1
Nietzsche hat sich zwischen 1873 und 1875 häufig in diesem Sinne geäußert. Vgl. bes. folgende
Briefe: An Rohde, 19. 3. 1874; an Meysenbug, 4. 4. 1874; an Fuchs, 28. 4. 1874; an Rohde, 1.
6. und 4. 6. 1874; an Meysenburg, 25. 10. 1874 und an v. Bülow, 2. 1. 1875.
2
Auch diese Absicht hat Nietzsche in seinen Briefen (auch in einigen, die in Anm. l genannt
wurden) wiederholt zur Sprache gebracht. — Was Nietzsche damals vorschwebte, zeigt am
deutlichsten eine kurze Aufzeichnung von Frühling-Sommer 1875 (IV 5 [42]):
Pläne für das Leben.-
Unzeitgemässe Betrachtungen. Für die dreissiger Jahre meines Lebens·.
Die Griechen. Für die vierziger Jahre meines Lebens.
Reden an die Menschheit. Für die fünfziger Jahre meines Lebens.
3
Alle größeren Monographien über Nietzsche gehen auch auf seine Geschichtsphilosophie und
in diesem Zusammenhang natürlich auf HL ein. Vgl. bes. K. Jaspers, Nietzsche. Einführung in
das Verständnis seines Philosophierens Berlin 1936, 41974, 205ff. - W. Kaufmann, Nietzsche.
Philosoph — Psychologe - Antichrist, aus dem Amerikanischen übers, von J. Salaquarda,
Darmstadt 1982,164 ff. — W. Müller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und
die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin-New York, 1970, 34 ff.
2 Jörg Salaquarda
In den folgenden drei Studien untersuche ich einige Aspekte der Schrift,
wobei biographische, historisch-philologische und Quellen-Fragen im Vor-
dergrund stehen. Weitere Studien, vor allem zu anderen Quellen (Goethe,
Grillparzer, Leopardi u.a.) und zur schließlichen „Komposition" der Schrift
müssen folgen, bevor sie erneut einer Gesamtinterpretation unterzogen, und
von dieser aus auch die Wirkungsgeschichte angemessen gewürdigt werden
kann.
l. Nach seinem Bruch mit Wagner hat sich Nietzsche nur noch sehr sel-
ten über die Zweite Unzeitgemäße geäußert. Seine wenigen Äußerungen lassen
zudem eine deutliche Zurückhaltung, ja eine gewisse Distanzierung erkennen.
Von der Perspektive des „freien Geistes" aus ist ihm die Schrift als ein
„Versuch" erschienen, „die Augen zu schliessen gegen die Erkenntniss
der Historie" (IV 27 [34]), was eine zumindest, einseitige Stellungnahme ist.
Mit der selbstkritischen Notiz: „Hinter meiner ersten Periode grinst das
Gesicht des Jesuitismus: ich meine: das bewußte Festhalten an der Illusion
und zwangsweise Einverleibung derselben als Basis der Cultur" (VII 16
Eine große Rolle spielt HL auch in den Arbeiten über das Verhältnis Nietzsches zu J. Burck-
hardt. Vgl. bes. A. v. Martin, Nietzsche und Burckhardt. Zwei geistige Welten im Dialog,
München 1940, 41947, passim. - E. Salin,/. Burckhardt und Nietzsche, Heidelberg 21948, bes.
HOff. ·
Speziell mit HL befassen sich — zur Gänze oder wenigstens zu großen Teilen — die folgenden
Arbeiten: I. N. Bulhof, Apollos Wiederkehr, Den Haag 1969. - G. Haeuptner, Die Ge-
schichtsansicht des jungen Nietzsche, Stuttgart 1936. - W. Hegemeister, Fr. Nietzsches Ge~
Schichtsauffassung, Leipzig 1912. - K. Hillebrand, Ueher historisches Wissen und historischen
Sinn, 1874 (Wiederabdruck in: Wälsches und Deutsches = Band 2 von Zeiten -' Völker - Men-
schen, Straßburg 1892, 314ff. Ä D. Jähnig, Der Nachteil und der Nutzen der modernen: Histor
rie nach Nietzsche, in: Welt-Geschichte: Kunst-Geschichte, Köln 1975, 68ff.- M. Landmann,
Zum „Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben", in: Geist und Lehen. Varia Nietzsche-
ana, Bonn 1951, 105ff. - K. Reinhardt, Nietzsche und die Geschichte, in: Vermächtnis der
Antike, Göttingen 1960, 296ff.'- L. Reinmöller, Die Grundlagen von Nietzsches Geschichts-
auffassung, Düsseldorf 1938. - R. Scharff, Nietzsche on the „Use" ofHistory, in: Man and
World VII, Den Haag 1974, 67ff. - K. Schlechta, Nietzsches Verhältnis zur Historie, in: Der
Fall Nietzsche, München 1958, 21959, 44ff. - J.,Stambaugh, Untersuchungen zum Problem
der Zeit bei'Nietzsche, Den Haag 1959. - C Zuckert, Nature, History and the Seif: Fr. Nietz-
sche^ Untimely Considerations, in: Nietzsche^Studien 5, 1976, 55ff.
Zur Wertschätzung dieser Schrift nur zwei, ganz unterschiedliche Stimmen. E. Förster-Nietz-
sche schreibt schon 1897: „. . . die Kritik von heute mißt ihr von allen vier »Unzeitgemäßen
Betrachtungen* den höchsten Werth bei" (Große Biographie, 2 Bände in 3 Teilen, Leipzig 1895
(1), 1897 (II, 1) und 1904 (II, 2); hier: II, l, 148). - Und Th. Mann nennt sie 1948 eine „be-
wundernswerte Abhandlung" (Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung, Berlin
1948,21). . .
Studien zur Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung 3
[23]), scheint Nietzsche nicht zuletzt auf die Historienschrift angespielt zu ha-
ben.4
Bei der Kennzeichnung seiner „Erstlinge" gegenüber Brandes hat Nietz-
sche die Zweite Unzeitgemäße überhaupt nicht erwähnt (19. 2. und 10. 4.
1888). Erst die zustimmende Erwähnung der Schrift in einer italienischen Zeit-
schrift veranlaßt ihn, sie zu nennen (4. 5. 1888), wobei er aber nur referiert und
sich selbst einer Stellungnahme enthält.5
In den Vorreden von 1886 und in Ecce homo hat Nietzsche die meisten
seiner Schriften ausführlich gekennzeichnet und gewürdigt. Die Unzeitgemä-
ßen werden verhältnismäßig stiefmütterlich behandelt; aber während er den
drei anderen immerhin einigen Platz einräumt und ihnen auch positive Züge
abgewinnt, fällt ihm zur zweiten kaum etwas ein, und er geht überhaupt nur
auf ihre kritisch-diagnostische Funktion ein. Nach der Autobiographie liegt
das Wesentliche der Schrift in ihrer Kritik an „unsrer Art des Wissenschafts-
Betriebs" und in ihrer Entlarvung des „historischen Sinns", auf den das Zeital-
ter stolz ist, als „Krankheit" und „typisches Zeichen des Verfalls".6 In der
Vorrede zum zweiten Band von Menschliches, Allzumenschliches weist Nietz-
sche nur deshalb auf Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben
hin, um sich von dem Buch zu distanzieren: „was ich gegen die ,historische
Krankheit" gesagt habe, das sagte ich als Einer, der von ihr langsam, mühsam
genesen lernte und ganz und gar nicht Willens war, fürderhin auf ,Historiee zu
verzichten, weil er einstmals an ihr gelitten hatte".7 Jeder, der mit der Schrift
vertraut ist, weiß, daß von einem völligen Verzicht auf Historie in ihr nir-
gends, auch in den Schlußpartien nicht, die*R.ede ist; und gewiß hat Nietzsche
auch in den Achtziger Jahren nicht den Historiker als Ideal angesehen, der
„den Staub [der . . .] Quisquilien frisst" (HL 3). Die tatsächlichen Beziehun-
gen und Verhältnisse sind sehr viel komplizierter und bedürfen viel differen-
zierterer Analysen. Doch auf die positiven Thesen geht Nietzsche nicht ein,
weder auf die drei „lebensdienlichen Arten der Historie" noch auf die Grund-
möglichkeiten des Lebens, nämlich das Unhistorische, das Historische und das
Überhistorische.
4
So auch Müller-Lauter, Nietzsche, 48, Anm. 78.
5
„Aus Italien meldet man mir eben, daß die Gesichtspunkte meiner zweiten ,Unzeitgemäßen
Betrachtung* in einem Bericht über deutsche Geschichts-Litteratur sehr zu Ehren gebracht sei-
en, den ein Wiener Gelehrter Dr. von Zackauer im Auftrage des Florenzer ArchivioStorico
gemacht hat. Der Bericht läuft in dieselben aus."
6
KSA6, 316.
7
KSA 2, 370. —.Nachdem E. W. Fritzsch 1886 erneut Nietzscnes Verleger geworden war und
dessen Literatur von Schmeitzner gekauft bzw. zurückgekauft hatte, veranstaltete Nietzsche
eine Art erster Gesamtausgabe seiner Werke, wozu er für seine früheren Schriften bis zu FW
neue Vorreden anfertigte, die UBen aber ausnahm: „Nur die 4 unzeitgem. Betrachtungen will
ich lassen, wie sie sind: deshalb habe ich in den letztens übersandten Nachtrag zur Vorrede
4 Jörg Salaquarda
Ich bestreite nicht, daß die Unzeitgemäßen insgesamt und die zweite ins-
besondere Züge aufweisen, die Nietzsches späterer Selbstinterpretätion ent-
sprechen. In der ersten und zweiten (nicht so sehr in der dritten) überwiegt die
Kulturkritik und den positiven Thesen haftet etwas Forciertes an. Aber der
„Idealismus" dieser Werke ist weder naiv noch „jesuitisch"8, wie ja umge-
kehrt auch der spätere Nietzsche nicht einfach auf „Idealbildungen" verzich-
tet. Ich gehe deswegen davon aus9, daß die spätere Forschung der Zweiten Un-
zeitgemäßen mehr Gerechtigkeit angedeihen ließ als Nietzsche selbst.
Wenn es sich so verhält, dann müssen sich auch Gründe dafür auffinden
lassen. Ein Grund könnte sein, daß sich die Ausarbeitung und das Erscheinen
der Schrift in Nietzsches Erinnerung mit unangenehmen Erfahrungen verban-
den. Diesem Aspekt werde ich im Folgenden nachgehen und ihn ein wenig zu
erhellen suchen. Außerdem mag es sein, daß sich die negativen Intentionen des
Buchs stärker dem Gedächtnis seines Autors eingeprägt haben als die positi-
ven. Die Entstehungsgeschichte der Zweiten Unzeitgemäßen, wie sie sich an-
hand des Nachlasses rekonstruieren laßt, bestätigt diese Vermutung. Ich werde
sie in Abschnitt II nachzeichnen.
Vorausgesetzt ist für beide Argumentationen, daß der rastlos produktive
Nietzsche ohnehin den Inhalt seiner Schriften nie besonders gut präsent hatte.
Liest man die Vorreden und den Abschnitt Warum ich so gute Bücher schreibe
des Ecce homo, dann gewinnt man verschiedentlich den Eindruck, daß Nietz-
sche nicht nur den Leser aufklärt, sondern auch für sich seine Literatur wieder
neu entdeckt. Das bekannteste Beispiel ist die Passage über die dritte und vier-
te Unzeitgemäße Betrachtung in Ecce homo, über die Nietzsche an Gast
schreibt: „Ich habe beide Schriften erst seit 14 Tagen verstanden. —" (9. 12.
1888). Schon der Entwurf einer Vorrede zu Morgenröthe beginnt mit dem
Satz: „Als ich jüngst den Versuch machte, meine älteren Schriften, die ich ver-
gessen hatte, kennen zu lernen [. . .]" (V 3 [1]). Und im Sommer 1888 hat
Nietzsche M. v. Salis gestanden, daß er in der Hektik des fortwährenden Pro-
duzierens den Inhalt der erst ein Jahr davor erschienenen Genealogie, bei der
Vorrede sogar ihre Existenz, völlig vergessen habe.10
für Menschl. Allzum. sehr bestimmt auf sie aufmerksam zu machen für nöth i g befunden" (an
Fritzsch, 29. 8-1. 9. 1886).
8
Nietzsche hatte schon 1866 F. A. Langes Geschichte des Materialismus gelesen und den in die-
sem Buch vertretenen „Standpunkt des Ideals" zustimmend zur Kenntnis genommen. Vgl. da-
zu meine beiden Aufsätze Nietzsche und Lange (Nietzsche-Studien 7, 1978, 236 ff.) und Der
Standpunkt des Ideals bei Lange und Nietzsche (Studi Tedeschi XXII, 1979, 133 ff.).
9
Da es mir wichtig ist, zunächst die historisch-philologischen Aspekte von HL zu untersuchen,
muß diese Voraussetzung hier als Voraussetzung stehen bleiben. Ihre Rechtfertigung kann sie
nur durch eine philosophische Interpretation der Schrift erfahren.
10
Zu diesem Brief und zur Bedeutung von Nietzsches „Entdeckung" seiner Genealogie, vgl, M.
Montinari, Nietzsches Nachlaß von 188$ bis 1888 oder Textkritik und Wille zur Macht, in:
Nietzsche lesen, Berlin-New York 1982, 92ff.; hier: 111 und 115f.
Studien zur Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung 5
Hält man sich vor Augen, in wie kurzer Zeit und unter welchen äußeren
und inneren Belastungen Vom Nutzen und Nacktheit der Historiefür das Le-
ben entstanden ist, dann kann es nicht verwundern, daß dem Autor vieles, was
er in der Schrift dargelegt hatte, alsbald wieder entfallen ist.
Werfen wir zunächst einen Blick darauf, wieviel Zeit Nietzsche zur Aus-
arbeitung der Schrift zur Verfügung stand. Die Erste Unzeitgemäße über
Strauß ist am ,8. August 1873 erschienen.11 Schon vor ihrem Erscheinen hatte
Nietzsche neue Projekte begonnen. Seine nächste Unzeitgemäße sollte das
Thema „Wahrheit" behandeln.12 Etwa in der zweiten Septemberhälfte hat er
den Plan geändert und sich dem Thema „Die historische Krankheit" zuge-
wandt.13 Wenn er am 20. 9. 1873 an Wagner schreibt: „Ich denke über meine
zweite »Zeitungemaßheit' nach", dann mag er schon an die Historienschrift
gedacht haben. Zwischen dieser vermutlich ersten Erwähnung und dem Er-
scheinen der Schrift um den 20. Februar 1874 liegen ganze fünf Monate. Da
Nietzsche in der ersten Dezemberhälfte seinem Freund Gersdorff bereits gro-
ße Partien des Buchs diktiert hat14, läßt sich die Zeit der Konzeption und Aus-
arbeitung im Wesentlichen auf die Monate Oktober und November beschrän-
ken; die letzten Partien sind um die Jahreswende fertig geworden.15
Man darf sich nun nicht vorstellen, daß Nietzsche sich wenigstens in die-
sen zwei bzw. drei Monaten ganz auf die entstehende Schrift konzentrieren
konnte. Vor allem mußte er seinen Berufspflichten nachkommen. Am Paeda-
gogium hatte er lediglich im Oktober 14 Tage Ferien; die Veranstaltungen der
Universität begannen zwar erst am L November, und er hat im WS 1873/74
*-
11
Vgl. Mondnari, Chronik: KSA 15, 50.
12
Aufzeichnungen zu diesem Problemkreis findet man vor allem in dem umfangreichen Heft P I
20, das Nietzsche zwischen Sommer 1872 und Anfang 1873 benutzt hat (vgl. die Bemerkung im
Komm.: KSA 14, 544). Aus diesem Material hat Nietzsche zunächst die (Nachlaß gebliebene)
Schrift WL verfertigt, die er im Frühjahr 1873 Gersdorff diktiert hat (vgl. Montinari, Chronik:
KSA 15,50). Die Planskizzen III29 [7], [20], [21], [23], [26] zeigen, daß Nietzsche im Sommer
1873 eine Zeit lang die Absicht hatte, seine nächste Unzeitgemäße dem Thema „Wahrheit" zu
widmen — vermutlich .unter Einbeziehung von WL und der Vorrede Ueber das Pathos der
Wahrheit, die er zusammen mit vier anderen Vorreden C. Wagner zu ihrem Geburtstag am 25.
