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Theater
und Revolution
dtv
Über dieses Buch
Nördlingen
Printed in Germany
Jürgen Rühle:
Theater und Revolution
Von Gorki bis Brecht
Deutscher
Taschenbuch
Verlag
Inhalt
Der Theateroktober 64
Meyerhold Majakowski Eisenstein
• • •
Tairow
Wachtangow Die jüdischen Theater
-
Nachbemerkung 201
:
Weg mit den parteilosen Literaten! Weg mit den literarischen Übermenschen!
Die Sache der Literatur muß zu einem Teil der allgemeinen Sache des Prole-
tariats werden, zu einem »Rädchen und Schräubchen« des einen einheitlichen,
legen lächelnd, und fuhr sich nervös mit den Fingern durch die wil-
den Haarsträhnen, »wißt ihr, das das ist äußerst unangenehm
. . . . . .
Ich bin kein Opernstar, keine Diva, keine Ballerina das ist schon . . .
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beit bereit, für den es doch keinen Weg nach oben mehr gibt, der
Schauspieler, dessen poetische Welt nur noch im Suff besteht, der
Dieb, der auf der sozialen Stufenleiter immer tiefer rutscht und als
Mörder endet ... Es war eine düstere, verborgene Welt des Leids
und des Elends, unter dem Parkett einer glanzvollen Gesellschaft
vegetierend, die Gorki beschwor. Mit dem >Nachtasyl< trat ein un-
heimliches Gespenst aus dem Untergrund, aus dem Unterbewußt-
sein der Gesellschaft auf die Bühne und warf einen Schlagschatten,
der mehr als alle sozialdemokratischen Proklamationen das Grauen
bevorstehender Umwälzungen ahnen ließ. Die zaristische Regierung
war so beunruhigt, daß sie Aufführungsbeschränkungen gegen das
Stück verhängte: Es durfte in der Provinz nur mit Einverständnis
der Gouverneure gespielt werden, die Gouverneure aber erhielten
den Geheimbefehl, die Genehmigung nach Möglichkeit nicht zu
erteilen.
Gorki warf in seinem Drama die Frage nach der Erlösung aus dem
Elend auf. Und er stellte zwei Wege einander gegenüber Da ist ein- :
mal der alte Luka, der Typus des Tolstojaners, ein sanfter Prediger
der Güte und des Mitleids, der als Trostspender durch die Asyle der
Verzweifelten zieht. Für jeden hat er eine den Kummer lindernde
Illusion bereit dem Mädchen rät er, nur ja an die Liebe zu glauben -
;
heilst du die Seele mit der Wahrheit .«, so rechtfertigt der Alte . .
seine Trostlügen und erzählt die Geschichte von dem Manne, der
sein Lebtag hoffnungsfroh und glücklich das »Land der Gerechten«
suchte - bis ihm ein Gelehrter bewies, daß es ein solches Land nicht
gibt da erhängte er sich.
:
kert aber es geschah aus Mitleid mit euch, weiß der Teufel Es
. . . !
gibt viele solche Leute, die aus Mitleid mit dem Nächsten lügen ...
ich weiß es, hab' darüber gelesen Sie lügen so schön, so begeistert, !
Eine solche Lüge bringt es fertig, den Klotz zu rechtfertigen, der die
Hand des Arbeiters zermalmt und den Verhungernden anzu- . . .
klagen Ich - kenne die Lüge! Wer ein schwaches Herz hat
. . . . . .
oder wer sich von fremden Säften nährt - der bedarf der Lüge . . .
aber sein eigener Herr ist wer unabhängig ist und nicht vom
. . .
Schweiße der andern lebt - was braucht der die Lüge? Die Lüge ist
!!
die Religion der Knechte und Herren ... die Wahrheit - ist die Gott-
heit des freien Menschen!«
In dem berühmten Monolog am Ende des Stücks postuliert Satin
seine Philosophie mit aller Klarheit »Der Mensch kann glauben oder :
nicht glauben das ist seine Sache Der Mensch - ist frei ... er hat
. . . !
seine Liebe, seine Vernunft. Der Mensch trägt selbst die Kosten für
alles, und darum ist er - frei Der Mensch - ist die Wahrheit ! . . .
Was heißt überhaupt Mensch? Das bist nicht du, und nicht ich bin's,
und nicht sie sind es nein! Sondern du, ich, sie, der alte Luka,
. . .
alle Enden Alles im Menschen, alles für den Menschen Nur der
. . . !
Mensch existiert, alles übrige - ist das Werk seiner Hände und seines
Gehirns Der M-ensch Einfach großartig So erhaben klingt das
! ! !
respektieren Trinken wir auf das Wohl des Menschen, Baron Wie
! !
schön ist's doch, sich als Mensch zu fühlen! Ich bin ein ehe- . . .
den? (lacht laut auf) Ich habe die Menschen immer verachtet, die um
das Sattwerden gar zu besorgt sind. Nicht darauf kommt's an, Ba-
ron! Nicht darauf! Der Mensch ist die Hauptsache! Der Mensch
steht höher als der satte Magen!« Und als der Baron leise meint, daß
er sich manchmal vor der Zukunft fürchte, setzt Satin stolz hinzu:
»Dummes Zeug! Vor wem soll der Mensch sich fürchten?«
Einzelne Sätze des Satin-Monologs wurden zu geflügelten Worten
im Zitatenschatz der Kommunisten, aber man findet keine sowjeti-
sche Interpretation, die die Rede des Vagabunden ohne Kürzungen
und Verstümmelungen zitierte. Das ist begreiflich, denn Fragestel-
lung, Tendenz der Antwort, selbst Terminologie verraten nur zu
deutlich die Quelle, aus der der junge Gorki diese Weisheiten
schlürfte. Es ist eine Predigt von der Art Zarathustras. Viele Jahre
später hat Gorki selbst zu dem Vorwurf Stellung genommen, daß er
die Vagabunden idealisiert und ihnen Gedankengänge Nietzsches
unterschoben habe. Mit einer Gereiztheit, die sich wohl aus der Ver-
ärgerung erklärt, an eine Jugendsünde erinnert zu werden, wies er
die Behauptung zurück, er habe jemals das Lumpenproletariat ver-
herrlichen wollen, gab aber zu, daß er Motive der Nietzscheschen
Philosophie verarbeitet hat. »Ich glaube«, schrieb er in einem Auf-
satz, »ich war durchaus berechtigt, den >gewesenen Menschen < den
Anarchismus des Nietzscheanertums, den Anarchismus der >Besieg-
10
ten< beizugeben. Warum? Darum, weil die >gewesenen Menschern,
die das Leben aus dem mormalen Leben in die Nachtasyle geworfen
<
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ihn herum auch noch so widerwärtig sein. Er verstand es, sich
unter den unwirtlichsten Umständen, bei quälendem Hunger in die
poetische Welt der Bücher, die er irgendwo aufgetrieben hatte, zu
versenken und seinen Träumen nachzugehen. Seine dichterische
Laufbahn begann er erstaunlicherweise mit schwärmerischer, me-
lancholischer Lyrik. Sein erster Lehrer, der ukrainische Bauerndich-
ter Wladimir Korolenko, warf ihm vor: »Wenn das ein junges Mäd-
chen geschrieben hätte, das zu viele Verse von Musset gelesen
hat ., so würde ich ihr sagen: >Nicht übel! Aber heiraten Sie lie-
. .
ber < Daß aber so ein grimmiger Lulatsch wie Sie zarte Verse macht,
!
blutet Aber es wird erstehen der Tag, da jäh deines heißen Herz-
. . .
12
.
Weisheit des alten Luka besonders imponiert habe. Auf die Frage,
wozu eigentlich die Menschen lebten, habe der Alte geantwortet:
»Die Menschen? Ei, die leben um des Tüchtigsten willen! Da leben
zum Beispiel die Tischler, wollen wir annehmen - lauter elendes Volk
. und mit einem Male wird aus ihrer Mitte ein Tischler geboren
. . . .
solch ein Tischler, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat; allen ist
er über, kein anderer Tischler kommt ihm gleich. Dem ganzen Tisch-
lerhandwerk gibt er ein neues Gesicht sein eigenes sozusagen... . . .
und mit einem Stoß rückt die Tischlerei um zwanzig Jahre vorwärts
. Und so leben auch alle anderen
. . die Schlosser und die Schuh- . . .
macher und die übrigen Arbeitsleute auch die Bauern und so- . . . . . .
gar die Herren - nur um des Tüchtigsten willen Jeder denkt, er sei !
für sich selbst auf der Welt, und nun stellt sich's heraus, daß er für
jenen da ist für den Tüchtigsten! Hundert Jahre
. . . oder viel- . . .
leicht noch länger leben sie so für den Tüchtigsten - Alle, mein
. . . !
Nutzen . . .«
Gorki Thesen Nietzsches ins Soziale und
hatte eine eigene Art, die
Revolutionäre umzudenken. Diese Tendenz prägte auch seine Vor-
stellung vom Marxismus, als er sich von den Bauernrevolutionären
zu lösen und der Arbeiterbewegung zuzuwenden begann. Vergleicht
man mit dem >Nachtasyl< sein anderes Schauspiel >Die Kleinbürger <,
so kann man eine interessante Weiterentwicklung der Elite-Idee fest-
stellen. >Die Kleinbürger < wurden zwar als erstes Stück fertig und
kurz vor dem anderen aufgeführt, drücken aber in ihrer ganzen Kon-
zeption und Gedankenwelt ein späteres Entwicklungsstadium Gor-
kis aus als das >Nachtasyl<, das der Dichter ja schon sehr früh kon-
zipierte und mit dem er lange schwanger ging.
In den Kleinbürgern < stehen sich wieder die beiden Gruppen von
Menschen gegenüber: die Schwachen, Verängstigten, Schlechtweg-
gekommenen, die verzweifeln und resignieren, und die Starken,
Tüchtigen, Tapferen, die Kämpfer und Sieger, die ja zum Leben
sagen und sich ihrer Zukunft gewiß sind. Aber jetzt ist das keine
ethische Konfrontation mehr, sondern eine soziale Kleinbürger und :
Beruf hat sich geändert, aber sonst hat er noch alle Züge des Gorki-
schen Heldenideals ein Herr auf seine Art, makellos und stolz, der
:
sich als Eroberer des Lebens, als Schöpfer aller Werte fühlt und alles
Schwache und Morbide verachtet, ein furchtloser und mitleidloser
*3
Zertrümmerer der alten Tafeln. »Siehst du«, sagt Nil, »ich liebe es
zum Beispiel leidenschaftlich, Eisen zu schmieden. Vor dir liegt eine
rote, formlose Masse, voll zorniger, sengender Glut ... Sie mit dem
Hammer zu bearbeiten - ist ein wahrer Genuß. Sie speit dich mit
ihrem zischenden, feurigen Speichel an, will dir die Augen ausbren-
nen, will dich blenden, dich mit Gewalt verjagen. Sie ist so voll Le-
ben, so prall . Und du formst mit weit ausholenden kräftigen
. .
Schlägen alles aus ihr, was du brauchst .« Das ist eine Allegorie,
. .
die nicht schwer zu deuten ist. Nirgendwo ist der Übergang vom
Nietzscheschen Übermenschen zum positiven Helden des Sozialisti-
schen Realismus so deutlich wie hier. In einem sowjetischen Kom-
mentar heißt es »Es besteht kein Zweifel, daß Nil nach der gesam-
:
Rolle des Nil, eine wundervolle Rolle. Sie muß etwa doppelt bis drei-
mal so lang werden, muß das Stück abschließen, zur Hauptrolle
werden. Machen Sie aber keinen Gegenspieler zu Pjotr und Tatjana
daraus« - den melancholischen Gestalten. »Er soll für sich stehen
und die beiden anderen auch. So sind es lauter wunderbare, groß-
artige Menschen, aber unabhängig voneinander. Wenn Nil sich
den Anschein gibt, als stände er über Pjotr und Tatjana, und von
sich selbst sagt, er wäre ein Teufelskerl, so geht ein Merkmal ver-
loren, das jeden unserer Arbeiter auszeichnet, nämlich die Beschei-
denheit. Er prahlt, er trumpft auf; dabei ist ohnehin zu sehen, was
für ein Mensch er ist. Mag er doch lustig sein, mag er
Spaße treiben,
und sei es vier Akte nach der Arbeit viel essen - das
lang, mag er
allein genügt schon, das Publikum für ihn zu gewinnen.« Gorki ant-
wortete, das Stück sei ihm in der Tat mißlungen, es sei »grob und
ungeschickt«, Nil durch »das Räsonieren verpatzt« usw. - änderte
aber nichts. Sie redeten offensichtlich aneinander vorbei. Tschechow,
der einmal über eine Arbeit von Gorki sagte, sie erinnere ihn an die
Predigt eines jungen Popen, eines bartlosen, der mit tiefer Stimme
das O betont .bezeichnete die fertigen >Kleinbürger< schließlich
. .,
14
!
sind, wenn sie geschliffen und geschärft werden müssen, denn nur
mit ihnen kann man siegen.«
Einmal sagte er zu Tolstoj im Gespräch, daß er aktive Menschen
gut leiden möge, die gewillt seien, sich dem Bösen auf jede nur mög-
liche Weise, selbst unter Anwendung von Gewalt, zu widersetzen.
»Die Gewalt ist das größte Übel!« rief Tolstoj aus. »Wie wollen Sie
sich aus diesem Widerspruch lösen?« Und als Gorki auf die feindliche
Umwelt verwies, in der sich der Mensch doch durchzusetzen habe,
wehrte der Alte von Jasnaja Poljana ab »Daraus lassen sich äußerst
:
semble sein Schauspiel >Der Alte< vor. Das war am Tage im kalten
Zuschauerraum. Gorki hatte seinen Mantel über die Schulter ge-
hängt und las langsam und mit leiser Stimme. Er veränderte die
Stimme kaum merklich, aber wir sahen seine Helden vor uns, als
lebten sie. Nach dem Lesen und während der Proben fragte jeder von
uns Alexej Maximowitsch begierig über die Rolle aus, die er spielen
sollte. Er antwortete bereitwillig, überlegt und gründlich. Über den
> Alten < sagte er: >Ich habe mich bemüht, zu zeigen, wie abstoßend
es sein kann, wenn sich der Mensch in sein eigenes Leid versenkt und
allmählich glaubt, andere dafür quälen zu dürfen. Wenn ein solcher
Mensch wirklich glaubt, daß er dieses Recht gewonnen habe und daß
er ein auserwähltes Werkzeug der Rache sei, so verliert er damit je-
den Anspruch auf menschliche Achtung. <« Diese Äußerung Gorkis,
die in eine wesentlich spätere Entwicklungsphase gehört (das Stück
ist 1915 geschrieben, die erwähnte Aufführung fand 1919 statt), läßt
freilich schon einen neuen, bei ihm ganz ungewohnten Ton auf-
klingen In die Kritik an der Dekadenz mischt sich die Kritik an der
:
16
Jaures beteiligten) setzte man ihn gegen eine Kaution wieder auf
freien Fuß. Er arbeitete an der ersten legalen marxistischen Zeitung
Rußlands >Nowaja Shisn< (Neues Leben) mit, für die auch Lenin
schrieb. Während des Dezember- Aufstandes in Moskau nahm er an
der illegalen revolutionären Arbeit teil in seiner Wohnung wurden
;
Roman >Die Mutter < und das Drama >Die Feinde <, die als die ersten
klassischen Werke des Sozialistischen Realismus bezeichnet werden.
Von dem Schauspiel >Feinde< können wir am besten einen Ein-
druck geben, wenn wir zwei kritische Stimmen zu Worte kommen
lassen. In dem Bericht der russischen Zensur hieß es: »In diesem
Stück wird die unversöhnliche Feindschaft zwischen Arbeitnehmern
und Arbeitgebern äußerst klar behandelt. Die Erstgenannten werden
als standhafte Kämpfer dargestellt, die bewußt auf das vorgezeich-
nete Ziel hinsteuern - Vernichtung des Kapitals -, die anderen wer-
den als engstirnige Egoisten gezeigt. Übrigens ist es nach den Wor-
ten einer der handelnden Personen vollkommen gleichgültig, wie
die Charaktereigenschaften des Unternehmers sind. Es genügt, daß
er ein Unternehmer ist, um von den Arbeitern als Feind angesehen
zu werden. Durch die Frau des Bruders des Fabrikdirektors, Tat-
jana, sagt der Verfasser den Sieg der Arbeiter voraus. Das ganze
Stück ist reine Propaganda gegen die besitzenden Klassen, weshalb
es zur Aufführung nicht zugelassen werden kann.«
Während über Rußland eine Welle der Reaktion hinwegging,
wurden >Die Feinde < bereits 1906 in Berlin aufgeführt. Der Kritiker
Kerr, weiß Gott kein Bolschewik, schrieb darüber: »Geht hinein,
seht dieses Stück. Ihr werdet zwei Akte lang warten; ihr werdet den
Kopf schütteln ihr werdet zwei Akte lang sprechen >Nun, selbst
; :
*7
::
Schiffes, das ihr Leben ist . Nein, nein das Stück ist nicht bewe-
. . :
18
bendigen Augen blitzten freundlich es erwies sich, daß er das Ma-
;
nuskript gelesen hatte. Ich sagte, ich hätte mich beeilt, das Buch zu
schreiben, und ehe ich Zeit hatte zu erklären, warum, nickte Lenin
zustimmend und gab selbst die Erklärung: Ich hätte gut daran ge-
tan, mich zu beeilen, das Buch sei notwendig, viele Arbeiter hätten
an der revolutionären Bewegung unbewußt, spontan teilgenommen
und würden jetzt >Die Mutter < mit großem Nutzen lesen.
>Ein sehr aktuelles Buch < - das war sein einziges, für mich aber
!
*9
Unter dem Einfluß der russischen revolutionären Tradition (Be-
linski, Tschernyschewski, Dobroljubow und Pissarew), für die die
Kunst immer nur eine Fortsetzung der Politik mit anderen, den Zu-
griffen der Zensur weniger ausgesetzten Mitteln war, vollzog Lenin
mit dem Postulat einer Parteiliteratur einen - ihm selbst vielleicht
nicht einmal bewußten - Bruch mit dem klassischen Marxismus, wie
er es ja auch auf anderen Gebieten tat. Für Marx und Engels, Per-
sönlichkeiten von umfassender humanistischer Bildung, wäre die
Idee, die Literatur unter Parteibefehl zu stellen, ganz unvorstellbar
gewesen. Alle Lieblingsdichter von Marx - Äschylos, Shakespeare,
Goethe, Scott, Balzac, E. T. A. HofTmann - waren keine Revolu-
tionäre. In einem der Briefe von Engels, die man heranziehen muß,
weil die Väter des Marxismus es für ganz unnötig erachteten, eine
eigene, politisch fundierte Ästhetik zu schaffen, heißt es: »Ich bin
weit davon entfernt, darin einen Fehler zu sehen, daß Sie nicht einen
waschechten sozialistischen Roman geschrieben haben, einen Ten-
denzroman, wie wir Deutschen es nennen, um die sozialen und po-
litischen Anschauungen des Autors zu verherrlichen. Das habeich
keineswegs gemeint. Je mehr die Ansichten des Autors verborgen
bleiben, desto besser für das Kunstwerk .« Und an anderer Stelle:
. .
». . . ich meine, die Tendenz muß aus der Situation und Handlung
selbst entspringen, ohne daß ausdrücklich darauf hingewiesen wird,
und der Dichter ist nicht genötigt, die geschichtliche zukünftige
Lösung der gesellschaftlichen Konflikte, die er schildert, dem Leser
in die Hand zu geben.«
Der große Theoretiker des Marxismus in Rußland war Plechanow,
den ursprünglich auch Lenin als seinen Lehrmeister anerkannte. Ge-
treu den Auffassungen von Marx und Engels sah Plechanow in der
Kunst wohl eine Widerspiegelung gesellschaftlicher Verhältnisse,
aus der man gewisse politische Schlüsse zu ziehen vermag, lehnte es
aber ab, sie als Instrument der Parteipolitik zu betrachten »Die wis-
:
20
Natürlich besteht die Masse aus Einzelpersonen, und die Einzel-
personen sind einander nicht identisch. An der Massenbewegung
nehmen Magere und Dicke, Kleine und Große, Blonde und
Schwarzhaarige, Ängstliche und Kühne, Schwache und Starke,
Zarte und Robuste teil. Aber die Individuen, die die Masse hervor-
bringt, die ihr eigenes Fleisch und Blut sind, stellen sich ihr nicht
gegenüber - wie sich die Helden aus dem bürgerlichen Milieu so
gern dem gemeinen Haufen gegenüberstellen -, sondern sind sich
bewußt, daß sie ein Teil der Masse sind, und es ist ihnen um so woh-
ler zumute, je deutlicher sie spüren, wie eng sie mit ihr verbunden
sind ... Je mehr sich die Einzelpersonen, welche die Masse bilden, in
ihren Anstrengungen zusammenschließen, desto wahrscheinlicher
wird der Sieg .« . .
che von Gorki zwar geschildert und gestaltet, aber noch längst nicht
philosophisch verarbeitet worden war. Mit der Emigration verlor
der Dichter den direkten Kontakt mit der Arbeiterbewegung wieder;
die Werke von 1906 blieben die einzigen seines Lebens, in deren
Mittelpunkt er Industriearbeiter stellte. Er war noch lange kein kon-
sequenter Marxist geworden, sondern träumte davon, das Rationale
des Marxismus mit dem Emotionalen der Narodniki zu vereinen. Die
Leninsche Modifikation des Marxismus schien seinen Vorstellungen
21
nahezukommen. Vieles, was ihm an den Narodniki und an Nietzsche
teuer geworden war, kehrte in Lenins Konzeption wieder. Die Auf-
fassung von der Partei als einer klassenlosen Avantgarde von Berufs-
revolutionären - entsprach das nicht der alten Idee der Elite? Der
voluntaristische Zug, die Tendenz zum Putschismus und zur revo-
lutionären Romantik, zur Intoleranz und Bevormundung der Klasse
und Masse - das alles, was die Bolschewiki von der marxistischen Ar-
beiterbewegung Europas unterschied, traf bei Gorki damals auf ver-
wandte Reminiszenzen und Sehnsüchte, die eine harte Jugend und
ein auswegloses Milieu in ihm erweckt hatten. Auch Lenins Auffas-
sung von der Aufgabe der Literatur, Partei zu ergreifen und politi-
sche Ideale zu propagieren, stimmte weitgehend mit der Meinung
Gorkis überein, die wir in seiner Polemik mit Tschechow, Tolstoj
und Dostojewski kennengelernt haben. Es mußte für ihn, der sich
über eine mangelnde Anerkennung seiner künstlerischen Fähigkei-
ten nie zu beklagen hatte, sehr schmeichelhaft sein, von einem pro-
minenten Mann wie Lenin nun auch den politischen Nutzen seiner
Arbeit, der ihm so viel mehr bedeutete, bestätigt zu bekommen.
Wenn man die Erinnerungen Gorkis an die Londoner Begegnung
unter die Lupe nimmt, kann man erstaunliche tiefenpsychologische
Entdeckungen machen. Sowohl das, was er sagt, wie das, was un-
gesagt bleibt, hat seine Bedeutung. Schon der Irrtum, es sei das erste
Zusammentreffen mit Lenin gewesen, ist bemerkenswert. In Wirk-
lichkeit waren die beiden schon anderthalb Jahre früher in Peters-
burg zusammengetroffen. Aber der Eindruck, den Lenin auf dem
Parteitag machte, der des energischen, sprühenden Parteiführers in
Aktion, stellte die Erinnerung an die vorhergehende persönliche Be-
kanntschaft völlig in den Schatten. Wenn Gorki ausdrücklich be-
tont, Lenin habe nicht wie ein »Führer« gewirkt, so sieht das einem
Ablenkungsmanöver auffallend ähnlich. Natürlich hatte Lenin nichts
von der prätentiösen Heldenpose eines Nil, der eher einem Backfisch-
Ideal entsprach. Wie sehr dennoch persönliche Faszinationskraft im
Spiele war, spürt man aus der Beschreibung Lenins, die Gorki in
seinen Memoiren gibt »Mich entzückte der in ihm so ausgesprochen
:
verkörperte Wille zum Leben und sein tätiger Haß gegen die Ab-
scheulichkeiten des Daseins. Ich freute mich am jugendlichen Wage-
mut, mit dem er alles erfüllte, was er tat, und ich bewunderte seine
übermenschliche Arbeitskraft. Seine Bewegungen waren leicht, ge-
wandt, und die sparsamen, aber starken Gesten harmonierten durch-
aus mit seiner Redeweise, die gleichfalls mit Worten kargte, aber
überreich war an Gedanken. Und in seinem etwas mongolisch ge-
schnittenen Gesicht glühten und funkelten die scharfen Augen eines
unermüdlichen Kämpfers gegen Lüge und Elend des Daseins, zu-
gekniffen, zwinkernd, ironisch lächelnd oder zornig blitzend. Der
Glanz dieser Augen machte seine Rede noch zündender und klarer.
Manchmal schien es, als sprühe die unbändige Energie seines Geistes
wie Funken aus diesen Augen, als leuchteten seine Worte in der Luft,
22
geladen mit dieser Energie. Seine Worte erzeugten stets das phy-
sische Empfinden unumstößlicher Wahrheit - und obwohl diese
Wahrheit für mich oft nicht annehmbar war, konnte ich mich doch
dem Einfluß ihrer Wucht nicht entziehen.« In der Tat, das war ganz
das Heldenideal, das die Narodniki und Nietzsche in Gorkis Seele
geformt hatten.
Plechanow, der Typus des Gelehrten und geistigen Parteiarbei-
ters, entsprach diesem Ideal nicht. Gorki geht in seinen Erinnerungen
sehr unredlich und unfair gegen ihn vor. Es ist einfach nicht wahr,
daß Plechanow nur eine »recht gewöhnliche Phrase« für ihn übrig
gehabt hätte. Zur gleichen Zeit, da Lenin ein paar Bemerkungen über
den politischen Nutzen der >Mutter< von sich gab, schrieb sein men-
schewistischer Rivale gründliche ästhetisch-ideologische Analysen
über diesen Roman wie über das Schauspiel >Feinde<. Plechanow ver-
ehrte Gorki tief und aufrichtig - aber als Dichter, nicht als Propagan-
disten. Er riet ihm, den Marxismus besser zu studieren, damit er er-
kenne, wie wenig sich »die Rolle des Verkünders, d. h. eines Men-
schen, der vorzugsweise die Sprache der Logik spricht, für den
Künstler eignet, . .der vor allem in der Sprache der Bilder zu spre-
.
chen hat«. Gorki kannte Plechanows Kritiken recht gut, was eine
weitere Verschleierungsmanipulation seiner Erinnerungen verrät.
Auf den paar Seiten, die dem Londoner Parteitag gewidmet sind,
wird mehr als ein halbdutzendmal und meist völlig unmotiviert dar-
auf angespielt, daß die bolschewistische Fraktion die der Arbeiter
gewesen sei (eben das, was Plechanow in seiner Kritik der >Feinde<
bestritten hatte): »die bolschewistischen Arbeiter ... die Arbeiter
neben und hinter Lenin die Arbeiter auf den Bänken der Bolsche-
. . .
das in die Wege zu leiten.« Er zog den stets willigen Gorki zu allen
möglichen literarpolitischen Aufgaben heran. Sein Rat mutet uns
23
heute zuweilen kurios an, wurde aber von Gorki stets beherzigt. Ein-
mal sagte er: »Sie sollten ihre Erfahrung nicht in kleinen Erzählun-
gen verzetteln, für Sie ist es an der Zeit, sie in einem Buch, in irgend-
einem großen Roman niederzulegen.« Ein andermal: »Für ein dickes
Buch ist jetzt nicht die Zeit, vom dicken Buch nährt sich die Intelli-
genz . wir brauchen eine Zeitung, Broschüren
. . , wir müßten
. . . ,
man nach der Revolution schreiben, jetzt aber wäre etwas in der Art
der >Mutter< vonnöten.« Und setzte hinzu: ». .ich sehe nicht, wo-
.
Trotzki und ihre Anhänger sind schon angesteckt von dem verder-
benden Gift der Macht, wie ihre beschämende Einstellung gegenüber
der freien Meinungsäußerung und der Freiheit des Individuums
zeigt, um die die Demokratie gekämpft hat. Blinde, fanatische und
skrupellose Abenteurer schreien nach einer angeblich sozialen Revo-
lution . .Auf dem Wege dahin, so glauben Lenin und seine Clique,
.
25
Volkskommissare genauso kritisieren wie jede andere Regierung.
Wir haben nicht gegen die Selbstherrschaft der Kanaillen gekämpft,
damit sie durch eine Selbstherrschaft der Barbaren ersetzt werde .« . .
allzuoft kann ich Musik nicht hören. Sie wirkt auf die Nerven. Man
möchte nette törichte Dinge sagen und den Menschen, die in dieser
schmutzigen Hölle leben und trotzdem solche Schönheit schaffen
können, den Kopf streicheln. Aber heutzutage darf man niemand
den Kopf streicheln - die Hand wird einem sonst abgebissen. Schla-
gen muß man auf die Köpfe, unbarmherzig schlagen, obwohl wir der
Idee nach gegen jede Gewalt am Menschen sind. Hm, hm - ein
höllisch schweres Amtl«
Obwohl Gorki die persönliche Integrität und echte menschliche
Tragik bei Lenin achtete - » . . . Kind dieser verfluchten
ein großes
Welt, ein prächtiger Mensch, der sich der Feindschaft und dem Haß
zum Opfer bringen mußte, um das Werk der Liebe zu verwirklichen !«
-, konnte er, der die Menschen so liebte, sich nicht mit der Praxis des
Terrors abfinden. Er hatte auch menschlich etwas von Nietzsche, der
die »blonde Bestie« propagierte, persönlich aber niemanden leiden
sehen konnte. »Finden Sie nicht«, fuhr Lenin den Dichter zornig an,
»daß Sie sich mit Torheiten und Bagatellen abgeben?« Gorki
schreibt dazu in seinen Erinnerungen den schönen, lakonischen
Satz »Doch ich tat, was ich für nötig hielt
: « Schließlich drängte
. . .
Lenin ihn, er möge Rußland während der harten Jahre, die seiner
Meinung nach nur eine Übergangserscheinung sein konnten, ver-
lassen.
27
cpoche auseinandergesetzt hat (die Oktoberrevolution und den kom-
munistischen Aufbau hat er nie gestaltet), und beschäftigt sich mit
der Vorgeschichte des Schachty-Prozesses, des ersten in einer Reihe
von Schauprozessen, in denen Wissenschaftler, Ingenieure, Tech-
niker und Meister, angebliche Mitglieder einer industriellen Ver-
schwörung, wegen Sabotage zu schweren Strafen verurteilt wurden.
Die zuweilen abenteuerlichen Beschuldigungen und die wie am
Schnürchen abrollenden Geständnisse, erste Anzeichen der von Sta-
lin eingeführten juristischen Praxis, lassen es heute schwer glaubhaft
erscheinen, daß es sich um ein echtes Komplott gehandelt hat. Rich-
tiger wird sein, daß die von Stalin bald nach Lenins Tod ohne Rück-
sicht auf Verluste forcierte Industrialisierung bei der technischen
Intelligenz, die die Verantwortung zu tragen hatte, auf passiven
Widerstand stieß, den man durch brutale Einschüchterungsmaß-
nahmen zu brechen suchte, daß man ferner Sündenböcke brauchte,
um das Volk, das über die anhaltend katastrophale wirtschaftliche
Lage aufgebracht war, zu beschwichtigen. Daß es mit der ganzen
Verschwörung nicht allzu ernst gewesen sein dürfte, geht daraus
hervor, daß der Gelehrte Prof. Ramsin, den man in einem der Pro-
zesse als Führer der »Industrie-Partei« zum Tode verurteilt hatte,
anschließend begnadigt wurde und die Möglichkeit bekam, seine
Forschungsarbeiten fortzusetzen. Im Jahre 1943 wurde er für die
Erfindung eines neuartigen Turbogenerators mit dem Lenin-Orden
und dem Stalin-Preis ausgezeichnet; auf ausdrückliche Anweisung
des Kreml erhielt der Turbogenerator den Namen seines Erfinders,
des »Volksfeindes« Ramsin. Das war nicht die Art, wie Stalin mit
ernsthaften und gefährlichen Gegnern umzugehen pflegte.
Gorki schrieb aus Anlaß des Schachty-Prozesses in dem Regie-
rungsorgan >Iswestija< einen Leitartikel unter der Überschrift:
»Wenn der Feind sich nicht ergibt, muß er vernichtet werden!« Er
kannte die Verhältnisse in der Sowjetunion allein von zwei Besichti-
gungs-Rundreisen, bei denen er natürlich nur zu sehen bekommen
hatte, was die Sowjetregierung für wünschenswert hielt. Von dem
Chaos der überstürzten Industrialisierung und den Greueln der
Zwangskollektivierung, von der Hungersnot und den Strafarbeits-
lagern hatte er keine Ahnung. Unter diesen Umständen mußten ihm
die »Schädlinge« von Schachty als ewiggestrige Bourgeois, vielleicht
gar Faschisten erscheinen, die von purer Mißgunst gegen den auf-
blühenden Staat der Arbeiter und Bauern getrieben wurden.
Charakteristisch für sein Stück ist, daß es sich weder mit den kon-
kreten Ursachen noch mit dem konkreten Ablauf der angeblichen
Verschwörung befaßt. Da läßt er es bei Andeutungen bewenden und
verbohrt sich dessen in das Seelenleben der Intellektuellen, wo
statt
er die tieferen Ursachen für ihren Widerstand gegen das Sowjet-
system vermutet. Sein Somow ist ein waschechter Faschist, ein ehr-
geiziger und skrupelloser Bursche, der davon träumt, ein Napoleon
zu werden. Umihn herum gruppiert der Dichter ein Sammelsurium
28
verkrachter Existenzen, die aus den Stücken seiner vorrevolutionä-
ren Zeit auferstanden zu sein scheinen: dekadente und lebensuntaug-
liche Ästheten, feige und raffgierige Kleinbürger, heruntergekom-
mene, versoffene Vagabunden und Strolche - eben »gewesene Men-
schen«. Er zeichnet köstliche Typen zum Teil, prachtvolle, vitale
Szenen, es knistert die Spannung unterirdischen Klassenkampfes,
aber das alles hat etwas Zerrissenes, Uneinheitliches, Unausgegore-
nes. Es geht um überlebte philosophische Scheinprobleme, um Res-
sentiments und psychopathische Verirrungen statt um die funda-
mentalen Fragen sozialer und ethischer Natur, die damals überall in
der Sowjetunion zur Debatte standen. Nicht daß Gorki sich für die
Bolschewiki entscheidet, ist die Schwäche des Stücks, sondern daß
er den wirklichen Konflikt kaum anrührt.
Es gibt in dem Schauspiel allerdings eine Figur, eine einzige, wenn
auch mehr am Rande gestaltet, die das Interesse weckt. Es ist der
junge Ingenieur Jaropjegow, der an der Sabotage nicht teilnimmt,
aber auch für die Bolschewisten nichts übrig hat. Tüchtig, kamerad-
schaftlich, fröhlich, überall angesehen und beliebt, besonders bei der
Jugend, den Komsomolzen, ist er die vielleicht sympathischste Ge-
kampf!
Wahrscheinlich dachte er an einen Brief, den Stalin ihm kurz zuvor
geschrieben hatte, in dem es hieß: ». . wenn man die Jugend
.
nimmt, die (ihrer sozialen Lage nach) zu uns gehört, so bringt nicht
ein jeder Nerven, Kraft, Charakter und Verständnis genug auf, um
das grandiose Bild der Niederreißung des Alten und des fieberhaften
Aufbaus des Neuen als ein Bild dessen zu betrachten, was notwendig
und folglich wünschenswert ist, zumal dieses Bild wenig dem para-
diesischen Idyll des allgemeinen Wohlergehens < gleicht, das die
Möglichkeit bieten soll, sich >auszuruhen< und das >Glück zu ge-
nießen <. Begreiflicherweise kann es bei diesem >Kopfschmerzen ver-
ursachenden Getriebe < nicht anders sein, als daß es bei uns Leute
gibt, die müde werden, die Nerven verlieren, sich aufreiben, in Ver-
zweiflung geraten, abtreten und schließlich in das Lager der Feinde
überlaufen. Unvermeidliche Spesen < der Revolution!« Dieser Brief
>
30
einmal mehr politische Kunst möglich, sondern nur noch Propa-
ganda, Politik in Bildern. Da Gorki Künstler, aber nicht Funktionär
war, mußten sich die Geister, die er hatte rufen helfen, eines Tages
auch gegen ihn selbst wenden.
Nur dem Anschein nach hielten sich die Direktiven der Partei an
die Prinzipien, die Gorki in seinem widerspruchsvollen Leben ge-
formt hatte. Im Jahr 1912 hatte der Dichter in einem Brief zum
erstenmal geäußert: »Hinsichtlich der sozialistischen Kunst, ins-
besondere der Literatur, werde ich Ihnen noch besonders schreiben.
Der Gedanke, daß das kein Realismus und keine Romantik, sondern
irgendeine Synthese von beiden sein wird, scheint mir annehmbar.
Ja, es ist möglich, daß es so sein wird.« Diesen Gedanken, der das
logische Produkt seiner eigenen Entwicklung ist, spann er ständig
weiter. 1919 schrieb er in einem Theater- Almanach »Unsere Zeit :
braucht ein heroisches Theater, ein Theater, das sich die Idealisie-
rung der Persönlichkeit zum Ziel setzt, das die Romantik wieder-
erweckt, den Menschen dichterisch verherrlicht . Die Bühne des
. .
vor der Revolution im Jahre 1917 einsetzt und irgendwie zur Gegen-
wart führt, dabei den Anschluß an >Somow und andere < findet. Der
Personenbestand der einzelnen Stücke greift ineinander, wie es in den
Romanen von Balzacs >Comedie humaine< der Fall ist. Der Dichter
hat aber nur die beiden ersten Teile vollendet und die kritische
Grenze, die durch die bolschewistische Oktoberrevolution, das von
ihm einst verurteilte Ereignis, markiert wird, nicht zu überschreiten
vermocht. Das als drittes geplante Stück >Rjabinin und andere <, in
dessen Mittelpunkt zum erstenmal ein Revolutionär stehen sollte,
hat er gar nicht mehr in Angriff genommen. Auch der Inhalt der
beiden fertiggestellten Dramen erscheint vom parteidoktrinären
Standpunkt aus etwas fragwürdig. Jegor Bulytschow, der Held des
ersten, ist ein »weißer Rabe«, ein »anständiger Kapitalist«, der am
Ende seines Lebens begreift, daß die Revolution unaufhaltsam ist
und er selbst »an der falschen Straße gelebt hat«. Als Vorbild diente
Gorki bei dieser Figur der Millionär Bugrow, von dem er in seinen
Erinnerungen berichtet: »Bugrow, der ein Stück Fruchtzucker ab-
gebissen hatte, trank gierig den Tee aus, strich sich über den Bart und
fuhr inständig und leise fort >Es kam eine gefährliche Zeit, eine Zeit
:
der großen Unruhe der Seele. Sie sagen eben - Revolution dazu, die
Auferstehung aller Kräfte der Erde ... Sie eilen voraus, ja voraus
und immer weiter . < « - Dostigajew ist ein glänzender, wendiger
. .
32
anzupassen«, bis zur Vollendung entwickelt hat. Der erstaunliche
Schluß des Stückes besteht darin, daß es ihm sogar gelingt, sich der
bolschewistischen Macht anzupassen.
In seinen späten Werken entwickelte Gorki einen eigenartigen,
unverwechselbaren Stil von letzter Reife. Sein bedeutendstes Merk-
mal besteht darin, daß die äußere Handlung immer mehr zurück-
tritt. Es gibt ganze Akte, in denen so gut wie nichts geschieht, und
andere« dokumentiert sich schon, daß auch der Held nur ein Kraft-
element unter anderen ist, eingebettet in den breit sich dahinwälzen-
den Strom gesellschaftlicher Gestalten und Ereignisse. Ein weiteres
Merkmal dieses Stils kann man darin erblicken, daß die Unterschiede
im Genre, zwischen Tragödie und Komödie, verschwimmen. Gorki
nannte seine Stücke Szenen, Dramen oder bezeichnete sie überhaupt
nicht näher. Der abgründige Haß, mit dem er der bürgerlichen Ge-
sellschaft gegenüberstand, schlug sich in einer aggressiven Zuspit-
zung der Darstellung nieder, die ihr manchmal groteske und ge-
33
spens tische Züge »Die Tragödie«, sagte Gorki einmal,
verleiht.
»schließt alle die so bezeichnende Lächerlichkeit der kleinen spieß-
bürgerlichen Dramen aus, die das Leben von oben bis unten be-
sudeln. Ist es etwa eine Tragödie, wenn sich im zoologischen Garten
Affen raufen?« Henri Barbusse hat für Gorkis Art die treffende Be-
zeichnung »satirisches Panorama« geprägt.
