 noch
herausbrachte (u. a. >Des Kaisers Kulis < von Plie vier, >Paragraph 218 <
von Cred6), war >Tai Yang erwacht < von Friedrich Wolf die wich-
tigste. Er hatte sich inzwischen ins Wallner-Theater, ins Arbeiter-
viertel, zurückgezogen und dort mit ein paar treuen Genossen die
sogenannte Dritte Piscatorbühne aufgemacht. Im Programm dieser
Bühne schrieb er »Die politische Gegenwart verlangt eine zu scharfe
:

und völlig eindeutige Stellungnahme, als daß die bisher beliebte all-
gemeine Vertarnung im Künstlerischen länger aufrechterhalten wer-
den könnte. Das hat überraschend schnell zur Folge gehabt, daß die
Befürworter des Zeittheaters insbesondere im Lager der patentiert
fortschrittlichen Kritiker schwankend geworden sind, daß die an-
fangs so imponierende Zahl der Mitläufer geringer geworden ist . . .

Ich gebe zu, daß die Plattform des politischen Theaters in der Gegen-
wart schmaler geworden ist, dafür hat sie an innerer Schärfe der dar-
gestellten Probleme gewonnen. Sie ist bewußter geworden. Es wird
davon abhängen, daß die bewußt geschulte politische Masse, auf die
sich das politische Theater stützen muß und stützt, bereit ist, auch
weiter dieses Theater zu tragen .« Unter diesen Aspekten stand die
. .

Inszenierung von >Tai Yang <, an der der Autor Friedrich Wolf selbst
mitarbeitete (Ausstattung: John Heartfield). Wir geben den Bericht
einer Zeitung
»Piscator hat für das politische Theater ein neues Stilmittel ge-
funden: die Fahne und das Plakat als Kulisse und Hauptrequisit.
Fahnen und Plakate geben die Atmosphäre der gespielten Szene, sie
begleiten den Text und stehen bis zum ironischen Gegensatz der
innerhalb dieser Kulisse auf der Szene gesprochenen Worte. Wenn
man an frühere Piscator-Inszenierungen dabei denkt, so könnte man
dieses Stilmittel mit der Verwendung von Film in Vergleich setzen
das gesprochene und plakatierte Wort ersetzt den Film, es bereitet
ihn vor und beweist ihn - denn selbstverständlich verwendet Piscator
auch in >Tai Yang erwacht < den Film. Nur läuft der Film nicht mehr
an einer feststehenden Wand, sondern er wird, wie schon vorher das
gesprochene Wort, im Plakat und auf Fahnen, die ständig in Demon-
strationszügen vorbeigetragen werden, aufgefangen.
Der große Bühnenraum gleicht einem Dschungel von Fahnen.
Vom Schnürboden erscheint die Bühne wie eine Ausbuchtung eines
chinesischen Stromes, in der Hunderte von Dschunken verankert
liegen. Es muß eine ungeheure Mühe sein, Schauspieler, Statisten
und Tänzer zu exerzieren, die für jeden bestimmte Fahne zu greifen.
Es gehört natürlich auch in das Spielbild dieser Inszenierung, daß
die Bühne ständig offen ist.

Neu für eine Piscator-Inszenierung ist auch die weitgehende Ver-

148
:

wendung der Pantomime. Für >Tai Yang erwacht


< ist die Tanzgruppe

Jean Weidt [die »Roten Tänzer«] worden. Die Stilforde-


verpflichtet
rung dieses politischen Theaters bringt es mit sich, daß, wovon auf
der Bühne in der Szene gesprochen wird, auch an den tatsächlichen
Vorgängen erwiesen wird. Der Terror auf den Straßen Schanghais
1927 und 1929 ist nicht nur Ausgeburt dichterischer Phantasie, son-
dern dokumentierte geschichtliche Wahrheit. So läßt Piscator in der
Pantomime erschießen, köpfen und erdrosseln. In einer stummen
Rolle von grandioser Eindringlichkeit arbeitet der chinesische Hen-
ker als Symbol der Gerechtigkeit der herrschenden Klasse in China.
Die Tendenz wird nicht mehr gesprochen, sondern an der Wirklich-
keit der Vorgänge dargestellt. Sie wird in der Pantomime gezeigt,
im Film und im Plakat, und ständig ist alles auf der Bühne in Fluß
die Demonstrationen marschieren, der Ausschnitt einer Straße in
Schanghai blitzt auf, und dies alles soll nur der Rahmen sein für die
Spielhandlung, in der Tai Yang, die Spinnerin in der Fabrik des
nationalbegeisterten Fabrikanten, erwacht .«. .

Die Aufführung war ein Politikum ersten Ranges. Die chinesische


Revolution war seit den Kämpfen in Schanghai bei den Kommuni-
sten womöglich noch populärer als die russische, weil aktueller:
Schon 1927 hatte Piscator seine Inszenierung >Gewitter über Gott-
land < in Bilder vom Schanghaier Aufstand auslaufen lassen; im glei-
chen Jahr hatten die kommunistischen Agitprop-Truppen in Berlin
die Rote Revue > Alarm Hamburg- Schanghai < veranstaltet; 1930
war Meyerhold mit Tretjakows >Brülle China < zu Gast gewesen;
Brecht hatte seine >Maßnahme<, sein erstes offen kommunistisches
Stück, geschrieben; nun folgte 1931 Wolf/Piscators >Tai Yang<. Seit
der Krise ging auch Deutschland mit einem radikalen Umsturz
schwanger (daß er dann von rechts statt von links kam, war zu jener
Zeit noch nicht so ersichtlich); das chinesische Exempel war als
Wink mit dem Zaunpfahl für das unzufriedene deutsche Proletariat
gemeint. Kein Wunder, daß das Bürgertum unter diesen Umständen
wenig Sinn für die ästhetischen Feinheiten der Piscatorschen Regie
aufbrachte. Dafür war, wie man in der >Roten Fahne < lesen konnte,
die kommunistische Partei zum ersten Mal voll und ganz mit ihrem
Enfant terrible einverstanden. Selbstverständlich hatte diese Zu-
stimmung nicht künstlerische, sondern politische Gründe, und in
dieser Richtung wurde Piscator denn auch zu weiterer Forcierung
gedrängt. Es spricht für den Künstler, daß er sich außerstande sah,
diesem Druck weiter nachzugeben. So kam es, daß die Kometenbahn
Piscators am deutschen Theaterhimmel verlosch, bevor noch die
Gewitterwolken des Nationalsozialismus die ganze Kulturlandschaft
verdüsterten.

Wie inRußland um die Persönlichkeit Meyerholds kristallisierte


sich in den zwanziger Jahren in Deutschland um die faszinierende
Gestalt Piscators eine weitverzweigte und vielgestaltige kommu-
149
nistische Theaterbewegung, dieteils von Laien, teils von Berufs-
schauspielern betrieben wurde. Zwei Ereignisse vor allem hatten die
Bewegung erweckt: jene >Revue Roter Rummel <, die 1924 von
Piscator arrangiert wurde, und das Auftreten der sowjetischen
Blauen Blusen, die 1927 bei ihm gastierten. Die sowjetische Truppe
brachte mit »Pathos und Satire« aktuelle Berichte über den Aufbau
in der Sowjetunion, Sketches, Revuen, Singspiele, Conferencen, De-
klamationen usw. usf. ; sie spielte ohne Dekorationen in einem ar-
tistisch-rhythmischen Stil, der an Meyerhold und Tairow geschult
war. Nach der Roten Revue und dem aufsehenerregenden russischen
Gastspiel schössen überall in Deutschland die Agitprop-Gruppen
wie Pilze aus der Erde Blaue Blusen, Rote Blusen, Rotes Sprachrohr,
:

Rote Raketen, Rote Fackeln, Rote Trommeln, Rote Ratten, Rote


Spatzen, Roter Wedding, Blitze, Fanale, Knüppel, Kolonne Links
und wie sie alle hießen. Bei einer »Truppenzählung« der »roten
Sturmbrigaden des Arbeitertheaters« im Jahre 1930 wurden mehr
als 200 Agitprop-Gruppen gezählt; diese Zählung dürfte aber sehr
unvollständig gewesen sein, da sie im wesentlichen nur die Groß-
städte erfaßte.
Im Jahre 1928 war es den Kommunisten gelungen, den Apparat
des Arbeiter-Theater-Bundes Deutschlands zu okkupieren, der Dach-
organisation der deutschen Arbeiter- Theater- Vereinigungen. Damit
gewannen sie einen beherrschenden Einfluß auf die gesamte prole-
tarische Laienspielbewegung in Deutschland. Obwohl die Sozial-
demokraten unter Protest ausschieden und eine eigene Organisa-
tion aufmachten, zählte der Bund noch 1931 rund 300 Ortsgruppen
mit mehr als 4000 Mitgliedern. Neuer, kommunistischer Vor-
sitzender des ATBD wurde der Spielleiter der Roten Blusen, Arthur
Pieck, Sohn des späteren DDR-Präsidenten. Bei der Amtsübernahme
erklärte er: »Solange Menschen zum Hungern verdammt sind, so
lange kennen wir keine ästhetischen Prinzipien, so lange gibt es für
uns keine Kunstform, so lange sind wir ausschließlich Tendenzthea-
ter.« Der neue Vorstand berief im nächsten Jahr eine Reichskon-
ferenz nach Berlin ein, auf der Friedrich Wolf, Spiritus rector des
Spieltrupps Südwest, Stuttgart, über das Thema »Die Kunst als
Waffe« Wieder ein Jahr später, im Sommer 1930, tagte
referierte.
in Moskau die 1. Konferenz des Internationalen Arbeiter-Theater-
Bundes. Diese Konferenz stellte das Arbeiter-Laienspiel in den
Dienst der Komintern und machte es »den revolutionären Ar-
beitertheatern aller Länder zur Aufgabe, Agitprop-Truppen ins Le-
ben zu rufen und die verschiedenen Liebhabervereine der Arbeiter-
schaft, die > Volksbühnen < und dergleichen mehr in Agitprop-Trup-
pen zu verwandeln .« Offen wurde gesagt: »Ein Ergebnis der Tä-
. .

tigkeit der Agitprop-Truppen soll die Werbung neuer Mitglieder für


die revolutionären Massenorganisationen sein.«
Über die Spielweise der Agitprop-Truppen heißt es in einem zeit-
genössischen Bericht: »Sie nutzen für ihre Propagandazwecke den

150
Betrieb, die Straße, Plätze, die Bierhalle, das Kaffeehaus und wenden
bei ihrer Arbeit alle Arten der Bühnenkunst an: politische Revuen,
Massendeklamation, Kurzszenen, Schlager und dergleichen mehr.
All dies macht die Agitprop-Truppe zur besten Form der Agitation
und Propaganda.« Das »Spielplakat«, d. h. eine plakative, knappe
und schlagkräftige Darstellung, wurde als erstrebenswert hinge-
stellt. Den Darbietungen fehlte im allgemeinen eine Stückfabel wie

die Individualisierung der Personen; es traten immer dieselben Ty-


pen auf: der Arbeiter, der Arbeitslose, der Kapitalist, der Beamte, der
Schutzmann, der opportunistische Sozialdemokrat, der revolutionäre
Kommunist usw. Der revuehafte Rahmen war schon dadurch be-
dingt, daß man bei einfachsten Mitteln und immer gleichen Thesen
Abwechslung bieten mußte. Dr. Hermann Duncker, ein Theoreti-
ker der Bewegung, veröffentlichte vier Leitgedanken für die kom-
munistische Kulturarbeit: »1. Kunst ist nicht Selbstzweck, nicht in-
dividualistische Genießerangelegenheit; 2. Kunst ist uns aufpeit-
schende Agitation, zielweisendes revolutionierendes Erlebnis;
3.Kunst ist uns Kollektivschaffen, geistige Kooperation, Massen-
empfinden empfindend und Massenwillen verkörpernd; 4. Kunst
ist uns ein Mittel, unseren Klassenhaß gegen den Kapitalismus kund-

zutun und dem Willen zum Kommunismus, zur klassenlosen Gesell-


schaft Ausdruck zu geben. Wir zerbrechen uns nicht die Köpfe in
künftigen Jahrhunderten, wir wälzen nicht Folianten aus der Thea-
tergeschichte der Vergangenheit. Wir leben heute, in der Gegenwart
gilt es zu kämpfen, um sie revolutionär zu verändern.«
Eine charakteristische Veranstaltung war das Programm >USSR
- Für die Sowjetmacht !<, das 1930 zum »Internationalen Arbeiter-
Theater- Tag« von der Berliner Truppe Das Rote Sprachrohr dar-
geboten wurde. Diese beste aller deutschen Agitprop-Gruppen re-
Genossen des
krutierte sich aus Arbeiterkindern, Jungarbeitern,
Kommunistischen Jugendverbandes und des Roten Frontkämpfer-
Bundes; sie wurde von Maxim Vallentin, dem Sohn des bekannten
Reinhardt- und Piscator-Schauspielers Hermann Vallentin, geleitet,
der Komponist Hanns Eisler fungierte als Klavierspieler. Das Pro-
gramm war den »Pionieren des Sowjet-Theaters TRAM«
gewidmet,
einer Organisation, die bald darauf zusammen mit den anderen re-
volutionären Theatern von Stalin liquidiert wurde. Das Lied des
Komsomol (Kommunistischen Jugendverbandes der Sowjetunion)
eröffnete die Veranstaltung. Der erste Teil des Abends schilderte die
Entwicklung der Sowjetunion vom
Bürgerkrieg bis zum Fünf-
jahrplan. Der zweite Teil hieß: »Des Sowjetbürgers Lebenslauf.
Soziales und Kulturelles,.« Er wurde gekoppelt mit ständigen »Um-
schaltungen auf das Leben der deutschen Arbeiterklasse«. Der dritte
Teil galt der »Verteidigung der Sowjetunion« gegen irgendwelche
Kreuzzugs-Absichten. Das Programm schloß mit dem Lied »Alles
für die Sowjetmacht«. Die >Rote Fahne < bemerkte: »Keine Spur
von Resten eines kleinbürgerlichen Amüsier- und Vereinstheaters.«

151
Ein anderes typisches Beispiel war 1931 die Rote Revue >Wir sind
ja sooo zufrieden <, die unter dem Protektorat des kommunistischen
Jugendverbandes stand. Bert Brecht, Erich Weinert, Hanns Eisler
und Friedrich Holländer gehörten zu den Mitarbeitern. Wir zitieren
eine Inhaltsangabe »Der Inhalt der Revue waren die Schicksale der
:

Familie Freese. Die Freeses sind Kleinbürger, die Illusionen haben,


wie sie die Sozialdemokratische Partei und die Gewerkschafts-
bürokratie in diesen Jahren verbreiteten. Freese selber ist ein Klemp-
nermeister, der von seiner Rente leben muß. Seine Frau ist Putzfrau
am Kriminalgericht. Der Sohn ist arbeitslos, auch die Tochter ver-
dient nichts und wird ein Opfer des § 218 [Abtreibung]. Der
Klempnermeister Freese kommt auf den Hund samt der Partei, der
er angehört, nämlich der SPD. In kurzen Szenen und Bildern werden
die verschiedenen Situationen vorgeführt, in die die Familienange-
hörigen auf Grund der politisch realen Verhältnisse am Ende der
Weimarer Demokratie gerieten. Zu diesen Spielszenen kamen Lie-
der und Balladen. So sang Ernst Busch das Lied vom SA-Proleten,
der, nachdem er den Lug und Trug der Goebbels-Parolen durch-
schaut hat, zur marxistischen Einheitsfront überschwenkt. Helene
Weigel brachte eine Ballade gegen den § 218 zum Vortrag. Der Uth-
mann-Chor sang das Eisler-Lied >Wir wollen den Banken einen Be-
such abstatten <, das eines der zahlreichen revolutionären Lieder
war . .« Die >Rote Fahne < rühmte die Rote Revue als »prole-
.

tarische Massenkunst mit großer Wucht und Geschlossenheit.«


»Wir begnügten uns nicht, in Veranstaltungen aufzutreten«, be-
richtet ein Genosse von den Roten Werbern. »Der Hauptteil des
Kampfes wurde auf der Straße geführt. In Demonstrationen stellten
wir lebende Bilder. Einmal war auf einem großen Transparent ein
Kapitalist dargestellt. Er saß auf einem Sessel und hielt in jeder Hand
Schnüre. Mit ihnen gängelte er Figuren, die vor ihm herschritten:
einen Staatsanwalt mit einem Paragraphenzeichen als Zepter, einen
Polizei offizier mit Gummiknüppel, einen Reichswehroffizier mit
blankem Säbel, einen PfafT mit Kreuz und Bibel, einen Lehrer mit
Rohrstock und einen Wissenschaftler mit einer dicken Schwarte mit
der Aufschrift: >Rezepte für das Krankenbett des Kapitalismus <.«
Auf künstlerisch wesentlich höherem Niveau als die üblichen
Agitprop-Truppen standen die kommunistischen Theaterorganisa-
tionen, in denen Berufsschauspieler wirkten. Am bekanntesten wur-
den die Junge Volksbühne, die Gruppe junger Schauspieler und die
Truppe 1931.
Die Junge Volksbühne war nach dem Krach um >Gewitter über
Gottland unter Mitwirkung von Piscator und Gasbarra ins Leben
<

gerufen worden. Dem Stammverband, der Volksbühne, locker an-


gegliedert, war die neue Organisation als eine Kombination von Be-
sucherorganisation und Studio gedacht, ein »bewußt geführtes
politisches Theater, das sich die Forderungen des Klassenkampfes
zu eigen macht«. Der Leiter des Unternehmens, Hans Rodenberg,

152
:

stelltezu Agitprop-Zwecken sogenannte »Montageprogramme« zu-


sammen (Kurzszenen, Songs, Schnellreferate, Musikstücke usw.),
mit denen man durch die Berliner Säle zog. Außerdem wurden in
kleinen Theatern ernst zu nehmende Stücke gespielt, so >Jungens
von Mons< von Friedrich Wolf mit Agnes Straub. Über die Auf-
führung von Csokors Zeitstück Gesellschaft für Menschenrechte <,
das mit der Tendenz schließt »Ihr Menschen, warum gebt ihr nicht
:

Frieden?«, berichtet die >Vossische Zeitung <: »Ist das Wort >Frie-
den<, so sagte sich Herr Rodenberg, ein massives Schluß-Bonmot?
Nein, damit ist kein Beifallsgeschäft zu machen. Deshalb läßt er die
Gefangenen, wenn sie abgeführt werden, schreien >Es lebe die Re- :

volution !< .... Und die Galerie, den ganzen Abend hindurch auf der
Suche nach aktuellen Schlagworten, antwortet, wie sie es in den letz-
ten Jahren gelernt hat. «
Mit einem Riesenaufgebot von Schauspielern, Massenchören
usw., einer imposanten, von Teo Otto geschaffenen Dekoration
fand in den Tennishallen am Fehrbelliner Platz eine Aufführung des
Epos >Der große Plan< von Johannes R. Becher statt, dramatisiert
von einem Kollektiv, dem auch Alexander Granach angehörte (es
war eine der letzten Großveranstaltungen vor der nationalsozialisti-
schen Machtübernahme).
Bechers Chorwerk beginnt mit den Versen

»Gewaltiges haben
Vor uns gesungen
Die Dichter aller Zeiten.
Das Gewaltigste aber
Blieb uns zu singen:
Wir singen
Den Fünfjahrplan.«

Der Inhalt wird folgendermaßen beschrieben: »In diesem Epos


Bechers .entfaltet sich
. . das Bild einer schöpferischen Tat der
. . .

Sowjetmenschen. Die Stadt Dnjeprostroj lädt alle Städte der Welt ein,
sie zu besuchen und zu sehen, wie sie - als eine gleiche Stadt ohne
Teilung nach Klassen - erbaut wird, wie der Große Plan Berge ver-
setzt, Sümpfe urbar macht und hoch über den Stromschnellen das
Wasser türmt. Es wird hell in den elektrifizierten Stuben und in den
Köpfen der Menschen -und sie preisen nun erst das Glück, auf dieser
Erde geboren zu sein, die fruchtbar ist und unerschöpflich in ihrer
Fülle.«
Die Gruppe junger Schauspieler ging aus dem Studio der Piscator-
bühne am Nollendorfplatz hervor. Das Studio war nach nur ein-
jähriger Existenz dem Bankrott zum Opfer gefallen. Die erfolg-
reichste Aufführung, die es bis dahin hervorgebracht hatte, war
Erich Mühsams Judas gewesen,
>
< ein Stück um die bayerische Räte-
republik, inszeniert von Leopold Lindtberg. Derselbe Regisseur
hatte dann im sogenannten November-Studio Alexander Granachs

*53
ein weiteres Stück Mühsams einstudiert, >Staatsräson<, eine dokumen-
tarische Darstellung des Prozesses gegen die Arbeiterführer Sacco
und Vanzetti in Amerika, endend mit ihrer Hinrichtung. Die Gruppe
junger Schauspieler brachte u. a. Friedrich Wolfs >Zyankali< (eine
weitere, die stärkste Anklage gegen den Paragraphen 218) sowie >Re-
volte im Erziehungshaus < und > Giftgas über Berlin < von Peter Mar-
tin Lampel. Das erste Stück Lampeis ist eine Abrechnung mit der
bürgerlichen Jugenderziehung. Am Schluß der Aufführung trat ein
Schauspieler vor den Vorhang und verkündete, daß diese Zustände
nur durch die Weltrevolution geändert werden könnten, worauf die
Zuschauer die Internationale anstimmten. In dem anderen Stück
griff der Autor einen aktuellen Vorfall auf, eine Giftgaskatastrophe
in Hamburg, und zog gegen eine illegale Giftgasproduktion des
Reichswehrministeriums zu Felde. Das Stück endet mit der Macht-
ergreifung durch die Kommunisten, die einen Putsch der Reichs-
wehr und der mit ihr verbündeten SPD niederschlagen. Die Auf-
führung 1929 wurde vom Berliner Polizeipräsidenten verboten (das
erste Verbot seit 1918 !), was bei der linken Intelligenz entsprechende
Empörung hervorrief.
Die Truppe 1931, das wohl beste und geschlossenste Kollektiv,
hatte sich aus erwerbslosen Schauspielern gebildet. An ihrer Spitze
stand Autor, Regisseur und Schauspieler Gustav von
als Leiter,
Wangenheim, der Sohn des angesehenen Reinhardt-Schauspielers
Eduard von Winterstein. (Wangenheim spielt heute - ebenso wie
Rodenberg und Vallentin - eine wichtige Rolle im sowjetzonalen
Kulturleben.) Die Truppe hatte sich zum Ziel gesetzt, »gegen die
sinnliche Schlampigkeit das bewußte Denken zu organisieren«. In
diesem Sinne schrieb Wangenheim seine >Mausefalle <, das erfolg-
reichste Stück der Agitprop-Bewegung. Die Szenen waren bewußt
als Erläuterung des historischen Materialismus angelegt. Das Leben
des Angestellten Fleißig von der Wiege bis zur Bahre wurde ge-
schildert. Vom Bühnenboden hing ironisch der Spruch: »Höchstes
Glück der Erdenkinder ist doch die Persönlichkeit.« Im weiteren
wurden, wie der kommunistische Interpret Ernst Schumacher dar-
legt, »an Hand von Umständen, die für den Entwicklungsgang un-
zähliger Stehkragenproleten typisch sind, Erläuterungen der kapi-
talistischen Warenwirtschaft gegeben, die den Menschen ver-
schlingt. Fleißig gerät unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise zeit-
weilig unter den Einfluß des Faschismus, erkennt aber schließlich,
daß die proletarische Machtergreifung der einzige Ausweg aus dem
Elend ist.«
Höhepunkt der deutschen Agitprop-Bewegung waren die Lehr-
stücke >Die Maßnahme und >Die Mutter < des gerade zum Kom-
<

munismus konvertierten Bert Brecht. >Die Maßnahme <, zu der Hanns


Eisler die Musik geschrieben hatte, wurde 1930 im Deutschen Thea-
ter Berlin von drei kommunistischen Arbeiterchören uraufgeführt;
Slatan Dudow führte Regie; Helene Weigel, Alexander Granach

*54
:

und Ernst Busch spielten drei der nach China entsandten Agitatoren.
>Die Mutter wurde 1932 im Komödienhaus am Schiff bauerdamm
<

Berlin von der Gruppe junger Schauspieler uraufgeführt; der Pre-


miere schloß sich eine Tournee durch Berliner Säle an. Neben
Brecht hatten Günther Weisenborn und Slatan Dudow an der Dra-
matisierung des Gorkischen Romans mitgewirkt; die Musik stammte
wieder von Eisler, die Ausstattung von Caspar Neher; Emil Burri
führte Regie; Helene Weigel, Ernst Busch, Gerhard Bienert und
Theo Lingen spielten Hauptrollen. Frau Brecht- Weigel gibt einen
anschaulichen Bericht von den ersten Aufführungen
»Das Stück war von der Inszenierung her so eingerichtet, daß man
es überallhin, in den größten und kleinsten Saal mitnehmen konnte.
Es wurde damals direkt agitatorisch gespielt. .Das wurde von den
.

Zuschauern auch sehr gut verstanden. Ich kann mich erinnern, daß
ich einmal einen Brief von einer Näherin bekam, die mich bat, zu
ihnen zu kommen und mit ihnen über die Form der Propaganda zu
diskutieren, die ich an der Kupfersammelstelle angewandt habe. Un-
sere Zuschauer waren überwiegend Arbeiter. Und damit wir in den
Arbeitergegenden in jedem Saal spielen konnten, bestand das Büh-
nenbild nur aus an Eisenstangen befestigten Prospekten, die an ent-
sprechenden Eisenständern aufgehängt werden konnten. Sämtliche
Kupfergegenstände und viele andere Requisiten hatten wir von zu
Hause mitgebracht. Die gesamte Bühnendekoration ging in ein
kleines Auto . . .

Natürlich waren die Behörden mit unserer Aufführung nicht ein-


verstanden. Es lag eine Riesenakte gegen uns vor, mit der man ver-
suchte, das Stück zu verbieten. Aber das war schwierig, weil es ja
doch ein historisches Stück war und nach Gorki. Die Fassung war
sogar von Gorki autorisiert, und Gorkis Frau war hier gewesen und
hatte den Proben beigewohnt. Das Stück schließlich doch zu ver-
bieten, mißlang beim ersten Versuch. Es war Ende Februar 1932
im Gesellschaftshaus in Moabit. Die polizeiliche Genehmigung lag
vor, aber in einem Schreiben der Theaterabteilung der Baupolizei
wurde die Aufführung untersagt, weil die Sache in dem Saal zu
feuergefährlich sei. Wir spielten trotzdem, und nun wurde die Auf-
führung von der Feuerpolizei unterbrochen. Das erstemal sagten sie,
mit Kostümen zu spielen, das geht nicht. Da haben wir gesagt, gut,
dann spielen wir ohne Kostüm. Dann sagten sie, auf der Bühne
Gänge machen, das geht nicht. Dann haben wir uns gesetzt und das
Stück vorgelesen. Das schien immer noch zu feuergefährlich. Den-
noch war es eine unserer erfolgreichsten Aufführungen.«
1932 entstand der erste und einzige Agitpropfilm >Kuhle Wampe <,
Berliner Arbeiterschicksale in der Wirtschaftskrise behandelnd.
Brecht schrieb zusammen mit Ernst Ottwalt das Drehbuch, Eisler
wie üblich die Musik; Dudow führte Regie; Helene Weigel, Ernst
Busch, die Gruppe junger Schauspieler, das Rote Sprachrohr und
viertausend kommunistische Arbeitersportler wirkten mit. Der

M5
Streifen wurde zunächst von der Filmprüfstelle verboten, dann aber
nach einigen Schnitten freigegeben.

