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Die Geschichte
der Unschärfe
Wolfgang UHrich
Die Geschichte der Unschärfe
Gerhard Richter: Gt'&ttrübtrsullung 2. Aus dem Zyklus r8. Okr.obrr 19n (1988)
VORWORT 7
KUNSTPRODUKT ION :
AUTHENTISCH 123
BILDREFLEXION 136
IM PLURAL 151
VORWORT
7
Dieser Trend verwu ndert, existiert doch andererseits noch gleich zu untersuchen, welcher Zeitgeist an der Wende vom 20.
immer die Vorstellung, Unschärfe sei ein Fehler: Ist das Abge- zum 21. Jahrhundert die Zusammenfüh rung traditioneUer Un-
bildete nur undeutlich zu sehen oder gar unkenntlich, lassen schärfe-Formen zu einer neuen, ungewöhnlich mächtigen Bild-
Amateurfotografen ihre Bilder bereits im Fotogeschäft als Aus- ästhetik erlaubt hat. Dahinter steht aber immer die Frage: Wa-
schuß zurückgehen. In Fotohandbüchern finden sich bis heute rum können Bilder populär sein, auf denen kaum etwas zu
standardmäßig Tips, wie man Unschärfen vermeiden kann. erkennen ist?
Warum also wird in den Medien akzeptiert und sogar als schick
bewundert, was sonst als Fehler gilt? Oder gibt es >gute• und
•schlechte• Unschärfen? Und wieso boom'en unscharfe Bilder ge-
rade jetzt?
Eigentlich gehört die Unschärfe bereits zu den große~ Ent-
deckungen des 19.)ahrhunderts und war von Anfang an kein
ideologisch neutrales Stilmittel; vielmehr dienten - meist
fotografische - Varianten von Unschärfe der Artikulation von
Welthaltungen: Stand die Bewegungsunschärfe für Fortschritts·
stolz, drückte die - weit verbreitete - Weichzeichnung den ro-
mantisch-antimodernen, später gerne als kitschig verrufenen
Wunsch nach Idylle und Abgeschiedenheit aus. Pointillismus
oder Symbolismus arbeiteten mit weiteren Formen der Un-
schärfe. über sie alle wurde damals auch kontrovers und diffe-
renziert debattiert, verbunden mit grundsätzlichen Diskussio-
nen über den Sinn von Bildern oder die Aufgaben der Ku nst.
Das Studium dieser Debatten erlaubt nicht zuletzt eine ge-
nauere Reflexion heutiger Bildbegriffe, verändert aber vor al-
lem den Blick auf die Abstraktionsbewegung der modernen
Kunst.
Komplexe und zum Teil divergierende Entwicklungen den-
noch zu einer Geschichte der Unschärfe zusammenzufassen,
erklärt sich daraus, daß die verschiedenen Unschärfe-Typen ge-
genwärtig erstmals gemeinsam - dank d igitaler Techniken viel-
fach neu kombiniert - auftreten: Aus Kontrahenten von ehedem
sind einander ergänzende Stilmittel geworden. Oie Geschichte
de r Unschärfe zu rekonstruieren heißt damit auch, die Eman-
zipation einer ganzen Gattung bildnerischer Mittel von ihren
geistig-ideologischen Ursprüngen zu beschreiben - und zu-
8
Ruine - friedlich in seine Umgebung ein. Daß »die Ferne den Ur-
sprung und das Ende gleich richtig abbildet« und damit sogar
noch die Pole der Zeitlichkeit- Vergangenheit und Zukunft -
miteinander vereint, vollendet das Mysterium der Landschaft.
Der Fernblick wird so zum metaphysischen Schauen, während,
DER ROMANTISCHE BLICK IN D IE FERNE was sich in unmittelbarer Nähe befindet, in seiner Abgegrenzt-
heit einen analytisch-kühlen Blick provoziert und nu r die Gegen-
Adam Müller, eigentlich Nationalökonom, veröffentlichte 1808 wart umfaßt; es ist das Aktuelle, das Akute, das in seiner Schärfe
einen kurzen, gerade zwei Seiten umfassenden Aufsatz, dessen keinen Spielraum läßt.
Titel unprätentiös »Etwas über Landschaftsmalerei« ankündigte.' Unschwer ist zu erkennen, daß Adam Müllers Text ein ty-
Dieser Text ist eines der erhellendsten und zugleich eines der er- pisch romantischer Gegensatz zugrunde liegt: Dem Vereinten
sten Dokumente einer Geschichte der Unschärfe. Genau genom- wird das Getrennte, dem Ganzheitlichen das Isolierte, dem Un-
men gehört er eher zu deren Vorgeschichte, denn das Wort selbst endlichen und Überzeitlichen das Endliche und Zeitgebundene
taucht da rin gar nicht auf. Müller beschäftigt vielmehr die Frage, gegenübergestellt. Romantisch ist auch d ie Idee, Unbegrenztes
warum Landschaften auf den Menschen wohltuend wirken - habe mehr Wert, wei l es allgemeiner, ursprünglicher, seltener
warum alles in ihnen »harmonisch verbunden durch einen im- oder einfach nur weiter gespan nt sei als das Begrenzte. Das
mer wiederkehrenden Grundakkord« erscheine. - Seine Ant- Feme wird also dem Nahen vorgezogen, das Weiche, Verschmel-
wort: Dem Betrachter sei jeweils ein Blick in die Ferne möglich, zende, Unscharfe gilt mehr als das klar Konturierte, und begün-
in der Himmel und Erde - alle Elemente - einträchtig miteinan- stigt ist, wer etwas verschwimmend oder unscharf sehen kann.
der verschmolzen seien. Präsentieren sich die Dinge aus der Dies widerspricht der scheinbaren Tatsache, daß unscharfes
Nähe oft noch ,.in schroffem Gegensatze fest, deutlich und klar«, Sehen ein Manko ist. Selbst mit seiner normalen Sehkraft fühlt
werden aus der Weite »die Umrisse der irdischen Dinge[...] wei- sich der Mensch bereits als Mängelwesen, sonst brauchte es
cher, die Farben sanfter: Luft und Erde scheinen zusammenzu- keine Mikroskope und Teleskope. erst recht keine Lupen oder
fließen«; sch ließlich »verlieren sich d ie Grenzen, bleichen die Far- Ferngläser. Immer wieder taucht auch ausdrücklich der Wunsch
ben ineinander«. nach größerer Sehschärfe auf, so etwa in Traktaten der Renais-
Gäbe es keinen Dunst und keine Verblauung oder wäre das sance, in denen über das Leben in der überirdischen Welt speku-
menschliche Sehvermögen stärker entwickelt, stünde es anders liert wird. Die Autoren berichten nicht nur, daß die Dinge im
um das Erleben von Landschaft: Sie könnte die Seele ihres Be- Himmel und Paradies schöner, bunter und vielfältiger seien als
trachters in keinen Zustand »sanften Getragenwerdens« verset- gewohnt, sondern sie schwärmen vor allem davon, um wieviel
zen, kön nte auch nicht über das Gegenwärtige hinausweisen feiner der Sehsinn dort ausgeprägt sei: Es lasse sich genauer zwi-
und so zur Allegorie, zum Bild der Transzendenz werden. Mül- schen verschiedenen Farben und Formen unterscheiden, und
ler beschreibt, wie durch die Auflösung der Konturen ein Ein- selbst aus großer Entfernung könne man Gegen stände noch
druck entsteht, der sowohl Erinnerungsbildern - zumal aus der scharf sehen.: Im umfangreichsten Wunschkatalog komforta-
»frühesten Kindheit« - ähnelt als auch »das künftige einsinkende blen Lebens, in Francis Bacons Nova Atlantis ( 1624) , wird eine
Alter~ assoziieren läßt, geht doch alles - wie eine verwitterte Erfi ndung imaginiert, die die natürliche Strahlkraft des Lichts
10 Tl
erhöht, damit man auch in der Ferne »die feinsten Linien und Transzendenz hin ausgerichtet, dabei jedoch von besonderer
Punkte unterscheiden kanno. 1 Bin technischer Fortschritt be- Klarheit und Plastizität der Dinge geprägt ist.