Auch die Heldin des Dramas >Wassa Shelesnowa< ist eine nega-
tive Gestalt, eine Kapitalistin, Besitzerin eines großen Handelsunter-
nehmens an der Wolga. In der ersten Fassung, die Gorki 1910 ge-
schrieben hat, wird geschildert, wie Wassa, um im erbarmungslosen
Konkurrenzkampf zu bestehen, von Verbrechen zu Verbrechen ge-
trieben wird und dem Moloch Kapital all ihre Menschlichkeit, die
Bindung selbst zu den engsten Angehörigen, opfern muß. In der um-
gearbeiteten Fassung stellt Gorki der Wassa Shelesnowa, der eiser-
nen (shelesno heißt Eisen), unerbittlichen Herrin, ihre Schwiegertoch-
ter Rachel entgegen, die Revolutionärin ist. Der Konflikt bekommt
dadurch einen anderen Akzent es geht nun nicht mehr bloß um die
:
mit der Vergangenheit statt mit der Gegenwart bzw. Zukunft, greift
seinen Stoff aus der Familiengeschichte statt aus dem Produktions-
prozeß und dem politischen Kampf, hat im Mittelpunkt keinen posi-
tiven Helden, sondern einen negativen, eine reaktionäre Kapitalistin,
der er auch noch Züge einer echten Tragik gibt, usw. Hätte das
Stück ein junger Nachwuchsdichter geschrieben, so hätte es für
einen Stalin-Preis nie gelangt.
Die Neufassung war Gorkis letztes Werk. Nach der endgültigen
Übersiedlung in die Sowjetunion im Jahre 1932 hat er noch vier
Jahre gelebt. Die sowjetische Legende berichtet, ihn habe mit Stalin
34
dieselbe innige Freundschaft wie mit Lenin verbunden. In den Me-
moiren des Schriftstellers Iwanow, des Autors des Schauspiels
> Panzerzuge der nachträglich auch dem distinguierten Bürger Sta-
wir setzen hinzu, ein Herr der Zeit - das ist unser Josef Wissariono-
witsch « Zum Leidwesen der stalinistischen Biographen finden sich
! <
35
:
36
Tod aufgedeckt. Stalins bisheriger GPU-Chef Jagoda, nun als
»Trotzkist« selbst unter Anklage, wurde für die Ermordung des
Dichters und seines Sohnes M. A. Peschkow verantwortlich ge-
macht. Nach der offiziellen Darstellung, die damals ausgegeben
wurde, erkrankte Gorki im Frühjahr 1936 in Moskau an einer schwe-
ren Grippe. Sein Leibarzt Dr. Lewin führte unter Druck Jagodas
eine künstliche Verschlechterung herbei; die Krankheit entwickelte
sich - wie schon zuvor bei Gorkis Sohn - zu einer kruppösen Lun-
genentzündung. Lewin gestand: »Die bei Gorki angewandte Taktik
bestand in der Verwendung von Medikamenten, die bei einer solchen
Erkrankung im allgemeinen indiziert sind und deren Verabreichung
daher weder Zweifel noch Verdacht erregen konnte. Zu den Mitteln,
die der Anregung der Herztätigkeit dienen, gehören Kampfer,
Koffein, Cardiazol und Digalen. Wir [Ärzte] haben das Recht, diese
Medikamente bei bestimmten Herzkrankheiten zu gebrauchen. Aber
im vorliegenden wurden enorme Dosen verabreicht. Der Patient
Fall
erhielt beispielsweise im Laufe von 24 Stunden vierzig Kampfer-
injektionen. Diese Dosis war für ihn zu stark.
. Dazu kamen zwei
. .
Diese grausige Darstellung vom Tod des Dichters ist bis heute
nicht widerrufen worden.
:
Sie sprechen über das System wie über ein Strafgesetzbuch. Dem einen Dar-
stellerwerfen Sie vor, daß er keine Beziehung zu seinen Partnern hat, dem
anderen, daß er nicht an die gegebenen Umstände glaubt, dem dritten, daß
er nicht sieht, dem vierten, daß er nicht hört usw. Wenn man Ihnen so zuhört,
dann ist es nicht ein schöpferischer Prozeß, sondern irgendein obligatorischer
Erlaß, nach dem zu leben und zu arbeiten allen Theatern vom Stadthaupt-
mann Stanislawski befohlen wurde. Ich garantiere Ihnen, daß die Schauspieler
das System hassen werden, wenn man es mit Gewalt einführen will . . .
39
Revolution ihre Reverenz erweist. Doch als Stanislawski 1938 starb
- ohne inzwischen sein System geändert und zu seiner Lebensarbeit
etwas Nennenswertes hinzugefügt zu haben -, war er mit den höch-
sten Auszeichnungen des bolschewistischen Regimes, dem Orden
des Roten Banners und dem Lenin-Orden, dekoriert worden; sein
System galt als kommunistisches Dogma, als die alleingültige Me-
thode des Sozialistischen Realismus auf dem Theater. Um diese er-
staunliche Metamorphose zu verstehen, muß man den ganzen Wust
von Legenden und Mißverständnissen abtragen, unter dem in-
zwischen Leben, Werk und Gedankengut Stanislawskis begraben
wurden.
40
punkt der Generation, die es so herrlich weit gebracht, blickte Sta-
nislawski nun auf die Theatergeschichte und wunderte sich, »daß ein
so ehrwürdiger Greis wie unser Theater, das schon vor Christi Ge-
burt entstand, sich bis heute noch beinahe im Urzustand befindet und
immer noch naiv seine Kunst einerseits auf die >Intuition< gründet,
das heißt auf die zufällige Eingebung, die vom Himmel hernieder-
gesandt wird, und andererseits auf die grobe, äußerliche, veraltete,
rein handwerksmäßige Schauspielertechnik, die man für inneres
Schöpfertum hält«. Er sah seine Lebensaufgabe darin, die Schauspiel-
kunst so zu vervollkommnen, daß sie den Ansprüchen des wissen-
schaftlichen Zeitalters genüge.
Es ist erstaunlich, mit welcher Herablassung er nicht nur auf die
ohne Zweifel heruntergekommene Schauspielerei der akademischen
Theater seiner Jugendzeit, sondern auch auf die berühmtesten Thea-
terepochen niedersah. »Ich habe versucht, auf den Trümmern des
Theaters von Pompeji zu rezitieren«, berichtete er einmal in einem
Aufsatz. »Obgleich ich gewohnt bin, laut zu sprechen, konnte man
mich nur hören, wenn ich die Stimme sehr anstrengte und jedes Wort
scharf prononciert hervorbrachte. Und je mehr ich meine Ohnmacht
in dem grenzenlosen Raum des offenen Theaters fühlte, um so stärker
wurde der Wunsch, mir durch Schreien, Bewegungen und Mimik zu
helfen, um so mehr empfand ich die Notwendigkeit des Kothurns,
um größer zu sein, des Schalltrichters, um besser gehört zu werden,
einer outrierten Sprechweise, um besser verstanden zu werden, scharf-
geschnittener Masken und übertriebener Gesten, um ausdrucksvoller
zu wirken.« Und er folgerte: »Bei diesen äußeren Bedingungen des
Schaffens konnte die Kunst der Schauspieler des antiken Griechen-
lands nicht groß sein, wenigstens von unserem Standpunkt aus.«
In dieser Einschätzung haben wir bereits die entscheidende Schwä-
che in Stanislawskis Überlegungen: sein Unverständnis dafür, daß es
in der Schauspielkunst so etwas wie einen Stil gibt, daß sich der Aus-
druckswille, daß sich das künstlerische Ziel der Zeiten ändert und
die größtmögliche Annäherung an die alltägliche Wirklichkeit durch-
aus nicht immer und überall als der Gipfel der Kunst angesehen wird.
Der Gedanke kam ihm gar nicht, daß die Akteure des alten Mimos
oder die Schauspieler am Hof des französischen Sonnenkönigs viel-
leicht überhaupt keinen Wert auf die Natürlichkeit der Empfindun-
gen legten, daß sie sie bewußt verwarfen wie die mittelalterlichen
Maler die Perspektive.
Schon in einigen Kindheitserlebnissen, die sich tief in Stanislaws-
kis Seele eingeprägt haben, kommt die Grundtendenz seiner komö-
diantischen Entwicklung zum Ausdruck. Einmal beschäftigte man
sich im Landhaus der Alexejews mit dem Stellen lebender Bilder,
einer damals beliebten Unterhaltung der guten Gesellschaft, und for-
derte den vierjährigen Konstantin auf, zum Schein ein Hölzchen ins
Feuer zu stecken. »Verstehst du? Nur so tun, als ob - aber nicht in
Wirklichkeit!« Der Kleine verursachte prompt einen Brand, so daß
41
eine Panik ausbrach. Stanislawski kommentierte dieses Erlebnis in
seinen Erinnerungen »Ich hatte sicher schon damals, wenn vielleicht
:
büt gab (Zar und Zarin: Iwan Moskwin und Olga Knipper, zwei
junge, unbekannte Schauspieler, die bald weltberühmt sein sollten),
42
da stand und fiel für Stanislawski die Aufführung mit der Beschaf-
fung historisch getreuer Gewänder und Requisiten. Man durch-
stöberte Museen und Gewandkammern, fuhr über Land, um in den
Lagern der Kaufleute und in den Truhen der Bauern nach verborge-
nen Kostbarkeiten zu suchen. Berge von Stickereien, Stoffetzen,
Schmuckgegenständen wurden zusammengetragen. Als das Ma-
terial ihn immer noch nicht befriedigte, fuhr Stanislawski selbst auf
den Nishni Nowgoroder Jahrmarkt und ergatterte von einem Tröd-
ler einen regelrechten Kehrichthaufen, aus dem er Goldstickereien
und altes Schnitzwerk hervorlugen sah. Als man >Othello< zu spielen
beabsichtigte, schickte man eine Expedition nach Cypern, um am
Ort der Handlung (der Shakespeare selber bei der Niederschrift völ-
lig unbekannt gewesen sein dürfte) Studien anzustellen. Vor der
Aufführung von > Julius Cäsar < reisten der Regisseur Nemirowitsch-
Dantschenko und der Bühnenbildner Simow nach Rom; für die
Inszenierung eines Ibsen-Stückes bestellte man Möbel aus Nor-
wegen.
Stanislawski baute hinter der Bühne noch ganze Zimmer auf, die
zwar das Publikum nicht sehen konnte, die aber die Schauspieler
schon vor dem Auftritt in die rechte Stimmung versetzen sollten.
Einmal führte ein Schauspieler des Künstlertheaters einen deutschen
Gast über die Bühne und zeigte ihm unter Zeichen der Ehrfurcht in
einem verschlossenen Schrank einen kleinen, gleichfalls verschlos-
senen Schrein, in dem sich eine erlesene Kostbarkeit befand. Der
Deutsche fragte erstaunt: »Ja, ich habe doch das Stück mindestens
dreimal gesehen: der Schrein wird doch bei euch während dieses
Stückes niemals geöffnet?« Der Russe erwiderte lächelnd: »Es ist
ja auch nicht nötig, daß er geöffnet wird. Wenn wir spielen, freuen
43
:
44
gönnen hatte, errang das Spiel der Stanislawski-Truppe einen trium-
phalen Erfolg. Der Dichter Gerhart Hauptmann schrieb »Ich habe
:
für meine Stücke immer solch ein Spiel erträumt, wie ich es bei Ihnen
gesehen habe - ohne jede theatralische Vergewaltigung und Kon-
vention -, ein einfaches, tiefes, gehaltvolles Spiel. Die deutschen
Schauspieler haben immer behauptet, meine Träume seien unerfüll-
bar, das Theater besäße Forderungen und Konventionen, die nicht
verletzt werden dürften. Jetzt aber habe ich gesehen, wovon ich mein
ganzes Leben geträumt habe.« Und Alfred Kerr, Berlins gefürchtet-
ster Kritiker, rief den Russen nach »Das schmerzlichste ist Jetzt
: :
geht ihr weg, und ich weiß nicht genau, wer ihr gewesen seid. Doch
ich weiß, daß ihr etwas Köstliches gewesen seid. Den Umfang eures
Wertes vermag ich nicht zu erforschen . .« Wenn das Spiel des Mos-
.
war keine geistige Finsternis vorhanden, und deshalb schien auch die
äußere, die naturalistische Finsternis überflüssig.«
45
Tschechows >Möwe< war schon an einem Petersburger Theater
mit großem Skandal durchgefallen, als Nemirowitsch-Dantschenko
sie im ersten Jahr des Künstlertheaters auf den Spielplan setzte. Nur
mit Mühe gewann er die Zustimmung des Dichters, der einen neuer-
lichen Eklat befürchtete. Als Tschechow einmal bei einer Probe er-
schien, erzählte ihm ein Schauspieler, daß man bei der Aufführung
Frösche quaken, Hunde bellen und Grillen zirpen hören werde. »Wo-
zu das?« fragte Tschechow. »Das ist realistisch!« antwortete der
Schauspieler. »Realistisch?« erwiderte Tschechow. »Die Bühne ist
das Reich der Kunst. Wenn man in einem der schönen Gesichter auf
einem Genrebild von Kramskoj die gemalte Nase ausschneiden und
eine aus Fleisch und Blut einsetzen würde, wäre die Nase wohl
realistisch, aber das Bild zerstört.«
Vor der Aufführung wurde Tschechow krank, und man befürch-
tete, daß er bei seinem angegriffenen Gemütszustand einen neuen
Mißerfolg nicht überleben würde. Seine Schwester ersuchte die
Direktion des Theaters, die Premiere zu verschieben, was aber aus
finanziellen Gründen nicht möglich war. Bei der Premiere fieberten
die Mitwirkenden (in Hauptrollen Olga Knipper, die spätere Frau
:
Vogel zu hören, kein Hund bellt, kein Kuckuck ruft, keine Eule
schreit, keine Nachtigall singt, keine Uhr schlägt, keine Glocken
läuten und nicht ein einziges Heimchen zirpt!«
Wie Stanislawski selber in seinen Erinnerungen zugibt, war das
naturalistisch orientierte Ensemble anfangs nicht imstande, die
Eigenart der Tschechowschen Stücke im Spiel der Darsteller zu er-
fassen, jenes »Aroma«, das der Dichter ausdrückt vor allem in den
poetischen Assoziationen und Valeurs, im Strom eingeschobener
Lyrik und in den unterschwelligen Stimmungen, den Nebentönen
und Pausen des Dialogs (dem »Untertext«, wie Stanislawski sagt).
Stanislawski konzentrierte sich auf die szenischen Elemente, auf De-
koration, Beleuchtung, Geräusche. Mit ihrer Hilfe hat er erstmals,
wenn auch oberflächlich, die Stimmung der Tschechowschen Dich-
tung bloßgelegt, jenes schwer bestimmbare Air träger Melancholie,
das in den angelsächsischen Ländern als chekhovian sprichwörtlich
46
geworden ist; er hat ferner die eigenartig verschwebenden, hand-
lungsarmen poetischen Gebilde, die wir niemals wieder missen
möchten, zu spielbaren Bühnenstücken entwickelt - ihre ganze Tiefe
freilich hat er, wie er mit der ihm eigenen intellektuellen Ehrlichkeit
zugesteht, noch nicht ausschöpfen können. Seine an Tschechow
orientierte »Linie der Intuition und des Gefühls« erscheint uns heute
als eine in ihrer Art bemerkenswerte impressionistische Variante des
Naturalismus.
Die Werke Gorkis boten Stanislawski Anlaß, seinem Stil eine
neue Nuance hinzuzufügen: die sogenannte »gesellschaftliche Linie«.
Im wesentlichen spielte er die Gorki-Stücke naturalistisch. Beispiels-
weise ließ er in der Pogromszene des Dramas >Kinder der Sonne <
eine tobende, schreiende und wild gestikulierende Menge derart
lebensecht in die Handlung einbrechen, daß viele Zuschauer an
wirklichen Aufruhr glaubten und Anstalten trafen, zu flüchten man ;
mußte in aller Eile den Vorhang fallen lassen. Als die Aufführung
des >Nachtasyl< vorbereitet wurde/ zog die ganze Schauspieler-
gesellschaft zwecks Milieustudium zum Chitrowmarkt, dem Mos-
kauer Landstreicherviertel. Sie schleppten Wodka und Wurst ins
Nachtasyl und tafelten mit den Vagabunden. Um
ein Haar wäre es
dabei zu einer ernsten Schlägerei gekommen, weil der Bühnenbild-
ner Simow ein aus der Illustrierten ausgeschnittenes Bild, das die
Asylbewohner zu Tränen rührte, nicht schön finden wollte.
Nun trat jedoch bei der Darstellung von Gorkis Werken eine zu-
sätzliche Schwierigkeit auf, wie man nämlich deren aufdringliche po-
litische Tendenz bewältigen sollte. Die Auseinandersetzung mit die-
sem Problem führte Stanislawski zu einer sehr fruchtbaren Auffas-
sung von der Interpretation politischer Stücke, die schon deshalb
näher zu betrachten lohnt, weil sie in eklatantem Gegensatz zum bol-
schewistischen Prinzip der Parteilichkeit steht. Der Regisseur machte
sich eine Erfahrung zunutze, die ihm in der revolutionären Zeit von
1905 mit einer Aufführung von Ibsens > Volksfeind < widerfahren war.
»In jener politisch erregten Zeit war in der Öffentlichkeit ein sehr
starkes Gefühl des Protestes lebendig. Man erwartete einen Helden,
der es wagen würde, der Regierung geradeheraus die grausame Wahr-
heit ins Gesicht zu sagen. Man brauchte ein revolutionäres Stück -
und machte den > Volksfeind < zu einem solchen. Das Werk wurde
beliebt, ungeachtet dessen, daß der Held eigentlich die geschlossene
Masse verachtet und sich in Lobeserhebungen für die Individualität
einzelner Persönlichkeiten ergeht, denen er die Leitung des Lebens
übertragen möchte. Doch Stockmann protestiert. Stockmann spricht
unerschrocken die Wahrheit, und das genügte, um einen politischen
Helden aus ihm zu machen Fortwährend, zudem an Stellen, bei
. . .
47
und Verhaftungen erwarten konnte. Im letzten Akt, in dem Stock-
mann seine durch die Menge verwüstete Wohnung
wieder in Ord-
nung bringt, findet er inmitten des allgemeinen Durcheinanders
seine schwarzen Hosen, die er am Tage vorher auf der öffentlichen
Versammlung getragen hat. Beim Anblick der Löcher in ihnen sagt
Stockmann zu seiner Frau: >Man soll nie seine besten Hosen an-
ziehen, wenn man hingeht und für Wahrheit und Freiheit ficht. <
Die im Theater Anwesenden bezogen diesen Satz unwillkürlich auf
den Zusammenstoß auf dem Kasaner Platz, wo wahrscheinlich eben-
falls viele neue Kleidungsstücke im Namen der Freiheit und der
Wahrheit zerrissen worden waren. Nach diesen Worten erhob sich
im Saal so lärmender Beifall, daß wir notgedrungen das Spiel unter-
brechen mußten. Einige sprangen von ihren Plätzen, stürzten an die
Rampe und streckten mir die Hände entgegen .« . .
Stanislawski fährt dann fort : »Doch wir, die Darsteller des Wer-
kes und der Rollen, dachten, als wir auf der Bühne standen, nicht an
Politik. Im Gegenteil, die durch die Aufführung hervorgerufenen
Demonstrationen kamen uns unerwartet, für uns war Stockmann
kein Politiker oder Versammlungsredner, sondern lediglich ein von
seinen Ideen besessener, ehrlicher und gerechter Mensch, ein
Freund seiner Heimat und des Volkes, wie es jeder ehrliche und
wahre Bürger des Landes sein sollte. So erschien die Aufführung
dem Zuschauer politisch, für mich hingegen war der >Volksfeind<
eines der Werke und der Inszenierungen, welche auf der Linie der
Intuition und des Gefühls lagen Ganz unerwartet sah ich mich
. . .
48
ging - die Tendenz des Naturalismus lag eben in dem Bekenntnis zur
untendenziösen Wahrheit, die nach Meinung der naturalistischen
Theoretiker allein deshalb revolutionär wirkt, weil die alte, aristo-
kratische Welt sich von der Wahrheit gelöst, das Leben vergewaltigt
hat. Um das Beispiel Stanislawskis zu strapazieren: Hätte nicht die
zaristische Polizei am Petersburger Blutsonntag die Demonstranten
so unmenschlich niedergeknüppelt, wäre aus Ibsens > Volksfeind <
nie ein revolutionäres Stück geworden. Daraus ergab sich die Kon-
sequenz, Gorkis aufgesetztes politisches Pathos nach Möglichkeit zu
unterspielen - eine Lösung, mit der Gorki selbst keineswegs einver-
standen war (so äußerte sich der Dichter über die erfolgreiche Auf-
führung des >Nachtasyl< »Mir ist dabei nicht sehr wohl zumute ...«).
:
49
Optimismus des Bürgertums mit einem Schlage hinwegfegte. Auf die
Arbeit des Künstlertheaters wirkten sich diese Ereignisse vor allem
in der Notwendigkeit aus, das Repertoire umzustellen. Tschechow
war ein Jahr zuvor gestorben, Gorki mußte ins Exil, und im euro-
päischen Theaterleben trat eine neue literarische Richtung auf, die
mit naturalistischen Mitteln nicht mehr zu bewältigen war. Auf dem
Spielplan des Künstlertheaters herrschten nun Hamsun, Maeterlinck,
Dostojewski, der russische Dekadente Andrejew, der mittlere Haupt-
mann und der späte Ibsen.
Welch eine Wandlung ist festzustellen, wenn man die jetzt folgen-
den Inszenierungen des Künstlertheaters betrachtet! Über die Auf-
führung von Hamsuns >Spiel ins Leben < berichtet Stanislawski: »Auf
dem Jahrmarkt zwischen den Läden, die mit Lasten von Waren voll-
gestopft sind, zwischen der Menge der Käufer und Händler wütet
eine Choleraepidemie, die wie ein Alp auf allem lastet. Über die wei-
ßen Zelte der Händler gleiten wie auf einer Filmleinwand deren
schwarze, unheimlich wirkende gespenstische Schatten. Die Schat-
ten messen Stoff ab, während die Käufer teils unbeweglich stehen,
teils sich in ununterbrochener Folge vorbeischieben. Die Zelte er-
strecken sich in Reihen über die Absätze des Berges, wodurch die
ganze Fläche des Berges mit Schatten angefüllt ist, während andere
Schemen wie rasend auf dem Jahrmarktskarussell durch die Luft
sausen, sich hoch erheben und wieder zu Boden sinken. Gleich einer
Höllenmusik stürmen die Töne einer Drehorgel zischend und pfei-
fend hinter den Vergnügungssüchtigen her. Andere tanzen auf dem
Proszenium im Ausbruch der Verzweiflung wild umher und fallen
während ihres leidenschaftlichen Tanzes tot um, Opfer der Cholera.
Inmitten dieser >Orgie während der Pest< und des sinnlichen Chaos
muten das Erscheinen gespenstischer Musikanten oder das Nordlicht
auf dem Winterhimmel, ebenso wie das Getöse unterirdischer
Schläge im Steinbruch, wo athletische Arbeiter Marmor für den Gei-
zigen gewinnen, wie prophetische Zeichen an .« Die Aufführung
. .
endete mit einem spektakulären Erfolg. Die eine Hälfte der Zu-
schauer applaudierte ungestüm und schrie: »Tod dem Realismus!
Nieder mit den Heimchen und den Mücken! Hoch das fortschritt-
liche Theater! Es leben die Linken!« Die andere Hälfte zischte und
beklagte sich: »Schande dem Künstlertheater! Nieder mit den De-
kadenten! Es lebe das alte Theater!«
Bei der Aufführung von Andrejews tief pessimistischem >Leben
des Menschen < kleidete man alles in schwarzen Samt, der »den Büh-
nenraum zu einer grauenerregenden Gruft werden ließ, in der wir
Todeshauch zu spüren glaubten«. So nahm Stanislawski mit außer-
ordentlicher Kühnheit und Konsequenz die Zeichen der Zeit auf, die
seiner Arbeit völlig neue Perspektiven eröffneten.
Ein Kreis neuer Freunde trat in sein Leben ein. Da war der hoch-
begabte, einfallsreiche Musiker Ilja Saz, ein Komponist der linken
Richtung, der die Bühnenmusik auf neue Weise mit dem Spiel ver-
50
schmolz und eigenartige Volksmusik-Instrumente, Hirtenpfeifen,
Lyren, wie sie die alten Psalmodisten gebraucht hatten, und kau-
kasische Instrumente heranzog. Für seine Bühnenbilder gewann
das Künstlertheater moderne Maler, so den lyrischen Dobushinski,
den späteren Avantgardisten des Films Jegorow, schließlich Rörich
und Benois, die dem Djaghilew-Ballett nahestanden. Diese Berüh-
rung mit den Revolutionären verwandter Künste inspirierte Stanis-
lawski zu Experimenten auf dem eigenen Gebiet. Er gründete zu-
sammen mit seinem ehemaligen Schüler Meyerhold, der sich einst
aus Abneigung gegen den Naturalismus von ihm gelöst hatte, das
Studio auf der Powarskaja, das aber recht bald aus finanziellen Grün-
den wieder zusammenbrach. Die Legende von einer Urfehde zwi-
schen Stanislawski und Meyerhold wird am besten durch einige
Äußerungen des Meisters über ihr damaliges Verhältnis widerlegt:
»Ich war auf die Persönlichkeit gestoßen, die ich damals in der
Periode des Suchens so notwendig brauchte. Ich beschloß, Meyer-
hold bei seinen Neuinszenierungen zu helfen, die, wie es schien, mit
meinen Träumen ziemlich identisch waren.« Und an einer anderen
Stelle: »Aus den Protokollen und Briefen entnahm ich, daß wir
grundsätzlich einer Meinung waren und das suchten, was in anderen
Künsten schon gefunden war, in unserer aber noch nicht angewendet
werden konnte.«
Einige Jahre nach dem gescheiterten Unternehmen auf der Po-
warskaja gründete Stanislawski ein neues Studio (das sogenannte
erste, dem bald weitere folgen sollten), und zwar in Zusammenarbeit
mit einem seiner faszinierendsten Regieschüler, Leopold Sulershitzki.
Suler war früher einmal wegen Militärdienst- Verweigerung zu
Festungshaft verurteilt worden. Er war ein überzeugter Tolstojaner,
übertrug des Dichters Manuskripte ins reine und bekam von ihm den
Auftrag, die religiöse Sekte der Duchoborzen, pazifistische »Geistes-
kämpfer«, aus dem Kaukasus nach Kanada zu evakuieren. Zwei
Jahre leitete er diese kanadische Kolonie und ruinierte unter den un-
wirtlichen Verhältnissen seine Gesundheit. Zur Zeit seiner Arbeit
am Künstlertheater lebte er illegal in Moskau und nächtigte oft auf
den Boulevards. Durch ihn sind manche Elemente des Tolstojaner-
tums insbesondere in Stanislawskis Ethik eingegangen, z. B. die Vor-
stellung vom Theater als Stätte sittlicher Läuterung, von der Schau-
spielergemeinschaft als einer Art geistigen Ordens, einer Verbin-
dung von Schauspielpraxis mit tätiger Landarbeit und einer asketi-
schen Selbstvervollkommnung des Menschen als Voraussetzung
künstlerischen Schaffens. Sulershitzkis früher Tod im Jahre 1916
hatte die seltsame Folge, daß ausgerechnet er neben dem ebenfalls
jung dahingegangenen Wachtangow der einzige der großen Stani-
slawski-Schüler war, den die offizielle sowjetische Theatergeschichts-
schreibung gelten ließ; die beiden Frühvollendeten wurden nicht
mehr in die Kunstdiskussionen der Stalin-Zeit verstrickt.
Etwa zu gleicher Zeit geriet Stanislawski unter den Einfluß zweier
51
großer Künstler aus dem Westen: Isadora Duncan und Gordon
Craig. Als er zum ersten Mal den Ausdruckstanz der Duncan sah,
empfand er sofort, »daß in den verschiedensten Enden der Welt auf
Grund uns unbekannter Bedingungen verschiedene Menschen in
verschiedenen Gebieten von verschiedenen Seiten her in der Kunst
ein und dieselben regelmäßigen, ganz organisch entstandenen Schaf-
fensprinzipien suchen. Wenn sie sich treffen, sind sie über die Ge-
meinsamkeit und Verwandtschaft ihrer Ideen erstaunt. Gerade das
ereignete sich auch bei dieser Begegnung: wir verstanden einander
bei der ersten Andeutung«. Auf Anregung der Tänzerin lud Stani-
slawski ihren Freund Gordon Craig nach Moskau ein. Craig war
der große Bahnbrecher des symbolistischen Theaters und verstand
es, Stanislawski für seine Idee einer »Kunst der Bewegung« zu be-
geistern. Unter Assistenz von Stanislawski und Suler inszenierte er
den >Hamlet<, eine berühmt gewordene, anspruchsvolle, von vielen
revolutionären Regie- und Dekorationsideen getragene Aufführung,
die dem Künstlertheater neuen Glanz einbrachte (Hamlet: Wassili
Katschalow). Wenn man noch die Freundschaft und gegenseitige
Anregung berücksichtigt, die zwischen Stanislawski und Max Rein-
hardt bestand, wird deutlich, wie sehr der große Russe mit dem ge-
samteuropäischen Theater verbunden war, an dessen vorderster
Front er kämpfte und rang, bis die kommunistische Machtübernahme
diese Tendenz schließlich rigoros abschnitt.
Spricht man also davon, daß Stanislawski den Naturalismus in
Rußland durchgesetzt hat, darf man nicht vergessen, daß er auch den
Symbolismus und Surrealismus kreierte. Wir können heute schwer
beurteilen, welcher Rang den Aufführungen in Stanislawskis mitt-
lerer Periode, die man von 1905 bis 1917 rechnen muß, zukommt. In
Rußland errangen sie einen demonstrativen Erfolg, im Ausland sind
sie kaum bekannt geworden. Die sowjetische Literatur geht über
diese Periode, die Stanislawski als die seiner »künstlerischen Reife«
bezeichnet hat, begreiflicherweise mit wenigen Andeutungen, einem
dunklen Hinweis auf irgendwelche »idealistischen Irrtümer« hin-
weg. Stanislawski selbst steht in seinen Erinnerungen den Leistun-
gen dieser Zeit recht kritisch gegenüber, aber das will nicht viel be-
sagen, denn dieselbe negative Meinung hat er auch über die natura-
listischen Inszenierungen der Frühzeit, die in der ganzen Welt Sen-
sation machten. Die Wahrheit wird sein, daß diese mittleren Ein-
studierungen sich wie die frühen durch eine einseitige Genialität
oder geniale Einseitigkeit ausgezeichnet haben dürften.
Ihre entscheidende Schwäche war offensichtlich der Widerspruch,
der sich zwischen den neuen, ins Metaphysische zielenden Regievisio-
nen und der alten, am Naturalismus geschulten Schauspielerpraxis
auftat. »Nun begriff ich den Zwiespalt in mir«, notierte Stanislawski,
»das Mißverhältnis zwischen den inneren Anlässen schöpferischer
Gefühle und ihrer Darstellung durch den eigenen Körper.« Es ging ja
nicht mehr darum, die Alltagswelt widerzuspiegeln, sondern Träume,
52
Ahnungen und Sehnsüchte auszudrücken. Um dieses Ziel zu erreichen,
nahm er den Schauspielern bewußt alle äußeren Mittel der Verkör-
perung - Gesten, Bewegungen, Gänge und Handlungen -, »weil sie
mir damals als zu körperlich, realistisch, materiell erschienen, wäh-
rend ich eine körperlose Leidenschaft in ihrer unverbildeten Urform
brauchte, wie sie geradewegs aus der Seele des Schauspielers ent-
springt«. Der Erfolg war aber nur eine Verkrampfung, die sich nicht
wesentlich von jenen schauspielerischen Schablonen unterschied,
gegen die der junge Stanislawski einst ins Feld gezogen war.
Neidvoll studierte Stanislawski die Aussageweise der expressio-
nistischen Malerei und versuchte vor dem Spiegel, ihre Formen ins
Mimische zu übertragen. Aber er erblickte da nur eine Karikatur
seiner selbst - der Körper ließ sich nicht beliebig spiritualisieren.
»Mein Gott«, rief er aus, »sind wir Bühnenkünstler durch die Mate-
rialgebundenheit unseres Körpers also ewig dazu verdammt, Grob-
realem zu dienen und auch nur dieses darzustellen? Sollten wir wirk-
lich nicht berufen sein, über das hinausgehen zu können, was unse-
ren Realisten in der Malerei« - den heute in der Sowjetunion so ge-
feierten Genremalern des 19. Jahrhunderts - »zu ihrer Zeit so gut
gelang? Sollte unsere künstlerische Tätigkeit nicht mehr als die jener
Maler sein?« Er dachte an das schier immateriell erscheinende Ballett,
an die Akrobaten im Zirkus, die wie Vögel von Trapez zu Trapez
fliegen. In solcher Weise wünschte er seinen Körper beherrschen zu
lernen. Er wandte sich dem Sprachstudium zu und ersehnte für seine
Stimme einen Klang wie Musik. Es muß doch möglich sein, dies zu
erreichen, so sagte er sich, und erinnerte sich eines Erlebnisses, wie
einmal ein Schauspieler mit ausgesprochen schwacher Stimme ur-
plötzlich, als er von großen Schäferhunden angefallen wurde, einen
Schrei hervorstieß, der kilometerweit zu hören war. Also bedeutet
das, folgerte er, daß es nur darauf ankommt, ganz in dem Rollen-
erlebnis aufzugehen. Aber wie erreicht man solche Inspiration ohne
Krampf?
Schließlich gelang es ihm, eine höchst eigenartige Brücke von
seiner alten naturalistischen Schauspielermethodik zu den neuen
Ideen zu schlagen, nämlich vermittels der indischen Mystik, die da-
mals in Rußland gerade in Mode kam. Es ist eigentlich erstaunlich,
daß die meisten Biographen Stanislawskis (bei den sowjetischen ist
es allerdings selbstverständlich) an diesem Phänomen vorübergehen,
obwohl die Parallelität seines Systems zum Yoga doch schlagend ist.
Von hier stammt offensichtlich der Grundgedanke : die Beschwörung
der Intuition durch physische Übungen. Direkt nach dem Vorbild
der Yogi führte Stanislawski Konzentrations- und Autosuggestions-
übungen in den Schauspielunterricht ein. Von einer seiner Schau-
spielerinnen wird berichtet, daß sie sich vor dem Auftritt mit einem
Tuch bedeckte: Keiner durfte sie anreden; als einige Frechdachse
das Tuch hochhoben, um zu sehen, was sie mache, wurde sie böse
und sagte: »Sie reißen mich aus dem Kreis, und ich muß gleich auf
53
dieBühne.« Unter dem Einfluß der Yogamystik bekam der Grund-
gedanke seines Systems, das Aufgehen im Milieu, einen ganz ver-
änderten, seinen endgültigen Charakter. »Zur Zeit des Naturalis-
mus«, so schreibt er, »glaubte ich, daß der Regisseur den Alltag des
Lebens in Rolle und Stück deshalb studieren und erfühlen müsse,
um ihn dem Zuschauer so plastisch vor Augen führen zu können,
daß dieser veranlaßt wird, in dem auf der Bühne dargestellten Milieu
ganz selbstverständlich mitzuleben. Erst später erkannte ich die
wahre Bedeutung der echten Milieutreue. Die Milieutreue endet dort,
wo das Unterbewußtsein beginnt. Ohne Milieutreue, die mitunter
bis zum Naturalismus gehen kann, gibt es kein Eindringen in die
Sphäre des Unbewußten. Wenn der Körper nicht zu leben anfängt,
kann die Seele auch nicht glauben.«
Diese Rolle des Unbewußten beim schauspielerischen Gestal-
tungsprozeß, an der Stanislawski bis zum Ende festhielt, sollte es
eigentlich unmöglich machen, das System in den dialektischen Ma-
terialismus, der von der grundsätzlichen Erkennbarkeit der Welt
ausgeht, einzugliedern. In der Tat ist das Fallenlassen dieser Kom-
ponente einer der Gründe für die Verarmung der Methode unter
Stanislawskis sowjetischen Epigonen. Die Begegnung mit der indi-
schen Lehre und den irrationalen Strömungen in Europa am Anfang
des zwanzigsten Jahrhunderts war für Stanislawski das zweite Grund-
erlebnis seiner Laufbahn, nicht weniger aufwühlend als der Ein-
druck, den das naturwissenschaftlich-materialistische Denken des
ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts auf ihn ausgeübt hat. Leider
hat er keine Gelegenheit mehr gehabt, seine Erkenntnisse voll aus-
reifen zu lassen; die Vorbereitungen zu einer Aufführung von
Rabindranath Tagores > König der dunklen Kammer < wurden durch
die Oktoberrevolution abgebrochen. Der wesentliche Erfolg der
neuen Methode gelang eigentlich auf einer Nebenlinie: Die Auf-
führungen russischer Klassiker realistischen Typs, die im Künstler-
theater nach wie vor neben den modernistischen Unternehmungen
herliefen, verloren ihre naturalistische Erdenschwere und gerieten
lichter, subtiler, vergeistigter; Turgenjews Komödie >Ein Monat auf
dem Lande < wurde - noch vor dem Kriege - einer der schönsten
Erfolge des MCHAT. Da nach der Revolution nur noch diese Rich-
tung akzeptiert wurde (abgesehen von der kommunistischen Ten-
denzdramatik, die Stanislawski nicht spielte), blieb die Entwicklung
des Systems zwangsläufig in diesem Stadium stecken.
54
sehe Aufführung von Byrons Mysterium >Kain< in Szene gesetzt,
die aber völlig mißverstanden wurde und trotz der Glanzleistung des
Hauptdarstellers Leonid Leonidow mit Pauken und Trompeten
durchfiel. Stanislawski machte seiner Verärgerung Luft, indem er
nun höchst unzeitgemäß Lecocqs alte Operette >Madame Angot<,
eine Verspottung der Französischen Revolution, auf den Plan seines
Musikalischen Studios setzte - eine Anzüglichkeit, die ihm natürlich
neue Anfeindungen eintrug. Nach der Auslandsreise, die dem Künst-
lertheater eine gewisse Atempause gewährte, geriet Stanislawski in
zunehmende Vereinsamung. Suler, Wachtangow, Ilja Saz und der
dem Theater verbundene russische Dramatiker Andrejew waren tot;
einige der besten Kräfte des Ensembles, darunter die Germanowa,
waren nach der Tournee im Ausland geblieben, wo auch Gorki und
Benois weilten. Meyerhold hatte einen ganz anderen Weg beschrit-
ten und stand als Theaterrevolutionär auf dem Gipfel der öffent-
lichen Anerkennung er forderte seinen ehemaligen Lehrer auf, sein
;
Man versteht ihn nicht mehr - ein Führer ohne Armee, ein Lehrer
ohne Schüler . . Zeugt diese ihrem Wesen nach tragische Erschei-
.
56
die Gefühle und Gedanken der Darsteller und Zuschauer. Mögen die
Inszenierung des Regisseurs und das Spiel der Darsteller getrost na-
turalistisch, konventionell, links oder rechts gerichtet sein, mögen
sie impressionistisch, futuristisch sein! Ist das alles nicht unwesent-
lich, wenn sie nur überzeugend sind, das heißt wirklichkeitsgetreu
oder glaubhaft und schön, nämlich künstlerisch erhaben, und das
wirkliche Leben des menschlichen Geistes wiedergeben, ohne das
keine Kunst bestehen kann?«
Stanislawskis Antipathie gegen jegliche politische Tendenz auf
der Bühne trübte ihm nicht den Blick für die formalen Errungen-
schaften der kommunistischen Theaterrevolution - »Auch ich singe
ihnen Lobeshymnen«, schrieb er einmal, »doch mit Vorbehalt« -,
aber sie hielt ihn ab, sich an einer Bewegung zu beteiligen, die er für
theaterfremd hielt. Nur einmal studierte er mit Hingabe ein Sowjet-
stück ein, Iwanows >Panzerzug 14-69 <, und diese Inszenierung war
bezeichnend genug für seine Einstellung. Sie fand aus Anlaß der
Zehnjahresfeier der Revolution 1927 statt, als das Künstlertheater
nicht mehr umhin konnte, von der neuen Zeit Notiz zu nehmen. Ein
nichtkommunistisches Bürgerkriegsstück, >Die Tage der Turbins<
von Bulgakow, das ein Jahr zuvor am MCHAT uraufgeführt wor-
den war, hatte einen unbeschreiblichen Skandal in der SowjetöfTent-
lichkeit ausgelöst und vom Spielplan abgesetzt werden müssen.
>Panzerzug< sollte ein Dokument des guten Willens werden. Stani-
slawski arbeitete monatelang mit dem Autor und setzte sein ganzes
Genie als Regisseur, glänzende Schauspieler (Katschalow, Chmel-
jow u. a.) ein, um das letzte herauszuholen. Er schuf eine grandiose
Massenszene auf dem Dach der Dorf kirche, dem Versammlungsplatz
der sibirischen Partisanen, ein Panorama voller Pathos, Kraft und
Weite. Er ließ den Panzerzug, der einen chinesischen Revolutionär
zermalmt, aus dem dunklen Bühnenraum unter entsetzlichem Getöse
direkt auf die Zuschauer zurasen.