12. 1872 überreicht hatte.
13
Die erste deutlich auf HL gemünzte Aufzeichnung ist das Fragment III29 [27], die erste Plan-
skizze zu dieser Schrift 29 [38]. - Vgl. dazu die zweite der hier vorgelegten „Studien".
14
Gersdorff ist am 4. 12. 1873 aus Italien kommend in Basel eingetroffen und etwa eine Woche
geblieben. In dieser Zeit hat ihm Nietzsche die Schrift diktiert, so weit er sie fertig hatte. Gers-
dorff hat zu Hause in Ostrichen das Druckmanuskript angefertigt und es zusammen mit einem
Brief Nietzsche am 26. 12. zugeschickt. Vgl. die Darstellung von C. P. Janz, Nietzsche. Bio-
graphie in drei Bänden, München-Wien, 1978 (l und 2) und 1979 (3); hier: I, 551 f.
15
In seinem Silvejsterbrief an Rohde schreibt Nietzsche: „Ich habe in diesen Tagen mein Schluss-
capitelchen zu machen und mochte gerne heute und morgen fertig werden." In dem Brief, in
dem Nietzsche Gersdorff für die Anfertigung des Manuskripts dankt (18.1.1874), berichtet er
auch: „Das letzte Capitel habe ich natürlich in Naumburg geschrieben und am Neujahrstag, zu
dessen Inauguration, fertig gemacht." ·
6 ' Jörg Salaquarda
nur ein Kolleg gehalten, aber Paedagogium, Kolleg und Seminar zusammen
machten immerhin 12 Wochenstunden aus, die auch vorbereitet sein woll-
ten.16 Gegen Ende Oktober rang sich Nietzsche auf Bitten von Richard und
Cosima Wagner zur Abfassung eines Mahnrufs an die Deutschen durch, der
allerdings von den Delegierten der Wagner-Vereine am 31. Oktober abgelehnt
wurde. 17
In diesen Wochen wurde Nietzsche zudem von dem „Gespenst Rosalie
Nielsen" in Atem gehalten. Mag diese Episode im Nachhinein eher wie eine
Burleske anmuten, ihn hat sie offenbar beschäftigt und geängstigt.18 Noch
stärker und viel nachhaltiger hat ihn aber bedrückt, daß Wagners Bayreuther
Unternehmen vom Scheitern bedroht war.19 Aber selbst diese Sorge machte
noch nicht das Kernproblem aus: in ihr und hinter ihr meldeten sich die Zwei-
fel an Wagner und das Streben nach neuen Horizonten.20
Diesen inneren und äußeren Belastungen hat Nietzsche seine Zweite Un-
zeitgemäße in fabelhaft kurzer Zeit abgetrotzt. Wenn diese Fakten es wahr-
scheinlich machen, daß sich viele Züge der Schrift kaum fest in seinem Ge-
dächtnis verankert haben können, so deuten andere darauf hin, daß er sie nicht
unbedingt in guter Erinnerung behalten haben wird.
wie weit die Krankheit psychisch bedingt war. Daß der psychische Druck, der
auf Nietzsche lastete, sein Befinden zumindest negativ beeinflußt hat, ist von
Nietzsche selbst später immer wieder betont worden und darf heute als gesi-
chert gelten,22 Für unsere Überlegungen ist von Interesse, daß sich Nietzsches
depressive Grundstimmung kurz nach dem Erscheinen der Historienschrift
deutlich verstärkt hat, während die physischen Symptome eher zurücktra-
ten.23 -:. ;
Daß Nietzsche im April 1874 eine Krise durchmachte, läßt sich aus eini-
gen Briefen von ihm und an ihn erschließen, ferner aus seinem zeitweiligen
Verstummen und aus seinem Verhalten in dieser Zeit. Ich gehe diesen drei
Punkten kurz nach.
In den ersten Apriltagen hat Nietzsche drei Briefe geschrieben, deren
Tonlage noch gedämpfter ist, als die der in den Wochen zuvor geschriebenen.
Nietzsche ist unzufrieden mit seiner Situation, und er sieht keine Aussicht auf
Änderung. Besonders verzweifelt muß ein Brief an Cosima Wagner geklungen
haben, den er in diesen Tagen schrieb. Cosima notiert den Eingang eines „sehr
wehmütigen [Briefs] unseres Freundes Nietzsche, der sich vergrämelt".24 Sie
hat erst nach ca. drei Wochen geantwortet (20. 4. 1874), aber Richard Wagner
hat Nietzsche einen spontanen, polternd-herzlichen Trostbrief geschrieben (6.
4. 1874)25. Er rät ihm, sich zu verheiraten oder eine Oper zu komponieren;
gen Nietzsche darauf angewiesen ist, daß Freunde und Bekannte für ihn schreiben, ihm vorle-
sen, ihm beim Korrekturlesen helfen etc.
22
Von seiner Krankheit und ihrer Bedeutung für semen Werdegang spricht Nietzsche sehr aus-
führlich in den Vorreden von 1886, bes. in der zu Morgenröthe, und in Ecce homo, bes. in den
Abschnitten „Warum ich so klug bin" 2 (KSA 6,283) und „Menschliches, Allzumenschliches"
4 (KSA 6, 326). - Die beiden großen Biographien widmen der Krankheit die gebührende Auf-
merksamkeit, wobei ROSS ein ungleich größeres Maß an einfühlendem Verständnis zeigt — frei-
lich nur bis zum Ende der Basler Lehrtätigkeit Nietzsches; da er den „fugitivus errans" der
Achtziger Jahre philosophisch nicht mehr recht zu würdigen weiß, bekommt die Darstellung
der Krankheit für diese Epoche ein ihr nicht zukommendes Übergewicht.
23
Das geht besonders aus den im Folgenden zu erörternden Briefen Nietzsches von April und
Mai 1874 hervor.
24
Tagebücher I, 809 (zum 4. 4. 1874).
25
Der Brief ist bisher auf den 26.12.1874 datiert worden (vgl. E. Förster-Nietzsche, Wagner and
Nietzsche zur Zeit ihrer Freundschaft, München 1915, 213 f.). Montinari hat in KGB II 4,
654—656 diesen Irrtum korrigiert (vgi. auch seine Chronik: KSA 15, 57). Die „Zweite-Feier-
tags-Frei-Viertelstunde", von der Wagner in dem Brief schreibt, bezieht sich nicht auf den
zweiten Weihnachtsfeiertag, sondern auf den Ostermontag. Nietzsches Brief an Wagner vom
20. 5. 1874 nimmt deutlich auf den „Trostbrief" bezug, vor allem in der folgenden Passage:
„Hier und da kommt es einmal zum Missmuth, doch sehr selten, und im Ganzen habe ich mich
selbst in der Gewalt und hielte es wahrscheinlich selbst unter viel ungünstigeren Sternen aus als
die sind, welche mir jetzt leuchten: und welche Glückssterne sind. Übrigens lohnt sich selbst
jener seltnere Missmuth — wenn er wenigstens durch ergötzliche Briefe wie der Bandwurm
schriftlich beseitigt werden kann. Ich selbst stak damals, als der Brief eintraf, tief in der Musi-
kerei darin, welche ich mir, nach dem modernen Princip der ,Selbsthülfe' verordnet hatte.
Zwar nicht die ,Oper* war's - [. . .], aber es war, mit Respect zu reden, meine Musik f. . .]".
8 Jörg Salaquarda
26
Zwei kurze Briefe, an Mutter und Schwester (12. 4.) bzw. an die Mutter allein (19./20. 4.),
dienen vor allem der Terminplanung (Ferien, Reise der Schwester). Sonst ist aus diesen Wochen
nur noch ein Brief erhalten; sein Adressat war der Musiker C. Fuchs, dem Nietzsche vielleicht
deshalb schrieb, weil er auch Zuspruch nötig hatte. Nietzsche rät ihm zum (literarischen).
„Kampf". Daß man leide sei unvermeidlich, aber kämpfend lasse sich das Leid am besten ertra-
gen.
27
Janz, selbst Musiker, hat der Rolle der Musik im Leben Nietzsches in seiner Biographie viel
Platz eingeräumt. Vgl. vom selben Autor auch die Edition von Nietzsches Kompositionen (Fr.
Nietzsche, Der musikalische Nachlaß, Kassel und Basel 1976) und Die Kompositionen Fr.
Nietzsches (Nietzsche-Studien l, 1972, 173ff.). - Zur Kritik an Janz vgl. D. Schellong, Neue
Begegnung mit Nietzschet der die bedenklich kritiklose, „naive" Einstellung Nietzsches zu sei-
ner Musik hervorhebt. „Daß er komponierte ohne Kenntnisse der Musiktheorie, und daß er
sich vorstellte, komponieren wäre, seinem Herzen Luft zu machen,, und ginge, indem man es
von Zeit zu Zeit sich »gönnt* . . .: das ist vom Geschmack wie vom Können her beängstigend"
(EvTh. 41, 1981, 324ff.; hier: 366-368).
Studien >zur Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung 9
Gersdorffs und der Wagners, ^u zerstreuen. Den ersten Brief erhält Gersdorff,
Rohde bekommt mehrere, die in kurzen "Abständen auf einander folgen,
schließlich schreibt Nietzsche auch sehr ausführlich an Richard Wagner. Der
Brief an Gersdorff (8. 5. 1874) beginnt mit einer Erklärung, in der Nietzsche
die Klagen seines letzten Briefes herunterzuspielen sucht: „Lieber treuer
Freund, ich schrieb lange nicht und es kommt mir so vor, als ob Du Dich
darüber beunruhigen könntest. Dazu ist aber kein Anlass, es ist mir gut gegan-
gen und jede Depression, Melancholia ferne und tief unter mir. Ich muss durch
meinen letzten Brief einen falschen Eindruck hervorgerufen haben: weisst Du,
ich wiederhole es, es war nicht die Sprache der Depression, höchstens einer
gewissen noch nicht wünsch- und wahnlosen Resignation."28 Dann berichtet
Nietzsche von seiner Arbeit, meldet die Fertigstellung des Hymnus und den
Beginn der Dritten Unzeitgemäßen.
Woher Nietzsches seelisches Leiden rührte, ist offenkundig. Vordergrün-
dig litt er an der Sorge, daß Wagners Bayreuther Unternehmen vom Scheitern
bedroht war und damit die von ihm seit der Geburt der Tragödie immer wie-
der beschworene Erneuerung der deutschen Kultur in weite Ferne rückte. Dies
gibt Nietzsche offiziell als Grund an, etwa in dem Schreiben an Wagners alte
Freundin Malwida vom 4. April. Tatsächlich wurde ihm mehr und mehr be-
wußt, daß ihn viel mehr das Gelingen der Bayreuther Pläne bedrohte, weil ihm
immer deutlicher wurde, daß er selbst auf etwas ganz anderes hinaus wollte als
Wagner. Das Nachdenken über die Rolle des Philosophen und über „das frei-
willige Leiden der Wahrhaftigkeit" ist aus dieser tieferen Problemschicht er-
wachsen. Daß sich die latente Depression,* die ja nach dem 8. Mai keineswegs
zu Ende war, im April 1874 aber krisenhaft zuspitzte, muß eine zusätzliche
Ursache haben. Ich vermute, daß es mit einigen Reaktionen zusammenhängt,
die Nietzsche im Lauf des März auf seine Zweite Unzeitgemäße Betrachtung
erhalten hatte. Dabei ging es um seine Fähigkeiten als Schriftsteller; Äußerun-
gen von Rohde und von Cosima Wagner haben seine diesbezüglichen Selbst-
zweifel allem Anschein nach verstärkt. Dafür sprechen einige Äußerungen
Nietzsches in dem oben schon erwähnten, bisher aber noch nicht berücksich-
tigten Brief an Gersdorff vom 1. -April.
Ich gehe zunächst auf die Reaktionen ein. In Wahnfried ist die Schrift über
die Historie am 22. 2. 1874 eingetroffen. Man begann noch am gleichen Tag
mit der Lektüre, die am 24. 2. beendet wurde. Am Abend des folgenden Tages
28
Gersdorff ließ sich durch diese Äußerung zunächst beruhigen (an Nietzsche, 14. 5.1874). Aber
bei einem Besuch in Bayreuth kamen ihm wieder Zweifel. „Ich habe leider aus Deinem letzten
Brief an Frau-Wagner ersehen, dass die Depression in der Du vorher stecktest, jetzt nicht in
wirkliche Resignation übergangen ist, sondern in eine Art von gewaltsamer Betäubung Deiner
gegen die Misere der Gegenwart sich sträubenden Kräfte" (29. 5. 1874). Nietzsche reagierte
darauf ein wenig unwillig: „[. . ^eigentlich bin ich ein wenig böse, dass Ihr mir gar nicht glau-
ben wollt, dass es mir gut [. . .] geht. [. . .] Also nur keine Besorgnisse" (1. 6. 1874).
10 Jörg Salaquarda
bildete das Buch eines der Hauptgesprächsyhemen.?9 Mit Datum vom 20. 3.
hat Cosima in einem Brief an Nietzsche ausführlich Stellung genommen. Lob
und Anerkennung überwiegen, aber sie läßt auch deutliche Kritik einfließen:
Die Schrift sei zu allgemein gehalten30 und werde deswegen von den meisten
nicht verstanden werden; die Ausstattung sei zu aufwendig und das Buch des-
wegen zu teuer31; die Form der Darstellung und der Stil seien nicht frei von
Fehlern und schließlich seien auch einige sprachliche Nachlässigkeiten zu rü-
gen. Mag diese Mischung aus Lob und Kritik auch in den Sätzen ausklingen:
„Indem ich dieses Unbedeutende niederschreibe* kommt der Contrast zwi-
schen Innerlichkeit und Aeusserlichkeit aus Ihrer prächtigen Schrift als glän-
zendster Moment derselben mir in den Sinn, und ich finde es recht thöricht
Ihnen meine Förmlichkeiten aufzutischen, während ich noch gar nicht genü-
gend Ihnen gesagt habe, wie die Gedankenfülle und die ausserordentliche Ei-
genthümlichkeit der Anschauung mich entzückt haben. Das bringt das Plau-
dern der Intimität so mit sich, das Grosse lässt man lieber dabei unberührt,
und bespricht heiter gestimmt durch die Uebereinstimmung im Erhabenen,
lieber das Kleine. Sie wissen und verstehen wohl durch alles, welche Freude Sie
uns bereitet haben, mein werther Freund? —"; so wird Nietzsche nicht ent^
gangen sein, daß die Schrift insgesamt in Bayreuth kühler aufgenommen wör-,
den war, als die beiden vorangegangenen und daß man seine schriftstellerische
Leistung in diesem Fall relativ gering veranschlagte.32
29
C. Wagner, Tagebücher I, 794f.
30
In den Tagebüchern kommt der kritische Akzent in diesem Punkt deutlicher heraus: „es fängt
sehr abstrakt an und dadurch erhält es etwas Willkürliches" (I, 794).
31
Wenn Cosima schreibt: „Derjenige welcher mit Freude die fünfzehn Silbergroschen für den
»Beethoven* [Wagners] giebt, wird bei der grössten Begeisterung vielleicht nicht den Thaler
finden können um den Nutzen und Schaden der Histbrie sich vorzuführen", dann schwingt
sicher eine unterschwellige Mahnung mit, Nietzsche solle damit zufrieden sein* der Sache des.
„Meisters" zu dienen und sich nicht dazu hinreissen lassen, mit ihm zu wetteifern.