stünde demzufolge darin, jenes Zusammenfließen von Luft und Man denke nur an das Staunen Reisender aus dem Norden,
Erde, das Müller beschreibt, zu verhindern und am Horizont für wenn sie erstmals in südlichem Licht stehen und von der Kontu·
glasklare Verhältnisse zu sorgen. renschärfe einer Landschaft überwältigt sind. Bei bestimmten
Da für Bacon und das gesamte naturwissenschaftliche Denken Luft· und Lichtverhältnissen kann aber auch diesseits der Alpen
Naturerkenntnis zugleich Macht über clie Natur bedeutet, ver- der weite Blick in die Ferne oder von einem Hügel aus alles ganz
spricht eine stärkere Konturenschärfe, die sichtbare Welt besser klar erscheinen lassen . In Goethes Novelle (1826) ergötzt sich
kontrollieren zu können. Tatsächlich gehört der Bezug zwischen etwa die Fürstin von einem Felsvorsprung aus an einer Aussicht,
scharfem Sehen und Beherrschen zu den großen Themen jeder die »schon in den Blick des Vogels überging« und, bei •klarster
Kultur! Ein >scharfer Blick• impliziert nicht nur Präzision u~d Un- Beleuchtung((, ein Panorama an Einzelheiten bot. Sie bewundert,
bestechlichkeit, sondern kann ebenso Signal massiver, gar herri- »wie doch die klare Natur so reinlich und friedlich aussieht«, und
scher Überlegenheit sein. So ist es immer eine Machtgeste, eine erlebt einen Moment reiner Gegenwart, ein nunc stans - so als
andere Person scharf zu mustern; umgekehrt war es lange Zeit »halte alle Natur den Atem an<<. Der Klarheit, mit der sich »un-
vielerorts verboten, einem Vorgesetzten oder Höherstehenden zäh lige« Ortschaften und ein Schloß ebenso zeigen wie das Trei-
mit Brille - mit bewaffnetem Auge - gegenüberzutreten. Tm ben auf dem fernen Marktplatz und der Flurslauf, hil ft die flür·
scharfen Blicken steckt auch insofern eine Provokation, als man sti n fre ilich mit einem Fernrohr nach; dieses »förderliche
das Gegenüber gleichsam heranholt, sich seiner Präsenz voll aus- Werkzeug« steigert den erhabenen Ausblick überhaupt erst zu
setzt, das aber nur macht, weil man sich ohnehin für stärker hält; einem beinahe mystischen Augenblick.s
in seiner gesteigerten Sichtbarkeit wird der andere entblößt und Oie vom klaren Licht bewirkte Zuspitzung der Welt auf reine
erniedrigt. Somit gehen Erkenntnis- und Machtinteresse untrenn· Gegenwart ist also das Gegenerlebnis zur Vereinigung aller Zeit·
bar ineinander. Die lange Geschichte des bösen Blicks gehört dimensionen, wie sie im Blick aufverfließende Konturen erfah-
ebenso in diesen Zusammenhang wie das Fixieren, das noch im ren werden kann, und wird im I9.Jahrhundert manchmal auch
I9.Jahrhundert zum Auslöser zahlloser Duelle wurde. als gewisse Bedrohung empfunden. So spricht der Erzähler in
Aufgrund seines aggressiven Chara kters verwundert es nicht, Stifters Mappe meines Urgroßvaters (1841/47) vom •schwermütig
daß dem scharfen Sehen ein gelassenes Schauen und damit jener klaren Licht der Gegenwart«, das auf allen Dingen lag, als er
freie Blick in die Ferne gegenübergestellt wird, der seine Bestim- nach langer Zeit in sein Jugendhaus zurückkehrte; daß sie ihn
mung nicht in Analyse, sondern in Reflexion, nicht in Kontrolle anblickten, •als hätten sie die Jahre meiner Kindheit vergessen«,
und Distanzierung, sondern in einem sympathetischen Einswer- ist Grund fü r jene Schwermut. Klarheit und Präsenz entzaubern
den findet. Doch wäre es verkürzt, eine ästhetisch-metaphysi- die Dinge ihres Geheimnisses, das ihnen die Erinnerung - selbst
sche Landschaftserfahrung wie die Adam Müllers nur in Oppo- eher ein Gefühl als ein scharfes Bild - zugesprochen hatte.'
sition zu einem instrumentellen Z ugriff auf die Natur zu Solche Skepsis ist jedoch die Ausnahme, und meist blieben die
interpretieren . Oie Begeisterung über verschwimmende Hori· äst hetischen Ideale des Klassizismus, der für das Klare und Reine,
zontlinien und unscharfe Konturen steht vielmehr auch im Wi- fü r >splendid isolation< plädierte, im 19.jahrhunderr in Geltung
derspruch zu einem anderen Naturerleben, das nicht m inder auf und fanden auch Ausdruck in der metaphysischen Verklärung
12 13
der Natur. Somit existierten zwei gegenläufige Ansätze der Na-
turbetrachtung, was sich nicht zuletzt in der Landschaftsmalerei
niederschlug, die, nachdem sie über Jahrhunderte hinweg inner-
halb der Hierarchie der Gattungen einen der untersten Plätze
eingenommen hatte, zu ei nem bevorzugten Ort von T rans zen-
denzerfahrungen wurde. Für Müller ist sie >>mehr allegorischer
als plastischer Natur«, bildet somit weniger eine Vielfalt an
Sujets ab, sondern erzeugt Sti mmungen, die über das bloß Ali-
tägliche und Irdische hinausweisen. Freilich geht er nicht so weit,
von den Landschaftsmalern zu fordern, »daß die dämmernden
Fernen in der Landschaft nie feh len dürften«, was jedoch auch
ein Zugeständnis an den damals vorherrschenden Stil gewesen
sein könnte. So gibt es im frühen 19.)ahrhundert nur wenige Bil-
der, auf denen sich die Gegenstandskonturen auflösen. Vielmehr Cas par David Friedrich: Mönch am Meer (r8ro)
dominiert eine Malweise, die die einzelnen Sujets klar voneinan-
der trennt und eigens profiliert; nicht wenige Maler - am heraus- rei entsprochen haben dürften. Darunter befindet sich aber im-
forderndsten Carl Blechen - machten es sogar zu ihrer Aufgabe, m erhin das berühmteste Bild der Romantik , das zudem im
jenes klare Licht des Südens, das jeden Um riß eigens schärft, ma- selbenjahr entstand wie Müllers Aufsatz, nämlich Caspar David
lerisch umzusetzen . Und selbst wenn die Gesetze der Luftper- Friedrichs Mönch am Meer. Anders als bei den meisten seiner Bil-
spektive beachtet wurden, waren Verblauung oder das Verdun- der pflegt Friedrich hier keinen zeichnerischen, konturbezoge-
sten von Farben und Konturen in der Ferne kaum einmal eigene nen Stil, sondern zeigt die Auflösung der Elemente in der Weite:
Motive. Der am Ufer und dem Meer zugewandt stehende Mönch schaut
Auf jeden Fall hätte Müller innerhalb der Geschichte der auf den Horizont, an dem nicht nur Wasse r und Himmel fast
Landschaftsmalerei bessere Beispiele für seine Naturerfahrung nahtlos ineinander übergehen, sondern wo auch - etwas un-
finden können als in der eigenen Gegenwart. Von Patinicrs Mei- heimlich - zwischen Tag und Nacht nicht mehr zu unterscheiden
sterwerken der Verblauung, die das Verschmelzen von Himmel ist. Doch am verwandtesten mit Müllers Aufsatz ist Friedrichs
und Erde zum spirituellen Erlebnis werden lassen, über die in Gemä lde in der offensichtlichen Abneigung gegen alles, »was
gesteigertem Naturalismus dargebotenen Landschaftsräume bei den Menschen unmittelbar umgibt« und daher gegenüber ande-
