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Antwort: „The new cult of madness, the far-out wing of Dionysus, has
passed its judgment on reason more harshly than Nietzsche could have
foreseen; but the time is coming when judgment must be passed on the
Dionysiacs themselves."4
Wieder drei Jahre später hat Dionysos audi seinen Einzug in den re-
ligiösen Bereich des amerikanischen Universitäts-Campus gehalten. In einem
Aufsatz der Zeitschrift „The Chronicle of Higher Education" vom 10.
März 1975 heißt es: „Since 1960, both "religion and interpersonal relations
on campus have gone Dionysian ... The boundaries — the whole notion
of boundary is of course an Apollonian rather than a Dionysian concept,
äs Nietzsche taught us — between academic investigation, personal therapy,
and religious experience have not been erased, but they have been con-
siderably blurred."5 In der Tat gehen die Grenzen zwischen wissenschaftli-
cher Untersuchung, psychologischer Anwendung und religiöser Hingabe an
das Dionysische ineinander über. Hinsichtlich der religiösen Erfahrung
konnte man z.B. schon acht Jahre vorher im Bulletin des University
Catholic Center von Madispn, Wisconsin, zum zweiten Sonntag nach
Epiphanie das Weinwunder bei der Hochzeit zu Kana und das Sakrament
der Eudharistie mit den dionysischen Mysterien verbunden sehen. Wenig
später wird die seelentherapeutische Wirkung der von dem Psychiater
Timothy Leary in religiösen Feiern zelebrierten Droge LSD ausdrücklich
zu Nietzsches Dionysischem in Beziehung gesetzt6. Nicht zuletzt gipfelt
die neueste akademische, wenn auch völlig unkritische Untersuchung des
dionysischen Phänomens in der Feststellung: „This Nietzsdiean view is of
particular importance to our own age of anxiety precisely because ... it
achieves an affirmation of life by first recogriizing its nihilistic foun-
dation."7
4
Melvin Maddocks: The New Cult of Madness: Thinking äs a Bad Habit, in: Time
Magazine, vom 13. März 1972, S. 51—52.
5
Allen Lacy: From repp-tie piety to Dionysian religious options, in: The Chronicle of
Higher Education 10, Nr. 3, vom 10. März 1975, S. 15—16.
6
Vgl. Theodore Lidz und Albert Rothenberg: Psychedelismus: Die Wiedergeburt des
Dionysos, in: Psydie. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, hrsg. von
Alexander Mitscherlich, Jg. 24, Stuttgart 1970, S. 359—374. (Englische Fassung in:
Psydiiatry: Journal for the Study of Interpersonal Processes 31, vom 2. Mai 1968,
S. 116—125.)
7
Rose Pfeffer: Nietzsdie: Disciple of Dionysus. Lewisburg, Pennsylvania 1972, S. 36,
270—271. Die Autorin übernimmt ohne jede Prüfung Nietzsches Konzept des Diony-
sischen zur Interpretation seines gesamten Werkes unter dem besonderen Aspekt des
Tragischen. Sie setzt das Dionysische mit dem Faustischen in Goethes Werk gleich und
leitet es, ganz im Sinn Nietzsches, aus der griechischen Tragödie ab. Sie übersieht
sowohl E. R. Dodds wissenschaftlich fundierte Zurückweisung der Antithese „apolli^
nisch-dionysisch" in dessen Werk: The Greeks and the Irrational. Berkeley und Los
Angeles 1951, S. 68—69, als auch den eindeutigen Nachweis Martin Vogels (Apollinisch
Das moderne Phänomen des Dionysischen u. seine „Entdeckung* durch Nietzsche 125
und Dionysisch: Geschichte eines genialen Irrtums. Studien zur Musikgcsdiidite des
19. Jahrhunderts. Forschungsunternehmen der Fritz Thyssen Stiftung 6. Regensburg
1966)» daß Niemdbcs Dionysos und sein antithetisches Konzept „apoilinisdi~dtony~
sisch* vollkommen ungricchbdh sind.
* Toza Wolfe laßt 1963 in seinem Pop-Atito~Budi: The Kandy-Kolored Tangerine-
Flake Streamline Baby (deutsche Ausgabe rororo 1094—1095- Reinbek 1968, S. 78—
97) die amerikanischen Teenager anstatt des apollinischen Mondrian~Autotyps den
schwingenden, phaliischea dionysischen Stromlinientyp vorziehen. 1973 erklärt David
Liniejohn in der Fernsehsendung »Cntic at Large*, die Popmusik der Beatles sei
apoHmUdi und die der Helling Stones dionysisch; während ein Sprecher auf der
„National Honors Conference* <i*r Universität von Mkhigan in Ann Arbor das poli»
m&e Establishment der xedmger Jahre als apollinisch und ihre revolutionäre Gegen*
bcwcgung als dionysisch bezeichnet.
f
Norman O. Brown r Life Agairat Dcäth: The Psychöarulytical Meaning of Hiitory.
MiddUtown, Connecticut 1959, S« 174—176, (DcutiAr Ausgabe: Zukunft im Zei-
dtien des Eros, Pfuüingcn 1962.)
126 Max L. Bacumer
17
Ludwig Pcsdb: Die romantische Rebellion so der modernen Literatur und Kunst.
München 1962, S. 84, 89.
** Gottfried Betin: Gesammelte Werke in vier Bänden, hrsg, von Dieter Wellershoff.
Wiestttdtfi 1958--196J* Bd- l, S, 415 und 413.
:
* VgL Reginc Blass: Die Didhtutig Georg Trakls· Von der Trivklspradbe zum Kunst-
werk» {Mit einem £*kurt; Niemdie: D« Dionysische, das Apollinische und da*
Sokrausche.) Phüologisdie Studien xrad Quellen, hrsg. von Wolfgang Binder« Hugo
r
Moserund Karl Sudcroann, Heft 43, Berlin 1968, S. 153.
* VgL Anm. 7.
130 MaxL, Baeumer
eine wichtige Rolle für die revolutionäre Form des modernen Dionysischen.
Pentheus, der König von Theben, verkörpert das morsche und reaktionäre
Regime, das staatliche System der Unterdrückung mit Waffengewalt und
Gefängnis. Dionysos, der Gott der Befreiung in Hippielocken, mit Drogen
und Rausch, reißt mit seinem entfesselten Gefolge jede Ordnung nieder.