32
Interessant ist der Bericht Elisabeth Förster-Nietzsches: „Wir erfuhren . . . auf Umwegen, daß
sich Wagner sowohl als Frau Cosima ziemlich kühl und enttäuscht über diese Schrift ausge-
sprochen hatten. Mein Bruder fühlte sich dadurch recht verletzt. Diese Schrift war die erste,
welche keine directe Beziehung zu Wagner oder seiner Kunst hatte;. . . Mit dunklem Unbeha-
gen empfand er, daß man ihn in Bayreuth doch nur als Wagnerschriftsteller betrachtete; in einer
solchen Enge zurückgehalten zu werden, war für ihn ein furchtbarer Gedanke. Übrigens klang
der briefliche Dank von Wagner und Frau ebenso warm und herzlich wie in den früheren Brie-
fen. ... erst um Ostern herum hörte er die währe Bäyreuther Meinung, und wir legten dann in
die schriftlichen Äußerungen Allerhand hinein, was eigentlich nicht darin stand." Elisabeth
gibt dann den Text von Wagners Brief vom 27. 2. 1874 wieder und leitet schließlich mit folgen-
dem Satz zu Cosimas Brief über: „Frau Cosima's Brief ist bedeutend ausführlicher, klingt auch
noch wärmer und freundschaftlicher, aber all die schönen Worte erschienen meinem Bruder
später doch nur wie Blumen, die die bittre Wahrheit verdecken sollten, daß nicht nur für die
Meisten, sondern eigentlich für den Meister diese Schrift inaccessible wäre" (Große Biographie',
II, l, 144f.).
Im Zweifelsfall ist Elisabeth gewiß kein verläßlicher Zeuge, in diesem Punkt dürften ihre Erin-
nerungen aber vertrauenswürdig sein. Wie wir jetzt aus Cosimas Tagebüchern (I, 811) wissen,
Studien zur Zweite» Unzeitgemäßen Betrachtung 11
Neben dem „Sekretär" Gersdorff war noch ein anderer Freund Nietz-
sches intensiv an der Entstehung der Zweiten Unzeitgemäßen beteiligt: Erwin
Rohde. Er las auf Nietzsches Bitte hin die Korrekturen und hat diese Aufgabe
sehr ernst genommen. Die fertige Schrift enthält gegenüber dem Druckmanu-
skript eine Fülle von Verbesserungen, die entweder direkt auf Rohde zurück-
gehen oder von Nietzsche auf eine kritische Anmerkung Rohdes hin vorge-
nommen worden sind.33 Nach Abschluß der Korrekturen und kurz vor Er-
scheinen der Schrift hat Nietzsche dem Freund für seine Mühe und Sorgfalt
gedankt und eine weitere Bitte angefügt: „sage mir doch mit Härte und Kürze
Fehler, Manieren und Gefahren meiner Darstellungsart — denn darin genüge
ich mir nicht und erstrebe etwas ganz Anderes" (15. 2* 1874).
Offenbar war Nietzsche mit den in der Schrift entwickelten Gedanken
leidlich zufrieden, während er selbst den Eindruck hatte, in der Art der Dar-
stellung weit hinter dem von ihm Angestrebten zurückgeblieben zu sein.34
Nietzsche hatte seit seiner Studentenzeit großen Wert auf die Verbesserung
seines Stils golegt. W. ROSS hat überzeugend herausgearbeitet, daß ihm gegen
Ende seines Studiums der „Geheimberuf" eines wissenschaftlichen Schriftstel-
lers vorschwebte.35 Die frühe Berufung nach Basel hat diesem Plan ein Ende
befeitet. Aber er wird wieder aufgelebt sein — um so stärker, je mehr sich
Nietzsche in seiner Rolle als Basler Universitätslehrer unwohl fühlte. Schon
1870 hatte er ja an Cosima geschrieben: „In Sachen Baireuths habe ich mir
überlegt, daß es für mich das Beste sein dürfte, wenn ich auf ein paar Jahre
meine Professoren-thätigkeit einstelle und auch mit ins Fichtelgebirge wallfah-
re" (19. 6.), d.h. er wollte durch Vorträge„und Essays der Sache Wagners die-
nen. Wieviel mehr mußte ihn der Plan nun anziehen, da er schon halb ent-
schlossen war, nicht mehr der Sache Wagners, sondern — der Wahrheit zu die-
nen. Aber konnte er denn schreiben?
hat Wagner HL am 9. 4. noch einmal gelesen und wie folgt dazu Stellung genommen: „Es ist
die Schrift eines sehr bedeutenden Menschen, und wenn er sehr berühmt werden sollte, wird
auch diese Schrift einst beachtet werden. Sie ist aber noch sehr unreif, alle Anschaulichkeit fehlt
ihr, weil er niemals Beispiele aus der Geschichte giebt und doch viele Wiederholungen und
keine eigentliche Einteilung hat. Diese Schrift ist zu schnell erschienen. Ich weiß niemanden,
dem ich sie zur Lektüre geben könnte, weil ihm kein Mensch folgen kann. Die Grundidee hat
Schopenhauer schon ausgesprochen, Nietzsche hatte sie viel mehr vom pädagogischen Stand-
puncte aus beleuchten sollen."
33
VgL Nietzsche an Rohde, 21. 11. und 31.12. 1873,15. 2. und 19. 3. 1874. - Rohde an Nietz-
sche, 25.11. und 23.12.1873,9.1., 16. 3. und 17. 6.1874. - Montinari, Chronik: KSA 15, 53
und 55. - Zu Rohdes Verbesserungsvorschlägen: KSA 14, 64-74.
34
„Man denke nur ja nicht, daß er in Bezug auf seine Schriftstellerei irgendwie süffisant gewesen
wäre - nein, ganz im Gegentheil! Er äußerte sich stets auf das allerbescheidenste über seine
eigene Begabung; als Grundstimmung kam immer zum Vorschein: ,Wenn ich mich recht an-
strenge, so kann ich einmal ein mäßiger Schriftsteller werden.'" (E. Förster-Nietzsche, Große
Biographie II l, 139).
35
Der ängstliche Adler, 130ff. - Vgl. Nietzsche an Rohde, 15. 12. 1870.
12 Jörg Salaquarda
Rohde hat sich auch der Bitte nach Kritik nicht versagt. Zuerst und zuletzt
zollt er freilich der Schrift des Freundes hohes Lob (vgl. auch schon den Brief
vom 9. 1. 1874) und versichert ihm, daß er ihm in allen darin geäußerten Ge-
danken zustimme.36 Dann erst äußert er Kritik und zwar vor allem in zwei
Punkten, die beide die Arbeit des Schriftstellers betreffen: „Du deducirst
allzu wenig, sondern überlassest dem Leser mehr als billig und gut ist, die
B r ü c k e n zwischen Deinen Gedanken und Sätzen zu finden. [. . .] Zuweilen
habe ich den Eindruck, als ob einzelne Stücke zuerst für sich fertiggear-
beitet worden wären, und dann, ohne in dem Fluß des Metalls völlig wieder
aufgelöst worden zu sein, dem Ganzen eingefügt worden wären" (24. 3. 1874).
Diese Kritik, vor allem der zweite Punkt, hat einiges für sich; Nietzsche
wird sich ihr nicht verschlossen haben. Nun fällt auf, daß er, anders als in frü-
heren Fällen37, mit keinem Wort auf die ausdrücklich von ihm erbetenen Ein-
wände des Freundes eingegangen ist. Während der Krise hat er nicht an Rohde
geschrieben und in den drei später in rascher Folge abgeschickten Briefen (vom
10., ca. 14. und vom 25. 5. 1874) steht über diesen Vorgang kein Wort. Das
mag ein Zufall sein. Sieht man es aber im Zusammenhang der bisher zusam-
mengetragenen Beobachtungen und vor allem im Lichte des noch zu erörtern-
den Briefs an Gersdorff, dann verdichtet es die Vermutung, daß die maßvolle
Kritik den ohnehin .an sich zweifelnden Nietzsche tief betroffen gemacht hat.
Wenden wir uns nun dem Brief an Gersdorff vom l. April zu, dem eine
Schlüsselfunktion in diesen Überlegungen zukommt. Auch Gersdorff war eng
mit der Entstehung der Unzeitgemäßen Betrachtung über die Historie verbun-
den: Nietzsche hat ihm große Teile der Schrift diktiert, und er hat das Druck-
manuskript angefertigt. Später hat er die Schrift auf Druckfehler hin durchge-
36
Vgl. O. Crusius, E. Rohde. Ein biographischer Versuch, Tübingen 1902, 70: „Völlig unver-.
kennbar ist die Gleichheit der Gedankenstimmung zwischen Rohde und Nietzsche^.Die ,Un-
zeitgemässen Betrachtungen* hat Rohde, in stetem Briefwechsel mit dem Freunde, geradezu
mit durchlebt. Den tiefsten Eindruck hinterliess ihm das zweite Stück ,Vom Nutzen und Nach-
theil der Historie für das Leben*." ~ Unter den von Crusius im Anhang seines Buchs mitgeteil-
ten Cogitata Rohdes findet sich als Nr. 47 eine auf 1874 datierte Auf Zeichnung j die den
„Gleichklang" bestätigt: „Eine historische Betrachtung hat solange mit der Cultur nichts ge-
mein, als sie nicht ihr Resultat zu einem Motive für den Willen zu machen im Stande ist. Jetzt.
bringt man nun gar die Religion den Kindern historisch bei! Das liegt nun allerdings in der
Consequenz: aber doch welche Stumpfheit des Gedankens. Lehrreich wäre es, einmal in der
Geschichte der classischen Philologie den Weg von der wirklichen Culturbedeutung dieser Stu-
dien zu ihrer vollen Historisirting zu verfolgen" (238). — Rohde bleibt freilich viel enger der
Schopenhauerschen Begrifflichkeit verhaftet als Nietzsche; da er auch noch an die historischen
Beispiele denkt, wäre Wagner mit einer entsprechenden Schrift von ihm vermutlich zufriedener"
gewesen . . . ..
37
Nietzsche hat von Rohde auch für die zweite Auflage von GT Kritik und Korrekturvorschläge
erbeten (4. 1. 1873) und von diesem auch erhalten (12. 1. 1873). Daraufhin schrieb Nietzsche
am 31. 1.: „Ich habe mit größtem Dank Deine reichliche Blüthenlese aus der ersten Auflage
angenommen und ausnahmslos benutzt.**
Studien zur Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung 13
lesen.38 Von diesem Freund hat Nietzsche freilich nur begeistertes Lob über
sein Buch zu hören bekommen — er spielte zu dieser Zeit die Rolle des Schrei-
bers und Akklamateurs, die später Gast so vollkommen ausgefüllt hat.
Gersdorff hat sich, wie er schreibt, wie ein Kind über das Erscheinen der
Schrift gefreut, hat sie mehrfach gelesen und sie jedes Mal aufs Neue bewun-
dert. Er bemüht Luther und Beethoven, um die Leistung des Freundes ins
rechte Licht su rücken. „Du hast dreingeschlagen wie Luther und mit Papier
und Druckerschwärze ein Gewitter zu Wege gebracht, dessen Du Dich vor
Beethoven nicht zu schämen brauchst." Die Bruchstellen sind nach Meinung
Gersdorffs der fertigen Schrift nicht mehr anzumerken — er spendet auch dort
Lob, wo Rohde ein Fragezeichen gesetzt hatte: „Dass es Dir gelungen ist, die
Stimmung zu finden, um das wundervolle dritte Capitel so fest hinein — und
das 10te so schön abschliessend anzufügen, beruhigt mich noch in der Erinne-
rung über so manche Sorgen, die mich bei unserer Trennung beschlichen." Mit
dieser Bemerkung läßt er freilich erkennen, daß Nietzsche bis zuletzt mit der
Abrundung und Komposition der Schrift Probleme gehabt hat. Der positive
Ausblick, nämlich die Beschwörung der „Jugend", die sich der „Gifte" des
„Überhistorischen" und des „Unhistorischen" bedienen werde, das heißt der
gesamte Abschnitt 10, ist erst um die Jahreswende in Naumburg fertig gewor-
den, und Gersdorff hatte ihn vor Erscheinen der Zweiten Unzeitgemäßen
nicht gekannt. Offenbar war gegen Mitte Dezember, als Gersdorff Basel ver-
lassen hatte, auch der dritte Abschnitt noch nicht abschließend formuliert. Wie
in der nächsten dieser Studien zu zeigen sein wird, gehört die „kritische Histo-
rie" tatsächlich zu den Gedanken, die Nietzsche erst ziemlich spät eingefügt
hat.
Gersdorffs Begeisterung hat Nietzsches Selbstzweifel nicht beseitigt — er
hat den Freund in dieser Hinsicht offenbar für weniger kompetent gehalten als
Rohde. Nietzsche wehrt freundlich aber bestimmt ab: „Lieber getreuer
Freund, wenn Du nur nicht eine viel zu gute Meinung von mir hättest! Ich
glaube fast, dass Du Dich einmal über mich etwas enttäuschen wirst; und will
selbst anfangen, dies zu thun, damit dass ich Dir aus meiner besten Selbster-
kenntniss heraus erkläre, dass ich von Deinen Lobsprüchen nichts verdie-
ne." Die sich anschließende Selbstkritik richtet sich nun nicht auf den Inhalt
der Schrift, sondern auf die schriftstellerische Fähigkeit: „Könntest Du wis-
sen, wie verzagt ich im Grunde von mir selbst, als producirendem Wesen,
denke. Ich suche weiter nichts als etwas Freiheit, etwas wirkliche Luft des Le-
bens und wehre mich, empöre mich gegen das viele, unsäglich viele Unfreie,
was mir anhaftet. Von einem wirklichen Produciren kann aber gar nicht gere-
38
VgL Nietzsche an Gersdorff, 18.10., 27.10., 26.12.1873,18.1., 11.2.,Ende2., 1. 4.1874. -
Gersdorff an Nietzsche, 20.11., 26.12. 1873,20.1., 11. 3., 14. 4., 14. 5.1874. - VgL Monti-
nari, Chronik: KSA 15, 53.
14 Jörg Salaquarda
det werden, so lange man noch so wenig aus der Unfreiheit, aus dem Leiden
und Lastgefühl des Befangenseins heraus ist: werde ich's je erreichen? Zweifel
über Zweifel. Das Ziel ist zu weit und hat man's leidlich erreicht, so hat man
meistens auch seine Kräfte im langen Suchen und Kämpfen verzehrt: man
kommt zur Freiheit und ist matt wie eine Eintagsfliege am Abend. Das fürchte
ich so sehr. Es ist ein Unglück, sich seines Kampfes so bewusst zu werden, so
zeitig! Ich kann ja nichts von Thaten entgegenstellen, wie es der Künstler oder
der Ascet vermag. Wie ekelhaft ist mir oft das rohrdommelhafte Klagen! - Ich
hab's augenblicklich etwas sehr satt und über."
Gegen Ende des Briefes kommt Nietzsche erneut auf Vom Nutzen und
Nachtheil zu sprechen; bei dieser Gelegenheit flicht er die einzige erhaltene
Bemerkung über Rohdes Kritik ein: „Ich lege einen schönen und auch für
Dich lehrreichen Brief Rohde's bei; gelegentlich wieder zurückgeben." Im Zu-
sammenhang des Briefes kann Nietzsche nicht Rohdes Zustimmung und Lob
als für Gersdorff „lehrreich" ansehen, sondern nur die Monierung der schrift-
stellerischen Unzulänglichkeiten. Gersdorff hat den Hinweis auch so ve~rstan-
den. In seiner Antwort (vom 14.4. 1874) beharrt er auf seinem Eindruck, ohne
Rohde geradezu zu widersprechen: „Was Rohde Dir über die Historie ge-
schrieben hat, ist so vortrefflich, wie Alles was aus diesem wunderbaren Men-^
sehen herauskommt. Aber das ändert gar nichts an meinem "Eindruck, wie ich
ihn Dir einfach und harmlos geschildert habe."
Wenn Nietzsche in seinem Klagebrief an Gersdorff hinzufügt: „Herrliche
Briefe der Bayreuther", so klingt das zwar positiv. Aber es erinnert ihn selbst
offenbar wieder an die Kritik und Selbstkritik, und er versucht eine Art Recht-
fertigung zu formulieren: „Meine Schriften sollen so dunkel und unverständ-
lich sein! Ich dachte, wenn man von der Noth redet, dass solche, die in der
Noth sind, einen verstehen werden." Er merkt aber, daß sich seine Argumen-
tation im Kreis dreht: „Das ist auch gewiss wahr: aber wo sind die, welche ,iri
der Noth' sind?"
