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NIETZSCHES GEDICHT
„NOCH EINMAL EH ICH WEITER ZIEHE .
AUF DEM HINTERGRUND SEINER JUGENDLYRIK
Die Bedeutung, die Nietzsche für uns hat, kann leicht dazu verleiten, sei-
ne Jugendgedichte unter der Optik „ex ungue leonem" zu lesen, d. h. darin
Spuren, vor allem inhaltlicher Art, zu suchen, in denen sich seine spätere Phi-
losophie ankündigt. Das ist um so verständlicher, als wir uns ja nicht für die
Verse dieses Schülers von Schulpforta aus dem mittleren 19.. Jahrhundert inter-
essieren würden, wenn wir nicht wüßten, was später aus ihm geworden ist.
Dennoch darf das nicht zu einer Vereinnahmung.des frühen Nietzsche durch
den späteren führen. Angemessener und ergiebiger wäre es wohl, die Eigenart
dieser frühen Gedichte aus ihnen selbst, den Umständen ihrer Entstehung und
Nietzsches damaligem Selbstverständnis zu erfassen. Ein solcher Versuch soll
im folgenden skizziert werden.
» SA III, S. 13-39^
2
Ebd. S. 25.
^ Ebd. S. 35.
4
Ebd. S. 36/37.
102 Karl Pestalozzi
rioden ist bei Schillers Gedichten üblich, der Lebensrückblick zitiert mit dem
Titel „Aus meinem Leben" und dem Bekenntnis, „ganz der Wahrheit getreu",
„ohne Dichtung"5 geschrieben zu haben, Goethes Autobiographie. Goethes
Gedichte werden auch ausdrücklich als Vorbilder genannt mit der zeitüblichen
leisen Geringschätzung der Sprache von Faust II.
Die Absicht, die Nietzsche beim Gedichtemachen leitete, spricht er im
Lebensrückblick mit dem merkwürdigen Satz aus: „Überhaupt war es stets
mein Vorhaben, ein kleines Buch zu schreiben und es dann selbst zu lesen."6
Darin könnte man einen Nachklang von Hegels Lyrikbestimmung vermuten:
„In der Lyrik . . . befriedigt sich das . . . Bedürfnis, sich auszüsprechen und
das Gemüt in der Äusserung seiner selbst zu vernehmen."7 Tatsächlich hat
Nietzsches Satz mit Hegels Bestimmung nur das Moment der Reflexivität ge-
meinsam, der Rückwirkung des Geschriebenen auf den Schreibenden. Bei He·^
gel konstituiert sich auf diesem Weg das Selbstbewußtsein. Bei Nietzsche je-
doch geht es um eine Reflexivität mehr äußerlicher Art, wie sein Nachsatz ver-
rät: „Diese kleine Eitelkeit habe ich jetzt immer noch." Es kam ihm offenbar
darauf an, sich als Autor erleben zu können, der. durch seine Autorschaft teil-
hatte an der Gemeinschaft der Dichter, vor allem auch am Nimbus, mit dem
sie die bürgerliche Gesellschaft umgab. Daß auch so eine Stärkung des Selbst-
bewußtseins erfolgen konnte, leuchtet ein. Ihren sichtbaren Niederschlag fand
diese „Eitelkeit" darin, daß er seine Gedichte gern zu Sammlungen zusam-
menstellte, zu denen er Inhaltsverzeichnisse entwarf. Auch verhielt er sich sei-
ner Lyrikproduktion gegenüber bald schon ausgesprochen philologisch, nach-
laßbewußt, wenn er jeweils sorgfältig die Entstehungsdaten vermerkte.