Will man rückblickend die Beziehungen zwischen kommunisti-


scher Politik und kommunistischem Theater in der Weimarer Re-
publik charakterisieren, so wird man am treffendsten von einer Art
Haßliebe sprechen. Die KPD
hatte an Piscator ständig etwas aus-
zusetzen Einmal war er zu kunstlos, dann zu künstlerisch, zu radi-
:

kal oder zu liberal, einmal war das Stück unbefriedigend, das andere
Mal die Inszenierung. Piscators Rechenschaftsbuch wiederum, 1929
geschrieben, steckt voller offener und versteckter Vorwürfe gegen
die Partei. Den letzten Grund für die Unstimmigkeiten wird man
darin sehen dürfen, daß es trotz der besten Absichten beider Seiten
nun einmal nicht möglich war, eine vollkommene Übereinstimmung
von Politik und Kunst zu erzielen. Dessenungeachtet nahm die
Kommunistische Partei natürlich den berühmten Regisseur für sich
in Anspruch und war stolz darauf, ihn in ihren Reihen zu wissen.
Die >Rote Fahne < sprach lobend von der Originalität Piscators, die
für »seine klassenmäßige Stellung, den proletarischen Sinn seiner
Arbeit« zeuge. Der Stalinismus hat sich dann offen von Piscator los-
gesagt. Als Beispiel für die spätere kommunistische Einschätzung
wollen wir zwei linientreue Äußerungen anführen:
»Die Kritik an der Weimarer Republik, die bei Piscator geübt . . .

wurde, war scharf und aggressiv. Der Ausweg aber, der gezeigt
wurde, war ein Ausweg der >Masse<, der ja im Heranstürmen oder
Vorübermarschieren, im Hinab- und Hinauffahren auf kreisenden
Plattformen und schwebenden Praktikabein nichts anderes übrig-
blieb, als nur ganz allgemein und unkonkret auf den notwendigen
Sturz des kapitalistischen Systems hinzuweisen. In Piscators Irrweg
paarte sich der > Avantgardismus < (die kleinbürgerlich-illusionäre
Rebellion gegen die Form) mit einem ebenso ungenauen, ver-
schwommen antikapitalistischen Inhalt« (Inge von Wangenheim,
*953)-
»Es ist nicht uninteressant, daß sich Piscator wiederholt über
. . .

die mangelnde Unterstützung der Arbeiterorganisationen beklagte.


Dies lag nicht nur an den fehlenden Mitteln, sondern an dem Um-
stand, daß Piscators Theater im Grunde kein proletarisches Theater
war, sondern wie das Meyerholds und Tairows in Rußland ein
linksradikales, kleinbürgerliches Theater, das seine hauptsächliche
ideelle Unterstützung von Intellektuellen und künstlerisch stark in-
durch die
teressierten Arbeiter kreisen, die materielle Förderung aber
Kapitalisten erfuhr« (Ernst Schumacher, 1955).
Piscator selbst äußerte sich, als er nach dem Ende des Hitler-
regimes aus der Emigration heimkehrte (aus Amerika, wo u. a. Ten-
nessee Williams und Arthur Miller seine Schüler waren, Marlon
Brando von ihm entdeckt wurde), über seine Arbeit im Berlin der
zwanziger Jahre:

156
»Ich verließ die Stadt, da war sie ganz - ich komme zurück - in
Ruinenfelder. Was ich damals wollte mit meinem Theaterspielen,
Stückeinszenieren das, was heute ist, vermeiden. Die Wiederholung
:

vermeiden - denn 1914-1918 hatte meine Generation es schon einmal


durchgemacht. Und darum spielten alle Stücke, die ich inszenierte,
ohne Marmortreppen, ohne goldene Sporen, ohne Flitter und Glanz.
Vielmehr aus den schwarzen Vorhängen der Biersäle wurden eiserne
:

Gerüste, Treppen zum Publikum, Filme und Projektionen, laufende


Bänder und motorisierte Brücken: den Hintergründen sollten ihre
Geheimnisse, dem Menschen seine Lüge entrissen werden. Nicht ich
erfand den Stil, sondern die furchtbare Kriegserfahrung, die Ver-
zweiflung der Inflationszeit und der sozialen Nachkriegskämpfe
prägte ihn. Ob politisches Theater oder episches - unter meinen Hän-
den, gegen meinen Willen fast, wurden alle Stücke und Inszenierun-
gen zu Bekenntnissen. Sollte man ein Wort dafür brauchen, so
wäre das treffendste Bekenntnis-Theater
: . .Eigentlich möchte ich
.

ohne Dekoration, ohne Kostüme, ja ohne Kleider spielen, nackt,


aber nicht körperlich, sondern seelisch nackt, um endlich dahinter-
zukommen, wo die Wahrheit liegt, der Inhalt unseres Lebens;
die Gesetze zu finden, nach denen wir leben und glücklich sein
können .«
. .

So kann man sagen: Wohl die Revolution, nicht aber der Kom-
munismus hat die Theaterbewegung der zwanziger Jahre erzeugt.
Das deutsche Theaterleben war da die Probe auf das russische
Exempel das Theaterleben der demokratischen Weimarer Republik
:

stand dem im bolschewistischen Rußland an Leistungen und Ini-


tiative, an großen Persönlichkeiten und Massenbetätigung nicht
nach. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, waren die kommu-
nistischen Künstler nur der linke Flügel einer intellektuellen und
künstlerischen, ihrem Wesen nach demokratischen Bewegung, die
in parteipolitische Kategorien nicht zu fassen ist. Das Eintreten des
Nichtkommunisten Stanislawski für den Kommunisten Meyerhold,
des Nichtkommunisten Jeßner für den Kommunisten Piscator un-
terstreicht das ebenso wie der Bruch Meyerholds und Piscators mit
ihrer Partei, als sie zwischen künstlerischer Freiheit und Partei-
disziplin wählen mußten.
In der kommunistischen Utopie fanden Unruhe und Sehnsucht
der Epoche ihren radikalsten Ausdruck - das, und nicht die politi-
sche Ideologie fesselte die Künstler. In diesem Sinne hat Piscator
also recht, wenn er rückblickend den Begriff des politischen Thea-
ters durch Bekenntnistheater ersetzen möchte. Immerhin ist der po-
litische Effekt dieses Theaters nicht wegzudiskutieren. Die Agit-
prop-Unternehmungen haben, wie sich statistisch nachweisen läßt,
der KPD im Wahlkampf wie in der Mitgliederwerbung und Spen-
densammlung beträchtlichen Nutzen gebracht. Es ist von einem
eigenartigen und tragischen Widerspruch, daß die linksradikalen
Künstler, indem sie ihre Arbeit in den Dienst des Kommunismus

157
stellten, im Grunde an ihrer eigenen Liquidierung arbeiteten (der
nur die Machtergreifung des Nationalsozialismus zuvorkam).
Das revolutionäre Theater wurde in Deutschland von Hitler fast
zur gleichen Zeit liquidiert wie in Rußland von Stalin. Der Schau-
spieler Hans Otto, Mitwirkender in zahlreichen Agitprop-Program-
men, zuletzt jugendlicher Held am Staatstheater Berlin, wurde von
der SS zu Tode gefoltert; der Dramatiker Erich Mühsam, der
Schauspieler Kurt Gerron, der Brechts >Dreigroschenoper< hatte
kreieren helfen, der Gründer und Leiter der Jungen Bühne in Berlin,
Moritz Seeler, gingen in Konzentrationslagern zugrunde; die Dra-
matiker Ernst Toller, Walter Hasenclever, Reinhard Goering und
Stefan Zweig, der Kritiker Kurt Tucholsky und andere begingen
Selbstmord im Exil. Die Schauspielerin Carola Neher, die unver-
geßliche Polly des >Dreigroschenfilms <, emigrierte aus dem Dritten
Reich in die Sowjetunion und verschwand in einem stalinistischen
KZ ; Ernst Ottwalt und viele Genossen aus den Agitprop-Gruppen
teilten ihr Schicksal.
Brecht und die Dialektik des epischen Theaters

Die Sympathisierenden sind die »Männer der Schwelle«. Sie stehen im


. . .

Tempeleingang. Sie haben zwar bereits den »wahren Gott« erkannt, haben
aber noch nicht ganz mit dem Unglauben gebrochen. Verschiedene Bindungen
hindern sie daran, die Schwelle zu überschreiten. Und »die im Inneren« haben
ein Interesse daran, daß sie noch draußen bleiben; denn dort sind sie am nütz-
lichsten.
Monnerot
>Soziologie des Kommunismus <

Als Bertolt Brecht (1898-1956) im Jahre 1954 seine früheren Dramen


durchsah, um sie für eine Neuausgabe herzurichten, bemerkte er zu
seinem ersten Werk: »Das Stück >Baal< mag denen, die nicht ge-
lernt haben, dialektisch zu denken, allerhand Schwierigkeiten berei-
ten. Sie werden datin kaum etwas anderes als die Verherrlichung
nackter Ichsucht erblicken .« . .

Das Stück >Baal< - 1918 geschrieben, aber erst 1923 unter Skandal
in Leipzig uraufgeführt - ist eine locker aneinandergereihte Folge
von Szenen und Gesängen. Seinem Helden gibt ein Landjäger fol-
genden Steckbrief: »Vor allem Mörder. Zuvor Varieteschauspieler
:

und Dichter. Dann Karussellbesitzer, Holzfäller, Liebhaber einer


Millionärin, Zuchthäusler und Zutreiber. Bei seinem Mord faßten
sie ihn, aber er hat Kräfte wie ein Elefant. Es war wegen einer Kell-
nerin, einer eingeschriebenen Dirne. Wegen der erstach er seinen
besten Jugendfreund . eine übrigens ebenfalls zweifelhafte Exi-
. .

stenz.« Schauplatz der Handlung, wenn man von Handlung über-


haupt sprechen kann, ist ein verschlungener Dschungel von Schnaps-
destillen, Bordellen und Dachkammern, von Urwald und Lichtung,
von Gossen und Landstraßen. Üppigkeit ist in dieser Welt und
Qual, Angst und Seligkeit, die Pest der Fäulnis und abgrundtiefen
Verkommenheit und ein Hymnus der Liebe und des Lebens, und es
dünstet darin von Blut, Schweiß und Sperma. Für Baal, diesen ewig
besoffenen, ungeschlachten, trägen Koloß, der von Begierde zu Ge-
nuß und von Genuß zu Begierde torkelt, eine Art Pithecanthropus
erectus, Kreatur zwischen Tier und Übermensch, ist die Welt ein
»Exkrement des lieben Gottes, der sich durch die Verbindung von
Harnrohr und Geschlechtsglied hinlänglich ein für allemal gekenn-
zeichnet hat«. Saufen, Fressen, Begatten und Singen, Lust und Wol-
lust, Kämpfen und auf der Klampfe spielen - damit bringt er seine
Tage zu. Er nimmt die Menschen, die ihm begegnen, Frauen und
Freunde, benutzt sie, genießt sie und wirft sie weg. Der Leichen-
geruch an seinem Wege erregt ihn nur. Er möchte die ganze Natur
umarmen, den Himmel, die Erde, den Wald - »Warum kann man
nicht mit den Pflanzen schlafen?« - und verendet irgendwo im Wur-
zelwerk ver krallt. Das ist sein Glaubensbekenntnis: »Was mußt du
auch Gedichte schreiben Wo das Leben so anständig ist wenn man
1 :

*59
.

auf einem reißenden Strom auf dem Rücken hinschießt, nackt unter
orangefarbenem Himmel, und man sieht nichts, als wie der Him-
mel violett wird, dann schwarz wie ein Loch wird . wenn man sei-
. .

nen Feind niedertrampelt . .oder aus einer Trauer Musik macht


. . .

oder schluchzend vor Liebeskummer einen Apfel frißt oder einen


. . .

Frauenleib übers Bett biegt .« Das ist der Inhalt des Stückes >Baal<.
. .

In der Tat scheint dieser ungebärdige Auftakt, diese an Natur-


mystik grenzende Apokalypse des Individualismus und der Lebens-
philosophie gar wenig zu Brechts sonstigem Werk, seinem aske-
tisch strengen, »durchrationalisierten« Lehrtheater zu passen. Das
Stück scheint ganz in biologischen, elementar kreatürlichen Berei-
chen angesiedelt und jenseits aller realen menschlichen Gesellschaft,
die Brecht, der literarische Soziologe par excellence, sonst immer be-
handelt hat. Aber man braucht nur hinter die opalisierende Kulisse
zu schauen: es ist ja nicht wirklich Natur, Urwald, Wildnis, Fauna
und Flora, was da im >Baal< so üppig wuchert und vegetiert. Das
Dickicht der Tropen steht doch nur als Gleichnis für das Dickicht
der Städte. Die Einsamkeit Baals ist keine fundamentale, existen-
tielle Geworfenheit, sondern die Einsamkeit des intellektuellen Men-
schen im Gedränge der modernen Zivilisation, die orgiastische Hin-
gabe an die Tier- und Pflanzenwelt kein echtes Naturerlebnis, son-
dern die Flucht des Künstlers in Bezirke, wo das Individuum sich
noch als Mensch statt als Nummer empfinden kann. In der Regie-
anweisung zu einer Szene heißt es: »Kleines schweinisches Cafe,
geweißnete Ankleidekammer, hinten links brauner dunkler Vor-
hang, rechts seitlich geweißnete Brettertür zum Abort rechts hinten
;

Tür. Ist sie auf, sieht man die blaue Nacht.« Damit ist der Ort der
Handlung ziemlich genau angegeben: der Tarzan Baal stammt aus
Schwabing. Und die Lebensweise dieses deklarierten Naturmen-
schen ist im Grunde nichts weiter als eine Idealisierung der üblichen
Lebensweise der Boheme, von Brecht zu einem mächtigen, noch
heute anrührenden Bild verdichtet: einem höllischen Paradies, in
dem Wucherungen am Rande großstädtischer Kanalisation sich
die
mit der feuchten, sumpfigen, modernden Vegetation der Urwald-
ströme vermählen. Man könnte, um die soziale Symptomatik des
>Baal< zu belegen, zahlreiche verwandte künstlerische Äußerungen
aus jener Zeit anführen: das Alkoholikerdrama >Der Einsame < von
Hanns Johst, das das Schicksal Grabbes behandelt, hat nachweislich
auf Brechts Stück eingewirkt; die in >Baal< eingestreute provokative
Kloakenlyrik (Orges Gesang: ». und doch erkennst du dorten,
. .

was du bist: ein Bursche, der auf dem Aborte - frißt!«) ähnelt zum
Verwechseln den gleichzeitig entstandenen Gedichten von Johannes
R. Becher; der Typus des zivilisationsfeindlichen, mit der Natur ver-
schwisterten Waldmenschen findet seine Entsprechung u. a. in den
Romanen des frühen Knut Hamsun.
Hat man erst einmal den sozialen Standort des Werkes ausge-
macht, eben die Intellektuellenkreise in den ersten Jahrzehnten die-

160
ses Jahrhunderts, fällt es nicht schwer,auch seinen politischen fest-
zulegen. Es Anarchismus,
ist der intellektuelle wie er zu jener Zeit in
den Literatencafes diskutiert wurde. Er erlebte wenige Monate nach
der Niederschrift von >Baal< seinen politischen Höhepunkt in
Deutschland, seine dramatische Realisierung direkt in Brechts Hei-
mat: die bayerische Räterepublik, deren Mentoren vornehmlich
Intellektuelle und Literaten waren. Brecht selbst, der damals zwan-
zigjährige, extravagante Sohn eines Fabrikdirektors, war Mitglied
des Soldatenrats in Augsburg. Der bayerischen Räterepublik war nur
eine kurze Lebensdauer beschieden. Mit ihr ging der Anarchismus
als politische Realität in Deutschland unter, er wurde - wie zu glei-
cher Zeit in Rußland und später in Spanien - als eine unreife, wenig
lebenstüchtige Ideologie der Freiheit zwischen rotem und weißem
Terror, zwischen bolschewistischen Emissären und faschistischen
Landsknechten zerrieben. Nach der Niederlage löste sich die USPD,
die Organisation des unabhängigen Sozialismus, in Wohlgefallen
auf; ihre intellektuellen Anhänger, zu denen auch Brecht gehört
hatte, verliefen sich in alle Winde.
Bert Brecht, als Student der Medizin unterall den Idealisten der

Boheme sicher am meisten Realist, hat das Ende der revolutionären


Illusionen noch im Jahre 1919 in seinem zweiten Stück >Trommeln
in der Nacht < gestaltet. Als er 1954 seine Frühwerke durchsah, war er
recht betroffen über sein damaliges Produkt: »Von meinen ersten
Stücken ist die Komödie >Trommeln in der Nacht < das zwieschläch-
tigste. Die Auflehnung gegen eine zu verwerfende literarische Kon-
vention führte hier beinahe zur Verwerfung einer großen sozialen
Auflehnung. Die mormale <, d. h. konventionelle Führung der Fabel
hätte dem aus dem Krieg kehrenden Soldaten, der sich der Revolu-
tion anschließt, weil sein Mädchen sich anderweitig verlobt hat, ent-
weder das Mädchen zurückgegeben oder endgültig verweigert, in
beiden Fällen jedoch den Soldaten in der Revolution belassen. In
>Trommeln in der Nacht < bekommt der Soldat Kragler sein Mäd-
chen zurück, wenn auch >beschädigt<, und kehrt der Revolution den
Rücken. Dies scheint geradezu die schäbigste aller möglichen Va-
rianten, zumal da auch noch eine Zustimmung des Stückschreibers
geahnt werden kann.« Er sei bei der Lektüre von einer solchen Un-
zufriedenheit befallen worden, bemerkt Brecht, daß er das Stück am
liebsten unterdrückt hätte. »Nur die Überlegung, daß die Literatur
der Geschichte angehört und diese nicht gefälscht werden darf, so-
wie das Gefühl, daß meine jetzigen Ansichten und Fähigkeiten we-
niger wert wären ohne die Kenntnis meiner früheren - vorausge-
setzt, da hat eine Besserung stattgefunden -, hinderten mich, den
kleinen Scheiterhaufen zu errichten.« Dieses lobenswerte Bekenntnis
zu literarischer Treue hinderte Brecht freilich nicht, nachträglich
doch noch ein paar Retuschen an dem für einen Stalinpreisträger all-
zu peinlichen Stück anzubringen. So versah er bei der Neuauflage
den nicht sehr vorteilhaft gezeichneten Exponenten der Revolution,

161
:

den Schankwirt Glubb, behutsam mit der Erinnerung an einen in


früheren revolutionären Kämpfen gefallenen Neffen, somit rück-
wirkend wenigstens den Schatten eines positiven kommunistischen
Helden beschwörend.
Nun nützen freilich, wie Brecht selbst in seinem späten Kommen-
tar melancholisch konstatiert, die paar nachträglichen Korrekturen
nicht allzuviel. Denn die Revolution wird, so wie sie in dem Stück
nun einmal in Erscheinung tritt, offensichtlich mit dem Krieg, jener
anderen blutigen Verirrung, auf eine Stufe gestellt. Sie wird als ein
zwar verständlicher, aber sinnloser und illusionärer Entladungsakt
der biologisch oder sozial Schlechtweggekommenen, der Säufer,
Huren und Proleten, charakterisiert. Auch der Held, der Soldat
Kragler, bei dessen Auftreten auf der Bühne jedesmal symbolisch
ein roter Mond aufglüht, ist gerade so lange Revolutionär, wie er
sexuell nicht zurechtkommt. Als er sein Mädchen wiederhat, brüllt
er den Genossen, die sich gerade zum Kampf um das Berliner Zei-
tungsviertel anschicken, ins Gesicht: »Mein Fleisch soll im Rinn-
stein verwesen, daß eure Idee in den Himmel kommt? Seid ihr be-
soffen? . Ich hab's bis zum Hals. Es ist gewöhnliches Theater. Es
. .

sind Bretter und ein Papiermond und dahinter die Schlachtbank, die
allein ist leibhaftig.« Indem er auf die Trommel haut, die die Revolu-
tionäre liegengelassen haben, erklärt er »Der Dudelsack pfeift, die
:

armen Leute sterben im Zeitungsviertel, die Häuser fallen auf sie,


der Morgen graut, sie liegen wie ersäufte Katzen auf dem Asphalt,
ich bin ein Schwein, und das Schwein geht heim.« Schließlich
schmeißt er mit der Trommel nach dem Mond, der ein Lampion war,
so daß Trommel und Mond in die Versenkung stürzen, und stößt
hervor: »Besoffenheit und Kinderei. Jetzt kommt das Bett, das
große, weiße, breite Bett, komm!« Während man aus dem Zeitungs-
viertel Geschrei hört, legt er vielsagend seinen Arm um das Mädchen
»Jetzt sind es vier Jahre.« Sie gehen ab. - Bei der Uraufführung 1922
in den Münchner Kammerspielen (Regie Otto Falckenberg, Krag-
:

ler Erwin Faber) ließ Brecht im Zuschauerraum Plakate aufhängen


:

mit Kragler-Aussprüchen wie »Glotzt nicht so romantisch« und


»Jeder Mann ist der beste in seiner Haut«.
Als Entschuldigung für seine damalige Einstellung führt Brecht
an, wir zitierten es schon, daß es die Abneigung gegen eine »zu ver-
werfende« literarische Richtung gewesen sei, die ihn »beinahe« zur
Verwerfung der ganzen Revolution verführt hätte. Damit spielt er
auf die von idealistischem »0-Mensch«-Pathos erfüllte Revolutions-
dramatik jener Jahre an, die Werke von Toller, Kaiser, Rubiner. De-
ren Romantik habe ihn als Naturwissenschaftler abgestoßen. Diese
Erklärung ist schön und gut und könnte ihn von seinem späteren
Standpunkt aus wirklich entlasten, denn es war ja in der Tat nicht die
alleinseligmachende bolschewistische Variante der Revolution, wo-
von in den besagten Stücken die Rede war. Nur wußte unser Autor
leider damals selber noch nicht zwischen revolutionärem Idealismus

162
und revolutionärer Realpolitik (wie sie die Bolschewisten betreiben)
zu unterscheiden, so daß ihm das durch keinerlei Retuschen wieder-
gutzumachende Unglück widerfuhr, in >Trommeln in der Nacht <
nicht etwa eine sowieso »zu verwerfende« anarchistische Rebellion,
sondern ausgerechnet - den kommunistischen Spartakusaufstand zu
persiflieren. Das Stück ist deshalb für die kommunistische Ideologie
beim besten Willen nicht zu retten (die kommunistische >Rote
Fahne < nannte es seinerzeit klipp und klar eine »konterrevolutionäre
Angelegenheit«), es sei denn, man freute sich darüber, daß inzwischen
in den Ansichten des Verfassers, wie er selbst so schön sagt, »eine
Besserung stattgefunden hat«.
Dessenungeachtet hatte das Stück eine große Bedeutung für
Brechts Entwicklung, es stellte eine Wendemarke seines Weges dar.
Und zwar nicht nur in dem äußerlichen Sinne, daß die Premiere die
erste öffentliche Aufführung Brechts überhaupt war und der Kleist-
Preis, den er sich damit verdiente, ihm den Weg zum Erfolg öffnete.
>Trommeln in der Nacht < ist ein entscheidender Schritt über >Baal<
hinaus. Wenn man das Verhältnis der beiden Stücke charakterisieren
will, könnte man sagen: Kragler - das ist der aus der Traumwelt
seines Terrariums in die Wirklichkeit versetzte Baal. Und da ent-
puppte er sich als das, was eigentlich immer hinter der Exaltiertheit
des Bohemien steckte, als Spießer. Baal, das war der Spießbürger,
der sich einen Rausch angetrunken hatte und sich dann wie ein Gott
vorkam. In dem Augenblick, da der Rausch verflogen ist - der
Rausch des Alkohols oder der Revolution -, ist auch die Kraft-
meierei wie weggeblasen. Brechts Stärke war es, daß er diese Er-
kenntnis als erster und ohne alle Beschönigungen ausgesprochen hat,
unmittelbar unter dem Eindruck der großen Ernüchterung, die die
Niederlage der Revolution mit sich gebracht hatte. Wie er der ge-
niale Gestalter der anarchistischen Ekstase war - im >Baal< -, war er
auch der unbestechliche Analysator des Katzenjammers in >Trom-
meln in der Nacht <. Er selber hat diesen Aspekt seines Revolutions-
stückes sehr fein empfunden und darum bei der nachträglichen Kor-
rektur nicht etwa, wie es vom Parteistandpunkt aus wünschenswert
gewesen wäre, einen leibhaftigen revolutionären Helden eingeführt
- was die ursprüngliche Aussage in ihr Gegenteil verkehrt hätte -,
sondern nur die vage Erinnerung an einen toten, d. h. die Erinne-
rung an die entschwundenen heroischen Illusionen, an den schönen
romantischen Traum. Das Stück >Trommeln in der Nacht < erklärt,
warum die berauschende Lebensfülle des >Baal< nie wieder im Werke
Brechts auftauchen konnte Die schillernde Seifenblase individualisti-
:

scher Halluzinationen war, von Brechts eigenem scharfen Intellekt


angepiekt, zerplatzt.
Andererseits ist aber auch einleuchtend, daß jemand, der sich ein-
mal in dem Kraftprotz Baal selbstporträtiert hat, nicht mit der jäm-
merlichen Rolle eines Kragler zufrieden sein konnte. Bei aller Sym-
pathie, die Brecht für die Absage seines Helden an jeglichen Idealis-

163
:

mus, an Krieg und Revolution, aufbringt, bei allem Verständnis für


die Notwendigkeit der profanen Bedürfnisse und Lebenstatsachen
spürt man doch auch, daß er diesen Menschen Kragler - den Durch-
schnittsmenschen - nicht weniger verachtet als die Romantiker. Was
aber bleibt dann noch? Ein Individualist von dem Formate Brechts
braucht, will er vor sich selbst bestehen und nicht in Nihilismus ver-
sacken, irgendwann einmal ein neues Narkotikum, eine Selbst-
bestätigung anderer Art. Gerade die Unerbittlichkeit und Konse-
quenz, mit der Brecht Tabula rasa machte, verlangte gebieterisch
nach einem Äquivalent für die entschwundenen Illusionen. Das ver-
lorene Paradies - der romantische Wundergarten Baals - mußte
durch ein neues Paradies, ein modernes, der Realität gegenüber
strapazierfähigeres, ersetzt werden. Das ist das Geheimnis, warum
Brecht wie so viele, die einst für die schrankenlose Freiheit ge-
schwärmt hatten, schließlich in die Marschkolonnen des Totalitaris-
mus fand. Der Individualismus schlug dialektisch in Kollektivismus
um, denn der Kollektivismus ist eine Ersatzverwirklichung des mo-
dernen Menschen. Ob man sich dabei nach links wandte, wie Brecht
und Becher, oder nach rechts, wie Johst und in einer anderen Ecke
der Welt Hamsun, war im Grunde eine zweitrangige Frage - Bron-
nen, expressionistischer Dramatiker aus Brechts engstem Kreis, ver-
suchte es nacheinander mit beiden Seiten.
Folgen wir doch einmal dem Ratschlag Brechts und betrachten
wir seinen >Baal< dialektisch. Ein Grundgedanke, der sich auffällig
in immer neuen Abwandlungen durch das ganze Stück zieht, ist das
Bekenntnis zur Mächtigkeit und Erhabenheit des Himmels, groß-
artig ausgedrückt im Choral vom Großen Baal

»Als im weißen Mutterschoße aufwuchs Baal


War der Himmel schon so groß und still und fahl
Jung und nackt und ungeheuer wundersam
Wie ihn Baal dann liebte, als Baal kam.
In der Sünder schamvollem Gewimmel
Lag Baal nackt und wälzte sich voll Ruh:
Nur der Himmel, aber immer Himmel
Deckte mächtig seine Blöße zu.