Ich bin von der Beobachtung ausgegangen, daß Nietzsche seine Zweite
Unzeitgemäße Betrachtung später kaum mehr erwähnt, bzw., wenn er es doch
tut, mit deutlicher Reserve von ihr spricht. Die in dieser Studie zusammenge-
tragenen Beobachtungen deuten darauf hin, daß er schon kurz nach ihrer Ver-
öffentlichung mit diesem Werk nicht gerade zufrieden war, wobei er allerdings
weniger an den Inhalt dachte, als an seine Leistung als Schriftsteller. Ich ver-
mute, daß dieses Ungenügen durch die Briefe Cosimas'und vor allem Rohdes
verstärkt wurde und daß dies ein Grund dafür war, daß sich im April 1874
Nietzsches ohnehin depressive Grundstimmung noch deutlich verschlechtert
hat.39 Das alles wird dazu beigetragen haben, daß sich Vom Nutzen und Nach-
39
Vgl. auch E. Förster-Nietzsche, Große Biographie II l, 149: „Als ich Ende April 1874 . . .
Studien zur Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung 15
theil der Hisiorie für das Leben in Nietzsches Erinnerung mit eher unangeneh-
men Gefühlen verband, und daß er die Schrift zu seinen weniger geglückten
Arbeiten rechnete.
nach Basel kam. . . fand ich Fritz in ziemlich mißmuthiger Stimmung: er sprach sich über alles
Mögliche, vorzüglich aber über sich selbst, sehr bedrückt aus. . . . Er dachte, wie ich schon
öfters erwähnte, bei den ungeheueren Anforderungen, die er an sich stellte, äußerst bescheiden
von seiner Begabung ..." (Hervorhebung von mir).
40
EH, „Die Unzeitgemässen" (KSA 6, 316r-321). - „Die Schrift ,Wagner in Bayreuth' ist eine
Vision meiner Zukunft; dagegen ist in »Schopenhauer als Erzieher* meine innerste Geschichte,
mein Werden eingeschrieben. Vor Allem mein Gelöbniss! . . ." (320). - VgL an Brandes,
19. 2. 1888.
16 Jörg Salaquarda
Zu den positiven Thesen der Schrift gehören die Unterscheidung von Un-
historischem, Historischem und Uberhistorischem, die drei Weisen lebens-
dienlicher Historie, der Gedanke der Gerechtigkeit, die Einsicht in die histori-
schen Wurzeln des Historismus etc. Alle diese Phänomene bedürfen einer ein-
gehenden Untersuchung. Die folgende Studie stellt nur eine, allerdings uner-
läßliche, Vorarbeit dazu da. Sie kann verständlich mächen, warum Nietzsche,
im Gegensatz zur Sekundärliteratur, diese Phänomene später so wenig beach-
tet hat, obwohl in ihnen wesentliche Gedanken und Methoden seines eigen-
ständigen Philosophierens vorgeprägt sind.
In Nietzsches Nachlaß taucht das Stichwort „Historie" zur Kennzeich-
nung des geplanten „Zweiten Stiicks" der Unzeitgemäßen Betrachtungen zum
ersten Mal im drittletzten Fragment des Hefts U II l von Frühjahr—Herbst
1873 auf (III 27 [79]). In den beiden noch folgenden Aufzeichnungen dieses
Hefts hat Nietzsche erste Überlegungen zu Inhalt und Tendenz der geplanten
Schrift festgehalten. Nietzsche denkt vom „Schlusskapitel" aus, in dem er vor
den schädlichen Folgen des Uberwucherns des Historischen warnen will,
nämlich vor „Ironie" und vor „Cynismus" (27 [80], vgl. HL 9). Den Grund-
gedanken des Essays faßt Nietzsche in der Formel „Die historische Krank-
heit als Feindin der Cultur" zusammen, und er notiert sich dazu einige
Gesichtspunkte: Allzuviel Historie mäche schwach und verstelle den Blick für
das Vorbildliche; sie vergeude Energie, weil sie auch das Belanglose, zu Recht
bereits Vergessene, wieder ausgrabe; wie jede Ubertreibung sei auch die Hy-
pertrophie des historischen Sinns etwas Barbarisches; sie führe dazu, daß man
weitgehend in Erinnerungen lebe: das sei aber höchstens dem Alter angemes-
sen. Nietzsche beschließt diese Aufzeichnung (27 [81]) mit einem Hinweis auf
die positive Intention der Schrift: „Nicht Respect vor der Geschichte, sondern
ihr sollt den Muth haben, Geschichte zu machen!"
In den etwa gleichzeitig beschriebenen Blättern der Mappe XIII l von
Frühjahr—Herbst 1873 und zu Beginn des Heftes U I I 2 von Sommer—Herbst
1873 kommt Nietzsche zunächst nicht auf diesen Plan zurück, sondern kehrt
zu dem Problemkreis „Wahrheit" und „allerlei Diener der Wahrheit" zurück,
mit dem er sich schon zuvor beschäftigt hatte.41 Mit Fragment 27 des Heftes U
II 2 wendet er sich wieder dem Thema „Historie" zu, um dann auch dabei zu
bleiben. In Fragment 160 dieses Manuskripts hat Nietzsche eine detaillierte
Gliederung des Essays gegeben, die weitgehend der der fertigen Schrift ent-
spricht. Auch danach enthält das Heft noch Material' zur Zweiten Unzeitge-
mäßen, zum Teil längere Stücke, die unmittelbare Vorstufen des später veröf-
fentlichten Texts ausmächen (etwa 29 [172] zu HL 1); aber dazwischen finden
sich auch schon Notizen zu anderen Plänen. Das Heft U II 3 von Herbst
41
Vgl. Anm. 2.
Studien zur Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung 17
1873-Winter 1873/74 beginnt mit dem endgültigen Titel der Schrift (30 [1])
und mit einer Vorstufe zu HL l, die mit der endgültigen Fassung schon weit-
gehend übereinstimmt (30 [2]). Dann wendet sich Nietzsche endgültig anderen
Themen zu, in Fragment 9 ist bereits eine Aufzeichnung zur Unzeitgemäßen
über Schopenhauer zu finden.
Für die Rekonstruktion der Entstehung der Schrift über Nutzen und
Nachtheil der Mistorie für das Leben sind somit vor allem die Aufzeichnungen
27 bis 160 des Heftes U I I 2 relevant. Auf sie stützt sich die folgende Analyse.
Nietzsche hat uns die Aufgabe leicht gemacht, weil er immer wieder Gliede-
rungen der gesamten Schrift, wie sie ihm jeweils vor Augen stand, bzw. von
Teilen der Schrift zu Papier gebracht hat.42 Auch das ist ein Indiz dafür, wie
sehr ihn das Problem der Komposition seiner Abhandlung beschäftigte.
Nietzsches Überlegungen nehmen ihren Ausgang von der „Hyperr
trophie des historischen Sinnes", die er in seiner Zeit beobachtet
(29 [37]). Am deutlichsten zeige sich das an der wissenschaftlichen Literatur:
„Die Zahl der jährlich erscheinenden historischen Schriften? Dazu noch
zu rechnen, dass fast die ganze AlterthumsWissenschaft noch hinzugehört!
Und überdiess in fast allen Wissenschaften beinahe die überwiegende Masse
Schriften historisch ist [. . .]" (29 [82]).
Der erste Versuch einer Ausarbeitung dient der Erklärung des Phäno-
mens. Unter der Überschrift „Woraus erklärt sich die Hypertrophie des
historischen Sinnes?" (29 [37]) notiert sich Nietzsche sechs Punkte, von
denen allerdings nur vier mögliche Ursachen, zwei eher Folgen der „histori-
schen Krankheit" aufzählen. Ursachen sind*: „Feindschaft gegen das Er-
dichtete, Mythische", „Feindschaft gegen die Lebensprobleme", Hi-
storie „verbirgt oder drapirt die, welche sich damit befassen — ist leich-
ter als ein Kunstwerk", und: „Sie ist demokratisch und lässt jedermann zu,
beschäftigt die geringsten Köpfe. Sie ist das Ideal eines Wahrheitsstrebens, bei
dem nichts herauskommt."
Diesen Notizen liegt offenbar der Gegensatz zwischen der alexandrini-
schen und der tragischen Kultur zu Grunde, den Nietzsche in der Geburt der
Tragödie entwickelt hatte.43 Die Historie nimmt überhand, weil der alexandri-
nische Typ der schwachen Persönlichkeit vorherrscht, die sich den Lebenspro-
blemen entzieht, sich den Anschein von Gerechtigkeit gibt und es nicht wagt,
ein künstlerisch-mythisches Bild von der Wirklichkeit zu gestalten.
42
Die erste Gesamtgliederung findet man in 29 [38], weitere in 29 [90], [97], [146], [147], [153],
[156], [157J, [J5SJ und, wie schon im Text gesagt, [160], welche als Gliederung der Schrift in
ihrer endgültigen Form genommen werden kann. — Planskizzen zu bestimmten Teilen 'der
Schrift findet man in 29 [37], [102], [151], [152], [155], [158],
43
Vgl. bes. GT 17 und 18 (bes. KSA l, 115 und 117).
18 Jörg Salaquarda
Auch die Folgen fügen sich in dieses Schema ein: Die überhandnehmende
Historie „löst auf und macht schlaff, weil sie durch Analogien das Rechtsge-
fühl und die Instinkte, kürz das Naive in Sitte und Handeln tödtet oder
lahmt." An einem Beispiel macht Nietzsche anschaulich deutlich, was er
meint. Er vergleicht die reformatorische Kritik an den Dogmen und Satzungen
der Kirche mit der zeitgenössischen „Evangelien-Kritik". Während jene zu ei-
ner lebendigen Erneuerung der Religion geführt habe, sei diese lediglich nega-
tiv und auflösend und demonstriere damit, daß sie „im Grunde nicht von
fruchtbaren kräftigen Instinkten geleitet wird."
Nach dieser Aufzählung der Gründe der „Hypertrophie des histori-
schen Sinnes" hat Nietzsche unter dem Stichwort „Die historische Krank-
heit" eine erste Planskizze zu Papier gebracht (29 [38]). In ihr faßt er das bisher
Gesagte zusammen und führt den Gegensatz auf eine einfache Dichotomie zu-
rück. Das Überwuchern des Historischen ergibt sich aus der „antiquarischen"
Haltung, die richtige Einstellung zur Geschichte ist die „klassische" oder
„monumentale".44 Diese Einstellung ist dem Leben förderlich, jene ist ihm
schädlich (vgl. 29 [29], [31], [35], [38]).
Nietzsche folgert daraus aber nicht> daß die monumentale Haltung gegen-
über der Geschichte wahr, die antiquarische falsch sei, im Gegenteil: „Das Le-
bensbedürfniss verlangt nach dem Klassischen, das Wahrheitsbedürfniss nach
dem Antiquarischen" (29 [29]). Dies hat sich bis zu den „Lehren, die ich für
wahr, aber für tödtlich halte" in HL 9 durchgehalten, allerdings so> daß es dem
in der Schrift dargelegten differenzierten Schema nicht mehr ganz entspricht.
Bleiben wir bei dem Schema „monumental (klassisch) — antiquarisch".
Die monumentalische Einstellung zur Geschichte ist, weil die lebensdienliche,
auch die natürliche. Der Mensch ist notwendig ein historisches Lebewesen,
weil er sich erinnert^5. Erinnern ist ein Vergleichen des Gegenwärtigen mit
dem Vergangenen, und das Vergleichen ist ein „Gleichsetzen".46 Mit dem
Erinnern = Vergleichen == Gleichsetzen meint Nietzsche das ,', historische*
Urphänomen" gefunden zu haben (29 [29], vgl. [38]). Da es aber in Wirklich-
keit nichts Gleiches gibt, ist Historie von ihrem anthropologischen Fundament
aus eben nicht auf Wahrheit aus* „Das Leben erfordert also das Gleichsetzen
des Gegenwärtigen mit dem Vergangnen; so dass immer eine gewisse Gewalt-
44
Das „Klassische": 29 [29], [31], [38]. - Das „Monumentale": 29 [34], [35], [38].
45
Das Motiv hat sich durchgehalten. In HL l (KSA l, 249) heißt es: „Dann sagt der Mensch ,ich
erinnere mich* und beneidet das Thier, welches sofort vergisst [. . .]" In der fertigen Schrift
geht Nietzsche aber nicht mehr auf den Zusammenhang Erinnern - Vergleichen — Gleichset-
zen ein; die Unterscheidung von „historisch" und „unhistorisch" hat sich in den Vordergrund
gedrängt (vgl. auch Anm. 60).
46
In der nachgelassenen Schrift WL hat Nietzsche formuliert: „Jeder Begriff entsteht durch
Gleichsetzen des Nicht-Gleichen" (KSA l, 880). Er behauptet dort also von jeder Erkenntnis,
was er hier nur von der historischen sagt.
Studien zur Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung 19
samkeit und Entstellung mit dem Vergleichen verbunden ist" (29 [29]). Auch
und gerade in seiner Beschäftigung mit der Vergangenheit ist der Mensch auf
den lebensfördernden „Wahn" angewiesen47 - in diesem Fall auf den Wahn,
daß es etwas Allgemein-Menschliches gibt, „das zu allen Zeiten entstehen
kann, zu dem die Ursachen immer da sind" (29 [34]).
Unter einer Bedingung könnte dieser lebensfördernde Wahn freilich mit
der Wahrheit-zusammenfallen: dann, aber auch nur dann, wenn sich bestimm-
te Konstellationen und Ereignisse in genau der gleichen Form wiederholten,
das heißt, wenn es eine „Wiederkehr des Gleichen" gäbe. Wie in HL l
schreibt Nietzsche diesen Gedanken den Pythagoreern zu (29 [29]) und wür-
digt ihn keiner Diskussion: „Bei pythagoreischer Gonstellation wäre von ei-
nem Nutzen der Geschichte zu reden. So aber ist die Motivirung jeder Hand-
lung eine verschiedne" (29 [38], vgl. [61]). Diese Vorstufe zeigt aber sehr viel
deutlicher als der spätere Text in HL 2, wo der Wiederkunftsgedanke ja nur
mit einer der drei lebensdienlichen Weisen der Historie verbunden wird, daß
wir es hier mit einer Wurzel von Nietzsches späterer Lehre zu tun haben.
Die antiquarische Einstellung zur Geschichte bedarf nicht einer so extre-
men Möglichkeit, um wahr zu sein. Sie nimmt die Vergangenheit wie sie wirk-
lich gewesen ist. Dabei stellt sie fest, daß die monumentale Historie die Ereig-
nisse gefälscht hat, sei es, daß sie sie völlig erfunden hat oder daß sie zum Min-
desten nicht so groß gewesen sind. Vor allem aber macht sie deutlich, daß jedes
historische Ereignis eine „ganz individuelle Möglichkeit" ist, die von ganz be-
stimmten Ursachen abhängt und daher unwiederholbar ist (29 [31]).
Unterzieht man die bisher erörterten Texte einer genaueren Analyse, dann
macht man eine überraschende Entdeckung. Nietzsche ist zwar offensichtlich
von dem skizzierten einfachen Schema ausgegangen: Der Tätige eignet sich die
Vergangenheit monumental (klassisch) an und dient damit dem Leben, freilich
um den Preis, daß er die Geschichte verfälscht. Der Kontemplative dagegen
betrachtet die Vergangenheit antiquarisch, wird damit ihrer jeweiligen Indivi-
dualität gerecht, schadet aber dem gegenwärtigen Leben. Aber wähirend
Nietzsche dieses Schema skizziert, hat er es zugleich schon als zu simpel emp-
funden. In der Konsequenz dieses Schemas hätte es gelegen, die „historische
Krankheit" als bloße Folge des Siegs der wahrhaften, aber tödlichen antiquari-
schen Historie über die zwar wahnhafte, aber lebensdienliche monumentale
bzw. klassische Historie darzustellen. Eine der ersten Aufzeichnungen weist
auch in diese Richtung: „Denkt man sich die andre [= die antiquarische] Rich-
tung übermächtig, so hört die Vergangenheit auf, vorbildlich und mustergültig
zu wirken, weil sie aufhört, Ideal zu sein, und individuelle Wirklichkeit wie
47
29 [38], vgl. 29 [83], wo Nietzsche sich unter Anspielung auf Wagners Meistersinger notiert:
„[, . .] dann .fehlt der Wahn: bei grossen Dingen, die nie ohn* ein'gen Wahn gelingen". Dieses
Stück hat er später in HL 7 verwendet.