Und er tat sein möglichstes, dem Stück die aufdringliche Tendenz
zu nehmen. So berichtet der Autor Iwanow, wie ihn Stanislawski
einmal während einer Probe ansprach »Wie ist Ihrer Meinung nach
:
sche beiseite ließe? Russen sind an sich kein exotisches Volk. Nese-
lassow ist ein gewöhnlicher Armeeangehöriger, der in den Dienst
der Amerikaner und Japaner geraten ist. Ich glaube nicht, daß er ein
Gefallen daran findet, sich als Sklave zu fühlen. Es ist ihm unan-
genehm. Aber andererseits haßt er die Bolschewiki derart, daß er
57
sich aus Haß damit abfindet, ein Sklave der Amerikaner zu sein. Die
Bolschewiki, sehen Sie, haben ihm sein Gut, sein Häuschen, sein
Geld auf der Bank weggenommen, er hat daher das Gefühl, als sei
ganz Rußland des Russischen beraubt! Er ist im Grunde dumm,
kurzsichtig, ein kleiner Mensch. Kleiden Sie ihn exotisch, so wird er
höchstwahrscheinlich in nichts glaubhaft.« Auch den kommunisti-
schen Helden holte er vom Kothurn herunter. Er nahm ihm alles
Heroische, Pathetische, Deklamatorische. Der Revolutionär trat zu-
rückhaltend auf, sprach leise, war kurzsichtig und machte den Ein-
druck eines sonderbaren Kauzes, hinter dessen äußerer Unzugäng-
lichkeit sich aber Verstand, Energie und Empfindung verbargen.
»In der Aufführung spürt man nichts von der Revolution, sosehr
auch auf der Bühne aus Gewehren und sogar Geschützen gefeuert
wird«, schrieb einer der damals führenden sowjetischen Kritiker.
»So führte man in diesem Theater bereits vor dreißig Jahren die
Stücke Tschechows und die historischen Chroniken auf. Es sind
immer noch dieselben Masken auf der Bühne, es ist immer noch der-
selbe trostlose Naturalismus und dasselbe Psychologisieren.«
Der alte Stanislawski zog sich nun ganz in das Schneckenhaus
seines Studios zurück. Er rekapitulierte sein System: 553 Proben
wandte er an eine Experimental-Einstudierung des >Tartuffe< von
Moliere. Und erklärte »Ein Gebiet gibt es, auf dem wir noch nicht
:
inneren und äußeren Technik unserer Kunst, die für alle gleich ver-
bindlich ist - Junge und Alte linker oder rechter Richtung, Frauen
oder Männer, Talentierte oder Durchschnittsmenschen. Eine rich-
tige Stimmschulung, Rhythmik, eine gute Diktion benötigt der-
jenige, der in alter Zeit >Behüte Gott den Zaren < sang, ebenso wie
!
der, welcher jetzt die Internationale singt. Auch die Vorgänge des
schauspielerischen Schaffens bleiben in ihren natürlichen Grund-
lagen für die neue Generation die gleichen wie für die alte.« Stani-
slawski fragt: »Wie kann ich nun der jungen Generation die Ergeb-
nisse meiner Erfahrungen mitteilen?« und kommt zu dem Schluß,
den er ganz am Ende seiner Lebenserinnerungen ausspricht: »Das
Gold auf meinem künstlerischen Wege, Ergebnis des Suchens wäh-
rend meines ganzen Lebens, ist mein System .« . .
58
ist auch nicht eines, in dem System klar und verständlich
er sein
dargestellt hätte. Stanislawskis Schwäche, andererseits natürlich auch
wieder seine Stärke, war es, daß er mehr ein intuitiver als theoreti-
scher Denker war. Er entwickelte seine Methode an Hand ganz kon-
kreter Fälle und vermittelte seine Erkenntnis wiederum im Rahmen
konkreter, praktischer Unterrichtsaufgaben. Terminologie, Argu-
mentation und Ausdeutung wechseln ständig, Erkenntnisse aus ver-
schiedenen Reifestadien gehen durcheinander oder laufen nebenein-
ander her. Zudem ist er nach seinen eigenen Angaben nie zu einem
eigentlichen Abschluß gelangt, er hat seine Methode bis zum Schluß
als einen komplizierten und widerspruchsvollen Prozeß des Suchens
und Tastens aufgefaßt, vor dessen dogmatischer Nachahmung er
ausdrücklich warnte. Wahrscheinlich war dieser fragmentarische
Charakter des Werkes unvermeidlich, wenn man bedenkt, daß es sich
um die diffizilsten psychologischen und ästhetischen Fragen, um die
Analyse des künstlerischen Schaffensprozesses handelte.
Stanislawskis stalinistische Epigonen haben dann versucht, das
wolkige System auf ein mathematisches Koordinatengitter aufzu-
spießen, es durchzurationalisieren, und dabei eine »Technik der
Zaubersprüche« entwickelt, von der ein Zitat aus dem Standardwerk
von Albakin >Das Stanislawski-System und das Sow et- Theater <
j
einen Begriff gibt: »Während das Stück studiert wird, wird die
> Überaufgabe < bestimmt, die die Grundidee der bevorstehenden
Aufführung ausdrückt, es wird die Linie der durchgehenden Hand-
lung <, die zielbewußt auf die Überaufgabe gerichtet ist, für das ganze
Stück und für die Aufführung festgelegt. Außerdem wird der >Unter-
text< des Stückes und der einzelnen Rollen studiert, es wird der
>Kern< jeder Bühnengestalt, es wird die Perspektive des Schau-
spielers < und die Perspektive der Rolle < festgelegt, aus denen sich
die Perspektive der Aufführung ergeben muß. Die vorgeschlagenen
Umstände < des Stückes werden studiert und erforscht, der ganze
Text wird in >Teile und Aufgaben < für den Schauspieler und für den
Regisseur zerlegt.« Wenn man bedenkt, daß dieses Gestrüpp trok-
kener, ausgetüftelter Vorschriften als unantastbares stalinistisches
Dogma dargeboten wurde, gegen das keinen Zweifel und kein
es
Aufmucken geben durfte, so versteht man, warum der Name Stani-
slawski für die Schauspieler hinter dem Eisernen Vorhang zu einem
Alptraum geworden ist.
Wir wollen den Versuch wagen, einen knappen Umriß von Stani-
slawskis System zu geben. Es ruht, vereinfacht gesagt, im wesent-
lichen auf zwei Säulen, die mit den Termini technici »Physische
Handlungen« und »Überaufgabe« bezeichnet werden. Das Prinzip
der sogenannten Physischen Handlungen besteht darin, daß der
Schauspieler angehalten wird, auf der Bühne nicht so fühlen zu wol-
len, als ob verkörpernde Gestalt wäre, sondern so zu han-
er die zu
deln. »Ich verstehe alles, Konstantin Sergejewitsch, was Sie von uns
fordern«, bemerkte ein Darsteller bei der Probe. »Sie verlangen von
59
uns nicht sosehr ein >Erleben<, wie es bisher in der schauspieleri-
schen Arbeit üblich war, als vielmehr ein organisches Handeln ..« .
den als Ergebnis Ihres Urteils über die faktischen Vorgänge und
Handlungen, die Sie zu vollführen begonnen haben, von selbst in
Ihnen entstehen.« Der Begriff Physische Handlung ist nicht ganz
korrekt, denn es ist die komplexe menschliche Handlung gemeint,
also nicht nur die mechanisch-physische, sondern auch die psychische
Äußerung, der Wille, die Worthandlung. Stanislawski wollte mit
seiner Formulierung nur betonen, daß es ihm auf das einfache, reale
Verhalten ankommt, und seine Methode abgrenzen von dem krampf-
haften Erzeugenwollen der Gefühle aus dem Blauen heraus, das zur
Schmiere führt, und von einem routinemäßigen Einlernen gewisser
genormter menschlicher Ausdrucksformen, z. B. Augenrollen bei
Zorn, Grinsen bei Freude usw. Der Schauspieler soll seine Rolle
jedesmal neu erleben, indem er ihre Handlungen absolviert. Um die
Wirkung auf den Zuschauer soll er sich überhaupt nicht kümmern,
nur um das Handeln in der Rolle und das Zusammenspiel mit dem
Partner. Schauspieler, die unter Stanislawski nach dieser Methode
gearbeitet haben, berichten, daß sie zuerst ein befremdendes Gefühl
der Unsicherheit, der Ungenauigkeit gehabt hätten, weil sie bei jeder
Vorstellung völlig neu und etwas anders reagiert hätten. Das Prin-
zip führt zu einer Freiheit und Unmittelbarkeit, zu einer Nuancierung
der Empfindungen, die besonders lebensecht und glaubwürdig wirkt.
In der Tat bewegen sich die meisten großen Schauspieler ganz spon-
tan in solcher Weise auf der Bühne. Nicht Verstellung ist die Auf-
gabe des Schauspielers, sondern Verwandlung. Stanislawskis Ver-
dienst, ebenso einfach wie genial, besteht darin, bewußt gemacht zu
haben, auf welche Weise der Verwandlungsprozeß am ungezwun-
gensten vor sich geht.
Die sogenannte Überaufgabe, die man aus Ablauf und Aussage
des Stücks destilliert, ist die schöpferische Grundformel der Auffüh-
rung. Stanislawski erläuterte es einmal am >Hamlet<: »Ich kann im
>Hamlet< die Aufgabe entdecken, die ich auf die Formel bringe: >Ich
will das Andenken meines Vaters ehren. < Wenn ich bei dieser Formel
bleibe, wird ein Familiendrama entstehen. Ich kann aber auch eine
höhere Aufgabe entdecken: >Ich will die Geheimnisse des Seins er-
kennen^ Jetzt kann schon die Tragödie eines Menschen entstehen,
der über die Schwelle des Lebens geblickt hat und nicht mehr existie-
ren kann, ohne die Frage nach dem Sinn des Lebens zu beantworten.
Ich kann aber auch eine noch höhere Aufgabe entdecken: >Ich will
die Menschheit retten. < Diese Aufgabenstellung wird zur Verbreite-
rung und Vertiefung der Tragödie führen.« Die Postulierung einer
Überaufgabe hat den Zweck, erstens ein wildes Drauflosinszenieren,
das die Aufführung und die Rollen zerflattern läßt, unmöglich zu
machen, zweitens die Aufmerksamkeit des Regisseurs statt auf irgend-
welche Gags und Stimmungen auf die Aussage der Dichtung zu kon-
60
zentrieren. Wenn man allerdings hört, daß kommunistische Regis-
seure im >Hamlet< die Überaufgabe entdeckt haben: »Ich will, daß
der Feudalstaat zugrunde geht«, wird man die Problematik des Ver-
fahrens erkennen.
Die Verbindung zwischen den Elementen Physische Handlung
und Überaufgabe, gewissermaßen den Architrav über den beiden
Säulen des Systems, stellt der Begriff der Durchgehenden Handlung
dar. Stanislawski schilderte in einem fingierten Gespräch, wie er sich
die Verknüpfung der einzelnen Handlungen mit der Grundidee der
Aufführung vorstellt:
»Wenn ich auf die Bühne gehe«, sagt einer der Schauspieler, »dann
denke ich an die erste nächstliegende Aufgabe. Nach ihrer Ausfüh-
rung entsteht von selbst die zweite. Wenn ich diese gespielt habe,
denke ich an die dritte, vierte und so weiter.«
»Und ich beginne mit der durchgehenden Handlung. Wie eine
fast endlose Chaussee dehnt sie sich vor mir aus, und genau an ihrem
Ende erglänzt die Kuppel der Überaufgabe«, sagt ein alter Schau-
spieler.
»Wie aber sind Sie bestrebt, das Endziel zu erreichen?« fragt Tor-
zow (Schauspiellehrer).
»Indem Aufgabe nach der anderen erfülle.«
ich logisch eine
»Sie handeln, und dieses Handeln führt Sie immer näher an das
Endziel heran, nicht wahr?« forscht Arkadi Nikolajewitsch (Torzow).
»Natürlich, und so mache ich es in jeder Rolle.«
»Wie kommen Ihnen denn diese Handlungen in einer gut erlebten
Rolle vor? Schwer, kompliziert, unfaßbar, nicht wahr?« fragt Tor-
zow, die vermutete Antwort vorwegnehmend.
»So war es früher tatsächlich, aber schließlich bin ich zu einem
Dutzend sehr klarer, realer, leicht verständlicher Handlungen ge-
kommen, die Sie das Schema oder die Fahrrinnen des Stückes und
der Rolle nennen.«
Ohne ihre Unterordnung unter die Durchgehende Handlung
würden die Physischen Handlungen in uferlose naturalistische Zu-
standsmalerei ausarten, ein Fehler, der sich bei sehr vielen Stanislaw-
ski-Epigonen findet, aber nicht unbedingt dem Meister in die Schuhe
geschoben werden sollte. Er sagt ausdrücklich, daß das Geheimnis
nicht in der Handlung selbst liegt, sondern in den gegebenen Um-
ständen, »man kann ein Glas Wasser trinken - das ist eine einfache
physische Handlung, um aber ein Glas mit Gift zu trinken, muß man
ein ganzes Stück schreiben .« Die Methode setzt geradezu eine
. .
63
.
Der Theateroktober
Der Singvogel der Poesie - die Nachtigall - und der Vogel der Weisheit - die
Eule - erscheinen erst nach Sonnenuntergang. Jetzt ist das Tagewerk voll-
bracht. Im Lichte der Dämmerung werden Verstand und Gefühl sich des Ge-
leisteten erst richtig bewußt
. .
Trotzki 1923
64
allgemeinen wilden Schießerei, an welcher sich auch der auf der
Newa liegende Panzerkreuzer > Aurora < eifrig beteiligte.
Schließlich wurde auch das Winterpalais, der letzte Zufluchtsort
der Reaktion, erstürmt. An der Front des Gebäudes flammte das
mächtige Transparent eines roten Sowjetsterns auf, die Musik
stimmte die Internationale an, und es entwickelte sich ein großer
Parademarsch der siegreichen Roten Truppen mit allgemeinem Chor-
gesang.« Ein mächtiges Feuerwerk am Abendhimmel beschloß die
Veranstaltung.
Die >Erstürmung des Winterpalais < war nur eines jener imposanten
Volksfeste, wie sie in den ersten Jahren nach der Revolution in Ruß-
land stattfanden. Sie wurden vor allem an den Feiertagen des soge-
nannten Roten Kalenders veranstaltet, also am Jahrestag der Okto-
berrevolution, am Ersten Mai usw. Eine der ersten Aufführungen
dieser Art wurde von Nikolaj Jewreinow und dem Maler Annenkow
vor der Petersburger Börse in Szene gesetzt In Form eines Mysterien-
:
65
ßig Jahre später bedienten sich die Kommunisten der gleichen Me-
thode zur Massenbeeinflussung in China, sie bildeten in den Dör-
fern und bei der Armee Agitationstrupps, nach einer alten Volks-
kunst »Yangko «-Gruppen genannt, welche spielen, singen, mu-
sizieren und tanzen und dabei Propaganda machen.) Viele der
Spiele entstanden aus dem Volk heraus ; so war ein verschiedentlich
aufgeführtes Stück >Der Kampf des roten Ural< von einem Schuster
im Schützengraben geschrieben worden. Andere Aufführungen wur-
den von den Agitatoren improvisiert. Da gab es die »Roten Revuen«
der »Blauen Blusen« (Proletkult-Brigaden). Da gab es die »Le-
bende Zeitung«, eine Szenenfolge, in der man die neuesten politi-
schen Ereignisse darzustellen und zu kommentieren pflegte. Da gab
es die »Agitgerichte«, wo unter allgemeiner Beteiligung des Publi-
kums die weißgardistischen Generale, die Ententemächte, die Ham-
sterer, aber auch das Analphabetentum, der Hunger, der Typhus
usw. verurteilt wurden.
Als eine mächtige Veranstaltung fand 1920 das >Gericht über
Wrangel< in der Kuban-Staniza (Siedlung) Krimskaja unter freiem
Himmel statt. Es nahmen etwa 10000 Rotarmisten und Kosaken am
Spiel teil. Jeder Mitwirkende erhielt ein Gerippe seiner Rolle und
improvisierte dann; alle waren geschminkt und kostümiert. Der
Oberbefehlshaber der weißen Südfront, General Wrangel, wurde
symbolisch vor das »Gericht« gestellt. Die Mitwirkenden waren mit
Enthusiasmus bei der Sache, und es hagelte Zwischenrufe wie »Du
Uns betrügst du nicht, du Blutsäufer!« und dergleichen. -
lügst!
Noch im Jahre 1923 fand in der Stadt Iwanowo-Wosnessensk eine
Massenaufführung statt, an der sich die gesamte Bevölkerung be-
teiligte; es wurden der große Streik und die blutigen Unruhen des
Jahres 1915 dargestellt.
An klassischen Autoren wurde eigentlich nur Schiller gespielt. Der
zu den Bolschewisten übergegangene Schriftsteller Graf Alexej Tol-
stoj schildert humorvoll eine Aufführung der >Räuber< durch Rot-
armisten an der Front:
»Das Publikum brach bei Beginn der Vorstellung in dröhnendes
Lachen aus, als es in dem geschminkten Alten mit Haar aus Werg
und in dem aus einem Meßgewand des Popen zurechtgeschneiderten
Kittel den Rotarmisten Wanin erkannte >Das ist er < riefen sie.
. . . I
>Los, Wanin, mach's gut, keine Angst < Als hinter dem zwischen
. . .
66
leuchteten von unten sein mächtiges Gesicht mit dem angeklebten
Bärtchen aus Schafwolle, mit grimmig hochgebogenen Brauen -, er
preßte die Hände auf der Brust so fest zusammen, daß der schwarze
Advokatengehrock fast in den Nähten platzte, und sprach mit kraft-
voller Stimme: >Oh, daß ich durch die ganze Natur das Hörn des
Aufruhrs blasen könnte, Luft, Erde und Meer wider das Hyänen-
gezücht ins Treffen führen < Hier verstummte das Publikum
tige Schloß des Grafen Moor vor. Ins Fenster gießt sich Blumen-
duft aus dem Garten. Die schöne Amalie sitzt in ihrem Zimmer < . . .
aus, schlug zu, als laste die ganze Schwere ihres früheren Lebens auf
ihrer Hand -, und Kusma Kusmitsch flog in die Kulisse. Aber keiner
lachte. Aus dem Publikum wurden Rufe laut: >Recht so .< Und . .
alle klatschten, denn jeder hatte den Wunsch, dem Schuft einen eben-
solchen Schlag zu versetzen.
Weiter lief die Vorstellung wie am Schnürchen. Die Darsteller
waren nach dem ersten Akt in Schweiß gebadet, ihre gestrafften
Muskeln hatten sich gelockert, die zusammengeschnürten Stimmen
waren menschlich geworden, und es war ihnen jetzt ganz egal, wenn
sie etwas von dem, was ihnen der soufflierende Sergej Sergejewitsch
mit zischender Flüsterstimme vorsagte, nicht verstanden - ungeniert
erfanden sie eigene Worte, kräftigere als bei Schiller und auf jeden
Fall - für die Zuschauer verständlichere « . . .
67
;
Straße und auf dem Lande Da war zuerst einmal die sou-
stellte.
veräne Herrschaft des Regisseurs, denn er war ja der entscheidende
Mann, der bei den Massenveranstaltungen und den Agitationsein-
sätzen wie ein Feldherr die Marschrouten und Aktionen der Mit-
wirkenden festzulegen und zu dirigieren hatte. Da war der Vorrang
von Arrangement und Improvisation gegenüber dem dichterischen
Wort, das für die agitatorischen Aufgaben allenfalls als Ausgangs-
punkt, als Rohstoff in Frage kam und im übrigen in dem allgemeinen
Trubel sowieso ertrank. Für Psychologie und individuelle Gestal-
tung in der Schauspielkunst hatte man ebenfalls keine Verwendung
was man brauchte, waren Ausdrucksformen, die weithin vernehm-
bar und von den Darstellern ohne Vorkenntnisse zu bewältigen wa-
ren, also Massenbewegungen, Chöre sowie heroische oder satirische
Formeln und Symbolismen. Die Grenze zwischen Schauspielern und
Zuschauern wurde verwischt allesamt waren sie Mitwirkende einer
;
Als er sich in den Dienst der Revolution stellte, hatte der Regis-
seur Meyerhold bereits eine bewegte und glanzvolle Karriere hinter
sich. Er war 1874 als Kind deutscher Eltern in Rußland geboren
worden; sein Vater war vermögender Schnapsfabrikant in einer rus-
sischen Provinzstadt. Dem Jungen fiel der Besuch des russischen
Gymnasiums schwer, er brauchte elf Jahre, bis er mit Mühe sein
Abitur absolvierte. Auf der Moskauer Universität erwarb er die rus-
sische Staatsbürgerschaft, gleichzeitig trat er zur orthodoxen Kirche
über. Zu Ehren des Schriftstellers Garschin, der aus Verzweiflung
über die tristen Verhältnisse der Zeit im Selbstmord geendet hatte,
wählte er sich den Vornamen Wsewolod. Bald kehrte er der Univer-
sität den Rücken und interessierte sich, wie viele Kinder des reichen
Moskauer Bürgertums, fürs Theater; als der Vater starb und das
»Handelshaus E. F. Meyerhold und Söhne« zusammenbrach, ergriff
68
er den Beruf des Schauspielers. Er trat in die Theaterschule von
Nemirowitsch-Dantschenko ein. Als er sie 1897 verließ, schrieb ihm
sein Direktor ins Abgangszeugnis »Meyerhold ist unter den Eleven
:
69
schewistischen Partei anschloß. Diese Haltung war gewiß kein Akt
des Opportunismus - Meyerhold war bis zu seinem tragischen Tod
kein Mann der Anpassung -, sondern ehrlicher Überzeugung. Als
konsequentester Theaterrevolutionär Rußlands, der bei seinen Un-
ternehmungen immer wieder auf materielle und gesellschaftliche
Schranken gestoßen war, entdeckte er in der Revolution ungeahnte
schöpferische Möglichkeiten. Plötzlich war das ganze starre Gefüge
theatralischer Konventionen und Bedingtheiten hinweggefegt, und
er stand als souveräner, seinen Intentionen folgender Herr über
einen mächtigen und modernen Darstellungsapparat den unverbil-
deten, für alle kulturellen Erlebnisse dankbaren Massen gegenüber.
Das nachrevolutionäre Theaterleben bot ihm ein unermeßliches und
vollkommen freies Experimentierfeld, wo er in wenigen Jahren alles
ausprobieren und kreieren konnte, was dann in den anderen Ländern
der Welt erst in jahrzehntelangen Kämpfen der Avantgardisten mit
dem Theaterbetrieb und dem konventionellen Publikum durchge-
gesetzt wurde. Die Revolution war für Meyerhold der große
Dammbruch der Befreiung - nur zu begreiflich, daß er auch für die
soziale Emanzipation der Arbeiter und Bauern alles Verständnis
hatte und seine Bestrebungen mit den ihren verband. Von bol-
schewistischer Ideologie hatte er keine Ahnung; er hat in seinem
Theater auch nie die spezifisch bolschewistische Variante der Re-
volution gestaltet (wie später Brecht), sondern die Revolution an
sich, den Aufstand der Massen.
Bei aller Mannigfaltigkeit und Experimentierfreudigkeit seiner
Arbeit stützte sich Meyerhold in seiner nachrevolutionären Phase
auf einige konstante, von ihm selbst eingeführte Grundelemente der
Gestaltung. Seine schauspielerische Methode war die sogenannte
Biomechanik. Man hat darunter ein darstellerisches Prinzip zu ver-
stehen, das die rationellste und lapidarste Bewegung auf der Bühne
und die Umsetzung seelischer Erlebnisse in körperliche Ausdrucks-
formen erstrebt. Jede Bewegung, jede Geste des Spiels wird mit
mathematischer Gewissenhaftigkeit kalkuliert und hat symbolische
Bedeutung. Soll eine Gestalt dargestellt werden, die von einem tragi-
schen Schicksal betroffen ist, hat der Schauspieler das nicht durch
Mimik, Rede, Stimmung auszudrücken, sondern durch sein äußeres
Erscheinungsbild: Er läßt also die Schultern vornüberhängen, be-
wegt sich ruckartig, vernachlässigt seine Kleidung usw. Bei freudi-
ger Erregung der darzustellenden Person vollführt der Schauspieler
vielleicht ein Tänzchen. In der Inszenierung von Verhaerens >Mor-
genröte< wurde beispielsweise die Morgenstimmung durch macht-
volles Ausschreiten eines zuversichtlichen, gespannten Chores, die
Abenddämmerung durch den müden Gang von Reihen aus der Fa-
brik heimkehrender Arbeiter zum Ausdruck gebracht. Meyerhold
entwickelte auf experimentellem Wege ein ganzes System von Be-
wegungssymbolen und Stilgriffen, die er seinen Schauspielern, mög-
lichstjungen, die noch nicht durch konventionelle Schauspiel-
70
schulen gegangen waren, in einem intensiven Studium beibrachte.
Seine Methode setzte artistische Körperbeherrschung, gutes Re-
aktionsvermögen, Gefühl für Raum und Zeit, für Stellung und Wir-
kung des eigenen Körpers, Musikalität und Intelligenz voraus; er
schulte sein Ensemble immer wieder im Gehen, Laufen, Turnen,
Springen, Klettern und derartigen grundlegenden Übungen der
Körpererziehung.
Sinn und Zweck der Biomechanik bestand darin, die Emotion in
eine Formel zu verwandeln, die Vergesellschaftung und Normie-
rung der individuellen Erlebnisse zu ermöglichen, wie es einem
Theater, das auf Kollektiverlebnisse und Massenaktionen zielte,
wünschenswert schien. Meyerhold ging so weit, für seine Schau-
spieler einen einheitlichen blauen Overall einzuführen, in dem kaum
Männlein und Weiblein, geschweige denn einzelne Persönlichkeiten
zu unterscheiden waren. Um den »Klassenkern« des gesprochenen
Wortes bloßlegen ?u können, erarbeitete er eine besondere Tech-
nik, wie man das, was man im Text zu sagen hat, durch Miene und
Geste vorwegnehmen, ergänzen und kommentieren könne - also
eine Keimform der späteren Brechtschen »Verfremdung«. (Beide,
Meyerhold wie Brecht, knüpften da u. a. an das ostasiatische Thea-
ter an.)
Mit der biomechanischen Schauspielertechnik berührte sich eine
andere Komponente des neuen Theaters, der Rückgriff auf die russi-
sche Hanswurst-Tradition. Man ging davon aus, daß die Jahrmarkt-
spiele viel inniger im russischen Volksboden verwurzelt sind als das
erst spät aus dem Westen importierte Theater, daß sie sich vor allem
immer unmittelbar an das einfache Volk gewandt haben, während
die Opern- und Schauspielhäuser den besitzenden Klassen vor-
behalten waren. In dem Schalksnarren, eben dem Hanswurst,
welcher selbst dem Zaren die Wahrheit ins Gesicht sagen durfte, er-
blickte man so etwas wie einen revolutionären Vorfahren. Meyerhold
hoffte sein Theater populärer zu machen, indem er in der Art der
fahrenden Schausteller früherer Jahrhunderte den Vortrag durch
akrobatische Kunststückchen und äquilibristische Tricks würzte.
Vom formalen Gesichtspunkt ergab die Einbeziehung der Hans-
wurst-Tradition eine reizvolle Bereicherung des Spiels und die Mög-
lichkeit, solche Mittel wie Parodie und Groteske, Übertreibung und
Exzentrik anzuwenden.
Das dritte Grundelement des Meyerholdschen Theaters war der
dynamische Konstruktivismus des Bühnenraums, von ihm selbst
entworfen. Vorhang, Guckkasten, Kulissen verschwanden ganz;
dem Zuschauer bot sich beim Betreten des Theaters ein Bild der
Bühne, wie es dann für den ganzen Abend blieb, allenfalls korrigiert
durch das Hereintragen oder Hinausräumen einzelner Versatzstücke
und Requisiten. Im Hintergrund waren die nackten Brandmauern
sichtbar. Der aller konventionellen Theateraufmachung entblößte
Bühnenraum war nun keineswegs leer, sondern mit Gerüsten,
7*
Blöcken, Treppen, Bögen und dergleichen bebaut. Auf diese Weise
wurde eine großzügige Raumbezogenheit des Spiels möglich ge-
macht. Das verblüffendste aber war, daß dieser ganze Konstruk-
tionsapparat in Bewegung gesetzt wurde. Das geschah mit Hilfe von
fahrbaren Spielflächen, Drehscheiben, auf- und niederschwebenden
Terrassen, Lifts, Rolltreppen, Drahtseilbahnen, Hebekränen, ro-
tierenden Wänden, Versenkungen usw. Auf der Meyerhold-Bühne
war ununterbrochen alles in Bewegung. Die Schauspieler bewegten
sich nicht nur horizontal, sondern auch vertikal über die Bühne, in-
dem sieüber die Gerüste turnten und sogar an Strickleitern hangel-
ten. Einmal war die ganze Spielfläche von einem Gehänge von Bam-
busstöcken mit Kupferringen umgeben, die beim Auf- und Abtreten
der Darsteller aneinanderschlugen und klapperten. Die Vorstellun-
gen begannen nicht mit Gong oder Klingel, sondern mit schrillem
Pfiff. Das Spiel der Lichteffekte, Einblenden von Projektionen, die
Beigabe von Musik, von der Harmonika bis zur Jazzband, rundete
den Eindruck ab. Es war eine Sinfonie der Bewegung, erfüllt von
Tempo und Rhythmus - vielleicht würde man besser, passender
sagen ein motorisches Getriebe, aber keineswegs monoton, sondern
:
müssen den Pinsel wegwerfen und den Zirkel, das Beil und den Ham-
mer ergreifen, um die Bühne nach dem Vorbild unserer technischen
Welt neu zu formen.« Die Wirkensstätten des Proletariats, des Hel-
den der Revolution: Fabriken, Werkhallen, Maschinensäle, waren
in das Zentrum der russischen Gesellschaft getreten, und Meyerhold
übertrug diese Atmosphäre auf die Bühne. Das Bild, das in seinem
Theater geboten wurde, stand als Symbol für den rastlosen und
enthusiastischen Aufbau im ganzen Land.
Weiter sollte die neue Theaterform Bühnenvorgang und Publi-
kum aneinanderrücken. »Der Zweck des Theaters ist nicht, ein fer-
tiges Kunstprodukt zu zeigen«, erklärte Meyerhold, »sondern viel-
mehr den Zuschauer zum Mitschöpfer des Dramas zu machen. Das
Fluidum soll nicht nur von der Bühne ins Publikum, sondern auch
umgekehrt zurückstrahlen.« Das komplizierte und bewegte System
der Meyerhold-Bühne beschäftigte und entwickelte fortwährend die
Phantasie der Zuschauer. Das aus dem starren Bühnenraum ge-
löste Spiel trat in beinahe physische Berührung mit dem Publikum,
welches die Bühnenhandlung von den verschiedensten Blickpunkten
aus wahrnahm, durch kreuz und quer im Raum verlaufende Vor-
gänge völlig in das Geschehen eingespannt war und auf die ver-
72
-
gestaltete Szenen, warf alles wieder um, improvisierte - bis sich die
endgültige Gestalt der Inszenierung formte wie eine Plastik unter
den Händen des Bildhauers. Wohl hieb er gelegentlich mächtig da-
neben, verhunzte ein Stück oder machte es unverständlich, aber nie-
mals konnte man ihm vorwerfen, daß er in Schematismus oder Ma-
unbändigen Phantasie
nieriertheit verfallen wäre. Sicher fehlte seiner
oft die Disziplin, aber anregend und fruchtbar wirkten seine Auf-
führungen immer. Er war der Picasso des Theaters; von der Über-
fülle seiner Einfälle und Entdeckungen können Generationen zeh-
ren. Jelagin schreibt in seinem Buch »Ich kann mit bestem Gewissen
:
sagen, daß ich auf den Bühnen Europas und Amerikas später keinen
szenischen Kunstgriff gesehen habe, den Meyerhold nicht schon ein-
mal angewandt oder zur Diskussion gestellt hatte.« Wie immer man
zu Meyerholds Unternehmungen im einzelnen stehen mag, es ist un-
bestreitbar, daß dieser Mann auf das Welttheater einen Einfluß aus-
übte wie in unserem Jahrhundert nur noch Stanislawski, Reinhardt
und Craig.
Meyerhold entwickelte seinen Stil vor allem in Zusammenarbeit
mit Wladimir Majakowski, dem ebenso wortgewaltigen wie exzen-
trischen »Kommunisten und Futuristen«. Majakowski ist bekannt
geworden als der Sänger der Revolution, er war aber auch der talen-
tierteste und originellste Dramatiker der Sowjetepoche, und seine
bildkünstlerischen Phantasien haben das Gesicht des Meyerhold
Theaters prägen helfen. Sein >Mysterium BurTo<, ein »heroisches,
73
;
und am Ende öffnen sich vor ihren staunenden Augen die Pforten
des Gelobten Landes: eine strahlende Gartenstadt mit Wolken-
kratzern, Straßenbahnen und Autos.
>Mysterium Buffo< mit seinen Gerüsten und simultanen Spiel-
flächen, technischen und Lichteffekten, Massenumzügen wurde zum
Ausgangspunkt für immer kühnere Inszenierungen Meyerholds.
Das Trotzki gewidmete Revolutionsstück >Die Erde bäumt sich<
von Tretjakow wurde als ein kriegerisches und revolutionäres Fu-
rioso in Szene gesetzt. Auf der kahlen Bühne war ein Eisengerüst
aufgebaut worden, davor bemerkte man mehrere Kanonen, ein Flug-
zeug und eine Feldküche. Quer durch den Zuschauerraum führte
eine Verbindungsbrücke zur Bühne; darüber rasten während der
ganzen Vorstellung fast unentwegt Autos, Motorräder und Rad-
fahrerkolonnen. Im ersten Teil des Stücks wurde die letzte Phase
des Weltkrieges abgehandelt Die Geschütze und Maschinengewehre
:
74
tionsstücke und bestimmter Beleuchtungseffekte
die verschieden-
artigsten Schauplätze abgaben. Die aneinandergereihten Szenen-
fetzen beleuchteten Situationen in der ganzen Welt; soweit es sich
um die Sowjetunion handelte, in plakativer und monumentalisierter
Form, soweit es die kapitalistischen Länder anging, in Form von
Sketchen und Buffonerien (beispielsweise zeigte eine Szene, die in
England spielt, vom Untergang bedrohten Lords gegen-
wie sich die
Kinomontagen, Agitationsreden, Dokumentatio-
seitig auffressen).
nen umrahmten und durchsetzten die Aufführung.
Bei der Jahre später unternommenen Inszenierung von Tretjakows
>Brülle,China < erwies sich die Regie bereits maßvoller und über-
zeugender; sie zeichnete den Grundgedanken der Aufführung in
großen und kräftigen szenischen Linien. Der Massenrhythmus der
chinesischen Kulis und der gedrillte Automatismus der Europäer
wurden einander gegenübergestellt. Das erste Bild zeigte z. B. das
Verladen von Tee Ein Kuli nach dem anderen kommt heran, fängt
:
seinen Ballen im Flug, wirft ihn auf die Schulter und schleppt ihn
schnell weg, begleitet von den Takten des chinesischen Arbeits-
liedes und den Zurufen des Aufsehers. So wurden immer wieder ein-
drucksvolle Massenszenen arrangiert, die ihr Vorbild entweder in
Produktionsvorgängen oder in Straßendemonstrationen hatten, also
aus dem Leben selbst stammten. Die Europäer waren mit Masken
ausgestattet und bewegten sich wie Marionetten; ihre ganze Er-
scheinungswelt trug im Gegensatz zu dem Realismus der Chinesen-
szenen operettenhafte Züge.
Parallel zur Tendenz seiner ausgesprochenen Agitationsstücke,
und sie schließlich verdrängend, entwickelte Meyerhold die Linie
des musikalisch-pantomimischen Darstellungsstils in seinen Klassi-
ker-Transformationen. Eine der ersten und wichtigsten Stationen
auf diesem Wege war die Aufführung der Komödie >Der großartige
Hahnrei < von Crommelynck. Der Grundgedanke der Handlung -
Liebe und Eifersucht im Rahmen eines Dreiecksverhältnisses -
wurde ohne Rücksicht auf die konkrete Handlungsführung in kon-
struktivistische und dynamische Formprinzipien übertragen. Die
Schauspieler, allesamt im blauen Dreß, bewegten sich auf einem
verschachtelten System von Podesten, Treppen und Rutschbahnen;
ihre Gänge und Gebärden folgten streng den Gesetzen geometri-
scher Figuren und musikalischer Rhythmen. Große Schwungräder
und Windmühlenflügel im Hintergrund unterstrichen die Bewegun-
gen und Erregungen der Darsteller, indem sie je nach dem Impuls der
Handlung schneller oder langsamer rotierten. Die Bewegungen und
Konflikte der drei Zentralfiguren (Ilinski, Saitschikow und Maria
Babanowa, später Sinaida Reich) wurden im harmonischen oder
kontrapunktischen Zusammenspiel bzw. Widerspiel veranschaulicht
und durch abgestimmte pantomimische Haltungen und Gesten sym-
bolisiert.
Ein Schritt weiter war die Einstudierung von Alexander Ostrow-
75
skis >Wald<, bei der die politische und die formale Erneuerung in-
einandergriffen. Meyerhold zerlegte das Stück in 33 Episoden, die
sich teils auf, teils unter einer hoch in den freien Raum hinauffüh-
renden Treppenspirale abspielten. Die Inszenierung bezog ihre
Spannung aus einer weit über die Absichten des Originals hinaus-
gehenden sozialkritischen Konfrontation der adligen Gutsbesitzer
mit den einfachen Menschen aus dem Volk, wobei die einen karika-
turenhaft überzeichnet, die anderen heroisiert wurden. Dabei ließ
Meyerhold sich ganz von den alten russischen Traditionen inspirie-
ren, den Hanswurst-Possen und dem Volkslied. Die satirisch ge-
dachten Szenen wurden in der Art Chaplinscher Situationskomik
ausgekostet, die lyrischen leitmotivartig vom Schmelz der Ziehhar-
monika begleitet; die schöne Sinaida Reich und der spritzige Igor
Ilinski, die beiden vollkommensten Interpreten Meyerholds, zogen
allekomödiantischen und poetischen Register.
Die Inszenierung, die am meisten Aufsehen erregte, war wohl >Der
Revisor < von Gogol (mit der Reich und der Babanowa als Frau und
Tochter des Stadthauptmanns, Garin, später Martinson als Chlesta-
kow). Meyerhold kombinierte das Stück mit Szenen aus anderen
Komödien Gogols und sogar aus dem Roman >Die toten Seelen <.
Die Handlung wurde nach dem Bilderbogenmuster in fünfzehn Epi-
soden aufgelöst, der konkrete, realistische Vorfall in einem russi-
schen Provinznest zu einem Gleichnis für die ganze verrottete Be-
amtenwelt des alten Rußlands überhöht. Die Regie arbeitete wieder-
um musikalisch-pantomimisch, sie sättigte die Aufführung mit Sym-
bolen. Die Enge der alten Verhältnisse wurde dadurch zum Ausdruck
gebracht, daß man viele Szenen auf winzigen, tablettähnlichen Flä-
chen, die auf Roll wägeichen über die Bühne glitten, spielen ließ, wo-
durch der Eindruck eines Gedränges der Figuren entstand. Bei sei-
nem Monolog folgte Chlestakow, der falsche Revi-
prahlerischen
sor, in Worten und Bewegungen den Takten eines Walzers, was die
Überschwenglichkeit seiner Stimmung unterstreichen sollte. In der
Bestechungsszene öffneten sich im Halbkreis des blitzblanken Hinter-
grundes lauter Türen, aus denen immer neue Beamte ihre Hände mit
zerknitterten Rubelnoten hervorstreckten und in der Art einer Fuge
in einem fort wiederholten: »300 Rubel von mir! - 300 Rubel von
mir! ..« Gegen Schluß sank mit der Stimmung der Gesellschaft auf
.
76
Regisseur den »Mörder Gogols«. Im wesentlichen nahm die Partei
damals, 1926, noch für Meyerhold Stellung und feierte die Premiere
des >Revisor< als Beginn einer neuen Theaterära.
Ende der zwanziger Jahre sagte sich Meyerhold vom Theater-
oktober los: »Die Zeit der >Agitkas< (Agitationsstücke) ist vorbei.