Die Gedichte Nietzsches, die sich aus den Jahren 1858—1864, der Zeit in
Schulpforta, erhalten haben8, bestätigen, daß es ihm nicht auf Erlebnislyrik im
Goetheschen Sinn ankam. Es sind darunter die meisten Gedichtarten der
deutschen Klassiker, Romantiker und ihrer Epigonen vertreten. Nach dem In1
halt betrachtet sind es Naturgedichte, Tageszeiten-, Jahreszeiten-, Lebensal-
ter-Gedichte, Liebesgedichte, allerdings nur wenige, Stimmungsgedichte, reli-
giöse und vaterländische Gedichte. Der Form nach finden sich Volksliedhaf-
tes, Balladen, Spruchgedichte, Erlebnisgedichte, komische Parodien. Es ist
unverkennbar, daß Nietzsche mit diesen Gedichten produktiv auf eigene Lek-
türe reagierte, private oder solche, die durch den Deutschunterricht bei Ko-
berstein angeregt war. Meist läßt sich sogleich erkennen, wer ihn inspiriert
hatte, Brentano, Eichendorff, Heine, Goethe, Platen, Lenau, Rückert etc. Wo
ein Vorbild nicht ohne weiteres ausgemacht werden kann, handelt es sich um
56 Ebd. S. 39.
Ebd. S. 21.
7
Hegel, Aesthetik, hrsg. von F. Bassenge. Berlin 1955. S. 1000.
8
Sie finden sich in der BAW Bde. 1,2.
Nietzsches Gedicht „Noch einmal eh ich weiter ziehe . . . " 103
poetae minores, die wir nicht mehr kennen. Man gewinnt den Eindruck,
Nietzsche habe sich dichtend die damals im Schulkanon oder im allgemeinen
Bewußtsein der Gebildeten gängigen Lyrikarten und -töne angeeignet. Daß er
auch Hölderlin schätzte, deutet auch auf ein eigenes Urteil.
Indem er so anerkannte Lyriker imitierte und reproduzierte, suchte er sich
zum Dichter auszubilden. 1862 nahm er sich vor, im Hinblick auf seine bishe-
rige Produktion zu zeigen, „nicht wie man Dichter ist, geboren wird, sondern
wie man Dichter wird d. h. wie aus dem fleißigen Reimschmied bei wachsen-
der geistiger Fähigkeit auch schließlich ein wenig Dichter werden kann."9
Umgekehrt vermerkte er kritisch, der Ausdruck „poetischer Erguss" sei „eine
Hyperbel oder eine poetische Fiktion."10 Das steht im „Versuch einer Kritik"
an den „poetischen Leistungen W. Finders" im Rahmen der „Germania".
Dieser Freundschaftsdreibund sollte „zu einer größeren Ausbildung der Mit-
glieder in den Künsten und Wissenschaften beitragen" und verpflichtete die
Mitglieder zu poetischen und musikalischen Produktionen.n In der Kritik, die
sie aneinander übten, standen Fragen des dichterischen Handwerks im Vor-
dergrund. — Wollte man aus alldem einen poetologischen Grundsatz abstra-
hieren, so wäre eher an die imitatio-Poetik, die in Deutschland vom Humanis-
mus bis vor Klopstock galt, zu denken als an die Goethezeitliche Poetik der
Orginalität. Die intensive Beschäftigung mit antiken Autoren mag zu dieser
Hochschätzung des Handwerklichen beigetragen haben.
Sucht man eine zusammenfassende Bezeichnung für diese Jugendgedichte
Nietzsches, so bietet sich der Terminus „Parodie" an, allerdings nicht im en-
gen, auf die komische Parodie eingeschränkten heutigen Gebrauch, sondern
so, wie Gustav Gerber 1885 „Parodie" definierte: Die Parodie „will das Origi-
nal irgendwie in seinem Inhalt, seinem Wesen oder doch in der Art des Ein-
drucks, welche diesem eigen ist, durch Verwendung derselben Worte treffen,
wenigstens berühren, sei es, um an diese Worte eine weitere, tiefere Bedeutung
zu knüpfen, als ihnen im Original zukommt, sei es, um scherzend oder spot-
tend deren Gewicht zu zerstören, sei es auch nur, um durch Erinnerung an ein
von Trefflichen trefflich Gesagtes Teilnahme und verstärkte Wirkung für eige-
ne Darstellung zu gewinnen."12 Diese Definition ist deshalb so tauglich, weil
sie mit dem zuletzt Gesagten auch jene von Nietzsche bekannte „eitle" Wir-
kungsabsicht mit umfaßt. So lassen sich in diesem Jugendwerk ulkige Parodien
von solchen unterscheiden, in denen sich die Imitation eines Vorbildes nicht
ausdrücklich als solche zu erkennen gibt.