Der antiautoritären, amerikanischen Nacktspiel-Version der „Bakchen"
von 1969 geht eine deutsche Version von 1966 voraus, die von Hans Werner
Henze für die Salzburger Festspiele komponierte Oper „Die Bassariden"
mit einem Libretto von William Hugh Auden und ehester Kallman. Kriti-
ker heben die satirisch scharfe „Sozialkritik" in der „sinnlich lasziven
Atmosphäre" hervor und klassifizieren die Oper als eine Darstellung dio-
nysischen „Massenwahns", mit der Einschränkung, daß „Nietzsches Gegen-
satzpaar apollinisch-dionysisch hier oftmals [in sich] ins Gegenteil verkehrt"
ist21. Auch für die krassen Auswüchse völlig enthemmter und obszöner
Verwendungen dionysischer Dramatik und des Dionysischen überhaupt
muß Nietzsche herhalten. Hermann Nitsch charakterisiert in seinem Auf-
satz „Drama als Existenzfest" das Dionysische seines Aktionstheaters als
eine „katharsis-therapie". „Die aktionen mit rohem fleisch, feuchten leib-
warmen gedärmen, blutigem kot, schlachtwarmem blut, lauem wasser usw.
bewirken regressionen ... Die dionysische Zerreißungssituation zeigt sich.
Das dramatische wühlt sich in die freude an der grausamkeit ... Nietzsche
sagt, die Griechen seien so stark und gesund und voller lebensfreude ge-
wesen, daß sie sich an grausamkeit berauschen konnten. Und ich glaube, daß
der moderne mensch diese eindrücke braucht."22 Ein Jahr zuvor interpretiert
der Germanist Peter Horwarth das Dionysische im dichterischen Werk von
Anastasius Grün, Grillparzer und Lenau unter dem Titel „Sex im Vor-
märz" als „Sinnenfreudigkeit", „Fäkalien", „Neurosen" und „Kompensa-
tion ... gegen den apollinischen Kult des Christentums". „Der Phallos, nicht
Christus führt in die Ewigkeit."23
Sex und Revolutionsrausch vereint machen das Wesen des Dionysi-
schen in Karl Bednariks Buch „Die unheimlidiejugend" über die moderne
Beat-Kultur aus. Der zweite Teil seines Buches, „Die dionysische Revolte:",
beginnt mit dem Titel „Nietzsche kontra Marx" und schließt mit den Ka-
piteln „Kulturrevolution aus dem Geiste der Musik", „Dionysische Moral,
Sexualisierung und Remythologisierung", „Dionysos ohne Apollon". Diese
21
Heinz Joachim: Die Grenzen der musikalischen Ironie,.in: Die Welt. Nr. 182, vom
8. August 1966, S. 5. Heinz Josef Herbort: Dionysisches in epischer Breite, in: Die
Zeit. Nr. 33, vom 16. August 1966, S. 12.
2?
Hermann Nitsch: Drama als Existenzfest, in: März Texte 1. Darmstadt 1969, S. 172,
179—180. ' ' · '
23
Peter Horwarth: Sex im Vormärz, in: Neues Forum 15. Heft 179—180. 1968,
S. 775—779.
Das moderne Phänomen des Dionysischen u. seine „Entdeckung" durch Nietzsdie 131
26
Vgl. Benjamin Henrichs: Reise in die Mysterien, in: Die Zeit. Nn 8, vom 22.
Februar 1974, S. 7—8. Georg Hensel: Das neue ästhetische. Reizklima. Beobachtungen
in der Spielzeit 1973—74, in: Jahresring 74—75. Literatur, und Kunst der Gegenwart.
Jg. 21, S. 256—257. Inter Nationes: Das „Antikenprojekt* der Berliner Schaubühne,
in: Kulturbrief 4. Jg. 4, April 1974, S. 7.
Das moderne Phänomen des Dionysischen u. seine „Entdeckung" durdi Nietzsche 133
„Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" ist dasjenige
Werk Nietzsches, aus dem die modernen Autoren ihre Kenntnis des Dio-
nysischen und Apollinischen abgelesen haben. In Nietzsches späterem Werk,
und besonders im zweiten Abschnitt seiner Selbstkritik an der „Geburt der
Tragödie0 im „Ecce homoa von 1888 spielt nur das Dionysische, und das
Apollinische kaum mehr eine Rolle* Hier stellt Nietzsche jene Behauptung
auf, er habe »das wundervolle Phänomen des Dionysischen als der erste
begriffen* und »entdeckt" (SA II, 1109)· In der Götzen-Dämmerung (Was
ich den Alten verdanke, 4) sagt er von sich selbst: „Ich war der erste, der
— jenes wundervolle Phänomen ernst nahm, das den Namen des Dionysos
trägt* (SA II, 1030). Wie er seine »Götzen-Dämmerung" mit der Bemer-
kung beschließt: „Ich, der letzte Jünger des Philosophen Dionysos" (S.
1032), so brüstet er sich im dritten Abschnitt seiner Kritik an der „Geburt
der Tragödie** in „Ecce homo": „Vor mir gibt es diese Umsetzung des dio-
nysischen in ein philosophisches Pathos nicht* (SA II, 1111). Nietzsches
Behauptungen, daß er das Dionysische »als der erste begriffen**, „entdeckt"
und „ernst genommen* und daß er »dessen erste Psychologie* gegeben ha-
be27, sind jedoch bewußte rhetorische Übertreibungen. Nur den behaupteten
Primat der „Urnsetzung* des Dionysischen in ein »philosophisches Pathos**,
in ein rhetorisdies Klisdbee kann man Nietzsche zugestehen. Diese Leistung
hat er zwar so glänzend und effektiv vollbracht, daß heute nur mehr we-
nige etwas von der Vorgesdbichte des Dionysischen im 19. Jahrhundert und
von der machtvollen Epiphanie des Dionysos in der frühen deutschen Ro-
mantik wissen*.
21
EHt über „Die Geburt der Tragödie*, l. AbsAnia^ SA , 09.