20 Jörg Salaquarda
die Gegenwart selbst geworden ist. Sie dient dann nicht mehr dem Leben, son-
dern ist gegen dieses Leben" (29 [29]).
Aber indem Nietzsche versucht, diesen Gedanken nur ein Stück weit aus-
zuführen, wird er ihm problematisch. Zum einen wird er gewahr, daß die
„Hypertrophie des historischen Sinnes" durchaus nicht nur aus dem Streben
nach Wahrheit erwächst. Auch die antiquarischen Historiker, ja gerade sie,
haben ihre „Mythologie" (29 [33], vgl. [73]). Was damit gemeint ist, sagt die
folgende Notiz: „die Ideen ,die es lieben, sich in immer reineren Formen zu
offenbaren* usw. "(29 [33]). Die Hypertrophie der Historie ist, historisch gese^
hen, nicht aus dem Streben nach Wahrheit,erwachsen, sondern gründet in ei-
ner bestimmten philosophischen Grundhaltung, der Hegeischen48, die Nietz^
sehe mit Schopenhauer und Burckhardt durchaus nicht für währ hält. Die Vor-
liebe der Historiker seiner Zeit für die Hegeische Philosophie läßt sich nach
Nietzsches Meinung psychologisch erklären: „Weil viel Vernunft verwendet
wird, irgend ein Stückchen Vergangenheit so zu begreifen, meint man zuletzt
auch, dass die Vernunft sie zu Stande gebracht. So entsteht der Aberglaube an
die Vernünftigkeit der Geschichte: wobei die absolute Notwendigkeit ver-
standen wird als Manifestation des Vernünftigen und Zweckmässigen" (29
[3l]).49 Nietzsche setzt dagegen, ganz im Geiste Schopenhauers: „Aber die,
grösste historische Macht ist die Dummheit und der Teufel" (29 [3l]).50 So
weit die „historischen Virtuosen" des Zeitalters der Mythologie von der Ver-
nunft in der Geschichte huldigen, dienen auch sie nach Nietzsches Meinung
nicht der Wahrheit.
Ein Zweites kommt hinzu: Im Durchdenken des Monumentalen oder
Klassischen bemerkt Nietzsche, daß diese historische Einstellung nicht immer
lebensdienlich ist, sondern daß auch sie hemmend wirken kann, wenn sie in
falscher Weise ergriffen wird. Dann wird „aus dem Codex des Monumentalen
48
In den Fragmenten 29 [72], [73] und [74] hat Nietzsche einige Passagen aus Hegels Einleitung
zu seinen Vorlesungen über die Philosphie der Geschichte exzerpiert. Der Titel dieser Einleitung
- Die Vernunft in der Geschichte - taucht in den Aufzeichnungen wörtlich oder in Anspielun-
gen mehrfach auf.
49
Vgl. 29 [38]: „Alles Gewesene interessant, vernünftig". - Natürlich ist das Vulgärhegelianis-
mus. Hegels berühmte Wendung „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist,
das ist vernünftig" (Rechtsphilosophie, Vorrede) hat die Unterscheidung von ("wahrhaft) Wirkli-
chem und (bloß) Realem zur Voraussetzung, ebenso die These, daß sich das Vernünftige letzt-
lich als wirklich durchsetzen wird. — Nietzsche, der Hegel nur aus zweiter oder dritter Hand
kannte, ist hierin z. B. E. v. Hartmann aufgesessen, der von sich selbst gesagt hat, daß er genau-
so von Hegel wie von Schopenhauer ausgehe. Hartmann kommt in seiner Philosophie des Un-
bewussten (21870;-552 ff.) mit der These von der ,,'Allweisheit des Unbewußten" der Lehre von
der Vernünftigkeit alles Geschehens gefährlich nahe. — Vgl. dazu die dritte Studie.
50
Vgl. auch 29 [72]: „Dass mein Leben keinen Zweck hat, ist schon .aus der Zufälligkeit seines
Entstehens klar; dass ich einen Zweck mir setzen kann, ist etwas anderes. Aber ein Staat hat
keinen Zweck: sondern nur wir geben ihm diesen oder jenen."
Studien zur Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung 21
ein Zwang und Canon der gegenwärtigen Künstler, mit dem gegen das Ent-
stehn, gegen die Entwicklung angekämpft wird: das Grosse soll nicht werden,
es soll dasein" (29 [35]). Wenn es so steht, dann läßt sich nicht schlechthin
behaupten, daß die monumentalische Aneignung der Vergangenheit dem Le-
ben nütze, sondern es kommt darauf an, welcher Gebrauch davon gemacht
wird - was Nietzsche dann in HL 2 ausgeführt hat. Parallel dazu beginnt er
auch hinsichtlich der antiquarischen Haltung zu differenzieren. Ihr weist er in
diesem Stadium zwar noch keinen Nutzen zu, wohl aber unterschiedliche
Grade des Schadens. Das Antiquarische hat eine gewisse Größe und Berechti-
gung, wenn es aus dem Wahrheitsstreben erwächst, aber es wird problema-
tisch, wenn es der Mythologie erliegt, daß es in der Geschichte vernünftig zu-
geht. Seine schlimmste Depravation erfährt der „antiquarische Sinn" schließ-
lich dann, „wenn er sich der Menge und der geringen Köpfe bemächtigt!"
Dann wirkt er nur noch lähmend. Vor allem gegen diese zuletzt genannte Ent-
artung richtet sich Nietzsches Polemik. Schon in dem frühen Stadium der Aus-
arbeitung hat er gegen diese Haltung kräftige Bilder und harte Worte gefun-
den. „Verboten ist die Vivisection; es soll den Kindern verboten werden zu
lauern, wo Eier gelegt werden. Der Wahrheitstrieb, der den eben erlebten Mo-
ment secirt, tödtet den nächsten. [. . .] Welche fatale Neubegierde, Unruhe,
Belauern, Verrathen, Ablisten des eben Werdenden" (29 [31]).
In seiner schon genannten ersten Planskizze (29 [38]) trägt Nietzsche die-
sen Einsichten und Differenzierungen insofern Rechnung, als er „die histori-
sche Krankheit" nicht (mehr) allein auf das Überwiegen des Antiquarischen
zurückführt, sondern den „moderne(n) Historiker als Amalgam von beiden
Trieben" begreift, als „Hermaphrodit". Stichworthaft ordnet er ihm die be-
reits genannten Entartungen der antiquarischen und der monumentalen Hal-
tung zu: „Seine Mythologie. Seine negative Praxis. Einwirkung auf Kunst Re-
ligion. Gefährlich für eine werdende Cultur. Die Vivisection". Und Nietzsche
fügt hinzu: „Man soll nicht Beides sein, Classiker und Antiquar, sondern
Eins, aber ganz". Diese Aufforderung impliziert, daß beide Haltungen zwar
entarten können, wohl aber auch ihr Recht haben. Bisher hat Nietzsche das
zwar nur für die monumentale Historie herausgearbeitet. Aber der Weg'zur
schließlichen Darstellung in HL 2 und 3 ist damit bereits vorgezeichnet.
In einer ersten Zusammenfassung läßt sich festhalten: Als Nietzsche die
Arbeit an der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung begann, hatte er eine deut-
liche Vorstellung davon, wogegen er kämpfte, nämlich gegen die „Hypertro-
phie des historischen Sinnes" und ihre verderblichen Folgen für eine werdende
Kultur. Aber er hatte nur vage Vorstellungen davon, was die Ursachen dieser
Hypertrophie seien und welches die „richtige" Haltung zur Vergangenheit sei.
Die ersten Notizen lassen ein grobes dichotomisches Schema erkennen: Die
klassische oder monumentale Aneignung des Vergangenen nützt dem.Leben,
22 Jörg Salaquarda
ihm für die entstehende Schrift von Interesse schienen. Vieles^ wenn auch
längst nicht alles, hat er tatsächlich in der Zweiten Unzeitgemäßen verwendet.
Hartmanns Philosophie des Unbewußten und Hegels Die Vernunft in der Ge-
schichte habe ich schon erwähnt. Wichtige Exzerpte sind einem Band von
Grillparzer54 entnommen; ein längeres Zitat aus Polybios hat in HL 2 Verwen-
dung gefunden. Goethe taucht verschiedentlich auf, im Nachlaß wie in der fer-
tigen Schrift: seine Bedeutung für die Zweite Unzeitgemäße sollte in einer wei-
teren Studie genauer untersucht werden.55 Wichtig, wenn auch nicht so zentral
sind Leopardi, Schiller, Hölderlin, Niebuhf, Jean Paul, Gibbon, Lichtenbefg,
Constant. Interessant und erwähnenswert sind schließlich noch Zitate aus Hu-
mes Gesprächen über natürliche Theologie, von denen eines schließlich in
HL l Verwendung gefunden hat.
Die nächste Planskizze (29 [90]) läßt einen Fortschritt in der Gesamtkon-
zeption erkennen. Nun hat Nietzsche fünf Hauptteile und einen Schluß vorge-^
sehen. Vier der fünf Teile nehmen Themen auf> die schon vorher zum Bestand
der Schrift gehört hatten, so den Gegensatz „Monumental — Antiquarisch"
(II), die „Wirkungen der Hypertrophie" (III), die,„Ursachen derselben", wo-
bei wieder „Hartmann als Illustration [am] Schluss" dienen soll (IV) und „die
schwache Persönlichkeit" (V).56 Neu hinzugekommen sind die Unterschel·-.
54
Grillparzer ist für Nietzsches Entwicklung in dieser Zeit wichtig gewesen; Nietzsches Verhält-
nis zu ihm bedürfte einer ausführlicheren Untersuchung.
Nietzsche hat kurz nach dem Erscheinen den 9. Band der Sämtlichen Schriften (hg. von H.
Laube und J. Weilen, Stuttgart 1872) gelesen, in dem Grillparzers „Politische" und „Aestheti-
sche Studien" zusammengefaßt sind. Nach der ersten Lektüre hat er das Buch auch Rohde
empfohlen: Der österreichische Dramatiker sei „fast immer einer der Unserigen!" (7. 12.
1872). .
In HL findet sich eine Reihe von Gedanken, die Nietzsche mit Grillparzer teilt, ohne daß man '
deswegen in allen Fällen direkte Beeinflussung annehmen müßte. Dazu gehören -z. &\ daß Ge-
rechtigkeit die seltenste Tugend ist; daß viele der „Modernen" nicht mehr empfinden, sondern
nur noch nachempfinden können (von Grillparzer, 197, besonders auf Platen und Immermann
gemünzt); daß man sich aus der (historischen) Bildung heraus nach Einfachheit sehnen könne.
Auch im Nachlaß finden sich über die in KSA 14 bereits nachgewiesenen Anklänge'hinaus Be-
zugnahmen Nietzsches zu Grillparzer, wie mir der folgende Zufallsfund, beim Blättern, zeigt:
Die Aufzeichnung 29 [91] hat Nietzsche wohl aus der Erinnerung an eine ähnliche Stelle bei
Grillparzer niedergeschrieben, dabei aber die Pointe verfehlt: "In gewissen Ländern scheint
man der Meinung: drei Esel machten zusammen einen gescheiten.Menschen aus. Das ist aber
grundfalsch. Mehrere Esel in concreto geben den Esel in abstracto und das ist ein furchtba-
res Tier" (267).
55
Goethes Bedeutung für Nietzsche ist schwer zu überschätzen. Von den größeren Darstellungen
hat vor allem Kaufmann dieser Beziehung durchgängig Beachtung geschenkt. <- Vgl. auch
Montinari, Aufklärung und Revolution: Nietzsche und der späte Goethe, in: Nietzsche lesen,
56 ff. — M. Politycki, Der frühe Nietzsche und die deutsche Klassik, Straubing und München
1981.
56
Zu Punkt V notiert Nietzsche in Klammern: „Mythologie der Geschichte", woraus man fol-
Studien xur Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung 25
düng von „Historisch — Urihistorisch" (I) und, als eine Art Schluß, „Mittel
gegen das historische Fieber".
Als „unhistorisch" bezeichnet Nietzsche in dieser Planskizze und in ih-
rem Umkreis allerdings die Phänomene, die in der endgültigen Fassung „über-
historisch" genannt werden. So heißt es unter Punkt vier der Gegenmittel:
j,Pflege des unhistorischen Sinns: Philosophie — Religion — Kunst." Das
„Uberhistorische" — ich behalte die gewohnte Bezeichnung bei, auch wenn
Nietzsche in diesem Stadium vom „Unhistorischen" spricht — hatte sich
schon früh in den Aufzeichnungen angekündigt. Zunächst war es implizit im
„Klassischen" bzw. „Monumentalen" mit enthalten gewesen. Spätestens seit
der Planskizze 29 [55] hatte Nietzsche die Einsicht formuliert, daß die
monumentale Historie in gewisser Hinsicht mehr Wahrheit enthalte als die
wissenschaftliche, womit eben die überhistorische Komponente von der histo-
rischen abgehoben war, Freilich wurde damit die Bandbreite des „Monum-
entalen" zu groß. Einerseits bezeichnete Nietzsche damit die lebensdienliche
Historie des Tätigen, der sich, befangen im nützlichen Wahn, daß Geschichte
sich wiederholen könne, die großen Taten und Personen der Geschichte zum
Vorbild nimmt. Andrerseits soll es eine Geschichtsschau sein, die gegen die
Nivellierungstendenz der wissenschaftlichen Historie gerade die Einzigartig-
keit des Großen erkennt. Diese Spannung ist auf Dauer nicht zu überbrücken.
Es handelt sich um zwei verschiedene Einstellungen, die sich noch dazu in dem
einfachen Schema „monumental — antiquarisch" überhaupt nicht unterbrin-
gen lassen. Deswegen sah sich Nietzsche gezwungen, ein zweites Schema zu
entwickeln und dem bisher allein benutzte» vorzuordnen. „Monumental" und
„antiquarisch" heißen nun die beiden Grundweisen historischer Einstellung,
welche sich von der überhistoriscben abhebt. Schon vor der hier diskutierten
Planskizze hat Nietzsche diese Unterscheidung genannt und begründet. Zum
ersten Mal in einer Aufzeichnung, die vor allem einige Hume-Zitate enthält
und schon stark an Textstellen aus HL l erinnert. Da heißt es: „Es giebt zwei
Betrachtungsarten des Vergangenen: für die eine genügt jeder Zeit-
raum, jedes Volk, jeder Tag; die andre ist unersättlich, weil sie nirgends die
Antwort findet, die sie sucht: wie sich's glücklich lebt. Nach der ersten -lebt
der Weise, nach der zweiten, der historischen, der Unweise, thätige Mensch"
(29 [86]), Die wissenschaftliche Historie unterscheidet sich von beiden „Be-
trachtungsarten". Es „giebt [. ..] eine Art, Geschichte zu treiben, die die
Menschen hindert, thätig zu sein, ohne sie zur Resignation zu bringen." Kurz
darauf heißt es noch deutlicher: „Es giebt zwei Arten das Vergangne zu be-
trachten, und wenn ich die eine die historische, die andre die unhistorische
gern kann, daß er in diesem Stadium dem Problemkreis „Vernunft" und „Gesetze" in der Ge-
schichte einen eigenen Abschnitt widmen wollte»
26 Jörg Salaquarda
nenne, so will ich doch damit die erstere nicht gelobt, die letztere noch weni-
ger etwa getadelt haben. Nur wolle man mit der zweiten nicht die schlechthi-
storische verwechseln, d.h. die erste in ihrer Entartung oder Unreife" (29
[88]).
Das zweite neue Moment in der Planskizze 29 [90] ist der Versuch, „Mit-
tel gegen das historische Fieber" aufzufinden. Als erste Mittel notiert sich
Nietzsche „Keine Geschichte?", womit er, zunächst noch unentfaltet, auf das
„Unhistorische" der endgültigen Fassung abzielt. Unter Punkt 2 ist zu lesen:
„Leugnung aller Zwecke: das Atomengewirr". Was damit gemeint ist, wird
durch eine frühere Aufzeichnung deutlich (29 [73]), die gegen den Hegelianis-
mus und seine „Mythologie" gerichtet ist. Nietzsche polemisiert gegen die
Staatsvergötzung57 und setzt, wie schon früher, die Existenz der einzelnen
Großen als Ziel. Wenn man Historie als „Geschichte der Staaten" konzipiere,
dann stelle sie sich uns als der Kampf von „Particular- und Collectiv^Egois-
men" dar, als „Atomenwirbel der Egoismen". Dagegen führt Nietzsche .eine
Betrachtungsweise ins Treffen, die sich auf das Große konzentriert und es
nicht auf die sogenannten „Gesetze" reduziert. „Durch das Genie kommt bei
jenem Atomenwirbel doch etwas heraus und jetzt denkt man milder über das
Sinnlose jenes Treibens: etwa als ob ein blinder Jäger viele hundert Male umr
sonst schiesst und endlich, aus Zufall, einen Vogel trifft. Endlich kommt doch
was dabei heraus, sagt er sich und schiesst weiter".