Wir werden eine Reihe höchst komplizierter Probleme aufgreifen
und sie mit den kompliziertesten Verfahren der Theatertechnik
lösen. Wir nehmen den Kampf gegen die > Agitka < auf und treten für
eine kompliziertere Lösung der Probleme unserer Übergangszeit
ein.« Die dritte, die Spätphase im Schaffen Meyerholds (nach der
Stilbühne vor dem ersten Weltkrieg und dem Konstruktivismus des
Theateroktober) ist im Westen kaum bekannt geworden, da sich die
Sowjetunion auch künstlerisch immer mehr isolierte. Meyerholds
Regie wurde sublimer und behutsamer; der im >Wald< und im
>Revisor< herangereifte musikalisch-komödiantische Darstellungs-
stil verdrängte das politische Pathos; psychologische, gesellschafts-
angefertigt wurden, als man noch die Kunst des Handwerks kannte,
haben eine besondere Ausstrahlung. Sie schaffen eine Atmosphäre,
die uns das Wesen und den Geist einer alten Epoche anschaulich
macht. Von diesen schönen alten Dingen umgeben, werden die
Schauspieler in der Lage sein, die Lebensart und die Leidenschaften
jener Tage nachzuempfinden und sie mit großer Natürlichkeit dar-
zustellen.« Das Prinzip erinnert auf den ersten Blick an die Methode
Stanislawskis, dem es ja stets darum ging, wahre Empfindungen in
den Seelen der Schauspieler wachzurufen, aber möglicherweise
dachte Meyerhold mehr an den Bewegungsstil seiner Darsteller, der
durch den Umgang mit zierlichen und zerbrechlichen Gegenständen
notwendig einen feingliedrigen und feinnervigen Charakter erhielt.
Eine der letzten Arbeiten Meyerholds war die Dramatisierung des
Romans >Wie der Stahl gehärtet wurde <, der Autobiographie des
jungen Sowjetschriftstellers Nikolaj Ostrowski, der teilweise gelähmt
und blind aus dem Bürgerkrieg heimgekehrt war und sein Buch auf
dem Krankenlager niedergeschrieben hatte. Die Aufführung wurde -
wie so manche der späten Inszenierungen Meyerholds - nach der
77
Generalprobe verboten; offenbar verstieß die Bühnenversion gegen
die gereinigte und kanonisierte Fassung, die die Stalinisten nach dem
Hinscheiden Ostrowskis von dem Buch hergestellt hatten. In der
Meyerholdschen Inszenierung soll, wie Stewart Cheney berichtet,
besonders eindrucksvoll die Sterbeszene eines der Genossen Ostrow-
skis gestaltet gewesen sein: »Wenige Augenblicke vor dem Tode des
jungen Mannes gleiten einige Ereignisse aus seinem Leben vor sei-
nem inneren Auge vorüber, die hinter ihm auf eine Leinwand proji-
ziert werden. Der Sterbende durchlebt z. B. noch einmal einen Ko-
sakenangriff auf sein Heim, wobei die Musik, die den nahenden Tod
vorausahnen läßt, die Illusion noch verstärkt. Der Mann wirft den
Kopf hoch, ein furchtbarer Schrei aus seiner Kehle läßt die Musik
abbrechen, während gleichzeitig das Bild verblaßt. Ein anderes tritt
an seine Stelle. Es ist eine Kindheitserinnerung. Seine Schwester
spielt Klavier . . . Langsam sinkt das Haupt des Mannes zurück, die
Musik bricht plötzlich auf dem höchsten Ton ab. Nun hört er nichts
mehr, und Totenstille herrscht auf der Bühne .« Gerade dieser
. .
78
das Theater erwies sich die Praxis des Proletkults als Sackgasse;
Meyerhold selbst hat sich später gegen die veräußerlichte »Meyer-
hold-Manie« seiner Epigonen verwahrt. Der Regisseur Sergej Eisen-
stein gab die unfruchtbare Tätigkeit beim Proletkult schließlich auf
und ging zum Film er übertrug den Geist des Theateroktober, Dy-
;
namik und Pathos der Massenfeste, auf die Leinwand und wurde der
große Bahnbrecher des Monumentalfilms.
79
schlungen <, >für einzelne Aufführungen sind Max Reinhardt, Georg
Fuchs, Gordon Craig - ja der römische Papst - hinzugezogen <, >der
Spielplan umfaßt Drama, Lustspiel, Operette, Pantomime < - und
noch manches andere.
Und zwischen allen diesen Berichten tauchte die merkwürdige,
fast phantastische Gestalt Mardshanows auf, eines Mannes, der zwei-
fellos allgegenwärtig sein mußte denn nach den Zeitungen zu schlie-
;
80
sein, aus derNatur des Schauspielers die schauspielerische Form zu
entwickeln, eine Form, die organisch und emotionsgefüllt dem We-
sen der Schauspielkunst gemäß sei.
Tairow erstrebte also ein Theater der reinen Schauspielkunst, die
von allen psychologischen, literarischen, bildkünstlerischen und
technischen Ambitionen befreit ist. In diesem Sinne muß man den
Slogan »Entfesseltes Theater« verstehen, der sich nach dem Titel
von Tairows Buch für seine ganze künstlerische Arbeit eingebürgert
hat: Der Schauspieler von allen seiner Kunst fremden
soll sich frei
Einwirkungen entfalten können,gebunden jedoch an seine eigene
physische Struktur. Der Ausdruck »nicht gefesselt« würde den Kern
des Gedankens besser treffen als der mißverständliche »entfesselt«,
worunter man doch gemeinhin soviel wie überschäumend, ausgelas-
sen, anarchistisch zu verstehen pflegt. Ein Theater der Zügellosig-
keit hatte Tairow keineswegs im Sinn; neben Meyerholds Revolu-
tionstheater wirkte das seine ausgesprochen formstreng und dis-
zipliniert. Worauf er hinauswollte, war Part pour Part in Reinkultur:
die Schauspielkunst nur um der Schauspielkunst willen.
Im Mittelpunkt der Tairowschen Ästhetik steht der Begriff der
»Emotionsgeste«. Das ist eine Transponierung seelischer Empfin-
dungen in körperlichen Ausdruck, die man aber nicht mit der Meyer-
holdschen Biomechanik verwechseln darf. Es geht nicht um die
Schaffung von Bewegungssymbolen, sondern um die szenische Äuße-
rung der schauspielerischen Phantasie. Die Produktion einer solchen
szenischen Äußerung beschreibt Tairow folgendermaßen:
»Das erste Element, das Element des Suchens nach dem szenischen
Gebilde, unterliegt keinen bestimmten Regeln und läßt sich in kein
System fassen. Es ist ein tief individualistisches Element, das sich
bei jedem Schauspieler anders kundtut. Das Geheimnis des ersten
Auf keimens eines szenischen Gebildes ist ebenso wunderbar und un-
mitteilbar wie das Geheimnis des Lebens und des Todes Ein . . .
81
präzise Form und vollendet so den schöpferischen schauspielerischen
Vorgang.«
Tairow näherte sich bewußt tänzerischen Ausdrucksformen. Als
die Kritik einmal seiner Hauptdarstellerin, seiner Frau Alice Koo-
nen, vorwarf, habe ihre Rolle nicht gespielt, sondern getanzt,
sie
empfand Lob. Im Ballett sah er eine Darstellungs-
er dieses Urteil als
kunst, die ihrem Wesen nach der seinen näherstand als alle zeit-
genössischen Schauspielpraktiken er verglich seine eigene Arbeit als
;
82
Vollkommenheit die Salome, die Phädra, eine revolutionäre
gleicher
Kommissarin in Wischnewskis optimistischer Tragödie< und die
Hauptrolle in der Operette >Girofl6-Girofla<, wo sie voller Charme
tanzte und sang. Diese Universalität war natürlich nur möglich, weil
bei Tairow die Besonderheiten der Genres und der Rollentypen ver-
wischt wurden und es in jedem Falle nur darum ging, durch Mimik,
Gestik, Intonation und Bewegung der Phantasie entsprungene
szenische Gebilde zu kreieren.
Die augenfälligste Neuerung des Kammertheaters war die Um-
gestaltung des Bühnenraums. Tairow lenkte die Aufmerksamkeit
der Bühnenbildner (Exter, Wesnin, Jakulow, Gebr. Stenberg u. a.)
von der Beschäftigung mit Hintergrundkulissen und Dekorationen
auf die Gestaltung des Bühnenbodens, den er als das wichtigste Ele-
ment der Szene, die Plattform der schauspielerischen Arbeit ansah.
Um der Bewegung des Schauspielers in ausreichendem Maße Ent-
faltungs- und Variationsmöglichkeiten zu geben, sollte der Bühnen-
boden gegliedert sein:
»Man stelle sich vor, es sei einem die Aufgabe gestellt, die Herab-
kunft der Gottesmutter zu inszenieren. Wie muß die Bühne gestaltet
sein, um einen intensiven Eindruck der Herabkunft zu erzielen? Auf
einer ebenen Fläche läßt sich ein solcher Eindruck natürlich nicht
erreichen. Der Boden muß gebrochen werden und aus mehreren
verschieden hohen Flächen bestehen, die in ihrer Gesamtheit so etwas
wie eine unendliche Treppe darstellen müssen, auf der die Gottes-
mutter erdwärts schreitet. Wie aber muß diese Treppe konstruiert,
wie muß das Wechselverhältnis zwischen ihren Stufen beschaffen
sein? Die Lösung hängt ganz von der rhythmischen Absicht des
Spielleiters ab. Wenn der Zuschauer den Eindruck erhalten soll, sie
schwebe gleichsam herab und berühre mit ihren Füßen kaum den
Boden, wenn der Herabkunft ein feierlich-liturgischer Charakter
verliehen werden soll, so müssen die Stufen so konstruiert sein, daß
ihre Abstände überall gleichmäßig sind; ihre rhythmische Entspre-
chung muß sich durch i 4 oder 1 8 ausdrücken, wodurch die Be-
: :
83
punkten des Geschehens wandte Tairow das Prinzip der »dynami-
schen Umschwünge« an, worunter er eine jähe Umwandlung des
Bühnenbildes verstand, einen szenischen Akt, der eine besonders
prononcierte schauspielerische Gebärde über die Grenze der mensch-
lichen Ausdrucksmöglichkeit hinaus steigern sollte » wenn dann
: . . .
seiner Figurinen verraten in ihren Formen und Farben, daß sie von
diesen historischen Vorbildern angeregt worden sind.
Von den beiden theatralischen Epochen, denen er sich am ver-
wandtesten fühlte, dem altindischen Theater und der Commedia
delParte (er eröffnete 1914 sein Theater programmatisch mit Kali-
dasas >Sakuntala< und spielte als nächstes Goldonis >Fächer<), über-
nahm Tairow auch das laxe Verhältnis zur Literatur. Die literarische
Vorlage sollte seiner Meinung nach nur das Material abgeben, aus
dem dann das Theater ein neues und eigenwertiges Kunstwerk zu
schaffen hat. »Nur ein derartiges Verhältnis ist ein echt theatralisches,
denn sonst hört das Theater unweigerlich auf, als auf sich selbst ge-
84
:
daß dies altpersische Worte seien, nachher aber bekannte er, diese
Worte seien - zu seiner Ehre - in keiner Sprache zu finden. Nichts-
destoweniger wurden sie von den Zuschauern gierig aufgenommen.
Warum? Weil sie, ohne Zweifel, was die Stimme und die Sprech-
weise betrifft, meisterhaft in Klang und Rhythmus des szenischen
Gebildes eingefügt waren.«
Es erhebt sich die Frage, in was für einem Verhältnis der pure
Ästhetizismus dieses Theaters denn nun zur bolschewistischen Revo-
lution stand.Von einer bewußten politischen Beziehung kann sicher
nicht die Rede sein. Nicht nur, daß Tairow in seiner persönlichen
Haltung und Gesinnung alles andere als ein Bolschewist war, er
mußte von seinem künstlerischen Standpunkt aus natürlich alle
Tendenzen ablehnen, das Theater zu einem Forum der Agitation und
Mobilisierung der Massen zu machen. Über jenen Vorfall 1830 in
Brüssel meditierend, wo eine Aufführung der Oper >Die Stumme
von Portici< von Auber die belgische Revolution auslöste, konsta-
tierte er »Hier war ohne Zweifel der Geist des großen Verbunden-
:
seins im Theater aufgeflammt, hier hatten sich endlich die >zwei ge-
trennten Körper < durch den gemeinsamen Blutumlauf schöpferi-
scher Energie vereinigt, hier hatte das Theater die schöne und edle
<
Rolle der Fackel gespielt, an der sich die Flammen der Revolution
entzündeten, aber - die Vorstellung war damit abgebrochen. Der
Pulsschlag des Verbundenseins, der im Theater erwacht war, hatte
die Revolution entzündet, aber die theatralische Handlung aus-
gelöscht.« In diesem Punkte divergierte seine Auffassung entschie-
den von der Meyerholds und seiner Gesinnungsgenossen; er wollte
nicht eine Erneuerung des kultischen, sondern des ästhetischen Thea-
ters, nicht eine Theatralisierung des Lebens, wie es Jewreinow for-
muliert hatte, sondern eine »Theatralisierung des Theaters«. Den-
noch war es sicher kein bloßes Mißverständnis, wenn die ganze Welt
85
(und nicht zuletzt die russische Intelligenz selbst) in Tairows Dar-
bietungen ein Element des Revolutionstheaters sah.
Tairow entstammte genauso wie Meyerhold, Jewreinow und die
meisten Wortführer des Theateroktober jener avantgardistischen Re-
formbewegung, die in den Jahren von 1905 bis 1914 das russische
Theaterleben ergriffen hatte. Diese Bewegung war eine Reaktion auf
die Niederlage der Revolution von 1905, gewissermaßen ihre Subli-
mierung: Nachdem die politischen Hoffnungen der Intelligenz zer-
stört waren, schlug deren Emanzipationsstreben ins Ästhetische um.
Die betont apolitische und antiideologische Tendenz der künstleri-
schen Reformen widerspricht nicht dem dialektischen Zusammen-
hang sie erklärt sich als ein tiefenpsychologischer Akt der Verdrän-
;
gung. Als der Alpdruck, der auf dem politischen Leben lastete, im
Jahre 1917 verschwand, mündete die künstlerische Revolution denn
auch sofort in den Strom der politischen Revolution ein. Die Ex-
pressionisten, Futuristen, Symbolisten der Literatur wie des Theaters
stellten die ersten Protagonisten der revolutionären Kunst; ihre
lange vor der Revolution und unabhängig von ihr, aber aus dem-
selben Impuls heraus entwickelten neuen Formen erwiesen sich als
durchaus angemessen dem ungestümen Geist der Zeit. Viele Kunst-
griffe, die Tairow auf seiner Experimentalbühne ausprobiert hatte,
z. B. die synthetische Darstellungsmethode und die stereometrische
86
hatte eine besondere Vorliebe für den deutschen Romantiker, weil
er in dessen phantastischen Geschichten ein reiches Materialan Vi-
sionen und Archetypen fand, an dem sich seine szenische Phantasie
entzünden konnte. Die Hoffmannsche Traum- und Wunderwelt,
die ihre Bilder nicht in fertiger Gestalt, sondern in einem funkelnden
Kaleidoskop von Andeutungen, Assoziationen, Ideenblitzen und
Gaukeleien darbietet, gab Tairow die Möglichkeit, in aller Frei-
zügigkeit auf der ganzen Klaviatur seines synthetischen Theaters zu
spielen. Musikalisch beschwingt, traumhaft tanzend und torkelnd,
hintergründig spielerisch lief die Aufführung ab - ein »Capriccio des
Kammertheaters«, wie der Regisseur selbst sagte.
Die beiden modernen Lieblingsautoren des Kammertheaters wa-
ren Claudel und O'Neill, von denen eine ganze Reihe von Dramen
aufgeführt wurden. Es war sicher weder der Katholizismus des Fran-
zosen noch die gesellschaftskritische Tendenz des Amerikaners, was
Tairow anzog, sondern das ganz modern empfundene Weltgefühl
der Dichter und die in metaphysische Tiefen lotende Unergründlich-
keit ihrer Werke. O'Neills >Gier unter Ulmen < inszenierte er als ein
elementares Drama des erotischen Besitzes, wobei er den interessan-
ten Versuch machte, den solange abstrakt gegliederten Bühnenauf-
bau zu konkretisieren: Er stellte das ganze Haus, in dem sich die
Handlung abspielt, auf die Szene und gab den handelnden Personen
gewissermaßen räumlichen Anlauf und Auslauf, »man kann die
ahnungslosen Spieler der folgenden Szene schon kommen sehen,
während die vorhergehende noch im Gange ist; die Wirkungen der
zweiten werden gesehen, während das Spiel der dritten noch weiter-
läuft usw.« (so berichtet Gregor). Es erscheint verständlich, daß die
antiken Stoffe, die im Repertoire des Kammertheaters einen wich-
tigen Platz einnahmen, meist durch das Prisma eines modernen Dich-
ters gesehen waren: Wildes >Salome<, Hasenclevers >Antigone<,
Werfeis >Troerinnen<, denn es kam Tairow ja nicht auf die Handlung,
sondern auf die emotionale Grundmelodie an.
Kostbarkeiten in ihrer Art waren die Aufführungen der alten
Operetten von Lecocq >Girofle-Girofla< und >Tag und Nacht <. Die
funkelnde und sprühende Musikalität dieser frühen Werke ihres
Genres erlaubte es Tairow, die ganze kitschige Operettenherrlichkeit
beiseite zu lassen und ein Feuerwerk bunter szenischer Leuchtkugeln
abzubrennen. Das Bühnenbild beschränkte sich auf einen groß und
abstrakt geformten, schirmartigen Hintergrund, vor dem ein paar
Podeste, Estraden und Schrägflächen aufgebaut waren, die kunter-
bunten Kostüme ließen ans Variete denken, das Spiel brillierte in
Tempo, Nuancenreichtum und abgezirkelter Exzentrizität und gab
der Handlung, ohne sich beim konkreten Inhalt aufzuhalten, kari-
katuristische Zuspitzung und feinen, glitzernden Schliff.
In Tairows Inszenierung >Der Mann, der Donnerstag war<, nach
dem satirischen Roman von Chesterton, machten sich erstmals Ein-
flüsse des Meyerholdschen Konstruktivismus bemerkbar. Der Schau-
87
platz des Spiels war diesmal ein komplizierter Bau von Leitern und
Etagen, dem auf-und abfahrende Lifts, Leuchtreklamen und Plakate
ein effektvolles Aussehen verliehen. In die Aufführung waren rhyth-
mische Darbietungen eingestreut, die an biomechanische Übungen
gemahnten. Die neue Linie wurde mit der Einstudierung der >Drei-
groschenoper< 1930 fortgesetzt (übrigens der einzigen Brecht- Auf-
führung in der Sowjetunion zu Lebzeiten des Dichters). Manche aus-
ländischen Beobachter haben diese Variation des Kammertheater-
stils für den Versuch einer Anpassung an die Parteilinie, die damals
Meyerhold folgte, gehalten; das braucht aber durchaus nicht der Fall
gewesen zu sein, denn Tairows Beziehungen zu Meyerhold beruhten
auf Gegenseitigkeit: Alle Theaterrevolutionäre jener Zeit haben
naturgemäß aufeinander eingewirkt. Die Partei selbst übte in den
zwanziger Jahren in formaler Hinsicht noch keinen Druck auf die
Künstler aus.
Der originellste Schüler Tairows war der Regisseur Ferdinandow,
der ein eigenes, dem Kammertheater verbundenes Studio unterhielt.
Er systematisierte die künstlerische Methode seines Meisters zu einer
Theorie des Metro-Rhythmus.
sche Studio Habima und ein armenisches Studio. Jedes dieser Toch-
terinstitute des Künstlertheaters hat einen nicht unbedeutenden Bei-
trag zum sowjetischen Theaterleben der zwanziger Jahre geleistet.
Aus ihrer Mitte ging die dritte große Persönlichkeit des Revolu-
tionstheaters hervor: Wachtangow.
Jewgeni Wachtangow, 1883 geboren, wurde in der Schauspiel-
schule des Künstlertheaters ausgebildet und arbeitete dann als Schau-
spieler und Regieassistent im Ensemble. Einige Jahre vor dem ersten
Weltkrieg schickte Stanislawski ihn zusammen mit Sulershizki nach
Paris, wo die beiden im Theatre R£jane Maeterlincks >Blauen Vogel <
genau nach dem Muster der Moskauer Standardaufführung in Szene
zu setzen hatten. Damals war der junge Regieschüler noch hell be-
geistert von der Methode seines Meisters und schrieb nach Moskau:
»Der Gedanke, daß das Stanislawski-System etwas Großes ist, hat
sich mir endgültig bestätigt.« Weniger angetan von der Einstudie-
88
rung, die nach außen hin einen großen Erfolg hatte, war der belgi-
sche Autor Maurice Maeterlinck selbst. Wohl hatte Stanislawski ihn
vor Beginn der Inszenierungsarbeit eigens auf seinem romantischen
Landsitz, einer Klosterruine in der Normandie, aufgesucht und kon-
sultiert, aber beim Besuch der Aufführung empfand der Dichter
dann doch recht deutlich, wie sehr die gutbürgerliche Darstellungs-
weise des Künstlertheaters dem in seinem Werk zum Ausdruck kom-
menden neuartigen Lebensgefühl widersprach.
Auch Stanislawski empfand diesen Widerspruch und suchte ver-
zweifelt nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Da wurde er von
Gorki, der sich zu jener Zeit ebenfalls mit neuen Ideen herumschlug
(man denke an seinen Disput mit Lenin über die „Gottmacherei«),
nach Capri eingeladen. Gorki entwickelte dem Theatermann seine
Idee einer Bühne der Improvisation. Unter dem Eindruck der Steg-
reifspiele, die er im neapolitanischen Theater gesehen hatte, war er
auf den Gedanken gekommen, die Tradition der Commedia delParte
zu erneuern. Und zwar stellte er sich das folgendermaßen vor: Ein
Dramatiker sollte ein Szenarium entwerfen, in dem Thema, Per-
sonen und Schauplatz des Stücks angegeben sind. Im Verlaufe von
Diskussionen und Proben mit den Schauspielern, die sich ein eigenes
Bild von den Rollen machen, wird das »skizzierte Schema der Cha-
raktere« durch neue, lebenswahre und detaillierte Züge bereichert.
Beim Herausarbeiten der Charaktere ergeben sich dann auch deren
Widersprüche, und es entstehen die Konflikte des Stücks. Der Au-
tor verfaßt den endgültigen Text während der Arbeit des Kollek-
tivs an der Einstudierung. - Stanislawski griff die Idee interessiert
auf und richtete ein Studio ein, das sogenannte Erste, um das Ver-
fahren praktisch auszuprobieren. Leiter des Studios wurde Suler-
shizki, sein Assistent Wachtangow.
Gorki stellte dem Studio für die Improvisationsarbeit seine Szena-
rien zur Verfügung. Und es ist ein Brief Sulers an Gorki erhalten,
in dem ausführlich geschildert wird, wie »die Schauspieler selbst die
Stücke schaffen«. Aber bei den Versuchen kam nicht viel heraus.
Man wird den Grund für den Mißerfolg wohl vornehmlich darin
suchen müssen, daß die Weltanschauungen Gorkis und des Künstler-
theaters nicht miteinander harmonierten. Beide spürten wohl die
Zeichen der Zeit, strebten aber verschiedene Lösungen an. Während
Gorki nach wie vor von politischer Romantik bewegt wurde, hat-
ten Stanislawski und Sulershizki, die Gesinnungsgenossen Tolstojs,
eine künstlerische und humanitäre Erneuerung im Sinn. Zur bloßen
Propagierung von Ideen wäre die Improvisationstechnik sicher ge-
eignet gewesen (das sollte sich nach der Revolution zeigen), nicht
aber zu deren tiefgreifender Gestaltung. Doch fielen Gorkis An-
regungen bei dem jungen Wachtangow, der im Verlaufe der Arbei-
ten zu eigenem Denken erwacht war, auf fruchtbaren Boden.
Die Differenz zwischen Wachtangow und der Linie des Künstler-
theaters wurde offensichtlich, als er 1914 im Studio seine Inszenie-
89
rung von Hauptmanns >Friedensfest< herausbrachte. Im Anschluß an
die Vorstellung entspann sich unter den führenden Persönlichkeiten
des MCHAT eine Diskussion über Methode und Tendenz der In-
szenierung. Dantschenko meinte, man hätte das Stück im Ton ein
wenig dämpfen und seine Dramatik nicht so sehr verdichten sollen.
Stanislawski und Sulershizki schlössen sich seiner Meinung an, auch
sie fanden den von Wachtangow bis zum äußersten, mitunter über
jedes Maß hinausgetriebenen »Nervenkitzel« nicht vertretbar. Suler
erklärte, daß man im >Friedensfest< das Schwergewicht auf das Ver-
söhnende, das Gute im Menschen hätte legen müssen, auf das, was
die Menschen verbindet, nicht aber auf das, was sie trennt. Nur
Gorki stellte sich auf die Seite des Regisseurs Wachtangow, er teilte
methodisch wie weltanschaulich dessen Auffassung und empfand
die grellen Töne und die »entblößten Wunden der Familie Scholz«,
der bürgerlichen Familie, als echte Kunst, als »Kunst des Protestes«.
Aus jener Zeit stammt Wachtangows Inszenierung der >Sintflut<
von Henning Berger, die Lenin, als er sie nach der Revolution sah,
so gefiel - während der Parteiführer andere Einstudierungen des
Künstlertheaters, z. B. Gorkis >Nachtasyl< und Dickens' >Heimchen
am Herd< (Regie: Sulershizki), langweilig und kleinbürgerlich-sen-
timental fand.
Als Leiter verschiedener Studiengruppen von Schauspielschülern
und nach dem frühen Tod Sulershizkis (1916) als Leiter des Ersten
Studios hat Wachtangow dann noch wiederholt versucht, Gorkis
Improvisationsmethode zu beleben. Aber auch er hatte im Endeffekt
keinen Erfolg - die Zeit war noch nicht reif. Erst nach der Revo-
lution, unter den Auspizien des Theateroktober, bekam das Im-
provisieren einen realen Sinn und wurde allgemeine Mode. Kein
Wunder, daß Wachtangow sofort in das Schlepptau Meyerholds ge-
riet und alles, was er im Künstlertheater gelernt hatte, rigoros über
Bord warf. Er organisierte 1918 ein »Volks künstlertheater« und
schrieb in sein Tagebuch »Wir müssen den aufrührerischen Geist
:
des Volkes spielen ... Es wäre gut, wenn irgend jemand ein Stück
schreiben würde, in dem es keine Einzelrolle gibt. In allen Akten
spielt nur die Masse . . . Sie stürmt die Hindernisse, überwindet sie.
90
:
gen Monaten, die ihm noch blieben, soviel wie möglich zu schaffen.
Er arbeitete Tag und Nacht. Vom eigenen Studio ging er zum Studio
des Habima-Theaters, von dort zum Ersten Studio des Künstler-
theaters und von dort wieder in sein eigenes Theater, wo er mit kur-
zer Unterbrechung in den Morgenstunden rastlos weiterarbeitete.
Während der letzten Proben von >Prinzessin Turandot< zog er sich
eine Lungenentzündung zu, aber auch das konnte seinen Geist und
seine Willenskraft nicht niederzwingen. In Pelze gehüllt, ein feuch-
tesHandtuch um den fieberheißen Kopf, saß er im ungeheizten Zu-
schauerraum und arbeitete mit unverminderter Intensität und Be-
geisterung.
Auf die Nacht vor der Premiere hatte er die Generalprobe fest-
gesetzt. Er und seine Kräfte ließen rasch nach.
hatte hohes Fieber,
Es sollte seine letzte Probe sein. Das Stück klappte mäßig. Die
Schauspieler waren erschöpft und konnten nicht geben, was Wach-
tangow verlangte. Immer wieder unterbrach er sie mit schwacher
Stimme, ließ einzelne Stellen und ganze Szenen wiederholen. Um
91
zwei Uhr morgens endlich war alles vorüber. Als jedoch der Schluß-
marsch verklungen war, sagte Wachtangow: >Bitte, lassen Sie uns
das Stück noch einmal von vorn durchspielen. <
Am nächsten Abend fand
die Premiere statt. Das kleine Theater
war dicht was Rang und Namen in Moskauer Künst-
besetzt. Alles,
lerkreisen hatte, voran Stanislawski, war erschienen. Nur Wachtan-
gow war nicht mehr zugegen. Die Aufführung wurde mit stürmi-
scher Begeisterung aufgenommen. Die Zuschauer standen auf,
klatschten und riefen und wollten das Theater nicht verlassen. Der
Wortlaut des Telefongesprächs, das Stanislawski unmittelbar nach
der Aufführung mit Wachtangow führte, ist überliefert. Es waren
herzliche, bewegende Worte, mit denen der große Lehrmeister des
Moskauer Schauspiels seinen Schüler beglückwünschte und ihm
seine Bewunderung aussprach. Wenige Monate später starb
Wachtangow.«
Jewgeni Wachtangow setzte sich mit einem Schlage und unbe-
stritten durch.Jeder der anderen Theaterrevolutionäre hatte zuerst
einmal ein bestimmtes Publikum gewonnen: Stanislawski das Bür-
gertum, Tairow die künstlerische Intelligenz, Meyerhold die Partei-
kader. Wachtangow eroberte im Sturm die Herzen aller; ja, was viel-
leicht noch mehr bedeutete, er eroberte sogar die vorbehaltlose An-
erkennung seiner berühmten Kollegen - die späten Inszenierungen
von Meyerhold, Tairow, Nemirowitsch-Dantschenko tragen unver-
kennbar den Stempel seines Einflusses. Diese durchschlagende und
bezwingende Wirksamkeit Wachtangows erklärt sich offensichtlich
aus dem Umstand, daß er in einer kritischen Stunde die Hoffnungen
des ganzen Volkes zu theatralischen Visionen gestaltet hat, die Hoff-
nungen auf Frieden, auf Freiheit, auf Schönheit, auf Glück. Der junge
Regisseur, der die Revolution anfangs begeistert begrüßt hatte, emp-
fand wie andern, wie Lenin selbst, daß es an der Zeit war, sie zu
alle
beenden in seinen künstlerischen Schöpfungen nahm er den »Ther-
:
midor« - das Ende des Schreckens, auf das alle warteten -, vorweg.
Der Siegeszug, den seine >Turandot< antrat, als er selbst schon auf
dem Totenbett lag, fiel in die Zeit der NEP (Neue Ökonomische Po-
litik), in jene kurze Spanne politischer und wirtschaftlicher Zuge-
92
Historismus und Naturalismus als die »Verallgemeinerung der Kö-
nigsmacht, verbunden mit einem bedrückenden persönlichen Schick-
sal«. Die Aufführung wurde später in sein eigenes, das Dritte Studio
desMCHAT übernommen. Dort inszenierte er Maeterlincks Legen-
denstück >Das Wunder des St. Antonius < mit so viel Überzeugungs-
kraft, daß man die Inszenierung scherzhaft »Das Wunder des Jewgeni
Wachtangow« nannte. Es hat Leute gegeben, die von der Ausstrah-
lung der Aufführung derart ergriffen waren, daß sie hinterher steif
und fest behaupteten, sie hätten um das Haupt des heiligen Antonius,
den der Schauspieler Sawadski spielte, eine Gloriole schimmern sehen.
Seine Erfüllung fand der Stil Wachtangows in der denkwürdigen
Aufführung der >Turandot<, zu der Niwinski die Ausstattung und
Sisow die Musik schufen der großartige Boris Schtschukin begann
;
93
Regisseur die gültige Gestalt der Inszenierung heraus. Bei der Auf-
führung improvisierten die Schauspieler nicht mehr es kam nur auf
;
das Gefühl des Improvisierens an, das sie gewonnen hatten. Man
sollte so spielen, als ob man improvisierte. Das Verfahren hat viel
Ähnlichkeit mit der Idee, die Gorki auf Capri dem Künstlertheater
offeriert hatte. Und in der Tat war dem Dichter das Wachtangow-
Theater von allen Moskauer Theatern. Dennoch hat
stets das liebste
er nicht mit dieser Bühne zusammengearbeitet. Er hat seine Ver-
suche dessen 1919 mit dem Improvisationstheater der Volks-
statt
komödie inLeningrad sowie 1930/31 mit dem Ersten Arbeiter-
theater in Leningrad durchgeführt. (Beide Unternehmungen Gorkis
scheiterten - wohl nicht sosehr aus künstlerischen Gründen, son-
dern im ersten Fall, weil er emigrierte, im zweiten, weil da die Zeit
revolutionärer Experimente überhaupt vorbei war.)
Warum war ungeachtet der gegenseitigen Hochschätzung eine
Zusammenarbeit zwischen Gorki und Wachtangow nicht möglich?
Offensichtlich standen - wie bei jenen ersten vergeblichen Versuchen
damals vor dem Kriege - weltanschauliche Meinungsverschieden-
heiten im Hintergrund. Gorki blieb trotz aller persönlichen Ent-
täuschungen und Erschütterungen bis an sein Lebensende Anhänger
der sozialen Utopie und erstrebte, wenn auch in wesentlich anderer
Form als Stalin und Shdanow, eine Kunst des Sozialistischen Realis-
mus. »Man soll nicht glauben«, sagte er, als er auf seine Idee einer Er-
neuerung der Comedia dell'arte zu sprechen kam, »ich wäre für ein
Zurückgehen auf die Technik des siebzehnten Jahrhunderts, als die
Theaterstücke aus einer fremden Materie aufgebaut wurden - aus
Novellen, geschichtlichen Fakten, Mythen, Legenden - und zur Un-
terhaltung des Adels und der reichen Bürgerwelt geschaffen wurden.
Mein Vorschlag ist, dieses Experiment mit einer lebendigen, aktuel-
len Materie zu machen . .« Das Wesentliche am Gedanken der Im-
.
provisation bei Gorki wie bei Meyerhold war, daß die Schauspieler
selbst die Stücke schaffen, wobei die Schauspieler als stellvertretend
aufgefaßt werden für die Volksmassen, die, wie es im kommunisti-
schen Sprachgebrauch heißt, »ihr Geschick in die eigenen Hände
nehmen«. Die Methode hatte also in diesem Falle einen ausgespro-
chen revolutionären Akzent.
Ganz anders war es bei Wachtangow. Er hatte zwar zeitweise mit
den Vorstellungen Gorkis und Meyerholds sympathisiert, aber in sei-
nen reifen Inszenierungen findet sich keine Spur mehr eines wie auch
immer gearteten Sozialistischen Realismus, keine Spur einer politi-
schen Kunst. Wohl schwebte auch ihm - bewußt oder unbewußt -
ein gesellschaftliches Ideal vor, aber das war kein utopisches sozial-
politisches Experiment, sondern ganz einfach eine Gesellschaft, in
der die Menschen frei und glücklich leben können. Für ihn war der
entscheidende Gesichtspunkt bei der Anwendung der Improvisation
nicht die kollektive Produktion kulturpolitischer Aussagen, son-
dern das freie, gelöste und heitere Spiel, das als Sinnbild eines freien,
94
gelösten und heiteren Lebens stand. Die Methode erhielt somit bei
ihm einen demokratischen Akzent. Das Improvisationstheater Wach-
tangows unterschied sich also seinem Wesen nach von dem Gorkis,
was sich sowohl in der Auswahl des thematischen Materials wie in
einigen Zügen der Methodik äußerte.
Der Unterschied der Auffassungen wird an einem Vorfall deutlich,
der sich Jahre später abgespielt hat. Anfang der dreißiger Jahre sah
sich auch das Wachtangow-Theater gezwungen, eine kulturpoliti-
sche Musteraufführung zu bewerkstelligen (wie es das Künstler-
theater mit >Panzerzug< und das Kammertheater mit >Optimistische
Tragödie < taten). Die Nachfolger Wachtangows wählten zu diesem
Zweck das Stück >Jegor Bulytschow< des befreundeten Dichters
Gorki. Sie vereinbarten mit dem Autor, daß nach erprobter Sitte
Improvisationsszenen eingefügt werden sollten. Doch als Gorki
dann einmal unvermutet zu einer Vorstellung kam, war er nicht we-
nig entsetzt über die Art, in der die Theaterleute unter Leitung des
Wachtangow-Schülers Sachawa von dem Recht der Improvisation
Gebrauch gemacht hatten. Einige Partien des Stückes hatten sie aus
einer gesellschaftskritischen Tragödie in eine Groteske verwandelt.
Beispielsweise hatten sie die Schlußszene so arrangiert, daß der ster-
benskranke Jegor Bulytschow, gespielt von Schtschukin, die Popen,
welche ihm die letzte Ölung verabreichen wollen, zum Teufel jagt
und, vor Wut und Schmerzen laut brüllend, mit Kissen und anderen
Gegenständen nach ihnen schmeißt. Gorki verbot sofort die Auf-
führung der Improvisationsvariante, obwohl sie theatralisch sehr
wirkungsvoll war - vermutlich zum Glück des Theaters, das sonst
kaum die Prüfung in Sozialistischem Realismus bestanden hätte.
Der Einfluß Wachtangows machte sich innerhalb der »Stani-
slawski-Familie«, d. h. der verschwisterten Studios am stärksten be-
merkbar. Unter seinem Einfluß entfernte sich das Erste Studio des
MCHAT, das schon unter Sulershizki seinen eigenen Akzent gehabt
hatte, so weit von seinem Stammhaus, daß es sich schließlich 1924
von Stanislawski trennte und als Zweites Moskauer Künstlertheater
selbständig machte. Als profilierte und qualifizierte Bühne gehörte
das sogenannte MCHAT II während der ganzen zwanziger Jahre zu
den führenden Stätten der sowjetischen Theaterkultur. Seine bedeu-
tendsten Persönlichkeiten waren der Schauspieler und Regisseur
Michail Tschechow, ein Neffe des Dichters, und der temperament-
volle Regisseur Alexej Diki. Das Theater zeichnete sich vor allem
durch eine moderne und großangelegte Shakespeare-Interpretation
aus (> König Lear<, >Hamlet<). Einen geradezu sensationellen Er-
folg erzielte Diki mit seiner brillanten Inszenierung des >Floh<, eines
geistvollen Stückes, das der Schriftsteller Samjatin, der später nach
Frankreich emigrierte, nach einer Erzählung des klassischen russi-
schen Dichters Leskow geschrieben hatte. Die Aufführung des
>Floh< wurde in Stil und Niveau oft mit Wachtangows >Turandot<
verglichen.
95
Im Zweiten Studio des MCHAThatten sich die orthodoxen
Stanislawskisten zusammengefunden. Ihr größter Erfolg war die sehr
lebendige Aufführung des >Grünen Ringes <, eines Werkes der emi-
grierten Schriftstellerin Sinaida Hippius. Tairow bemerkte zu der
Einstudierung bissig, daß er sich getraue, das Stück mit richtigen Gym-
nasiasten und Gymnasiastinnen genausogut zu spielen - die jungen
Leute vom Zweiten Studio seien ja nur deshalb so überzeugend ge-
wesen, weil sie das Vergnügen der Schulpausen noch in lebhafter
Erinnerung gehabt hätten. Als das Künstlertheater 1924 von der
Auslandsreise zurückkam und einen bedeutenden Teil des Ensem-
bles durch Emigration verloren hatte, ging das Zweite Studio im
Stammhaus auf; es stellte dessen »zweite Generation«, u. a. die Ta-
rassowa und die Regisseure Sudakow und Chmeljow.
Das Dritte Studio, das Wachtangow gegründet und geleitet hatte,
wurde nach seinem Tode in Wachtangow-Theater umbenannt.
Seine Nachfolger brachten mit ebensoviel Geschick wie Mut das
Kunststück fertig, ihr Theater als einziges der berühmten Revolu-
tionstheater über die ganze Epoche des Stalinismus hinüberzuretten
und dennoch hin und wieder in den Darbietungen eine eigene Note
zur Geltung zu bringen. Aus der Schule Wachtangows gingen einige
begabte und originelle Regisseure hervor, die das sowjetische Thea-
terleben um manchen glänzenden Aspekt bereichert haben: Boris
Sachawa, Juri Sawadski, Alexej Popow, Rüben Simonow und vor
allem Nikolaj Akimow. Die Leistung Akimows, die am meisten Auf-
sehen erregt hat, war seine ausgelassene Inszenierung des >Hamlet<,
zu der Schostako witsch die Musik schrieb. »Auf uns wirkt nur das
abenteuerliche Element der Tragödie«, so umriß - nach dem Bericht
Jelagins - Akimow die Idee der Inszenierung. »Wir wollen Duelle,
blitzende Degen, hinterlistige Intrigen, blutige Händel, rauschende
Feste im Palast und den jungen Fortinbras sehen, den edlen Helden,
der siegreich in sein Land zurückkehrt. An Stelle einer bleichen, gei-
stigumnachteten Ophelia werden wir eine bezaubernde Schönheit mit
einer etwas nachlässigen, fragwürdigen Moral sehen. Unser Hamlet
wird ein Mann der Tat, ein kraftstrotzender, rauflustiger junger
Mann sein, der mit dem Schwert schnell bei der Hand ist. In unsere
Inszenierung werden wir aufregende Hetzjagden, Zweikämpfe und
ganze Schlachten einfügen. Ritter in schimmernden Rüstungen wer-
den über die Bühne reiten, natürlich auf richtigen Pferden. Das Pu-
blikum wird beim Anblick der rauschenden Feste am Königshof den
Atem anhalten. Und eine prächtige Musik wird unserem >Hamlet<
den letzten Glanz geben.« Die vom Publikum mit Begeisterung,
von der Parteikritik mit Empörung aufgenommene Einstudierung
wurde nicht nur in Moskau, sondern auch in Leningrad aufgeführt,
wo Akimow später Leiter des Komödientheaters wurde.