** Eia ausfuhrlkhercr Nachweis des Dioijyibcfcen in der deutschen romantischen Dich-
tung und ein kürzerer überblick über das Dionysi$<iie in der Philosophie, Mythologie
134 Max L. Baeuraer
Unmittelbar vor seinem zitierten Ausspruch, daß er als erster das wun-
dervolle Phänomen des Dionysischen ernst genommen habe, wirft Nietz-
sche Winckelmann und Goethe vor, sie hätten die Griechen nicht verstan-
den, da beiden jenes Element unverträglich gewesen sei, „aus dem die
dionysische Kunst wächst", nämlich der „Orgiasmus" und die dionysischen
„Mysterien der Geschlechtlichkeit" (SA II, 1031). In den Griechen „schöne
Seelen", „Ruhe in der Größe" und „die hohe Einfalt auszuwittern", vor
dieser „niaiserie allemande" habe ihn der Psychologe bewahrt, den er in sich
trage (3. Abschnitt, SA II, 1029), eifert Nietzsche gegen Winckelmann und
die Klassiker und fährt fort: „Denn erst in den dionysischen Mysterien, in
der Psychologie des dionysischen Zustands spricht sich die Grundtatsacbe
des hellenischen Instinkts aus — sein ,Wille zum Leben'" (SA II, 1031).
In Wirklichkeit aber hat Winckelmann 1755 seine klassische Maxime
„edle Einfalt und stille Größe", was die meisten übersehen, gerade im Ge-
gensatz zum Dionysischen formuliert, im Gegensatz, wie er es nennt, zum
„Parenthyrsus" der „heftigen Leidenschaften", die „gar zu feurig und wild"
sind29. In seiner „Geschichte der Kunst des Alterthums" von 1764 stellt
Winckelmann zwei höchste Idealtypen von griechischer Schönheit auf: „In
dieser Betrachtung der idealischen Schönheit haben sich die alten Künstler,
wie in der Bildung des Gesichts, also auch in dem jugendlichen Gewächse
einiger Gottheiten als des Apollo und des Bacchus bis zum Ideal erhoben."30
Apollo ist für Winckelmann „der höchste Begriff Idealischer Männlicher Ju-
gend". Von Dionysos sagt er: „Die zwote Art Idealischer Jugend von ver-
schnittenen Naturen genommen, ist mit der Männlichen Jugend vermischt
im Bacchus gebildet ... in den schönsten Figuren allezeit mit feinen und
rundlichen Gliedern, und mit völligen und ausschweifenden Hüften des
Weiblichen Geschlechts." Er fährt fort: „Das Bild des Bacchus ist ein schö-
ner Knabe, welcher die Gränzen des Frühlings des Lebens und der Jüng-
lingschaft betritt, bey welchem die Regung der. Wollust wie die zarte
Spitze einer Pflanze zu keimen anfängt, und welcher wie zwischen Schlum-
und klassischen Philologie des 19. Jahrhunderts finden sidi in Max: L. Baeumer:
Nietzsche and the Tradition of the Dionysian, in: Studies in Nietzsche and the
Classical Tradition, hrsg. von James C. O'Flaherty, Timothy F. Selber und Robert
M. Helm. University of North Carolina Studies in the Germanic Languages and
Literatures 85. Chäpel Hill, North Carolina 1976, S. 165—189. Vgl. auch Ders.:
Die romantische Epiphanie des Dionysos, in: Monatshefte 57, 1965, S. 225—236; so-
wie Joachim Rosteutscher: Die Wiederkunft des Dionysos. Der naturmythische Irratio-
nalismus in Deutschland. Bern 1947.
29
Johann Joachim Winckelmann: Gedancken über die Nachahmung der griechischen
Werke, in: Sämtliche Werke, hrsg. von Joseph Eiselein. Donaueschingen 1825, Bd. l,
S. 33.
80
Ders.: Geschichte der Kunst des Alterthums. Facsimile-Neudruck. Baden-Baden und
Strasbourg 1966, S. 35.
Das moderne Phänomen des Dionysischen u. seine „Entdeckung" durch Nietzsche 135
mer und Wachen, in einem entzückenden Traume halb versenkt, die Bilder
desselben zu sammeln, und sich wahr zu machen anfängt, seine Züge sind
voller Süßigkeit (S. 158 - 161)/c Winckelmann sieht Dionysos als einen
träumerisch-weiblichen „schönen Jüngling* und als Ideal gleich- und ge-
misdbt-gesdilechtlidier Schönheit. Aus einer offensichtlich homoerotischen
Einstellung ist \Vinckelmann der erste, noch vor Sdielling oder Nietzsche,
der eine psychologisch-ästhetische Bestimmung des Apollinischen und Dio-
nysischen ausdrückt und der das Gegensatzpaar Apollo-Dionysos in die
Kunstbetrachtung einführte31.
Wenn Nietzsche eine neue Kunst aus den dionysischen „Mysterien der
GesAlechtlichkeit" fordert, so ist ihm hierin Johann Georg Hamann als er-
ster vorausgegangen. Seine „Aesthetica in nuce* gipfeln in der Forderung
an die Autoren und Schriftsteller der Zeit: „Wagt euch nicht in die Meta-
physick der schonen Künste, ohne in den Orgien und Eleusinischen Ge-
heimnissen vollendet zu seyn. Die Sinne aber sind Ceres, und Bacchus die
Leidenschaften; — alte Pflegeeitern der schönen Natur."32
Ein direkter Einfluß Hamanns zeigt sich bei seinem Freund und
Schüler Johann Gottfried Herder. Für ihn wird Dionysos der Inbegriff
einer neuen, ekstatischen Dithyramben- und Nationaldiditung: „trunkene
Gesänge einer heiligen Religions- und Staatsbegeisterung ... aus dem In-
nern unsrer Religion, und Nation, die selbst den Altar des Bacchus ver-
schmähen *3S. Von dem angeblichen Rauschzustand, in dem die ersten grie-
chischen Dichter ihre Dithyramben geschaffen hätten, sagt Herder: „Ihr
Gesang war voll der thierischsinnlidien Sprache des Weins, und der Wein
erhob sich wieder zu einer gewissen Mystischsinnlichen Sprache der Götter
(I, 310)." Das Wesen dieser Dichtung ist für ihn „jene Ausbreitung der
Seele, die im Parenthyrsus der Trunkenheit und der Besdiauung himm-
lischer Dinge" besteht (S. 311).