Als drittes Gegenmittel hat Nietzsche stichworthaft festgehalten: „Goe-
the Naturwissenschaft". Er denkt dabei an die folgende Äußerung Goethes:
„Der Jüngling^ wenn Natur und Kunst ihn anziehen, glaubt mit einem lebhaf-
ten Streben bald in das innerste Heiligtum zu dringen; der Mann bemerkt nach
langem Umherwandeln, daß er sich noch immer in den Vorhöfen befindet. "*8
Der innerste Kern des Wirklichen ist unerkennbar.
Auf die „Pflege des unhistorischen Sinns" im vierten Punkt habe ich
schon hingewiesen und erinnere nur daran, daß Nietzsche in diesen* Stadium
mit „unhistorisch" das spätere Uberhistorische bezeichnet. — Nietzsche denkt
also an vier Gegenmittel gegen die „historische Krankheit": An das (noch un-
entfaltete) Unhistorische und an das Uberhistorische in Kunst, Religion und
Philosophie. Außerdem an die Zufälligkeit und Unableitbarkeit der Entste-
hung des Großen und an die Unmöglichkeit, zum „Ding an sich" vorzudrin-
gen. In Abschnitt 10 der fertigen Schrift hat er nur die beiden ersten Mittel
57
Die er Hegel zu Unrecht vorwirft, wie Kaufmann überzeugend dargelegt hat (Nietzsche, 122 L
Anm.).
58
Zitiert nach Montinaris Nachweis in KSA 14, 539f. (vgl. 550). — Montinari macht deutlich,
daß die Notiz in Fragment 29 [90], wie die ähnlichlautende „Goethe Natur" in 29 [83], auf eine
Aufzeichnung aus dem Jahre 1871 zprückverweisen, in der es heißt: „Goethe über die Na-'
tur - als Jüngling. Bd. 40, 389" (Itt 9 [85]).
Studien zur Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung 27
aufgegriffen, die beiden anderen fallen gelassen. Daran könnte er gedacht ha-
ben, wenn er später vom „Jesuitismus" seiner Frühschriften gesprochen hat.
Denn natürlich hätte das vierte Gegenmittel — Unerkennbarkeit des Dings an
sich — das zweite modifiziert.59 Und das dritte Gegenmittel hat Nietzsche of-
fenbar in der Kürze der Zeit nicht mehr so ausarbeiten können, daß es sich
deutlich genug von dem Nihilismus der „historischen Krankheit" abhebt.
Vergleichen wir abschließend auch diese Gliederung mit der fertigen
Schrift. Das „Unhistorische" ist nun schon vorgesehen, aber noch nicht ent-
faltet, das heißt es ist noch nicht als dritte Grundhaltung dem Historischen
und dem Uberhistorischen beigesellt. Unter den Weisen der Historie fehlt
noch jeder Hinweis auf die „kritische". Im übrigen sind schon alle wesentli-
chen Gedanken des Buchs entworfen.
Kurz nach dieser Gliederung hat Nietzsche eine erste Fassung des An-
fangs von HL l zu Papier gebracht (29 [98]). Im Ausgang von einigen Zeilen
von Leopardis Gedicht Nachtgesang eines Hirten in Asien60 vergleicht er das
tierische und*das menschliche Leben. Das Tier lebt in der Gegenwart und ist
glücklich, der Mensch wird durch seine Erinnerung immer wieder daran ge-
hindert, den gegenwärtigen Augenblick zu genießen. „Wir müssen also das
Vergangne betrachten - das ist nun einmal Menschenloos". Nietzsche ge-
braucht auch hier noch nicht das Stichwort „unhistorisch", das nach wie vor
für das Uberhistorische reserviert ist, aber von nun an ist das Phänomen des
Unhistorischen explizit mit im Spiel. In einer zwölfteiligen Planskizze (29
[97]), die ansonsten nichts Neues enthält, steht unter Punkt l: „Keine Be-
trachtung des Vergangnen. Thier — Leopardi". In zwei Teilskizzen (29 [101]
und [102]) wiederholt Nietzsche die schon vorher genannten Themen und
59
Und zwar im Sinne von Langes „Standpunkt des Ideals".
60
Vgl. auch 30 [2]. —. Daß Nietzsche zu Beginn von HL l auf diese Canzone Leopardis anspielt,
ist von O. F. Bollnow behauptet worden (Nietzsche und Leopardi, in: ZphF. 26, 1972, 66ff.);
die beiden Nachlaßfragmente bestätigen seine These (vgl. auch KSA 14, 65).
Nietzsche kannte Leopardis Gedichte in der deutschen Übersetzung von Hamerling, 'die er
besaß: Gedichte von G. Leopardi, Verdeutscht in den Versmaßen des Originals von R. Hamer-
ling, Hildburghausen 1866 (vgl. an Bülow, 2. 1. 1875).
In HL l hat Nietzsche aus den beiden Vorstufen zwar den Gedanken beibehalten, daß der
Mensch die Tierherde beneidet, weil sie in der Gegenwart glücklich leben kann, ohne in Lange-
weile zu versinken, aber er hat nicht mehr direkt zitiert und auch Leopardi nicht erwähnt. Ein
Grund dafür könnte sein, daß er den italienischen Dichter nicht in einem Abschnitt zweimal
zitieren wollte; denn er hat später gegen Ende von HL l ein paar Zeilen aus einer anderen
Canzone Leopardis (An sich selbst) gebracht, um „Weisheit und Ekel" des überhistorischen
Standpunkts zu charakterisieren.
Daß das Tier „in der anschaulichen Gegenwart befangen bleibt" hat auch Schopenhauer be-
hauptet, in einem Kapitel {38 des 2. Bandes der Welt als Wille und Vorstellung-, WW III,
501 ff.), das übrigens'auch für die Unterscheidung des „Historischen" und des „Uberhistori-
schen" wichtig ist; das Gleiche gilt für § 153 des zweiten Bandes der Parerga (WW VI, 3l'l ff.),
worauf schon Müller-Lauter (Nietzsche, 43, Anm. 47) hingewiesen hat.
28 Jörg Salaquarda
gruppiert sie ein wenig um. Dabei kommt deutlicher als bisher heraus, daß
beide Weisen des Historischen, also auch die „antiquarische", dem Leben die-
nen, daß aber auch beide entarten können. Den „Nutzen" der „antiquarischen
Historie" deutet Nietzsche durch folgende Stichwörter an: „Verehren,
Dank: Resultat Treue - Motiv des Antiquarischen - Pietät. ,Es war einmal
so* , Trost'". Das deckt sich weitgehend mit den Ausführungen in HL3.61 —
Daß die wissenschaftliche Historie eine Entartung beider historischen Einstel-
lungen darstellt, wird nun stark betont. „Alle Gefahren beider vereinigt in der
jObjectivität'", heißt es in der ersten Teilskizze, und die zweite führt diesen
Gedanken wie folgt aus: „Historie ohne alle subjectiven Anlässe, ohne
Nachahmung, Pietät, gegenwärtige Noth".'„Nachahmung" ist Stichwort für
den Nutzen der monumentalen Historie, „Pietät" für den der antiquarischen.
Für „gegenwärtige Noth" hat Nietzsche noch keine Repräsentanz innerhalb
der Weisen des Historischen vorgesehen, aber mit diesem Stichwort taucht
zum ersten Mal das Phänomen der „kritischen Historie" auf. Das Stichwört
kehrt kurz darauf wieder (29 [104]) und nötigt Nietzsche schließlich* den bei-
den Weisen des Historischen eine dritte zuzugesellen:
„Der Mensch will schaffen mönümentalisch
im Gewohnten verharren antiquarisch
von Noth sich befreien kritisch" (29 [115]).
Damit sind alle wesentlichen Motive der endgültigen Fassung vorhanden, aber
es ist Nietzsche noch nicht gelungen, seine Erkenntnisse angemessen zu for-
mulieren. Obwohl beide Schemata nun schon drei Glieder umfassen, hält er in
den drei zuletzt genannten Planskizzen an seinen beiden Dichotomien fest:
dem Unhistorischen wird das Historische entgegengesetzt und innerhalb des
Historischen das Monumentale vom Antiquarischen unterschieden.
In den nun folgenden Aufzeichnungen beschäftigt sich Nietzsche vor al-
lem mit der genaueren Kennzeichnung und Darstellung der Auswirkiijggen der
„historischen Krankheit". In den beiden nächsten Planskizzen (29 [146] und
[147]) steht· bereits fest, daß er die Lebensfeindlichkeit der wissenschaftlichen
Historie in fünf Hinsichten entfalten will, wie er es dann in HL 5—8 tätsäch-
lich getan hat. In beiden Plänen taucht auch das Stichwort „unhistorisch" wie-
der auf, freilich ohne weitere Erläuterung. Es muß deshalb offen bleiben, ob
Nietzsche es immer noch im bisherigen Sinne oder schon zur Bezeichnung des
tierischen Lebens verwendet. Kurz zuvor hatte er notiert: „Schilderung der
Ruhe der unhistorischen Welt" (29 [142]), was aii HL 10 erinnert, wo Nietz-
sche „das Unhistorische und das Ueberhistofische" als Heilmittel
61
Schon in Fragment 29 [114] hat Nietzsche Nutzen und Nachteil des „Antiquarischen" ausführ- -
licher entwickelt.
Studien zur Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung 29
62
Da die Gliederung bereits die „kritische Historie" berücksichtigt und auch das Schlußkapitel
mit den Stichwörtern kennzeichnet, die in der endgültigen Fassung behandelt werden, dürfte
sie erst nach Gersdorffs Abreise, also etwa Mitte Dezember, entstanden sein.
30 Jörg Salaquarda
Der dritte Teil steht unter dem Titel „Die Historie dem Leben feindlich"
und entfaltet dieses Thema in den fünf Hinsichten, von denen schon die Rede
war. Nietzsche hat für jede Hinsicht einen Abschnitt reserviert (5-9). Was
auffällt ist, daß er die allgemeine Kennzeichnung der „historischen Krank-
heit", die er in HL 4 gibt, in der Gliederung nicht eigens erwähnt. — Dieser
Teil enthält die Themen und Probleme, von denen Nietzsches Überlegungen
ausgegangen waren.
Zum Schluß behandelt Nietzsche „Das Unhistorische und das Uberhisto-
rische als Heilmittel für das durch Historie geschädigte Leben", was dem Ab-
schnitt 10 unserer Schrift entspricht, der, wie wir aus Nietzsches Briefen um
die Jahreswende 1873/74 wissen, erst sehr spät fertig geworden ist.
Folgerungen für die Interpretation der Zweiten Unzeitgemäßen will ich
aus dieser Rekonstruktion ihrer Entstehung hier noch nicht ziehen. Deutlich
dürfte geworden sein, daß Nietzsche bei der Ausarbeitung seiner ketzerischen
Gedanken über die Geschichtswissenschaft innerhalb sehr kurzer Zeit von ei-
nem groben Schwarz-Weiß-Schema zu einer ziemlich differenzierten Position
gedrängt worden ist. Gerade diese Differenzierungen sind von der Sekundärli-
teratur mit großem Interesse aufgenommen und nach verschiedenen Hinsich-
ten durchdacht worden'— zu Recht, wie mir scheint.
Aber Nietzsche hatte zweifellos Grund, mit sich und seiner Leistung un-
zufrieden zu sein. Er ist im Verlauf der Arbeit auf eine Reihe von Problemen
gestoßen, aber er hatte wenig Zeit, sie wirklich konsequent zu durchdenken.
Außerdem ist er vor einigen Konsequenzen zurückgeschreckt. Man kann das
ganz pragmatisch sehen: Es waren vermutlich weniger Überlegungen wie „das
darf ich nicht schreiben" (was dem „Jesuitismus" entsprochen hätte), als viel-
mehr „wie läßt sich das nun wieder mit dem schon Entwickelten und Darge-
stellten vereinbaren"! Nietzsche wird die Arbeit an der Schrift als eine Art
„Drahtseilakt" in Erinnerung behalten haben. Das könnte jedenfalls ein Gutr
teil seines Unbehagens gegenüber der Schrift verständlich machen...Die Erinne-
rung daran hat es ihm schwer gemacht, die weiterführenden Gedanken recht
zu würdigen, die wir gerade in der Schrift über Nutzen und Nachtheil der Hi-
storie für das Leben in reichem Maße finden.
hätte aber angesichts des wachsenden Aufsehens, das dieses Werk erregte,
„zuweilen gern (m)eine Ansicht über sie gehabt". Welches Verständnis konnte
sich Cosima auf Grund von Nietzsches Darlegungen in HL 9 bilden?
Nietzsche stellt uns Hartmanii in der Zweiten Unzeitgemäßen als einen
„philosophischen Parodisten" vor. Seine Darstellung zielt darauf ab, die
Leser, die PU ernst genommen haben, der Lächerlichkeit preiszugeben, indem
er das Werk als eine gut gemachte Parodie auf den Hegelianismus rühmt.
Nietzsche bescheinigt Hartmanns Versuch, das Ganze der Wirklichkeit als
Prozeß zu deuten, die verschiedenen Stadien dieses Prozesses herauszuarbei-
ten und das gegenwärtige Zeitalter diesen Stadien zuzuordnen, „so täuschend
und zu so biederem Ernste nachgemacht" zu sein, daß man ihn für „wirkliche
Ernst-Philosophie und nicht nur Spass-Philosophie" halten könnte. Und er
fügt hinzu: „ein solches Ganze stellt seinen Schöpfer als einen der ersten philo-
sophischen Parodisten aller Zeiten hin". Später kommt er auf dieses ironische
Lob zurück und versichert: „Wenn erst einmal Hartmanns Scherz begriffen
ist, so wird Niemand Hartmanns Wort vom ,Weltprozessc mehr brauchen als
eben zum Scherz"64.
Was hat Nietzsche zu einer so unfairen Kritik veranlaßt? Denn natürlich
war ihm klar — und er läßt es im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung
64
Noch sehr viel später hat Nietzsche diese Strategie gelegentlich wieder aufgenommen. Im 5.
Buch von FW (357) heißt es: „mein alter Verdacht ist auch heute nicht gehoben, dass er für uns
zu geschickt ist, ich will sagen, dass er als arger Schalk von Anbeginn sich vielleicht nicht nur
über den deutschen Pessimismus lustig gemacht hat, - dass er am Ende etwa gar es den Deut-
schen testamentarisch »vermachen* könnte, wie weit man sie selbst, im Zeitalter der Gründun-
y
gen, hat zum Narren haben können." '
Dem Angegriffenen macht es eine solche Strategie schwer, sich mit der Kritik auseinanderzu-
setzen. Die Versicherung, man habe durchaus ernst gemeint, was der Kritiker als gekonnte
Parodie dargestellt hat, hat etwas Peinliches. Ich kann gut verstehen, daß Hartmann nie auf
Nietzsches Kritik eingegangen ist, obwohl er sie zweifellos gekannt hat. Später hat er mehrfach
zu Nietzsche Stellung genommen (Nietzsches neue Moral, in: Preußische Jahrbücher 67, 1891,
504ff. - Bemerkungen über Fr. Nietzsche, in: Die Gegenwart, 1895, 149ff. - Eine überarbei-
tete Fassung des ersten Artikels, in der die Gedanken des zweiten mitberücksichtigt sind,.hat
Hartmann in einem Aufsatzband veröffentlicht: Ethische Studien, Leipzig 1898, 34ff. - Vgl.
auch Geschichte der Metaphysik, 2 Bände, Leipzig 1900, II, 579 ff.) und diesen seinerseits ent-
schieden kritisiert. Er hebt hervor, daß Nietzsche überhaupt nur auf dem Felde der Ethik etwas
geleistet habe, was der Erwähnung wert sei. Allerdings liefen seine Gedanken auf einen extre-
men subjektiven Idealismus hinaus, der unhaltbar und leicht zu widerlegen sei. Und nicht ein-
mal diese problematische Leistung stamme von Nietzsche selbst. Sie sei schon eine Generation
zuvor von Sdrner in seinem Buch Der Einzige und sein Eigentum vertreten worden. Da Nietz-
sche Stirner nie erwähnt, ihn und seine Position aber gekannt haben müsse, da Hartmann sie in
einem der Kapitel, gegen die Nietzsche in HL polemisiert, gekennzeichnet hat, erhebt Hart-
mann den Vorwurf des Plagiats (Ethische Studien, 61). - Über diesen Vorwurf ist es zu einer
lebhaften Diskussion gekommen, an der sich u.a. R. Steiner, F. Mehring, J. Duboc, H. Gall-
witz, C. A. Bernoulli, K. Joel, O. Ritschi und L. Schemann beteiligt haben. - Inzwischen
wissen wir, daß Nietzsche Stimers Buch aus der Basler Universitätsbibliothek entliehen hat.