Das Vierte Studio des MCHAT gewann einen eigenen Stil durch
Nikolaj Ochlopkow, der das Haus in Realistisches Theater um-
benannte. Seine revolutionär erregten, pathetischen und stark stili-
96
:
97
duld und unter gegenseitiger Kritik und Anteilnahme; manchmal
wurde ein Stück, an dem man schon monatelang geprobt hatte, im
letzten Moment verworfen; die Schauspieler gingen während der
Einstudierungszeit immer noch einem Nebenerwerb nach, um die
lange Vorbereitungsdauer materiell durchhalten zu können; sie
wohnten allesamt im Theatergebäude, oft in der Garderobe, um
möglichst viel Zeit der Theaterarbeit widmen zu können - bis dann
schließlich Aufführungen vor dem Auge und Ohr des Publikums
standen, die den Stempel einer fanatischen, beinahe missionarischen
Theaterbesessenheit trugen.
Charakteristisch für das Theater, das nach Wachtangows Tod
Zemach leitete, waren die drei Stücke, die den Kern seines Spiel-
plans ausmachten: >Der Dybuk<, >Der Golem < und >Der ewige
Jude <, alle drei tragische, apokalyptische Äußerungen ahasverischer
Geworfenheit und Heimatlosigkeit. Das Stück >Dybuk< von Anski,
das wir als das interessanteste Beispiel beschreiben wollen, geht auf
eine chassidische Legende zurück. Zwei junge jüdische Menschen,
Lea und Chanan, lieben einander. Aber Leas Vater willigt nicht in
die Verbindung, er will einen reichen Schwiegersohn. Da stirbt Cha-
nan unter Verwünschungen und wird zum Dybuk, einem ruhelosen
Dämon. Lea wird von diesem Dämon besessen, sie stößt beim Hoch-
zeitsmahl den vom Vater zugewiesenen' Bräutigam von sich und
stirbt, als ein Wunderrabbi den Alb aus ihrer Seele zu vertreiben
sucht. - Das Spiel, noch von Wachtangow selbst in 200 Proben ein-
studiert, war faszinierend in seiner expressiven Ausdrucksgewalt,
seiner erregenden, schaurigen Überhöhung das gespenstische Hell-
:
den Mitteln bewegter Leiber und Gesten, die Tragik dieser Menschen
gleichsam sich überschlagen, daß sie erschrecken und lächeln über
die Komik, die sie mitschleppen im Gehäuse des Alltags.«
99
<
100
!
auch bei Meyerhold nicht über die Generalprobe hinaus, die Presse
schrieb von einer »Demonstration gegen die Diktatur des Proletari-
ats« und der Schriftsteller Erdmann wurde ins Konzentrationslager
geschickt.
Im Kammertheater löste u. a. >Die Verschwörung der Gleichen <
101
musikalische Gestaltung, die auf der Höhe der modernen Musik, wie
sie in der ganzen Welt vertreten wird, sich befindet, schrieb das Zen-
tralorgan der Partei >Prawda< in einem Leitartikel unter der Über-
schrift »Chaos statt Musik«: »Der Komponist hat sich offensichtlich
nicht die Aufgabe gestellt, dem Gehör zu schenken, was die sowjeti-
schen Opernbesucher von der Musik erwarten und in ihr suchen. Als
hätte er bewußt seine Musik chiffriert, hat er alle Töne in ihr so
durcheinandergebracht, daß sie nur für Ästheten und Formalisten,
die ihren gesunden Geschmack verloren haben, genießbar bleibt.«
Wie das Beispiel der Musik zeigt, richtete sich die Kunstdiktatur
der Partei nicht nur gegen den Inhalt, sondern auch gegen die Form
der Werke. Von nun an wurde der Vorwurf des »Formalismus« zu
einem furchterregenden Bannfluch, der die Existenz eines jeden
ernsthaften Künstlers bedrohte. Man versteht den Begriff des For-
malismus, der von der bolschewistischen Ästhetik niemals exakt defi-
niert worden ist, am besten, wenn man ihn mit dem nationalsozia-
listischen Schlagwort Entartete Kunst vergleicht. Er gab während
der ganzen stalinistischen Epoche und darüber hinaus die Argumen-
tation her, um gegen jede künstlerische Leistung vorzugehen, die die
ihr zugedachte Propagandafunktion nicht oder nur unzulänglich er-
füllte, die gegen die Prinzipien des Tendenziösen, Plausiblen und
Konventionellen, gegen das »gesunde Volksempfinden« verstieß.
Stalin selbst, der sich in allen Theatern unsichtbare, kugelsichere
Logen einbauen ließ, nahm an der Ausrichtung des Theaterlebens
regen Anteil. Er forderte die Schriftsteller auf, »Ingenieure der
menschlichen Seele« zu werden. Er animierte Dramatiker, die er be-
sonders schätzte, zur Arbeit an aktuellen Stoffen und verlieh beim
Gelingen eines Projektes großzügig Stalin-Preise und andere Aus-
zeichnungen an Autor und Darsteller. Er ließ Nemirowitsch-
Dantschenko, den Direktor des MCHAT, zu sich kommen und for-
derte ihn auf, Gorkis >Feinde< und das Revolutionsstück >Ljubow
Jarowaja< von Trenjow im naturalistischen Stil als Modellaufführun-
gen herauszubringen. Während er die moderne Musik verabscheute,
besuchte er die epigonale Oper >Der stille Don< des jungen Sowjet-
komponisten Dsershinski mehrere Male. Der Inhalt dieses Werkes
zeichnet sich dadurch aus, daß der Held des berühmten Romans von
Scholochow, der im kosakischen Freiheitskampf gegen die Sowjets
zugrunde geht, zu einem treuen Bolschewisten umgefälscht wird.
Die wohlgefällige Musik lehnt sich an die Folklore an und über-
nimmt z. B. notengetreu ganze Kosakenlieder. Im Gespräch mit dem
Komponisten erklärte der Diktator, daß jetzt die Zeit reif sei, eine
sowjetische klassische Oper zu schaffen, und meinte zur. Form des
wünschenswerten Werkes »In ihr soll das Gesangliche des Volks-
:
liedes weitgehend verwendet werden, sie soll auch ihrer Form nach
dem Zuhörer nah und verständlich sein .« . .
102
:
103
kenne. Ich möchte mich mit diesen Fehlern im einzelnen befassen
und beginnen, sie der Reihe nach aufzuzählen.
Harte Worte sind über den schlechten Einfluß gefallen, den ich
auf einige junge sowjetische Theaterregisseure ausgeübt haben soll.
Ich wurde für eine traurige und verderbliche Erscheinung verant-
wortlich gemacht, der man die geistvolle Bezeichnung >Meyerhold-
Manie< gegeben hat. Ich beklage aus grundsätzlichen Erwägungen,
daß ich den zahlreichen einfallslosen und ungebildeten Regisseuren,
die meinen Stil mit halbem Herzen imitierten, ihn beständig ver-
zerrten und entwerteten, nicht energischer entgegengetreten bin.
Sie haben nicht den geringsten Versuch gemacht, meine künstleri-
schen Prinzipien zu begreifen, und sie verfälschten meine Gedanken,
ohne mein künstlerisches Ziel auch nur von fern zu ahnen. Wenn Sie
diese erbärmlichen, mühsamen Anstrengungen einiger Theaterregis-
seure >Meyerhold-Manie< nennen, dann verwahre ich, Meyerhold,
mich öffentlich dagegen. Soviel zur ersten Anklage.
Harte Worte sind ebenfalls gefallen über die Art und Weise, in der
ich unser klassisches Erbe entweiht haben soll. Man hat mich an-
geklagt, mit den verehrungswürdigen Werken von Gogol, Gribo-
jedow und Ostrowski unentschuldbare Experimente angestellt zu
haben. An dieser Beschuldigung ist etwas Wahres. In der Inszenie-
rung mancher dieser Stücke ging ich im Experimentieren zu weit
und ließ meiner schöpferischen Phantasie zuviel Freiheit. Ich vergaß
gelegentlich, daß der künstlerische Wert des Stoffes, mit dem ich ar-
beitete, unendlich viel größer war als alles, was ich noch hinzufügen
konnte. Ich gebe zu, daß ich bei der Inszenierung klassischer Werke
häufiger meine Grenzen und das künstlerische Maß besser hätte er-
kennen sollen. Dies trifft jedoch nicht auf meine > Wald (-Inszenie-
rung zu und nicht auf meine Inszenierung der >Kameliendame <. Ich
bin auch heute noch davon überzeugt, daß beide Inszenierungen gut
waren und daß meine Arbeit die Stücke interessanter und anziehen-
der gemacht hat und dem Sowjetpublikum half, den Gehalt leichter
zu verstehen und die Idee zu erkennen, die sich hinter den Werken
verbirgt. Soviel zur zweiten Anklage.
Drittens und worden, in meiner künst-
letztens bin ich angeklagt
lerischen Arbeit ein Formalist zu sein, bei meiner Suche nach neuen
und originellen Formen den Inhalt verfälscht und den Hauptzweck,
die Suche nach dem Sinn, vergessen zu haben. Das ist eine schwer-
wiegende Anklage, und ich akzeptiere sie nur in einem Punkt. Ich
gebe zu, daß ich im Verlauf meines künstlerischen Lebens für einige
Inszenierungen verantwortlich bin, in denen ich einige neue Ideen
und Einfälle auf dem Gebiet der dramatischen Form erproben
wollte. Es waren experimentierende Inszenierungen, bei denen die
Form dominierte. Aber die Zahl dieser Inszenierungen ist klein - ich
kann sie an einer Hand aufzählen. Abgesehen davon muß ein Mei-
ster - und ich habe die Kühnheit, mich als einen solchen zu betrach-
ten - das Recht zum Experiment haben. Er muß das moralische
104
Recht haben, seine künstlerischen Ideen zu erproben, gleichgültig,
wie der Ausgang sein mag. Er muß das Recht haben, Fehler zu ma-
chen, weil alle Sterblichen dieses Recht haben und er ein Sterblicher
ist wie alle anderen.
Ich habe mich sehr selten mit Experimenten und Kühnheiten be-
faßt, die man als formalistisch bezeichnen könnte. Die meisten mei-
ner künstlerischen Arbeiten weisen keine Spur von Formalismus
auf. Meine Bemühung war im Gegenteil darauf gerichtet, einen
organischen Stil zu finden, der zu dem gegebenen Inhalt paßt, und
ich glaube, daß ich damit meistens Erfolg hatte. Es war nicht Stani-
slawskis Stil oder Tairows Stil, es war nicht Sidorows, Petrows oder
Iwanows Stil - es war Meyerholds Stil, in dem sich meine künst-
lerische Eigenart ausdrückte.
Warum soll das Formalismus genannt werden, und wie lautet Ihre
Definition des Formalismus ? Ich möchte umgekehrt fragen Was ist :
begangen. Dann haben Sie das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.
Dann haben Sie in Ihrem Bestreben, den Formalismus auszurotten,
dieKunst zerstört!«
Kompromißlos, wie er gelebt und gearbeitet, ging Meyerhold in
105
den Tod. Am Tage nach seiner Rede wurde er verhaftet. Ihm wurde
vorgeworfen, ein deutscher Spion zu sein; nach glaubhaften Infor-
mationen von verschiedenen Seiten ist er bereits nach einer Woche
den Torturen der Vernehmung erlegen. Seine Frau, die berühmte
Ehe mit dem Dichter Jessenin
Schauspielerin Sinaida Reich (in erster
verheiratet), wurde wenige Wochen nach der Festnahme ihres Man-
nes in ihrer Wohnung ermordet aufgefunden, von siebzehn Messer-
stichen zerfetzt. Die Wohnung wurde von der NKWDbeschlag-
nahmt und versiegelt.
Soweit die Theater die Große Säuberung, die Jeshowschtschina
(so genannt nach dem damaligen Chef der Geheimpolizei), überstan-
den hatten, gerieten sie nach dem Kriege in die chauvinistische Welle,
die Shdanowschtschina (so genannt nach Stalins berüchtigtem Kul-
turinquisitor Andrej Shdanow). Alexander Tairow, der Leiter des
Moskauer Kammertheaters, und Nikolaj Akimow, der Leiter der Le-
ningrader Komödie, wurden als »bürgerliche Ästheten« und »Kos-
mopoliten« ihrer Positionen enthoben, dem einen warf man u. a. vor,
daß er O'Neill, dem anderen, daß er Priestley gespielt hatte. Tairow
starb bald darauf, einsam und abgekämpft. Zusammen mit allen ande-
ren jüdischen Kulturinstituten - den Schulen, Verlagen, Zeitungen,
Bühnen - wurde das Michoels-Theater, das berühmte jiddische
Kammertheater in Moskau, geschlossen. Zahlreiche jüdische Schrift-
steller, Künstler und Kritiker wanderten im Verlaufe der Kampagne
gegen »Zionismus« und »Kosmopolitismus«, der Stalinschen Juden-
verfolgung, in die Konzentrationslager; 26 wurden 1952 erschossen.
Der große Schauspieler Salomon Michoels starb just zu Beginn der
Säuberung unter verdächtigen Umständen; er wurde nach seinem
Tode als »zionistischer Spion« diffamiert. Das Wachtangow-Theater
entging der bereits angedrohten Liquidation nur dadurch, daß seine
Chefs schleunigst Selbstkritik ablegten und noch in den Theater-
ferien gleich vier Tendenzstücke auf einmal einstudierten, mit denen
sie dann eine Tournee durch die Industriegebiete absolvierten. In
einer von der Partei gelenkten öffentlichen Diskussion im Jahre
1950 wurde die Pseudo-Stanislawski-Methode, wie sie die Regisseure
Kedrow und Toporkow nach dem Tode der ganzen alten Garde am
Künstlertheater entwickelt hatten, für alle Sowjetbühnen verbind-
lich erklärt.
Der endgültige Schlag gegen die russische Musik wurde 1948 an-
läßlich derUraufführung der Oper >Die große Freundschaft von <
Muradeli geführt. Die Oper wurde verboten, weil sie in ihrem Inhalt
den Freiheitskampf jener Kaukasusvölker verherrlichte, die Stalin
inzwischen mit Kind und Kegel nach Sibirien hatte verschleppen las-
sen, und vor allem, weil sie in ihrer musikalischen Gestaltung der
modernen Richtung folgte. Auf Antrag von Shdanow wurde durch
Beschluß des Zentralkomitees der Bolschewistischen Partei das
Schaffen ausnahmslos aller bedeutenden sowjetischen Komponisten,
das Werk Prokofiews, Schostakowitsch, Chatschaturians, Mjas-
106
kowskis, Schebalins, geächtet. Zu gleicher Zeit verurteilte das Zen-
tralkomitee in einem Beschluß die Arbeit der berühmten sowjetischen
Filmregisseure Eisenstein, Pudowkin und anderer.
Das Wort Trotzkis, zu Beginn einergroßen Kulturepoche ge-
sprochen, daß die Abenddämmerung für die revolutionäreKunst die
rechte Stunde sei, wurde auf eine dämonische Weise bestätigt - denn
auf die Dämmerung folgte die Nacht.
:
108
f
so vieler Zuschauer an ganz private Gefühle denken zu sollen. Doch
die Zeit drängt. Ich stehe immer noch am Flügel, und endlich be-
greife ich, daß etwas geschehen muß und die Begleiterin das Zeichen
erwartet. Ich sang. Die Lehrerin lobte mich, und ich ging an meinen
Platz. Zu Hause ließ ich meinen Neger [eine Puppe] >In einer rau-
schenden Ballnacht < genauso singen, wie es die Lehrerin von mir ver-
langt hatte. Ihm bereitete das offensichtlich Vergnügen, und alle
meine Hausgenossen amüsierten sich köstlich. In der nächsten
>System-Stunde< führte ich meinen Neger vor. Er konzentrierte sich,
gab der Pianistin vorsichtig das Zeichen und sang, indem er das
Kinn in die Hand stützte oder sich die Tränen aus den Augen
wischte. So sang er von seiner Heißgeliebten. Alles lachte .« . .
110
Schein der Petroleumlampe beisammen und sang allerlei Lieder.
»Nicht unser > Vortrag < gefiel uns - wir sangen meist leise -, sondern
die Lieder an und für sich, ihre lustigen oder rührenden Worte, ihre
Motive. Wir hatten unsere Freude daran, wie die Melodien der Duette
sich miteinander verflochten oder in >Führe mich nicht ohne Not in
Versuchung < einander suchten und fanden. Auch daran hatten wir
unsere Freude, wie in >Nächte, ihr sinnlosen . < die untere Stimme
. .
um eine Oktave anstieg und die obere, die eine Oktave höher be-
gann, ihr entgegenstrebte und wie sie sich dann verbanden, um sich
nach einiger Zeit wieder zu trennen. Wir sangen unsere Lieder nicht
mit >betontem< Ausdruck, sangen sie niemals mit >Gefühl<, weil wir
die Stimmungen in den Liedern nie mit unseren eigenen in Verbin-
dung brachten. Natürlich empfanden wir das Lied als traurig, wenn
wir >Einsam trete ich den Weg an< sangen, oder als lustig, wenn es
das ukrainische Lied >Der Bauer fährt zur Mühle < war mit dem ko-
mischen Refrain >furdalu posafurdy furdy werdaly - viele Täler gibt
es bis zur Mühle <. Aber das Lustige oder das Traurige kam aus dem
Liede selbst, aus seiner Melodie, seinen Worten, seinem Rhythmus.
Das war das Schöne daran. Weil fast immer nur wir vier für uns allein
sangen, verwandelte sich dieses Singen in echte Begegnungen mit
der Kunst.«
Seine Kindheitserlebnisse und -eindrücke zusammenfassend,
schreibt Obraszow in seinen Erinnerungen: »Das allerwichtigste
waren doch nicht diese einzelnen Begegnungen mit der Kunst, son-
dern das ihnen allen Gemeinsame die Beziehung meiner Eltern zu
:
den Erscheinungen der Kunst und des Lebens. Mein Vater - ein
Wissenschaftler -, Mitglied der Akademie, war Begründer einer gan-
zen Schule von Ingenieuren. Er war weit vorausschauend und sah
das Leben des Landes in großen Perspektiven. Er erging sich jedoch
niemals in großen Worten über die Wissenschaft. Er liebte Kunst
und Literatur, erzählte voller Hingabe von einem Buch, einem Schau-
spieloder einem Film, ohne jedoch dabei pathetisch zu werden . . .
in
Alter von zehn Jahren bekam er den ersten systematischen Unter-
richt.Als er das Gymnasium verließ, trat er in die Schule für Malerei,
Plastik und Architektur ein. Von der Klasse für Maler wechselte er
in die graphische Werkstatt über, die Faworski leitete, ein bemer-
kenswerter Künstler, der sich - auf dem etwas abgelegenen Gebiet
der Buchillustration - allen Prinzipien des Sozialistischen Realismus
zum Trotz bis zur Gegenwart einen eigenwilligen ornamentalen Stil
zu bewahren wußte. Neben seinem künstlerischen Studium hörte
Sergej Vorlesungen über Philosophie an der Universität. Und er ließ
an einem Konservatorium seine Stimme ausbilden. Durch irgend-
einen zufälligen Umstand geriet er in die Aufnahmeprüfung für das
Musikalische Studio des Künstlertheaters, das Nemirowitsch-Dan-
tschenko aufgebaut hatte. Als er sich vorstellte, wußte er nicht ein-
mal, welche Stimme er wohl singe: »Ich weiß nicht, höchstwahr-
scheinlich Tenor.« Seine Aufnahme, so meint er, habe er wohl nur
einem glücklichen Zwischenfall zu verdanken. Nemirowitsch-Dan-
tschenko fragte ihn, den blonden Benjamin unter den Prüflingen:
»Wie jung sind Sie?« und er antwortete voller Aufregung und Ver-
wirrung mechanisch: »Ich bin 21 Jahre alt -« Alles lachte. Obraszow
schreibt in seinen Erinnerungen, daß es vermutlich diese unfreiwillige
Schlagfertigkeit war, die den amüsierten Dantschenko bewog, ihn,
wenn auch vorerst ohne Gage, einzustellen. Jedenfalls betrachtete
der frischgebackene Theatereleve das neue Metier lange Zeit als ein
belangloses Abenteuer und setzte das Kunststudium neben dem
Theaterspiel fort. Später hat er sein künstlerisches Werden mit einem
Kontrapunkt verglichen, bei dem ja auch mehrere Melodien, meh-
rere Themen gleich bedeutungsvoll nebeneinanderlaufen und mit-
einander korrespondieren.
Eine solche Melodie unter anderen und anfangs nur wenig be-
achtet war auch die Beschäftigung mit Puppen. Als Kind besaß er
ein kleines komisches Püppchen, Bi-Ba-Bo genannt, das aus einem
grotesken Zelluloidköpfchen mit Fez und einem blauen Kittelchen
bestand, das wie ein Handschuh über die Hand gezogen werden
konnte. Mit diesem bunten Kerlchen gab er vor der Spiegelglas-
scheibe eines großen Moskauer Geschäftes, in Konkurrenz mit den
mechanischen Schaufensterpuppen, sozusagen seine erste Vorstel-
lung. Als Kunststudent verfertigte er mit Kommilitonen zusammen
ein paar niedliche Spielzeugpuppen, um durch ihren Verkauf etwas
Geld zu verdienen. Nachher gefielen den Künstlern aber die eigenen
Geschöpfe so gut, daß aus dem Verkaufen doch nichts wurde. Von
irgendeiner besonderen Vorliebe für Puppen und Puppenspiel konnte
jedoch bei dem jungen Obraszow noch keine Rede sein. Es gab
offensichtlich in seiner Kindheit nicht einmal eindrucksvolle Erleb-
nisse von Puppenspiel- Aufführungen, denn in seinen Erinnerungen
erwähnt er nichts davon.
Die künstlerische Universalität des heranreifenden Obraszow -
bildende Kunst, Musik, Theater, Kabarett - war für seine spätere
112
E itwicklung in mancher Hinsicht von Bedeutung. Zunächst einmal
ihm, das Puppenspiel in einem bisher unbekannten Maße zu
lf sie
enem Gesamtkunstwerk zu entwickeln. Darstellungskunst, Musik,
Ausstattung, Beleuchtung haben am Erfolg seiner Inszenierungen
dm gleichen Anteil. Bei der technischen Herstellung der Puppen, die
ii seinem Produktionsprozeß keine geringere Rolle als die eigentliche
1*3
Frage nach dem »Was habe ich denn nun
Sinn seines Schaffens auf:
Bühne geleistet, hat meine Arbeit einen wenn auch
tatsächlich auf der
noch so kleinen Nutzen gebracht?« Bescheiden klingt seine Ant-
wort »Ich möchte glauben, daß das Lachen, mit dem die Zuschauer
:
114
arh Musikalischen Studio beschäftigte, hatte auf seine Entwicklung
eine Rolle Einfluß, in der er in keiner Vorstellung aufgetreten ist der
:
Tjrtaglia in Gozzis >Turandot<, und zwar in der Art, wie ihn der
Schauspieler Schtschukin bei Wachtango w spielte. Er vermochte
diesen Tartaglia so trefflich zu imitieren, daß er damit auf Wunsch
vqn Nemirowitsch-Dantschenko sogar auf einem Bunten Abend
auftreten mußte. Auf Grund dieses Erfolges betraute ihn sein Thea-
ter erstmalig mit einer ernst zu nehmenden Rolle, dem Zeremonien-
meister Terapot in >Pericola< von Offenbach. Sein Regisseur war
dabei Xenia Kotlubaj, die einige Zeit zuvor Assistentin Wachtangows
und an der >Turandot<-Einstudierung beteiligt gewesen war. Obra-
s2ows Versuch, mit Hilfe des Stanislawski-Systems in die Rolle ein-
zudringen, schlug völlig fehl. Da machte ihm die Kotlubaj, die von
seiner bildkünstlerischen Vorbildung wußte, den Vorschlag, eine
Puppe in Gestalt des Terapot zu basteln. Er schuf nacheinander drei
verschiedene Fassungen des Typs, mit denen dann geprobt wurde.
Über diesen Umweg zur Gestaltung begriff er die Rolle.
Obraszow gehörte zu der in den Studios um Wachtangow und
Nemirowitsch-Dantschenko gruppierten Opposition im Künstler-
theater, die über die Grenzen des Stanislawski-Systems, das sie nur
als Ausgangsstellung ansahen, kühn hinauszudringen versuchten.
Ihre Kritik richtete sich vor allem gegen die Lehre von der »Wahr-
heit der Empfindung«, gegen die Forderung nach völliger Identi-
fizierung mit der Rolle. Dantschenko sagte dem jungen Obraszow:
»Sie spielen den Terapot als einen bösen, mißgestalteten, schleimigen
Menschen, und das ist richtig. Aber diese Widerwärtigkeit und dieses
Mißgestaltetsein dürfen nur dem Terapot selbst, nur der Gestalt an-
haften und nicht auf Sie selbst übergehen. Die Gestalt kann unan-
genehm sein, aber im Zuschauer darf nicht der Eindruck entstehen,
daß der Schauspieler selbst ein unangenehmer und mißgestalteter
Mensch sei. Dieses Gesetz bezieht sich nicht allein auf den Schau-
spieler, sondern auf alles, was der Zuschauer als szenische Gestal-
tung wahrnimmt, das heißt auf alles, was auf der Bühne mitspielt.
So liegen zum Beispiel in der Aufführung von >Nachtasyl< schmie-
rige Lumpen auf den Pritschen. Der Zuschauer weiß wohl, daß sie
schmutzig sind, aber er denkt doch keinen Augenblick lang, daß sie
voller Wanzen sein könnten. Wenn er das dächte, würde es ihm
geradezu ekelhaft sein.« Noch weiter ging Wachtangow in dem Aus-
spruch, den wir schon an anderer Stelle zitiert haben »Der Zuschauer
:
"5
daß das genau die richtige Rolle für mich sei. Erstens deckten sich
die Ansichten Wolgins völlig mit den meinen, zweitens waren wir
gleichaltrig, und drittens widersprach mein Äußeres keineswegs cer
möglichen äußeren Gestalt Wolgins. Ich hätte mich nicht einmal zu
schminken brauchen. Und doch verhinderte diese scheinbare Über-
einstimmung nicht nur das Eindringen in die Rollengestalt, sondern
sie bereitete auch den Boden zu einer Selbst-Darstellung vor, also zu
einem Ersetzen der Gestalt durch mich selbst.« Achtzehn Jahre spä-
ter spielte er zufällig noch einmal den Wolgin, und da gelang ihm
die Rolle »Zwischen Wolgin und mir bestand jetzt ein erheblicher
:
gen das Moskauer Künstlertheater dazu, > Auferstehung < mit einem
Vorleser aufzuführen [Regie: Dantschenko], Mir scheint dies eine
Großleistung dieses Theaters zu sein. Der Vorleser in > Auferstehung <
ist das mnvermeidliche Ubel< der Inszenierung und stellt dennoch
116
kuhst des großen (aus der Sowjetunion emigrierten) Sängers Schal-
japin: »Was aber hatte es nun mit Schaljapin auf sich? Denn nicht
nut auf der Bühne, sondern auch im Konzert beschränkte er sich
keineswegs allein auf die Wiedergabe der durch Text und Musik vor-
gefceichneten Gestalt. Blick und Augenbrauen blieben bei ihm nicht
leidenschaftslos ruhig. Die Gestalt entstand aus jeder körperlichen
Bewegung des Sängers, aus einer Kopfbewegung, der Ausdrucks-
kraft derHände, aus dem ganzen wundervollen Körper Schaljapins.
Jede Romanze wurde von ihm nicht nur gesungen, er spielte sie
auch. Das stimmt wirklich. Und dennoch werden alle Leser, die das
Glück hatten, ein Schaljapin-Konzert zu erleben, sich vermutlich an
eine sehr interessante Einzelheit erinnern, die man nicht sofort
beachtete. Obwohl Schaljapin kein sehr umfangreiches Konzert-
repertoire hatte und sicherlich jede Romanze auswendig kannte,
betrat er nieohne Noten das Podium. Während seines Vortrages
nun - und darin gerade liegt das Wesentliche - führte er sein Lorgnon
immer wieder an die Augen und blickte in die Noten. Durch diese
Geste wurde die ganze Zeit über der äußerst schmale, aber sehr be-
zeichnende Grat zwischen dem singenden Schaljapin und der Ge-
stalt, in deren Namen er sang, gewahrt.«
Als die Brecht-Mitarbeiterin Käthe Rülicke einmal in einem Arti-
kel in der Zeitschrift >Sinn und Form< das Geheimnis der Überein-
stimmung zwischen dem hochgeachteten Stalinpreisträger Obraszow
und dem Erzformalisten Brecht ausplauderte, wurde sie von der offi-
ziellen Theaterzeitschrift der Sowjetzone ungnädig zurechtgewiesen,
sie solle sich zuerst einmal mit jenen Aufsätzen des Russen vertraut
machen, in denen er die Grenzen zwischen den einzelnen Kunstarten
absteckt; zwischen »Menschentheater« und Puppentheater sei doch
ein Unterschied. Hätte jedoch Frau Rülicke die besagten Arbeiten
studiert, so hätte sie nur noch weitere Bestätigungen für ihre Thesen
gefunden. Obraszow leitet seine Meinung, das Puppentheater sei die
allertheatermäßigste von allen Ausdrucksformen des Theaters über-
haupt, ja gerade daraus ab, daß ihm eine Verfremdung für die Dar-
stellungskunst des Theaters unerläßlich erscheint. Er schreibt:
»Aber so ist das Gesetz der darstellenden Kunst Je weiter sich der
:
Wenn diese Behauptung richtig ist - und man kann ihr meines Er-
achtens nicht widersprechen -, so bedeutet das, daß man vermittels
117
eines Menschen einfach keinen Menschen, den Menschen an sich,
darstellen kann. Auf den ersten Blick erscheint dies unsinnig. Was
geht denn im gewöhnlichen Theater vor? .Die Schauspieler auf
. .
der Bühne spielen nicht den Menschen, sondern eine Sonderart des
Menschen. Wenn der Schauspieler an seiner Vorlage, an seiner Rolle
arbeitet, denkt er darüber nach, wie er seine ihm persönlich inne-
wohnenden Eigenschaften in eine neue Form verwandeln kann, die
es ihm gestattet, ein anderer Mensch zu werden. Im Theater des
lebendigen Schauspielers ruft ein Gang über die Bühne oder die
Tatsache, daß der Schauspieler sich auf einen Stuhl setzt, keine Be-
wunderung bei den Zuschauern hervor, während im Puppentheater
diese selben physischen Handlungen wunderlich erscheinen, weil sie
der unbeseelten Puppe nicht eigen sind. Wenn diese Puppe nur geht
oder sich setzt, so wirkt sie schon dadurch wunderlich, daß sie einen
Menschen überhaupt spielt, einen Menschen schlechthin. Das ist das
Hauptstück ihrer Ausdrucksfähigkeit.«
In der Verfremdung (die er nie so nennt) sieht Obraszow den
wesentlichen Unterschied des Theaters zum Film, der nicht darstelle,
sondern identifiziere »Hat man beobachtet, daß der Held des Films
:
auf der Leinwand etwa ein ganzes Faß Bier austrinken kann, so wird
man dies nicht im geringsten in Zweifel ziehen es braucht aber nur
;
zutreten, immer wird der Zuschauer nur daran denken, ob sich dieses
Pferd manierlich aufführen wird.«
Obraszow sieht den Reiz des Theaters gerade in dem Widerspruch,
in der Spannung zwischen Dargestelltem und Darsteller. Seine Ar-
beit ist reich an allen möglichen Verfremdungseffekten. So bemühte
er sich beim Vortrag einer Fabel nicht, einmal »hasenmäßig« und
einmal »löwisch« zu sprechen, sondern behielt seinen eigenen Ton-
fall bei, gab ihm nur verschiedene Nuancen. »Die ganze Zeit über
wahre ich das Gefühl, in der dritten Person zu sprechen, selbst dort,
wo die Fabel an irgendeiner Stelle in den direkten Monolog über-
geht. Und dieses eigenartige Gefühl, ein Erzähler zu sein, gewährt
mir bei der Darstellung eine neue schauspielerische Freude.« Bei
einer anderen Szene fügt er hinter die einzelnen Episoden einer an
118
sich durchlaufenden Handlung jeweils eine Pause ein: »Man muß sie
deshalb genau beachten, weil sie den Punkt verstärkt und das Ende
des Satzes hervorhebt. Für mich ist dieser Punkt auch insofern wich-
tig, als er dem Zuschauer Zeit läßt, sein Augenmerk auf den kleinen,
Negers rief die unscheinbare Bewegung, mit der er der Pianistin das
Zeichen zum Beginn gab, schallendes Gelächter bei meinen ersten
Zuschauern hervor und eroberte deren Herzen.«
119
Eine weitere Zuspitzung der Ausdrucksmöglichkeiten erkannte
er in der Verwendung von Tiergestalten. Man kann gewisse mensch-
liche Charakterzüge durch Übertragung auf Tiere verabsolutieren
und überhöhen. »Erinnert euch daran, wie würdig die Krähe stol-
ziert, wie menschenähnlich sich die Fliege wäscht, mit welcher Würde
das Kamel den Kopf wendet und mit welcher Aufmerksamkeit der
Affe den Bonbon beäugt. In den Tieren erkennst du die einzelnen
menschlichen Züge wieder, wobei aber diese Züge getrennt, gewis-
sermaßen isoliert erscheinen.« Indem Obraszow die gefühlsinnigen
Romanzen von Hunden, Katzen und Affen singen ließ, trieb er die
Lächerlichkeit auf die Spitze. Als die Polarforscher der Papanin-
Expedition nach monatelanger gefährlicher Fahrt auf einer driften-
den Eisscholle in die Heimat zurückkehrten, wollte ihnen der
Künstler eine besondere Programmnummer widmen, die die Freude
über die glückliche Heimkehr ausdrücken sollte. Um nun diese Aus-
sage puppenmäßig aufzuziehen, verkehrte er sie in einer interessan-
ten dialektischen Weise. Er ließ eine Eisbärin eine tränenrührende
Romanze über den Abschied der Forscher vom Eismeer singen,
ihren Schmerz über die Trennung von Papanin. Dadurch erreichte
er zweierlei Er drückte die Freude aus Anlaß der darstellerisch we-
:
nig ergiebigen Ankunft durch Schilderung der Abfahrt vom Pol aus,
und verkehrte eine traurige Geschichte, die Romanze, indem er sie
allen Ernstes von einer verliebten Bärin vortragen ließ, ins Lustige.
Hätte er nicht diesen komplizierten Umweg eingeschlagen, wäre
nicht viel mehr als ein pathetisches Begrüßungszeremoniell heraus-
gekommen.
Die häufige Verwendung von Tieren hat Obraszows Spiel mit
dem Zeichentrickfilm gemeinsam, in dem er denn auch den nächsten
Verwandten seines Puppentheaters sieht er ist nicht zufällig ein gro-
;
120
tung, in der die künstlerische Emotion schließlich verlaufen soll.
Wenn die Arterien nicht gut vorbereitet und ihre Wände zu dünn
sind, zerreißen sie, und das Blut sprudelt hervor . . . Allein der be-
setzte Zuschauerraum ermöglicht es dem Schauspieler, die Schleusen
der Emotion zu öffnen.«
Für die Wechselbeziehung des Darstellers mit dem Publikum
führte Obraszow den Begriff der »Radiolokation« ein: »Es gibt
einen Fachausdruck: >der schauspielerische Apparat <. Er umfaßt
die Summe aller Fähigkeiten des betreffenden Schauspielers; dieser
>Apparat < ist nicht nur Sender, sondern auch Empfänger, und wenn
man den Schauspieler schon mit irgendeinem technischen Apparat
vergleichen will, so gleicht er am meisten einem >Radar< und sein
Schöpfungsprozeß einer >Radiolokation<. Der Radar sendet seine
Radiowellen in bestimmte Richtungen. Auf ihrem Wege treffen die
Wellen auf Berge, Schiffe oder Flugzeuge. Sie werden zurückgewor-
fen, der Radar empfängt die von ihm ausgesandten Wellen wieder
und registriert das Hindernis, das sie zurückgeworfen hat. Der
Schauspieler sendet seine Stimme, sein Aussehen, seine Gefühle in
den Zuschauerraum. Das Publikum fängt sie auf und reflektiert
diese Wellen zum Darsteller hin, dessen Unterbewußtsein die durch
sein Spiel hervorgerufenen und reflektierten Wellen registriert.« Da
ohne Zweifel das Puppentheater diejenige Gattung des Theaters ist,
die am unmittelbarsten mit dem Publikum korrespondiert, mußte
es ihm auch in dieser Hinsicht am »allertheatermäßigsten« er-
scheinen.
122
statten,daß er sich nie ideologischen Ambitionen hingegeben hatte
und weltanschaulichen Richtungs kämpfe stand. Er war
jenseits aller
nur ein kleiner Puppenspieler am Rande der großen Welt, den man
ohne allzu große Gefahr für die Seelen sein Handwerk treiben lassen
konnte. Er begann in einem kleinen Zimmer mit einem halben
Dutzend Mitarbeitern.
Der Künstler schildert, wie er sozusagen seine Prüfung vor den
Persönlichkeiten abzulegen hatte, die damals im sowjetischen Kul-
turleben tonangebend waren Gorki, Stanislawski und Stalin. Gorki
:
hatte kurz zuvor eine Revue besucht und auf die Frage der Tänzerin-
nen, wie es ihm gefallen habe, erwidert: »Sie haben eine große, kom-
plizierte und völlig unnötige Arbeit geleistet.« Obraszow fürchtete
nun, der strenge Kunstrichter könnte bei seinem Puppenspiel zu
einem ähnlichen Urteil kommen. Aber Gorki mußte sich bei der Vor-
stellung dicke Lachtränen aus dem Gesicht wischen und gab sogar
den Versuch, einige gewichtige Themen anzuraten, nach kurzem
Nachdenken mit den Worten auf: »Vorschläge eines Außenstehen-
den können Ihnen keinen Nutzen bringen. Sie arbeiten organisch
und wahrhaftig.« Das Spiel vor Stanislawski fand in dessen Privat-
wohnung statt. Da nur Kollegen anwesend waren, die das Programm
schon kannten, hatte Obraszow Bedenken, es könnte keine rechte
Stimmung aufkommen. Aber der Altmeister des Theaters lachte so
herzlich, laut und fröhlich, daß er einen ganzen Saal animierten Pu-
blikums ersetzte. Anläßlich des fünfzehnten Jahrestages der Ersten
Roten Reiterarmee gastierte der Puppenkünstler zum ersten Mal im
Kreml. Er wurde zwischen Aufregung und Ehrfurcht hin- und her-
gerissen. Stalin saß mit Gorki und den Mitgliedern des Politbüros
dicht vor dem Podium. Der Alte, in Stiefel und Joppe, gab sich
wie immer bei solchen Gelegenheiten schlicht und jovial und
schmauchte sein Pfeifchen. Nach der ersten Nummer streifte Obras-
zow in begreiflicher Erregung die Puppe von der Hand, trat vor den
Schirm, hinter dem er zu spielen pflegte, und sah - in Stalins lachen-
des Gesicht. Das Examen war bestanden.
Man kann den triumphalen Erfolg des Puppentheaters in der So-
wjetunion nur daraus erklären, daß es eine der wenigen Oasen in einer
durch und durch politisierten Gesellschaft war. Die Puppenbühne
produzierte eine farbenprächtige, märchenhafte und burleske Welt,
die den grauen Alltag mit Sollerfüllung und Spitzelfurcht für einige
Stunden vergessen machte. Und was die Satiren auf Hitler und Mus-
solini, auf den Kapitalismus und Hollywood anging, mit denen
Obraszow den Anforderungen der Partei Rechnung tragen mußte, so
boten sie doch wenigstens noch Stoff zum Lachen. Selbst den Funk-
tionären des Politbüros, den hartgesottenen Berufsrevolutionären,
mochte ein Stündchen der Kurzweil und der Heiterkeit eine Labsal
sein; Obraszows Puppentheater fehlte hinfort bei keinem festlichen
Empfang im Georgssaal des Kreml.
Daß nun das Puppentheater nicht in bloßem Zeitvertreib aufging,
* 23
daß es sich nicht mit dem Niveau
des Zirkus begnügte, der ja auch
eine Stätte unbeschwerter Unterhaltung und deshalb in der Sowjet-
union besonders populär ist, macht die Größe und Einmaligkeit Ser-
gej Obraszows aus. »Wenn sich auf die schmalen Schultern der Pup-
pen«, so erklärte er, »nicht die gleiche Last, die gleiche Verantwor-
tung legen läßt, die auf den Schultern der >großen Kunst < ruht, so
will ich weder über die Puppen schreiben noch mich mit dieser Kunst
befassen, denn in dem Falle wäre sie nichts als ein zufälliges > kind-
liches Vergnügen < oder eine ästhetische Effekthascherei Erwachse-
ner.« Mit dem traditionellen Puppenspiel der Volksfeste und Rum-
melplätze, der Leierkastenmänner auf den Hinterhöfen hat seine Ar-
beit in der Tat kaum etwas zu tun. Wohl hat er die Puppen- und Ma-
rionettenspiele in aller Welt studiert und ihre Figuren in dem Mu-
seum, das seinem Theater angeschlossen ist, gesammelt, aber über-
nommen hat er nicht mehr als ein paar Kniffe und Details. »Den Auf-
führungen anderer Puppentheater stehe ich oft ablehnend, gewisser-
maßen mit einer inneren Opposition gegenüber. Ich glaube aber, das
ist kein Zeichen von bösem Willen, auch nicht etwa eine Art von
124
weitausladende Gesten und besonders edle Bewegungen. Umin Go-
gols >Nacht vor dem Weihnachtsfest < die Perspektive eines ukraini-
schen Dorfes wiederzugeben, zerlegte er seinen Schirm in fünf hori-
zontale, übereinandergelegene Ebenen. Auf der ersten ist die Puppe
60 cm groß, auf der nächsten 30 cm, auf der folgenden 20 cm usf.