Herder gibt hier die erste äffektpsychologische Motivierung der Dich-
tung in der deutschen Literaturtheorie. Er leitet dionysische Dichtung, wie
Hamann, aus dem Rasen wilder Tänze ab (I, 310) und bezeichnet sie als
Affekte aus dem Abgrund der Seele (II, 180). Für Nietzsche ist „im dio-
nysischen Zustande", wie er sagt, „das gesamte Affekt-System erregt und
gesteigert: so daß c$ alle seine Mittel des Ausdrucks mit einem Male entla-
det und die Kraft des Darstellern, — Verwandeins, alle Art Mimik und
31
VgL Max L* Bacumer: Winckelmanra Formulierung der klassischen Schönheit, in:
Monauhefte 65,1973, S. 61—75.
Johann Georg Hirn in n: Sämtlich* Werke, hrig. von Josef Nadlet, Wien 1949—1957,
Bd. 2, S. 20h
** Herders Sämtliche Werke* hrsg. von Bernhard Suphan. Berlin 1877—1913, Bd. l,
S. ISO.
136 Max L. Bacumcr
34
GD, Streifzüge eines Unzeitgemäßen, Abschnitt 10, SA II, 996.
85
Eine zusammenhängende Untersuchung des Dionysischen in der Romantik oder in
der Literatur überhaupt gibt es nicht. Joachim Rosteutsdier (vgl. Anm. 28) gibt eine
tiefenpsychologische Analysis möglicher dionysischer Einstellungen bei Hölderlin,
Novalis, Schopenhauer, Bachofen, Wagner, Nietzsche, George, Rilke u. a. — Louis
Wiesmann: Das Dionysische bei Hölderlin und in der deutschen Romantik. Basel 1948j
untersucht den dionysischen Charakter einiger Bilder und der Sprache im „Hyperion".
Vereinzelte Hinweise finden sich bei Walther Rehm: Griechentum und Goethezeit.
Geschichte eines Glaubens. Leipzig 1936, und bei Richard Benz: Die deutsche Roman-
tik. Geschichte einer geistigen Bewegung. Stuttgart 1937. Momme Mommsen: Diony-
sos in der Dichtung Hölderlins mit besonderer Berücksichtigung der „Friedensfeier",
in: Germanisch-Romanische Monatsschrift. N. F. 13. 1963, S. 345—379, will vor
allem Dionysos als „Fürsten des Fests" in diesem Gedicht nachweisen. Genauere Hin-
weise bei Max L. Baeumer: Die zeitgeschichtliche Funktion des dionysischen Topos in
der romantischen Dichtung", in: Gestaltungsgeschichte und Gesellschaftsgeschichte.
Literatur-, Kunst- und Musikwissenschaftliche Studien. In Zusammenarbeit mit Kate
Hamburger hrsg. von Helmut Kreuzer. Stuttgart 1969, S. 265—283.
86
Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe, hrsg. von Friedrich
Beißner. Stuttgart 1943—1961, Bd. l, S. 261.
Das moderne Phänomen des Dionysischen u. seine „Entdeckung* durch Nietzsdie 137
S7
VgJ. Max L. Bacömcn Dionysos und dai Diony$isAc bei HöWerlin, in: HöIderJin-
JabrbaA 1973—1974. B<L 18t S. 97—US.
* Vgl Kiirmdi« Brief vom 19. Oktober 1861, BAB II, l» 18—50, SA III, 95—98;
ÜB, DS 2, SA !!> 148.
** EH, Warum kb so klug bin 4, SA II, 1089.
138 Max L. Baeumer
40
Robert Hamerling: Ahasverus in Rom. Eine Dichtung in sechs Gesängen. Hamburg
und Leipzig 1866, S. 49.
41
ÜB, WB, SA I, 428; JGB 269, SA II, 743, sowie NW, Der Psycholog nimmt das
Wort 2, SA II, 1057.
Das moderne Phänomen des Dionysischen u. seine »Entdeckung* durch Nietzsche 139
ling gehölte, schätzte Nietzsche besonders hoch und erachtete sie seiner selbst
ebenbürtig. Mit der sensationellen und halb- oder pseudowissenschaftlichen
Literatur seiner Zeit war Nietzsche auffallend gut vertraut. Wir können
daher annehmen, daß er nicht nur Winckelmann, Hamann, Herder, Hölder-
lin und Heine, sondern auch das dionysische und erfolgreichste Werk seines
Zeitgenossen Hamerling kannte, um so mehr, als es Nietzsches Gepflogen-
heit war, solche literarischen Beziehungen und Quellen bewußt zu versdiwei-
gen.
44
Friedrich Sdüegel. 1794—1802. Seine prosaischen Jugendschriften, hrsg. von Jakob
Minor. 2 Bde. Wien 1882. Bd. l, S. 140.
45
Gotthilf Heinrich Schubert: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft. Fak-
simile-Neudruck. Darmstadt 1967, S. 77.
46
Studien, hrsg. von Carl Daub und Friedrich Creuzer. Frankfurt und Heidelberg 1806,
Bd. 2, S. 312.
Das moderne Phänomen des Dionysischen u. seine „Entdeckung" durch Nietzsche 141
asiatischen und babylonischen Mythen (GT l, SA I, 24) und befaßt sich mit
angeblichen Unterschieden und Zusammenhängen der „dionysischen Grie-
chen" und „dionysischen Barbaren ... von Rom bis Babylon" (GT 2, SA
I, 26 - 27). Nicht zuletzt hat Creuzer auch schon Nietzsches dionysisdbe
Auflösung des Individuationsprinzip vorweggenommen, wenn er die Indi-
viduation als das trügerische und zerstörte Bild der göttlichen Einheit des
Dionysos bezeichnet (IV, 118). Mit keinem Wort erwähnt Nietzsche Creu-
zer und seine „Symbolik und Mythologie". Aber diesen besagten dritten
Band über Dionysos, in dem Creuzer als erster eingehend den Gegensatz
von „apollinisch" und „dionysisch" und die Verbundenheit von Apollo und
Dionysos behandelt, hat Nietzsche am 18. Juni 1871, als er noch an der
„Geburt der Tragödie" arbeitete, aus der Bibliothek der Universität Basel
entliehen. Heute noch befindet sich ein Exemplar von Creuzers „Symbolik
und Mythologie" unter den persönlichen Büchern Nietzsches, die in Weimar
aufbewahrt werden48.