Leonardo, dessen Sfumato nirgendwo sonst ähnlich stark in Er- rem »in schroffem Gegensatze<< steht. Tatsächlich braucht der
scheinung tritt7 , bis hin zu den dramatisch aufgewühlten, in ihre Mönch auf nichts zu blicken als den Horizont, und die Grenze
Elemente sich auflösenden Landschaften Rembrandes reicht ei n zwischen Düne und Wasser ist die einzige harte Linie des Bilds,
weites Spektrum an Bildern, die vorfüh ren, wie sich Natur dem so als habe Friedrich erinnern wollen, wie streng im Vorder-
Fernblick darbieten kann. grund voneinander geschieden sein muß, was in der Ferne mit-
Unter seinen Zeitgenossen gab es statt ganzer CEuvres nur ein- einander verschmelzen darf. Um nur den Fernblick zuzulassen,
zelne Bilder, die Müllers Erwartungen an die Landschafrsma le- hat Friedrich sogar zwei bereits gemalte Schi ffe wieder über-
14 15
malt. 8 So verweigert das Bild jegliches Detail und zwingt den das Streben nach einer absoluten Kunst aus, die vergleichbar
Betrachter geradewegs zu metaphysischer Naturbetrachtung. >rein<wirken- ähnlich intensive Stimmungen bieten - soll wie
Diese Herauslösung des Landschaftsraums aus dem alltäg- die Musik. Der Weg zur Unschärfe, schließlich zur immer weite-
lichen Lebensraum des Menschen - der Fernblick als Sehnsucht ren Reduktion und Abstraktion ist Folge dieses Wunsches, den li-
nach Fremdem, nach Ausnahme - läßt den Mönch am Meer zur teralen Charakter der Malerei zu überwinden, und damit Konse-
Ikone der Romantik werden. Hier geschieht konsequen ter und quenz des einschneidendsten Leitbildwechsels, den die bildende
plakativer, was in der Folgezeit auf vielen anderen Landschafts- Kunst in den Ietzren Jahrhunderten erlebte: Erstmals seit der Re-
gemälden der Tendenz nach ebenfalls zu bemerken ist: AufStaf- naissance orientierte sie sich nicht meh r an der Literarur, um, ge-
fage oder anekdotische Elemente wird verzichtet, weder das Ar- mäß der Formel >Ut pictura poiesis<, den Rang einer freien Ku nst
beirsleben der Menschen noch andere Spuren der aktuellen beanspruchen zu können. Anstarr sich jedoch aus sich selbst her-
Zivilisation tauchen auf.9 Der Bildraum ist soweit leer ge~äumt, aus zu besti mmen, tauschte die bildende Kunst lediglich einen
daß den Betrachter nichts mehr uneerhalten oder amlisieren Minderwertigkeitskomplex gegen einen anderen ein: Waren die
kann; vielmehr begegnet ihm eine weitgehend homogene, mög- Maler und Bildhauer bis ins späte IS.Jahrhundert von der Angst
lichst in harm onischem »Grundakkord« klingende Landschaft. verfolgt, nicht hinreich end gut erzählen zu können und zu wenig
Gerne griff man auf Metaphern aus dem Bereich der Musik intellektuelle Beschäftig~mg zu bieten, trieb sie nun die Befürch·
zurlick, um die Landschaftsmalerei - und das Streben nach Har- tung um, die Menschen nicht so direkt erreichen und so stark ein·
monie - zu chara kterisieren' 0, was den enormen Erfolg der abso- nehmen - beglOcken, läute rn oder entlasten- zu können wie die
luten Musik spiegelt, die ihre rseits erst kurz zuvor zur reinsten Musik. Der Vergleich mit dieser wurde der bildenden Kunst von
Form - liberlegen aller Vokal- wie Programmusik - geadelt wor- nun an zum Ansporn wie zum Stigma.
den war': »Von allen irdischen Klein igkeiten (...) gereinigt« Im Zuge des Wandels der Landschaftsmalerei zu einer >musi-
werde man durch sie, schwärmte Wackenroder, der das Musik- kalischen<Kunstgattung tauehren als architektonische Reminis·
hören als ekstatisches Erlebnis beschreibt, bei dem die Gegen- zenzenbald nur noch Ruinen auf; sie waren beliebt, weil sie,
wart transzendiert werde, während gleichzeitig, infolge der ln· funktionslos geworden und bereits wieder in den Kreislauf der
tensität des Eindrucks, »tausend schla fende Empfindungen«, Natur zurilckgekehrt, ein Kontinuum zwischen den Werken des
»mannigfache Bilder [... ] aufsteigen«. Es erscheine dem Hörer, Menschen und der natürlichen Landschaft herstellen. Als Reste
»als wenn er dabei auf einmal weit klüger wUrde und mit helle- vo n Bauwerken, die ihre Kanten längst verloren haben und die
ren Augen und einer gewissen erhabenen und ruhigen Wehmut als Doku mente vergangeocr Zeiten eine nostalgische Stimmung
aufdie ganze w immelnde Welt herabsähe«.' 2 befördern, lösen sie ähnliche Empfindungen aus wie das- von
Oie Wirkung der Instrumental musik wurde damit erklärt. Müller beschriebene- Ineinanderfließen der Dinge im Dunst
da !~ sie Ober alles einseitig Bestimmte - liber konk rete Inhalte - der Ferne: Sie veranlassen den Betrachter, sich auf seine Erinne-
hinausgehe und in ihrer >Reinheit< - ihrer Freiheit von m im eti- rungen zurliekzuziehen oder zu reflektieren; keine äußerlichen
schen Zwängen - eine eigene, unabhängige Welt bilde. Sie wurde Details lenken m ehr ab, abgeschieden von der Geschäftigkeit des
daher auch zum Vorbild flir andere nach ästhetischer Autonomie Alltags wird - in der freien Natur wie auch vor einem entspre-
strebende Künste- vo r allem für die Landschaftsmalerei: Oie chenden Bild - konzentriert der eigene Seelenzustand erfah ren
Räumung von Staffage, der Verzicht auf Bilderzählungen drückt und mit der jeweiligen Landschaft in eins gesetzt.
16 17
Oie Abneigung gegen markante, die Aufmerksamkeit bin-
dende Einzelheiten wie überhaupt gegen alles Laute, Schrille, Ak-
tuelle - gegen alles, was zu nahe tritt - bezeugt den romantischen
Drang nach Innerlichkeit sowie das bereitsamEnde des I8.jahr-
hunderts erwachte Bedürfnis nach Ausgleich gegenüber der als
anstrengend und entfremdend empfundenen Lebenswelt. ln vie-
len Texten zur Landschaftsmalerei werden die Maler davor ge-
warnt, die Bilder - und damh die Bildbetrachtung - nur ja nicht
ll,lit aktuellen Sujets zu stören. So bemerkt Carl Gustav Carus in
seinen Neun Briefen über Landschaftsmalerei (1815-1824), daß »ein
eben vollendetes scharfkantiges und neugefärbtes Gebäude wenig
für landschaftliche Bilder paßt«. 13 Immer wieder werden dafür
»anspruchslose« Bilder und Sujets gefordert, was ganz wörtlich
meint, daß der Betrachter nicht durch Details oder Hervorste-
chendes in >Anspruch< genommen und gestört werden soll." Ein Ernst Ferdinand Oe hm e: Prozessiott im Nebel (1828)
Landschaftsgemä lde darf nichts fordern und den Rezipienten
nicht zu Gedanken über ein bestimmtes Thema nötigen; es soll z utraut als Anekdoten, wäre auch alles andere als >A nspruchslo-
ihn nicht einmal unterhalten - zu Passivität verführen und zer- sigkeit<unter seiner Würde, beschäftigte es die Rezipienten dann
streuen - , sondern seine Aufgabe besteht darin, eine Stimmung doch bloß mit Kleinigkeiten und profanisie rte sich selbst.