Als im dunklen Erdenschöße faulte Baal


War der Himmel noch so groß und still und fahl
Jung und nackt und ungeheuer wunderbar
Wie ihn Baal einst liebte, als Baal war.«
Erinnert diese Apotheose nicht an jenes berühmte Kapitel in
Nietzsches >Zarathustra<, in dem es heißt: »Himmel über mir, du
Reiner! Tiefer! Du Lichtabgrund . .«? Aus dem Einsfühlen, aus
.

dem Einswerden mit dem allgewaltigen Firmament bezog Zara-


thustra Auftrag und Legitimation zur Zertrümmerung der alten
Tafeln. Und aus dem Aufblicken zum Himmel, wohl zu dem Fetzen

164
Blau über den Straßenschluchten, dem Dickicht der großen Städte,
bezieht auch Baal seine Kraft. Es sind Übermenschen vom selben
Schlag. Sollte im Baal nicht vielleicht auch ein Weltverbesserer
stecken?
Sehr aufschlußreich ist eine Variante des Stoffes, die Brecht viele
Jahre später vorschwebte, als er sich längst zum Kommunismus be-
kannte. »Zwanzig Jahre nach der Niederschrift des >Baal<«, so be-
richtet er, »bewegte mich ein Stoff (für eine Oper), der wieder mit
dem Grundgedanken des >Baal< zu tun hatte. Es gibt eine chinesi-
sche Figur, meist fingerlang, aus Holz geschnitzt und zu Tausenden
auf den Markt geworfen, darstellend den kleinen dicken Gott des
Glücks, der sich wohlig streckt. Dieser Gott sollte, von Osten
kommend, nach einem großen Krieg in die zerstörten Städte ein-
ziehen und die Menschen dazu bewegen wollen, für ihr persönliches
Glück und Wohlbefinden zu kämpfen. Er sammelt Jünger verschie-
dener Art und zieht sich die Verfolgung der Behörden auf den Hals,
als einige von ihnen zu lehren anfangen, die Bauern müßten Boden
bekommen, die Arbeiter die Fabriken übernehmen, die Arbeiter-
und Bauernkinder die Schulen erobern. Er wird verhaftet und zum
Tode verurteilt. Und nun probieren die Henker ihre Künste an dem
kleinen Glücksgott aus. Aber die Gifte, die man ihm reicht, schmek-
ken ihm nur, der Kopf, den man ihm abhaut, wächst sofort nach,
am Galgen vollführt er einen mit seiner Lustigkeit ansteckenden
Tanz usw. usw. Es ist unmöglich, das Glücksverlangen der Men-
schen ganz zu töten.« In dieser Darstellung ist die Verwandlung des
Anarchisten Baal in einen bolschewistischen Zarathustra vollzogen.
Man möchte also Brecht beipflichten, wenn er denjenigen, die in
seinem ersten Stück nur die Verherrlichung nackter Ichsucht sehen,
eine undialektische Betrachtungsweise vorwirft. Denn es »setzt sich
hier ein >Ich< gegen die Zumutungen und Entmutigungen einer
Welt, die nicht eine ausnutzbare, sondern nur eine ausbeutbare Pro-
duktivität anerkennt. Es ist nicht zu sagen, wie Baal sich zu einer
Verwertung seiner Talente stellen würde: er wehrt sich gegen ihre
Verwurstung. Die Lebenskunst Baals teilt das Geschick aller andern
Künste im Kapitalismus: sie wird befehdet. Er ist asozial, aber in
einer asozialen Gesellschaft.« Mit anderen Worten: Würde sich für
Baals Vitalität eine angemessene Verwendung finden, so würde er
sich wohl in eine Gesellschaft fügen.
Was dies für eine Verwendung
sein könnte, erhellt aus einer Stelle
im Stück, der einzigen, wo
so etwas wie eine gesellschaftliche Kom-
munikation vor sich geht. Baal hat unter den Bauern in der Dorf-
schenke das Gerücht verbreitet, daß sein Bruder am nächsten Abend
zu hohem Preis einen Zuchtstier zu kaufen beabsichtige. Die Bauern
aus den umliegenden Dörfern wollen zu diesem Zweck ihre Stiere
herantreiben. Der Pfarrer des Dorfes, der den Schwindel durch-
schaut, fragt ihn, wozu er denn den Plan ausgeheckt habe. Baal lehnt
sich zurück: »In der Dämmerung am Abend. - Es muß natürlich

165
Abend sein, und natürlich muß der Himmel bewölkt sein, wenn die
Luft lau ist und etwas Wind geht, dann kommen die Stiere. Sie trot-
ten von allen Seiten her, es ist ein starker Anblick. Und dann stehen
die armen Leute dazwischen und wissen nichts anzufangen mit den
Stieren und haben sich verrechnet: sie erleben nur einen starken
Anblick. Ich liebe auch Leute, die sich verrechnet haben. Und wo
kann man soviel Tiere beisammen sehen?« Der Pfarrer fragt verwun-
dert: »Und dazu wollen Sie sieben Dörfer zusammentrommeln?«
Baal: »Was sind sieben Dörfer gegen den Anblick!« - Das, genau das,
sollte - Jahre nach der Niederschrift des >Baal< - das massenpsycho-
logische Herrschaftsprinzip der Diktatoren, der Mussolini, Hitler,
Stalin, Mao Tse-tung, Castro werden. Schon in seinem ersten Werk
hat Bertolt Brecht den seismographischen Sinn für das Zeitalter der
Totalitarismen bewiesen.

Was Bertolt Brecht aus der Reihe der anderen Intellektuellen her-
aushebt, die wie er ihr Heil unter den roten Fahnen (mit Hammer
und Sichel oder mit Hakenkreuz) suchten, ist die Schärfe und Prä-
gnanz der Analyse, mit der er die Beweggründe der Bekehrung dar-
legte. Das war ihm nur möglich, weil er den letzten, entscheidenden
Akt, die Priesterweihe, immer und immer hinausschob und an der
Pforte des neuen Heiligtums verharrte. Denn ist erst einmal das
Individuum im totalitären System aufgegangen, ist es mit der Mög-
lichkeit kritischer Reflexionen vorbei. Brecht brachte das Kunststück
fertig, sich jahrzehntelang haargenau auf der Schwelle des Tempels
anzusiedeln und die kaum faßbare Spanne zwischen Erleuchtung
und Konsequenz zum Gegenstand fast seiner gesamten Dichtung zu
machen (»Wer A sagt, muß nicht B sagen ..«). Das Stadium des
.

Konvertiten ist für die Erhellung fideistischer Zustände offenbar


genauso fruchtbar wie das der Renegaten, weil es Personen an der
Grenze von Glauben und Nichtglauben, eben im Eingang oder Aus-
gang des Tempels, am ehesten möglich ist, eine Brücke des Begrei-
fens zwischen einander völlig fremden Daseinsweisen zu schlagen.
In dieser Eigenart haben Reiz und Bedeutung des Brechtschen Wer-
kes ihren Grund.
Das dritte Stück Bert Brechts >Im Dickicht der Städte <, Anfang
der zwanziger Jahre geschrieben, behandelt, wie es im Untertitel
heißt, den Kampf zweier Männer in der Riesenstadt Chikago. Der
Vorspruch lautet: »Sie befinden sich im Jahre 1912 in der Stadt Chi-
kago. Sie betrachten den unerklärlichen Ringkampf zweier Men-
schen, und Sie wohnen dem Untergang einer Familie bei, die aus den
Savannen in das Dickicht der großen Stadt gekommen ist. Zer-
brechen Sie sich nicht den Kopf über die Motive dieses Kampfes,
sondern beteiligen Sie sich an den menschlichen Einsätzen, beurteilen
Sie unparteiisch die Kampfform der Gegner und lenken Sie Ihr
Interesse auf das Finish.« In seinem Rückblick auf die Entstehung
des Stücks erzählt Brecht, daß ihm in den Jahren, als er es schrieb,

166
der Boxsport besonderen Spaß bereitete »als eine der großen mythi-
schen Vergnügungen der Riesenstädte von jenseits des Großen
Teiches«. Deshalb habe er einen »Kampfan sich« darstellen wollen,
einen Kampf ohne andere Ursache als den Spaß am Kampf und mit
keinem anderen Ziel als der Festlegung des »besseren Mannes«.
Zugleich erwähnt er, daß ihm damals eine merkwürdige histori-
sche Vorstellung vorgeschwebt habe: »eine Menschheitsgeschichte
in Vorgängen massenhafter Art von bestimmter, eben historischer
Bedeutung, eine Geschichte immer anderer, neuer Verhaltungsarten,
die da und dort auf dem Planeten gesichtet werden konnten«. Es
scheint demnach so, daß Brecht den Fight als charakteristische Ver-
haltensweise des modernen Menschen herausstellen wollte. Diese
Stoffwahl hätte ihn in die Nähe der ganzen gesellschaftskritischen
Literatur der neueren Zeit gebracht, für die ja das »Wolfsgesetz des
Kapitalismus«, der Kampf aller gegen alle in der Konkurrenz, ein
Lieblingsthema der Darstellung war. Aber Brecht stimmte schon
insofern nicht mit der üblichen Betrachtungsweise überein, als er die
Tatsache des Kampfes nur sachlich zu konstatieren und nicht mora-
lisch zu werten beabsichtigte. Er zeigte sich da wieder als Realist.
Und ging er auch (bei aller Abstraktion in der Form) an
als Realist
die Gestaltung heran, mit dem Ergebnis, daß er zu ganz überraschen-
den und völlig neuen Entdeckungen kam.
»Schon beim Entwurf merkte ich«, so berichtet Brecht, »daß es
eigentümlich schwierig war, einen sinnvollen Kampf, d. h. nach
meinen damaligen Ansichten einen Kampf, der etwas bewies, herbei-
zuführen und aufrechtzuerhalten. Mehr und mehr wurde es ein Stück
über die Schwierigkeit, einen solchen Kampf herbeizuführen .«
. .

Er empfand, daß die Vereinsamung des modernen Menschen


mitten in der Fülle der Massengesellschaft so weit fortgeschritten
war, daß es wie keine echte Freundschaft auch keine echte Feind-
schaft mehr geben könnte und nicht einmal mehr das alte Gesetz:
Auge um Auge, Zahn um Zahn, seine Geltung behalten hätte. Die
beiden Kontrahenten Shlink und Garga, »Kameraden einer meta-
physischen Aktion«, setzen alles, was sie haben, ein, wenden alle
Griffe an, opfern Familie, Stellung, Besitztum und werfen sich selbst
in den Kampf, aber sie treffen einander nicht, sie kommen über blo-
ßes Schattenboxen nicht hinaus.
In den Kalkgruben am Michigansee begegnen sie sich zum letzten-
mal. Shlink »Die unendliche Vereinzelung des Menschen macht eine
:

Feindschaft zum unerreichbaren Ziel. Aber auch mit den Tieren ist
eine Verständigung nicht möglich.« Garga: »Die Sprache reicht zur
Verständigung nicht aus.« Shlink: »Ich habe die Tiere beobachtet.
Die Liebe, Wärme aus Körpernähe, ist unsere einzige Gnade in der
Finsternis! Aber die Vereinigung der Organe ist die einzige, sie
überbrückt nicht die Entzweiung der Sprache. Dennoch vereinigen
sie sich, Wesen zu erzeugen, die ihnen in ihrer trostlosen Vereinze-
lung beistehen möchten. Und die Generationen blicken sich kalt in

167
die Augen. Wenn ihr ein Schiff vollstopft mit Menschenleibern, daß
es birst, es wird eine solche Einsamkeit in ihm sein, daß sie alle ge-
frieren. Hören Sie denn zu, Garga? Ja, so groß ist die Vereinzelung,
daß es nicht einmal einen Kampf gibt.« Und es bricht aus ihm eine
wehe Sehnsucht nach jenen Zeiten, die Brecht im >Baal< beschrieb:
»Der Wald! Von hier kommt die Menschheit. Haarig, mit Affen-
gebissen, gute Tiere, die zu leben wußten. Alles war so leicht. Sie
zerfleischten sich einfach. Ich sehe sie deutlich, wie sie mit zitternden
Flanken einander das Weiße im Auge anstierten, sich in ihre Hälse
verbissen, hinunterrollten, und der Verblutete zwischen den Wur-
zeln, das Besiegte, und der am meisten niedergetrampelt
war der
hatte vomGehölz, das war der Sieger .« Das Stück endet mit dem
. .

Zusammenbruch der »metaphysischen Aktion«; Shlink vergiftet


sich, und Garga wandert, völlig entwurzelt, irgendwohin. - Die
Uraufführung fand 1923 im Residenztheater München statt mit
Erich Engel als Regisseur und Caspar Neher als Bühnenbildner, die
von nun an dem Werke Brechts verbunden blieben Otto Wernicke
;

spielte den Shlink, Erwin Faber den Garga, Maria Koppenhöfer


die Mae.
In der Komödie >Mann ist Mann< (1924-1926) ventilierte Brecht
einen anderen Aspekt der modernen Welt, die Entpersönlichung des
Menschen. Der Packer Galy Gay, der eines Morgens ausging, einen
Fisch zu kaufen, wird unterwegs in einen verlorengegangenen Sol-
daten um»montiert«. Einer der Soldaten meditiert darüber zur Kan-
tinenwirtin: »Ich sage Ihnen, Witwe Begbick, von einem weiteren
Gesichtspunkt aus ist, was hier vorgeht, ein historisches Ereignis.
Denn was geschieht hier? Die Persönlichkeit wird unter die Lupe
genommen, dem Charakterkopf wird nähergetreten. Es wird durch-
gegriffen. Die Technik greift ein. Am
Schraubstock und am laufen-
den Band ist der große Mensch und der kleine Mensch schon der
Statur nach betrachtet gleich. Die Persönlichkeit! Schon die alten
Assyrer, Witwe Begbick, stellten die Persönlichkeit dar als einen
Baum, der sich entfaltet! So, entfaltet! Dann wird er eben wieder zu-
gefaltet, Witwe Begbick. Was sagt Kopernikus? Was dreht sich? Die
Erde dreht sich. Die Erde, also der Mensch. Nach Kopernikus. Also
daß der Mensch nicht in der Mitte steht. Jetzt schauen Sie sich das
einmal an. Das soll in der Mitte stehen? Historisch ist das. Der
Mensch ist gar nichts Die moderne Wissenschaft hat nachgewiesen,
!

daß alles relativ ist. Was heißt das ? Der Tisch, die Bank, das Wasser,
der Schuhlöffel, alles relativ. Sie, Witwe Begbick, ich relativ.
. . .

Sehen mir in die Augen, Witwe Begbick, ein historischer Augen-


Sie
blick. Der Mensch steht in der Mitte, aber nur relativ.«
Die auf offener Bühne vollzogene Montage Galy Gays gewinnt
zeremoniellen Charakter. Man wirft dem Manne vor, Armee-Eigen-
tum, einen Elefanten (der aber nur eine Attrappe war), verschoben
zu haben, und verurteilt ihn in einer makabren Verhandlung zum
Tode. Als das Peloton bei der Scheinhinrichtung in die Luft schießt,

168
fällt Galy Gay in Ohnmacht. Als er aufwacht, erklärt man ihm, er sei

nun der Soldat Jeraiah Jip. Und man zeigt ihm eine Kiste, in der der
angeblich erschossene Galy Gay liegen soll. »Wenn er in die Kiste
hineinsieht, ist es aus«, sagt einer der Soldaten. Aber Gay sieht nicht
hinein, einmal weil er Angst vor neuen Scherereien hat, zum anderen
weil seiner Meinung nach »der Unterschied zwischen ja und nein
nicht so groß ist«. Seine Schlußfolgerung lautet:

»Und ich, der eine ich und der andere ich,


Werden gebraucht und sind also brauchbar.
Und hab ich nicht angesehen diesen Elefanten,
Drück ich ein Auge zu, was mich betrifft,
Und lege ab, was unbeliebt an mir, und bin
Da angenehm.«
Bezeichnend ist nun, daß Brecht den Vorgang, den er erstmals in
der Art des Lehrtheaters mit Masken, Zwischentiteln und Zwischen-
texten, Projektionen usw. arrangierte, durchaus als einen positiven
Akt verstand. In seiner Vorrede zur Bühnenaufführung erklärte er,
daß das Bürgertum nunmehr am Ende sei und sich ein neuer Typus
von Mensch herausbilde, »das gesamte Interesse der Welt ist auf seine
Entwicklung gerichtet«. Galy Gay enthalte Elemente dieses neuen
Typus. »Er ist anscheinend sehr viel zu ertragen gewohnt. Er kann
sich nur sehr selten eine eigene Meinung gestatten. Wenn man ihm
zum Beispiel, wie Sie hören, einen durch und durch unechten Elefan-
ten zum Weiterverkauf anbietet, so wird er sich hüten, über diesen
Elefanten irgendeine eigene Meinung zu verraten, wenn er hört, daß
ein Käufer da ist. Ich denke auch, Sie sind gewohnt, einen Menschen,
der nicht nein sagen kann, als einen Schwächling zu betrachten, aber
dieser Galy Gay ist kein Schwächling, im Gegenteil, er ist der
Stärkste. Er ist nachdem er aufgehört
allerdings erst der Stärkste,
hat, eine Privatperson zu sein, er wird erst in der Masse stark.«
Brecht nahm sogar die ursprüngliche Fassung zurück, die in den
letzten Szenen gezeigt hatte, wie Galy Gay zu einem räuberischen
Kolonialsoldaten wird. Nach der Uraufführung in Darmstadt 1926
(Regie und Hauptrolle Ernst Legal) inszenierte er selber sein Stück
:

1931 am Berliner Staatstheater (mit Peter Lorre als Galy Gay, Helene
Weigel als Begbick, Theo Lingen, Alexander Granach und Wolf-
gang Heinz als Soldaten) und ließ es nun mit dem großen Montage-
akt enden: »da ich keine Möglichkeit sah, dem Wachstum des Hel-
den im Kollektiv einen negativen Charakter zu verleihen. So hatte
ich lieber auf die Beschreibung des Wachstums verzichtet.«
Nachdem er in den beiden Stücken >Trommeln in der Nacht < und
>Im Dickicht der Städte < das Scheitern menschlicher Unternehmun-
gen demonstriert hatte, zeigte Brecht in >Mann ist Mann< zum ersten-
mal wieder einen konstruktiven Aspekt, einen Ausweg aus dem
Dilemma des persönlichkeitszerstörenden Massenzeitalters: die be-
wußte Einordnung ins Kollektiv. Baal wird angeraten, sich die Kluft

169
des Rotfrontkämpferbundes oder das Braunhemd der SA anzu-
ziehen.
Den großen Durchbruch Brechts zur Popularität brachte die >Drei-
groschenoper<, 1928 geschrieben und im gleichen Jahr im Theater
am Schiffbauerdamm in Berlin glanzvoll aufgeführt (mit Harald
Paulsen als Mackie Messer, Erich Ponto als Peachum, Rosa Valetti
als Frau Peachum, Roma Bahn als Polly, Lotte Lenja- Weill als Jenny,
Kurt Gerron als Tiger-Brown, Kate Kühl als Lucy, Ernst Busch als
Konstabier Regie Engel, Bild Neher, Musikalische Leitung Theo
; : : :

Makeben). Ihre Schnoddrigkeit und ihr kaltschnäuziger Zynismus -


einer Zeit aus dem Herzen gesprochen, die am Abgrund der Krise
stand die freundlich ironisierte Jahrmarkts- und Bordellromantik des
;

alten Soho mit dem bunten Aufgebot an Gangstern, Ganoven, Huren


und Bettlern; der verkitschte Kitsch; die frechen, in Ohr und Sinn
gehenden Songs - einige der besten dem Villon, dem dichtenden
Vaganten, trefflich abgeguckt Kurt Weills zündende Musik Dreh-
; :

orgelschmelz und schriller Jazz; schließlich die ebenso zeitgemäße


wie unverbindliche Gesellschaftskritik - all das eroberte selbst ein
Publikum, das mit der Tendenz und Konstruktion seiner ideologi-
schen Dramatik sonst wenig anzufangen wußte. Es war ein Sen-
sationserfolg, modischen Wohlgefallens vor allem, nicht unbedingt
auch eines künstlerischen und schon gar nicht eines politischen. Die
Leute, die da begeistert mitsangen »Erst kommt das Fressen, dann
:

kommt die Moral« und »Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm«,
waren beileibe nicht alles Weltrevolutionäre und Klassenkämpfer.
Wenn »Der in irgend-
sich der >Völkische Beobachter < alterierte:
einem Winkel jeder Großstadt besonders konzentrierte Drecksumpf
kann für die Kinoromantik der Klettermaxekultur gerade noch gut
genug sein und ist im übrigen aber wirklich nur eine Angelegenheit
des polizeilichen Straßenreinigungsverfahrens«, und eine große
rheinische Zeitung sogar aus dem Lärm und stampfenden Rhyth-
mus der Musik den »Anmarsch der klassenbewußten bolschewis-
tischen Bataillone« zu hören vermeinte, so war das gewiß eine maß-
lose Überschätzung der politischen Wirksamkeit dieses ersten Musi-
cals.
Wenn man davon ausgeht, daß Brecht neben dem Vergnügungs-
effekt noch einen politischen erstrebte - und sicher hatte er seine
ideologischen Hintergedanken -, so könnte man zu dem Schluß
kommen, die >Dreigroschenoper< sei vom Publikum gründlich miß-
verstanden worden. Es hat sich über die auf der Bühne geschilderten
Zustände nicht empört, sondern bloß amüsiert, es hat die zynischen
Songs nicht als kritische Selbstentlarvung der dargestellten Personen
aufgefaßt, sondern als eine empfehlenswerte Weisheit. Aber wer
sagt denn, daß es wirklich die politische Absicht Brechts gewesen
ist, die Gesellschaft da oben anzuprangern, den moralischen Zeige-

finger gegen Betrug, Laster und Elend zu erheben? Das hatte der alte
John Gay in seiner >Bettleroper< schon zweihundert Jahre früher be-
170
sorgt; als Brecht dasWerk modernisierte, hat er dessen Aggressivi-
tät eher entschärft.Den Nachfahren faszinierte an dem Stoff offen-
bar etwas ganz anderes: die Konstruktion einer amoralischen Pro-
vinz innerhalb einer amoralischen Gesellschaft. Die zwielichtigen
Gestalten des Stücks, der Bettlerkönig Peachum, seine Tochter
Polly mit ihrer fragwürdigen Sittsamkeit, der Räuber Mackie Messer,
der korrupte Polizeichef Brown, die Spelunken-Jenny (eine Dame,
die, wie Brecht sagt, im ungestörten Besitz ihrer Produktionsmittel
sich befindet), sind allesamt sehr ehrbare Personen, die sich, von
der glänzenden Oberfläche des bürgerlichen Lebens in die Unter-
welt verdrängt, eine eigene Ordnung geschaffen haben, in der es
sich für sie leben läßt. Und ihre unmoralische Daseinsweise ist mo-
ralisch, weil sie eine andere Unmoral, eben die der kapitalistischen
Gesellschaft, negiert - das ist der dialektische Kurzschluß.
Der Publizist Herbert Lüthy hat sich in seinem glänzenden Brecht-
Essay den Spaß gemacht, den Inhalt der Dreigroschenoper zu aktua-
lisieren: »Man denke sich etwa an die Stelle des frommen J. J. Pea-
chum, Besitzer der Firma >Bettlers Freund < zur organisierten Aus-
beutung des Elends, umgeben von penetrant sozial gesinnten Spruch-
bändern >Wer gibt, dem wird gegeben <, > Verschließe dein Ohr nicht
dem Elend < usw., einen Herrn Jeremiah oder William Pieck, Chef
der ebenso sozial gesinnten Firma > Arbeiters Freund <, den Laden-
raum tapeziert mit entsprechenden Spruchbändern des kommunisti-
schen Dreigroschenarsenals, mit der Klage auf den Lippen, daß sich
die Sprüche so rasch verbrauchen und daß da eben wieder der Marx
herhalten muß, aber wie lang wird er es noch? Auch die aus reicher
Praxis geschöpfte Lehre, daß man, um bei der Erregung und Aus-
beutung von Mitleid zweckmäßig vorzugehen, zuerst einmal selber
keines haben darf, könnte der neue Peachum mit fast unveränderten
Worten auf soziales Gewissen, Gerechtigkeitssinn und Pazifismus
abwandeln. Ein Fund Brechts war die von Herrn Peachum zu Er-
pressungszwecken aufgebotene Hungerdemonstration größtenteils
falscher Kriegsinvaliden, die dann im letzten Augenblick aus tak-
tischen Gründen nach Vereinbarung mit der Konkurrenz abkom-
mandiert wird, ohne daß ihre Teilnehmer eine Ahnung hätten, zu
was für Schiebungen sie da mißbraucht werden: die kommunistische
Parteigeschichte ist voll von solchen Episoden.« Das ist ironisch ge-
meint - aber es dürfte der ursprünglichen Konzeption Brechts (von
den späteren Kommentaren und Korrekturen, z. B. im >Drei-
groschenfilm < und >Dreigroschenroman<, einmal abgesehen) allen
Ernstes nahekommen.
Weit aggressiver und prononcierter antikapitalistisch als die ge-
fällige >Dreigroschenoper< war die Oper von Brecht und Weill > Auf-
stieg und Fall der Stadt Mahagonny<. Die Uraufführung 1930 in
Leipzig entfesselte einen unbeschreiblichen Skandal. Die Provinz-
Bourgeoisie empfand die Darstellung als eine Provokation und setzte
sich entsprechend zur Wehr. Der Kritiker Polgar berichtet: »Ein