Der folgenreiche Anstoß, den Creuzer zur Nietzscheschen Auffassung
des Dionysos gegeben hat, ist unmittelbar abhängig von der Tradition des
Dionysischen in der romantischen Philosophie, d. h. im Werk Hegels und
Schellings. Creuzer stellt noch in der Vorrede zur dritten Auflage seiner
„Symbolik und Mythologie" von 1836 seine Übereinstimmung mit Hegel
und die Vorläuferschaft und Mitarbeit Schellings heraus. Schelling selbst
beruft sich in der Grundlegung seiner Philosophie des dreifachen Dionysos
ausdrücklich auf Creuzer. Hegel adressiert sein frühes Gedicht „Eleusis"
von 1796 in der Überschrift und im Inhalt „An Hölderlin", wenn er die
Mysterien der Ceres zum geheimen Bund der Tübinger Freunde und zu
ihren zeitpolitischen Anliegen in Verbindung setzt. Hölderlin, Hegel und
Schelling, die Freunde des Tübinger Theologenstifts, sind zugleich auch be-
sondere Jünger des Dionysos. In Hegels „Phänomenologie des Geistes"
von 1807 besitzt das selbstbewußte Leben des absoluten Geistes seine le-
bendige Einheit „im Mysterium des Brodes und Weines, der Ceres und des
Bacchus" auch noch im „Stammeln der bakchischen Raserei"49. Apollo, „das
vielnamige Lichtwesen", ist für Hegel auf der primitiven Stufe des tau-
melnden, bacchischen Lebens von Dionysos nicht getrennt.
Schelling entwickelt hauptsächlich in seiner „Philosophie der Mytholo-
gie" (1828 u. 1848) und in seiner dunklen „Philosophie der Offenbarung"
eine besondere „Dionysiologie", um seinen eigenen Fachausdruck zu ge-
brauchen, die sich über mehrere 100 Seiten erstreckt. Hier möge es genügen,
einige Hauptpunkte seiner Auffassung des Dionysischen hervorzuheben. In
48
VgL Charles Andler, Bd. 2, S. 235, Anm. 3. . · "
49
Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Phänomenologie des Geistes. Bd. 2 der Jubiläums-
ausgabe: Sämtliche Werke. 20 Bde. Stuttgart H927-1940, S. 552.
Das moderne Phänomen des Dionysischen u. seine „Entdeckung" durch Nietzsche 143
seiner Schrift »Die Weltalter* von 1813 erklärt Sdbelling Dionysos als
Symbol und Beispiel einer noch bewußtlosen Schöpfungskraft, die er, Plato
(„Phaidros", 48 Kap.) verfälschend, mit dem „göttlichen Wahnsinn" der
Alten gleichsetzt und von der er behauptet, daß ohne sie auch heute „keiner
etwas Großes vollbringe"50* In der Schrift von 1815, „Ueber die Gottheiten
von Saniothrake", versucht er unter Berufung auf Creuzer, aus etymologi-
schen Namensvergleichungen Dionysos als ein und dasselbe demiurgisdie
(weltschöpferisdie) und verwandelnde Prinzip in den verschiedensten Reli-
gionen nachzuweisen. In seiner erwähnten „Philosophie der Mythologie und
Offenbarung" entwickelt er seine These von der dreistufigen, dialektischen
Selbstidentifizierung des absoluten Geistes im vorchristlichen menschlichen
Bewußtsein, in den drei dionysischen Erscheinungsformen des wilden, au-
ßer-sich-selbst seienden Dionysos Zagreus, des sich verwandelnden und den
ungeistigen Zagreus überwindenden Dionysos Bakchos des Weines und der
Freude, zu dem dritten, sich vergeistigenden Dionysos Jakchos der Myste-
rien (II, 626 - 669).
In dem so mythologisierten Prozeß der Selbstidentifizierung des gött-
lichen Geistes im menschlichen Bewußtsein ist für Schelling zugleich die dia-
lektische Spannung und das Werden des schöpferischen Geistes im Menschen
eingeschlossen. Aus dieser Folgerung formuliert Schelling die erste eigent-
liche Definition des Dionysischen als schrankenlose, trunkene Sdiöpfungs-
kraft im dichterischen Genius, und des Apollinischen als besonnene, das
Dionysische negierende Formkraft: „Ja nicht einmal bloß in Gott, selbst im
Menschen, soweit ihm ein Strahl von Schöpfungskraft verliehen ist, finden
wir dasselbe Verhältniß, diesen selben Widerspruch, eine blinde, ihrer Na-
tur nach schrankenlose Produktionskraft, der eine besonnene, sie be-
schränkende und bildende, eigentlich also negirende Kraft in demselben
Subjekt entgegensteht* ... Nicht in verschiedenen Augenblicken, sondern in
demselben Augenblick zugleich trunken und nüchtern zu seyn, dieß ist das
Geheimniß der wahren Poesie. Dadurch unterscheidet sich die apollinische
Begeisterung von der bloß dionysischen (II, 26).*
Nietzsches spätere Definition des Dionysischen und Apollinischen als
gegensätzlich schöpferische Kunstkräfte, zu Beginn der „Geburt der Tra-
gödie", stimmt weitgehend mit der Schellings überein. Wenn Nietzsche die
in der relativ unbekannten „Philodophie der Offenbarung" vergrabene De-
finition Schell ings und seine obskure »Dkmysiologie* nidbt gekannt haben
sollte, so dürfte ihm zumindest dessen Auffassung von Dionysos als
Schöpfungskraft und weJuchöpferisches Prinzip aus den bekannteren
Schriften «Die Weltaltere und „Ueber die Gottheiten von Samothrakc*
** Fricdridh WilBelro Joseph von Schelling: SämmtHchc Werk*« Neudruck. Darmstadt
1966—1968; iikr Bd. 2: S&riftea voa 1813—1830, S, H3.
144 Max L. Baeumer
51
Otto Kein: Das Apollinische und Dionysische bei Nietzsche und Schelling. Berlin
1935, S. 14, 18, ist der Ansicht, daß Nietzsche Schellings Definition und Behandlung
des Dionysischen nicht kannte. Kein befaßt sich hauptsächlich mit Nietzsches Konzept
des Dionysischen und bringt nur nebenbei einige unzusammenhängende Bemerkungen
Sdiellings über Dionysos.
52
Johann Gottfried Jacob Hermann: Briefe über Homer und Hesiod. Heidelberg 1818.