anzuregen, die ihrerseits zu freier Reflexion animiert. Anstatt zu Beides, die Nobilitierung der Kunst und die Orientierung der
amüsieren oder zu belehren, fu ngiert das Bild als Proje ktions- Bilder an der Musik, äußerte sich also in einer Aversion gegen De-
fläche für die Phanrasien und Gedanken des Betrachters. tails; zudem wurde dadurch die Suche nach homogenen Bildräu-
Aber nicht nu r das: Ein Bild, das Details vorenthält, diskret ist men wie auch eine Vorliebe für Sujets begünstigt, bei denen die
und möglichst wenigerzäh lt, gibt auch sich selbst nicht preis; viel- Gegenstände mit sanften Übergängen gemalt werden konnten ,
mehr zelebriert es eine gewisse Distanz und Rätselhaftigkeit, was um eine einheitliche Stimmung- jenen Grundakkord - zu erzeu-
das Interesse des Betrachters stimuliert, dem es dan n um so be- gen, statt sich einzeln zu artikulieren und gegeneinander zu be-
deutender erscheint und um so stärker überhaupt als Bild auffällt. haupten. Dämmerung oder Nebel boten gleichsam einenatürliche
Oie Ästhetik der Anspruchslosigkeit, die seit dem frühen I9.Jahr- Unschärfe und ließen das Verschwimmen der Gegenstände - wie
hundert aufkam, beinhaltet also nicht nur das Gebot, den Be- bei Ernst Ferdinand Oehme - bereits im Mittelgrund und nicht
trachter von Erzählzierat zu verschonen, sondern ist zugleich erst im Fernblick beginnen. Oetailversessene, hyperscharfe Bilder
(und zuerst) Folge einer Aufwertung der Kunst: Das Bild besitzt wurde n hingegen zunehmend als oberflächlich-laut und pedan-
auf einmal die Autorität, auch schweigen zu dürfen und sich nicht tisc h empfunden, als geistlos-dumme, geradezu bürokratische
ve rhören lassen zu müssen; dafür sei seine Rezeption - so noch- Abpinseleien abgele hnt. Berühmt sind etwa Baudelaires Invekti-
mals Wackemoder einem >>Gebet« vergleichbar, denn >>die KIH!St ven gegen Maler wie Horace Vernet, den zu hassen er in seinem
ist über dem Menschen«. 11 Weil man dem Bild - qua Kunst - mehr Salon-Bericht von 1846 bekannte, da ihm dessen akribisch gemalte
18 19
Bilder wie bloße Selbstbefriedigung erschienen. Ihn - oder auch ben«10, wa r - im europäischen Vergleich - bereits etwas anachro-
Theophile Gautier - bezeichnete er als Vertreter der »ecole des nistisch, da auch in England, mit Malern wie Constable, längst ein
pointus«, der Schule der >scharfen<, spitzfindigen Maler.'6 Stil Einzug gefunden hatte, der die atmosphärische Wirkung ei-
Im selben Zusammenhang machte Baudelaire es zum Krite- ner Landschaft einzufangen versuchte, statt ihre einzelnen Sujets
rium eines guten Bilds, melodisch zu wirken. Um dies festzustel- abzubilden. Im weiteren sollte die Detail-Aversion sogar zum
len, müsse man es aus einer Entfernung betrachten, die weder gemeinsamen Nenner der ve rschiedenen Kunstströmungen de r
den Gegenstand noch die Linien erkennen lasse.'' Damit wird beginnenden Moderne wie erst recht der Avantgarde werden.1'
der >Fernblick< statt auf die Natur auf die Kunst angewendet, Der Wechsel von der Vielfalt de r Sujets zur Einheit der Stim-
diese aber nach einem musikalisch-abstrakten Bildbegriff beur- mung brachte es zudem m it sich, daß - wenigstens vereinzelt -
teilt. Mußte man zu Baudelaires Zeit noch etwas mühsam auf Sehschärfe nicht mehr unbedingt als Vorzug galt, sondern die
Distanz gehen, bis das Bild zu >kli ngen<begann, sollte es die Gunst der Natur umgekehrt demjenigen zu widerfahren schien,
weitere Entwicklung der bildenden Kunst - das Experiment mit de r davon befreit war, immer alle Einzelheiten sehen zu müssen.
Unschärfen und Strategien der Reduktion - erlauben, da ß der Be- Am skeptischsten gegen das Scharfsehen äußerte sich da bei kein
trachter auch aus größerer Nähe einen Eindruck von der >Melo- anderer als Goethe. Mochte er auch davon berichten , wie ein
die<eines Bilds erhielt und nicht von Details genervt wurde, die Fernrohr zum erhabenen Erlebnis reiner Gegenwart verhelfen
Baudelaire als Folge stupider Ängstlichkeit der Maler deutete: kann, so lehnte er optische Hilfs m ittel und zumal Brillen insge-
Diese wagten es n icht, brave Mimesis-Ansprüche aufzugeben, samt doch ab. Den Wilhelm Meister läßt er äußern: »Ich habe im
um ihren Träumen und Fantasien freien Lauf zu lassen, und ver- Leben überhaupt und im Durchschnitt gefu nden, daß diese Miere!,
hinderten damit eine wirkliche Autonomie der Kunst.' 8 wodurch w ir unsernSinnen zu Hülfe kommen, keine sittlich gün-
Schon Jahrzehnte vor Baudelaire wurde die Vorliebe für De- stige Wirkung auf den Menschen ausüben. Wer durch Brillen
tails im französischen Dictionnaire des beaux-arts als Zeichen einer sieht, hält sich für klüger, als er ist, denn sein äußerer Sinn wird
entweder noch unentwickelten oder aber einer bereits wieder de- dadurch m it seiner innern Urteilsfähigkeit außer Gleichgewicht
kadenten Ku nst gewertet: Wie d ie Kunst sich am Anfang darum gesetzt; es gehört eine höhere Kultur dazu, deren nur vorzügliche
bemüht habe, alles genau wiederzugeben, würde sie am Bnde, Menschen fähig sind, ihr Inneres, Wahres mit diesem von auaen
nachdem sie größte Einfachheit und Klarheit erreicht habe, erneut herangerückten Falschen einigermaßen auszugleichen. Sooft ich
in der Nachbildung des Kleinen ihre Meisterschaft suchen.' 9 ln- du rch eine Brille sehe, bin ich ein anderer Mensch und gefalle mir
folge dieser Einschätzung wurde auch nicht mehr soviel Wert auf selbst nicht; ich sehe mehr, als ich sehen sollte, die schärfer gese-
eine präzise Zeichnung gelegt, was etwa Ludwig Richter verwun- hene Welt harmoniert nicht mit meinem lnnern, und ich lege die
derte, als er, zusammen mit einigen Malerkollegen, 1824 in Tivoli Gläser geschwind wieder weg, wenn meine Neugierde, wie dieses
auffranzösische Maler traf, die di rekt losmalten und sich gerade oder jenes in der Ferne beschaffen sein möchte, befriedigt ist<<.u
mit ))Luft- und Lichteffekten« beschä ftigten, während die Deut- Brillenträgern wi rd hier ein Hang zum Hochmut, eine Ober-
schen zuerst vorzeichneten, dabei »die Umrisse bis ins feinste De- schätzung ihrer intellektuellen Fähigkeiten vorgeworfen, da sie
tail fest« ausfüh rten und sich gar »in jeden Grashalm, in jeden zier- aus ihrem Vermögen , alles scharf zu sehen , fälschlicherweise
lichen Zweig« ve rliebten. Daß es ihnen noch darum ging, »den schließen, auch scharfsichtig u nd scharfsinnig zu sein. Freilich
Gegenstand möglichst objektiv, treu wie im Spiegel, wiederzuge- unterstellt Goethe seinerseits eine Korrespondenz von Seh- und
20 21
Urteilskraft und glaubt sogar an ein natürliches »Gleichgewicht« Die Abneigung gegenüber Brillen gehört zu einer weiter rei-