17*
:

würdiger Herr mit gesottenem Antlitz hatte ein Schlüsselbund ge-


zogen und kämpfte durchdringend gegen das epische Theater. Seine
Frau verließ ihn nicht in der Stunde der Entscheidung. Die Dame
hatte zwei Finger in den Mund gesteckt, die Augen zugekniffen, die
Backen aufgeblasen. Sie überpfiff den Kassa-Schlüssel.« Aber auch
in diesem dem Inhalt und der Form nach kompromißlosen Werk
ging es Brecht nicht simpel um die agitatorische Anklage und mora-
lische Verurteilung der herrschenden Gesellschaftsordnung. Er kon-
statierte nur, er gab nur eine »Sittenschilderung«. Noch immer
tauchte kein Gedanke auf an eine revolutionäre Nutzanwendung -
der Schluß »Können uns und euch und niemand helfen«, ist kon-
:

sequent nihilistisch.
Mahagonny ist eine Goldgräberkolonie, gegründet von einigen
steckbrieflich gesuchten Gaunern. Es ist ein soziologisches Experi-
ment: Binnen kürzester Frist entwickelt sich die Ansiedlung zu
einem Muster der modernen Gesellschaft. Als die Stadt von einem
Taifun bedroht wird, entdeckt und verkündet der Holzfäller Paul
Ackermann die Gesetze der menschlichen Glückseligkeit, nach denen
alles erlaubt und nichts verboten sein soll. Das ist die Proklamation
der Anarchie. Es stellt sich heraus, daß die Ackermannschen Frei-
heiten: Fressen und Saufen, Sexus und Sport, in der Tat ganz vor-
trefflich sind und das Leben ungemein verschönern - »wenn man
Geld hat«. Nun nämlich, da alle Verschleierungen, Verbrämungen
und Konventionen wegfallen, tritt das Grundprinzip aller gesell-
schaftlichen Kommunikation nackt hervor - die »bare Zahlung«.
Und daran geht Ackermann, der Apostel der Glückseligkeit, zu-
grunde. Er macht Schulden und wird »wegen Mangels an Geld, was
das größte Verbrechen ist, das auf dem Erdenrund vorkommt«, zum
Tode verurteilt. Brecht bemerkt im Zwischentitel: »Viele mögen
die nun folgende Hinrichtung des Paul Ackermann ungern sehen.
Aber auch sie würden unserer Ansicht nach nicht für ihn zahlen. So
groß ist die Achtung vor dem Geld in unserer Zeit.« Der Untergang
Ackermanns, ja der Untergang Mahagonnys, der sich ankündigt,
belehrt aber nicht die Unbelehrbaren. In der Schlußszene demon-
strieren die »Noch nicht Erledigten« unbeirrt für ihre Ideale; über
die Bühne ziehen kreuz und quer Demonstrationszüge, mit sich
tragend die Leiche des unglückseligen Holzfällers und Transparente
»Für den Fortbestand des Goldenen Zeitalters.«
Brechts >Mahagonny< sollte offensichtlich die moderne Gesell-
schaft als ein komplexes und auswegloses Phänomen enthüllen, in
dem sich ökonomische Misere und ideelle Surrogate wechselseitig
bedingen und auffressen. Der negative Befund früherer Stücke über
die menschliche Daseinsmöglichkeit wurde in der Oper bis zur letz-
ten Konsequenz getrieben, bis zur Prognose des Untergangs. Dieser
abgrundtiefe Pessimismus, ein unmittelbarer Reflex der katastropha-
len Weltwirtschaftskrise, war keiner Steigerung mehr fähig. Er
mußte in der Folge für das Werk Brechts wie für die in Not und Ver-
172
! ! ! !

zweiflung geratenen Massen auf der Straße die Frage aufwerfen:


Aber was kommt dann?
Die Krise - das ist die negative Revolution, die Brecht anerkennt.
In der >Heiligen Johanna der Schlachthöfe < (1930 vollendet, aber
erst 1959 von Gründgens in Hamburg uraufgeführt mit Brechts
Tochter Hanne Hiob als Johanna) legte er mit leidenschaftsloser,
beinahe mathematischer Akribie die Perfektion ihres Mechanismus
bloß, ihren faszinierend logischen Ablauf, der alles, was schwach
ist, mitleidlos zermalmt. Zeitungsboys laufen zwischen den Szenen

durch den Zuschauerraum und rufen die Schlagzeilen aus, in denen


die Handlung des Stückes zum Ausdruck kommt:
»Blutiger Konkurrenzkampf der Fleischkönige! - Der Fleisch-
preis wird niedergetrampelt! - Kampf der Fleischgiganten Mauler
und Lennox - Mauler bietet ein Kilo Speck zu zehn Cent - Lennox
! !

zu acht! Wie lange wird Lennox durchhalten? Mauler oder Lennox:


Wer siegt?
Katastrophe für die Arbeiter der Schlachthöfe - Nachdem Lennox
!

geschlossen hat, schließt Mauler Die Hälfte aller Arbeiter der Chi-
!

kagoer Schlachthäuser ohne Arbeit. Der Winter vor der Tür


Seltsame Vorgänge auf dem Viehmarkt - Geheimnisvolle Auf-
!

käufe von Vieh in Illinois und Arkansas - Der Viehpreis im Steigen


!

Die Arbeiter der Schlachthöfe, die fünfte Woche ausgesperrt, wer-


den unruhig - Die Fleischfabriken planen Unterstützungsaktionen
!

Die karitativen Komitees in fieberhafter Tätigkeit! - Der erste


Schnee Chikago unter Schnee
!

Zollschranken im Süden gefallen! Plötzliche große Nachfrage


nach Exportvieh! - Wohin ist das Vieh verschwunden? - Der ge-
heimnisvolle Aufkäufer Pierpont Mauler - Zunehmende Aktivität
: !

der Sozialisten auf den Schlachthöfen! - Agitatoren nützen das


Elend der ausgesperrten Arbeiter aus
Größte Sensation an der Viehbörse! - Pierpont Maulers Riesen-
fleischkorner reißt die Fleischfabriken in den Abgrund - Die größten!

Fabriken vor dem Fallissement! Tausende Aktieninhaber verlieren


ihre Ersparnisse - Drohender Generalstreik Chikago in vier Stun-
! !

den ohne Licht und Strom Sollen die Börsentiger Chikago zugrunde
!

richten?
Das Ergebnis der Kämpfe Zusammenschluß der großen Fleisch-
:

fabriken! Präsident: Pierpont Mauler! Einsparung von Arbeitern,


Verminderung der Fleischbestände! Wiederaufnahme der Arbeit!«
Durch die eiskalte Welt der Börsenmanöver, der leeren Schlacht-
höfe und des Chikagoer Winters wandert Johanna Dark, das Mäd-
chen mit dem schwarzen Strohhut, die letzte Idealistin, die noch an
die Macht der Liebe und an die Anständigkeit der Menschen glaubt.
Sie sagt sich von der Heilsarmee los, weil sie einsieht, daß fromme
Sprüche und kärgliche Almosen nicht viel nützen, und geht auf die
Seite der Armen über. Und sie sagt sich von der Sache der Revolu-
tion los, weil sie nicht glauben kann, daß aus Gewalt etwas Gutes

173
:

kommen könnte. So stirbt sie verzweifelt und einsam. Ihren Tod hat
Brecht, der das ganze Stück als Parodie auf die bürgerlichen Klassiker
in gemessenen Jamben und im erhabenen Stil der idealistischen Tragö-
die geschrieben hat, zu einer Persiflage des Schlusses der >Jungfrau
von Orleans und des >Faust gestaltet Während das Mädchen noch
< < :

sterbend Worte der Anklage hervorstößt, wird sie dessenungeachtet


bereits von feierlichen Chören der Metzger und der Heilsarmee zur
Glorifikation der Ausbeutung kanonisiert. Das, so sagt Brecht - er-
greifend bei aller Ironie -, ist das Schicksal des Guten in einer heim-
tückischen und erbarmungslosen Welt. Und während sich über ihrer
Leiche all die geschlagenen und angeschlagenen Kapitalisten ver-
ständigen und dem stärksten unter ihnen, dem Mauler, unterwerfen,
kündigen die Schlagzeilen einen noch stärkeren, den stärksten und
rücksichtslosesten Kapitalisten an, den Leichenfledderer, der im
Hintergrund lauert - das Staatskapital des größten Landes der Erde
»Sturz des Pfundes Die Bank von England seit dreihundert Jah-
!

ren zum ersten Mal geschlossen - Acht Millionen Arbeitslose in den


!

Vereinigten Staaten! - Der Fünfjahrplan gelingt. - Brasilien schüt-


tet eine Jahresernte Kaffee ins Meer! - Sechs Millionen Arbeitslose
in Deutschland! - Dreitausend Bankinstitute in den Vereinigten
Staaten zusammengebrochen - Vor Henry Fords Fabrik in Detroit
!

findet eine Schlacht zwischen Polizei und Arbeitslosen statt! - Der


größte europäische Trust, der Zündholztrust, verkracht! - Der
Fünfjahrplan in vier fahren.«

Damit hat der Kreis sich geschlossen. Die Revolution, von der der
Dichter in seinem Sturm und Drang einst ausgegangen war und die
er dann verworfen hatte, hielt ihren Wiedereinzug in sein Werk, frei-
lich nun nicht mehr als jugendliches Schwärmertum, als »Humani-
tätsduselei«,sondern als die reife Ernte des modernen Zeitalters. Zu
einem Zeitpunkt, da viele der besten unter den kommunistischen
Intellektuellen und Arbeitern, eben die Idealisten, sich von der Re-
volution lossagten, weil sie sich statt als Reich der Freiheit als totali-
täres Machtsystem konstituiert hatte, kehrte Brecht, fasziniert von
der Allgewalt des neuen Byzanz, zu ihr zurück. Und während über-
all in der Welt die revolutionäre Dichtung im Abklingen begriffen

war, ging das Werk Bert Brechts erst seinem Höhepunkt entgegen,
denn es war ein anderer, völlig neuer Aspekt des Bolschewismus, der
in ihm zur Gestaltung kam. Der Akt der Erleuchtung kann aus der
Entwicklungstendenz erschlossen werden, die sich in zwei Lehr-
stück-Paaren aus den Jahren 1929/30 abzeichnet: vom >Flug der
Lindberghs < zum >Badener Lehrstück vom Einverständnis < und vom
>
Jasager < zur >Maßnahme<.
Das sogenannte Radiolehrstück für Knaben und Mädchen >Der
Flug der Lindberghs < (Musik Paul Hindemith) ist dem ersten West-
:

Ost-Flug über den Atlantik gewidmet ; die Pluralisierung des Lind-


bergh-Parts deutet an, daß nicht eine Person, sondern das Team, das

174
technische Kollektiv, in den Vordergrund gerückt werden soll, die
Einheit von Pilot, Monteuren, Konstrukteuren und Meteorologen,
von Männern und Maschinen. Das Stück, das den Triumph der
modernen Technik verkündet, ist ein Hymnus noch nicht auf die
Sowjetunion, sondern auf das Babel Amerika - ein Zeichen, wie nahe
in der Denkweise Brechts die Extreme beieinanderlagen. Im Zuge
der Darstellung wird wiederum ein Problem der modernen, total
technisierten Welt aufgeworfen, ein Kernproblem, nämlich die Zer-
störung der Religiosität:

»Darum beteiligt euch


An der Bekämpfung des Primitiven,
An der Liquidierung des Jenseits und
Der Verscheuchung jedweden Gottes, wo
Immer er auftaucht.
Unter den schärferen Mikroskopen
Fällt er,
Es vertreiben ihn
Die verbesserten Apparate aus der Luft,
Die Reinigung der Städte,
Die Vernichtung des Elends
Machen ihn verschwinden und
Jagen ihn zurück in das erste Jahrtausend.«

Das ist ein prometheisches Bild die Austreibung Gottes aus der
:

Welt. Aber was zurückbleibt, ist ein leerer Himmel. Wird der mo-
derne Mensch stark genug sein, die ebenso grandiose wie das Blut
gefrieren machende Vorstellung eines unermeßlichen, seelenlosen
Universums zu ertragen, eines Alls, in dem der Mensch nicht mehr
als ein verwehtes Stäubchen ist, selbst wenn er vermittels »verbesser-
ter Apparate« bis zum Mond fliegen sollte? Wird das Vakuum, das
nach der Liquidierung des alten Gottes verbleibt, nicht einen neuen
unwiderstehlich anziehen? Es ist von eigentümlicher Ironie, daß so-
wohl Subjekt wie Objekt, Autor und Held des so selbstsicheren
Lehrstücks den leeren Himmelsthron schließlich mit einem Idol
neuer Art besetzen: Während Brecht zu den Kommunisten ging,
sympathisierte Lindbergh mit den Faschisten.
Dem Inhalt nach wie eben in der weltanschaulichen Konsequenz
stellt das >Lehrstück vom Einverständnis < (Musik ebenfalls Paul

Hindemith) eine Fortsetzung des vorangegangenen vom >Flug der


Lindberghs< dar; es wurde wie das erste für das Musikfest 1929 in
Baden-Baden geschrieben. In dem neuen Werk wird der Aufruf
zur Eroberung der Natur durch einen Aufruf zur Eroberung der
Gesellschaft ergänzt. Und bei dieser Ausweitung des Operations-
feldes geht ein bemerkenswerter dialektischer Prozeß vor sich: der
quantitative Zuwachs führt zu einem Umschlag der ganzen Aktion
in eine neue Qualität - wir geraten unversehens aus dem Bereich der
Wissenschaft in den der Theologie.

175
! : :

Die Handlung ist folgende: Vier Flieger sind in dem Fieber,


immer schneller, immer weiter, immer höher zu fliegen, abgestürzt.
Sie wenden sich an die »Menge« mit der Bitte, ihnen zu helfen. Der
»gelernte Chor« macht daraufhin der »Menge« klar, daß es nicht
üblich sei, daß der Mensch dem Menschen hülfe die Flieger hätten
;

im umgekehrten Fall ihren Mitmenschen auch nicht geholfen. Was


not tue, sei nicht Hilfe, sondern eine Veränderung der Gesellschaft;
in einer veränderten Gesellschaft sei dann keine Hilfe mehr nötig.
Die müssen also
Flieger, die das nicht rechtzeitig begriffen haben,
sterben. Vor ihrem Tode sollen sie aber noch einsehen, daß sie trotz
aller Himmelsstürmerei eine unendlich kleine Größe sind, gewichtig
nur im Kollektiv. Der Pilot weigert sich und wird aus der Gemein-
schaft ausgetrieben; die drei Monteure erklären ihr Einverständnis,
sie sterben ihren Tod als Individuen und auferstehen als Bestand-
teile des Kollektivs.
Das Lehrstück läuft also auf einen Transformationsprozeß hinaus
wie seinerzeit >Mann ist Mann<, aber was damals ein technischer Akt
war, ist nun zu einem religiösen geworden, die Montage zu einem
Ritual. Die Ähnlichkeit des geschilderten Vorganges mit den Vor-
stellungen und Gebräuchen kultischer Gemeinschaften, das Auf-
treten solcher religiösen Phänomene wie Ordensgelübde von Armut,
Keuschheit und Gehorsam, wie Predigt und Exegese, Beichte und
Buße, Verdammnis und Erlösung usw. ist auffallend. Erst auf der
Grundlage dieser neuen Religiosität, der säkularisierten Religiosität
der Massengesellschaften, konnten die roten und braunen Bataillone
ihren Marsch antreten

»Der gelernte Chor:


Habt ihr die Welt verbessert, so
Verbessert die verbesserte Welt,
Gebt sie auf!
Der Führer des gelernten Chors
Marschiert
Der gelernte Chor:
Habt ihr die Welt verbessernd die
Wahrheit vervollständigt, so
Vervollständigt die vervollständigte Wahrheit.
Gebt sie auf!
Der Führer des gelernten Chors
Marschiert
Der gelernte Chor:
Habt ihr die Wahrheit vervollständigend die
Menschheit verändert, so
Verändert die veränderte Menschheit.
Gebt sie auf!
Der Führer des gelernten Chors
Marschiert

176
: !

Der gelernte Chor:


Ändert die Welt, verändert euch
Gebt euch auf!
Der Führer des gelernten Chors
Marschiert!«

Was in den Lehrstücken vom >Flug der Lindberghs< und >Vom


Einverständnis < in der Sphäre der Metaphysik exerziert worden war,
fand seine Entsprechung auf dem Gebiete der Ethik in den beiden
anderen, >Der Jasager < und >Die Maßnahme < - wiederum folgt auf
die allgemein gehaltene Erörterung eines Problems die Übertragung
auf die politische Praxis.
Der sogenannten Schuloper >Der Jasager < (Musik: Kurt Weill)
liegt ein japanisches Stück >Taniko< zugrunde. Ein Knabe begleitet
einen Lehrer und drei Studenten auf dem schwierigen Weg über die
Berge, um für seine kranke Mutter Medizin zu besorgen. Unterwegs
wird er selber krank und muß zurückgelassen werden, wenn die
anderen ihr Ziel erreichen sollen. Die Gefährten verlangen sein Ein-
verständnis. Nach kurzer Überlegung stimmt er zu und bittet nur,
ins Tal geworfen zu werden, damit ihm das Sterben leichter falle. Die
Forderung nach Disziplin im Dienst einer höheren Sache wird also
bis zur Forderung nach Aufgabe der individuellen physischen und
geistigen Existenz getrieben, eine Konsequenz der im >Badener
Lehrstück vom Einverständnis < aufgestellten Theorie vom Indivi-
duum als kleinster Größe.
Nach Aufführung des > Jasagers < 1930 an verschiedenen Schulen
entspann sich eine interessante Diskussion. Während gerade christ-
liche Kreise die rigorose Ethik des Werkes rühmten, stieß es links,
z. B. bei den Schülern der Karl-Marx-Schule in Berlin-Neukölln, auf

Widerstand. Daraufhin drehte Brecht, offenbar von dem Gesichts-


punkt ausgehend, daß ein Theaterstück genauso ummontierbar sei
wie der Packer Galy Gay, die Tendenz einfach um Der Knabe ver-
:

weigert nunmehr sein Einverständnis; seine Kameraden geben zu,


daß diese Einstellung »vernünftig, wenn auch nicht heldenhaft« sei,
und bringen ihn nach Hause. Natürlich war diese Umkehrung nicht
mehr als eine Spielerei; >Der Neinsager < mußte unbedeutend
und banal bleiben, weil er ja dem eigentlichen Konflikt - dem
Widerspruch zwischen Individuum und Kollektiv und der Ohn-
macht des Individuums gegenüber dem Kollektiv - aus dem Wege
ging;
Die Summe aus den Postulaten und Tendenzen all der voran-
gegangenen Werke zog das Lehrstück >Die Maßnahme < (1930; Mu-
sik: Hanns Eisler), Höhepunkt und Abschluß der Reifeperiode
Brechts. Nun hat seine Sehnsucht nach einem Kollektiv, das dem von
der modernen Welt entwurzelten Menschen eine neue Heimat gibt,
endlich ihre Erfüllung gefunden: Es ist nicht die imperialistische
Kolonialarmee wie in >Mann ist Mann<, nicht die Verbrechergang

*77
wie in der >Dreigroschenoper <, nicht der monopolkapitalistische
Trust wie in der >Heiligen Johanna < und nicht die Ecclesia militans
wie später im >Leben des Galilei <, sondern eine Institution, die die
genannten samt und sonders im Hegeischen Sinne aufhebt, d. h.
beerbt und übertrifft - die bolschewistische Partei. Herzstück des
Werkes, Sinngebung des in ihm geschilderten Geschehens ist das
neue Glaubensbekenntnis, das »Lob der Partei«:

»Denn der Einzelne hat zwei Augen,


Die Partei hat tausend Augen.
Die Partei sieht sieben Staaten,
Der Einzelne sieht eine Stadt.
Der Einzelne hat seine Stunde,
Aber die Partei hat viele Stunden.
Der Einzelne kann vernichtet werden,
Aber die Partei kann nicht vernichtet werden.
Denn sie ist der Vortrupp der Massen
Und führt ihren Kampf
Mit den Methoden der Klassiker, welche geschöpft sind
Aus der Kenntnis der Wirklichkeit.«
Die Handlung des Lehrstücks vollzieht sich als Verhandlung vor
dem Parteitribunal. Vier Agitatoren berichten dem Kontrollchor,
warum sie den fünften getötet haben. Es war ein junger Genosse, der
aus Idealismus zur Partei gestoßen war: »Mein Herz schlägt für die
Revolution. Der Anblick des Unrechts trieb mich in die Reihen der
Kämpfer. Der Mensch muß dem Menschen helfen. Ich bin für die
Freiheit. Ich glaube an die Menschheit. Und ich bin für die Maßnah-
men der Kommunistischen Partei, welche gegen Ausbeutung und
Unkenntnis für die klassenlose Gesellschaft kämpft.«
Gemeinsam hatten sie den Auftrag, kommunistische Propaganda
in China zu treiben. Zu diesem Zweck mußten sie sich einem Ritual
unterziehen, das Brecht die »Auslöschung des Gesichts« nennt, d. h.
sie mußten geloben, nicht mehr Karl Schmidt aus Berlin, Anna
Kjersk aus Kasan, Peter Sawitsch aus Moskau oder wie der junge
Genosse ein bestimmter Chinese zu sein, »sondern allesamt ohne
Namen und Mutter, leere Blätter, aufweiche die Revolution ihre An-
weisungen schreibt«. Der Kontrollchor kommentiert diesen Akt mit
der Belehrung: »Wer für den Kommunismus kämpft, der muß
kämpfen können und nicht kämpfen; die Wahrheit sagen und die
Wahrheit nicht sagen; Dienste erweisen und Dienste verweigern;
Versprechen halten und Versprechen nicht halten; sich in Gefahr
begeben und die Gefahr vermeiden kenntlich sein und unkenntlich
;

sein. Wer für den Kommunismus kämpft hat von allen Tugenden nur eine:
',

daß er für den Kommunismus kämpft.« Diese Äußerung ist eine Para-
phrase des bekannten Lenin- Wortes: »Man muß ... zu allem und
jedem Opfer entschlossen sein und sogar - wenn es sein muß - zu
allen möglichen Kniffen, Listen, illegalen Methoden, zur Verschwei-

i
78
gung, Verheimlichung der Wahrheit bereit sein . . .« Die Agitatoren
erklärten sich bereit.
Kaum aber waren sie am Bestimmungsort ihrer Mission angekom-
men, da beging der junge Genosse eine Reihe von Fehlern. Er ver-
suchte das Los der geschundenen Reiskahnschlepper zu erleichtern,
statt siezur Weltrevolution aufzuwiegeln. Er verteidigte einen ver-
folgten Arbeiter vor der Polizei, statt unsichtbar zu bleiben. Er wei-
gerte sich, mit einem widerwärtigen Kapitalisten zu speisen, mit dem
die Partei eine Volksfront zu bilden gedachte. Und er gab, als ihm die
Not unerträglich geworden schien, eigenmächtig das Signal zum Auf-
stand, obwohl es der Zentrale noch gar nicht paßte. Alles in allem:
Ihm bedeutete das Schicksal seiner in Elend und Verzweiflung leben-
den Brüder mehr als der Moskauer Parteiauftrag. Da beschlossen die
anderen vier Agitatoren, ihn zu liquidieren: »Einzig mit dem un-
beugsamen Willen, die Welt zu verändern, begründeten wir die Maß-
nahme.« Der junge Genosse erklärte sich in einem letzten Gespräch
mit der Maßnahme einverstanden und schlug selbst vor, daß man
ihn in eine nahe Kalkgrube werfen solle. »Er sagte noch Im Inter- :

esse des Kommunismus einverstanden mit dem Vormarsch der pro-


letarischen Massen aller Länder, ja sagend zur Revolutionierung der
Welt.« - Nachdem der Kontrollchor den Bericht der zurückgekehr-
ten Agitatoren angehört hat, billigt er nachträglich deren »Maß-
nahme«: »Und eure Arbeit war glücklich, ihr habt verbreitet die
Lehre der Klassiker, das Abc des Kommunismus .« . .

Das Lehrstück >Die Maßnahme <, dessen Aufführung bisher we-


der in West noch in Ost eine Bühne wagte (von Agitprop-Veranstal-
tungen abgesehen), ist ein Dokument von einer grausigen, statuari-
schen Größe, in seiner Wucht und Konsequenz beinahe einer an-
tiken Tragödie vergleichbar - nur daß der Donnerkeil der Nemesis,
der den Menschen gnadenlos zermalmt, nicht mehr vom olympi-
schen Rat der Götter geschleudert wird, sondern vom Politbüro der
bolschewistischen Partei. Unheimlich und bestürzend ist die Prophe-
tie des Stücks Vier Jahre vor der Liquidation Röhms und der SA-
:

Führer durch Hitler, sieben Jahre vor der Liquidation der bolsche-
wistischen alten Garde durch Stalin hat hier ein genialer Schrift-
steller das furchtbare, die eigenen Reihen zerfleischende Blutgesetz
des Totalitarismus vorweggenommen. Die Prognose stimmte bis in
die Details - bis zu den Geständnissen der Moskauer Prozesse . . .

Bert Brecht hat sicher recht, wenn er sein Theater als ein »Theater
des wissenschaftlichen Zeitalters« bezeichnet, wir würden vielleicht
korrekter sagen: des industriellen Zeitalters. Das präzise und hoch-
komplizierte Instrument des Epischen Theaters erwies sich als vor-
züglich geeignet, wesentliche Aspekte unseres schwer durchschau-
baren Säkulums zu erhellen , insbesondere dessen perfekteste und
extremste Erscheinungsform, den Totalitarismus. Die Ironie der
Dialektik aber will es, daß Brecht aus eben den Gründen, die ihn

*79
zum Dichter des Totalitarismus werden ließen, als totalitärer Dich-
ter nicht verwendbar ist. Das von ihm so gebenedeite Regime liebt es
nämlich nicht, sein Getriebe allzusehr dem durchdringenden Licht
wissenschaftlicher Klarheit auszusetzen, sondern bevorzugt den
freundlich verhüllenden Schimmer des schönen Scheins, es wünscht
kein aufklärendes, sondern ein kulinarisches Theater. Denn die we-
nigsten Menschen werden an der eiskalten, unmenschlichen Me-
chanik des totalitären Systems, wie Brecht es uns vor Augen stellt,
ihr Wohlgefallen finden - auf die meisten, vor allem die Massen, die
man doch gewinnen will, wird die Vorstellung des in der Kalkgrube
verfaulenden Parteischädlings eher abschreckend als faszinierend wir-
ken. Dem Brechtschen Theater ist deshalb sein Platz genau angewie-
sen nicht drinnen im Heiligtum, wo es wie ein Scheinwerfer in einer
:

Atmosphäre von Kerzenlicht und Weihrauch wirkt, sondern drau-


ßen vor der Tür, wo es als weithin strahlende rote Laterne die neu-
gierigen Pilger in den Bannkreis des neuen Gottes lockt.
Mit seinem seismographischen Sinn für die totalitären Gegeben-
heiten hat Brecht diesen prekären Umstand schon recht früh erfaßt.
Ohne sich dadurch in seinen Sympathien im mindesten beirren zu
lassen, hütete er sich doch, mit dem Gegenstand seiner Lobprei-
sung in allzu engen Kontakt zu kommen. Wohl brachte er es fertig,
1937 zu der sowjetischen Säuberung, der das ihm so mannigfach ver-
wandte Revolutionstheater zum Opfer gefallen war, zu erklären:
»Die sehr heilsame Kampagne gegen den Formalismus, wie sie jetzt
in der Sowjetunion geführt wird, hat die produktive Weiterentwick-
lung der Formen in der Kunst ermöglicht . .«, aber er legte keinen
.