Auf diese Weise entsteht der Eindruck, daß ganz in der Ferne weih-
nachtliche »Sternsinger« auftauchen und immer näher kommen -
man setzt eben in den hintereinander gelegenen »Gassen« der Bühne
Puppen in verschiedener Größenordnung ein. In einer Szene, die auf
einem sowjetischen Fußballplatz spielt, erscheint eine Puppe in vier-
zehn verschiedenen Ausführungen. Für Kiplings >Mowgli< schuf
man Figuren mit beweglichen Mäulern, Ohren und Augen und der
Biegsamkeit von Tierkörpern. Tiger, Löwen und Panther werden
jeweils von zwei Spielern geführt, die Schlange Kaa, die mehr als 3 m
lang ist, sogar von fünf Spielern.
Deutlicher noch als in der Hypertrophie der Technik kommt der
Bruch mit dem alten Puppentheater in der Darstellungsweise zum
Ausdruck. Während die volkstümlichen Petruschka- und Kasperle-
spieler stets die völlige Identifizierung von Bühnenvorgang und
Publikum anstrebten, ermöglicht es Obraszow das Prinzip der Ver-
fremdung, sich von dem Lebenskreis, in dem er wirkt und den er
darstellt, zu distanzieren. Jede Verfremdung enthält auch stets ein
Quantum Ironie. So wie die Studios des Künstlertheaters seinerzeit
die sensationslüsternen NEP-Leute nicht nur unterhielten, sondern
sich gleichzeitig über sie lustig machten, verspottet das Moskauer
Puppentheater viele Sitten und Charakterzüge der neuen Sowjet-
bourgeoisie, jene Züge, die man im Parteijargon die »Überreste des
Kapitalismus im Bewußtsein der Menschen« zu nennen pflegt.
»Meine Verspottung der Abgeschmacktheit«, sagt Obraszow, »rich-
tet sich sowohl gegen ihre Hersteller wie gegen ihre Abnehmer.«
Wir erinnern uns an seine Persiflage des geheiligten Stanislawski-
Systems, aus der die komische Romanze des Negers entstand. Die
Satiren Majakowskis und die Fabeln Michalkows, die Humoresken
von Ilf und Petrow, in denen die Erscheinungen des Funktionärs-
wesens und der Sowjetbürokratie bissig kritisiert werden, gehören
zu den beliebtesten und brillantesten Stücken der Puppenbühne.
Obraszow teilt sein Repertoire in »positive«, »negative« und »pa-
rodistische« Nummern ein. Bei den positiven entspricht die Inter-
pretation den Absichten des Autors. Handelt es sich um Märchen
oder Lyrik, wirkt sich die Verfremdung nur als liebenswürdige und
freundliche Ironie im Spiel aus; ist es eine Satire, so zielt sie in die
Richtung, die der Autor bei der Niederschrift im Auge hatte. Das
> Wiegenlied < Mussorgskis ist eine solche positive Nummer, aber
auch die Geschichte vom Rausch des »kleinen Beamten«. Die nega-
tiven Programmnummern bleiben ebenfalls im Text und im Motiv
unverändert, aber ihre Aussage wird durch komische Darstellung,
sei es Übertreibung, Besetzung mit Tieren usw., in das Gegenteil
125
verkehrt. Zu dieser Gruppe gehören fast alle Tier-Romanzen;
Obraszow scheut sich nicht einmal, eine Romanze des National-
heiligen Tschaikowski aufs Korn zu nehmen, was in jedem anderen
Rahmen Sakrileg gelten würde. Die eigentliche Pa-
als entsetzliches
rodie schließlich karikiert einen bestimmten Typus oder eine be-
stimmte Erscheinung in der Gesellschaft, indem sie die markanten
Züge herausarbeitet, in entlarvende Umstände versetzt und der
Lächerlichkeit preisgibt. Solche Parodien sind z. B. der über-
schwengliche Dirigent und die gefühlvolle Sängerin, ein sowjeti-
scher Bürokrat, der Tänzer eines schmalzigen Tangos.
Wir hatten vorhin die Bemerkung des Künstlers zitiert, daß ihm
sein Beruf vor allem deshalb Befriedigung bereite, weil er es ihm er-
mögliche, vor so vielen Menschen zu spielen und ihnen Freude zu
schenken. »Aber es ist noch etwas anderes«, fügt er hinzu, »wes-
wegen ich dem Schicksal dankbar bin, daß es mich so listig mit die-
sem sonderbaren Beruf versorgt hat. Dieses andere trat nicht gleich
zutage, sondern wuchs mit jeder neuen Inszenierung, nämlich die
Erkenntnis, daß, wenn es auf der Welt solche Schriftsteller gibt wie
Homer, Dante, Swift, Gogol und solche Künstler wie Bosch, Grand-
ville, Dore und das Künstlerkollektiv Kukryniksy, es auch ein Pup-
pentheater geben muß!« In dieser sorgfältig zusammengestellten
Ahnenreihe, die sich genau an der Peripherie dessen bewegt, was die
Partei noch als »Kulturerbe« akzeptiert, findet man nicht einen Re-
alisten im eigentlichen Sinne. Stalin und das Politbüro, die dem Spiel
der Puppen so freundlich applaudierten, bemerkten gar nicht, was
für ein Kuckucksei ihnen der so bescheiden auftretende, zurück-
haltende Wachtangow-Schüler da ins Nest legte. All jene faszinieren-
den und aufregenden Elemente formalistischer Gestaltung, deren
sich das revolutionäre Theater der zwanziger Jahre bedient und die
der Sozialistische Realismus verworfen hatte - Phantastik, Exzentrik,
Groteske und Satire, Übertreibung und Abstraktion, episches und
lyrisches Theater -, feierten fröhliche Auferstehung auf Obraszows
Miniaturbühne. (Eine Parallele dazu bietet die Arbeit von Igor
Moissejew, dem Leiter des Staatlichen Volkskunstensembles der
UdSSR, der den als formalistisch von den sowjetischen Opernbüh-
nen vertriebenen Ausdruckstanz, bereichert durch folkloristische und
exotische Motive, über die Hintertür des Volkstanzes wieder ein-
führte.) Daß Sergej Obraszow die vom Stalinismus abgebrochenen I
126
Das Theater der deutschen Revolution
Früher einmal nannte ich das Theater ein politisches Theater, heute
möchte ich es eigentlich ein Bekenntnistheater nennen.
Piscator 1955
großen Mann gebildet, aber die Freiheit brütet Kolosse und Extremi-
täten aus.«
Wie die Theaterepoche in Rußland von den drei glanzvollen Na-
men Stanislawski, Tairow und Meyerhold beherrscht wurde, strahlte
über dem deutschen Theaterleben jener Jahre ein Dreigestirn von
nicht geringerer Leuchtkraft Reinhardt, Jeßner und Piscator.
:
Schon Jahre vor der Revolution hatte Max Reinhardt mit der ihm
eigenen Sensibilität gespürt, daß die Theaterepoche, der er den Na-
men gegeben hatte, zu Ende ging und ein tiefgreifender gesellschaft-
licher Wandel sich anbahnte. Unter den düsteren Wolken herauf-
ziehender Katastrophen schien es ihm nicht länger möglich, jenes
heiter-festliche, genußvolle und unproblematische Illusionstheater
zu spielen, das das saturierte Bürgertum in seinen Häusern suchte.
Das Jahr 1914 kerbte eine Zäsur in sein Schaffen. Im Juli des Jahres,
wenige Tage vor Ausbruch des ersten Weltkrieges, vollendete er im
127
Deutschen Theater den denkwürdigen Shakespeare-Zyklus, Krö-
nung seines ganzen bisherigen Werkes. Nun konnte er getrost auf
die Suche nach neuen Wegen gehen.
Es drängte ihn, die Exklusivität seines Spiels und die Exklusivität
seines Publikums zu überwinden. Darum ging er - noch vor dem
Kriege - mit der Inszenierung des >König Ödipus von Sophokles in <
128
Nureinzelne, Gruppen oder Haufen wurden in die Helligkeit ge-
während große Menschenmengen im Halbdunkel oder auch
stellt,
Dunkel werden noch die letzten Worte und schon die ersten Worte
hörbar. Singen und Pfeifen der Marseillaise, das Fußgetrampel
ziehender Scharen, Gejohl, eine in der Ferne gehaltene Rede, Bei-
fallbrausen gleiten in die Finsternis hinüber, wandeln sich langsam zu
den Geräuschen des nächsten Auftritts oder brechen unvermittelt
ab...
Auf den Stadtplätzen werden Edelleute an den Laternen aufge-
knüpft, während die Furien der Revolution um sie herum, in bunte
flatternde Lumpen gehüllt, die Carmagnole tanzen; im abgeschiede-
nen Gemach ruht Danton in den Armen einer empfindsamen Gri-
sette, während fast zu gleicher Zeit im Jakobiner klub die Meinungen,
die für ihn Leben oder Tod bedeuten, wild aufeinanderplatzen, und
noch der letzte Gang zur Guillotine wird vom Pöbel der Straße ver-
spottet, umbrüllt und umtanzt . . .
129
das Reizgift Politik die Kunst wohl aufpulvern konnte, letztlich aber
auch zerstören mußte.
So stand Reinhardt denn abseits der avantgardistischen Bewe-
gung, die das Theaterleben der zwanziger Jahre beherrschte. Schon
bald nach dem Kriege verließ er enttäuscht und verstört Berlin, auf
das er so große Hoffnungen gesetzt hatte, und kehrte nur noch be-
suchsweise wieder. Wenn er von nun an ruhelos durch Europa und
Amerika zog, immer neue Theater baute, immer größere Massen in
seinen Bann zu ziehen suchte, vor der vom Abendlicht umspielten
Barockfassade des Salzburger Doms, in Felsenklüften, in englischen
Gärten und zwischen venezianischen Palästen seine Lustbarkeiten
inszenierte, die Kathedrale Notre Dame selbst zum Schauplatz einer
religiösenPantomime machen und im Central Park von New York
das Bundeszelt für ein alttestamentarisches Spiel errichten wollte, in
Hollywood das ganze Instrumentarium des Films beschwor - wenn
er so unendlich Schönes schuf und doch in seinen letzten Zielen im-
mer wieder scheiterte, so war dies das titanische Ringen eines genialen
Künstlers mit dem widerspenstigen Geist der Zeit, den er auf seine
Weise zwingen wollte, aber auf seine Weise nicht zwingen konnte.
Und doch ist das deutsche Revolutionstheater nicht denkbar ohne
Reinhardt - wie das russische nicht ohne Stanislawski -, denn er hat
den Boden umgepflügt, aus dem die Saat dann aufgehen konnte, er hat
das hohe künstlerische Niveau geschaffen und die Fülle der Talente
erweckt, ohne die die Zeit nur taube Blüten hätte treiben können.
Als Leopold Jeßner 1919 mit der Inszenierung des > Wilhelm Tell<
seine Intendanz am ehemaligen Königlichen Schauspielhaus in Berlin
begann, war das ein Programm. Thematisch: der Griff zum Frei-
heitsdrama, zum politischen Stück. Formal: keine Postkarten-
Schweiz mehr, keine Kulissen, keine Illusion, statt dessen ein sym-
bolisch gegliederter Bühnenraum - die »Treppe«. Jeßner wurde der
Exponent des Expressionismus, der deutsche Tairow. Die Auffüh-
rung von Shakespeares >Richard III. <, die dem >Tell< folgte und die
neuen Prinzipien in Vollkommenheit demonstrierte, schildert der
Regisseur selbst:
»London und der Tower, das heißt nun: über einer grauen,
schicksalhaft sich erhebenden Mauer ein blutiger Himmel und. . .
jene Atmosphäre von Mord und Hinrichtung als Merkmal der Ge-
schehnisse ins Bildhafte umgesetzt. Die Krönung Glosters [Fritz
Kortner] findet auf jener gestuften Bühne statt, die ganz und gar mit
Rot, der Farbe des Blutes, ausgeschlagen ist. Auf der höchsten Stufe
steht der Neugekrönte. Zu seinen Füßen gruppiert sich die Hofge-
sellschaft, nicht mehr als historische Wiedergabe einer Kamarilla
jener Zeit, sondern im Zeichen des Symbols als einförmige, in Ne-
potismus erstarrte Gesellschaft in blutigroter Gewandung.
Die kommenden Schlachtenbilder entrollen sich ebenfalls auf
dieser gestuften Bühne, dargestellt durch den Rhythmus unzähliger
130
Pauken hinter der Szene. Nicht aber, um die Illusion einer wirklichen
Schlacht vorzutäuschen, sondern um die Dynamik eines Schlachten-
ganges in seiner unheimlichen Spannung wiederzugeben.
Bis ins Kostüm hinein vollzieht sich diese symbolische Zeichnung.
Die Partei Richmonds, das Heer, das für die Wahrheit kämpft, ist
ganz in Weiß gehüllt. Die Krieger Richards, der Blut vergießt um
des Blutes willen, sind in Rot gekleidet.
Den stärksten Ausdruck ihrer inneren Gesetzmäßigkeit fand diese
programmatische Darstellung in der Szene des Zusammenbruchs.
Der Untergang Richards indem er dieselbe rot-
III. vollzieht sich,
gestufte Bühne, auf der er als König im Höhepunkt seines Glanzes
gestanden, halb entkleidet, zerrissen, verworren, ein Wahnsinniger
bereits, von der obersten Stufe bis zur untersten torkelt, um dort von
den weißen Kriegern erstochen zu werden.«
Als Jeßner aus Königsberg nach Berlin kam, war er ein angesehe-
ner Theatermann aas der Provinz - nicht mehr. Er wurde gerufen,
weil er durch seine Tätigkeit in der Bühnengenossenschaft, durch
die Arbeit mit den Gewerkschaften am Hamburger Thalia-Theater
der Geeignetste schien, das Hoftheater zu demokratisieren. Aus die-
ser Aufgabe heraus wurde er der große Regisseur. Die Aufgabe
formte ihn. Jeßner - das zeichnete ihn vor allem aus - war der Mann
konstruktiver Aufgaben, kein Revoluzzer. »Von Stufe zu Stufe« -
das bedeutete Sinn für Maß. Er war der erklärte Repräsentant der
Republik: nicht, weil er zufällig das Staatstheater dirigierte, nicht,
weil er der bedeutendste Genius der Zeit gewesen wäre (er war allen-
fallsPrimus inter pares), sondern weil er der politisch klarste Kopf
unter lauter Schwarmgeistern war, kein Weltveränderer und Welt-
zertrümmerer, sondern ein praktischer Demokrat. Paul Lobe, der
sozialdemokratische Reichstagspräsident, schrieb an ihn: »Wir, die
wir im Politischen ringen, die wir der arbeitenden Klasse angehören,
danken Ihnen mehr. Sie sind es gewesen, lieber Jeßner, der in frühen
Tagen die Kunst zu den einfachen Seelen trug. Der, zehnmal ent-
täuscht, sein Können und Schaffen zum elften Male mit gleicher
Liebe denen entgegenbrachte, die noch im Finstern wandeln. Sie ha-
ben die Hungrigen, die mit pochendem Herzen und glühendem Auge
auf dem dritten und vierten Rang den Gaben deutscher Dichter
lauschten, eng und gedrängt und ermüdet, aber doch lern- und wiß-
und kunstbegierig, Sie haben sie heruntergeführt ins Parkett der
Theater. Vielleicht wird das von manchen gering geachtet, die uns
fernstehen und aus begreiflichen Gründen nicht fühlen können, was
Sie damit begonnen und was heute schon so weit gereift ist und seine
Früchte trägt ..« .
Man hat Jeßner oft vorgeworfen, daß er auf halbem Wege zum
politischen Theater stehenblieb, daß er sein Forum zur Erziehung,
nicht zur Mobilisierung der Massen benutzte. Sicher war das - auch
im künstlerischen Sinne - ein Verzicht. Aber er wußte, warum. Auch
er entrollte am Ende einer Aufführung (Bronnens >Rheinische Re-
*3*
bellen <) eine Fahne - aber es war nicht die rote wie beiPiscator (auch
keine von denen, die sich der rechtsradikale Autor Bronnen ge-
wünscht hatte), sondern die schwarzrotgoldene der deutschen Re-
publik.
So war denn Piscator der einzige der großen Regisseure, der sich
als Kommunist bekannte - der deutsche Meyerhold.
132
:
nenne das Kind beim rechten Namen Propaganda. Der Name Thea-
:
eine zu heilige Sache, als daß sie ihren Namen für Propagandamach-
werk hergeben dürfte Was der Arbeiter heute braucht, ist eine
! . . .
i33
1919 drohend und fordernd vor den Toren des Staates, nicht mehr
ein Haufe, eine wahllos zusammengewürfelte Rotte, sondern ein
neues lebendiges Wesen mit einem neuen Eigenleben, das nicht mehr
die Summe von Individuen war, sondern ein neues, gewaltiges Ich,
angetrieben und bestimmt von den ungeschriebenen Gesetzen seiner
Klasse. Will jemand angesichts dieser ungeheuren Umwälzung, von
der niemand sich auszuschließen imstande ist, im Ernst behaupten,
das Bild des Menschen, seiner Emotionen, seiner Verknüpfungen,
sei ein ewiges, von der Zeit unberührtes, absolutes? Oder wird man
endlich zugeben, daß die Klage Tassos ohne Echo gegen die Beton-
türme und Stahlwände unseres Jahrhunderts stößt und auch die
Neurasthenie Hamlets bei einer Generation von Handgranaten-
werfern und Rekordsiegern auf kein Mitleid rechnen kann? . . .
134
»Es ist kein Zufall, daß in einem Zeitalter, dessen technische
Schöpfungen alle anderen Leistungen so turmhoch überragen, eine
Technisierung der Bühne eintritt. Und es ist ferner nicht zufällig, wenn
diese Technisierung gerade von Anstoß er-
einer Seite her einen
fahren hat, die sich im Widerspruch mit der gesellschaftlichen Ord-
nung befindet. Geistige und soziale Revolutionen sind immer mit
technischen Umwälzungen eng verknüpft gewesen. Und auch die
Funktionsänderung der Bühne war nicht denkbar ohne eine tech-
nische Neugestaltung des Bühnenapparates Bis auf Drehscheibe
. . .
und elektrisches Licht befand sich die Bühne zu Beginn des 20. Jahr-
hunderts noch in demselben Zustand, in dem sie Shakespeare zu-
rückgelassen hatte: ein viereckiger Ausschnitt, ein Guckkasten,
durch den der Zuschauer den bekannten verbotenen Blick < in eine
fremde Welt tun durfte. Dieses Indirekte, diese gläserne Mauer
zwischen Bühne und Zuschauerraum hat drei Jahrhunderten inter-
nationaler Dramatik das Gepräge gegeben Das Theater hat drei
. . .
Jahrhunderte lang von der Fiktion gelebt, daß sich kein Zuschauer
im Theater befände. Selbst diejenigen Werke, die für ihre Zeit revo-
lutionär gewesen sind, haben sich dieser Unterstellung gebeugt.
Beugen müssen! Warum? Weil das Theater als Institution, als Appa-
rat, als Haus sich noch niemals bis zum Jahre 1917 im Besitze der
unterdrückten Klasse befunden hat und weil diese noch nie in die
Lage gekommen war, das Theater nicht nur geistig, sondern auch
strukturell zu befreien. Dieses Werk ist sofort und mit größter
Energie von den revolutionären Regisseuren Rußlands in Angriff
genommen worden. Mit Notwendigkeit mußte ich bei der Erobe-
rung des Theaters ähnliche Wege gehen .« - . .
*35
Publikum streiten sich zwei, die Leute erschrecken, der Disput
pflanzt sich im Mittelgang fort, die Rampe wird hell und die Strei-
tenden erscheinen von unten vor dem Vorhang. Es sind zwei Ar-
beiter, die sich über ihre Lage unterhalten. Ein Herr im Zylinder
kommt hinzu. Bourgeois. Er hat seine eigene Weltanschauung und
lädt die Streitenden ein, einen Abend mit ihm zu verbringen. Vor-
hang hoch! Erste Szene. Jetzt geht es Schlag auf Schlag. Acker-
straße - Kurfürstendamm. Mietskasernen - Sektdielen. Blaugold-
strotzender Portier - bettelnder Kriegskrüppel. Schmerbauch und
dicke Uhrkette. Streichholzverkäufer und Sammler von Zigaretten-
stummeln. Hakenkreuz - Fememörder - Was machst du mit dem
Knie - Heil dir im Siegerkranz. Zwischen den Szenen: Leinwand,
Kino, statistische Zahlen, Bilder Neue Szenen. Der bettelnde Kriegs-
!
136
die Menge kampflos abführen läßt, da brüllt es im Zuschauerraum
auf vor Schmerz und Selbstanklage.« - Trotz der Erfolge der »Roten
Revue« und des »Dokumentarischen Dramas« war die Partei noch
immer nicht bereit, eine ständigeAgitationstruppe zu unterhalten -
zu Piscators Glück, der dadurch dem Theater erhalten blieb.
Inzwischen war er von dem Intendanten Holl als Spielleiter an die
Berliner Volksbühne geholt worden. In seinen aufsehenerregenden
Inszenierungen in diesem Hause (1924-1927) entwickelte er nun von
Mal zu Mal die Spezialitäten seines Darstellungsstils. Die erste Ar-
beit war >Fahnen< von Alfons Paquet, eine locker gereihte Folge
knapper Szenen um jenen Anarchistenprozeß 1886 in Chikago, in
dem unter provokativen Machenschaften sechs Arbeiterführer zum
Tode durch den Strang verurteilt wurden. Der Regisseur versah die
in ihrer Art eindrucksvolle und erregende Szenenreihe mit einem
originellen Kommentierungsapparat. Während des Prologs, der eine
Charakteristik der einzelnen Arbeiterführer, Kapitalisten, Polizei-
schergen gab, wurden die Fotografien dieser handelnden Personen
an die Projektionswand geworfen; nach jeder Szene erschien auf
zwei Tafeln, die sich rechts und links von der Bühne befanden, ein
Begleittext, der aus dem Vorgang die Lehre zog.
Paquets >Sturmflut< stand im Zeichen des Films. Das Stück ist
eine romantische Paraphrase über die russische Revolution. Der
Revolutionsführer, dem es nach der Machtergreifung an Geld fehlt,
verkauft Petersburg über einen alten Juden an England, verschwin-
det mit einer abenteuerlichen schwedischen Aristokratin in die Wäl-
der, um einen Partisanenkampf zu führen, das blonde Weib geht
zum Feind über, er selbst kehrt heimlich nach Petersburg zurück und
erobert durch einen Aufstand des Proletariats die Stadt. Piscator ver-
wandte den Film, den er zum Teil eigens für die Aufführung drehte,
nicht mehr nur als Einlage, sondern zur Ausweitung der Szene selbst;
es erschien also im Hintergrund das bewegte Bild eines Hafens mit
Kriegsschiffen, einer Massenversammlung usw., wenn die Darsteller
im Vordergrund in einer solchen Szene agierten.
Zu Paul Zechs Rimbaud- Vision >Das trunkene Schiff< wurde der
Bühnenraum von drei mächtigen Projektionswänden umstellt, auf
denen Zeichnungen von George Grosz die sozialen und politischen
Ereignisse der Zeit um 1870 in Frankreich illustrierten. >Segel am
Horizont < von Rudolf Leonhard stellte das darstellerische Problem
eines auf dem Weltmeer segelnden Schiffes als Schauplatz. Nach
einem authentischen zeitgenössischen Vorfall berichtet das Stück,
wie eine sowjetrussische Schiffsmannschaft, die ihren Kapitän ver-
loren hat, dessen Frau zur Kommandantin wählt, worauf an Bord
ein Sexualkampf entbrennt. Traugott Müller baute eine imposante
Schiffspraktikabel auf die Drehscheibe, die Piscator dramatisch glän-
zend ausnutzte. Außerdem inszenierte Piscator >Unterm karibischen
Mond< von O'Neill, >Wer weint um Juckenack?< (die Tragikomödie
eines kleinen Beamten) von Rehfisch und >Nachtasyl<. Der Regis-
137
:
seur hielt es für unerläßlich, Gor kis nun schon historisches Stück zu
modernisieren und über seine Grenzen auszuweiten: das Obdach-
losenasyl zum Slum einer modernen Großstadt und den Tumult im
Hof zu einem Aufstand des ganzen Stadtviertels gegen die Polizei.
Durch Heben und Senken der (Zimmer-)Decke erzielte er den er-
wünschten Effekt des Ineinanderaufgehens von Stube und Groß-
stadtmilieu. Er war sehr enttäuscht, als Gorki sich strikt weigerte,
bei dieser Bearbeitung Hand anzulegen.
Einen Skandal entfesselte Piscator, als er bei seiner >Räuber<-
Inszenierung im Staats theater 1926 nach ähnlichen Prinzipien, wie
er sie gegenüber Gorki angewandt hatte, nun gegen Schiller vor-
ging. »Erwin Piscator«, so berichtet Ihering, »schwächte in den
ersten beiden Akten der >Räuber< den Revolutionär aus privatem
Sentiment, Karl Moor, zugunsten des systematischen Revolutionärs
ab, des Revolutionärs aus Gesinnung, Spiegelberg Gewiß, der
. . .
Bruch der >Räuber< und der Bruch in der ganzen Dramatik Schillers
wurde nur noch deutlicher. Wenn im ersten Teil das Privatschicksal
Karl Moors zurückgedrängt und nur die Revolution der Masse ge-
zeigt wird, muß im zweiten Teil die ideologische Romantik Karl
Moors nur noch mehr auffallen. Aber die Wirkung dieser Auffüh-
rung auf das Theater und auf die Dramatik der letzten Jahre kann
nicht überschätzt werden.« Die Aufführung (Karl Moor: Carl Ebert,
Franz Erwin Faber, Amalie Maria Koppenhöfer, Spiegelberg Paul
: : :
138
Karchow, Fritz Staudte, Fritz Genschow usw. usf., Traugott Müller
schuf das Bühnenbild, Curt Oertel den Film). »An diesem Abend war
von Kunst wirklich ganz und gar nicht mehr die Rede«, schrieb
empört >Der Tag<. »Die Politik hatte sie völlig bis auf Haut und
Haar aufgefressen. Man war ahnungslos in eine kommunistische
Wahl- und Agitationsversammlung hineingeraten, stand mitten im
Jubel einer Lenin-Feier. Der Sowjetstern stieg am Schluß strahlend
auf über der Bühne.« Alfred Kerr war tief beeindruckt »Eines von :
zurückkehrt. Ja, so schrieb ich, beim Sterben dieses Mannes, für sein
russisches Gedenkbuch Wort für Wort: >Dieser Tote wird immer
wieder auferstehen - in hundert Formen - bis im Chaos der Erde
Gerechtigkeit herrschte Bolschewismus? In allen Bibeln heißt es
anders. - Als auf der Kinoleinwand jetzt vollends Schanghai erschien,
brach ein Sturm los, von unten bis hinauf zu den Rängen, ohne Bei-
spiel - aus dem Bewußtsein dieser Laufte, nie Gesehenes zu erleben.
Wie einer politisch dazu steht, fällt kaum noch ins Gewicht. Die Ge-
fühlstatsache redet, redet, schreit . . .«
Die Inszenierung bewirkte den Bruch zwischen Piscator und der
Volksbühne, in deren Haus am Bülowplatz die Aufführung statt-
gefunden hatte. Der Volksbühnen- Vorstand mißbilligte in einem
Beschluß die tendenziöse Aufmachung des Werkes und ließ die bol-
schewistischen Zutaten, insbesondere den umstrittenen Film, ent-
fernen. Die Zusammenarbeit mit Piscator wurde abgebrochen. Ande-
rerseits stellten sich die Schauspieler des Theaters hinter den Regis-
seur; am Abend der nächsten Vorstellung verlas Heinrich George
(der nach 1945 im sowjetischen KZ
umkam) eine Erklärung des
Ensembles, in der gegen die Unterdrückung des Films protestiert
wurde. Die linksradikale Opposition im Verband der Volksbühne,
die sogenannten Sonderabteilungen, beriefen eine Kundgebung ins
ehemalige Herrenhaus ein, auf der sich Ernst Toller, Kurt Tucholsky,
Erwin Kaiser, Leopold Jeßner, Karl Heinz Martin, Heinrich Mann,
George Grosz, Bert Brecht, Alfred Kerr für die »politische Tendenz-
Aufführung« aussprachen.
Sachlich gesehen, hatte der Standpunkt der Volksbühne wie der
Piscator-Anhänger seine Berechtigung. Die Volksbühne war eine
demokratische Organisation, parteipolitisch neutral; ihre radikalen
Sonderabteilungen machten nicht mehr als 2 Prozent der Mitglied-
schaft aus. Die überwältigende Mehrheit der Arbeiter, die der Or-
ganisation angehörten, war sozialdemokratisch orientiert, nicht kom-
munistisch. Es ist nur verständlich, daß sich der Vorstand dagegen
wehrte, daß man das Haus zum Forum kommunistischer Agitation
machte. Doch war Piscators Arbeit nun einmal nicht nur eine poli-
tische, sondern auch eine künstlerische Realität, Die beiden Elemente
waren - das machte den Fall so kompliziert - nicht voneinander zu
139
:
140
.
Das Stück zeigt, wie ein Revolutionär, der acht Jahre im Irrenhaus
zugebracht hat, mit der Welt von 1927 zusammenprallt. Er ist bis ins
Herz deprimiert von der Realität der Republik, für die er einst ge-
kämpft hat, und von dem Weg, den seine sozialdemokratischen Ge-
nossen gegangen sind. In der Piscator-Inszenierung endet das Stück
mit seinem Selbstmord (Ernst Toller, dem der Regisseur die zum
Teil erheblichen Änderungen erst nach hartem Widerstand ab-
ringen konnte, hat sich später von dem Schluß distanziert). Gemein-
sam mit seinen bewährten Mitarbeitern Traugott Müller, Curt Oertel
und Edmund Meisel bewerkstelligte Piscator eine hochtechnisierte
und hochpolitisierte Aufführung. Der Bühnenbildner, der dem
Wahlspruch folgte »Seit Jahren arbeite ich an der Abschaffung des
:
141
Spielertext, Lautsprecherübertragung und Filmbild ineinander ge-
koppelt waren und sogar durch Röntgenfilm und Klopftöne das
schlagende Herz eines Ozeanfliegers vorgeführt wurde. Ungeachtet
der Hypertrophie der Technik kam auch das Schauspielerische glän-
zend zur Wirkung Alexander Granach, Sybille Binder, Paul Graetz
:
142
!
nur ein Geschäftsmann, ich bin nie Politiker gewesen, ich will Ge-
schäfte machen, wie soll ich Geschäfte mit Frankreich machen, wenn
ich hier oben auf der Bühne bei Ihnen in diesem Rasputin-Stück -
was weiß dieser Tolstoj von dem, was ich mit Rasputin gemacht
habe . Wie soll ich da in Paris Geschäfte machen, wenn die Zei-
. . !
tungen schreiben, ich trete hier bei Ihnen als deutscher Spion auf?
Lassen Sie das Wort weg, kommt nicht darauf an, Schieber - meinet-
wegen, aber Spion?«
Der deutsche Exkaiser Wilhelm IL in Doorn fühlte sich durch
seine Darstellung in der episodischen »Dreikaiserszene« beleidigt.
In der einstweiligen Verfügung, durch die er die Streichung seiner
Person aus dem Stück erwirkte, heißt es »Die Szene ist dem Origi-
:
als völliger Trottel und der Zar Nikolaus als bigotter und charakter-
loser Dummkopf hingestellt werden, drängt sich die Auffassung auf,
daß auch der Antragsteller ebenso charakterisiert werden soll. Da-
durch wird die Ehre des Antragstellers verletzt.« Da das Gericht in
beiden Fällen den Klägern recht gab, behalf sich die Piscatorbühne
damit, den Herrn Rubinstein im Stück in Orenstein umzubenennen
143
und an Stelle des Textes von Wilhelm II. die gerichtliche Verfügung
zu verlesen, was vom Publikum mit großer Heiterkeit aufgenommen
wurde. Im übrigen waren die Vorfälle für Piscator eine glänzende
Reklame, die mit den Gerichtskosten, die dem Theater aufgebürdet
wurden, nicht zu teuer bezahlt war.
>Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk<, die Dramatisie-
rung des köstlichen antimilitaristischen Romans von Jaroslav Hasek,
wurde von Piscator aus drei Komponenten gestaltet : dem laufenden
Band, den Trickzeichnungen und Marionetten von George Grosz
und der großen Kunst Max Pallenbergs (1928).
Die ursprünglich vorliegende Bearbeitung des Romans, die Max
Brod und Hans Reimann vorgenommen hatten, war als viel zu
harmlos verworfen und durch eine Bearbeitung der Bearbeitung,
bewerkstelligt von dem Kollektiv Piscator, Brecht, Gasbarra und
Lania, ersetzt worden. (Brecht trat später noch mit einer eigenen
Version, einem in den zweiten Weltkrieg verlegten >Schwejk<, her-
vor.) Es war keine eigentliche Dramatisierung mehr, die aus dem
Stoff Spielszenen gestaltet hätte, sondern die getreue Übernahme der
wirkungsvollsten Partien des Romans. Um den Fluß des Romans,
den Fluß der Handlung, den Fluß der Geschichte adäquat zum Aus-
druck zu bringen, wurden die gegeneinander sich bewegenden Bän-
der eingeführt, auf denen die handelnden Personen, die Marionetten
und die Requisiten dahergefahren kamen. Der Gag mit den Bändern
erwies sich als besonders gelungen, weil er nicht nur das Epische des
Stoffes, sondern auch seine Komik unterstrich, denn das originelle
Heranrollen der ganzen Szenerie löste unwillkürlich Heiterkeit aus.
In Erinnerung an die Zeit, da sie gemeinsam im Zeichen von Dada
groteske Experimente angestellt hatten, holte sich Piscator seinen
alten Freund George Grosz, damit er für Schwejk eine marionetten-
hafte Umwelt herstellte. Ursprünglich schwebte dem Regisseur sogar
vor, die Aufführung allein mit Schwejk-Pallenberg als einzigem
Schauspieler zu bestreiten, dessen ganze Lebenssphäre in Form von
Marionetten, Film und Lautsprecher mechanisiert in Erscheinung
treten sollte. Grosz schuf als Vorlage für die Inszenierung ein um-
fangreiches satirisches Werk, dessen Blätter der Staatsanwalt später
zum Gegenstand eines Gotteslästerungsprozesses machte. Die Zeich-
nungen wurden zu einem Trickfilm verarbeitet. Außerdem wurde
noch ein naturalistischer Streifen eingeblendet, den Hübler-Kahla
auf holperndem Auto in den Straßen von Prag aufgenommen hatte.
Als besonderes Problem erwies sich die Gestaltung des Schlusses,
da Ha§ek gestorben war, ohne seinen Roman vollenden zu können.
Piscator und Brod arbeiteten eine Szene aus: »Schwejk im Himmel«,
in der die Kriegskrüppel vor Gott aufmaschieren sollten. Dazu wurde
folgende Regieanweisung gegeben: »20 Statisten mit Puppen. Bettler
ohne Beine engagieren. 5-6 richtige Krüppel. Einer, der seinen Kopf
unter dem Arm trägt. Arme und Beine aus dem Rucksack hängend.
Alle mit Lehm und Blut beschmiert. Zwei kleine Mädchen, sich an
144
der Hand Grosz zeichnete dazu
haltend, mit blutigen Gesichtern.«
eine grausig groteske Karikatur von Gott, im Laufe des Ge-
die
sprächs mit Schwejk zusehends zusammenschrumpft. Diese makabre
Szene wurde nur einmal vorgeführt, bei einer geschlossenen Vor-
stellung vor den Sonderabteilungen der Volksbühne, dann kapitu-
lierte selbst Piscator, weil die Darstellung einfach zu degoutant und
grausig wirkte. So brach denn die Dramatisierung der Piscator-
Bühne mitten in der Handlung ab.
Daß die Inszenierung die wahrscheinlich schönste und beglük-
kendste Piscators wurde, daß aller ideologischen Konzeption zum
Trotz die Fülle des Humors und warmer Menschlichkeit in reichem
Maße aufbrach, war wohl zu einem beträchtlichen Teil das Verdienst
des trefflichen Pallenberg, der sich als alter Reinhardt-Schauspieler
überraschend gut in die so anders geartete Methodik Piscators fand.
So heißt es in einer Kritik: »Schauspielerischer Mittelpunkt ist der
Schwejk Pallenbergs, die wunderbare Gestaltung einer legendären
Volksfigur, von der suggestive Wirkung ausgeht, als hätte sie tat-
sächlich in Prag existiert, er hat etwas von einem unschuldig leiden-
den guten Tier, das nicht weiß, nicht wissen kann, weshalb es so viel
Ungemach ernten muß. Im Blick, in der Stimme zuweilen etwas
von unendlicher Demut und Traurigkeit, ein armer Bursch von
Schlemihls Gnaden aus dem Geschlecht der Candide und Eulen-
spiegel zugleich. Pallenberg hat den Schwejk zum zweiten Mal neu
geschaffen. Es spricht für Piscator, daß sich ein so einziger Schau-
spieler wie Pallenberg zu ihm gefunden hat, es spricht noch mehr für
ihn, daß Pallenberg sich einfügt, sich beherrscht.«
Eine Komödie der Wirtschaft, eine Durchleuchtung des kapitali-
stischen Getriebes wurde mit Leo Lanias >Konjunktur< unternom-
men (1928). Das Stück schildert einen internationalen Kampf ums
Erdöl in einem Operetten- Albanien. »Vor der leeren Bühne - dem
nackten Feld«, so beschreibt Piscator seine Konzeption, »sollte sich
aus kleinsten Anfängen lawinenartig der Kampf um eine zufällig
gefundene Ölquelle entwickeln, ein Spielaufbau, der sich vor den
Augen des Zuschauers vollzieht und den ganzen technischen Her-
gang der Ölproduktion demonstriert. Von der Entdeckung der
Petroleumquelle bis zu den Vorbereitungen der Bohrungen, dem
Aufbau der Bohrtürme, bis zur Kommerzialisierung des Öls als
Ware sollte die Handlung - Rivalität, Mord, Schiebung, Korrup-
tion, Revolution - vor dem Zuschauer abrollen, ihn so in das ganze
Getriebe der internationalen Petroleumpolitik hineinreißen.« Die In-
szenierung (Bühnenbild: Traugott Müller, Musik: Kurt Weill,
Hauptrollen: Tilla Durieux als Agentin, Curt Bois als Diktator)
machte einen relativ disziplinierten und kompakten Eindruck; das
imposante Gestänge der Bohrtürme, eine als Zeitungsblatt aufge-
machte Projektionsfläche, auf die Nachrichten, Pressepolemiken,
Bilder geworfen wurden, und ein leibhaftiger Esel waren diesmal die
auffallendsten Attraktionen. - Die Aufführung fand im Lessing-
*45
Theater statt, das Piscatör nach den großen Erfolgen am Nollendorf-
platz als zweites Haus hinzugenommen hatte; sie wurde - trotz ge-
wisser operettenhafter Züge - kein Publikumserfolg.
Der Skandal kam diesmal von links, von Piscators eigener Partei,
die seine kapitalistisch subventionierten Unternehmungen sowieso
mit Mißtrauen beobachtete. In der Originalfassung von Konjunk-
tur ist die von Tilla Durieux verkörperte Erdölagentin nämlich Ab-
<
brücken. Auf den Bändern wanderte Kaftan durch die Straßen von
Berlin wie weiland Schwejk durch das k. k. Böhmen; die Szenerien
wurden von den Brücken herabgelassen oder auf der Drehscheibe
herantransportiert. Ein Drei-Etagen-System sollte die Bühne in drei
soziale Stufen teilen: eine tragische (Proletariat), eine tragikomische
146
(Mittelstand) und eine groteske (Großbourgeoisie und Militär). Um
das revolutionäre Element, das in Mehrings Stück fehlt, zum Aus-
druck zu bringen, wurden in reichem Maße revolutionäre Songs ein-
gestreut, als deren zündender Sänger Ernst Busch, der »Barrikaden-
Tauber«, hervortrat.