zwischen beiden, das allerdings gestört wird, sobald die Sehkraft chenden Technikfeindlichkeit, gespeist aus der Überzeugung, die
dan k technischer H ilfsmittel einseitig zunimmt. Folge ist, daß moderne, rasch sich entwickelnde Zivilisation mache die Kultur
das Urteilsvermögen von den neuen - scharfen - Bildern ver- zunehmend geistloser und exzentrischer, da die Menschen sich
wirrt und überfordert wird. Goethe nimmt den Topos der an die Versuchungen der äußeren Welt verlören. Die Angst vor
Reizüberflutung vorweg, wenn er Wilhelm klagen läßt, als Bril- einer technisierten Moderne taucht im Wilhelm M eister immer
lenträger sehe er mehr, ))als ich sehen sollte«: Plötzlich scharf- wieder auf, und Goethe stand damit - wie mit der Brillen-Skepsis
gezeichnet, ist die eigene Umgebung präsenter als gewohnt und - keineswegs allein. Schon 1812 hatte Achim von Arnim in seiner
okkupiert so sehr, daß es schwer fallt, noch bei sich selbst zu sein; Erzählung IsabeUa von Egypun apodiktisch bemerkt, eine Brille sei
man erfahrt sich als »ein anderer Mensch«. Damit wird die Brille »das schrecklichste Gefängnis, aus welchem die ganze Welt ver-
zum Symbol der Entfremdung - der Außenwelt verhilft sie zu ändert erscheint«. Was scharf zu sehen ist, bedrängt den Wahr-
einer Übermacht über das eigene Ich. nehmenden und engt ihn ein, da es der Fantasie jeden Spielraum
Der Mehrbelastung des Intellekts, der die zusätzlichen Infor- nimmt. War eine verbesserte Sehkraft einst - bevor sich der Ge-
mationen zu verarbeiten hat, sind gemäß Goethe nur »vorzügli- brauch von Brillen durchsetzte - noch mit der Vorstellung des
che Menschen« gewachsen, die über weitere Ressourcen an Ur- Paradieses und überirdischen Glücks verbunden, wurde sie nun
teilskraft- über eine >>höhere Kultu r«- verfügen. Dabei bleibt also - nochmals von Arnim - als »Schreck« erfahren.lJ
unklar, ob er das Scharfsehen generell als Überreizung empfin- Der Affekt gegen das Genaue, Scharfe, Detailliene war eine
det oder ob er nur diejenigen davor warnen will, die es aufgrund Fluchtreaktion und der Versuch, den Energien der modernen
von Kurzsichtigkeit oder ähnlichen Anomalien nicht gewoh nt Welt sowie der Macht des Faktischen zu entkommen, um in ab-
sind und die durch den Gebrauch einer Brille auf einmal neu ler- gelegenen oder künstlich befriedeten Zonen zu sich selbst zu fin-
nen müssen, m it ihrer Umwelt zurechtzukommen . Im ersten de n. Dieser Affekt war- noch weiter gehend - Ausdr uck einer
Fall wäre für Goethe die Scharfsichtigkeit - und nicht mehr die Angst vor zu vielen äußeren Einflüssen, ja vor allem Äußeren
Kurzsichtigkeit - ein Augenfehler, und vielleicht brauchte es überhaupt. Nicht die Steigerung, sondern die Herabsetzung der
dann sogar Brillen, um nicht mehr scharf sehen zu müssen. Tat- Sensitivität wurde daher zum Bedürfnis , und ebenso suchte man
sächlich läßt Goethes Text eine solche Deutung zu, scheint ihm nach Erfahrungen und Bildern, die zwar intensiv sein durften,
das Scharfsehen doch generell etwas Nutzloses zu sein , das dabei aber nicht eigenmächtig sein sollten. Sie hatten als Reso-
höchstens der Befriedigung von Neugierde und damit einem nanzraum für die eigene Stimmungslage zu fungie ren, als ein
oberflächlichen Bedürfnis dient. Alles in voller Deutlichkeit Ort, an dem die Immunabwehr mit möglichst wenig fremden
wahrzunehmen, heißt zudem, von Banalitäten und unwichtigen Reizen konfrontiert wurde und an dem das Gefühl der Entfrem-
Kleinigkeiten in Beschlag genommen zu werden. Damit wird dung zumindest momentan aufgehoben war. Daraus ergab sich
die Aufmerksamkeit vielleicht sogar vom Wesentlichen abgezo- auch der Wunsch, die Elemente der gegenständlichen Welt in-
gen, und d ie durch Brillengläser gesehene Welt ist fü r Goethe ein anderfließen zu sehen, bis sie sich gegenseitig neutralisierten,
unruhig und wirr, weil sich zu vieles gleichzeitig und gleichwer- indifferent würden und in Wohlklang auflösten: Unschärfe
tig aufdrä ngt. So bringt das Scharfsehen nicht nur keinen großen konnte zum Stilm ittel der Angst vor dem Fremden werden.
Vorteil, sondern hält die Menschen an der Oberfläche der Dinge.
22
konkurrenten der Bildproduktion , darauf verfielen, die Wieder-
gabe von Details m it Stupidität u nd Oberfl äch lichkeit gleichzu -
setzen .
Schon in der mutm aßlich ersten Besch reibung des Charak-
ters fotografischer Bilder hatte Alexander von Humboldt im Fe-
DAS EVANGELIU M DER FOTOG RAF IE bruar 1839 - noch ganz arglos - bemerkt, sie zeichneten sich da-
durch aus, »die Contouren bis auf die zartesten T heile scharf zu
Als 1839 die ersten Oaguerrotypien veröffentlicht wurden und umgrcnzen«. 26 Was hier, in den Augen des Wissenschaftlers, als
die Sensation fotog rafischer Bilder überall von sich reden Auszeichnung gemeint war, wurde bereits kurz darauf ganz an-
machte, war das neue Medium sogleich in den herrschenden ders interpretiert. Als man d ie Erfindung im Aug ust desselben
Disku rsen über Bilder gefangen. Gerade weil sich die Fotografie Jahrs in der Münch ner Allgemeinen Zeitung vorstellte, wurde
von den bisher bekannten Bildtypen u ntersch ied, bestand das zwar zuerst konstatiert, die Fotografie könne •Formen u nd Ef-
Bedürfnis, ih r einen Platz anzuw eisen . Dies gelangjedoch nicht fecte der Natur m it einer Ruhe, Praecision und Detailausfüh-
überzeugend. Vielmehr entspann sich ein endloser Streit dar- rung wiedergeben, welche zu erreichen der Ku nst ewig unmög-
über, ob die Fotografie als Kunst oder lediglich als m ech anische lich bleiben w ird«; dann aber wurde dieser Vorzug sogleich in
Handwerkstechnik einzustufen sei. Bei urheberrechtliehen Fra- einen Nachteil verkehr t, hieß es doch, der Wert von Kunst be-
gen wurde dieser Streit sogar justiziabel24 , oder es gab kuriose stehe »in ihrer Wirku ng auf das Gemüth r...l. die nicht durch
Auseinandersetzungen - wie etwa 1862, als die königlichen bloßes Wiedergeben der Natur, sondern nur durch die schöpfe-
Kom missäre der Londoner Weltausstellung Fotografien unter rische Kraft des Künstlers zu erreichen ist«.l' Detailtreue wird
der Kategorie >Maschinerie< zwischen Pflügen und H äckselma- kurzerhand als mechanisch-stumpfes Kopieren gedeutet und in
schinen aufhä ngen wollten, während die Fotografen darau f be- Gegensatz zu einem vom Genie-Konzept getragenen - den Ex-
standen, in der Abteilung •schöne Kunst< vertreten zu sein . pressionismu s schon vorbereitenden - Ku nst verständnis ge-
Schließlieb fand m an einen Kom prom iß und schuf einen separa- bracht, das den Ausdruck der individuellen Innenwelt über die
ten Raum, in de m die Fotografien keiner bestimmten Rubrik Abbildung der Natur stellt.
mehr zugeordnet waren. Oieses Arg ument gegen die Fotografie wurde bald zum Topos.