Ders.: De mythologia Graecorum antiquissima. Leipzig und Heidelberg 1818. Ders.:
Ueber das Wesen und die Behandlung der Mythologie. Leipzig 1819. Johann Hein-
rich Voß: Antisymbolik. Stuttgart: 1824. Christoph August Lobeck: Aglaophamus,
seu de theologiae mysticae Graecorum causis. 2 Bde. Königsberg 1829. Vgl. auch
Goethes Brief (Nr. 7951) vom 16. Januar 1818 an Sulpiz Boisseree: ... „man hatte'nun
immerfort an den unseligen dionysischen Mysterien zu leiden"; seinen Brief (Nr. 263)
vom 25. August 1819 an Johann Heinrich Meyer über die „tristen ägyptisch-indischen
Nebelbilder" von Creuzers „Symbolik und Mythologie"; Goethes Tagebucheintragung
vom 10. März 1826: „Voß contra Creuzer im Hermes, 25. Band 2. Heft"; ebenso
das „lebhafte Gespräch über die Symboliker" mit Boisseree am 19. Mai 1826 (Eduard
Firmenich-Richartz: Sulpiz und Melchior Boisseree als Kunstsammler. Jena 1916,
S. 429); und die Stelle im Brief Goethes (Nr. 1332) an Reinhard vom 12. Mai 1826,
daß die Symboliker „im Grunde Antiklassiker" seien und in Kunst und Altertum
nichts Gutes gestiftet hätten (Goethes Briefe. Hamburger Ausgabe. Bd. 4, S. 189
und 584).
Das moderne Phänomen des Dionysischen u. seine „Entdeckung" durch Nietzsche 145
55
Vgl. Charles Andler, Bd. 2, S. 460.
56
Karl Otfried Müller: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau 31848 (11830),
S. 594.
57
Ders.: Die Dorier. 2 Bde. Breslau 1824, Bd. l, S. 300, 360, 341, 345, 346> 292.
58
Ders.: Geschichte der griediisdien Literatur bis auf das Zeitalter Alexanders. 2 Bde.
Breslau 1841, Bd. l, S. 482—487.
Das moderne Phänomen des Dionysischen u. seine „Entdeckung* durch Nietzsche 147
schichte der griechischen Literatur" hat Nietzsche mehrmals aus der Basler
Universitätsbibliothek entliehen, am 8. Januar und 26. April 1870 sowie
später im April 1 87559.
In seinem »Handbuch der Archäologie der Kunst <c von 1830 ist Müller
auch der erste, der das Adjektiv „dionysisch* durchgehend und bei weitem
häufiger als „bacchisdi" verwendet. Der früheste Nachweis für das Wort
„dionysisch** findet sich in Goethes Aufzeichnungen von 1808 zu seinem
Festspiel „Pandora": ^Dionysisch* Völliges Vergessen/* Nietzsche gebraucht
das Substantiv »das Dionysische* und erklärt es zu einem eigenständigen
antiken und modernen Phänomen. Die Substantivierung des Adjektivs hat
Julius L. Klein (vgL Anm. 64) sieben Jahre vor Nietzsche zum erstenmal
durchgeführt, als er, ebenfalls vor Nietzsche, den Begriff der dionysischen
griechischen Tragödie formulierte.
Zwei andere wichtige Handbüdier der griechischen Altertumskunde um
die Mitte des Jahrhunderts sind Ludwig Prellers „Griechische Mythologie"
in zwei Bänden (Berlin 1854 - 55) und Friedrich Gottlieb Welckers „Grie-
chische Götterlehre" in drei Bänden (Göttingen 1857-62). Prellers „Grie-
chische Mythologie** bildet, zusammen mit Erwin Rohdes „Psyche", die
Hauptgrundlage des Artikels über Dionysos von Otto Kern in der noch
heute gültigen „Real-Encyclopädie der Classischen Altertumswissenschaft"
Pauly-Wissowas von 1905» Welcker spricht bereits 1862 von der „Auf-
fassung des gesammten Dionysischen Wesens" und unterscheidet „zwei
Hauptrichtungen": erstens eine ästhetisch-festliche, „worin Dionysos sich
theils in einem neuen weiten Kreis von Künsten vergeistigt, theils als Pa-
tron eines heiteren und ausschweifenden Lebensgenusses dem Apollon ent-
gegengesetzt zeigt", und zweitens „das Chthonische" (das Unterirdische),
wie es besonders in den Mysterien hervortritt00. Mit der Herausstellung des
„Chthonisdhen" leistet Welcker, ebenso wie Preller, der dionysischen Auf-
fassung von Bachofen und Rohde Vorschub. An drei verschiedenen Stellen
behandelt er eingehend die für Nietzsche wichtige Gegensätzlichkeit von
Dionysos und Apollo und ebenso die „Annäherung und Verschmelzung
ihres Wesens mit einander* (S. 610). Wichtig ist, daß er hierbei, wie kurz
zuvor Sdielling im Bereich der Philosophie, jetzt auch in der Mythologie
61
GD, Was in den Alten verdanke 4, SA II, 1031.
82
Friedridi Wilhelm Ritschl: Olympus der Aulet, in: Opuscula philologica 1. 1832,
S. 258—270.
63
Vgl. Otto Ribbeck: Friedridi Wilhelm Ritschl. Ein Beitrag zur Geschichte der Philo-
logie. Bd. l, Leipzig 1879, S. 83, 301—304. '. , ' '
64
Karlfried Gründer: Apollinisch-dionysisch, in: Historisches Wörterbuch der Philoso-
phie, hrsg. von Joachim Ritter. Bd. 1: A—C Basel 1971, Sp. 441—445.
Das moderne Phänomen des Dionysischen u* seine „Entdeckung* durch Nietzsche 149
** Julius L. Klein: Gerichte de* Dramas, Bd* 1: Gebuchte de* gricdii&chcn und römi-
sdicn Dramas. Leipzig Ii865 (I1874)t S* 12—U*
150 Max L, Baeumer
und Mythologie" (IV, 119), formuliert das aus den orphischen Mysterien
stammende Motiv der ,Selbstbeschauung des Dionysosknaben in einem
Spiegel* zu „Dionysos im Weltspiegel" um und setzt es zur „dramatischen
Darstellung" als „Schauspiel der Natur" in Beziehung (S. 54 - 55). Für
Nietzsche ist die Musik in der dramatischen Oper „dionysischer Welt-
spiegel" (GT 19, SA I, 108). Während in der „Geburt der Tragödie"
das Dionysische das apollinische principium individuationis zerbricht (GT l,
SA I, 24), wirkt für Klein das dionysische „Princip der freien Indivi-
dualität" als „der nothwendige Gegensatz und Kampf im Drama von
Menschlichem und Göttlichem" (S. 42). Die „Apollinische Charakterge-
stalt" bezeichnet Klein dagegen „als ethisch schöne Individualität" (S. 68).