Die Aufführung fand keine günstige Aufnahme. Die Kommuni-
sten vermißten das revolutionäre Proletariat, die liberale Mitte emp-
fand die Darstellung des Juden als antisemitisch, und die Rechte
tobte über die Besudelung der nationalen Ehre. »Dreck! Weg da-
mit!« verkündete der >Lokal- Anzeiger < als Schlagzeile auf der ersten
Seite. Walter Mehring nahm zu den nationalistischen Angriffen Stel-
lung: »Die böseste Erregung entfachte eine Songszene: nach dem
Ende des Höllenspuks der Inflation kommen die drei Straßenkehrer
und machen Kehraus. Sie stoßen auf das Papiergeld (den entwerteten
Sold), auf einen Stahlhelm (die entwertete Macht), auf einen Leich-
nam (der Leichnam ist liegengeblieben, entseelt, entwertet. >Das
war mal ein Mensch gewesen <.). Und wieder sagen die Straßenkehrer
die böse Erkenntnis Dreck Weg damit (Ich schrieb nicht Soldat,
: ! ! :
sondern Leichnam. Ich schrieb nicht man wirft ihn auf einen Mist-
: :
Darstellers bei der Premiere. Piscator, als er das Gedicht las, sagte:
es wäre die erschütterndste, die tragischste Szene des ganzen Stückes.)
Aber seit wann identifiziert man den Verfasser mit einer objektiven
Erkenntnis von der Nichtigkeit aller Wesen nach dem Tode?« Und
er führte zum Vergleich jene berühmte Hamlet-Stelle an: »Glaubst
du, daß Alexander in der Erde solchergestalt aussah? Und so roch?
Pah! (wirft den Schädel weg).« Mehring fuhr fort: »Ein >nationales<
Blatt schrieb, ich verhöhne die Toten des Weltkrieges. Gegen solche
Verleumdung - nach allem, was ich geschrieben - verteidige ich
mich nicht. Ich erwidere etwas anderes Zwölf Millionen Tote hat
:
dieser Krieg gekostet! Seht euch . an, wie man die Leichen ins
. .
Massengrab warf. .« .
i47
: ;
sten und die Kommunisten, von denen die einen der Arbeit Piscators
extrem feindlich gegenüberstanden, die anderen aber versuchten,
diese Arbeit unter ihr^ Kontrolle zu bekommen. Die Demokratie
sank ins Grab und mit ihr die Kunst.
Von den Aufführungen, die Piscator nach der Krise 1929/30 noch
herausbrachte (u. a. >Des Kaisers Kulis < von Plie vier, >Paragraph 218 <
von Cred6), war >Tai Yang erwacht < von Friedrich Wolf die wich-
tigste. Er hatte sich inzwischen ins Wallner-Theater, ins Arbeiter-
viertel, zurückgezogen und dort mit ein paar treuen Genossen die
sogenannte Dritte Piscatorbühne aufgemacht. Im Programm dieser
Bühne schrieb er »Die politische Gegenwart verlangt eine zu scharfe
:
und völlig eindeutige Stellungnahme, als daß die bisher beliebte all-
gemeine Vertarnung im Künstlerischen länger aufrechterhalten wer-
den könnte. Das hat überraschend schnell zur Folge gehabt, daß die
Befürworter des Zeittheaters insbesondere im Lager der patentiert
fortschrittlichen Kritiker schwankend geworden sind, daß die an-
fangs so imponierende Zahl der Mitläufer geringer geworden ist . . .
Ich gebe zu, daß die Plattform des politischen Theaters in der Gegen-
wart schmaler geworden ist, dafür hat sie an innerer Schärfe der dar-
gestellten Probleme gewonnen. Sie ist bewußter geworden. Es wird
davon abhängen, daß die bewußt geschulte politische Masse, auf die
sich das politische Theater stützen muß und stützt, bereit ist, auch
weiter dieses Theater zu tragen .« Unter diesen Aspekten stand die
. .
Inszenierung von >Tai Yang <, an der der Autor Friedrich Wolf selbst
mitarbeitete (Ausstattung: John Heartfield). Wir geben den Bericht
einer Zeitung
»Piscator hat für das politische Theater ein neues Stilmittel ge-
funden: die Fahne und das Plakat als Kulisse und Hauptrequisit.
Fahnen und Plakate geben die Atmosphäre der gespielten Szene, sie
begleiten den Text und stehen bis zum ironischen Gegensatz der
innerhalb dieser Kulisse auf der Szene gesprochenen Worte. Wenn
man an frühere Piscator-Inszenierungen dabei denkt, so könnte man
dieses Stilmittel mit der Verwendung von Film in Vergleich setzen
das gesprochene und plakatierte Wort ersetzt den Film, es bereitet
ihn vor und beweist ihn - denn selbstverständlich verwendet Piscator
auch in >Tai Yang erwacht < den Film. Nur läuft der Film nicht mehr
an einer feststehenden Wand, sondern er wird, wie schon vorher das
gesprochene Wort, im Plakat und auf Fahnen, die ständig in Demon-
strationszügen vorbeigetragen werden, aufgefangen.
Der große Bühnenraum gleicht einem Dschungel von Fahnen.
Vom Schnürboden erscheint die Bühne wie eine Ausbuchtung eines
chinesischen Stromes, in der Hunderte von Dschunken verankert
liegen. Es muß eine ungeheure Mühe sein, Schauspieler, Statisten
und Tänzer zu exerzieren, die für jeden bestimmte Fahne zu greifen.
Es gehört natürlich auch in das Spielbild dieser Inszenierung, daß
die Bühne ständig offen ist.
148
:
150
Betrieb, die Straße, Plätze, die Bierhalle, das Kaffeehaus und wenden
bei ihrer Arbeit alle Arten der Bühnenkunst an: politische Revuen,
Massendeklamation, Kurzszenen, Schlager und dergleichen mehr.
All dies macht die Agitprop-Truppe zur besten Form der Agitation
und Propaganda.« Das »Spielplakat«, d. h. eine plakative, knappe
und schlagkräftige Darstellung, wurde als erstrebenswert hinge-
stellt. Den Darbietungen fehlte im allgemeinen eine Stückfabel wie
151
Ein anderes typisches Beispiel war 1931 die Rote Revue >Wir sind
ja sooo zufrieden <, die unter dem Protektorat des kommunistischen
Jugendverbandes stand. Bert Brecht, Erich Weinert, Hanns Eisler
und Friedrich Holländer gehörten zu den Mitarbeitern. Wir zitieren
eine Inhaltsangabe »Der Inhalt der Revue waren die Schicksale der
:
152
:
Frieden?«, berichtet die >Vossische Zeitung <: »Ist das Wort >Frie-
den<, so sagte sich Herr Rodenberg, ein massives Schluß-Bonmot?
Nein, damit ist kein Beifallsgeschäft zu machen. Deshalb läßt er die
Gefangenen, wenn sie abgeführt werden, schreien >Es lebe die Re- :
volution !< .... Und die Galerie, den ganzen Abend hindurch auf der
Suche nach aktuellen Schlagworten, antwortet, wie sie es in den letz-
ten Jahren gelernt hat. «
Mit einem Riesenaufgebot von Schauspielern, Massenchören
usw., einer imposanten, von Teo Otto geschaffenen Dekoration
fand in den Tennishallen am Fehrbelliner Platz eine Aufführung des
Epos >Der große Plan< von Johannes R. Becher statt, dramatisiert
von einem Kollektiv, dem auch Alexander Granach angehörte (es
war eine der letzten Großveranstaltungen vor der nationalsozialisti-
schen Machtübernahme).
Bechers Chorwerk beginnt mit den Versen
»Gewaltiges haben
Vor uns gesungen
Die Dichter aller Zeiten.
Das Gewaltigste aber
Blieb uns zu singen:
Wir singen
Den Fünfjahrplan.«
Sowjetmenschen. Die Stadt Dnjeprostroj lädt alle Städte der Welt ein,
sie zu besuchen und zu sehen, wie sie - als eine gleiche Stadt ohne
Teilung nach Klassen - erbaut wird, wie der Große Plan Berge ver-
setzt, Sümpfe urbar macht und hoch über den Stromschnellen das
Wasser türmt. Es wird hell in den elektrifizierten Stuben und in den
Köpfen der Menschen -und sie preisen nun erst das Glück, auf dieser
Erde geboren zu sein, die fruchtbar ist und unerschöpflich in ihrer
Fülle.«
Die Gruppe junger Schauspieler ging aus dem Studio der Piscator-
bühne am Nollendorfplatz hervor. Das Studio war nach nur ein-
jähriger Existenz dem Bankrott zum Opfer gefallen. Die erfolg-
reichste Aufführung, die es bis dahin hervorgebracht hatte, war
Erich Mühsams Judas gewesen,
>
< ein Stück um die bayerische Räte-
republik, inszeniert von Leopold Lindtberg. Derselbe Regisseur
hatte dann im sogenannten November-Studio Alexander Granachs
*53
ein weiteres Stück Mühsams einstudiert, >Staatsräson<, eine dokumen-
tarische Darstellung des Prozesses gegen die Arbeiterführer Sacco
und Vanzetti in Amerika, endend mit ihrer Hinrichtung. Die Gruppe
junger Schauspieler brachte u. a. Friedrich Wolfs >Zyankali< (eine
weitere, die stärkste Anklage gegen den Paragraphen 218) sowie >Re-
volte im Erziehungshaus < und > Giftgas über Berlin < von Peter Mar-
tin Lampel. Das erste Stück Lampeis ist eine Abrechnung mit der
bürgerlichen Jugenderziehung. Am Schluß der Aufführung trat ein
Schauspieler vor den Vorhang und verkündete, daß diese Zustände
nur durch die Weltrevolution geändert werden könnten, worauf die
Zuschauer die Internationale anstimmten. In dem anderen Stück
griff der Autor einen aktuellen Vorfall auf, eine Giftgaskatastrophe
in Hamburg, und zog gegen eine illegale Giftgasproduktion des
Reichswehrministeriums zu Felde. Das Stück endet mit der Macht-
ergreifung durch die Kommunisten, die einen Putsch der Reichs-
wehr und der mit ihr verbündeten SPD niederschlagen. Die Auf-
führung 1929 wurde vom Berliner Polizeipräsidenten verboten (das
erste Verbot seit 1918 !), was bei der linken Intelligenz entsprechende
Empörung hervorrief.
Die Truppe 1931, das wohl beste und geschlossenste Kollektiv,
hatte sich aus erwerbslosen Schauspielern gebildet. An ihrer Spitze
stand Autor, Regisseur und Schauspieler Gustav von
als Leiter,
Wangenheim, der Sohn des angesehenen Reinhardt-Schauspielers
Eduard von Winterstein. (Wangenheim spielt heute - ebenso wie
Rodenberg und Vallentin - eine wichtige Rolle im sowjetzonalen
Kulturleben.) Die Truppe hatte sich zum Ziel gesetzt, »gegen die
sinnliche Schlampigkeit das bewußte Denken zu organisieren«. In
diesem Sinne schrieb Wangenheim seine >Mausefalle <, das erfolg-
reichste Stück der Agitprop-Bewegung. Die Szenen waren bewußt
als Erläuterung des historischen Materialismus angelegt. Das Leben
des Angestellten Fleißig von der Wiege bis zur Bahre wurde ge-
schildert. Vom Bühnenboden hing ironisch der Spruch: »Höchstes
Glück der Erdenkinder ist doch die Persönlichkeit.« Im weiteren
wurden, wie der kommunistische Interpret Ernst Schumacher dar-
legt, »an Hand von Umständen, die für den Entwicklungsgang un-
zähliger Stehkragenproleten typisch sind, Erläuterungen der kapi-
talistischen Warenwirtschaft gegeben, die den Menschen ver-
schlingt. Fleißig gerät unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise zeit-
weilig unter den Einfluß des Faschismus, erkennt aber schließlich,
daß die proletarische Machtergreifung der einzige Ausweg aus dem
Elend ist.«
Höhepunkt der deutschen Agitprop-Bewegung waren die Lehr-
stücke >Die Maßnahme und >Die Mutter < des gerade zum Kom-
<
*54
:
und Ernst Busch spielten drei der nach China entsandten Agitatoren.
>Die Mutter wurde 1932 im Komödienhaus am Schiff bauerdamm
<
Zuschauern auch sehr gut verstanden. Ich kann mich erinnern, daß
ich einmal einen Brief von einer Näherin bekam, die mich bat, zu
ihnen zu kommen und mit ihnen über die Form der Propaganda zu
diskutieren, die ich an der Kupfersammelstelle angewandt habe. Un-
sere Zuschauer waren überwiegend Arbeiter. Und damit wir in den
Arbeitergegenden in jedem Saal spielen konnten, bestand das Büh-
nenbild nur aus an Eisenstangen befestigten Prospekten, die an ent-
sprechenden Eisenständern aufgehängt werden konnten. Sämtliche
Kupfergegenstände und viele andere Requisiten hatten wir von zu
Hause mitgebracht. Die gesamte Bühnendekoration ging in ein
kleines Auto . . .
M5
Streifen wurde zunächst von der Filmprüfstelle verboten, dann aber
nach einigen Schnitten freigegeben.
kal oder zu liberal, einmal war das Stück unbefriedigend, das andere
Mal die Inszenierung. Piscators Rechenschaftsbuch wiederum, 1929
geschrieben, steckt voller offener und versteckter Vorwürfe gegen
die Partei. Den letzten Grund für die Unstimmigkeiten wird man
darin sehen dürfen, daß es trotz der besten Absichten beider Seiten
nun einmal nicht möglich war, eine vollkommene Übereinstimmung
von Politik und Kunst zu erzielen. Dessenungeachtet nahm die
Kommunistische Partei natürlich den berühmten Regisseur für sich
in Anspruch und war stolz darauf, ihn in ihren Reihen zu wissen.
Die >Rote Fahne < sprach lobend von der Originalität Piscators, die
für »seine klassenmäßige Stellung, den proletarischen Sinn seiner
Arbeit« zeuge. Der Stalinismus hat sich dann offen von Piscator los-
gesagt. Als Beispiel für die spätere kommunistische Einschätzung
wollen wir zwei linientreue Äußerungen anführen:
»Die Kritik an der Weimarer Republik, die bei Piscator geübt . . .
wurde, war scharf und aggressiv. Der Ausweg aber, der gezeigt
wurde, war ein Ausweg der >Masse<, der ja im Heranstürmen oder
Vorübermarschieren, im Hinab- und Hinauffahren auf kreisenden
Plattformen und schwebenden Praktikabein nichts anderes übrig-
blieb, als nur ganz allgemein und unkonkret auf den notwendigen
Sturz des kapitalistischen Systems hinzuweisen. In Piscators Irrweg
paarte sich der > Avantgardismus < (die kleinbürgerlich-illusionäre
Rebellion gegen die Form) mit einem ebenso ungenauen, ver-
schwommen antikapitalistischen Inhalt« (Inge von Wangenheim,
*953)-
»Es ist nicht uninteressant, daß sich Piscator wiederholt über
. . .
156
»Ich verließ die Stadt, da war sie ganz - ich komme zurück - in
Ruinenfelder. Was ich damals wollte mit meinem Theaterspielen,
Stückeinszenieren das, was heute ist, vermeiden. Die Wiederholung
:
So kann man sagen: Wohl die Revolution, nicht aber der Kom-
munismus hat die Theaterbewegung der zwanziger Jahre erzeugt.
Das deutsche Theaterleben war da die Probe auf das russische
Exempel das Theaterleben der demokratischen Weimarer Republik
:
157
stellten, im Grunde an ihrer eigenen Liquidierung arbeiteten (der
nur die Machtergreifung des Nationalsozialismus zuvorkam).
Das revolutionäre Theater wurde in Deutschland von Hitler fast
zur gleichen Zeit liquidiert wie in Rußland von Stalin. Der Schau-
spieler Hans Otto, Mitwirkender in zahlreichen Agitprop-Program-
men, zuletzt jugendlicher Held am Staatstheater Berlin, wurde von
der SS zu Tode gefoltert; der Dramatiker Erich Mühsam, der
Schauspieler Kurt Gerron, der Brechts >Dreigroschenoper< hatte
kreieren helfen, der Gründer und Leiter der Jungen Bühne in Berlin,
Moritz Seeler, gingen in Konzentrationslagern zugrunde; die Dra-
matiker Ernst Toller, Walter Hasenclever, Reinhard Goering und
Stefan Zweig, der Kritiker Kurt Tucholsky und andere begingen
Selbstmord im Exil. Die Schauspielerin Carola Neher, die unver-
geßliche Polly des >Dreigroschenfilms <, emigrierte aus dem Dritten
Reich in die Sowjetunion und verschwand in einem stalinistischen
KZ ; Ernst Ottwalt und viele Genossen aus den Agitprop-Gruppen
teilten ihr Schicksal.
Brecht und die Dialektik des epischen Theaters
Tempeleingang. Sie haben zwar bereits den »wahren Gott« erkannt, haben
aber noch nicht ganz mit dem Unglauben gebrochen. Verschiedene Bindungen
hindern sie daran, die Schwelle zu überschreiten. Und »die im Inneren« haben
ein Interesse daran, daß sie noch draußen bleiben; denn dort sind sie am nütz-
lichsten.
Monnerot
>Soziologie des Kommunismus <
Das Stück >Baal< - 1918 geschrieben, aber erst 1923 unter Skandal
in Leipzig uraufgeführt - ist eine locker aneinandergereihte Folge
von Szenen und Gesängen. Seinem Helden gibt ein Landjäger fol-
genden Steckbrief: »Vor allem Mörder. Zuvor Varieteschauspieler
:
*59
.
auf einem reißenden Strom auf dem Rücken hinschießt, nackt unter
orangefarbenem Himmel, und man sieht nichts, als wie der Him-
mel violett wird, dann schwarz wie ein Loch wird . wenn man sei-
. .
Frauenleib übers Bett biegt .« Das ist der Inhalt des Stückes >Baal<.
. .
Tür. Ist sie auf, sieht man die blaue Nacht.« Damit ist der Ort der
Handlung ziemlich genau angegeben: der Tarzan Baal stammt aus
Schwabing. Und die Lebensweise dieses deklarierten Naturmen-
schen ist im Grunde nichts weiter als eine Idealisierung der üblichen
Lebensweise der Boheme, von Brecht zu einem mächtigen, noch
heute anrührenden Bild verdichtet: einem höllischen Paradies, in
dem Wucherungen am Rande großstädtischer Kanalisation sich
die
mit der feuchten, sumpfigen, modernden Vegetation der Urwald-
ströme vermählen. Man könnte, um die soziale Symptomatik des
>Baal< zu belegen, zahlreiche verwandte künstlerische Äußerungen
aus jener Zeit anführen: das Alkoholikerdrama >Der Einsame < von
Hanns Johst, das das Schicksal Grabbes behandelt, hat nachweislich
auf Brechts Stück eingewirkt; die in >Baal< eingestreute provokative
Kloakenlyrik (Orges Gesang: ». und doch erkennst du dorten,
. .
was du bist: ein Bursche, der auf dem Aborte - frißt!«) ähnelt zum
Verwechseln den gleichzeitig entstandenen Gedichten von Johannes
R. Becher; der Typus des zivilisationsfeindlichen, mit der Natur ver-
schwisterten Waldmenschen findet seine Entsprechung u. a. in den
Romanen des frühen Knut Hamsun.
Hat man erst einmal den sozialen Standort des Werkes ausge-
macht, eben die Intellektuellenkreise in den ersten Jahrzehnten die-
160
ses Jahrhunderts, fällt es nicht schwer,auch seinen politischen fest-
zulegen. Es Anarchismus,
ist der intellektuelle wie er zu jener Zeit in
den Literatencafes diskutiert wurde. Er erlebte wenige Monate nach
der Niederschrift von >Baal< seinen politischen Höhepunkt in
Deutschland, seine dramatische Realisierung direkt in Brechts Hei-
mat: die bayerische Räterepublik, deren Mentoren vornehmlich
Intellektuelle und Literaten waren. Brecht selbst, der damals zwan-
zigjährige, extravagante Sohn eines Fabrikdirektors, war Mitglied
des Soldatenrats in Augsburg. Der bayerischen Räterepublik war nur
eine kurze Lebensdauer beschieden. Mit ihr ging der Anarchismus
als politische Realität in Deutschland unter, er wurde - wie zu glei-
cher Zeit in Rußland und später in Spanien - als eine unreife, wenig
lebenstüchtige Ideologie der Freiheit zwischen rotem und weißem
Terror, zwischen bolschewistischen Emissären und faschistischen
Landsknechten zerrieben. Nach der Niederlage löste sich die USPD,
die Organisation des unabhängigen Sozialismus, in Wohlgefallen
auf; ihre intellektuellen Anhänger, zu denen auch Brecht gehört
hatte, verliefen sich in alle Winde.
Bert Brecht, als Student der Medizin unterall den Idealisten der
161
:
sind Bretter und ein Papiermond und dahinter die Schlachtbank, die
allein ist leibhaftig.« Indem er auf die Trommel haut, die die Revolu-
tionäre liegengelassen haben, erklärt er »Der Dudelsack pfeift, die
:
162
und revolutionärer Realpolitik (wie sie die Bolschewisten betreiben)
zu unterscheiden, so daß ihm das durch keinerlei Retuschen wieder-
gutzumachende Unglück widerfuhr, in >Trommeln in der Nacht <
nicht etwa eine sowieso »zu verwerfende« anarchistische Rebellion,
sondern ausgerechnet - den kommunistischen Spartakusaufstand zu
persiflieren. Das Stück ist deshalb für die kommunistische Ideologie
beim besten Willen nicht zu retten (die kommunistische >Rote
Fahne < nannte es seinerzeit klipp und klar eine »konterrevolutionäre
Angelegenheit«), es sei denn, man freute sich darüber, daß inzwischen
in den Ansichten des Verfassers, wie er selbst so schön sagt, »eine
Besserung stattgefunden hat«.
Dessenungeachtet hatte das Stück eine große Bedeutung für
Brechts Entwicklung, es stellte eine Wendemarke seines Weges dar.
Und zwar nicht nur in dem äußerlichen Sinne, daß die Premiere die
erste öffentliche Aufführung Brechts überhaupt war und der Kleist-
Preis, den er sich damit verdiente, ihm den Weg zum Erfolg öffnete.
>Trommeln in der Nacht < ist ein entscheidender Schritt über >Baal<
hinaus. Wenn man das Verhältnis der beiden Stücke charakterisieren
will, könnte man sagen: Kragler - das ist der aus der Traumwelt
seines Terrariums in die Wirklichkeit versetzte Baal. Und da ent-
puppte er sich als das, was eigentlich immer hinter der Exaltiertheit
des Bohemien steckte, als Spießer. Baal, das war der Spießbürger,
der sich einen Rausch angetrunken hatte und sich dann wie ein Gott
vorkam. In dem Augenblick, da der Rausch verflogen ist - der
Rausch des Alkohols oder der Revolution -, ist auch die Kraft-
meierei wie weggeblasen. Brechts Stärke war es, daß er diese Er-
kenntnis als erster und ohne alle Beschönigungen ausgesprochen hat,
unmittelbar unter dem Eindruck der großen Ernüchterung, die die
Niederlage der Revolution mit sich gebracht hatte. Wie er der ge-
niale Gestalter der anarchistischen Ekstase war - im >Baal< -, war er
auch der unbestechliche Analysator des Katzenjammers in >Trom-
meln in der Nacht <. Er selber hat diesen Aspekt seines Revolutions-
stückes sehr fein empfunden und darum bei der nachträglichen Kor-
rektur nicht etwa, wie es vom Parteistandpunkt aus wünschenswert
gewesen wäre, einen leibhaftigen revolutionären Helden eingeführt
- was die ursprüngliche Aussage in ihr Gegenteil verkehrt hätte -,
sondern nur die vage Erinnerung an einen toten, d. h. die Erinne-
rung an die entschwundenen heroischen Illusionen, an den schönen
romantischen Traum. Das Stück >Trommeln in der Nacht < erklärt,
warum die berauschende Lebensfülle des >Baal< nie wieder im Werke
Brechts auftauchen konnte Die schillernde Seifenblase individualisti-
:
163
:
164
Blau über den Straßenschluchten, dem Dickicht der großen Städte,
bezieht auch Baal seine Kraft. Es sind Übermenschen vom selben
Schlag. Sollte im Baal nicht vielleicht auch ein Weltverbesserer
stecken?
Sehr aufschlußreich ist eine Variante des Stoffes, die Brecht viele
Jahre später vorschwebte, als er sich längst zum Kommunismus be-
kannte. »Zwanzig Jahre nach der Niederschrift des >Baal<«, so be-
richtet er, »bewegte mich ein Stoff (für eine Oper), der wieder mit
dem Grundgedanken des >Baal< zu tun hatte. Es gibt eine chinesi-
sche Figur, meist fingerlang, aus Holz geschnitzt und zu Tausenden
auf den Markt geworfen, darstellend den kleinen dicken Gott des
Glücks, der sich wohlig streckt. Dieser Gott sollte, von Osten
kommend, nach einem großen Krieg in die zerstörten Städte ein-
ziehen und die Menschen dazu bewegen wollen, für ihr persönliches
Glück und Wohlbefinden zu kämpfen. Er sammelt Jünger verschie-
dener Art und zieht sich die Verfolgung der Behörden auf den Hals,
als einige von ihnen zu lehren anfangen, die Bauern müßten Boden
bekommen, die Arbeiter die Fabriken übernehmen, die Arbeiter-
und Bauernkinder die Schulen erobern. Er wird verhaftet und zum
Tode verurteilt. Und nun probieren die Henker ihre Künste an dem
kleinen Glücksgott aus. Aber die Gifte, die man ihm reicht, schmek-
ken ihm nur, der Kopf, den man ihm abhaut, wächst sofort nach,
am Galgen vollführt er einen mit seiner Lustigkeit ansteckenden
Tanz usw. usw. Es ist unmöglich, das Glücksverlangen der Men-
schen ganz zu töten.« In dieser Darstellung ist die Verwandlung des
Anarchisten Baal in einen bolschewistischen Zarathustra vollzogen.
Man möchte also Brecht beipflichten, wenn er denjenigen, die in
seinem ersten Stück nur die Verherrlichung nackter Ichsucht sehen,
eine undialektische Betrachtungsweise vorwirft. Denn es »setzt sich
hier ein >Ich< gegen die Zumutungen und Entmutigungen einer
Welt, die nicht eine ausnutzbare, sondern nur eine ausbeutbare Pro-
duktivität anerkennt. Es ist nicht zu sagen, wie Baal sich zu einer
Verwertung seiner Talente stellen würde: er wehrt sich gegen ihre
Verwurstung. Die Lebenskunst Baals teilt das Geschick aller andern
Künste im Kapitalismus: sie wird befehdet. Er ist asozial, aber in
einer asozialen Gesellschaft.« Mit anderen Worten: Würde sich für
Baals Vitalität eine angemessene Verwendung finden, so würde er
sich wohl in eine Gesellschaft fügen.
Was dies für eine Verwendung
sein könnte, erhellt aus einer Stelle
im Stück, der einzigen, wo
so etwas wie eine gesellschaftliche Kom-
munikation vor sich geht. Baal hat unter den Bauern in der Dorf-
schenke das Gerücht verbreitet, daß sein Bruder am nächsten Abend
zu hohem Preis einen Zuchtstier zu kaufen beabsichtige. Die Bauern
aus den umliegenden Dörfern wollen zu diesem Zweck ihre Stiere
herantreiben. Der Pfarrer des Dorfes, der den Schwindel durch-
schaut, fragt ihn, wozu er denn den Plan ausgeheckt habe. Baal lehnt
sich zurück: »In der Dämmerung am Abend. - Es muß natürlich
165
Abend sein, und natürlich muß der Himmel bewölkt sein, wenn die
Luft lau ist und etwas Wind geht, dann kommen die Stiere. Sie trot-
ten von allen Seiten her, es ist ein starker Anblick. Und dann stehen
die armen Leute dazwischen und wissen nichts anzufangen mit den
Stieren und haben sich verrechnet: sie erleben nur einen starken
Anblick. Ich liebe auch Leute, die sich verrechnet haben. Und wo
kann man soviel Tiere beisammen sehen?« Der Pfarrer fragt verwun-
dert: »Und dazu wollen Sie sieben Dörfer zusammentrommeln?«
Baal: »Was sind sieben Dörfer gegen den Anblick!« - Das, genau das,
sollte - Jahre nach der Niederschrift des >Baal< - das massenpsycho-
logische Herrschaftsprinzip der Diktatoren, der Mussolini, Hitler,
Stalin, Mao Tse-tung, Castro werden. Schon in seinem ersten Werk
hat Bertolt Brecht den seismographischen Sinn für das Zeitalter der
Totalitarismen bewiesen.
Was Bertolt Brecht aus der Reihe der anderen Intellektuellen her-
aushebt, die wie er ihr Heil unter den roten Fahnen (mit Hammer
und Sichel oder mit Hakenkreuz) suchten, ist die Schärfe und Prä-
gnanz der Analyse, mit der er die Beweggründe der Bekehrung dar-
legte. Das war ihm nur möglich, weil er den letzten, entscheidenden
Akt, die Priesterweihe, immer und immer hinausschob und an der
Pforte des neuen Heiligtums verharrte. Denn ist erst einmal das
Individuum im totalitären System aufgegangen, ist es mit der Mög-
lichkeit kritischer Reflexionen vorbei. Brecht brachte das Kunststück
fertig, sich jahrzehntelang haargenau auf der Schwelle des Tempels
anzusiedeln und die kaum faßbare Spanne zwischen Erleuchtung
und Konsequenz zum Gegenstand fast seiner gesamten Dichtung zu
machen (»Wer A sagt, muß nicht B sagen ..«). Das Stadium des
.
166
der Boxsport besonderen Spaß bereitete »als eine der großen mythi-
schen Vergnügungen der Riesenstädte von jenseits des Großen
Teiches«. Deshalb habe er einen »Kampfan sich« darstellen wollen,
einen Kampf ohne andere Ursache als den Spaß am Kampf und mit
keinem anderen Ziel als der Festlegung des »besseren Mannes«.
Zugleich erwähnt er, daß ihm damals eine merkwürdige histori-
sche Vorstellung vorgeschwebt habe: »eine Menschheitsgeschichte
in Vorgängen massenhafter Art von bestimmter, eben historischer
Bedeutung, eine Geschichte immer anderer, neuer Verhaltungsarten,
die da und dort auf dem Planeten gesichtet werden konnten«. Es
scheint demnach so, daß Brecht den Fight als charakteristische Ver-
haltensweise des modernen Menschen herausstellen wollte. Diese
Stoffwahl hätte ihn in die Nähe der ganzen gesellschaftskritischen
Literatur der neueren Zeit gebracht, für die ja das »Wolfsgesetz des
Kapitalismus«, der Kampf aller gegen alle in der Konkurrenz, ein
Lieblingsthema der Darstellung war. Aber Brecht stimmte schon
insofern nicht mit der üblichen Betrachtungsweise überein, als er die
Tatsache des Kampfes nur sachlich zu konstatieren und nicht mora-
lisch zu werten beabsichtigte. Er zeigte sich da wieder als Realist.
Und ging er auch (bei aller Abstraktion in der Form) an
als Realist
die Gestaltung heran, mit dem Ergebnis, daß er zu ganz überraschen-
den und völlig neuen Entdeckungen kam.
»Schon beim Entwurf merkte ich«, so berichtet Brecht, »daß es
eigentümlich schwierig war, einen sinnvollen Kampf, d. h. nach
meinen damaligen Ansichten einen Kampf, der etwas bewies, herbei-
zuführen und aufrechtzuerhalten. Mehr und mehr wurde es ein Stück
über die Schwierigkeit, einen solchen Kampf herbeizuführen .«
. .
Feindschaft zum unerreichbaren Ziel. Aber auch mit den Tieren ist
eine Verständigung nicht möglich.« Garga: »Die Sprache reicht zur
Verständigung nicht aus.« Shlink: »Ich habe die Tiere beobachtet.
Die Liebe, Wärme aus Körpernähe, ist unsere einzige Gnade in der
Finsternis! Aber die Vereinigung der Organe ist die einzige, sie
überbrückt nicht die Entzweiung der Sprache. Dennoch vereinigen
sie sich, Wesen zu erzeugen, die ihnen in ihrer trostlosen Vereinze-
lung beistehen möchten. Und die Generationen blicken sich kalt in
167
die Augen. Wenn ihr ein Schiff vollstopft mit Menschenleibern, daß
es birst, es wird eine solche Einsamkeit in ihm sein, daß sie alle ge-
frieren. Hören Sie denn zu, Garga? Ja, so groß ist die Vereinzelung,
daß es nicht einmal einen Kampf gibt.« Und es bricht aus ihm eine
wehe Sehnsucht nach jenen Zeiten, die Brecht im >Baal< beschrieb:
»Der Wald! Von hier kommt die Menschheit. Haarig, mit Affen-
gebissen, gute Tiere, die zu leben wußten. Alles war so leicht. Sie
zerfleischten sich einfach. Ich sehe sie deutlich, wie sie mit zitternden
Flanken einander das Weiße im Auge anstierten, sich in ihre Hälse
verbissen, hinunterrollten, und der Verblutete zwischen den Wur-
zeln, das Besiegte, und der am meisten niedergetrampelt
war der
hatte vomGehölz, das war der Sieger .« Das Stück endet mit dem
. .
daß alles relativ ist. Was heißt das ? Der Tisch, die Bank, das Wasser,
der Schuhlöffel, alles relativ. Sie, Witwe Begbick, ich relativ.
. . .
168
fällt Galy Gay in Ohnmacht. Als er aufwacht, erklärt man ihm, er sei
nun der Soldat Jeraiah Jip. Und man zeigt ihm eine Kiste, in der der
angeblich erschossene Galy Gay liegen soll. »Wenn er in die Kiste
hineinsieht, ist es aus«, sagt einer der Soldaten. Aber Gay sieht nicht
hinein, einmal weil er Angst vor neuen Scherereien hat, zum anderen
weil seiner Meinung nach »der Unterschied zwischen ja und nein
nicht so groß ist«. Seine Schlußfolgerung lautet:
1931 am Berliner Staatstheater (mit Peter Lorre als Galy Gay, Helene
Weigel als Begbick, Theo Lingen, Alexander Granach und Wolf-
gang Heinz als Soldaten) und ließ es nun mit dem großen Montage-
akt enden: »da ich keine Möglichkeit sah, dem Wachstum des Hel-
den im Kollektiv einen negativen Charakter zu verleihen. So hatte
ich lieber auf die Beschreibung des Wachstums verzichtet.«
Nachdem er in den beiden Stücken >Trommeln in der Nacht < und
>Im Dickicht der Städte < das Scheitern menschlicher Unternehmun-
gen demonstriert hatte, zeigte Brecht in >Mann ist Mann< zum ersten-
mal wieder einen konstruktiven Aspekt, einen Ausweg aus dem
Dilemma des persönlichkeitszerstörenden Massenzeitalters: die be-
wußte Einordnung ins Kollektiv. Baal wird angeraten, sich die Kluft
169
des Rotfrontkämpferbundes oder das Braunhemd der SA anzu-
ziehen.
Den großen Durchbruch Brechts zur Popularität brachte die >Drei-
groschenoper<, 1928 geschrieben und im gleichen Jahr im Theater
am Schiffbauerdamm in Berlin glanzvoll aufgeführt (mit Harald
Paulsen als Mackie Messer, Erich Ponto als Peachum, Rosa Valetti
als Frau Peachum, Roma Bahn als Polly, Lotte Lenja- Weill als Jenny,
Kurt Gerron als Tiger-Brown, Kate Kühl als Lucy, Ernst Busch als
Konstabier Regie Engel, Bild Neher, Musikalische Leitung Theo
; : : :
kommt die Moral« und »Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm«,
waren beileibe nicht alles Weltrevolutionäre und Klassenkämpfer.
Wenn »Der in irgend-
sich der >Völkische Beobachter < alterierte:
einem Winkel jeder Großstadt besonders konzentrierte Drecksumpf
kann für die Kinoromantik der Klettermaxekultur gerade noch gut
genug sein und ist im übrigen aber wirklich nur eine Angelegenheit
des polizeilichen Straßenreinigungsverfahrens«, und eine große
rheinische Zeitung sogar aus dem Lärm und stampfenden Rhyth-
mus der Musik den »Anmarsch der klassenbewußten bolschewis-
tischen Bataillone« zu hören vermeinte, so war das gewiß eine maß-
lose Überschätzung der politischen Wirksamkeit dieses ersten Musi-
cals.
Wenn man davon ausgeht, daß Brecht neben dem Vergnügungs-
effekt noch einen politischen erstrebte - und sicher hatte er seine
ideologischen Hintergedanken -, so könnte man zu dem Schluß
kommen, die >Dreigroschenoper< sei vom Publikum gründlich miß-
verstanden worden. Es hat sich über die auf der Bühne geschilderten
Zustände nicht empört, sondern bloß amüsiert, es hat die zynischen
Songs nicht als kritische Selbstentlarvung der dargestellten Personen
aufgefaßt, sondern als eine empfehlenswerte Weisheit. Aber wer
sagt denn, daß es wirklich die politische Absicht Brechts gewesen
ist, die Gesellschaft da oben anzuprangern, den moralischen Zeige-
finger gegen Betrug, Laster und Elend zu erheben? Das hatte der alte
John Gay in seiner >Bettleroper< schon zweihundert Jahre früher be-
170
sorgt; als Brecht dasWerk modernisierte, hat er dessen Aggressivi-
tät eher entschärft.Den Nachfahren faszinierte an dem Stoff offen-
bar etwas ganz anderes: die Konstruktion einer amoralischen Pro-
vinz innerhalb einer amoralischen Gesellschaft. Die zwielichtigen
Gestalten des Stücks, der Bettlerkönig Peachum, seine Tochter
Polly mit ihrer fragwürdigen Sittsamkeit, der Räuber Mackie Messer,
der korrupte Polizeichef Brown, die Spelunken-Jenny (eine Dame,
die, wie Brecht sagt, im ungestörten Besitz ihrer Produktionsmittel
sich befindet), sind allesamt sehr ehrbare Personen, die sich, von
der glänzenden Oberfläche des bürgerlichen Lebens in die Unter-
welt verdrängt, eine eigene Ordnung geschaffen haben, in der es
sich für sie leben läßt. Und ihre unmoralische Daseinsweise ist mo-
ralisch, weil sie eine andere Unmoral, eben die der kapitalistischen
Gesellschaft, negiert - das ist der dialektische Kurzschluß.
Der Publizist Herbert Lüthy hat sich in seinem glänzenden Brecht-
Essay den Spaß gemacht, den Inhalt der Dreigroschenoper zu aktua-
lisieren: »Man denke sich etwa an die Stelle des frommen J. J. Pea-
chum, Besitzer der Firma >Bettlers Freund < zur organisierten Aus-
beutung des Elends, umgeben von penetrant sozial gesinnten Spruch-
bändern >Wer gibt, dem wird gegeben <, > Verschließe dein Ohr nicht
dem Elend < usw., einen Herrn Jeremiah oder William Pieck, Chef
der ebenso sozial gesinnten Firma > Arbeiters Freund <, den Laden-
raum tapeziert mit entsprechenden Spruchbändern des kommunisti-
schen Dreigroschenarsenals, mit der Klage auf den Lippen, daß sich
die Sprüche so rasch verbrauchen und daß da eben wieder der Marx
herhalten muß, aber wie lang wird er es noch? Auch die aus reicher
Praxis geschöpfte Lehre, daß man, um bei der Erregung und Aus-
beutung von Mitleid zweckmäßig vorzugehen, zuerst einmal selber
keines haben darf, könnte der neue Peachum mit fast unveränderten
Worten auf soziales Gewissen, Gerechtigkeitssinn und Pazifismus
abwandeln. Ein Fund Brechts war die von Herrn Peachum zu Er-
pressungszwecken aufgebotene Hungerdemonstration größtenteils
falscher Kriegsinvaliden, die dann im letzten Augenblick aus tak-
tischen Gründen nach Vereinbarung mit der Konkurrenz abkom-
mandiert wird, ohne daß ihre Teilnehmer eine Ahnung hätten, zu
was für Schiebungen sie da mißbraucht werden: die kommunistische
Parteigeschichte ist voll von solchen Episoden.« Das ist ironisch ge-
meint - aber es dürfte der ursprünglichen Konzeption Brechts (von
den späteren Kommentaren und Korrekturen, z. B. im >Drei-
groschenfilm < und >Dreigroschenroman<, einmal abgesehen) allen
Ernstes nahekommen.
Weit aggressiver und prononcierter antikapitalistisch als die ge-
fällige >Dreigroschenoper< war die Oper von Brecht und Weill > Auf-
stieg und Fall der Stadt Mahagonny<. Die Uraufführung 1930 in
Leipzig entfesselte einen unbeschreiblichen Skandal. Die Provinz-
Bourgeoisie empfand die Darstellung als eine Provokation und setzte
sich entsprechend zur Wehr. Der Kritiker Polgar berichtet: »Ein
17*
:
sequent nihilistisch.
Mahagonny ist eine Goldgräberkolonie, gegründet von einigen
steckbrieflich gesuchten Gaunern. Es ist ein soziologisches Experi-
ment: Binnen kürzester Frist entwickelt sich die Ansiedlung zu
einem Muster der modernen Gesellschaft. Als die Stadt von einem
Taifun bedroht wird, entdeckt und verkündet der Holzfäller Paul
Ackermann die Gesetze der menschlichen Glückseligkeit, nach denen
alles erlaubt und nichts verboten sein soll. Das ist die Proklamation
der Anarchie. Es stellt sich heraus, daß die Ackermannschen Frei-
heiten: Fressen und Saufen, Sexus und Sport, in der Tat ganz vor-
trefflich sind und das Leben ungemein verschönern - »wenn man
Geld hat«. Nun nämlich, da alle Verschleierungen, Verbrämungen
und Konventionen wegfallen, tritt das Grundprinzip aller gesell-
schaftlichen Kommunikation nackt hervor - die »bare Zahlung«.