Wert darauf, sich selber an den heilkräftigen Stätten fortschrittlicher


Produktivität kurieren zu lassen. Als ihn der Krieg aus den ersten
Zufluchtsorten seiner Emigration, Dänemark, Schweden und Finn-
land, vertrieb, reiste er quer durchs gelobte Land und über den
Ozean in das »imperialistische« Amerika. In diesen Jahren des Exils
schrieb er seine schönsten Stücke; die in ihm wühlende Sorge um die
eigene persönliche Existenz - welche ja zwischen Szylla und Charyb-
dis, der nationalsozialistischen und der bolschewistischen Menschen-
falle, äußerst gefährdet war - bewirkte es wohl, daß in seinem Werk
inmitten des nach wie vor meisterhaft dargestellten Geschichts-
mechanismus nun auch das menschliche Moment einen Ausdruck
fand. Nicht zufällig steht im Mittelpunkt einiger seiner reifsten und
bedeutendsten Stücke das Problem des Kompromisses, ein Problem,
das seinem früheren Extremismus so ganz fremd zu sein scheint, in
Wirklichkeit aber dessen zwangsläufige Folge ist - nicht zum ersten-
mal folgte bei Brecht auf den Exzeß der Kater.
Das von einer beinahe milden Weisheit erfüllte Parabelstück >Der
gute Mensch von Sezuan< (1938-1940; Uraufführung 1943 in Zü-
rich mit Leonhard Steckel als Regisseur, Teo Otto als Bühnenbild-
ner) berichtet die Geschichte eines chinesischen Mädchens namens
Shen Te, Inhaberin eines Tabakladens, das sich bemüht, den Göttern
180
:

wohlgefällig und zu den Menschen freundlich zu sein. Sie hilft und


schenkt allen, die ihr begegnen. Nur gelegentlich verschwindet sie
für einige Zeit, und an ihrer Stelle waltet ein rücksichtsloser und
raffgieriger Vetter des Geschäftes. Schließlich bleibt sie immer öfter
und immer ausdauernder fort. Als man ihren Vetter unter dem Ver-
dacht, seine Base umgebracht zu haben, festnimmt, macht man eine
erstaunliche Entdeckung: Das gute Mädchen und ihr böser Vetter
sind ein und dieselbe Person. Shen Te mußte sich nämlich, wollte sie
nicht Bankrott machen, von Zeit zu Zeit in ein anderes, geschäfts-
tüchtigeres Ich verwandeln, um das in den Tagen der Güte auf-
gelaufene Defizit wieder herauszuwirtschaften. Den bestürzten Göt-
tern erklärt sie resigniert:

»Euer einstiger Befehl


Gut zu sein und doch zu leben
Zerriß mich wie ein Blitz in zwei Hälften. Ich
Weiß nicht, wie es kam: gut sein zu andern
Und zu mir konnte ich nicht zugleich.
Andern und mir zu helfen, war mir zu schwer.
Ach, eure Welt ist schwierig ! . . .

Für eure großen Pläne, ihr Götter,


War ich armer Mensch zu klein.«
Eine ähnliche Konfliktsituation liegt dem heiter burlesken Volks-
stück >Herr Puntila und sein Knecht Matti< (1940-1941; Urauf-
führung 1948 in Zürich mit Kurt Hirschfeld als Regisseur, Leon-
hard Steckel als Puntila, Gustav Knuth als Matti) zugrunde. Es han-
delt von einem finnischen Gutsbesitzer, der in der Trunkenheit die
ganze Welt und sogar sein Gesinde zu umarmen pflegt, den ökono-
mischen Schaden aber, den er dabei anrichtet, im Zustande der Er-
nüchterung durch doppelte Brutalität wieder wettmacht. Brecht er-
blickte in seinem Helden beileibe kein heimtückisches Scheusal -
»Die Rolle des Puntila darf keinen Augenblick und in keinem Zug
ihres natürlichen Charmes entkleidet werden ...«-, sondern einen
vollkommen normalen und vernünftigen Menschen, der sich seiner
sozialen Lage gemäß verhält. Der nüchterne und der betrunkene
Puntila verfremden sich wechselseitig - und jedermann sieht, daß
dieser Herr ohne seine gespaltene Seele schwerlich existieren könnte,
er müßte entweder seine Eigenschaft als Gutsbesitzer oder als
Mensch aufgeben. Nur im Epilog dämmert ein Zweifel an der Mög-
lichkeit solchen Daseins auf; der scheidende Chauffeur Matti ruft sei-
nem gewesenen Herrn nach
»Die Stund des Abschieds ist nun da,
Gehab dich wohl, Herr Puntila.
Der Schlimmste bist du nicht, den ich getroffen,
Denn du bist fast ein Mensch, wenn du besoffen.
Der Freundschaftsbund könnt freilich nicht bestehn:
Der Rausch verfliegt. Der Alltag fragt: wer wen?«
181
Das >Leben des Galilek (1938-1939; Uraufführung 1943 in Zü-
rich mit Leonhard Steckel als Galilei; Modellaufführung 1947 in
Beverly Hills/Hollywood mit Charles Laughton als Galilei), wie es
sich bei Brecht darbietet, kulminiert in zwei Ereignissen kompromiß-
haften Charakters: Der Gelehrte verläßt die Republik Venedig, die
ihm zwar die Freiheit der Forschung, aber nur eine kärgliche Pro-
fessur geboten hat, und stellt sich in den Dienst des Hofes der Me-
dici in Florenz, wo er sich im Genuß der glänzendsten materiellen
Möglichkeiten zu einem Höfling ohne Meinung und Gewissen ent-
würdigen läßt. Und eben dort schwört er unter dem Druck der In-
quisition allen seinen Entdeckungen und Erkenntnissen öffentlich
ab, um heimlich seine Forschungsarbeit fortsetzen zu können. In
beiden Fällen entscheidet sich Galilei also bei der Wahl zwischen
ethischer Haltung und wissenschaftlichen Chancen für die materielle
Seite. Obwohl Brecht, der erklärte Anti-Idealist, gewiß alles Ver-
ständnis für das Verhalten seines Helden hat, läßt er doch das end-
gültige Urteil behutsam offen. In einem letzten Disput, der die Zu-
schauer in einer Gemütsbewegung hintergründiger Nachdenklich-
keit entläßt, äußert Galilei sich zu seinem Schüler Andrea Sarti, der
die >Discorsi<, das Ergebnis der geheimen Forschungen, ins Aus-
land schmuggeln soll: »Ich hatte als Wissenschaftler eine einzig-
artige Möglichkeit. In meiner Zeit erreichte die Astronomie die
Marktplätze. Unter diesen ganz besonderen Umständen hätte die
Standhaftigkeit eines Mannes große Erschütterungen hervorrufen
können. Hätte ich widerstanden, hätten die Naturwissenschaftler et-
was wie den hippokratischen Eid der Ärzte entwickeln können, das
Gelöbnis, ihr Wissen einzig zum Wohle der Menschheit anzuwen-
den! Wie es nun steht, ist das Höchste, was man erhoffen kann, ein
Geschlecht erfinderischer Zwerge, die für alles gemietet werden
können. Ich habe die Überzeugung gewonnen, Sarti, daß ich zudem
niemals in wirklicher Gefahr schwebte. Einige Jahre lang war ich
ebenso stark wie die Obrigkeit. Und ich überlieferte mein Wissen
den Machthabern, es zu gebrauchen, es nicht zu gebrauchen, es zu
mißbrauchen, ganz wie es ihren Zwecken diente. Ich habe meinen
Beruf verraten. Ein Mensch, der das tut, was ich getan habe, kann in
den Reihen der Wissenschaft nicht geduldet werden.« Seine Tochter
Virginia stellt die Schüssel auf den Tisch »Du bist aufgenommen in
:

die Reihen der Gläubigen.« Galilei: »Richtig. - Ich muß jetzt essen.«
Der Schüler Andrea aber, eingedenk der bei ihm geborgenen >Dis-
corsi<, des kostbaren Produktes aus der Selbsterniedrigung des Mei-
sters, erklärt dann doch bewegt: »Hinsichtlich Ihrer Einschätzung
des Verfassers, von dem wir sprachen, weiß ich Ihnen keine Ant-
wort. Aber ich kann mir nicht denken, daß Ihre mörderische Analyse
das letzte Wort sein wird.«
Die Probe auf das im >Galilei< erörterte Exempel konnte Brecht
selber exerzieren, als er 1948/49 schließlich seine zwar freie, aber ma-
teriell begrenzte Position in den westlichen Republiken mit dem
182
Amte des Dichters am Pankower Hofe vertauschte. Dort harrten
seiner in der Tat glänzende materielle Möglichkeiten: eine eigene
Truppe, das »Berliner Ensemble«, der Leitung seiner Frau, der
Schauspielerin Helene Weigel, unterstellt, ein imposanter Etat, wie
er ihm wohl nirgendwo sonst geboten worden wäre, alle erdenk-
lichen Privilegien, Ehrungen und Staatspreise, aber auch - die In-
quisition.
Schon die erste Aufführung von >Mutter Courage und ihre Kin-
der < (1939; Uraufführung 1941 in Zürich mit Leopold Lindtberg als
Regisseur, Therese Giehse als Courage, Wolfgang Langhoff und Karl
Paryla als ihre Söhne; Berliner Aufführung 1949 mit Brecht und
Engel als Regisseur, Weigel als Courage, Angelika Hurwicz als Kat-
trin, Paul Bildt und Werner Hinz als Koch und Feldprediger), der
ergreifenden Chronik aus den Wirren des Dreißigjährigen Krieges,
stieß in Parteikreisen auf Widerstand. Das Schicksal der Marketen-
derin, die da ruhelos und hoffnungslos ihren Karren über die graue,
kahle Drehscheibe zieht, eingespannt in den anonymen, undurch-
schaubaren Mechanismus des großen Krieges, und für nichts und
wieder nichts Kind um Kind verliert, bietet wohl das Bild einer na-
menlosen Klage der geworfenen Kreatur, kaum aber das jenes en-
thusiastischen Friedenskampfes, wie ihn die Parteilinie vorschreibt.
Zur Zeit der Aufführung hatte jedoch die sowjetische Besatzungs-
macht die Verhältnisse in ihrer Zone noch nicht so weit an die ihres
eigenen Landes angeglichen, daß ein administrativer Eingriff erfolgt
wäre.
Es entspann sich vorerst nur ein Streitgespräch zwischen dem
kommunistischen Tendenzdramatiker Friedrich Wolf und Brecht.
Wolf vertrat die Ansicht: ». müßte diese Mutter Courage (hi-
. .

storisch ist, was möglich ist), müßte sie, nachdem sie erkannt hat,
daß der Krieg sich nicht bezahlt macht, nachdem sie nicht bloß ihre
Habe, sondern auch ihre Kinder verlor, müßte sie am Schluß nicht
eine ganz andere sein wie am Anfang des Stückes ? Grade für unsere
heutigen deutschen Zuschauer, die sich bis 5 Minuten nach 12 stets
damit herausredeten: Was konnte man schon machen? Krieg ist
Krieg Befehl ist Befehl Man zieht den Karren weiter. - Aber es ist
! !

natürlich sinnlos, an einem Kunstwerk herumdoktern zu wollen.


Meine Fragen dienen inmitten einer babylonischen Verwirrung auf
dem Theater lediglich unserm gemeinsamen Ziel: Wie kann unsre
deutsche Bühne unserm Volk das zeigen, was not tut?« Brecht ant-
wortete diplomatisch »In dem vorliegenden Stück ist, wie Sie rich-
:

tig sagen, dargestellt, daß die Courage aus den sie betreffenden Kata-
strophen nichts lernt. Das Stück ist 1939 geschrieben, als der
Stückschreiber einen großen Krieg voraussah: er war nicht über-
zeugt, daß die Menschen >an und für sich< aus dem Unglück, das sie
seiner Ansicht nach betreffen mußte, etwas lernen würden. Lieber
Friedrich Wolf, gerade Sie werden bestätigen, daß der Stückschrei-
ber da Realist war. Wenn jedoch die Courage weiter nichts lernt -das

183
:

Publikum kann, meiner Ansicht nach, dennoch etwas lernen, sie


betrachtend.« Und er setzte hinzu, ahnungslos, in welcher erschrek-
kenden Weise auch diese Worte sich bald als realistische Voraussage
erweisen würden: »Ich stimme Ihnen darin absolut zu, daß die
Frage, was für Kunstmittel gewählt werden müssen, nur die Frage
sein darf, wie wir Stückschreiber unser Publikum sozial aktivieren
(in Schwung bringen) können.«
Es vergingen nicht einmal zwei Jahre, da wurden, um das Publi-
kum in Schwung bringen zu können, zuerst einmal die Stückschrei-
ber selber in Schwung gebracht. Initiiert durch eine Reihe inquisi-
torischer Artikel, die unter dem offiziösen Leitartikel-Pseudonym N.
Orlow im Organ der Besatzungsmacht >Tägliche Rundschau < er-
schienen, begann mit Diffamierungen, Maßregelungen und Verfol-
gungen die kommunistische Aktion zur Liquidierung der zeitgenös-
sischen deutschen Kunst, die die Umwandlung der Sowjetzone in
eine Volksdemokratie begleitete. Auf dem Gebiete des Theaters
richtete sich der Hauptangriff gegen Brecht. In dem berüchtigten
Jahre 1951 fielen gleich mehrere seiner Stücke der Parteiinquisition
zum Opfer.
Brecht hatte sein 1931 geschriebenes Stück >Die Mutter < (Musik:
Hanns Eisler), eine Dramatisierung des Gorkischen Romans, zur
Aufführung gebracht. Die Art der Bearbeitung war charakteristisch
für Brechts Einstellung zur Revolution. Er sagt selbst

»Als ich das Stück >Die Mutter < schrieb


nach dem Buch des Genossen Gorki und vielen
Erzählungen proletarischer Genossen aus ihrem
täglichen Kampf, schrieb ich es
ohne allenUmschweif, in kärglicher Sprache
reinlich die Worte setzend, alle Gesten
meiner Gestalt sorgsam wählend, wie man
die Worte und Taten der Großen berichtet.
Nach bestem Vermögen
erscheinenden
stellte ich jene alltäglich
tausendfachen Vorgänge in verachteten Wohnungen
unter den Vielzuvielen als historische Vorgänge dar . . .«

Genauso tat er es wirklich. Er setzte Gorkis revolutionäre Ro-


mantik in rationale politische Dialektik um. Er widmete seine ganze
Aufmerksamkeit der Technik der Machtergreifung, wie er sie wohl
weniger dem keineswegs spezifisch bolschewistischen Roman als
den »Erzählungen proletarischer Genossen« entnahm. Man kann
sich vorstellen, wie wenig die Partei davon angetan war, daß da einer
von der Bühne herab aus der Schule plauderte. Hinzu kam, daß
Brecht zu der Zeit, als er >Die Mutter < verfaßte, die allein richtige
Stalinsche Version der Parteigeschichte noch nicht kannte, weil sie
nämlich damals noch gar nicht geschrieben war. Alle diese Umstände
machten das Stück, so lauter seine bolschewistische Gesinnung und

184
so eindrucksvoll seine künstlerische Gestaltung auch sein mochten,
für das sowjetzonale Kulturleben untragbar. Da nützte es wenig, daß
Brecht bei der Inszenierung das vor fünfzig Jahren spielende Ge-
schehen durch eingeblendete Filmstreifen von Stalin und Mao Tse-
tung aktualisierte und veredelte.
Auf dem 5. Plenum des Zentralkomitees der SED im März 1951,
jenem Konzil, das den Bannfluch gegen den Formalismus schleu-
derte, erklärte u. a. einer der damals höchsten Parteifunktionäre,
das Mitglied des Politbüros Fred Oelßner: »Kein Mensch wird be-
streiten, daß in dieser >Mutter< von Bert Brecht außerordentlich ge-
konnte, außerordentlich wirkungsvolle Szenen sind, die tatsächlich
die Massen packen. Aber ich frage Ist das wirklich Realismus ? Sind
:

hier typische Gestalten in typischer Umgebung dargestellt? Ich will


schon gar nicht von der Form reden. Nach meiner Meinung ist das
kein Theater; das ist irgendwie eine Kreuzung oder Synthese von
Meyerhold und Proletkult. Wenn ein Mensch, der so begabt ist wie
Brecht, ein wirklich zusammenhängendes, komponiertes Theater-
stück schreiben würde, welch gewaltiges Kunstwerk könnten wir da
bekommen! Es sind aber auch in dieser >Mutter< von Brecht Szenen,
die historisch falsch und politisch schädlich sind. Das muß man aus-
sprechen. Ich erinnere euch an die Szene von1914, wie die Mutter in
Panik verfällt und jammert: >Die Partei stirbt. < Ist das wirklich eine
Charakteristik der historischen Rolle der bolschewistischen Partei
von 1914, die als einzige Partei in der ganzen Internationale ein kla-
res Programm und Ziel hatte und nicht in Panik verfiel?«
Ein anderer hoher Funktionär, der Vertrauensmann der Sowjets
im Sektor Theater, Rodenberg, assistierte »Ich meine, Brecht ist ein
:

glänzender Dialektiker. Aber man müßte einmal untersuchen, ob


sein Materialismus nicht vulgäre Elemente hat Natürlich ist es so,
. . .

daß man Brecht länger Zeit geben muß, als man, sagen wir, mir ge-
ben könnte. Brecht verbraucht augenblicklich sein altes Gepäck. Er
verbraucht es ein Stück nach dem anderen, weil er Zeit braucht, sich
wieder zurechtzufinden. Er braucht wirklich Zeit. Angenommen, er
hätte es gekonnt, dann hätte er wahrscheinlich schon ein Stück über
unsere Zeit geschrieben. Aber die wirkliche Kritik an Brecht wird
davon beinhaltet sein, wieviel Zeit vergeht, bis er dieses Stück schrei-
ben kann, und was das für ein Stück sein wird Das ist das Entschei-
!

dende. Aber etwas Zeit müssen wir Brecht geben. Wir dürfen nicht
aufhören, ihn zu kritisieren, aber so klug zu kritisieren, wie er selbst
klug ist.«
Die blutüberströmten Schatten Meyerholds und der Sinaida Reich
waren beschworen worden. Helene Weigel, im Unterschied zu
Brecht der Inquisitionsverhandlung beiwohnend, verteidigte sich als
Hauptdarstellerin des umstrittenen Stückes: »Ganz kann ich nicht
über mich schweigen. Es wurde über die >Mutter< gesprochen. Ich
muß sagen, daß die Mutter in dem Falle, der angeführt wurde, eben
nicht jammert. Sie wird angesprochen, etwas zu tun, weil die Partei

185
in ist, und sie tut es, obwohl sie krank ist. Das ist die Szene,
Gefahr
wovon der Genosse sprach. Wir sind auf Fehler aufmerksam ge-
macht worden, und diese Fehler haben wir anerkannt und versucht,
sie zu verbessern. Ich weiß nicht, ob die Genossen ein zweites Mal in
einer Aufführung der >Mutter< waren.«
Ein anderes Revolutionsstück von Brecht, >Die Tage der Com-
mune <, sollte 1951 aus Anlaß des achtzigsten Jahrestages der histori-
schen Pariser Arbeitererhebung uraufgeführt werden. Das Stück war
von Brecht 1948/49 in Zürich geschrieben worden, unmittelbar vor
der Übersiedlung in die Sowjetzone; es ist also sein letztes Werk aus
der westlichen Emigration und - da er später nichts Nennenswertes
mehr geschaffen hat - sein letztes wesentliches Bühnenwerk über-
haupt. Brecht stützt sich bei der Darstellung der historischen Ereig-
nisse treulich auf die Untersuchungen, die Marx und Lenin der Pa-
riser Commune gewidmet haben. Die Fehler und Schwächen des
damaligen Arbeiterregimes, die dessen raschen Untergang bewirkt
haben, werden in didaktischer Weise demonstriert. Es geht darum,
daß die Bank von Frankreich nicht beschlagnahmt wurde, daß es in
den revolutionären Reihen an Disziplin fehlte, daß der »rote Terror«
(der zur Erschie ßung des Erzbischofs von Paris führte) zu spät ein-
setzte und dergleichen mehr. Brecht sind einige eindrucksvolle
Szenen und Typen gelungen, doch bleibt die Handlung im Politi-
schen befangen, sie zerflattert in Episoden, Milieustudien und politi-
schen Exerzitien. Der Kritiker Herbert Ihering, sonst stets ein Vor-
kämpfer Brechts, schreibt: »Die >Tage der Commune < stellen eins der
ergreifendsten und zugleich lehrreichsten Kapitel der europäischen
Geschichte dar. Und doch bleibt die Wirkung hinter anderen Stük-
ken Brechts zurück. Denn die epische Fabel fehlt, die den Schau-
spieler und den Zuschauer zusammenführt.« Das Fehlen der Fabel
ist ein Charakteristikum dafür, daß der Autor nicht einen mensch-
lichen Konflikt, sondern ein soziologisches Schema in den Mittel-
punkt gestellt hat. Er ist vor der tiefgreifenden menschlichen Aus-
einandersetzung ins Doktrinäre ausgewichen. Dieser Zug, der bei
Brecht immer wirksam war, nur in der Emigration zurücktrat, kün-
digt jene psychische Verhärtung und Verkrampfung des Dichters an,
die dann bald nach der Niederschrift in der Kollaboration mit der
SED ihren politischen Ausdruck fand.
Trotz der konsequent kommunistischen Konzeption wurde die
Aufführung des Stücks von der Partei verboten. Brechts Praxis des
offenen Aussprechens, der nackten, ungeschminkten Wahrheits-
schilderung, die Tragik und Widerspruch der Commune sichtbar
werden ließ, paßte nicht in die des schönen Scheins so sehr bedürf-
tige stalinistische Epoche, die um das historische Ereignis längst
einen Mythos gehüllt hatte. Das Zentralkomitee der SED und die
Parteihochschule »Karl Marx« verurteilten >Die Tage der Commune <
als »objektivistisch« und »defätistisch«.
Die Oper >Das Verhör des Lukullus< (Musik: Paul Dessau) er-

186
: :

zielte wenigstens eine einzige, aber spektakulöse Aufführung. In dem


aus einem Hörspiel hervorgegangenen Werk (1940) - das ursprüng-
lich Strawinsky vertonen wollte - wird der römische Feldherr Lu-
kullus nach seinem Tode und pompösen Begräbnis als Kriegsver-
brecher vor ein Schattentribunal der in seinen ruhmvollen Feld-
zügen umgekommenen Opfer gestellt. Der Ruhm zählt da nicht,
eher schon spricht für den Angeklagten, daß er ein Feinschmecker
war und die Kirsche nach Rom brachte - aber die Schale mit dem
vergossenen Blut wiegt so schwer, daß sie auf der Waage des Ge-
richts den Ausschlag gibt. Er wird in die Verdammnis gestoßen:

»Ah ja, ins Nichts mit ihm! Denn


Immer mit all der Gewalt und Eroberung
Wächst nur ein Reich an
Das Reich der Schatten.«
Diese Töne dürften der bis zur Elbe vorgedrungenen Sowjet-
macht und ihren sowjetzonalen Kollaborateuren nicht gerade lieb-
lich in den Ohren geklungen haben. Sicher hätten sie das Werk
schon vor der Premiere verboten, wenn sich der Vorgang nicht allzu
sichtbarlich im Herzen Berlins, wenige hundert Meter von der
Grenze zur freien Welt entfernt, abgespielt, wenn die Staatsoper
nicht schon einen außergewöhnlichen Aufwand investiert und den
berühmten Dirigenten Hermann Scherchen aus der Schweiz bemüht
hätte (Regie Wolf Völker, Ausstattung Caspar Neher, Lukullus
: :

Alfred Hülgert), wenn last not least das Ansehen eines Mannes wie
Brecht nicht doch eine Teufelsmesse wert erschienen wäre. So kon-
zedierte man drei geschlossene Vorstellungen, für die man ein be-
sonderes Publikum, Parteiprominenz, Volkspolizei und Mitglieder
der kommunistischen Jugendorganisation »Freie Deutsche Jugend«,
aussuchte. Man hoffte, daß solche Zuschauer der gefährdeten Partei-
linie schon zum Siege verhelfen würden. Aber der erste Abend
brachte bereits den Eklat. Ein Teil der jungen Leute, die man mehr
nach politischen Gesichtspunkten als auf Grund ihres Musikinteres-
ses ausgewählt hatte, verkaufte die Karten zu Auktionspreisen an
Interessenten aus den Westsektoren. Die anderen, die der Vorstel-
lung beiwohnten und denen man natürlich nicht direkt gesagt hatte,
daß sie das Werk auspfeifen sollten, wurden von dem faszinierenden
Vorgang auf der Bühne und der einhelligen Begeisterung der an-
wesenden östlichen wie westlichen Intelligenz einfach mitgerissen.
Als der Vorhang sich senkte, brach nach einigen provokatorischen
Pfiffen ein demonstrativer Beifallssturm los, wie ihn das Haus wohl
noch nie erlebt hatte. Die Zuschauer sprangen auf die Sitze, klatsch-
ten und tobten, der Beifall nahm kein Ende. Derweil hatten jedoch
die Regierungsvertreter, vom Applaus aufgeschreckt, schleunigst
ihre Loge verlassen. Die weitere Aufführung wurde sofort verboten,
es kamen nicht einmal mehr die beiden anderen Exklusivvorstellun-
gen zustande.