Die Unterschiede von Nietzsches „Immoralismus" zum Standpunkt des Einzigen sind m. E.
aber viel größer ab die Gemeinsamkeiten.
32 Jörg Salaquarda
auch durchblicken —, daß Hartmann das alles völlig ernst gemeint hat. Die
weiteren Ausführungen in HL 9 und - noch deutlicher — eine Reihe von
Nachlaßfragmenten65 lassen erkennen, welches Motiv dahinter steckt. Nietz-
sches Polemik entzündete sich an Hartmanns Behauptung, „dass unsere Zeit
nur gerade so sein müsse, wie sie ist", und an der Folgerung, daß „die Beja-
hung des Willens zum Leben ... das vorläufig allein Richtige" sei (PU, 675).
Schopenhauers Lehre, daß der Wille durch Askese des Einzelnen ertötet wer-
den könne, hielt Hartmann für irrelevant. Sie könne den allgemeinen Willen
genauso wenig aufheben wie der auch von Schopenhauer verworfene Selbst-
mord (PU, 671 f.). Wirkliche Erlösung könne nur die Menschheit insgesamt
erlangen. Die asketischen Bemühungen des Einzelnen sind erstens illusorisch
und zweitens sehr egoistisch, weil sie nur auf das eigene Heil abzielen. Wer
erkannt hat, daß Erlösung entweder unmöglich ist, oder allen zu Gute kom-
men muß, der kann dazu beitragen, daß die menschheitliche Erlösung mög-
lichst bald eintritt, indem er den „Weltprocess" vorantreibt. Daher fördert
Hartmann „die volle Hingabe der Persönlichkeit an den Weltprocess um sei-
nes Zieles, der allgemeinen Welterlösung willen" (PU, 674).
Nietzsches Argumentation läßt erkennen, daß es nicht die Hartmannsche
Geschichtskonstruktion als solche ist, die ihn ärgerte. Er war zu dieser Zeit
längst davon überzeugt, daß metaphysische Behauptungen weder währ noch
falsch sind.66 Ihm ging es nur um die praktischen Konsequenzen.67 Nietzsche
selbst bediente sich in seinem „unzeitgemässen" Kampf gegen die „historische
Krankheit" noch ein Stück weit der Schopenhauerschen Metaphysik, weil sie
Anreize zur Selbstverwirklichung gibt und zum Widerstand gegen die Zeitten-
65
Dies gilt für die Aufzeichnungen in Heft U II2 von Sommer-Herbst 1873 (III29). Außer den
bereits im Kommentar zu KSA (14, 549 f.) nachgewiesenen Zitaten und Anspielungen dürfte
sich auch Fragment 29 [48] (Polemik gegen die Analogie zwischen menschheitlicher und indivi-
dueller Entwicklung) auf PU beziehen. Umgekehrt notiert N in Fragment 29 fST5] zwar das
.Stichwort „Weltprozess", aber die Aufzeichnung ist eine Gliederung von HL.
Auf frühere und spätere Nachlaßaufzeichnungen gehe ich in dieser Studie nicht näher ein, weil
W. v. Rahden für die Tagung einen Beitrag über Eduard von Hartmann und Nietzsche ange-
kündigt hat. Es sei aber erwähnt, daß meiner Vermutung nach im Nachlaß aus der Zeit Herbst
1869 bis Ende 1874 es über die bereits in KSA 14 ausgewiesenen Fragmente hinaus noch eine
Reihe anderer gibt, in denen Nietzsche sich auf PU bezieht. Dazu gehören 5 [80] (Problemkreis
bewußte und unbewußte Vorstellungen, bewußter und unbewußter Wille), 5 [81] (vgl. PU,
542), 7 [24] (vgl. PU, 237), 7 [100] („Verneinung en masse" als „Zweck der Menschheit"), 7
[121] (wie zu 7 [24]), 19 [107] (vgl. PU, B. VII, 247ff.), 19 [460] („unbewußten Ziele der
Menschheit"). — Diese Liste ist vermutlich nicht vollständig.
66
Spätestens seit seiner Lektüre von Langes Geschichte des Materialismus (vgl. Anm. 44).
67
Diese Einstellung hat sich bei Nietzsche durchgehalten. So zeigt er sich in Der Antichrist pri^
mär an der vom Christentum gelehrten und Belebten Moral interessiert. In einer Nachlaßauf-
zeichnung aus dieser Zeit heißt es: j,Die Frage der bloßen »Wahrheit* des Christentums [. . .]
ist eine ganz nebensächliche Angelegenheit, solange die Werthfrage der christlichen Moral nicht
berührt ist" (VIII 15 [19]). '
Studien zur Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung 33
*e Dieses Thema hat Nietzsche kurz darauf, noch im Jahre 1874, in seiner Dritten Unzeitgemäßen
entfaltet.
69
Vgi. auch die Vorstufe in III 29 [59],
34 Jörg Salaquarda
70
Vgl. auch die Vorstufe in III 29 [52].
71
In Abschnitt II der Einleitung bemüht sich Hartmann um den Nachweis, daß man die Natur
nicht angemessen denken kann, wenn man den Zweckbegriff beiseite läßt (28 ff.), weil in der
Natur auch „geistige Ursachen" wirksam sind (35 f.). In den ersten beiden Hauptteilen, die
Erscheinung und Wirksamkeit des Unbewußten im physischen bzw. im geistigen Bereich Be-
handeln, versucht er dann Schritt für Schritt, die Wirksamkeit dieses geistigen Prinzips und
seiner Zweckhaftigkeit nachzuweisen. Gegen Ende des zweiten Hauptteils wendet er sich der
Geschichte zu und führt in diesem Zusammenhang aus: „Natur und Geschichte oder die Ent-
stehung der Organismen und die Entwicklung des Menschengeschlechts sind zwei parallele
Probleme. Die Frage heisst in beiden Fällen: particulare Zufälligkeit oder .allgemeine Notwen-
digkeit der Resultate, todte Causalität oder lebendige Zweckmässigkeit, blosses Spiel der Ato-
me und Individuen oder einheitlicher Plan und Leitung des Ganzen? Es wird dem, welcher die
Frage für die Natur zu Gunsten der Zweckmässigkeit entschieden hat, nicht schwer werden,
dies auch für die Geschichte zu thun" (PU, 306). Diese Entscheidung ist nur dann plausibel,
wenn es keine Willensfreiheit im Sinne des liberum arbitrium gibt. Deswegen diskutiert Hart-
mann im Anschluß an das Zitat das Problem „Freiheit und Notwendigkeit"; seine Lösung
kommt Nietzsches Konzeption des „ego fatum" in Abhebung vom „Türkenfatalismus" (vgl.
WS 61) ziemlich nahe.
72
Hartmann dürfte sich auf dasselbe Argument gestützt haben, das Nietzsche auch bei Dühring
gefunden hatte: Es muß einen Ursprungszustand der Welt geben, da andernfalls die Welt bis
jetzt bereits eine unendliche Reihe von Zuständen durchlaufen haben müßte und diese Annah-
me einer „Unendlichkeit bis jetzt" in sich widersprüchlich ist (vgl. Nietzsche an Gast, 23. 7.
1885). Nietzsche hat den logischen Fehler in dieser Argumentation erkannt: „Nichts kann
mich hindern, von diesem Augenblick an rückwärts rechnend zu sagen ,ich werde nie dabei an
ein Ende kommen*: wie ich vom gleichen Augenblick vorwärts rechnen kann, ins Unendliche
hinaus. Erst wenn ich den Fehler machen wollte — ich werde mich hüten, es zu thun — diesen
correkten Begriff eines regressus in infinitum gleichzusetzen mit einem gar nicht vollzieh-
baren Begriff eines unendlichen progressiv bis jetzt, wenn ich die Richtung (vorwärts oder
rückwärts) als logisch indifferent setzte, würde ich den Kopf, diesen Augenblick, als Schwanz
zu fassen bekommen: das bleibe Ihnen überlassen, mein Herr Dühring!. . ." (VIIJ 14 [188], 3.
- Die bisher bekannte Fassung dieser Aufzeichnung in WM 1066 bzw. SA III, 703 hat Düh-
rings Argument und Nietzsches Gegenargument verdorben, weil sie statt „««endlichen" „end-
lichen progressus bis jetzt" las. Montinari hat diesen Irrtum im Zuge seiner Neuentzifferüng
von Nietzsches Nachlaß korrigiert).
Studien zur Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung 35
Das zweite Problem ist in Nietzsches Augen - und vermutlich nicht nur
in seinen — ein Scheinproblem. Es betrifft die Bedingungen, unter denen eine
schließliche Aufhebung des Willens und ein Eingehen der Menschheit ins
Nichts überhaupt gedacht werden können. Nietzsche argumentiert in diesem
Punkt nicht einmal in Ansätzen, sondern begnügt sich damit, Hartmanns
Überlegungen durch geschickte Manipulation von Zitaten lächerlich zu ma-
chen. Dem heutigen Leser will scheinen, als ob es dazu gar nicht so großer
Bemühung bedurft hatte: Hartmanns Äußerungen zu diesem Thema entbeh-
ren nicht einer gewissen unfreiwilligen Komik (vgl. C. XIII: Das Ziel des
Weltprocesses und die Bedeutung des Bewusstseins, PU, 664ff.).73
Hartmann beginnt seine Erörterung zwar mit dem vorsichtigen Hinweis,
es sei nicht möglich sich die Apokalypse im einzelnen auszumalen. Aber dann
versucht er darzutun, „dass die Sache nicht ganz so undenkbar ist, als sie Man-
chem auf den ersten Blick wohl scheinen möchte" (676). Drei Bedingungen
müßten erfüllt sein, damit es zur Aufhebung des Willens kommen kann — und
alle drei seien realisierbar. Erstens müßte der größte Teil des bewußten Gei-
stes, der überhaupt in der Welt existiert, in der Menschheit gebunden sein —
angesichts des rapiden 'Bevölkerungswachstums kann das nach Hanmanns
Meinung schon bald der Fall sein. Zweitens muß der weitaus größte Teil der
Menschheit erkannt haben, daß das Streben töricht und vergebens ist, und daß
Glück im positiven Sinne für sie unerreichbar bleibt. Und drittens muß das
Kommunikationssystem weltweit so ausgebaut sein, daß es technisch möglich
ist, einen gleichzeitigen gemeinsamen Entschluß der Menschheit herbeizufüh-
ren. Wenn diese drei Bedingungen gegeben sind und die Menschheit sich ent-
schließt, dem Streben ein Ende zu setzen und ins Nichts einzugehen, dann
Daß Nietzsche der Meinung ist, Hartmann habe sich in diesem Punkt der Argumentation Düh-
rings angeschlossen, geht aus der folgenden Aufzeichnung hervor: „So wenig ich mit dem be-
kannt bin, was heute unter Deutschen philosphirt wird: so bin ich, Dank einigen glücklichen
Zufällen, dahinter gekommen, daß in Deutschland jetzt es an der Mode ist, zwar nicht an
Schöpfung der Welt, aber doch an einen Anfang zu denken: man wehrt sich gegen eine »Unend-
lichkeit nach hinten* — Sie verstehen doch meine abgekürzte Formel? Darin stimmen Mainlän-
der, Hartmann, Dühring usw. überein" (VII 26 [383]).
Da dieses Argument nicht stichhaltig ist, hat Nietzsche sich seinerseits für berechtigt gehalten,
von der Unendlichkeit des Weltprozesses auszugehen. Er hat daraus gefolgert, daß es gar kei-
nen Endzustand oder Gleichgewichtszustand im Sinne des Entropie-Satzes geben kann, weil er
dann bereits erreicht sein müßte, was offensichtlich nicht der Fall ist (vgl. V 11 [148], [245],
[292]). Diese Folgerung ist eine wichtige Voraussetzung für die Möglichkeit, die Wiederkunfts-
lehre als kosmologische Hypothese zu behaupten.
73
Im Nachlaß von Sommer—Herbst 1884 hat sich Nietzsche vermutlich auf diese Partien von PU
zurückbezogen, wenn er schreibt: „Es giebt auch jetzt noch viel mehr heitere Dinge auf Erden,
als die Pessimisten eingestehen; z.B. E(duard) von H(artmann) selber. Die Laokoon-gruppe,
von drei Clown's und ebenso vielen Regenschirmen dargestellt, erheitert mich nicht so, wie
dieser Eduard mit seinen Problemen »ringend'" (VII 26 [306]).
36 Jörg Salaquarda
nunft in der Geschichte noch mehr überhand nehmen. Aber Nietzsche zieht eine andere Kon-
sequenz, wobei er auf das einfache Schema ,;wahr aber tödtlich" gegen „wahrhaft aber lebens-
dienlich" zurückgreift, von dem er zu Beginn seiner Ausarbeitung ausgegangen war (vgl. Studie
II), das aber durch das entwickeltere Schema der Schrift längst überholt war.
Wenn der vielzitierte Satz von den „Lehren, die ich für wahr, aber für tödtlich halte" eine
Konsequenz aus Nietzsches Darlegungen in HL 9 wäre, dann müßte er a fortiori auch für
Hartmanns Lehre vom „Weltprozeß" zutreffen, was ersichtlich nicht der Fall ist.
75
Offensichtlich hat sie es getan. Es war Nietzsche, der sie zuerst auf die Philosophie des Unbe-
wussten aufmerksam machte, indem er ihr das Werk im Januar 1870 zuschickte. Sie hat allem
Anschein nach darin nur geblättert und sogleich „einen großen Widerwillen" empfunden (Ein-
tragung zum 25. 1. 1870; Tagebücher I, 192). Schon wenige Tage später hat sie das Buch re-
38 Jörg Salaquarda
Auf diesem Wege würden wir nicht einmal erfahren, welche zentrale These
Hartmann in seinem frühen Werk aufstellt und zu erhärten sucht, nämlich daß
in Natur und Geschichte ein bisher viel zu wenig beachtetes Prinzip am Werk
sei, das Unbewußte, das das Wesen der Welt und die „Wahrheit" aller bedeu-
tenden philosophischen Prinzipien ausmacht. Auch die bei der Darstellung
dieses Prinzips befolgte Methode und der Aufbau des Werks blieben uns unbe-
kannt. Wenden wir uns also in der gebotenen Kürze dem Buch selbst zu.
Die Philosophie des Unbewussten ist 1869 zum ersten Mal erschienen und
wurde in den nächsten Jahren mehrfach aufgelegt. Die zweite Auflage erschien
1870, für HL benutzte Nietzsche bereits die vierte Auflage von 1872. Hart-
mann hat sein Buch von Auflage zu Auflage verbessert und ergänzt. Schon
beim ersten Erscheinen war es ein stattlicher Band von ca. 700 Seiten; aber die
letzte von Hartmaiin selbst besorgte Auflage, die elfte von 1904, bestand aus
drei Bänden mit insgesamt weit über tausend Seiten.