Auf derselben Seite erwähnt er den Titel eines indischen Dramas desselben
Gegensätzlichkeitsverhältnisses: „Die Geburt des Begriffs."
In seiner dionysisch-apollinischen Erklärung der aristotelischen Ka-
tharsis in der griechischen Tragödie wendet sich Klein scharf gegen Jacob
Bernays Definition der Katharsis als „eine der Körperreinigung durch Arz-
neimittel analoge ... ,Entladung spllicitirter Affectionenc" (S, 20-21).
Klein bezieht sich hier auf die damals großes Aufsehen erregende Schrift
„Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der
Tragödie" von einem anderen „Lieblings- und Meisterschüler" Friedrich
Ritschis, dem seit 1865 an der Universität Bonn tätigen und Nietzsche
näher bekannten Jacob Bernays66. Bernays weist die Aufhebung von
Schuldaffekten und die Sinngebung einer moralischen Besserung zurück
und erklärt die Katharsis als „erleichternde Entlastung solcher (mitleidigen
und furchtsamen) Gemüthsaffectionen"67. Bernays beruft sich auf die eksta-
tischen, korybantischen Heiltänze und definiert die Tragödie als die „Dicht-
gattung, welche die ursprünglich bakchantisdie Ekstase ... veredelte, indem
sie die Stelle des objectlosen enthusiastischen Taumels ersetzte durch eine auf
ekstatische Erregung universal menschlicher Affecte angelegte Darstellung
des Welt- und Menschengeschicks" (Bernays, Exkurs 5). Klein und Nietzsche
setzen für „bakdiantisch" das Wort „dionysisch" und für „veredelte" den
entsprechenden Gott Apollo und „apollinisch". In Nietzsches Auffassung
der Tragödie ist an Stelle von Bernays „Darstellung des Welt- und Mejri-
schengeschicks" die ebenso universelle Charakterisierung als „Phänomen
des Dionysischen" getreten. Nietzsche hat 1865 erwogen, wegen Bernays
66
Karlfried Gründer, dem ich für persönliche Hinweise zu unserem Thema zu Dank
verpflichtet bin, hat diese und die folgenden Zusammenhänge aufgedeckt in seiner
Untersuchung: Jacob Bernays und der Streit um die. Katharsis, in: Epirrhosis. Fest-
gabe für Carl Schmitt. 2. Teilband. Berlin 1968, S. 495—528.
67
Jacob Bernays: Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung
der Tragödie, in: Abhandlungen der historisch-philosophischen Gesellschaft in Breslau.
Bd. 1. 1858, S. 135—202.
Das moderne Phänomen des Dionysischen u* seine „Entdeckung* durch Nietzsche 151
nädi Breslau zu gehen. Im Mai 1871 entlieh er auch Bernays' Buch aus der
Basler Universitätsbibliothek und am 7. Dezember 1872 schrieb er an
Rohde über Bernays, er fände „das göttlich frech von diesem gebildeten und
klugen Juden*, daß er »erklärt hat, es [»Die Geburt der Tragödie**] seien
seine Anschauungen, nur stark übertrieben"*8. Graf Paul Yorck von War-
tenburg setzt sich 1866 in seiner Staatsexamenssdirift für die höhere Ver-
waltungslaufbahn „Die Katharsis des Aristoteles und der Oedipus Coloneus
des Sophokles", mit Bernays' Deutung auseinander und behauptet, die an-
tike Tragödie habe sich aus den Dionysien entwickelt, welche die Spaltung
des griechischen Geistes in ein Selbst- und ein Gottesbewußtsein durch
Ekstase aufheben wollten, und sei so eine praefiguratio der Menschheitser-
lösung durch Christus*9. Nietzsche hat Yorcks Schrift während der Ent-
stehungszeit der „Geburt der Tragödie" zweimal entliehen.
Mit dem Basler Rechtsgelehrten Johann Jakob Bachofen schließt sich
die Kette der dionysischen Tradition bis zu Nietzsche. Bachofen, der Be-
gründer der vergleichenden Rechtswissenschaft, erregte großes Aufsehen,
als er im Alter von 40 Jahren plötzlich zu einem Erforscher dionysischer
Mythen wurde. Wie Schelling und Nietzsche, ist er von Creuzers „Symbolik
und Mythologie** abhängig. Seitenlange Auszüge aus Creuzers Werk in
seinem Nachlaß bestätigen dieses. In seinem ersten mythologischen Werk
von 1859, „Versuch über die Gräbersymbolik der Alten", setzt er den dio-
nysischen Phallos dem Ei der Mysterien, dem Symbol des „stofflichen Ur-
muttertumsa entgegen70. Seine These lautet: „Die Geschlechtsverbindung ist
stets das dionysische Grundgesetz, die Ehe dessen Verwirklichung
(S. 40).** „Dionysos als Erd- und Sonnenmacht* tritt nidit „wie der in höhe-
rer Liditreinheit waltende Apollo" einsam und geschlechtslos auf, sondern
stets in Verbindung mit weiblichen Wesen (S. 74 - 82). Diese Verbindung mit
allen möglichen weiblichen Gottheiten schildert Bachofen eingehend in einem
Kapitel, überschrieben: „Dionysisches Frauenleben". Seine Ausführungen
über das Dionysische in der „Gräbersymbolik" beschließt er unter dem
politischen Titel "Dionysos als Förderer von Freiheit und Gleichheit":
„Wenn der staatliche, zivile Gesichtspunkt überall Schranken errichtet, die
Völker und Individuen trennt und das Prinzip der Individualität bis zum
vollendetsten Egoismus ausbildet, so führt dagegen Dionysos alles zur Ver-
einigung, alles zum Frieden und zur des ursprünglichen Lebens zurück.
w
Brief an Realie Nietzsche voxn li Januar 1866, BAB 2, 26; ebenso Brief an Frau-
7Jska und Elisabeth Niet&sdhe am gleichen Tag, BAB 2, 28. Brief an Rohdc, BAB 3,
323.
** VgL die entsprechenden Angaben In Karlfricd Gründers Aufsatz «Jacob Bernays und
der Streit uin die Katharsis", S. 521—522.