Der Streit um die Fotogra fi e verdeutlicht auch die Detail- Kunst könne nur sein, was >>unmittelbar aus der Hand des Künst-
aversion des 19.]ahrhunderts. Nichts wurde nämlich so seh r lers entsteht«, und »ohne Abweichung vom Richtigen nicht statt-
problematisiert wie die Pähigkeit de r FotOgrafie zu scharfer, un- finden<<, schreibt Eduard Schreiner, einer der zahlreichen um ihr
eingesch ränkter Abbildung. Aus mancher Äußerung läßt sich Terrain besorgten Maler, dessen polemischer Text gegen die Foto-
regelrecht die Angst heraushören , die Präzision , die bis ins grafie zugleich belegt, w ie sehr sich der Ton des Streits innerhalb
Kleinste reicht, könnte »erschreckend« etwas sichtbar machen, eines Vierteljahrhu nderts verschärfte: Als •zynische Frechheit«
was besser nicht sichtbar w ürde.U Oie ungewohnte fotografi - wird nun - 1864 - gebrandmarkt, daß bei Fotografien •die kleinste
sche Abbildgenauigkeit dürfte den Affekt gegen das Detaillierte Form einer Hautfalte, (...) jedes einzelne Haar, sich mit derselben
sogar noch zusätzlich gefördert haben - u nd erklärt auch , daß gedankenlosen Arroganz in den Vordergrund drängt, wie die ei-
gerade viele Maler, zur klareren Abgrenzung vom neuen Haupt- gentliche Grundform, durch welche der Charakter des Gegenstan-
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des ausgeprägt ist«.'8 Dem bloß im Wesen einer Sache, das eher geschaut als präzis erkannt wer-
»Richtigen«, das die Oberfläche den kann? Sollte ersteres der Fall sein, bedeutete jedes Surplus an
der Dinge in allihren Feinheiten Genauigkeit zugleich ein Mehr an Wahrheit, während im ande-
abbildet, stel lt Schreiner hier ren Fall allein das Gesamtbild , der allgemeine Charakter zählte
den »Charakter«, die »eigent· und Einzelheiten nur ablenkten. Daß man glaubte, die Kon kur-
liehe Grundform« gegenüber, renz um Wahrheitsansprüche eindeutig zugunsren einer Alter-
die der Künstler, gleichsam native entscheiden zu müssen, erklärt die Heftigkeit der Ausein-
durch die Details hindurch, als andersetzung, die sich für einzelne durchaus zu einem inneren
das Wesentliche freizulegen hat. Konflikt auswuchs.
Kunst ergibt sich also erst aus So behandelte der spanische Neurohistologe Santiago Ram6n
der Oberwindung der Details, y Cajal, 1906 für seine Arbeiten über die Struktur des Nerven-
womit die Kritiker der Fotogra- systems mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet, in einer
fie dem ästhetisch autonomen am Anfang der 188oer Jahre entstandenen literarischen Erzäh-
Bild, das anderes, viel mehr sein lung unter dem Titel EI pesimista corregido das Dilemma des >rieb
soll als Abbildung, genauso das tigen< Sehens: Ein junger Arzt, nach einigen Schicksalsschlägen
Wort reden wie Baudelaire. Ent- am Sinn der Welt zweifelnd, wacht eines Tages mit verwandel-
sprechend bezog dieser seine ten Augen auf, mit denen er die Dinge ungleich schärfer und de-
Julia MargaretCameron: MaryMotlter ( 1866 ) Vorwürfe gegen akribische Ma- taillierter als üblich sehen kann. Diese Variante eines mikrosko-
ler wenige Jahre später mit noch pischen Blicks erschwert die Orientierung, da Personen und
größerer Vehemenz auch auf die Fotografie: Wahrheit biete diese Gegenstände ihre individuelle Gestalt verlieren und ihr Ausse-
meist nur im Sinne eines gnadenlos dummen Realismus. In einem hen sich auf dieselben Detailstrukturen reduziert. Wie sehr die
Brief an seine Mutter, in dem er 1865 - dennoch - den Wunsch äu- llyperschärfe egalisiert, erlebt der Protagonist zuerst als Verlust:
13erte, ein Foto von ihr zu besitzen, warnte er zugleich vor den Er kann schöne Frauen nicht mehr von weniger schönen unter-
"manies ridicules« der meisten Fotografen, die ein Bild für um so scheiden, und als er den Prado besucht, ist sogar die Schönheit
wahrer hielten, je drastischer (»plus pure«) es sei; dagegen erwar- der Kunst verschwunden; statt der Bilder sieht er nur schrundige,
tete er von einem Foto, daß es zwar ein genaues Porträt lieferte, von Mikroben bevölkerte Oberflächen.
aber die Weichheit, ja das Verwischte einer Zeichnung besäße Die Lehre scheint klar: Der naturwissenschaftlich-sezierende
(»mais ayant Je flou d'un dessin«). 2" Vielleicht hätte ihn ein Foto Blick entzaubert und zerstört mehr, als er umgekehrt an Erkennt-
vonjulia Margaret Cameron erfreut, die als eine der ersten Foto- nissen bringt; schließlich macht er sogar die Teilnahme am sozi-
grafinnen gezielt mit- dezenten - Unschärfe-Effekten arbeitete, alen Leben fragl ich . Doch anstatt endgültig in Verzweiflung zu
was die von ihr Porträtierten zart und würdevoll erscheinen ließ. verfallen, fasziniert den Arzt das scharfe Sehen zunehmend. Die
Der Affekt gegen das Detail war freilich auch ein Affekt ge- Welt der Mikroben, sonst nur schädlich oder eklig, kann er auf
gen die an Einfluß gewinnende Naturwissenschaft, und der da- einmal sogar als eigentümlich schön empfinden, bietet die Natur
mit verbundene Streit drehte sich primär um eine Ortsbestim- sich doch als einheitliche Struktur- als Ganzheit- dar, worin alles
mung der Wahrheit: Ist sie das objektiv Meßbare, oder steckt sie aufeinander bezogen ist. Da der analytische Blick in seiner extre-
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men Steigerung gemeinsame Elemente der Dinge - jenen allge- mosphärischen Wirkungen ihres Mediums vernachlässigten und
meinen Charakter- offenbart und eine neue Form von Einheits- den Eindruck einer Landschaft etwa dadurch zerstörten, daß sie,
erfahrung erlaubt, ist sogar der quälende Gegensatz zwischen unter M if~achtun g der Luftperspektive, nach einer scharfen
romantischer Ganzheitssehnsucht und naturwissenschaftlichem Horizontlinie strebten. Wer sich hier an Adam Müller und seinen
Erkenntnisdrang aufgehoben. Äußerste Sehschärfe, wie sie nor- Wunsch nach einem geheimnisvollen Vers.chwimmen aller Land-
malerweise nur dank technischer H ilfsmittel möglich ist, zerglie- schaftspartien erinnert fühlt, wird im weiteren noch bestätigt,
dert das Sichtbare nicht nur immer weiter, sondern bereitet letzt- beschwört Wall doch seine Kollegen, nach Möglichkeit Phäno-
endlich eine harmonische Welt. Damit gelangt der Arzt zu einer mene wie Dunst und Nebel einzufangen.