Allerdings hat Hartmann bei allen Überarbeitungen und Ergänzungen
Aufbau und Gliederung der Originalausgabe beibehalten. Das Werk besteht
aus einer Einleitung und drei Hauptteilen. Die -Einleitung umfaßt zwei Ab-
schnitte: Allgemeinen Vorbemerkungen, in denen sich Hartmann zuerst über
die Aufgabe äußert (lff.)> nämlich eben Darstellung des Wesens und der Wir-,
kungsweise des „Unbewussten"; dann über die Methode (5ff.), nämlich die
induktive; und schließlich Vorläufer nennt (bes. Leibniz, Kant, 'Schelling,
Schopenhauer, Hegel) (13ff.). Im zweiten Abschnitt der Einleitung (28ff.)
entwickelt Hartmann die Bedeutung und Unentbehrlichkeit des Zweckbegriffs
für die Naturbetrachtung.
Der erste Hauptteil — A. Die Erscheinung des Unbewussten in der Leib-
lichkeit, 43 ff. — umfaßt VIII Abschnitte, in denen Hartmann das Wirken des
tourniert (vgl. an Nietzsche, 31. 1. 1870 und ihre Eintragung zum 1.2. 1870; Tagebücher I,
194), ohne dazu Stellung zu nehmen. Spätere Eintragungen zum l.— 4.1. und zur\£6. 2. 1873
(Tagebücher I, 623 und 643) zeigen, daß Richard Wagner und sie über „den Mocle-Philosophen
Hartmann" sprachen, wahrscheinlich aber keine Kenntnis seiner Thesen im einzelnen hatten.
Kurz nachdem die Wagners HL gelesen hatten, noch vor der Abfassung von Cosimas mehrfach
erwähnten Dankbrief, „kam neulich . . . zu unserem wahrhaften Entsetzen . . . eine Schrift des
E. v. Hartmann in unsere Hände, eine Verunglimpfung von ,Romeo und Lulie'! (siel)" (Eintra-
gung zum 16. 3. 1874; Tagebücher I, 802). Cosima nimmt in ihrem Brief an Nietzsche vom 20..
3. darauf Bezug: „. . . mit diesem Einen Zeitgenossen bin ich so gründlich fertig, als er selbst
mit Romeo und Julia. Haben Sie vielleicht diese Schrift von E. v. H{artmann) zu Gesicht be-
kommen? Sie ist geradewegs unglaublich und es ist doch recht unangenehm, Contemporäins
von so dummen Menschen zu sein . . . "
Von da an stand in Bayreuth das Urteil fest, Cosima ist nur noch einmal auf den Berliner Philo-
sophen zurückgekommen: Wagner blätterte in Spamer*s Lexikon, stieß auf den Artikel über
Hartmann, „und wir ergötzten uns an dem Ausdruck ,die feige persönliche Entsagung'"
(nachträgliche Eintragung zum 6. 1. 1881; Tagebücher II, 660). Obwohl „Freund Nietzsche"
längst in Ungnaden gefallen war, hat sich bei den Bayreuthern sein Gesichtspunkt durchgehal-
ten: die Kritik an Hartmanns angeblich vorläufiger Bejahung des Weltprozesses um einer
schließlichen Erlösung aller willen.
; Studien zur Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung 39
neration neu anheim gestellt ist, ob sie sich als Epigone oder als Erstling verste-
hen will. HL 9 beginnt nun mit der Frage, ob „unsere Zeit ein solcher Erst-
ling" sei. Nietzsche gibt, im Einklang mit dem bis dahin Gesagten, zur Ant-
wort, daß man das sicher nicht a limine ausschließen kann. Interessant ist sein
Hinweis* daß seine Zeit gerade durch das Überwiegen des historischen Ge-
sichtspunktes ein „Erstling" sein könnte. Die von früheren Zeitaltern nicht
gekannte „Vehemenz" des „historischen Sinnes" könnte ein Ausgangspunkt
zu einem neuen Anfang sein, so „dass hierin wenigstens die kommenden Zei-
ten ihre [= unserer Generation] Erstlingsschaft preisen werden".76
Nietzsche zweifelt allerdings daran, daß seine Zeitgenossen das Selbstver-
trauen und die Energie aufbringen, sich dieses neuen „leuchtenden Gestirns"
zu bemächtigen, und daß sie stark genug sind es zu bändigen. Das weit ver-
breitete Epigonenbewußtsein läßt erkennen, daß die meisten von vorneherein
resignieren. Die Resignation äußert sich als ironische Distanz, die freilich nur
Maske ist, hinter der sich die Verzweiflung darüber verbirgt, daß man keinen
Glauben und* keine Hoffnungen mehr hat. Aus der Hoffnungslosigkeit der
ironischen Distanz flüchten sich viele in den „Cynismus" — worunter Nietz-
sche nichts anderes versteht als die (populär-)hegelische Bejahung und Recht-
fertigung alles Bestehenden. Weil man sich nicht zutraut, die Möglichkeiten
der Zeit zu ergreifen und schöpferisch zu verwandeln, deswegen behauptet
man, daß alles so kommen mußte, wie es tatsächlich gekommen ist, und daß es
so, wie es ist, gut ist. Eine derartige These findet geneigte Ohren, weil sie der
„Faulheit und Furchtsamkeit" schmeichelt, um mit SE l zu sprechen. „In das
Wohlgefühl eines derartigen Cynismus flüchtet sich der, welcher es nicht in
der Ironie aushaken kann". Von diesem sachlichen Hintergrund aus wendet
sich Nietzsche Hartmann zu, in dessen Thesen über die Stadien der Mensch-
heitsentwicklung und über die „Hingabe der Persönlichkeit an den Weltpro-
zess" sich seiner Meinung nach der Zynismus unüberbietbar ausdrückt.
Dies und nur dies ist die Rolle, die Nietzsche Eduard von Hartmann in
seiner Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung zuweist: Er benutzt ihn zur'Illu-
stration des Zynismus, den er als einen verfehlten Ausweg aus der Verzweif-
lung des Epigonenbewußtseins auffaßt. Aus dieser Verwendung läßt sich m. E.
einiges über Nietzsches Umgang mit seinen „Gewährsleuten" ablesen, was
über den konkreten Anlaß hinaus bedeutsam ist. Ich möchte vor allem drei
Punkte herausheben.
76
Hier weist die Zweite Unzeitgemäße einen Ansatzpunkt auf, im Blick auf den Nietzsche später
hätte sagen können, ej habe auch in dieser Schrift, ohne es zu wissen, von seiner Zukunft ge-
handelt. Denn seit Menschliches, Aüzumenschliches hat er, mit zunehmender Entschiedenheit,
den historischen Sinn und die ihn kennzeichnende „intellektuelle Redlichkeit" zu Kriterien ei-
ner neuen Kultur nach seinem Geschmack gemacht.
42 Jörg Salaquarda
77
Diese ideologiekritische Strategie hat sich bis in Nietzsches Spätphilosophie durchgehalten und
ist dabei immer deutlicher hervorgetreten. Besonders die drei Abhandlungen der Genealogie
und Der Antichrist sind Beispiele dafür. In einer Aufzeichnung von 1888 hat Nietzsche seine
aus dieser Haltung erhobene Kritik am Christentum plakativ formuliert: „Der Buddhist han-
delt anders als der Nichtbuddhist; der Christ handelt wie alle Welt und hat ein Christen-
thum der Ceremohien und der Stimmungen —" (VIII 11 [244]).
78
EH, Warum ich so weise bin, 7. -^ Was Nietzsche dort von Strauß sagt, gilt genauso für Hart-
mann: „So griff ich David Strauss an, genauer den Erfolg eines altersschwachen Buchs bei der
deutschen Bildung, - ich ertappte diese Bildung dabei auf der That..." (man müßte nur „al-
tersschwach" durch „jugtiiuilich-iorsch" ersetzen).
Studien zur Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung . 43
mmgen tritt das noch deutlicher zu Tage als im endgültigen Text von HL 9.
Nietzsche notiert z.B.: „Hartmann ist wichtig, weil er den Gedanken eines
Weltprozesses todtmacht, dadurch dass er consequent ist" (III29 [52]). Oder:
„Wohin es führt, die Geschichte als einen Pro ze s s anzusehen, zeigt E. v.
Hartmann p. 618" (III29 [51J). Nietzsche bezieht sich damit auf folgende Pas-
sage: „Die Methode der Zukunft wird immer ausschliesslicher die inductiv-na-
turwissenschaftliche, und der Grundcharacter der wissenschaftlichen Arbeit
nicht Vertiefung, sondern Verbreiterung. So werden die Genies immer weni-
ger Bedürfniss, und daher auch immer weniger vom Unbewussten geschaffen;
wie die Gesellschaft durch den schwarzen Bürgerrock nivelliert ist, so steuern
wir auch in geistiger Beziehung mehr und mehr auf die Nivellierung zur gedie-
genen Mittelmässigkeit hin" (PU, 21870, 653). Kurz darauf behauptet Hart-
mann Ähnliches für die Entwicklung der Kunst. Nietzsche hat in HL aus bei-
den Passagen zitiert; im Nachlaß hat er sich in Klammern notiert: „woraus mir
der ungeheure Erfolg klar wird" (III 29 [51]).
Das ist Nietzsches Gesichtspunkt: Ihn interessiert der große Erfolg inner-
halb einer bestimmten Schicht. Die meisten Leser sind seiner Überzeugung
nach nicht von den Grundgedanken des Werks angezogen, sondern von den
Folgerungen für ihre eigene Praxis. Sie bejubeln die überaus bequeme Konse-
quenz, die es ihnen erlaubt, sich gerade in ihrer „gediegenen Mittelmässigkeit"
auf der Hohe der Zeit zu fühlen und die störenden Genies als im Grunde durch
den Prozeß bereits überholte Fossilien zu belächeln. Diese Haltung hat Nietz-
sche mit seiner zugespitzten Polemik gegen Hartmann in HL 9 angegriffen. Er
hat ihr die These entgegengestellt, daß Grpße jederzeit möglich ist, daß man
sie aber nur um den Preis des ständigen Kampfes gegen die eigene „Faulheit
und Furchtsamkeit" erringt.
c) Der Zusammenhang von Form und Inhalt. — An Nietzsches Ausein-
andersetzung mit Hartmann in der Historienschrift läßt sich beispielhaft able-
sen, daß es ihm in seinen Unzeitgemäßen Betrachtungen primär um eine Aus-
einandersetzung mit seinen eigenen Problemen ging. Es ist keine rhetorische
Floskel, wenn Nietzsche im Vorwort zu HL schreibt: „Auch soll zu meiner
Entlastung nicht verschwiegen werden, dass ich die Erfahrungen, die mir jene
G. Colli berücksichtigt das m. E. nicht zur Genüge, wenn er hinsichtlich der beiden ersten
Unzeitgemäßen schreibt: „Nietzsche hat kein Glück gehabt; er verstand es damals noch nicht,
sich Gegner auszusuchen, die Zukunft vor sich hatten" (Nachwort: KSA l, 906). Nietzsches
Gegner war der deutsch-nationale, „kultur"beflissene Optimismus des aufgeklärten Bürger-
tums. Die Hohlheit und Ungegründetheit dieser Tendenz konnte kaum besser dargestellt und
entlarvt werden, als mit Hilfe des von Nietzsche gewählten Vorgehens. Indem er die Bücher
und Thesen der von dieser Schicht gefeierten Autoren der Lächerlichkeit preisgab, traf er den
wahren Gegner. K. Hillebrand hat diesen Gesichtspunkt in seinen beiden Besprechungen der
ersten und der zweiten Unzeitgemäßen mit Recht herausgestellt (vgl. Zeiten, Völker, Menschen
II: Wälsches und Deutsches, Berlin 1875» 291 ff. und 311 ff.).
44 Jörg Salaquarda
quälenden Empfindungen erregten, meistens aus mir selbst und nur zur Ver*
gleichung aus Anderen entnommen habe, und dass ich nur sofern ich Zögling
älterer Zeiten, zumal der griechischen bin, über mich als Kind dieser jetzigen
Zeit zu so unzeitgemässen Erfahrungen komme". Er hat schon damals die Ein-
sicht, daß er ebenso ein „decadent" ist wie „dessen Gegensatz", und daß er
beides sein muß, wenn er die Krankheit und Schritte zur Gesundung darstellen
will.
In HL 9 bedient sich Nietzsche eines literarischen Kunstgriffs, um seine
Verwicklung in die Krankheit und seine Bemühung um Heilung anschaulich
werden zu lassen. Er behandelt in diesem Abschnitt die Symptome „Ironie"
und „Cynismus", aber nicht, wie man es von einem ernsthaften deutschen
Schriftsteller hätte erwarten können, indem er sie nüchtern und mit erhobe-
nem Zeigefinger anprangert, sondern indem er sich selbst ihrer bedient. Was
hilft gegen die „Ironie", die sich tarnt und in den „Cynismus" des Prozeßden-
kens übergeht? Durch die Art der Darstellung signalisiert Nietzsche, daß da-
gegen am besten die bewußte Ironie hilft, die Ubertreibung, die Parodie.
Nietzsche bringt mit stilistischen Mitteln in HL 9 dasselbe zum Ausdruck, was
er in HL 8 und 10 in Form-inhaltlicher Thesen darlegt: dort, daß Erbe großer
Traditionen zu sein durchaus nicht zu Resignation und Epigonenbewußtsein
führen muß, hier, daß jedes Heilmittel immer auch ein Gift ist und daß es dar-
auf ankommt, wer es in welcher Dosis gebraucht.79
79
Später hat Nietzsche die „Gifte" „Ironie" und „Cynismus" bekanntlich sehr hoch veran-
schlagt. In EH sagt er über seine eigenen Bücher, sie erreichten „hier und da das Höchste, was
auf Erden erreicht werden kann, den Gynismus" (Warum ich so gute Bücher schreibe, 3; vgl.
dazu Kaufmann, Nietzsche, 476f.).
In diesem Zusammenhang ist es interessant, daß Nietzsche Heine — den er später in höchsten
Tönen lobte: vgl. z.B. EH, Warum ich so klug bin, 4 — zur Zeit der Abfassung von HL mit
Hartmann auf eine Stufe gestellt hat. „Hartmann und Heine sind unbewusste Ironiker, Schalke
gegen sich selbst" (III 29 [67]). Vermutlich hat er diese negative Einschätzung I'iemes von
Grillparzer übernommen. Jedenfalls schreibt er im Anschluß an ein Zitat aus dessen Ästhetika:'
„Wer wird an die Wahrheit der Empfindung eines Heine glauben! Etwa so wenig ich an die
eines E. von Hartmann glaube. Aber sie reproduciren mit einem ironischen Hange, in der Ma-
nier grosser Dichter und grossef Philosophen, wobei sie im Grunde eine satirische Richtung
haben und ihre Zeitgenossen verspotten, die sich gerne etwas vorlügen lassen, in Philosophie
und Lyrik, und daher mit ihren neugierigen Brillenaugen ernsthaft zusehen, um sofort die hi-
storische Rubrik zu finden, wo diese neuen Genie's ihren Platz haben: Goethe und Heine,
Schopenhauer und Hartmann! Es lebe der feine ,historische Sinn* der Deutschen!" (29 [65]).
Das ist eine bemerkenswerte und aufschlußreiche Aufzeichnung. Ich will hier Zweierlei heraus-
heben. Zum einen hat Nietzsche,: unbeschadet seiner nie wankenden Bewunderung für den
Menschen Goethe, den 1873/74 so geschmähten Heine zuletzt als Lyriker diesem vorgezogen
(EH, Warum ich so klug bin, 4). Zum anderen ist es dasselbe Merkmal, um dessen willen
Nietzsche Heine zur Zeit der Abfassung von HL zurückweist und in der Spätzeit preist, näm-
lich seine Ironie. Der Unterschied besteht darin, daß er später eingesehen hat, daß Heines Iro-
nie bewußte, souverän beherrschte Ironie ist, während er sie früher, für eine unfreiwillige, „un-
bewußte" Ironie gehalten hat. Auch hier gilt: auf den rechten Gebrauch kommt es an! Nietz-
Studien zur Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung 45
sehe hat diesen Weg vorgezeichnet, indem er in HL 9 die „unbewußte" Ironie Hanmanns
durch seine eigene bewußte Ironie bekämpfte.
60
Daß es geraten ist, vorsichtig ans Werk zu gehen, erhellt z.B. aus Nietzsches in Anm. 79 s'kiz-
ziertem Wandel in der Einschätzung Heines.