70
Johann J&kob Backofen: Gesammelte Werke, hrsg. von Karl MetslL Basel 1943—1948.
BdL 4: Versuch über die Gräbmymbolik der Alten, S. 33*
152 Max L» Baeumer
An seinen Mysterien haben Sklaven wie Freie gleichen Anteil, und vor dem
Gotte der stofflichen Lust fallen alle jene Schranken, welche das staatliche
Leben mit der Zeit zu immer größerer Hohe erhebt" (S. 238 - 239).
Bachofen bringt hier, wie Hölderlin, Dionysos mit der Verwirklichung
der Freiheits- und Gleichheitsideen der Französischen Revolution und mit
politisch-revolutionären Utopien in Verbindung. Noch deutlicher stimmt er
mit Hamerlings geschilderter Verkündigung der ungehemmten Sinnenlust
für die niederen Klassen durch Dionysos überein. Nicht zuletzt verkündet
auch Nietzsche ein paar Jahre später in der „Geburt der Tragödie" und mit
fast denselben Worten wie Bachofen und vorher Creuzer (aber unter Beru-
fung auf Schopenhauer) das Dionysische als ein Zerbrechen des »Prin-
zips der Individualität", als „der Bund zwischen Mensch und Mensch ...
friedfertig ... der Sklave [ein] freier Mann ... und jeder mit seinem Näch-
sten nicht nur vereint, versöhnt" (GT l, SA I, 24 - 25). Audi Nietzsche lehrt
das Dionysische als ursprüngliches, ewiges Leben, stellt es der „ewig be-
friedigende [n] Urmutter" gegenüber und erklärt es, wie Bachofen, in
„Mysterien der Gesdilechtlichkeit"71. Diese Übereinstimmungen sind nicht
zufällig, denn auch Bachofens „Gräbersymbolik" hat Nietzsche am 18. Juni
1871 der langen Reihe seiner aus der Basler Universitätsbibliothek ent-
liehenen Bücher hinzugefügt. Ebenso konnte er den Unterschied des Apol-
linischen und Dionysischen bei seinem Kollegen und zeitweiligen Freund
Bachofen in allen möglichen Versionen nachlesen.
„Dionysische Gynaikokratie" (Frauenherrschaft) und „apollinische Pa-%
ternität" ist das eigentliche Gegensatzthema von Bachofens Hauptwerk
„Das Mutterrecht" von 1861. Im Hauptteil versucht Bachofen, den Unter-
schied zwischen phallisch-zeugender, „dionysischer Paternität" und einer
reinen und lichten „apollinischen Paternität" in ägyptischen, indischen, kre-
tischen, minäischen, kleinasiatischen und griechischen Religionsgemeinschaf-
ten nachzuweisen. In Bachofens letztem, großen Werk von 1867, „Die
Unsterblichkeitslehre der orphischen Theologie auf den Grabdenkmälern des
Altertums", ist der Grundzug die Vereinigung und gegenseitige Durchr
dringung des vergeistigten Apollinischen und des versinnliditen Dionysi-
schen: „Ein bacchisdier Apoll, ein apollinischer Dionysos gehen aus dieser
Verknüpfung hervor."72 Für Nietzsche ist „das Drama die apollinische
Versinnlichung dionysischer Erkenntnisse" (GT 8, SA I, 53).
Bachofen überträgt nicht, wie Schelling, Klein und Nietzsche, das Dio-
nysische und Apollinische auf das Gebiet der Ästhetik und Philosophie,
sondern dehnt es vom Religiösen auf den Bereich des Biologischen aus. Audi
71
GT 16, SA I, 92—93; GD, Was ich den Alten verdanke 4, SA II, 1031.
72
Vgl. Anm. 70, Johann Jakob Bachofen, Bd. 3, S. 111.
Das moderne Phänomen des Dionysischen u. seine „Entdeckung" durch Nietzsche 153
bei Nietzsche bat das Dionysische, neben der ästhetischen, eine biologische
Bedeutung und ist, zwar bei völliger Abwertung des Weiblichen, Ausdruck
einer romantischen Verherrlichung des rauschhaften Lebens* Nietzsche selbst
steht in den Jahren, in denen er seine „Geburt der Tragödie" schreibt, mit
Badiofen in Basel in näherer Verbindung. Da sich beide zur gleichen Zeit
intensiv mit dem Dionysischen bei den Griechen beschäftigen, ist anzuneh-
men, daß sie in ihren Gesprächen dieses Thema berührten. Bachofen war
von der »Geburt der Tragödie**, wie es heißt, „sehr entzückt*'78.
In seinem Konzept des Dionysischen und während der Entstehung der
„Geburt der Tragödie" wurde Nietzsche, neben Badiofen, auch von seinen
Freunden Richard Wagner und Erwin Rohde beeinflußt. In Schriften Wag-
ners aus den Jahren 1849 und 1850, die Nietzsche zugänglich waren, ist be-
reits von Dionysos in der Kunst und Musik die Rede. Ebenso findet sich hier
eine Notiz Wagners, die in Inhalt und Form weitgehend dem Titel und The-
ma von Nietzsches Buch entspricht: „Geburt aus der Musik: Äschylos. Deca-
dence — Euripides." Erst kürzlich wurde festgestellt, daß Nietzsche, Rohde
und Wagner in der Zeit vom 11. bis 13. Juni 1870 im Hause Tribschen, vor
einem Gemälde „Bacchus unter den Musena des Malers Bonaventura Ge-
nelli (1798 - 1868), „das Thema des Apollinischen und Dionysischen" und
Nietzsches Aufsatz »Die dionysische Weltanschauung**, seine Vorstufe zur
„Geburt der Tragödie*, in lebhafter Diskussion erörterten74. Man kann
wohl kaum mehr darauf beharren, daß Nietzsche das Dionysische als erster
entdeckt, begriffen und ernst genommen habe. Aber man muß ihm wohl
zugestehen, daß er die behauptete „Umsetzung" des Dionysischen in ein
„philosophisches Pathos* so brillant und wirkungsvoll vorgenommen hat,
daß sein Name für immer mit dem Phänomen des Lebensrausches ver-
bunden sein wird»
n
Carl Aibrccht Bcrnoulli: Johann Jakob Badiofcn und Ais NaturiyinboL Basel 1924,
S. 5«.
*« Vgl MÄTOU Vogd, S. 115—120, 147—14*.