9
BAWBd.2, S.H9.
10
BAWBd,2, S.215f.
» BAW Bd. 2, S. 43$.
12
Zitiert im Art. „Parodie" von Alfred Liede im „Reallexikon der deutschen Literaturgeschich-
te", hrsg. von Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr. Berlin 19652.
104 Karl Pestalozzi
Wenn man auf diese Weise Nietzsche seine Jungendlyrik gleichsam weg-
nimmt, provoziert man die Gegenfrage, ob denn darin nirgends Nietzsche als
Person jenseits aller Parodie zu fassen sei. Am persönlichsten, freilich in einem
äußerlich biographischen Sinn, sind die Gedichte auf bestimmte Gelegenhei-
ten, Weihnachten, Geburtstage etc. Eigenes in einem tieferen Sinn ist am ehe-
sten erkennbar in der vielfach wiederkehrenden Thematik von Heimat und
Fremde.13 In diesem zentralen Thema kann man eine Spiegelung des Heim-
wehs sehen, das Nietzsche in den ersten Jahren in Schulpforta nach Naumburg
erfüllte, dann aber auch des späteren Heimwehs nach der religiösen und geisti-
gen Geborgenheit seiner Herkunft, von der er bemerkte, daß sie ihm mehr und
mehr abhanden kam. Psychologisch gesehen wäre das Dichten nicht sosehr der
Versuch, zu sagen, was man leidet, als das Bestreben, im Anschluß an große
Vorbilder zu einem Selbstbewußtsein tu gelängen, das der Spannung von Hei-
mat und Fremde enthoben wäre und auf eigener Leistung beruhte. Sinnvoller
als solche schwer belegbaren Vermutungen ist es wohl, festzustellen, daß
Nietzsche sichtlich mehr und mehr Sicherheit im Umgang mit der Sprache ge-
wann. Die Gedichte werden gewandter, es unterlaufen weniger stilistische
Ausrutscher. Auch bemerkt man an funktional eingesetzten Formverstößen
oder Wonspielen, daß das Verhältnis zur Sprache reflektierter wird. Reflek;
tierte Sprach- und Formbeherrschung, Artistik also, darin vor allem liegt das
Nietzsche Eigene, das diese Jugendgedichte dokumentieren. .
II.
Auf dem Hintergrund des bisher Ausgeführten ist es nun äußerst bezeich-
nend, daß dasjenige Jugendgedicht, aus dem man immer schon Nietzsches ei-
gene Stimme vernommen hat, wie wir sie aus dem philosophischen Werk und
der im Zusammenhang damit entstandenen späteren Lyrik kennen><das aller-
letzte der in Schulpforta entstandenen Gedichte ist und diesen Abschied in der
Anfangszeile „Noch einmal eh ich weiter ziehe ..." auch thematisiert. Das
mag es rechtfertigen, dieses Gedicht etwas genauer zu betrachten.
Noch einmal eh ich weiter ziehe
Und meine Blicke vorwärts sende
Heb ich vereinsamt meine Hände
Zu dir empor, zu dem ich fliehe, .
Dem ich in tiefster Herzenstiefe
Altäre feierlich geweiht
Daß allezeit
Mich seine Stimme wieder riefe.
13
Vgl. Julia Kroedel, Heimat und Fremde in der Lyrik des jungen Nietzsche. Basler Lizentiatsar-
beit 1982 (ungedruckt).