Einsicht, die dem geläufigen Weltbild an Wahrheit überlegen zu Ein Jahr später drückte sich der Fotograf William J. Newton,
sein scheint und die ihn zugleich aus seiner Depression befreit. 30 ebenfalls bei einem Vortrag in London, noch deutlicher aus und
Im realen Leben ließ sich der Ko nflikt, dem viele Wissen- plädierte dafür, gänzlich auf scharfe Ränder oder plötzliche Be-
schaftler des 19.jahrhunderts ausgesetzt waren, nicht so einfach grenzungen zu verzichten, da diese die Einheit eines Sujets zu-
lösen, und noch aussichtsloser war es für Fotografen, wenn sie nichte machten und ein Foto um seine eventuelle Wirkung
ihre Bilder als Kunst durchsetzen wollten. Ihnen blieb eigentlich brächten: Anstattals Ganzes einen starken Eindruck zu erzeugen,
nur, die Aufnahmegenauigkeit- Schärfe - als spezifische Eigen- zerfiele das Foto in seine Einzelteile, die jeweils zu schwach wä·
schaft der Fotografie zu dementieren ljmd dafür zu argumentie- ren, um eine Atmosphäre zu schaffen. Newton regte daher an,
ren, daß diese sehr wohl die postulieqe >Abweichung vom Rich- ein Foto jeweils ein wenig außerhalb des Brennpunkts aufzuneh-
tigen< erlaube. Damit aber lief kühstlerisch ambitioniertes men. Große Massen statt kleiner Details wiederzugeben, erklärte
Fotografieren darauf hinaus, den Apparat zu überlisten; erst ein er zur Aufgabe jeder Fotografie mit künstlerischem Anspruch.
kreativer Umgang mit ihm führte zu als originell anerkannten Mochten andere Fotografen ebenso gegen die Schärfe oppo·
Bildern. Unschärfe-Effekte waren dabei besonders beliebt, weil nieren, so bezweifelten sie doch, daß Newton das richtige Mittel
sie unbezweifelbar machten, daß die Fotos nicht >bloß< die reale vorschlug: Ein außerhalb des Brennpunkts fotografiertes Bild
Welt zeigten, während eigenwillige Aufnahmepositionen oder verwischt nicht nur die Umrisse, sondern mindert auch den Kon-
eigens inszenierte Lichteffekte im 19.j ahrhundert noch kaum als trast von Licht und Schatten, was das Foto flach und stumpf er-
ausreichender Beleg eines freien Verfügens über das Medium ge- scheinen läßt. Statt gleichmäßiger Unschärfe wurde also etwa
golten hätten. Dazu kam natürlich, daß unscharfe Bilder wegen empfohlen, lediglich den Hintergrund verschwimmen ~ u lassen,
ihrer Tendenz zur Vereinheitlichung das schon seit der Romantik den Vordergrund oder Hauptgegenstand eines Fotos hingegen
bestehende Verlangen nach einer atmosph ärischen, >musikali- scharf abzubilden.}•
schen<Kunst befriedigten. Allerdings fanden die englischen Plädoyers für Unschärfe auf
Rund zwanzig Jahre nach ihrer Erfindung gab es erste Versu- dem Kontinent noch länger keine rechte Zustimmung. In den
che, die Gleichung )}Fotografie - Schärfe« in Frage zu stellen. So Photographischen Mittheilungen, einer der ersten deutschsprachi-
betonte der Foregraf Alfred H. Wall bei einem 1859 in London gen Fachzeitschriften, wurden r865 sogar Tricks verraten, wie
gehaltenen Vortrag das malerische Potential der Fotografie, für sich das Verschwinden von Details bei Landschaftsfotografien
die das Licht dieselbe Rolle spiele wie der Stift für einen Zeichner. vermeiden lasse. 32 Damit wird der romantischen Sehnsucht nach
Zugleich kritisiert er viele Fotografen, weil sie die malerisch-at- verschwimmenden Weiten, mit denen mancher am liebsten das
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gesamte Gesichtsfeld gefüllt hätte, eine klare Absage erteilt. jenem Beitrag der - darin durchaus repräsentativen - Photogra-
Ähnlich war in der Photographischen Rundschau, einem weiteren - pltischen Rundschau 1893 anerkannt, daß Fotografen w ie Hans
wichtigen - Fachorgan für Fotografen, noch 1888 zu lesen, Watzek, der bald zu den gefeierten Hauptvertretern der Weich-
durchgängige Schärfe sei Bedingung für eine gute Landschafts- zeichnungs-Fotografie gehören sollte, bemerkenswerte Bilder
fotog rafie.J3 Erst fünf Jahre später ist innerhalb einer redaktio- machten; doch ist zugleich die Warnung zu lesen, daß »in unge-
nellen Notiz derselben Zeitschrift erstmals - und in Anfüh- schickten Händen die unscharfe Photographie nur zu formlosen
rungszeichen - von der >unscha rfen Richtung< innerha lb der Klexereien führt, bei denen eine wichtige Eigenschaft der photo-
Potagrafie die Rede, was n icht nur unbeholfen, sondern auch di- g raphischen Reproduction, die präeise Wiedergabe auch des
stanziert kli ngt]• kleinste n Detai ls, au fgeopfert ist, ohne dass dafür andere Vor-
Immerh in waren Fotos mit Weichzeichnungs- und anderen tbeile eingetauscht worden wären«. 36
Unschärfe-Effekten zur selben Zeit in den USA bereits fest eta- Daß Unschärfe-Effekte dennoch innerhalb weniger Jahre zur
bliert, nachdem es in den Jahren zuvor noch heftige Auseinan- Mode wurden und 1896 sogar schon als »heiligstes Evangelium•
dersetzungen und Polemiken gegeben hatte. Dabei spielte Peter - von freilich kurzer Halbwertszeit - beurteilt werden konnten 11,
Henry Emerson eine Hauptrolle, der, selbst Fotograf, seine Ex- ist vor allem zahlreichen Ausstellungen zu verdanken, die Foto-
perimente mit Unschärfen zuerst - 1889 -in de m Buch Naturali- amateure organisierten. 38 Sie mußten sich, anders als Berufsfoto-
stic Photography verteidigt und darin den Weg der Fotografie zur gra fen, nicht um den Geschmack des breiten Publikums und
Kunst erblickt hatte, dann jedoch zwei Jahre später in einem Verkaufsmöglichkeiten bemühen, sondern konnten unbeschwert
Pamphlet - unter dem Titel The Death ofNaturalistic Photography - experimentieren . Damals waren die Amateure alles andere als
alle Thesen widerrief. Nu n war die Fotografie für ihn ein Me- Laien, nämlich oft hochprofessionelle, tec hnisch versierte Ex-
dium, das, egal wie man es handhabt, zu wenig Spielraum für perten, auf die viele Neuerungen sowie entscheidende fotoästhe-
Bilder von künstlerischer Qualität läßt: Die Frage nach Schärfe tische Trends zurückgingen. In allen größeren Städten gab es
oder Unschärfe war ihm gleichgültig geworden, ihre Beantwor- Foto-Cl ubs, in denen man sich zum Erfah ru ngsaustausch traf
tung entsch ied höchstens noch, in welchen Kreisen m an mit ei- oder eben Ausstellungen veranstaltete, wozu oft ebenso Ama-
nem Bild Erfolg haben konnte, hatte aber keine Auswirkungen teure anderer Städte oder Länder eingeladen wurden.