187
:

Während es allen parteilosen Kritikern verboten wurde, über die


Aufführung zu berichten, schrieb das SED-Zentralorgan >Neues
Deutschland <: »Ein hochbegabter Dramatiker und ein talentierter
Komponist, deren fortschrittliche Absicht außer Zweifel steht, ha-
ben sich in ein Experiment verirrt, das aus ideologischen und künst-
lerischen Gründen mißlingen mußte und mißlungen ist ... Als
Analytiker von hohen Graden dürfte er« - Brecht - »selbst zu der
Einsicht kommen, daß dieses dichterische Sinnbild schon um 1940
nicht auf der Höhe der historischen Situation und ihrer Entwick-
lungstendenzen war und daß es heute ganz offensichtlich nicht der
Wirklichkeit entspricht. Das Weltfriedenslager mit seinen mehr als
800 Millionen unter der Führung der Sowjetunion ist nicht nur kein
> Schattengericht <, sondern es hat die reale Macht, alle Kriegsver-
brecher einer sehr irdischen Gerichtsbarkeit zu unterwerfen .« In
. .

der Tat war die Sowjetunion schon 1940 kein Schattengericht, son-
dern hatte die reale Macht, große Teile von Polen und Finnland so-
wie die baltischen Länder seiner irdischen Gerichtsbarkeit zu unter-
werfen.
Über die Musik, die Brecht selbst die bisher beste Leistung Paul
Dessaus nannte, äußerte das Parteiorgan an anderer Stelle: »Neh-
men wir als Beispiel den >Lukullus< und sehen uns einmal die Zu-
sammensetzung des Orchesters an. Da gibt es keine Geige. Dieses
edelste aller Instrumente, das in der Lage ist, herrliche Klangbilder
hervorzurufen, fehlt völlig. Es gibt keine Oboen und Klarinetten,
dafür aber ein mit Reißnägeln versehenes Klavier und vor allem neun
Schlagwerke, unter denen sich große und kleine Trommeln und
Metallplatten befinden, die mit Steinen bearbeitet werden. Diese
Tatsache könnte als eine bloße Äußerlichkeit erscheinen, aber in
Wirklichkeit ist sie der Ausdruck dafür, daß der Komponist Paul
Dessau die Rolle der Melodie und der Harmonie unterschätzt, ja so-
gar mißachtet, denn die Unterdrückung des Melodischen entspringt
einer bewußten Einstellung der Formalisten.«
Die sowjetzonale Regierung selbst diskutierte acht Stunden lang
mit den Autoren über deren Werk. Nach der Sitzung rühmte Brecht
mit der ihm eigenen Undurchsichtigkeit »Wo sonst in der Welt
:

gibt es eine Regierung, die so viel Interesse und Fürsorge für ihre
Künstler zeigt!«, und schrieb das Libretto um. Die Neufassung
>Die Verurteilung des Lukullus< unterscheidet sich von dem Origi-
nal durch zwei Einfügungen. Das Auftreten eines von Lukullus be-
siegten Königs, der zwar auch ein Ausbeuter war (»Das Silber, das
er fördern ließ, kam nicht ins Volk durch ihn«), aber »das Land zu
verteidigen aufrief«, nimmt jetzt ein Schöffe zum Anlaß, eine Ehrung
der Sowjetarmee einzuflechten

»Ich schlage vor, daß wir


Uns erheben vor diesem Zeugen
Und zum Lobe derer,
188
: !

Die ihre Städte verteidigten.


(Die Schöffen erheben sich.)«

In der vom Lärm der besagten neun Schlagwerke aufgewühlten


Schlußszene erklären nunmehr die Schatten der gefallenen Legionäre
selbstkritisch ihre Reue, daß sie nicht rechtzeitig ins Weltfriedens-
lager übergegangen sind

»Hätten wir doch


Den Dienst des Angreifers gekündigt!
Hätten wir doch
Uns den Verteidigern gesellt
Ins Nichts mit ihm!«

Mit diesen Verbesserungen hoffte Brecht, sein Werk den An-


sprüchen des Ostblocks angepaßt zu haben. Aber die Partei war im-
mer noch nicht zufrieden - da hätte er wohl die ganze Oper um-
schreiben müssen -, so daß das Unternehmen >Lukullus< denn mit
ein paar Ans tandsaufführungen an der Ostberliner Staatsoper sein
Bewenden hatte. Im Westen ließ Brecht nach wie vor die ursprüng-
liche pazifistische Version spielen. Damit haben die »Kapitalisten«,
ungeachtet der Gefahr, zersetzt zu werden, den unbestreitbar besse-
ren Teil erhalten, denn in der Neufassung hatte der unglückselige
Komponist auch noch eine Reihe seiner schönsten Effekte amputie-
ren und den liturgischen Sprechgesang in Arien und Rezitative ver-
wandeln müssen.
Das Berliner Ensemble konzentrierte sich unter solchen Umstän-
den mehr auf das klassische Erbe, natürlich in Brechtschen Bearbei-
tungen. 1953 wurde der >Urfaust< herausgebracht. Die Inszenierung
richtete sich, wie Brecht formulierte, gegen die »Einschüchterung
durch die Klassizität«: »Diese Einschüchterung kommt zustande
durch eine falsche, äußerliche Auffassung von der Klassizität eines
Werkes. Die Größe der klassischen Werke besteht in ihrer mensch-
lichen Größe, nicht in einer äußerlichen Größe in Anführungs-
zeichen. Die Tradition der Aufführungen, lange Zeit an den Hof-
theatern >gepflegt<, hat sich auf den Theatern des niedergehenden
und verkommenden Bürgertums immer mehr von dieser mensch-
lichen Größe entfernt, und die Experimente der Formalisten haben
da nur noch nachgeholfen. An Stelle des echten Pathos der großen
bürgerlichen Humanisten trat das falsche Pathos der Hohenzollern,
an Stelle des Ideals trat die Idealisierung, an Stelle des Schwungs, der
eine Beschwingtheit war, das Reißerische, an Stelle der Feierlichkeit
das Salbungsvolle usw. usw. Es entstand eine falsche Größe, die nur
öde war. Der wunderbare Humor Goethes in seinem >Urfaust< paßte
nicht zu dem würdevollen olympischen Schreiten, das man den
Klassikern zuschrieb . . .«
Ob Brecht wirklich nicht bemerkte, daß er mit seiner Polemik
haargenau den offiziellen Aufführungsstil der Stalinisten beschrieb?

189
Jedenfalls fiel der Brechtsche >Urfaust< schon nach einigen Probe-
aufführungen der Parteiverdammung anheim, ehe noch die öffent-
liche Premiere stattfinden konnte. Das >Neue Deutschland < schrieb:
»Die Inszenierung durch das Berliner Ensemble war, in Abkehr
von den klassischen Traditionen, auf marionettenhafte Wirkung an-
gelegt, die keine tiefen menschlichen Gefühle auslösen konnte. Die
Regie griff die alte Fabel da auf, wo sie >ins Grelle und Formlose
geht<, machte sie noch greller und formloser. Das Bühnenbild war
darauf abgestellt, durch gewollte Primitivität ein symbolisches Ab-
bild der >deutschen Misere < zu schaffen . . Die Regie versuchte
.

nicht, >zwischen Spaß und Ernst durchzukommen <. Sie machte aus-
schließlich schlechten Spaß, der so weit ging, daß - am Vorabend
des 1. Mai - die betrunkenen Studenten in Auerbachs Keller, mit
Stuhlbeinen Takt schlagend, grölten: >Der Mai ist gekommen <. Eine
ähnliche Verhöhnung des deutschen Volksliedes war bisher auf un-
seren Bühnen nicht erlebt . .Legt den gewollten Primitivismus, die
.

künstlerische Kargheit ab, fürchtet euch nicht vor dem Jasagen zu


den besten künstlerischen Schöpfungen unserer Vergangenheit, und
ihr werdet großes und wunderbares Theater spielen! Wir glau-
. . .

ben sagen zu müssen, daß die jungen Mitarbeiter des Berliner En-
sembles, von denen viele sehr begabt sind ., durch methodische
. .

Prinzipien in eine falsche Richtung geführt werden, die Bertolt


Brecht als künstlerischer Leiter des Berliner Ensembles bei der Be-
arbeitung von Klassikern anwendet. Der Regisseur Monk richtete
sich nach Vorbildern, wie wir sie im >Hofmeister< und Verbroche-
nen Krug< kennengelernt haben. Auch diese sind fatalistisch-pessi-
mistische Zustandsschilderungen, bei denen es nur einen >Helden<
gibt die >deutsche Misere <. Auch darin drückt sich eine Parteinahme
:

aus - aber de facto gegen das kulturelle Erbe, gegen die deutsche Na-
tionalkultur . .« - Brecht zog die Einstudierung sofort zurück, sein
.

junger Regieassistent Egon Monk ging nach dem Westen.


Auch die Bearbeitung des >Hofmeister< von Lenz 1950 (Haupt-
rolle Hans Gaugier) wurde von hohen Parteistellen wegen »Verfäl-
:

schung der nationalen und literarischen Traditionen des deutschen


Volkes« mißbilligt. Brecht hatte das Schauspiel des Sturm-und-
Drang-Dichters durchgehend ironisiert und - am Exempel des
Schulmeisters, der sich selbst kastriert - zu einem Sinnbild der »deut-l
sehen Misere« gestaltet, was zwangsläufig aktuelle Parallelen zu Vor-
gängen im SED-Obrigkeitsstaat aufblitzen ließ.
Erst im Herbst 1954 - inzwischen war Stalin gestorben und dei
mildere Neue Kurs im Gange - erschien wieder eines von Brechts
großen, zentralen, aus seiner Blütezeit stammenden Werken auf det
Ostberliner Bühne: >Der kaukasische Kreidekreis < (1944-1945 eng- ;

lische Uraufführung 1948 in Minnesota; deutsche Erstaufführung


in Berlin mit Ernst Busch als Richter Azdak, Angelika Hurwic2
als Magd Grusche, Helene Weigel als Gouverneursfrau, Musik PauJ :

Dessau, Bühnenbild: Karl von Appen). Die Fabel des Stücks: Eine

190
Magd rettet das Kind ihrer Herrschaft, das die leibliche Mutter im
Trubel politischer Unruhen hat liegenlassen, und zieht es unter Ge-
fahren und Entbehrungen groß. Nach Beruhigung der Verhältnisse
verlangt die Mutter ihr Kind zurück, weil sie es braucht, um eine
Erbschaft antreten zu können. Es wird die altchinesische Kreide-
kreisprobe zelebriert; das Kind wird zwischen die beiden Frauen in
einen Kreis gestellt, und es soll dem gehören, der es an sich zu ziehen
vermag. Nach der alten Version der Legende verzichtet die wirkliche
Mutter, weil sie ihr Kind nicht in Stücke reißen will, und erhält
daraufhin vom Richter, der ihren Standpunkt billigt, das Kind zu-
gesprochen. Brecht kehrt den Vorgang um Nicht die leibliche, son-
:

dern die Pflegemutter erweist sich als mütterlicher und erwirbt da-
durch das Kind.
Aus der Divergenz von Absicht und Wirkung dieses Stücks wird
die dialektisch widersprüchliche Stellung des Brechtschen Theaters
recht deutlich: Brecht wollte nachweisen, daß das Muttertum »an-
statt biologisch nunmehr sozial bestimmt« wird. Nicht die Ver-
wandtschaft sei maßgebend, sondern die Produktivität, die Arbeit,
die einer für etwas aufwendet. Um diesen Gesichtspunkt herauszuar-
beiten, wandte er eine Reihe von Kniffen seiner Epischen Methode
an. Beispielsweise ließ er die Ausbeuter, also auch die leibliche Mut-
ter, nur in Masken auftreten, damit kein Mitgefühl aufkommen
könne. Er setzte zur Kommentierung während der ganzen Handlung
einen begleitenden Sänger ein. Und er schrieb ein besonderes Vor-
spiel: Die Bauern zweier sowjetischer Kolchosen streiten sich um
den Besitz eines Tales. Die einen sind zwar da zu Hause, die anderen
aber in der Lage, es besser zu bewirtschaften - so bekommen sie es
zugesprochen. Moral des ganzen Werkes soll sein »Die Kinder den
:

Mütterlichen, damit sie gedeihen, und das Tal den Bewässerern, da-
mit es Frucht bringt.« Brechts Auffassungen sind konsequent bol-
schewistisch Man braucht gar nicht einmal - in Parallele zum Vor-
:

spiel - an die Deportation der Balten, der Wolgadeutschen, der Kal-


mücken und Tataren, der kaukasischen Bergvölker sowie der Polen
aus Galizien und der Deutschen aus den Gebieten östlich von Oder
und Neiße zu denken, auch die Haupthandlung selbst hat ihren ak-
tuellen Aspekt, denn zur Zeit der Aufführung wurde in der Sowjet-
zone ein kommunistisches Familiengesetz vorgelegt, nach dem bei
einer Scheidung die Kinder dem Elternteil zugesprochen werden sol-
len, der die beste staatsbürgerliche, d. h. politische Erziehung ge-
währleistet. »Wenn die Zuschauer der Entscheidung des Richters in
meinem Stück applaudieren«, sagte Brecht in einem Gespräch,
»stimmen sie auch allen sozialistischen Reformen zu.«
Die tatsächliche Wirkung war ganz anders. Die Zuschauer nah-
l ! men für die Magd Partei, nicht weil sie sich als »produktiver«, son-
dern weil sie sich als menschlicher erwiesen hat. Sie bezogen also aus
1 1
dem Stück gerade jene Impulse, die der totalitären Maschinerie zu-
widerlaufen. Dieser Eindruck wurde dadurch verstärkt, daß in der

191
:

Aufführung ein modernes, und kühnes Theater geboten


originelles
wurde, wie es seit Jahren vom Regime unterdrückt worden war;
ein Hauch von Freiheit wehte, zumindest in formaler Hinsicht, von
der Bühne. Brechts subjektive Absicht, die totalitäre Methodik zu
propagieren, verschwand hinter seinem objektiven Verdienst, die
Fragen der Zeit, die an den Lebensnerv jedes im bolschewistischen
Machtbereich befindlichen Menschen rühren, offen, wahrhaftig und
künstlerisch eindringlich angepackt zu haben. Dabei zeigte sich, daß
das Niveau der Aufführung unter dem Unverständnis Brechts für
die Aussage seines eigenen Werkes litt etliche seiner Regiezutaten -
:

nicht die Episierung schlechthin, sondern die falsche Episierung, die


Episierung in falscher Richtung - wirkten penetrant, banal und ab-
wegig, insbesondere hinterließ das primitive Kolchosvorspiel künst-
lerisch einen katastrophalen Eindruck. Der Dichter Brecht hatte es
schwer, sich gegen den Regisseur dieses Namens durchzusetzen -
man könnte auch sagen: der Brecht der Emigration, der das Stück
einmal geschrieben hat, gegen den sowjetzonalen Brecht, der es sei-
ner Obrigkeit mundgerecht zu machen versuchte. Auf alle Fälle war
die Reaktion auf die Aufführung des >Kreidekreises < so, daß die Par-
teikritik wieder einmal mit allen Kalibern gegen Brecht schoß. Nur
der veränderten Lage war es zu danken, daß das Stück nicht, wie so
viele vor ihm, in der Versenkung verschwinden mußte.
So hat denn Brecht - zum Unterschied von Meyerhold, der für
seine Überzeugung starb - den Stalinismus überlebt. Der Standort
seines Theaters unmittelbar an der Grenze zur freien Welt, der un-
verbindliche, eine gewisse Narrenfreiheit sichernde Status des Sym-
pathisant, des »parteilosen Bolschewiken«, seine statt der DDR-
Bürgerschaft erworbene österreichische Staatsangehörigkeit - all
diese sorgsam zwischen sich und dem Regime eingeschalteten »Ver-
fremdungen« haben zu diesem Überleben ebenso beigetragen wie ein
die Grenzen des Anstands leider oft genug überschreitender Byzan-
tinismus. Er hat viele seiner Stücke umgeschrieben und verfälscht.
Er ist nicht müde geworden, Ergebenheitserklärungen gegenüber der
sowjetischen Besatzungsmacht und der von ihr eingesetzten Regie-
rung abzugeben (- ein deutscher Hamsun). Er hat, zumindest öffent-
lich, den Mund gehalten, wenn seine engsten Mitarbeiter verhaftet
oder zur Flucht getrieben wurden. Charakteristisch für seine ganze
zwiespältige Haltung war sein Verhalten nach dem Volksaufstand
vom 17. Juni 1953. Wohl nahm er gegen die Zensur Stellung und
veröffentlichte eine hübsche Satire folgenden Wortlauts

»Das Amt für Literatur mißt bekanntlich den Verlagen


unserer Republik das Papier zu, soundso viele Zentner
des seltenen Materials für willkommene Werke.
Willkommen
sindWerke mit Ideen,
die dem Amt für Literatur aus den Zeitungen bekannt sind.

192
<

Diese Gepflogenheit
müßte bei der Art unserer Zeitungen
zu großen Ersparnissen an Papier führen, wenn
das Amt für Literatur für eine Idee unserer Zeitungen
immer nur ein Buch zuließe. Leider
läßt es so ziemlich alle Bücher in Druck gehen, die eine Idee
der Zeitungen verarzten.
So daß
für die Werke manchen Meisters
dann das Papier fehlt.«

Aber in derHoffnung auf eben diese paar Zentner Papier machte


sich Brecht andererseits dem Regime auf bemerkenswerte Weise
nützlich, indem er es zur Niederwerfung des Arbeiteraufstandes be-
glückwünschte (er hatte ja für eine echte Revolution nie viel übrig
gehabt). Dabei fügte er freilich seiner Adresse den Wunsch an, das
Regime möchte die Zügel in Zukunft vielleicht doch etwas lockerer
handhaben. Die SED jedoch sinnierte nicht lange über Brechts Ver-
klausulierungen, sie fragte wie der Knecht Matti im >Puntila< schlicht:
Wer wen?, strich in dem Schreiben alle Einschränkungsformeln weg
und veröffentlichte es so im Zentralorgan. Da stand denn - während
ringsum die Standgerichte zusammentraten und die Häscher des
Staatssicherheitsdienstes Aberhunderte von Arbeitern in die Zucht-
häuser und Lager schleppten - nackt, ungeschminkt und eindeutig zu
lesen: »An Walter Ulbricht. Es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen in die-
sem Augenblick meine Verbundenheit mit der Sozialistischen Ein-
heitspartei Deutschlands auszudrücken. Bertolt Brecht.« Es hat ihm
nicht viel genützt; noch im Frühjahr 1956, zweieinhalb Jahre nach
dem Kniefall, mußte er in einer Rede resigniert konstatieren: »Die
Theater der DDR gehören - betrüblicherweise, von meinem Stand-
punkt aus - zu den wenigen Theatern in Europa, die meine Stücke
nicht aufführen . . .«
Aber vielleicht konnte sich der Dichter wie weiland sein Galilei
durch all die Demütigungen, Entwürdigungen und Kompromisse
eine Möglichkeit produktiven Schaffens erkaufen, wie er sie nir-
gendwo sonst gefunden hätte? Vielleicht birgt sein Nachlaß köstliche
Schätze als süße Frucht der bitteren Selbstaufgabe? In der Tat gibt
es in diesem Nachlaß einige Verse und Satiren, die von dem heim-
lichen Unbehagen des Dichters am SED-Staat Zeugnis ablegen, aber
ein großes, bedeutendes Werk ist offensichtlich nicht darunter. Das
Exempel muß erst noch statuiert werden, daß einer sein mensch-
liches Gewissen preisgeben und sein künstlerisches doch bewahren
kann. (Es ist ja ein Unterschied, ob es die Fallgesetze oder die der
menschlichen Seele zu ergründen gilt.) So bleibt denn als ganze
Ernte der sieben mageren Jahre Ostberliner Aufenthalts nur ein ein-
ziges eigenständiges szenisches Werk: >Der Herrnburger Bericht

*93
Das oratorische Werk (Musik Paul Dessau) geht auf den Vorfall
:

zurück, daß westdeutsche Jungkommunisten einmal von der Polizei


aufgehalten wurden, als sie von einer Demonstration in Ostberlin,
dem »Pfingsttreffen 1950«, zurückkamen. Das wird in einer »Ballade
für Chor« so besungen:
»Zu Herrnburg hinterm Schlagbaum
beginnt der Bonner Staat:
Bluthunde streichen schnuppernd
um Fallgrub und Stacheldraht.

Die Bonner Polizisten,


sie halten Kind um Kind,
sie wollten kontrollieren,
ob sie nicht verpestet sind.

Auf daß sie nicht ansteckten


das ganze deutsche Land
mit einer großen Seuche,
Friede genannt.

Die Bonner Polizisten,


sie stehen Mann um Mann.
Da fingen deutsche Kinder
plötzlich zu lachen an.

Da lachten plötzlich im Umkreis


dieBäume und Hunde mit,
und Kinder und Bäume und Hunde
lachten laut zu dritt.

Der Mond, er trat aus den Wolken


und sah ein lachendes Heer,
und wie er die Polizisten sah,
da lachte auch er.

Der Mond, er hielt über Hamburg


und auch über Leipzig Wacht,
und die Fahnen waren so blau wie
die schöne Maiennacht!«

Die an der Grenze aufgehaltenen FDJler geben ihrer optimisti-


schen Stimmung u. a. in einem »Spottlied« Ausdruck:

»Hoch zu Bonn am Rheine sitzen zwei kleine


böse alte Männer, die die Welt nicht mehr verstehn.
Zwei böse Greise, listig und leise,
möchten gern das Rad der Zeit nochmals nach rückwärts drehn.

Schumacher, Schumacher, dein Schuh ist zu klein,


inden kommt ja Deutschland gar nicht hinein.

194
! !

Adenauer, Adenauer, zeig deine Hand:


Um dreißig Silberlinge verkaufst du unser Land.«

»Aus dem Kessel von Herrnburg gingen alle anders weg, als sie
gekommen waren«, verkündet schließlich ein Sprecher. (Das Spiel
istin der Art der Lehrstücke mit Kommentierungsapparat und Film-
einlagen ausgestattet.) Danach wird gesungen:

»Erzählt den Brüdern und Schwestern,


daß wir aufgebrochen sind.
Was soll uns die Wurst von gestern
und vom vorigen Jahr der Wind?
Refrain: Schneid dir dein Haar,
wie schön es auch war
jetzt kommt ein neues Jahr.

Zu uns die neuen Gedanken


Alles zu uns, was jung!
Und ein Gruß von Josef Stalin
und ein Gruß von Mao Tse-tung
Schneid dir dein Haar . . .«

Bertolt Brecht starb am 14. August 1956. Als die aus hohen Wür-
denträgern des Regimes gebildete »Beisetzungskommission« sich
anschickte, das übliche pompöse Staatsbegräbnis auszurichten, fand
sie einen Brief des Dichters vor »Im Falle meines Todes möchte ich
:

nirgends aufbewahrt und öffentlich ausgestellt werden. Grab Am


soll nicht gesprochen werden. Beerdigt werden möchte ich auf dem
Friedhof neben dem Haus, in dem ich wohne, in der Chausseestraße.«
Und als eine der letzten Äußerungen, die dieser hintergründigste
aller deutschen Poeten den »Nachgeborenen« hinterließ, ist ein
Wort an einen Bekannten aus der sowjetzonalen Prominenz über-
liefert: »Schreiben Sie, daß ich Ihnen unbequem war und un-
bequem zu bleiben gedenke. Es gibt da auch nach meinem Tode noch
gewisse Möglichkeiten .«. .
Das Sowjettheater heute

O Wechsel der Zeiten!


Du Hoffnung des Volks!
Brecht

Nach dem XX. Parteitag 1956 in Moskau, auf dem Chruschtschow


seineGeheimrede gegen Stalin hielt, fand man im theoretischen
Organ der Kommunistischen Partei der Sowjetunion >Kommunist<
eine beiläufige Bemerkung zur sowjetischen Literaturgeschichte:
»In bezug auf einige Schriftsteller wurden die Normen der sozialisti-
schen Gesetzlichkeit verletzt, und die Werke, die sie geschrieben
hatten, gerieten aus dem Gesichtskreis der Literaturforscher. Gegen-
wärtig haben wir die Möglichkeit, das Bild der Entwicklung unserer
Literatur voll und ganz wiederherzustellen. In ihr müssen Schrift-
steller wie ... I. Babel, B. Jasienski, W. Kirschon, I. Mikitenko und
andere ihren rechtmäßigen Platz finden.« Etwa zur gleichen Zeit
wurde bekanntgegeben, daß das Institut für Geschichte der Künste
bei der Akademie der Wissenschaften der UdSSR gemeinsam mit
der Allrussischen Theatergesellschaft eine Kommission gebildet
habe, um das Erbe des Theaterregisseurs W. E. Meyerhold zu be-
treuen und auszuwerten. Die beschlagnahmten Regiebücher und
Stenogramme von Vorträgen Meyerholds wurden veröffentlicht.
Auf dem Spielplan des Moskauer Theaters der Satire erschienen
Majakowskis Satiren >Die Wanze < und >Das Schwitzbad <, deren
Verbot 1930 Anlaß zum Selbstmord des Dichters war. Im Maja-
kowski-Theater, einst Meyerholds Theater der Revolution, führte
Ochlopkow >Die Aristokraten < von Pogodin auf, eine makabre Ko-
mödie von der Zwangsarbeit beim Bau des Ostsee- Weißmeer-Kanals,
die er schon vor zwanzig Jahren, unmittelbar vor Beginn der Säu-
berung, in Szene gesetzt hatte. Nicht nur, daß Ochlopkow die alte
Inszenierung bis ins Detail nachgestaltete, er setzte sogar denselben
Hauptdarsteller ein. Erdmanns >Mandat<, eine bitterböse Abrech-
nung mit der Funktionärsbürokratie, deren Aufführung einst ein
Grund für den Sturz Meyerholds war, wurde getreu nach der histori-
schen Inszenierung rekapituliert. Die Einstudierung besorgte Garin,
ein überlebender Meyerhold-Schauspieler, der in der neuen wie
schon in der alten Aufführung die Hauptrolle spielte. Ebenso er-
schienen Fajkos >Mann mit der Aktentasche <, Bulgakows >Tage der
Turbins<, Wischnewskis >Erste Reiterarmee < und >Das goldene
Kalb< von Ilf und Petrow (eine Fortsetzung der berühmten >Zwölf
Stühle <), Stücke, die seit langem aus dem Repertoire der Sowjet-
bühnen verschwunden waren, wieder im Rampenlicht.
Auf einem Plenum der Allrussischen Theatergesellschaft fragte
Nikolaj Ochlopkow, der bedeutendste Überlebende des Revolu-
tionstheaters, dessen Stil noch heute den Einfluß Meyerholds ver-
rät, wie es komme, daß in so vielen sowjetischen Theatern »Flügel-
lahmheit, Kleinigkeitsrealismus und Eintönigkeit« herrschten. War-

196
um man bei den Aufführungen kein schöpferisches Feuer spüre,
keine Begeisterung und keinen Schwung. Und er sprach offen aus,
daß an dieser Misere des Sowjettheaters die Herrschaft des Stani-
slawski-Systems schuld sei, »wie es von seinen Schülern Toporkow
und Kedrow auf ihre Art interpretiert wurde«. Der Regisseur Wa-
leri Bebutow, Meyerhold-Schüler, rief aus »Es wird Zeit, daß wir
:

uns die schlichte Wahrheit zu eigen machen, daß nicht der Schau-
spieler für das > System <, sondern das > System < für den Schauspieler
da ist. Es ist Zeit zu begreifen, daß das System Stanislawskis keines-
wegs der einzige Schlüssel zu den dramatischen Schöpfungen aller
Zeiten ist . Und schließlich wird es Zeit, daß man aufhört, die
. .