Nietzsches Gedicht „Noch einmal eh ich weiter ziehe . . . " 105
Vater, soll ich fliehen?" aus der sechsten Strophe. Die dritte Strophe des Ge-
dichts läßt sich mindestens inhaltlich und in der Formel „ich will" mit der
achten Liedstrophe in Beziehung setzen. Das Versmaß der ersten Liedzeile er-
gibt das Grundmetrum des Gedichts, von dem die zweitletzte Zeile abweicht,
was von einem sichtlichen Formwillen zeugt. Die Mittelstrophe des Gedichts
verwendet als weitere Quelle die Areopagrede des Paulus aus Apg. 17, 23:
„Ich bin herdurch gegangen, und habe gesehen eure Gottesdienste, und fand
einen Altar, darauf war geschrieben: Dem unbekannten Gott. Nun verkündige
ich euch denselben, dem ihr unwissend Gottesdienst tut." — „Rotte" stammt
ebenfalls aus dem Wortschatz der Luther-Bibel, speziell auch der Paulusbriefe,
hinter den Schlußzeilen kann man die Jonas-Geschichte vermuten. Das Paro-
die-Prinzip ist also auch bei diesem Gedicht festzustellen.
Daß Nietzsche das Kirchenlied in sein reproduzierendes Dichten einbe-
zog, war nichts Neues. 1862 hatte er einem Freund ein selbstgedichtetes Kir-
chenlied übersandt mit der Bemerkung, das sei ein „Genre, dessen Pflege sie
bei mir schwerlich vermuthet".16 An einem Gedicht Wilhelm Finders stellte er
fest, mitunter seien Gesangbuchreminiszenzen gut benutzt.17 Das Kirchenlied
war Nietzsche aus seiner Familie vertraut. Noch zu seinem Abgang von Schul-
pforta schickte ihm seine Tante Rosalie ein selbstverfertigtes Gedicht in diesem
Stil.18
Bei diesem letzten Gedicht Nietzsches kann man aber nicht mehr einfach
von Parodie im Sinne der Nachbildung eines anerkannten Vorbildes sprechen.
Das Ergebnis ist etwas Neues, das sich der Vorlage gegenüber als Kontrafaktur
oder doch als Antwort verhält. Schon an Äußerlichkeiten läßt sich das zeigen:
„Noch einmal" bedeutet im Kürchenlied Wiederholung, bei Nietzsche jedoch
„zum letzten Mal", wie im Volkslied. Auffallend ist die Verdrehung von „zu
dem ich flehe" in „zu dem ich fliehe"; man kennt das als Stilmittel des späteren
Nietzsche. Deutlich ist die Distanz zur Vorlage in der Motivik: Das Kirchen-
lied denkt in der Vertikalen, Gott ist oben, die sündige Seele, die Hilfe erwar-
tet, unten. Bei Nietzsche beginnt es zwar mit der Anrufung Gottes in der Hö-
he, doch dann bekommt die Tiefe mehr und mehr Gewicht im positiven Sinne
(tiefste, Herzenstiefe, tief-eingeschrieben, du tief in meine Seele Greifender).
Dieses Insistieren auf der Tiefe bringt zum Ausdruck, daß Gott auch von un-
ten und innen wirkt, dort will ihn die Seele suchen. Nun wird die Gottferne
oberhalb lokalisiert. So entsteht aus der Anrufung des deus in excelsis des Kir-
chenliedes bei Nietzsche eine des unbekannten Gottes in der eigenen Tiefe.
Diese Umdrehung des Blickes ist auch eine vom Allgemeinen ins Eigene und
16
An Raimund Granier am 28. Juli 1862. KGB I l, S, 217.
" BAWBd.2, S.217.
18
Rosalie Nietzsche an Nietzsche am 21. September 1864. KGB l l, S. 434.
108 Karl Pestalozzi
III.
Auf diese Weise könnte eine Auswahl zustande kommen, welche dokumen-
tiert, wie sich Nietzsche die Gedichttradition des 19. Jahrhunderts produktiv
aneignete und sich so einverleibte, wogegen er sein späteres Leben lang kämpf-
te. 19
19
Die Erarbeitung der erwähnten Auswahlkriterien erfolgte im Rahmen einer mehrsernestngen
Nietzsche-Arbeitsgruppe am Deutschen Seminar der Universität Basel. Die Herausgabe der
geplanten Nietzsche Gedichtausgabe hat dankenswerterweise Herr Dr. Wolfram Groddeck
übernommen.