Und daran geht Ackermann, der Apostel der Glückseligkeit, zu-
grunde. Er macht Schulden und wird »wegen Mangels an Geld, was
das größte Verbrechen ist, das auf dem Erdenrund vorkommt«, zum
Tode verurteilt. Brecht bemerkt im Zwischentitel: »Viele mögen
die nun folgende Hinrichtung des Paul Ackermann ungern sehen.
Aber auch sie würden unserer Ansicht nach nicht für ihn zahlen. So
groß ist die Achtung vor dem Geld in unserer Zeit.« Der Untergang
Ackermanns, ja der Untergang Mahagonnys, der sich ankündigt,
belehrt aber nicht die Unbelehrbaren. In der Schlußszene demon-
strieren die »Noch nicht Erledigten« unbeirrt für ihre Ideale; über
die Bühne ziehen kreuz und quer Demonstrationszüge, mit sich
tragend die Leiche des unglückseligen Holzfällers und Transparente
»Für den Fortbestand des Goldenen Zeitalters.«
Brechts >Mahagonny< sollte offensichtlich die moderne Gesell-
schaft als ein komplexes und auswegloses Phänomen enthüllen, in
dem sich ökonomische Misere und ideelle Surrogate wechselseitig
bedingen und auffressen. Der negative Befund früherer Stücke über
die menschliche Daseinsmöglichkeit wurde in der Oper bis zur letz-
ten Konsequenz getrieben, bis zur Prognose des Untergangs. Dieser
abgrundtiefe Pessimismus, ein unmittelbarer Reflex der katastropha-
len Weltwirtschaftskrise, war keiner Steigerung mehr fähig. Er
mußte in der Folge für das Werk Brechts wie für die in Not und Ver-
172
! ! ! !
geschlossen hat, schließt Mauler Die Hälfte aller Arbeiter der Chi-
!
den ohne Licht und Strom Sollen die Börsentiger Chikago zugrunde
!
richten?
Das Ergebnis der Kämpfe Zusammenschluß der großen Fleisch-
:
173
:
kommen könnte. So stirbt sie verzweifelt und einsam. Ihren Tod hat
Brecht, der das ganze Stück als Parodie auf die bürgerlichen Klassiker
in gemessenen Jamben und im erhabenen Stil der idealistischen Tragö-
die geschrieben hat, zu einer Persiflage des Schlusses der >Jungfrau
von Orleans und des >Faust gestaltet Während das Mädchen noch
< < :
Damit hat der Kreis sich geschlossen. Die Revolution, von der der
Dichter in seinem Sturm und Drang einst ausgegangen war und die
er dann verworfen hatte, hielt ihren Wiedereinzug in sein Werk, frei-
lich nun nicht mehr als jugendliches Schwärmertum, als »Humani-
tätsduselei«,sondern als die reife Ernte des modernen Zeitalters. Zu
einem Zeitpunkt, da viele der besten unter den kommunistischen
Intellektuellen und Arbeitern, eben die Idealisten, sich von der Re-
volution lossagten, weil sie sich statt als Reich der Freiheit als totali-
täres Machtsystem konstituiert hatte, kehrte Brecht, fasziniert von
der Allgewalt des neuen Byzanz, zu ihr zurück. Und während über-
all in der Welt die revolutionäre Dichtung im Abklingen begriffen
war, ging das Werk Bert Brechts erst seinem Höhepunkt entgegen,
denn es war ein anderer, völlig neuer Aspekt des Bolschewismus, der
in ihm zur Gestaltung kam. Der Akt der Erleuchtung kann aus der
Entwicklungstendenz erschlossen werden, die sich in zwei Lehr-
stück-Paaren aus den Jahren 1929/30 abzeichnet: vom >Flug der
Lindberghs < zum >Badener Lehrstück vom Einverständnis < und vom
>
Jasager < zur >Maßnahme<.
Das sogenannte Radiolehrstück für Knaben und Mädchen >Der
Flug der Lindberghs < (Musik Paul Hindemith) ist dem ersten West-
:
174
technische Kollektiv, in den Vordergrund gerückt werden soll, die
Einheit von Pilot, Monteuren, Konstrukteuren und Meteorologen,
von Männern und Maschinen. Das Stück, das den Triumph der
modernen Technik verkündet, ist ein Hymnus noch nicht auf die
Sowjetunion, sondern auf das Babel Amerika - ein Zeichen, wie nahe
in der Denkweise Brechts die Extreme beieinanderlagen. Im Zuge
der Darstellung wird wiederum ein Problem der modernen, total
technisierten Welt aufgeworfen, ein Kernproblem, nämlich die Zer-
störung der Religiosität:
Das ist ein prometheisches Bild die Austreibung Gottes aus der
:
Welt. Aber was zurückbleibt, ist ein leerer Himmel. Wird der mo-
derne Mensch stark genug sein, die ebenso grandiose wie das Blut
gefrieren machende Vorstellung eines unermeßlichen, seelenlosen
Universums zu ertragen, eines Alls, in dem der Mensch nicht mehr
als ein verwehtes Stäubchen ist, selbst wenn er vermittels »verbesser-
ter Apparate« bis zum Mond fliegen sollte? Wird das Vakuum, das
nach der Liquidierung des alten Gottes verbleibt, nicht einen neuen
unwiderstehlich anziehen? Es ist von eigentümlicher Ironie, daß so-
wohl Subjekt wie Objekt, Autor und Held des so selbstsicheren
Lehrstücks den leeren Himmelsthron schließlich mit einem Idol
neuer Art besetzen: Während Brecht zu den Kommunisten ging,
sympathisierte Lindbergh mit den Faschisten.
Dem Inhalt nach wie eben in der weltanschaulichen Konsequenz
stellt das >Lehrstück vom Einverständnis < (Musik ebenfalls Paul
175
! : :
176
: !
*77
wie in der >Dreigroschenoper <, nicht der monopolkapitalistische
Trust wie in der >Heiligen Johanna < und nicht die Ecclesia militans
wie später im >Leben des Galilei <, sondern eine Institution, die die
genannten samt und sonders im Hegeischen Sinne aufhebt, d. h.
beerbt und übertrifft - die bolschewistische Partei. Herzstück des
Werkes, Sinngebung des in ihm geschilderten Geschehens ist das
neue Glaubensbekenntnis, das »Lob der Partei«:
sein. Wer für den Kommunismus kämpft hat von allen Tugenden nur eine:
',
daß er für den Kommunismus kämpft.« Diese Äußerung ist eine Para-
phrase des bekannten Lenin- Wortes: »Man muß ... zu allem und
jedem Opfer entschlossen sein und sogar - wenn es sein muß - zu
allen möglichen Kniffen, Listen, illegalen Methoden, zur Verschwei-
i
78
gung, Verheimlichung der Wahrheit bereit sein . . .« Die Agitatoren
erklärten sich bereit.
Kaum aber waren sie am Bestimmungsort ihrer Mission angekom-
men, da beging der junge Genosse eine Reihe von Fehlern. Er ver-
suchte das Los der geschundenen Reiskahnschlepper zu erleichtern,
statt siezur Weltrevolution aufzuwiegeln. Er verteidigte einen ver-
folgten Arbeiter vor der Polizei, statt unsichtbar zu bleiben. Er wei-
gerte sich, mit einem widerwärtigen Kapitalisten zu speisen, mit dem
die Partei eine Volksfront zu bilden gedachte. Und er gab, als ihm die
Not unerträglich geworden schien, eigenmächtig das Signal zum Auf-
stand, obwohl es der Zentrale noch gar nicht paßte. Alles in allem:
Ihm bedeutete das Schicksal seiner in Elend und Verzweiflung leben-
den Brüder mehr als der Moskauer Parteiauftrag. Da beschlossen die
anderen vier Agitatoren, ihn zu liquidieren: »Einzig mit dem un-
beugsamen Willen, die Welt zu verändern, begründeten wir die Maß-
nahme.« Der junge Genosse erklärte sich in einem letzten Gespräch
mit der Maßnahme einverstanden und schlug selbst vor, daß man
ihn in eine nahe Kalkgrube werfen solle. »Er sagte noch Im Inter- :
Führer durch Hitler, sieben Jahre vor der Liquidation der bolsche-
wistischen alten Garde durch Stalin hat hier ein genialer Schrift-
steller das furchtbare, die eigenen Reihen zerfleischende Blutgesetz
des Totalitarismus vorweggenommen. Die Prognose stimmte bis in
die Details - bis zu den Geständnissen der Moskauer Prozesse . . .
Bert Brecht hat sicher recht, wenn er sein Theater als ein »Theater
des wissenschaftlichen Zeitalters« bezeichnet, wir würden vielleicht
korrekter sagen: des industriellen Zeitalters. Das präzise und hoch-
komplizierte Instrument des Epischen Theaters erwies sich als vor-
züglich geeignet, wesentliche Aspekte unseres schwer durchschau-
baren Säkulums zu erhellen , insbesondere dessen perfekteste und
extremste Erscheinungsform, den Totalitarismus. Die Ironie der
Dialektik aber will es, daß Brecht aus eben den Gründen, die ihn
*79
zum Dichter des Totalitarismus werden ließen, als totalitärer Dich-
ter nicht verwendbar ist. Das von ihm so gebenedeite Regime liebt es
nämlich nicht, sein Getriebe allzusehr dem durchdringenden Licht
wissenschaftlicher Klarheit auszusetzen, sondern bevorzugt den
freundlich verhüllenden Schimmer des schönen Scheins, es wünscht
kein aufklärendes, sondern ein kulinarisches Theater. Denn die we-
nigsten Menschen werden an der eiskalten, unmenschlichen Me-
chanik des totalitären Systems, wie Brecht es uns vor Augen stellt,
ihr Wohlgefallen finden - auf die meisten, vor allem die Massen, die
man doch gewinnen will, wird die Vorstellung des in der Kalkgrube
verfaulenden Parteischädlings eher abschreckend als faszinierend wir-
ken. Dem Brechtschen Theater ist deshalb sein Platz genau angewie-
sen nicht drinnen im Heiligtum, wo es wie ein Scheinwerfer in einer
:
die Reihen der Gläubigen.« Galilei: »Richtig. - Ich muß jetzt essen.«
Der Schüler Andrea aber, eingedenk der bei ihm geborgenen >Dis-
corsi<, des kostbaren Produktes aus der Selbsterniedrigung des Mei-
sters, erklärt dann doch bewegt: »Hinsichtlich Ihrer Einschätzung
des Verfassers, von dem wir sprachen, weiß ich Ihnen keine Ant-
wort. Aber ich kann mir nicht denken, daß Ihre mörderische Analyse
das letzte Wort sein wird.«
Die Probe auf das im >Galilei< erörterte Exempel konnte Brecht
selber exerzieren, als er 1948/49 schließlich seine zwar freie, aber ma-
teriell begrenzte Position in den westlichen Republiken mit dem
182
Amte des Dichters am Pankower Hofe vertauschte. Dort harrten
seiner in der Tat glänzende materielle Möglichkeiten: eine eigene
Truppe, das »Berliner Ensemble«, der Leitung seiner Frau, der
Schauspielerin Helene Weigel, unterstellt, ein imposanter Etat, wie
er ihm wohl nirgendwo sonst geboten worden wäre, alle erdenk-
lichen Privilegien, Ehrungen und Staatspreise, aber auch - die In-
quisition.
Schon die erste Aufführung von >Mutter Courage und ihre Kin-
der < (1939; Uraufführung 1941 in Zürich mit Leopold Lindtberg als
Regisseur, Therese Giehse als Courage, Wolfgang Langhoff und Karl
Paryla als ihre Söhne; Berliner Aufführung 1949 mit Brecht und
Engel als Regisseur, Weigel als Courage, Angelika Hurwicz als Kat-
trin, Paul Bildt und Werner Hinz als Koch und Feldprediger), der
ergreifenden Chronik aus den Wirren des Dreißigjährigen Krieges,
stieß in Parteikreisen auf Widerstand. Das Schicksal der Marketen-
derin, die da ruhelos und hoffnungslos ihren Karren über die graue,
kahle Drehscheibe zieht, eingespannt in den anonymen, undurch-
schaubaren Mechanismus des großen Krieges, und für nichts und
wieder nichts Kind um Kind verliert, bietet wohl das Bild einer na-
menlosen Klage der geworfenen Kreatur, kaum aber das jenes en-
thusiastischen Friedenskampfes, wie ihn die Parteilinie vorschreibt.
Zur Zeit der Aufführung hatte jedoch die sowjetische Besatzungs-
macht die Verhältnisse in ihrer Zone noch nicht so weit an die ihres
eigenen Landes angeglichen, daß ein administrativer Eingriff erfolgt
wäre.
Es entspann sich vorerst nur ein Streitgespräch zwischen dem
kommunistischen Tendenzdramatiker Friedrich Wolf und Brecht.
Wolf vertrat die Ansicht: ». müßte diese Mutter Courage (hi-
. .
storisch ist, was möglich ist), müßte sie, nachdem sie erkannt hat,
daß der Krieg sich nicht bezahlt macht, nachdem sie nicht bloß ihre
Habe, sondern auch ihre Kinder verlor, müßte sie am Schluß nicht
eine ganz andere sein wie am Anfang des Stückes ? Grade für unsere
heutigen deutschen Zuschauer, die sich bis 5 Minuten nach 12 stets
damit herausredeten: Was konnte man schon machen? Krieg ist
Krieg Befehl ist Befehl Man zieht den Karren weiter. - Aber es ist
! !
tig sagen, dargestellt, daß die Courage aus den sie betreffenden Kata-
strophen nichts lernt. Das Stück ist 1939 geschrieben, als der
Stückschreiber einen großen Krieg voraussah: er war nicht über-
zeugt, daß die Menschen >an und für sich< aus dem Unglück, das sie
seiner Ansicht nach betreffen mußte, etwas lernen würden. Lieber
Friedrich Wolf, gerade Sie werden bestätigen, daß der Stückschrei-
ber da Realist war. Wenn jedoch die Courage weiter nichts lernt -das
183
:
184
so eindrucksvoll seine künstlerische Gestaltung auch sein mochten,
für das sowjetzonale Kulturleben untragbar. Da nützte es wenig, daß
Brecht bei der Inszenierung das vor fünfzig Jahren spielende Ge-
schehen durch eingeblendete Filmstreifen von Stalin und Mao Tse-
tung aktualisierte und veredelte.
Auf dem 5. Plenum des Zentralkomitees der SED im März 1951,
jenem Konzil, das den Bannfluch gegen den Formalismus schleu-
derte, erklärte u. a. einer der damals höchsten Parteifunktionäre,
das Mitglied des Politbüros Fred Oelßner: »Kein Mensch wird be-
streiten, daß in dieser >Mutter< von Bert Brecht außerordentlich ge-
konnte, außerordentlich wirkungsvolle Szenen sind, die tatsächlich
die Massen packen. Aber ich frage Ist das wirklich Realismus ? Sind
:
daß man Brecht länger Zeit geben muß, als man, sagen wir, mir ge-
ben könnte. Brecht verbraucht augenblicklich sein altes Gepäck. Er
verbraucht es ein Stück nach dem anderen, weil er Zeit braucht, sich
wieder zurechtzufinden. Er braucht wirklich Zeit. Angenommen, er
hätte es gekonnt, dann hätte er wahrscheinlich schon ein Stück über
unsere Zeit geschrieben. Aber die wirkliche Kritik an Brecht wird
davon beinhaltet sein, wieviel Zeit vergeht, bis er dieses Stück schrei-
ben kann, und was das für ein Stück sein wird Das ist das Entschei-
!
dende. Aber etwas Zeit müssen wir Brecht geben. Wir dürfen nicht
aufhören, ihn zu kritisieren, aber so klug zu kritisieren, wie er selbst
klug ist.«
Die blutüberströmten Schatten Meyerholds und der Sinaida Reich
waren beschworen worden. Helene Weigel, im Unterschied zu
Brecht der Inquisitionsverhandlung beiwohnend, verteidigte sich als
Hauptdarstellerin des umstrittenen Stückes: »Ganz kann ich nicht
über mich schweigen. Es wurde über die >Mutter< gesprochen. Ich
muß sagen, daß die Mutter in dem Falle, der angeführt wurde, eben
nicht jammert. Sie wird angesprochen, etwas zu tun, weil die Partei
185
in ist, und sie tut es, obwohl sie krank ist. Das ist die Szene,
Gefahr
wovon der Genosse sprach. Wir sind auf Fehler aufmerksam ge-
macht worden, und diese Fehler haben wir anerkannt und versucht,
sie zu verbessern. Ich weiß nicht, ob die Genossen ein zweites Mal in
einer Aufführung der >Mutter< waren.«
Ein anderes Revolutionsstück von Brecht, >Die Tage der Com-
mune <, sollte 1951 aus Anlaß des achtzigsten Jahrestages der histori-
schen Pariser Arbeitererhebung uraufgeführt werden. Das Stück war
von Brecht 1948/49 in Zürich geschrieben worden, unmittelbar vor
der Übersiedlung in die Sowjetzone; es ist also sein letztes Werk aus
der westlichen Emigration und - da er später nichts Nennenswertes
mehr geschaffen hat - sein letztes wesentliches Bühnenwerk über-
haupt. Brecht stützt sich bei der Darstellung der historischen Ereig-
nisse treulich auf die Untersuchungen, die Marx und Lenin der Pa-
riser Commune gewidmet haben. Die Fehler und Schwächen des
damaligen Arbeiterregimes, die dessen raschen Untergang bewirkt
haben, werden in didaktischer Weise demonstriert. Es geht darum,
daß die Bank von Frankreich nicht beschlagnahmt wurde, daß es in
den revolutionären Reihen an Disziplin fehlte, daß der »rote Terror«
(der zur Erschie ßung des Erzbischofs von Paris führte) zu spät ein-
setzte und dergleichen mehr. Brecht sind einige eindrucksvolle
Szenen und Typen gelungen, doch bleibt die Handlung im Politi-
schen befangen, sie zerflattert in Episoden, Milieustudien und politi-
schen Exerzitien. Der Kritiker Herbert Ihering, sonst stets ein Vor-
kämpfer Brechts, schreibt: »Die >Tage der Commune < stellen eins der
ergreifendsten und zugleich lehrreichsten Kapitel der europäischen
Geschichte dar. Und doch bleibt die Wirkung hinter anderen Stük-
ken Brechts zurück. Denn die epische Fabel fehlt, die den Schau-
spieler und den Zuschauer zusammenführt.« Das Fehlen der Fabel
ist ein Charakteristikum dafür, daß der Autor nicht einen mensch-
lichen Konflikt, sondern ein soziologisches Schema in den Mittel-
punkt gestellt hat. Er ist vor der tiefgreifenden menschlichen Aus-
einandersetzung ins Doktrinäre ausgewichen. Dieser Zug, der bei
Brecht immer wirksam war, nur in der Emigration zurücktrat, kün-
digt jene psychische Verhärtung und Verkrampfung des Dichters an,
die dann bald nach der Niederschrift in der Kollaboration mit der
SED ihren politischen Ausdruck fand.
Trotz der konsequent kommunistischen Konzeption wurde die
Aufführung des Stücks von der Partei verboten. Brechts Praxis des
offenen Aussprechens, der nackten, ungeschminkten Wahrheits-
schilderung, die Tragik und Widerspruch der Commune sichtbar
werden ließ, paßte nicht in die des schönen Scheins so sehr bedürf-
tige stalinistische Epoche, die um das historische Ereignis längst
einen Mythos gehüllt hatte. Das Zentralkomitee der SED und die
Parteihochschule »Karl Marx« verurteilten >Die Tage der Commune <
als »objektivistisch« und »defätistisch«.
Die Oper >Das Verhör des Lukullus< (Musik: Paul Dessau) er-
186
: :
Alfred Hülgert), wenn last not least das Ansehen eines Mannes wie
Brecht nicht doch eine Teufelsmesse wert erschienen wäre. So kon-
zedierte man drei geschlossene Vorstellungen, für die man ein be-
sonderes Publikum, Parteiprominenz, Volkspolizei und Mitglieder
der kommunistischen Jugendorganisation »Freie Deutsche Jugend«,
aussuchte. Man hoffte, daß solche Zuschauer der gefährdeten Partei-
linie schon zum Siege verhelfen würden. Aber der erste Abend
brachte bereits den Eklat. Ein Teil der jungen Leute, die man mehr
nach politischen Gesichtspunkten als auf Grund ihres Musikinteres-
ses ausgewählt hatte, verkaufte die Karten zu Auktionspreisen an
Interessenten aus den Westsektoren. Die anderen, die der Vorstel-
lung beiwohnten und denen man natürlich nicht direkt gesagt hatte,
daß sie das Werk auspfeifen sollten, wurden von dem faszinierenden
Vorgang auf der Bühne und der einhelligen Begeisterung der an-
wesenden östlichen wie westlichen Intelligenz einfach mitgerissen.
Als der Vorhang sich senkte, brach nach einigen provokatorischen
Pfiffen ein demonstrativer Beifallssturm los, wie ihn das Haus wohl
noch nie erlebt hatte. Die Zuschauer sprangen auf die Sitze, klatsch-
ten und tobten, der Beifall nahm kein Ende. Derweil hatten jedoch
die Regierungsvertreter, vom Applaus aufgeschreckt, schleunigst
ihre Loge verlassen. Die weitere Aufführung wurde sofort verboten,
es kamen nicht einmal mehr die beiden anderen Exklusivvorstellun-
gen zustande.
187
:
der Tat war die Sowjetunion schon 1940 kein Schattengericht, son-
dern hatte die reale Macht, große Teile von Polen und Finnland so-
wie die baltischen Länder seiner irdischen Gerichtsbarkeit zu unter-
werfen.
Über die Musik, die Brecht selbst die bisher beste Leistung Paul
Dessaus nannte, äußerte das Parteiorgan an anderer Stelle: »Neh-
men wir als Beispiel den >Lukullus< und sehen uns einmal die Zu-
sammensetzung des Orchesters an. Da gibt es keine Geige. Dieses
edelste aller Instrumente, das in der Lage ist, herrliche Klangbilder
hervorzurufen, fehlt völlig. Es gibt keine Oboen und Klarinetten,
dafür aber ein mit Reißnägeln versehenes Klavier und vor allem neun
Schlagwerke, unter denen sich große und kleine Trommeln und
Metallplatten befinden, die mit Steinen bearbeitet werden. Diese
Tatsache könnte als eine bloße Äußerlichkeit erscheinen, aber in
Wirklichkeit ist sie der Ausdruck dafür, daß der Komponist Paul
Dessau die Rolle der Melodie und der Harmonie unterschätzt, ja so-
gar mißachtet, denn die Unterdrückung des Melodischen entspringt
einer bewußten Einstellung der Formalisten.«
Die sowjetzonale Regierung selbst diskutierte acht Stunden lang
mit den Autoren über deren Werk. Nach der Sitzung rühmte Brecht
mit der ihm eigenen Undurchsichtigkeit »Wo sonst in der Welt
:
gibt es eine Regierung, die so viel Interesse und Fürsorge für ihre
Künstler zeigt!«, und schrieb das Libretto um. Die Neufassung
>Die Verurteilung des Lukullus< unterscheidet sich von dem Origi-
nal durch zwei Einfügungen. Das Auftreten eines von Lukullus be-
siegten Königs, der zwar auch ein Ausbeuter war (»Das Silber, das
er fördern ließ, kam nicht ins Volk durch ihn«), aber »das Land zu
verteidigen aufrief«, nimmt jetzt ein Schöffe zum Anlaß, eine Ehrung
der Sowjetarmee einzuflechten
189
Jedenfalls fiel der Brechtsche >Urfaust< schon nach einigen Probe-
aufführungen der Parteiverdammung anheim, ehe noch die öffent-
liche Premiere stattfinden konnte. Das >Neue Deutschland < schrieb:
»Die Inszenierung durch das Berliner Ensemble war, in Abkehr
von den klassischen Traditionen, auf marionettenhafte Wirkung an-
gelegt, die keine tiefen menschlichen Gefühle auslösen konnte. Die
Regie griff die alte Fabel da auf, wo sie >ins Grelle und Formlose
geht<, machte sie noch greller und formloser. Das Bühnenbild war
darauf abgestellt, durch gewollte Primitivität ein symbolisches Ab-
bild der >deutschen Misere < zu schaffen . . Die Regie versuchte
.
nicht, >zwischen Spaß und Ernst durchzukommen <. Sie machte aus-
schließlich schlechten Spaß, der so weit ging, daß - am Vorabend
des 1. Mai - die betrunkenen Studenten in Auerbachs Keller, mit
Stuhlbeinen Takt schlagend, grölten: >Der Mai ist gekommen <. Eine
ähnliche Verhöhnung des deutschen Volksliedes war bisher auf un-
seren Bühnen nicht erlebt . .Legt den gewollten Primitivismus, die
.
ben sagen zu müssen, daß die jungen Mitarbeiter des Berliner En-
sembles, von denen viele sehr begabt sind ., durch methodische
. .
aus - aber de facto gegen das kulturelle Erbe, gegen die deutsche Na-
tionalkultur . .« - Brecht zog die Einstudierung sofort zurück, sein
.
Dessau, Bühnenbild: Karl von Appen). Die Fabel des Stücks: Eine
190
Magd rettet das Kind ihrer Herrschaft, das die leibliche Mutter im
Trubel politischer Unruhen hat liegenlassen, und zieht es unter Ge-
fahren und Entbehrungen groß. Nach Beruhigung der Verhältnisse
verlangt die Mutter ihr Kind zurück, weil sie es braucht, um eine
Erbschaft antreten zu können. Es wird die altchinesische Kreide-
kreisprobe zelebriert; das Kind wird zwischen die beiden Frauen in
einen Kreis gestellt, und es soll dem gehören, der es an sich zu ziehen
vermag. Nach der alten Version der Legende verzichtet die wirkliche
Mutter, weil sie ihr Kind nicht in Stücke reißen will, und erhält
daraufhin vom Richter, der ihren Standpunkt billigt, das Kind zu-
gesprochen. Brecht kehrt den Vorgang um Nicht die leibliche, son-
:
dern die Pflegemutter erweist sich als mütterlicher und erwirbt da-
durch das Kind.
Aus der Divergenz von Absicht und Wirkung dieses Stücks wird
die dialektisch widersprüchliche Stellung des Brechtschen Theaters
recht deutlich: Brecht wollte nachweisen, daß das Muttertum »an-
statt biologisch nunmehr sozial bestimmt« wird. Nicht die Ver-
wandtschaft sei maßgebend, sondern die Produktivität, die Arbeit,
die einer für etwas aufwendet. Um diesen Gesichtspunkt herauszuar-
beiten, wandte er eine Reihe von Kniffen seiner Epischen Methode
an. Beispielsweise ließ er die Ausbeuter, also auch die leibliche Mut-
ter, nur in Masken auftreten, damit kein Mitgefühl aufkommen
könne. Er setzte zur Kommentierung während der ganzen Handlung
einen begleitenden Sänger ein. Und er schrieb ein besonderes Vor-
spiel: Die Bauern zweier sowjetischer Kolchosen streiten sich um
den Besitz eines Tales. Die einen sind zwar da zu Hause, die anderen
aber in der Lage, es besser zu bewirtschaften - so bekommen sie es
zugesprochen. Moral des ganzen Werkes soll sein »Die Kinder den
:
Mütterlichen, damit sie gedeihen, und das Tal den Bewässerern, da-
mit es Frucht bringt.« Brechts Auffassungen sind konsequent bol-
schewistisch Man braucht gar nicht einmal - in Parallele zum Vor-
:
191
:
192
<
Diese Gepflogenheit
müßte bei der Art unserer Zeitungen
zu großen Ersparnissen an Papier führen, wenn
das Amt für Literatur für eine Idee unserer Zeitungen
immer nur ein Buch zuließe. Leider
läßt es so ziemlich alle Bücher in Druck gehen, die eine Idee
der Zeitungen verarzten.
So daß
für die Werke manchen Meisters
dann das Papier fehlt.«
*93
Das oratorische Werk (Musik Paul Dessau) geht auf den Vorfall
:
194
! !
»Aus dem Kessel von Herrnburg gingen alle anders weg, als sie
gekommen waren«, verkündet schließlich ein Sprecher. (Das Spiel
istin der Art der Lehrstücke mit Kommentierungsapparat und Film-
einlagen ausgestattet.) Danach wird gesungen:
Bertolt Brecht starb am 14. August 1956. Als die aus hohen Wür-
denträgern des Regimes gebildete »Beisetzungskommission« sich
anschickte, das übliche pompöse Staatsbegräbnis auszurichten, fand
sie einen Brief des Dichters vor »Im Falle meines Todes möchte ich
:
196
um man bei den Aufführungen kein schöpferisches Feuer spüre,
keine Begeisterung und keinen Schwung. Und er sprach offen aus,
daß an dieser Misere des Sowjettheaters die Herrschaft des Stani-
slawski-Systems schuld sei, »wie es von seinen Schülern Toporkow
und Kedrow auf ihre Art interpretiert wurde«. Der Regisseur Wa-
leri Bebutow, Meyerhold-Schüler, rief aus »Es wird Zeit, daß wir
:
uns die schlichte Wahrheit zu eigen machen, daß nicht der Schau-
spieler für das > System <, sondern das > System < für den Schauspieler
da ist. Es ist Zeit zu begreifen, daß das System Stanislawskis keines-
wegs der einzige Schlüssel zu den dramatischen Schöpfungen aller
Zeiten ist . Und schließlich wird es Zeit, daß man aufhört, die
. .
*97
Moskauer Bühne, >Die Gesichte der Simone Machard <; 1961 folgte
im Majakowski-Theater ein Hauptwerk des Dichters, >Mutter Cou-
rage <.
Der Gedankengang, der die sowjetische Führung zur Wiederbele-
bung der Revolutionskunst bewog, schien einleuchtend. Man war
sich darüber klargeworden, daß Stalin und Shdanow mit ihrer eng-
stirnigen Kulturpolitik die in den zwanziger Jahren blühende So-
wjetkunst zerstört haben. Dem kulturellen Leben in der Sowjetunion
wie dem internationalen Ansehen des Bolschewismus wurde dadurch
unermeßlicher Schaden zugefügt. Wenn man nun die kleinlichen
Schikanen und ständigen Eingriffe in den schöpferischen Prozeß der
Künstler unterläßt - so ging die Überlegung -, müßte man doch die
große Kunst der sowjetischen Frühzeit wiedererwecken können.
Sollen die Schriftsteller und Künstler ruhig experimentieren und for-
malen Extravaganzen nachgehen, sollen sie ruhig Kritik an einzel-
nen Mißständen der Sowjetgesellschaft, an »Überresten des Kapi-
talismus« und »bürokratischen Auswüchsen« üben - wenn sie nur zu
Ruhm und Ehre des kommunistischen Regimes schaffen. Mit dem
Zugeständnis formaler Freizügigkeit und thematischer Bereicherung
kam die sowjetische Führung zugleich den Ansprüchen der inzwi-
schen herangewachsenen neuen Oberschicht entgegen, der Sowjet-
bourgeoisie von Managern, Technikern und Offizieren, die das as-
ketische Ideal der Berufsrevolutionäre und Apparatschiki weit hinter
sich gelassen haben.
Es erwies sich jedoch sehr bald, daß das Revolutionstheater nicht
zu restaurieren ist. Die Kunst jener Epoche bezog ihre Überzeu-
gungskraft und Ausdrucksgewalt aus dem Pathos der damals noch
ungebrochenen revolutionären Illusionen. Sie stellte die Qualen und
Widersprüche der Zeit mit schonungsloser und unerbittlicher Auf-
richtigkeit dar und legitimierte sie aus dem inbrünstigen Glauben an
das Herannahen einer besseren Weltordnung. Stalin und Shdanow
haben diese Kunst nicht aus Mutwillen oder bloßem Banausentum
zerstört. Sie spürten mit mehr Instinkt als Verstand, daß sich die re-
volutionäre Aussage in dem Augenblick gegen den Bolschewismus
selbst richten mußte, als sich dessen Menschheitsbefreiungsträume
zur Prosa der Sowjetgesellschaft materialisierten. Und alles das, was
die revolutionäre Kunst der zwanziger Jahre für den Stalinismus un-
annehmbar machte: ihre Wahrheitsliebe, ihre Anprangerung allen
Übels, wo immer es auftritt, und ihr leidenschaftlicher Wille zur Ver-
änderung der Welt, trennt sie auch vom nachstalinistischen Sowjet-
system. Das Tauwetter der stürmischen Jahre 1953 bis 1957 hat ge-
zeigt, daß jede Kunstäußerung, die der Wahrheit die Ehre gibt, an
den Grundfesten der Parteiherrschaft rüttelt. So sah sich denn die
Partei gezwungen, die gesellschaftskritischen und avantgardistischen
Impulse zu dämpfen, einige besonders aggressive Stücke (Sorins
>Gäste<, Wirtas >Untergang des Pompejew<, Pogodins >Wir drei
fuhren ins Neuland <) zu verbieten und die Hegemonie des Stani-
198
slawski-Systems, diesen Felsen der Parteiideologie im Theaterleben,
wieder zu stabilisieren.
Aber selbst wenn die Partei eine freie Entwicklung des sowjeti-
schen Theaters gestattete, kämen die zwanziger Jahre nicht wieder. Das
Revolutionstheater ist eine historisch abgeschlossene, unwiederhol-
bare Epoche. Die sowjetischen Theaterkünstler bekannten sich zur
heroischenVergangenheit lediglich, um mit dem Stalinismus abzurech-
nen und die dogmatischen Schranken aufzubrechen. Im übrigen zeig-
ten sie wenig Lust, zur Ekstatik und dem politischen Pathos der zwan-
ziger Jahre zurückzukehren. Selbst für die Auflehnung gegen die Dik-
tatur waren die Mittel des alten Revolutionstheaters nicht zu gebrau-
chen, denn es handelte sich diesmal nicht um die Emanzipation einer
Idee, sondern um die Emanzipation des Menschen. Alle Tauwetter-
werke, in der Sowjetunion wie in den Volksdemokratien, waren kri-
tisch statt pathetisch, gestalteten das Individuum und nicht die Masse.
Die sowjetischen Theaterkünstler sind, wie G. Towstogonow ein-
mal sagte, »überzeugte Anhänger der Wahrheit, aber der Wahrheit,
die heute gilt«. Sie drängen, wie die Diskussionen und stilbildenden
Inszenierungen der letzten Jahre erkennen lassen, zum Spieltheater
Wachtangows, zum poetischen Realismus des späten Meyerhold und
zur buffonesken Gesellschaftskritik Majakowskis; damit eine Ent-
wicklung wiederaufnehmend, die das Sowjettheater bereits Ende der
zwanziger Jahre einschlug, die aber von der Diktatur brutal ab-
gebrochen wurde. Das Wort Ochlopkows, er erstrebe ein »demo-
kratisches Theater«, bekommt einen tiefen Sinn, wenn man bedenkt,
daß die spielerisch-komödiantischen, poetisch-musikalischen und
buffonesken Elemente, die Meyerhold, Tairow, Wachtangow und
Majakowski einst kreierten, heute die Bühnen der ganzen freien
Welt beherrschen. So mündet denn - zögernd, oft unbeholfen, mit
Rückschlägen und Restriktionen kämpfend - das sowjetische Thea-
ter wieder in die Bewegung des modernen Welttheaters ein. Der Be-
freiungsprozeß wird freilich erst vollendet sein, wenn die Partei ihre
politische Herrschaft über die Kunst aufgegeben hat.
In Polen, aber auch in Ungarn und der Tschechoslowakei ist die
Entwicklung schon weiter fortgeschritten, der Anschluß an das mo-
derne Welttheater in vieler Hinsicht schon gefunden. In der sowje-
tisch besetzten Zone Deutschlands, der sogenannten DDR, herr-
schen nach wie vor die alten stalinistischen Zustände. Allein 1957 bis
1959 wurden 22 Intendanten abgelöst, weil sie im Tauwetter opposi-
tionellen Tendenzen Raum gegeben hatten. 1963 mußte der Inten-
dant des Deutschen Theaters in Ostberlin, Wolfgang Langhoff, den
Abschied nehmen, weil er das linienwidrige Stück >Die Sorge und
die Macht < von Peter Hacks aufgeführt hatte. Von der Rehabilitie-
rung des Revolutionstheaters ist nichts als eine Wiederbelebung der
Agitprop-Gruppen geblieben, jener darstellerisch wie literarisch pri-
mitiven Laienspielscharen, von deren Holzhammer-Agitation sich
Meyerhold und Piscator schon vor dreißig Jahren distanzierten. So-
199
genannte Arbeiter- und Bauernensembles überschwemmen das
mitteldeutsche Kulturleben. Sogar die Reglementierung Brechts
wird fortgesetzt: >Die Tage der Commune <, 1951 verboten, wurden
1962 von dem letzten in Ostberlin verbliebenen Brecht-Schüler Wek-
werth so umgeschrieben, daß der Barrikadenbau 1871 in Paris auf
eine Rechtfertigung des Mauerbaus 1961 in Berlin hinauskommt.
Nachbemerkung
Diese Ausgabe geht auf das Buch >Das gefesselte Theater < (1957)
zurück. Sie enthält die beiden ersten, wesentlichen Teile des Origi-
nals die Darstellung des russischen und des deutschen Revolutions-
:
>Das Stanislawski-System und das Sowjet- > Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny<
theater < 59, 62 f. 171 f.
>Das Leben des Menschen< 50 >Das Verhör des Lukullus< 186 ff.
>Der große Plan< 153 >Mann ist Mann< 168 f., 176 f.
Becher, Lilly 197 >Mutter Courage und ihre Kinder < 183, 198
Bedny, Demjan, Dichter 76, 101 >Schweijk im Zweiten Weltkrieg < 144
Belinski, russ. Revolutionär 20 >Trommeln in der Nacht< 161 ff., 169
Benois, Maler 51, 55 Brod, Max, Schriftsteller 144
Berger, Henning, Schriftsteller Bronnen, Arnolt, Schriftsteller 164
>Sintflut< 90 >Die rheinischen Rebellen < 131 f.
202
1
203
1
>Nachtasyl< 7 ff., 13, 47 ff., 62, 90, 115, 137 f. Ibsen, Henrik 43, 50, 62
>Rjabinin und andere < 32 >Der Volksfeind < 42 ff.
204
Kommissarshewskaja, Vera, Schauspielerin Majakowski, Wladimir, Dichter 30, 56, 73, 125,
69 196 f., 199
Koonen, Alice, Schauspielerin 79, 82, 85 >Das Schwitzbad< ioo, 196
Koppenhöfer, Maria, Schauspielerin 138, 168 >Die Wanze < 100, 196
Korolenko, Wladimir, Schriftsteller 7, 12 >Mysterium Buffo< 73 f.
Kotublaj, Xenia, Regisseurin 115, 120 Malenkow, G. M., sowjet. Politiker 30
Kramskoj, Maler 46 Mamontow, russ. Fabrikant 40
Krauß, Werner, Schauspieler 129 Mann, Heinrich, Schriftsteller 139
Kühl, Kate, Schauspielerin 170 Mao Tse-tung 166, 185
Kulisch, Mikola, Schriftsteller 103 Mardshanow, Theaterleiter 80, 82
>Sonata pathetique< 101 Martin, Karl Heinz, Regisseur 127, 139, 147
Kurbas, Les, Regisseur 103 Martinson, Schauspieler 76
Marx 20, 24, 186
Lampel, Peter Martin, Schriftsteller Mehring, Walter, Schriftsteller 147
>Giftgas< 154 >Der Kaufmann von Berlin < 146
>Revolte im Erziehungshaus < 154 Meisel, Edmund, Komponist 136, 141
Langhoff, Wolfgang, Schauspieler und Inten- Meyerhold, Wsewolod, Regisseur und Inten-
dant 97, 183, 199 dant 46, 51, 55, 65, 68-79, 8or"-, 8 5 *"•» 88 ,
Lania, Leo, Schriftsteller 142, 144 90» 92, 94, 97, 100 f., 103 fr., 113 f., 127,
>Konjunktur< 145 f. 132 f., 141, 149 f., 156 f., 185, 192, 196 f.,
205
1
206
>Othello< 43 Tolstoj, Graf Leo 7, 11, 14 ff., 19, 22, 45, 89,
207
Weisenborn, Günther, Schriftsteller 155 >Optimistische Tragödie < 83, 95
Wekwerth, Regisseur 200 Wittfogel, Karl, Schriftsteller
Welk, Ehm, Schriftsteller 140 >Die Krüppel < 132
>Gewitter über Gottland < 138, 140, 149, 152 Wolf, Friedrich, Schriftsteller 150, 183
Werfel, Franz >Die Jungens von Mons< 153
>Die Troerinnen < ij >Tai Yang erwacht < 148 f.
Verlag
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und
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haben die Welt nicht aufgeteilt. Sie -wer-
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