Schauspieler und Regisseure, die ihren eigenen Weg gehen und


durch ihre Erfahrungen und ihr Suchen die Kunst des viele Nationali-
täten umfassenden sowjetischen Theaters bereichern, verächtlich als
Formalisten zu bezeichnen.« Die Wachtango w-Schüler Rüben Si-
monow und Boris Sachawa griffen das Stanislawski-System vom
Standpunkt ihres Meisters aus an.
Im Antlitz des sowjetischen Theaters begann sich ein Wandel ab-
zuzeichnen. »Hier wird herrliches entfesseltes Theater < geboten,
eine Fülle graziöser und bissiger Einfälle, wie sie Tairow, Meyer-
hold, Obraszow auf die Bretter gebracht haben«, schrieb Lilly Be-
cher, die Frau des Kulturministers der DDR, nach einem Besuch in
Moskau 1956. Erstmals gab es wieder Inszenierungen von Weltrang,
Inszenierungen, die an die Tradition des Revolutionstheaters an-
knüpften, eine originelle Handschrift des Regisseurs auswiesen und
zu schöpferischen Diskussionen Anlaß gaben. Als Beispiele seien ge-
nannt: die spritzige, mit Film, Feuerwerk und Jazz servierte Auf-
führung der Majakowski-Stücke durch ein Regiekollektiv des Thea-
ters der Satire unter Plutschek; Ochlopkows >Hamlet<, gespielt auf
der durch mächtige Eisenträger in quadratische Spielfelder geteilten
Bühne des Majakowski-Theaters; die Saltykow-Schtschedrin-Dra-
matisierung >Pompadour und Pompadourin < von Akimow in der
nun wieder von ihm geleiteten Leningrader Komödie, eine Inszenie-
rung, die mit ihren grotesken Einfällen unserem absurden Theater
die Hand reicht; schließlich der Durchbruch des jungen Regisseurs
Towstogonow mit einer leidenschaftlich bewegten, von revolutio-
nären Rhythmen und epischer Technik getragenen Darstellung der
optimistischen Tragödie < von Wischnewski im Puschkin-Theater
Leningrad. Ein anderer junger Mann, Oleg Jefremow, verließ das
Künstlertheater und gründete erstmals wieder eine Experimentier-
bühne, das Studio Der Zeitgenosse in Moskau. Ein weiteres anre-
gendes Element kam ins sowjetische Theaterleben durch das Gast-
spiel des Berliner Ensembles, der Truppe des inzwischen verstorbe-
nen Bert Brecht, im Sommer 1957 in Moskau und Leningrad. Erst-
mals wurde eine Auswahl Brechtscher Stücke in der Sowjetunion ge-
druckt; 1959 erschien zum ersten Mal seit 1930, seit Tairows Ein-
studierung der >Dreigroschenoper<, ein Werk von Brecht auf einer

*97
Moskauer Bühne, >Die Gesichte der Simone Machard <; 1961 folgte
im Majakowski-Theater ein Hauptwerk des Dichters, >Mutter Cou-
rage <.
Der Gedankengang, der die sowjetische Führung zur Wiederbele-
bung der Revolutionskunst bewog, schien einleuchtend. Man war
sich darüber klargeworden, daß Stalin und Shdanow mit ihrer eng-
stirnigen Kulturpolitik die in den zwanziger Jahren blühende So-
wjetkunst zerstört haben. Dem kulturellen Leben in der Sowjetunion
wie dem internationalen Ansehen des Bolschewismus wurde dadurch
unermeßlicher Schaden zugefügt. Wenn man nun die kleinlichen
Schikanen und ständigen Eingriffe in den schöpferischen Prozeß der
Künstler unterläßt - so ging die Überlegung -, müßte man doch die
große Kunst der sowjetischen Frühzeit wiedererwecken können.
Sollen die Schriftsteller und Künstler ruhig experimentieren und for-
malen Extravaganzen nachgehen, sollen sie ruhig Kritik an einzel-
nen Mißständen der Sowjetgesellschaft, an »Überresten des Kapi-
talismus« und »bürokratischen Auswüchsen« üben - wenn sie nur zu
Ruhm und Ehre des kommunistischen Regimes schaffen. Mit dem
Zugeständnis formaler Freizügigkeit und thematischer Bereicherung
kam die sowjetische Führung zugleich den Ansprüchen der inzwi-
schen herangewachsenen neuen Oberschicht entgegen, der Sowjet-
bourgeoisie von Managern, Technikern und Offizieren, die das as-
ketische Ideal der Berufsrevolutionäre und Apparatschiki weit hinter
sich gelassen haben.
Es erwies sich jedoch sehr bald, daß das Revolutionstheater nicht
zu restaurieren ist. Die Kunst jener Epoche bezog ihre Überzeu-
gungskraft und Ausdrucksgewalt aus dem Pathos der damals noch
ungebrochenen revolutionären Illusionen. Sie stellte die Qualen und
Widersprüche der Zeit mit schonungsloser und unerbittlicher Auf-
richtigkeit dar und legitimierte sie aus dem inbrünstigen Glauben an
das Herannahen einer besseren Weltordnung. Stalin und Shdanow
haben diese Kunst nicht aus Mutwillen oder bloßem Banausentum
zerstört. Sie spürten mit mehr Instinkt als Verstand, daß sich die re-
volutionäre Aussage in dem Augenblick gegen den Bolschewismus
selbst richten mußte, als sich dessen Menschheitsbefreiungsträume
zur Prosa der Sowjetgesellschaft materialisierten. Und alles das, was
die revolutionäre Kunst der zwanziger Jahre für den Stalinismus un-
annehmbar machte: ihre Wahrheitsliebe, ihre Anprangerung allen
Übels, wo immer es auftritt, und ihr leidenschaftlicher Wille zur Ver-
änderung der Welt, trennt sie auch vom nachstalinistischen Sowjet-
system. Das Tauwetter der stürmischen Jahre 1953 bis 1957 hat ge-
zeigt, daß jede Kunstäußerung, die der Wahrheit die Ehre gibt, an
den Grundfesten der Parteiherrschaft rüttelt. So sah sich denn die
Partei gezwungen, die gesellschaftskritischen und avantgardistischen
Impulse zu dämpfen, einige besonders aggressive Stücke (Sorins
>Gäste<, Wirtas >Untergang des Pompejew<, Pogodins >Wir drei
fuhren ins Neuland <) zu verbieten und die Hegemonie des Stani-

198
slawski-Systems, diesen Felsen der Parteiideologie im Theaterleben,
wieder zu stabilisieren.
Aber selbst wenn die Partei eine freie Entwicklung des sowjeti-
schen Theaters gestattete, kämen die zwanziger Jahre nicht wieder. Das
Revolutionstheater ist eine historisch abgeschlossene, unwiederhol-
bare Epoche. Die sowjetischen Theaterkünstler bekannten sich zur
heroischenVergangenheit lediglich, um mit dem Stalinismus abzurech-
nen und die dogmatischen Schranken aufzubrechen. Im übrigen zeig-
ten sie wenig Lust, zur Ekstatik und dem politischen Pathos der zwan-
ziger Jahre zurückzukehren. Selbst für die Auflehnung gegen die Dik-
tatur waren die Mittel des alten Revolutionstheaters nicht zu gebrau-
chen, denn es handelte sich diesmal nicht um die Emanzipation einer
Idee, sondern um die Emanzipation des Menschen. Alle Tauwetter-
werke, in der Sowjetunion wie in den Volksdemokratien, waren kri-
tisch statt pathetisch, gestalteten das Individuum und nicht die Masse.
Die sowjetischen Theaterkünstler sind, wie G. Towstogonow ein-
mal sagte, »überzeugte Anhänger der Wahrheit, aber der Wahrheit,
die heute gilt«. Sie drängen, wie die Diskussionen und stilbildenden
Inszenierungen der letzten Jahre erkennen lassen, zum Spieltheater
Wachtangows, zum poetischen Realismus des späten Meyerhold und
zur buffonesken Gesellschaftskritik Majakowskis; damit eine Ent-
wicklung wiederaufnehmend, die das Sowjettheater bereits Ende der
zwanziger Jahre einschlug, die aber von der Diktatur brutal ab-
gebrochen wurde. Das Wort Ochlopkows, er erstrebe ein »demo-
kratisches Theater«, bekommt einen tiefen Sinn, wenn man bedenkt,
daß die spielerisch-komödiantischen, poetisch-musikalischen und
buffonesken Elemente, die Meyerhold, Tairow, Wachtangow und
Majakowski einst kreierten, heute die Bühnen der ganzen freien
Welt beherrschen. So mündet denn - zögernd, oft unbeholfen, mit
Rückschlägen und Restriktionen kämpfend - das sowjetische Thea-
ter wieder in die Bewegung des modernen Welttheaters ein. Der Be-
freiungsprozeß wird freilich erst vollendet sein, wenn die Partei ihre
politische Herrschaft über die Kunst aufgegeben hat.
In Polen, aber auch in Ungarn und der Tschechoslowakei ist die
Entwicklung schon weiter fortgeschritten, der Anschluß an das mo-
derne Welttheater in vieler Hinsicht schon gefunden. In der sowje-
tisch besetzten Zone Deutschlands, der sogenannten DDR, herr-
schen nach wie vor die alten stalinistischen Zustände. Allein 1957 bis
1959 wurden 22 Intendanten abgelöst, weil sie im Tauwetter opposi-
tionellen Tendenzen Raum gegeben hatten. 1963 mußte der Inten-
dant des Deutschen Theaters in Ostberlin, Wolfgang Langhoff, den
Abschied nehmen, weil er das linienwidrige Stück >Die Sorge und
die Macht < von Peter Hacks aufgeführt hatte. Von der Rehabilitie-
rung des Revolutionstheaters ist nichts als eine Wiederbelebung der
Agitprop-Gruppen geblieben, jener darstellerisch wie literarisch pri-
mitiven Laienspielscharen, von deren Holzhammer-Agitation sich
Meyerhold und Piscator schon vor dreißig Jahren distanzierten. So-

199
genannte Arbeiter- und Bauernensembles überschwemmen das
mitteldeutsche Kulturleben. Sogar die Reglementierung Brechts
wird fortgesetzt: >Die Tage der Commune <, 1951 verboten, wurden
1962 von dem letzten in Ostberlin verbliebenen Brecht-Schüler Wek-
werth so umgeschrieben, daß der Barrikadenbau 1871 in Paris auf
eine Rechtfertigung des Mauerbaus 1961 in Berlin hinauskommt.
Nachbemerkung

Diese Ausgabe geht auf das Buch >Das gefesselte Theater < (1957)
zurück. Sie enthält die beiden ersten, wesentlichen Teile des Origi-
nals die Darstellung des russischen und des deutschen Revolutions-
:

theaters. Diese Abschnitte sind in einigen Punkten ergänzt und auf


den neuesten Stand gebracht worden. Beispielsweise konnte die späte
ScharTensphase des großen, von Stalin liquidierten Regisseurs Meyer-
hold erst jetzt gebührend gewürdigt werden, da seine Vortrags-
manuskripte und Regiebücher von der Geheimpolizei beschlag-
nahmt waren und erst im Zug der Entstalinisierung freigegeben
wurden. Verzichtet wurde auf das Kapitel über den Ostberliner
Opernregisseur Felsenstein und auf den gesamten dritten Teil des
>Gefesselten Theaters <, der vornehmlich die Dramatik und die kul-
turpolitischen Praktiken der Stalinzeit beschrieb, über die die Ent-
wicklung inzwischen hinweggegangen ist. Stattdessen wurde der
Abschnitt >Das Sowjettheater heute < hinzugefügt, der ein Bild von
der gegenwärtigen Theatersituation im Ostblock gibt.
Register

Äschylos 20 Borodin, Alexander, Komponist


Afinogenow, Schriftsteller >Die Recken< 101
>Der Sonderling < 115 Bosch, Hieronymus 126
Akiraow, Nikolaj, Regisseur 96, 106 Brahm, Otto, Regisseur und Kritiker 44
>Pompadour und Pompadourin < 197 Brando, Marlon, Schauspieler 156
>Aladin und die Wunderlampe < 124 Brecht, Bertolt 70 f., 117, 139, 144 f., 152, 159
Albakin, N. bis 195, 196 f.

>Das Stanislawski-System und das Sowjet- > Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny<
theater < 59, 62 f. 171 f.

Altmann, Bühnenbildner 98 >Baal< 1590"., 163 ff., 168


Altmeier, Jakob 135 >Badener Lehrstück vom Einverständnis <
Andrejew, Schriftsteller 50, 55 174 fr.

>Das Leben des Menschen< 50 >Das Verhör des Lukullus< 186 ff.

Andrejewa, Schauspielerin 79 >Der Flug der Lindberghs< 174 ff.


Annenkow, Maler 65 >Der gute Mensch von Sezuan< 180
Anski, Schriftsteller >Der Herrnburger Bericht < 193 f.

>Der Dybuk< 91, 98 >Der Jasager < 174, 177


Antoine, Andre\ Regisseur 44, 79 >Der Kaukasische Kreidekreis < 190 f.

Alexander II., russ. Zar 12 >Der Neinsager < 177


Appen, Karl von, Bühnenbildner 190 >Die Dreigroschenoper < 88, 158, 170 f., 178,
Auber, D. F., Komponist 197
>Die Stumme von Portick 85 >Die Gesichte der Simone Machard< 198
>Die heilige Johanna der Schlachthöfe <
Babanowa, Maria, Schauspielerin 75 f. 173 f., 178
Babel, Isaak, Schriftsteller 103, 196 >Die Maßnahme< 149, 154, 174, 177, 179
Bahn, Roma, Schauspielerin 170 >Die Mutter < (nach Gorki) 154 f., 184 ff.
Balzac, Honore" de, Dichter 32 >Die Tage der Commune< 186, 200
Balturschaitis, Schauspieler 79 >Dreigroschenfilm< 158, 171
Baratoff, Paul, Schauspieler 146 >Dreigroschenroman< 171
Barbusse, Henri, Schriftsteller 34, i 14 >Herr Puntila und sein Knecht Matti< 181,
Barta, Lajos, Schriftsteller 193
>Rußlands Tag< (gemeinsam mit Piscator- >Im Dickicht der Städte < 166 ff.
Kollektiv) 132 >Kuhle Wampe <, Film (mit Ernst Ottwald)
Bebutow, Waleri, Regisseur 197 155
Becher, Johannes R., Schriftsteller 160, 164 >Leben des Galilei < 178, 182 f.

>Der große Plan< 153 >Mann ist Mann< 168 f., 176 f.

Becher, Lilly 197 >Mutter Courage und ihre Kinder < 183, 198
Bedny, Demjan, Dichter 76, 101 >Schweijk im Zweiten Weltkrieg < 144
Belinski, russ. Revolutionär 20 >Trommeln in der Nacht< 161 ff., 169
Benois, Maler 51, 55 Brod, Max, Schriftsteller 144
Berger, Henning, Schriftsteller Bronnen, Arnolt, Schriftsteller 164
>Sintflut< 90 >Die rheinischen Rebellen < 131 f.

Berger, Ludwig, Regisseur 127 Bucharin, Nikolai, Sowjet. Politiker 36


Bernhardt, Sarah, Schauspielerin 77, 79 Büchner, Georg
Bethmann Hollweg, Theobald von, dt. Reichs- >Dantons Tod< 128
kanzler 136 Bulgakow, Schriftsteller
Bienert, Gerhard, Schauspieler 155 >Die Tage der Turbins< 57, 196
Bildt, Paul, Schauspieler 138, 183 Burri, Emil, Regisseur 155
Binder, Sybille, Schauspielerin 142 f., 147 Busch, Ernst, Schauspieler 147, 155, 170, 190
Bloch, Jean Richard, Schriftsteller Byron, Lord
>Der letzte Kaiser < 147 >Kain< 55
Block, Alexander, Dichter 69, 91
>Die Schaubude < 69 Castro, Fidel, cuban. Staatschef 66
Bogdanow, Sowjet. Revolutionär und Theore- Chagall, Marc, Maler 98
tiker 24, 133 Chaplin 119
Bois, Curt, Schauspieler 145 Chatschaturian, Komponist 106

202
1

Cheney, Stewart 78 Faber, Erwin, Schauspieler 138, 168


Chesterton, G. K., Schriftsteller Fadejew, Alexander, Schriftsteller
>Der Mann, der Donnerstag war< 87 >Dic junge Garde < 97
Chmeljow, Schauspieler und Regisseur 57, 63, Fajko, Schriftsteller
96 >Der Mann mit der Aktentasche < 196
Chronegk, Regisseur 44 Falckenbcrg, Otto, Regisseur 127, 162
Chruschtschow 196 Faworski, Maler 112
Claudel, Paul, Dichter 87 Fehling, Jürgen, Regisseur 127
>Verkündigung< 82 Felsenstein, Opernregisseur 201
Craig, Gordon, Regisseur 52, 73, 80 Ferdinandow, Regisseur 88
Credo, Schriftsteller Foregger, Regisseur 78
>Paragraph 2i8< 148 Franz Joseph, österr. Kaiser 143
Crommelynck, Schriftsteller Fuchs, Georg, Regisseur 80
>Der großartige Hahnrei < 75 Fülöp-Miller, Schriftsteller 64, 99
Csokor, Schriftsteller
Gesellschaft für Menschenrechte < 153 Garin, Schauspieler 76
Curie, Pierre, Chemiker 16 Garschin, Schriftsteller 68
Gasbarra, Mitarbeiter Piscators 135, 142, 144,
Dante 126
Dawydow 79 >Trotz alledem < (mit Piscator) 136
Debussy, Claude, Komponist Gaugier, Hans, Schauspieler 190
>Die Spielzeugschachtel < 82 Gay, John
>Der ewige Jude< 98 >The Beggar's Opera< 170
>Der Golem < 98 Genschow, Fritz, Schauspieler 139
Dessau, Paul, Komponist 186, 188, 190, 194 Georg II., Herzog von Sachsen-Meiningen 44
Deutsch, Ernst, Schauspieler 147 George, Heinrich, Schauspieler 138 ff.

Dickens, Charles Germanowa, Schauspielerin 55


>Heimchen am Herd< 90 Gerron, Kurt, Schauspieler 158, 170
Diki, Alexander, Regisseur 95, 103 Giehse, Therese, Schauspielerin 183
Disney, Walt, Filmregisseur 120 Glasunow, Alexander, Komponist 69
Djaghilew-Ballett 51 Glinka, Michail, Komponist
Dobroljubow, russ. Revolutionär 20 >Das Leben für den Zaren < (>Iwan Sussanin<)
Dobushinski, Maler 5 101
Dore, Gustave, Maler 126 Goering, Reinhard, Schriftsteller 158
Dostojewski, F. M., 15 f., 22, 24, 50, ioi >Die Seeschlacht < 128
>Die Dämonen < 16 Goethe 20
Dsershinski, Gründer und Chef der Tscheka 26 >Faust< 35, 174
Dsershinski, Komponist >Urfaust< 189
>Der stille Don< 102 Gogol, Nikolai
Dudow, Slatan, Regisseur 154 f. >Der Revisor < 76 f.
Dumas, Alexandre, Schriftsteller >Die Nacht vor dem Weihnachtsfest < 125
>Die Kameliendame < 77, 104 >Die toten Seelen« 55, 76, 104, 126
Duncan, Isadora, Tänzerin 5 2 Goldoni, Carlo
Duncker, Hermann, komm. Theoretiker 151 >Der Fächer < 84
Durieux, Tilla, Schauspielerin 140, 143 ff. Golowin, Maler 69
Düse, Eleonora, Schauspielerin 79 Gorki, Maxim (eigentl. Alexej Maximowitsch
Peschkow) 7-38, 45, 47, 49, 55 f., 89 ff., 94 f.,

Ebert, Carl, Schauspieler 138 114, 123, 184


Ebert, Friedrich, dt. Reichspräsident 1 36 >Das Mädchen und der Tod< 35
Ehrenburg, Uja, Schriftsteller >Der Alte< 16
>Der Trust D. E.< 74 >Der Vagabund < n
Eisenstein, Sergej, (Film-)Regisseur 78 f., 107 >Die Barbaren < 15
Eisler, Hanns, Komponist 146, 151, 154 f., 177, >Die Feinde< 17, 20 f., 23, 32, 102, 132
184 >Die Kleinbürger < 13 f., 133
Engel, Erich, Regisseur 127, 168, 170, 183 >Die Letzten < 15
Engels, Friedrich 20 f. >Die Mutter< 17 ff., 21, 23 f.

Exter, Bühnenbildner 83 >Die Sykows< 15


Erdmann, Nikolaj, Schriftsteller 101, 103 >Dostigajew und andere < 32
>Der Selbstmörder < 100 >Jegor Bulytschow und andere < 32, 95
>Das Mandat < 196 >Kinder der Sonne < 1$, 27, 47

203
1

>Nachtasyl< 7 ff., 13, 47 ff., 62, 90, 115, 137 f. Ibsen, Henrik 43, 50, 62
>Rjabinin und andere < 32 >Der Volksfeind < 42 ff.

>Sommergäste< 15 Ihering, Herbert, Kritiker 138, 142, 186


>Somow und andere < 27, 32 Ihle, Peter, Schauspieler 138
> Sonderlinge < 15 Ilf, Satiriker 125, 196
>Wassa Shelesnowa< 32, 34 >Das goldene Kalb< (mit Petrow) 196
Gozzi, Carlo 63, 118 >Zwölf Stühle < (mit Petrow) 196
>Prinzessin Turandot< 91 ff., 95, 114 f. Ilinski, Igor, Schauspieler 75 f.

Grabbe, Christian Dietrich 160 Iwanow, Regisseur 105


Graetz, Paul, Schauspieler 142 Iwanow, W. W., Schriftsteller 35
Granach, Alexander, Schauspieler 138, 142 f., >Panzerzug 14-69 < 35, 57, 95
153 f., 169 Jagoda, H. G., Chef des MWD, 36 f.

Grandville, Maler 126 Jakulow, Bühnenbildner 83


Granowski, Alexander, Regisseur und Theater- Jasienski, Bruno, Schriftsteller 103, 196
leiter 98 f., 103 Jaures, Jean, frz. Sozialist 17
Gregor, Schriftsteller 87 Jefremow, Oleg, Regisseur 197
Greif, Heinz, Schauspieler 146 Jegorow, Maler 5
Gribojedow, Dichter 104 Jelagin, Juri, Musiker und Schriftsteller
Gropius, Walter, Architekt 141 >Die Zähmung der Künste < 73, 77, 91, 96,
Grosz, George, Maler und Zeichner 137, 139, 103
144 f. Jeshow, Nikolai, Chef der sowjet. Geheimpoli-
Gründgens, Gustaf, Regisseur 173 zei 106
Gumiljow, Nikolaj, Schriftsteller 91 Jessenin, Sergej, Dichter 106
Gutzkow, Karl, Schriftsteller 45 Jeßner, Leopold, Regisseur 127, 130-132, 139^,

Hacks, Peter, Schriftsteller Jewreinow, Nikolai, Regisseur 64 f., 86, 103


>Die Sorge und die Macht < 199 Johst, Hanns, Schriftsteller 164
Hamsun, Knut 164, 192 >Der Einsame < 160
> Spiel ins Leben < 50 Jung, Franz, Schriftsteller
Hasek, Jaroslav, Schriftsteller >Die Kanaker< 132
>Die Abenteuer des braven Soldaten >Wie lange noch, du Hure, bürgerliche Ge-
Schwejk< 144 rechtigkeit < 132
Hasenclever, Walter, Schriftsteller 158 Jussupow, Fürst 143
>Antigone< 87
Hauptmann, Gerhart 45, 50 Kaganowitsch, L. M., sowjet. Politiker 63
>Friedensfest< 90 Kaiser, Georg, Schriftsteller 162
Heartfield, John, Bühnenbildner 136, 148 Kalidasa
Heinz, Wolfgang, Schauspieler 169 >Sakuntala< 84
Herald, Heinz, Schriftsteller 128 Kaiser, Erwin, Schauspieler 138 f., 143
Hilpert, Heinz, Regisseur 127 Kamenew, L., sowjet. Politiker 25, 36
Hindemith, Paul, Komponist 174 f. Kamenski, Wassili, Schriftsteller
Hinz, Werner, Schauspieler 183 >Stepan Rasin< 85
Hiob, Hanne, Schauspielerin 173 > Kampf und Sieg der Sowjets < 65

Hippius, Sinaida, Schriftstellerin Karchow, Ernst, Schauspieler 138 f.

>Der grüne Ring< 96 Katz, Otto (Andre" Simone) 141


Hirschfeld, Kurt, Regisseur 181 Katzenellenbogen, Berliner Fabrikant 140
Hitler 27, 35, 123, 158, 166, 179 Kayßler, Friedrich, Schauspieler 43
Hoffmann, E. T. A., Schriftsteller und Kom- Katschalow, Wassili, Schauspieler 48, 52, 57
ponist 20 Kedrow, Regisseur 106, 197
>Prinzessin Brambilla< 82, 84, 86 f. Kellermann, Bernhard, Schriftsteller
Hofmannsthal, Hugo von >Der Tunnel < 74
>Elektra< 69 Kerenski, Alexander, russ. Politiker 64
Holl, Intendant der Berliner Volksbühne 137 Kerr, Alfred, Kritiker 17, 45, 142, 189
Holländer, Friedrich, Komponist 151 Kershenzew, Piaton, Theatertheoretiker 65, 133
Homer 126 Kipling, Rudyard
Hübler-Kahla, Mitarbeiter Piscators 142, 144 >Mowgli< 125
Hülgert, Alfred, Sänger 187 Kirschon, Wladimir, Schriftsteller 103, 196
Hurwicz, Angelika, Schauspielerin 183, 190 Knipper, Olga, Schauspielerin 42, 46, 48, 69
>Hymnus der freien Arbeit < 65 Knuth, Gustav, Schauspieler 181
>König Harlekin < 84

204
Kommissarshewskaja, Vera, Schauspielerin Majakowski, Wladimir, Dichter 30, 56, 73, 125,
69 196 f., 199
Koonen, Alice, Schauspielerin 79, 82, 85 >Das Schwitzbad< ioo, 196
Koppenhöfer, Maria, Schauspielerin 138, 168 >Die Wanze < 100, 196
Korolenko, Wladimir, Schriftsteller 7, 12 >Mysterium Buffo< 73 f.
Kotublaj, Xenia, Regisseurin 115, 120 Malenkow, G. M., sowjet. Politiker 30
Kramskoj, Maler 46 Mamontow, russ. Fabrikant 40
Krauß, Werner, Schauspieler 129 Mann, Heinrich, Schriftsteller 139
Kühl, Kate, Schauspielerin 170 Mao Tse-tung 166, 185
Kulisch, Mikola, Schriftsteller 103 Mardshanow, Theaterleiter 80, 82
>Sonata pathetique< 101 Martin, Karl Heinz, Regisseur 127, 139, 147
Kurbas, Les, Regisseur 103 Martinson, Schauspieler 76
Marx 20, 24, 186
Lampel, Peter Martin, Schriftsteller Mehring, Walter, Schriftsteller 147
>Giftgas< 154 >Der Kaufmann von Berlin < 146
>Revolte im Erziehungshaus < 154 Meisel, Edmund, Komponist 136, 141
Langhoff, Wolfgang, Schauspieler und Inten- Meyerhold, Wsewolod, Regisseur und Inten-
dant 97, 183, 199 dant 46, 51, 55, 65, 68-79, 8or"-, 8 5 *"•» 88 ,
Lania, Leo, Schriftsteller 142, 144 90» 92, 94, 97, 100 f., 103 fr., 113 f., 127,
>Konjunktur< 145 f. 132 f., 141, 149 f., 156 f., 185, 192, 196 f.,

Laughton, Charles, Schauspieler 182 199, 201


Lecocq, Komponist Michalkow, Fabeldichter 125
>Girofle-GirofIa< 82, 87 Michoels, Salomon, Schauspieler 98, 106
>Madame Angot< 55 Mikitenko, Iwan, Schriftsteller 103, 196
>Tag und Nacht < 87 Miller, Arthur, Schriftsteller 156
Legal, Ernst, Schauspieler und Regisseur 169 Mjaskowski, Komponist 106
Lenja, Lotte, Schauspielerin 170 Moholy-Nagy, Maler 146
Lenin 7, 16-26, 28, 30, 35 f., 39, 65, 77, 89 f., Moissejew, Igor, Regisseur 126
92, 122, 132 f., 139, 186 Moliere
Parteiorganisation und Parteiliteratur < 19 >Don Juan< 69
Lenz, Jakob, Dichter >Tartuffe< 58
>Der Hofmeister < 190 Molotow, W. L, sowjet. Politiker 63, 101
Leonardo da Vinci 111 Monachow 79
Leonhard, Rudolf, Schriftsteller Monet, Claude, Maler 16
>Segel am Horizont < 137 Monk, Egon, Regisseur 190
Leonidow, Leonid, Schauspieler 5 5 Monnerot 159
Lermontow, M. J., Dichter Morosow, Sawwa, russ. Fabrikant 7, 40
>Maskerade< 69 Moskwin, Iwan, Schauspieler- 42, 48
Leskow, Nikolaj, Dichter 101 Mühsam, Erich, Schriftsteller 158
>Der Floh< 95 >Judas< 153
Lewidow, Schriftsteller Staatsräson < 154
>Die Verschwörung der Gleichen < 101 Müller, Traugott, Bühnenbildner 137, 139,
Lewin, Arzt 37 141 f., 145
Liebknecht, Karl, dt. Politiker 136 Muradeli, Komponist
Lindbergh, Charles A., amerik. Flieger 175 >Die große Freundschaft < 106
Lindtberg, Leopold, Regisseur 127, 146, 153, Mussolini 27, 123, 166
183 Mussorgski, Modest Petrowitsch, Komponist
Lingen, Theo, Schauspieler 155, 169 > Wiegenlied < 118, 125
Lobe, Paul, dt. Politiker 131
Lope de Vega 63 Neher, Carola, Schauspielerin 158
Lorre, Peter, Schauspieler 169 Neher, Caspar, Bühnenbildner 155, 168, 170,
Lürhy, Herbert, Schriftsteller 171 187
Lunatscharski, Volkskommissar für Volksbil- Nemirowitsch-Dantschenko, Wladimir, Re-
dung 23 f., 39, 55, 68, 76, 79, 133 gisseur 33, 40, 43 f., 45 f., 55, 69, 90, 92,
Luxemburg, Rosa, dt. Politikerin 136 102, 112, 115 f.

Nietzsche 10 ff., 22 ff., 26


Mackeben, Theo, Komponist 170 >Also sprach Zarathustra< 7, 164
Maeterlinck, Maurice, Dichter 50, 89 Nikolaus IL, Zar 143russ.
>Das Wunder des St. Antonius < 91, 93 Niwinski, Bühnenbildner 93
>Der blaue Vogel < 88 Noske, Gustav, dt. Politiker 136

205
1

Obraszow, Sergej, Puppenspieler 108-126, 197 Radek, Karl, sowjet. Politiker 36


>Mein Beruf < 113 Raffael 111
Ochlopkow, Nikolaj, Regisseur 96 f., 103, Ramsin, Prof., russ. Wissenschaftler 28
196 199
f., Rehfisch, Hans Josö, Schriftsteller 133
Oelßner, Fred, DDR-Politiker 185 >Wer weint um
Juckenack?< 137
Oertel, Curt, Filmregisseur 139, 141 Reich, Sinaida, Schauspielerin 75 ff., 106, 185
OfFenbach, Jacques, Komponist Reimann, Hans, Schriftsteller 144
>Pericola< 115 Reinhardt, Max, Regisseur 8, 44, 52, 73, 80, 98,
Olescha, Juri, Schriftsteller 103 127-130, 145
O'Neill, Eugene, Schriftsteller 87, 106 Richard, Frieda, Schauspielerin 147
>Gier unter Ulmen < 87 Rodenberg, Hans, Schauspieler 152 ff., 185
>Unterm karibischen Mond< 137 Rodin, Auguste, Bildhauer 16
Orlow, N. (Pseudonym), sowjetzonaler Leit- Röhm, Ernst, SA-Führer 179
artikler 184 Rörich, Maler 5

Ostrowski, Alexander, Schriftsteller Rolland, Romain, Schriftsteller


>Heißes Herz< 55, 104 >Die Zeit wird kommen < 133
>Wald< 75 ff., 104 Roth, Joseph, Schriftsteller 98
Ostrowski, Nikolaj, Schriftsteller 78 Rotter, Gebrüder, Berliner Unternehmer 133
>Wie der Stahl gehärtet wird< 77 Rubiner, Ludwig, Schriftsteller 162
Otto, Hans, Schauspieler 158 Rubinstein, Dimitri, ehem. russ. Generalkon-
Otto, Teo, Bühnenbildner 153, 180 sul 143
Ottwald, Ernst, Schriftsteller 155, 158 Rülicke, Käthe, Mitarbeiterin Brechts 117
Rykow, A., sowjet. Politiker 36
Pallenberg, Max, Schauspieler 144 f.

Paquet, Alfons, Schriftsteller Sacco, amerik. Arbeiterführer 154


>Fahnen< 137 Sachawa, Boris, Regisseur 95 f., 197
>Sturmflut< 137 Saitschikow, Schauspieler 75
Paryla, Karl, Schauspieler 183 Saizew, Iwan, Puppenspieler 124
Paulsen, Harald, Schauspieler 170 Salvini 79
Perewostschikowa, Maria, gen. Lilina, Schau- Samjatin, Schriftsteller
spielerin 44, 46 >Der Floh< 95
Peschkow, M. A. (Gorkis Sohn) 37 Sawadski, Juri, Schauspieler und Regisseur
Petrow, Regisseur 105 93» 96
Petrow, (s. auch Ilf), Satiriker 125, 196 Saz, Ilja, Komponist 50, 55, 103
Picasso 73 Saz, Natalia, Begründerin des sowjet. Kinder-
Pieck, Arthur, Regisseur 150 theaters 103
Pilnjak, Boris, Schriftsteller 36 Schaljapin, F. L, Sänger 79, 110, 116
Piscator, Erwin, Regisseur 127, 132-153, 156 f., Schebalin, Komponist 107
199 Scherchen, Hermann, Dirigent 187
Pissarew, russ. Revolutionär 20 Schüler 63, 66 f.
Pjatakow, sowjet. Politiker 36 >Die Jungfrau von Orleans < 174
Plechanow, G. W., marxist. Theoretiker 18, >Die Räuber < 66, 138, 140
20 f., 23, 25 > Kabale und Liebe < 43
Plivier, Theodor, Schriftsteller >Wilhelm Tell< 130
>Des Kaisers Kulis < 148 Scholochow, Michail Alexandrowitsch, Schrift
Plutschek, Regisseur 197 steller 102
Poelzig, Hans, Architekt 128 Schostakowitsch, Dimitri, Komponist 96, 100,
Pogodin, Schriftsteller 106
>Die Aristokraten < 196 >Lady Macbeth von Mzensk< 101
>Wir drei fuhren ins Neuland < 198 Schtschegolew s. Tolstoj, Alexej
Polgar, Alfred, Kritiker 171 Schtschukin, Boris, Schauspieler 93, 95
Ponto, Erich, Schauspieler 170 Schumacher, Ernst, Kritiker 154, 156
Popow, Alexander, Regisseur 96 Scott, Sir Walter, Dichter 20
Priestley, J. B., Schriftsteller 106 Scribe, A. E., Bühnendichter
Prokofiew, Sergej, Komponist 106 >Adrienne Lecouvreur< 82
Pudowkin, Filmregisseur 107 Seeler, Moritz, Theaterleiter 158
Shakespeare 20, 43, 45, 62 f., 119, 128, 134
Rabinowitsch, Bühnenbildner 98 >Hamlet< 52, 60 f., 95 f.
Racine >Julius Cäsar < 43
>Phädra< 82 >König Lear< 95

206
>Othello< 43 Tolstoj, Graf Leo 7, 11, 14 ff., 19, 22, 45, 89,

>RichardIII.< 130 110


Shdanow, Andrej, sowjet. Politiker 19, 30, 63, >Anna Karenina < 63, 116
106, 198 > Auferstehung < 116
Sidorow, Regisseur 105 >Der lebende Leichnam < 69
Sima, Oskar, Schauspieler 143 >Die Macht der Finstcmis< 43, 45, 133
Simonow, Rüben, Regisseur 96, 197 >Krieg und Frieden< 116
Simow, Bühnenbildner 43, 47 Toporkow, Regisseur 106, 197
Sinclair, Upton, Schriftsteller Towstogonow, G., Regisseur 197, 199
>Prinz Hagen < 132 Trenjow, Schriftsteller

Sinowjew, G., sowjet. Politiker 25, 36 >Ljubow Jarowaja< 102


Sisow, Komponist 93 Tretjakow, russ. Fabrikant 40
Sophokles Tretjakow, Sergej, Dichter 103
>König ödipus< 128 >Brülle,China< 75, 149
Sorge, Reinhard Johannes, Schriftsteller >Die Erde bäumt 6ich< 74
>Der Bettler ( 128 Trotzki 64, 74, 91, 100 f., 107
Sorin, Schriftsteller Tschaikowski, Peter, Komponist 110
>Gäste< 198 >In einer rauschenden Ballnacht < 108
Speelmanns, Hermann, Schauspieler 146 Tschernyschewski, russ. Revolutionär 20
Stalin 19, 27 ff., 32, 34 ff., 54, 63, 76, 97, 101 f., Tschechow, Anton 7, 14, 16, 22, 45, 47, 50, 58
106, 114, 122 f., 126, 151, 158, 166, 179, 185, >Der Kirschgarten < 15, 38, 122
196, 198, 201 >Die Möwe< 46, 69
Stanislawski, K. S. (eigentl. Konstantin Serge- Tschechow, Michail, Schauspieler und Regis-
jewitsch Alexew), Regisseur und Theater- seur 92, 95, 103
theoretiker 7 f., 35, 38, 63, 69, 73, 77, 79 f., Tuchatschewski, Michail, sowjet. Marschall 36
86, 88 f., 90, 92, 95, 97, 103, 105 f., 108 f., Tucholsky, Kurt, Schriftsteller 139, 158
113 f., 123, 125, 127, 129, 157, 197, 198 f. Turgenjew, Iwan Sergejewitsch
>Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst < >Ein Monat auf dem Lande < 54
63
Staudte, Fritz, Schauspieler und Regisseur 139 Ulbricht, Walter, DDR- Staatschef 193

Leonhard, Schauspieler 138, 146, i8off. Unruh, Fritz von, Schriftsteller


Steckel,
>Ein Geschlecht < 128
Steinrück, Albert, Schauspieler 138, 147
Stenberg, Gebrüder, Bühnenbildner 83 Valetti, Rosa, Schauspielerin 170
Stern, Ernst, Bühnenbildner 128 Vallentin, Hermann, Schauspieler 151
Straub, Agnes, Schauspielerin 153 Vallentin, Maxim, Schauspieler 151, 154
Strauß, Richard Vanzetti, amerik. Arbeiterführer 154
>Elektra< 69 Venohr, Albert, Schauspieler 146
Strawinsky, Igor, Komponist 187 Verhaeren, Emile, Schriftsteller
Strindberg, August >Morgenröte< 70
>ErikXIV.<9if. Viertel, Berthold, Schriftsteller und Regisseur
Sudakow, Regisseur 96 127
Sulershitzki, Leopold, Regisseur 51 f., 55, Völker, Wolf, Regisseur 187
88 ff., 95
Swift, Jonathan, Schriftsteller 126 Wachtangow, Jewgeni, Regisseur und Thea-
terleiter 51, 55, 88-99, 100 > 11 4 f«» 121 > 126 »
Tagore, Rabindranath 197, 199
>Der König der dunklen Kammer < 54 Wagner, Richard
Tairow, Alexander (eigentl. Kornfeld), Regis- >Tristan und Isolde < 69
seur und Theaterleiter 79-88, 92, 96, 105 f., Wangenheim, Gustav von, Regisseur, Schau-
127, 130, 133, 150, 156, 197, 199 spieler, Schriftsteller 154
>Entfesseltes Theater < 81 >Die Mausefalle < 154
>Taniko< 177 Wangenheim, Inge von 156
Tarassowa, Schauspielerin 63, 96 Warlamow 80
Toller, Ernst, Schriftsteller 99, 139, 141 f., Wegener, Paul, Schauspieler 143
158, 162 Weichert, Richard, Regisseur 127
>Hoppla, wir leben < 141 Weidt, Jean, Choreograph 149
Tolstoj, Graf Alexej, Schriftsteller 66, 143 Weigcl, Helene, Schauspielerin 154 f., 169, 183,
>Rasputin, die Romanows, der Krieg und 185, 190
das Volk . . .< (mit Schtschegolew) 142 Weill, Kurt, Komponist 145, 170 f., 177
>Zar Fjodor Iwanowitsch< 42 Weinert, Erich, Schriftsteller 152

207
Weisenborn, Günther, Schriftsteller 155 >Optimistische Tragödie < 83, 95
Wekwerth, Regisseur 200 Wittfogel, Karl, Schriftsteller
Welk, Ehm, Schriftsteller 140 >Die Krüppel < 132
>Gewitter über Gottland < 138, 140, 149, 152 Wolf, Friedrich, Schriftsteller 150, 183
Werfel, Franz >Die Jungens von Mons< 153
>Die Troerinnen < ij >Tai Yang erwacht < 148 f.

Wernicke, Otto, Schauspieler 168 >Zyankali< 154


Wesnin, Bühnenbildner 83 Woroschilow, K., Sowjet. Militär und Poli-
Wilde, Oscar tiker 63
>Salome< 82, 87 Wrangel, Peter Nikolajewitsch, russ. General
Wilhelm II., dt. Kaiser 143 66
Williams, Tennessee, Schriftsteller 156
Winterstein, Eduard von, Schauspieler 154 Zech, Paul, Schriftsteller
Wirta, Schriftsteller >Das trunkene SchifF< (nach Rimbaud) 37
>Untergang des Pompejew< 198 Zemach, Regisseur und Theaterleiter 98
Wischnewski, Schriftsteller Ziegel, Erich, Regisseur 127
>Erste Reiterarmee < 196 Zweig, Stefan, Schriftsteller 158
Jürgen Rühle
Das gefesselte
Theater
Vom Revolutionsthea- Das sind die beiden Pole, zwischen

ter zum Sozialisti- denen derSchicksalsweg desThea-


schen Realismus. Mit ters unter dem Kommunismus be-

16 Fotos auf Kunst- schlossen liegt: Der faszinierende


Avantgardismus des Revolutions-
drucktafeln. 1957
theaters, der in den zwanziger Jah-
480 Seiten
ren die ganze Welt begeisterte -
Leinen DM18.50
und die monotone, aufdringliche,
primitiv didaktische Darstellungs-
weise des Sozialistischen Realis-
mus.
Jürgen Rühles Buch schildert den
brutalen Mechanismus derkommu-
nistischen Kulturpolitik. Darüber-
hinaus gibt er ein farbiges und
eindringliches Bild einer wider-
spruchsvollen Theaterepoche.

Verlag
Kiepenheuer
& Witsch
und
Chruschtschow
haben die Welt nicht aufgeteilt. Sie -wer-
den es auch niemals vermögen. "Wo aber
steht Deutschland? Auf diese Frage gibt
dieRedaktionsgemeinschaft von CHRIST
UND "WELT von "Woche zu Woche mit
kritischer Stimme, abgewogen, lebhaft,
leidenschaftlich, wie es die Sache erfor-
dert, doch immer fundiert eine tempera-
mentvolle Antwort.
Aus unbedeutenden Anfängen hat sich
CHRIST UND WELT zu einer der bedeu-
tendsten Wochenzeitungen in Deutsch-
land entwickelt. Das Blatt ist unabhängig
und nur einem verpflichtet, dem kriti-
schen Leser.
CHRIST UND
Eine große Verpflichtung.
WELT wird ihr Woche für Woche von
neuem gerecht. Ihre Stimme reicht weit
und wird gehört.
Prüfen Sie,ob das Urteil vonüberlöOOOO
Beziehern = einer halben Million Leser
berechtigt ist.

Die Zeitung, der man vertraut,


muß unbestechlich, sein
und Charakter haben.
Deutsche Wochenzeitung

CHRISTundWELT
Für jedes politische Gespräch

fl
f r^i
»DIE NEUE GESELLSCHAFT«
die politische Zeitschrift unserer Tage
für Theorie und Praxis

Herausgeber: Otto Brenner - Dr. Heinrich Deist - Fritz Erler


Waldemar von Knoeringen - Prof. E. W. Meyer - Prof. Carlo
Schmid - Dr. Carl Schumacher - Herbert Wehner

Redaktion: Ulrich Lohmar


Verlag NEUE GESELLSCHAFT- Bielefeld - Pressehaus
«Seine Gestalt ist in Nebel gehüllt. Als ob er vor Jahrhunderten gelebt hätte. Niemand
weiß, wo und wann er starb . . . Ihn fasziniert - wie Goya - das Grausame, er liebt - wie
Gogol - den unheimlichen Humor, er ist - wie Flaubert - ein Enthusiast der Sachlich-
keit und des minuziösen Berichts, wie Maupassant ein Fanatiker der gedrängten Form

und der rücksichtslosen Sittenschilderung, wie Thomas Mann ein weiser Ironiker, wie
Kafka ein Meister der Andeutung und der überscharfen Traumlandschaft, wie Chagall
ein surrealistischer Maler ostjüdischer Folklore.» Die Zeit, Hamburg

ISAAK
BABEL
.Budjonnys Reiterarmee und anderes'. Aus dem Russischen von Dimitrij Umanskij
und Heddy Proß-Weerth. Nachwort von Walter Jens. 312 Seiten. Leinen DM 18,-.
.Sonnenuntergang'. Geschichten und Dramen. Aus dem Russischen übersetzt und mit
einem Nachwort versehen von Heddy Proß-Weerth. 284 Seiten. Leinen DM 18,-.
Diese zweibändigeAusgabe der Werke Isaak Babels ist erschienen im Walter-
Verlag, Ölten und Freiburg im Breisgau, und in jeder guten Buchhandlung erhältlich.
Normalband DM 2.50 Deutscher
Großband" DM 3.60
Doppelband*" DM 4.80 dffv Taschenbuch
Verlag

1 Heinrich Böll Irisches Tagebuch


2 Marguerite Yourcenar Ich zähmte die Wölfin
3 Friedrich Sieburg Nur für Leser
4 Christian Morgenstern Palmström/Palma Kunkel
••
5 Bruce Marshall Auf Heller und Pfennig
6 Stefan Andres Der Knabe im Brunnen
••
7 Karl Jaspers Die Atombombe und die Zukunft
des Menschen
••
9 Romain Gary Die Wurzeln des Himmels
10 Eugen Roth Ernst und heiter
11 Isaak Babel Budjonnys Reiterarmee
12 Oswald Spengler Jahre der Entscheidung
14 Enno Littmann Arabische Märchen
Karl Heinrich Wagger]
15 Brot
-16 WiUi Heinrich Das geduldige Fleisch
17 Jos6 Ortega y Gasset Der Mensch und die Leute
••19 Thomas Wolfe Briefe an die Mutter
20 Ludwig Thoma Jozef Filsers Briefwexel
21 Felix Timmermans Franziskus
22 Selma Lagerlöf Nils Holgerssons schönste Abenteuer
••23 Egon Friedell Aufklärung und Revolution
••25 Andrej Belyj Petersburg
26 Henry de Montherlant Die jungen Mädchen
27 Georg Bernanos Die tote Gemeinde
••28 H. A. und E. Frenzel Daten deutscher Dichtung. Band I

30 Marek Hlasko Der achte Tag der Woche


31 Andr6 Gide Prometheus/Theseus
32 Charles Morgan Herausforderung an Venus
••33 Raymond Cartier Europa erobert Amerika
35 Ignazio Silone Das Geheimnis des Luca
••36 Bertolt Brecht Frühe Stücke
37 Karl Kraus Literatur und Lüge
38 Romano Guardini Christliches Bewußtsein
40 Hans Carossa Der Arzt Gion
41 R. F. de la Reguera Schwarze Stiere meines Zorns
42 Otto F. Walter Der Stumme
43 Die lasterhaften Balladen und Lieder des Frangois Villon
45 Rainer Maria Rilke Die Aufzeichnungen des Malte
Laurids Brigge
••46 Boris Pilnjak Maschinen und Wölfe
47 Wilhelm Gundert Lyrik des Ostens. China
48 Sternberger/Storz/ Aus dem Wörterbuch des
Süskind Unmenschen
5 1Valery Larbaud A. O. Barnabooth
52 Ernst Penzoldt Der arme Chatterton
53 Romain Gary Lady L.
••54 H. A. und E. Frenzel Daten deutscher Dichtung. Band II
Normalband DM 2.50 Deutscher
Großband-
Doppelband—
DM 3.60
DM 4.80 dtv Taschenbuch
Verlag

57 Alexander Spoerl Memoiren eines mittelmäßigen


Schülers
5 8 Robert Brasillach Uns aber liebt Paris
•59/60 Selma Lagerlöf Gösta Beding
•61 DufFCooper Talleyrand
64 Anne M. Lindbergh Muscheln in meiner Hand
65 Walter Blair Das große Lügengarn
66 Henry de Montherlant Erbarmen mit den Frauen
67 H. H. Stuckenschmidt Schöpfer der Neuen Musik
70 Paul Tillich Die neue Wirklichkeit
71 George Bernard Shaw Kapitän Brassbounds Bekehrung/
Der Teufelsschüler
72 Edzard Schaper Die Geschichte eines Bären,
der Oskar hieß
73 Gertrud Fussenegger Das verschüttete Antlitz
76 Grimmeishausen Die Landstörzerin Courasche
77 Tania Büxen Die Träumer und andere seltsame
Erzählungen
78 Joseph Roth Die Rebellion/Die Legende vom
heiligen Trinker
79 Karl Korn Sprache in der verwalteten Welt
83 Elisabeth Langgässer Gang durch das Ried
••84Heinrich Gerlach Die verratene Armee
85 George Bernard Shaw Mensch und Übermensch
86 A. de Saint-Exup£ry Dem Leben einen Sinn geben
89 Gottfried Benn Das gezeichnete Ich. Briefe
90 Stefan Andres Die Reise nach Portiuncula
9* Felix Timmermans Das Jesuskind in Flandern
92 Deutsches Anekdotenbuch. Hrsg. P. Alverdes und H. Rinn
:

93 Karl Reinhardt Die Krise des Helden


96 Arno Holz Des Schäfers Dafnis Freß-, Sauff-
und Venuslieder
97 Kurt Kluge Die Zaubergeige
98 Henry de Montherlant Der Dämon des Guten
100 Heinrich Mann Geist und Tat
102 Siegfried Lenz Der Mann im Strom
103 Johannes Urzidil Prager Triptychon
104 Frank O'Connor Und freitags Fisch
•105 Karl Jaspers Lebensfragen der deutschen Politik
108 Bruce Marshall Mädchen im Mai
109 Ren£ Schickele Symphonie für Jazz
110 Jean Cocteau Der Doppeladler/Die geliebte
Stimme. Zwei Stücke
•111Die schönsten Liebesgeschichten des Prinzen Genji
Henry de MontherlantDie Aussätzigen
116 Reinhold Schneider Innozenz der Dritte
117 Sämtliche Dichtungen des Jean Arthur Rimbaud
Normalband DM
2.50 Deutscher
Großband" DM 3.60
Doppelband— DM 4.80 dlv Taschenbuch
Verlag

"118 Charles Sealsfield Das Kajütenbuch


119 Eckart Peterich Götter und Helden der Germanen
"122 Sergiusz Piasecki Der Geliebte der Großen Bärin
123 Carlo Manzoni Der Finger im Revolverlauf
124 Christian Morgenstern Galgenlieder/Der Gingganz
••125 Jos6 Ortega y Gasset Triumph des Augenblicks -
Glanz der Dauer
126 Jean Anouilh Becket oder Die Ehre Gottes
127 Klaus Nonnenmann Die sieben Briefe des Dr. Wambach
128 Una Troy Wir sind sieben
129 Franz Blei Das große Bestiarium
Zeitgenössische Bildnisse
131 G. T. di Lampedusa Die Sirene
132 Ludwig Thoma Altaich
133 Gertrud von le Fort Die ewige Frau
••135/136 Kurt Kluge Der Herr Kortüm
137 Leonhard Frank Links wo das Herz ist
'•138 Alles oder Nichts Französische Liebesgeschichten
•139 Jüdische Witze Ausgewählt und eingeleitet von
Salcia Landmann
141 Alfred Andersch Die Rote
142 Gerd Gaiser Am Paß Nascondo
•143 Friedrich Sieburg Robespierre
144 Angus Wilson Was für reizende Vögel
145 Jürgen Rühle Theater und Revolution

dtv-wissen Werke aus den Themenkreisen


Natur, Reisen, Populärwissenschaft,
Sachbücher

50 Paul Eipper Tiere sehen dich an


56 Schwarzer Hirsch Ich rufe mein Volk
63 Herbert Rittlinger Das baldverlorene Paradies
••69 Shapiro/Hentoff Jazz erzählt
75 Lois Crisler Wir heulten mit den Wölfen
82 Alain Gheerbrant Welt ohne Weiße
-88 C. D. Darlington Die Gesetze des Lebens
95 Svend Fleuron Die rote Koppel
101 Theo Löbsack Der Atem der Erde
•107 Ivar Lissner Die Cäsaren
•113 Hermann Buhl Achttausend drüber und drunter
Jürgen Rühle
wurde am 5. November 1924 in Berlin geboren. Nach dem
Besuch der höheren Schule kam er 1942 als Soldat an die
Ostfront und geriet 1945 in sowjetische Kriegsgefangen-
schaft, aus der er erst 1949 zurückkehrte. An der Humboldt-
Universität Berlin studierte er dann Philosophie, deutsche
Philologie, Theater- und Kunstwissenschaft und arbeitete
gleichzeitig von 1949 bis 1955 in der Kulturredaktion der
auch
>Berliner Zeitung<, seit 1952 des Ost-
als Theaterkritiker
berliner >Sonntag<. Seit 1951 brachte ihn diese Tätigkeit
immer stärker in Konflikt mit den Organen des ostzonalen
Regimes, so daß er sich im Frühjahr 1955 gezwungen sah, in
den Westen zu gehen. Hier arbeitete er zunächst als freier
Schriftsteller und Journalist, seit 1956 als Lektor im Verlag
Kiepenheuer & Witsch; seit 1963 ist Rühle beim Fernsehen
des Westdeutschen Rundfunks tätig.
Hauptwerke: >Das gefesselte Theater< (1957), >Literatur und
Revolution (1960).

Deutscher
Taschenbuch
Verlag

Das könnte Ihnen auch gefallen