auf die Entfernung der Fotografie von der Kunst. Doch erreichte An den Erfolgen der >unscharfen Richtung< im deutschspra-
Emersans Abrech nung nur wenige, da bereits zu viele davon chigen Raum war zuerst der Wiener Camera Klub maßgeblich
überzeugt waren, daß die Fotografie Kunstwürden erlangen beteiligt; bald wurden Harnburg oder München ebenfalls zu
könne und daß dies besonders gut durch den gezielten Einsatz Zentren der sogenannten >bildmäßigen Fotografie<, die sich bis
von Unschärfen möglich sei. zur Jahrhundertwende - also innerhalb nicht einmal eines Jahr-
ln Europa- zu mal in Deutschland- war man somit konserva- zehnts - allerorten durchsetzte und auch für enge Verbindungen
tiver, wenn die >unscharfe Richtung< noch 1893 als Exotikum be- zwischen Europa und den USA sorgte, wo die •unscharfe Rich-
handelt wurde; obgleich deren Wurzeln in der (deutschen) Ro- tung<etwas ironisch bald als >fuzzyography<bezeichnet wurde
mantik liegen mochten, vermuteten einige eher »Bestrebungen (und sonst unter >pictorialism<lief). 39 Im Unterschied zu Berufs-
des Auslandes« dahinter' und waren allein deshalb mißtrauisch fotografen, die etwa Studios für Porträtfotografie betrieben,
gegen weichgezeichnete Stimmungsbilder. Immerhin wird in gi ng es den >bild mäßigen Fotografen<(>pictorialists<) um Bilder,
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die, statt in ihrem dokumen- oder diffuse Oberflächen hingegen mit unkorrigierten Sammel
tarischen Charakter aufzuge- linsen - sogenannten Monokel - oder Lochkameras erzeugt, die
hen, als stimmungsvoll und entweder eine relativ große oder eine extrem kleine Blende besa-
malerisch, kurzum als künstle- ßen.•• Ferner war es möglich, zwischen Kamera und fotografier-
risch wertvoll empfunden wer- tem Objekt einen mit Tüll bespannten Holzrahmen zu plazieren
den sollten. Und da sich mit oder das Objektiv mit einem Netz, einem Beugungsgitter oder ei-
kaum etwas so viel ~ und so nem Damenstrumpf zu verhängen; je nach Maschendichte, Dicke
leicht ~ Atmosphäre schaffen und Material der Netzfaden, aber auch abhängig vom Webmuster
ließ wie mit Weichzeichnung, entstanden unterschiedliche Varianten von Unschärfe.
wurde >bildmäßige Fotografie< Diese zahlreichen Verfahren trugen dazu bei, daß die Foto-
beinahe zu einem Synonym für grafie nicht länger einseitig als Medium für exzellent scharfe Bil-
die >unscharfe Richtung<. der definiert werden konnte. Vielmehr galt es bald als typisch
Grundsätzlich konnten Un- nur noch für den - naiven- Anfänger, zu glauben, allein ein
schärfe-Effekte beim Aufnah- scharfes FotO sei ein gutes Foto. Alfred Lichtwark, langjähriger
meprozeß, beim Entwickeln Leiter der I Iamburger Kunsthalle und einer der ersten Förderer
des Negativs oder während des der >u nscharfen Richtung<, beschrieb 1893 in einem Vortrag, wie
Clarence Whitc: B,llrnncc to th c Garden (1908) Ersteliens von Abzügen erzielt sich die ästhetischen Vorlieben eines Amateurs mit zunehmen-
werden. Die beiden letzten Mög- der flotopraxis verändern: Anstatt danach zu streben, >>eine mög-
lichkeiten waren umstritten, da sie sich der Retusche an nähern lichst scharfe, gleichmässige Aufnahme zu erzeugen[ ...J, so dass
und daher aus >rei nen<Fotografien graphische Bildformen ma- man jedes Laub am Baum undjeden Stein auf dem Wege nach-
chen. Allerdings wurde die Grenze zur Retusche in der Frühzeit zäh len kann«, suche der etwas erfahrenere Fotografnach einem
der >bildmäßigen Fotografie< meist ohne Bedenken überschrit- •einfachen Motiv«, das »als Einheit empfunden wird«, und »nach
ten. Sonst begnügte man sich damit, zwischen das (scharfe) Ne- technischen Methoden, der durchgehenden Glattheit, Gleich-
gativ und das Kopierpapier eine Gelatinefolie zu legen oder von mässigkeit und Schärfe zu begegnen«. Die »verschwimmende
vornherein grobkörniges Papier zu wählen, was dem Foto den f.erne• erwähnt Lichtwark eigens als fotografisches Sujet und be-
Charakter einer Kohlezeichnung verlieh. Zur Jahrhundertwende merkt. daß der Lernprozeß eines Fotografen dem entspreche,
erfreute sich auch der bereits 1855 von Alpbonse-Louis Poitevin ..den die Landschafteeei in der Kunst gegangen ist. Auch hier hat
entwickelte, zuerst kaum beachtete Gummidruck großer Be- s1e bei der unendlichen Liebe zum exakten, nachrechenbaren
liebtheit - so etwa bei Clarence White ~und galt vielen als »aus- Detail begonnen, bei der Freude am Erzählen,(...) und ist all-
gezeichnete Waffe gegen die gegenständliche Treue des photo- mählich zum Gefühl für Raum und Verhältnisse, zum Studium
graphischen Verfahrens«. 40 Da die dabei auf das Kopierpapier der Farbe, des Lichts und der Luft vorgedrungen«. Dabei legt
aufgetragene Schicht Gummiarabicum sowohl durch Belichtung Lichtwark Wert darauf, daß die Fotografen den Weg der Maler
als auch durch Abwaschen mit einem Pinsel zu lösen ist, ließen nicht nur nachgegangen seien, sondern ihn selbständig gefunden
sich fotografische mit graphischen Techniken kombinieren." hätten, weshalb ihre Bilder grundsätzlich eine genauso hohe
Während des Aufnahmeprozesses wurden Weichzeichnungen künstlerische Qualität besäßen.•3
32 33
lnfolge solcher Fü rsprachen von Persönlichkeiten wie Licht- regieimmer mit dem forografierten Gegenstand teilen - und sei
wark entsrand zur jahrhundertwende unter vielen Fotografen oft genug derjenige, der dabei weniger zu sagen habe. Alle Ver-
geradezu eine Euphorie, da sie sich endlich anerkannt fühlten suche, Selbständigkeit zu beweisen, führten nur zu »Wirrwarr«,
und hoffen konnten, die Tore zu den heiligen Hallen der Kunst Fälschungen und Zerstörungen, was Khnopff zu dem Resümee
stünden ihnen nun offen. jeder neue Effekt, den sie dem Fotoap- verleitet, der Fotograf sei ltSklave seines Modells und befindet
parat mit tech nischer Raffinesse entlockten, wurde entspre- sich in der Lage jenes Soldaten, der seinem Hauptmann zurief,
chend als Fortschritt auf dem Weg zu fotografischer Freiheit und dass er einen Gefangenen gemacht habe. Bring ihn her ! schrie
damit als künstlerischer Meilenstein gefeiert. In der Rezension der Hauptmann. Kann ich nicht! antwortete der Soldat, der Kerl
zu einer Fotoausstellung hieß es etwa, es sei, )tals ob der Apparat lässt mich nicht von der Stelle!«"
eine Seele bekommen hätte. Er nimmt die Gegenstände n icht Solche Polemiken bestimmten weiterhin die Auseinanderset-
mehr wie früher mechanisch auf, sondern sieht sie durch ein zu ng um den Kunstcharakter der Fotografie und führten oft zu
Temperament. Er kann blinzeln und fixieren, kann über Kleinig- Simplifikationen. Lediglich feinsinnigere Kommentatoren wie
keiten wegsehen und bei Bedeutendem verweilen, kann auch Lichtwark gingen beispielsweise nicht so weit, auf einmal Un-
verzeichnen und schrullenhaft sein, mit einem Wort: er hat eine schärfe - statt Schärfe- zum Spezifikum der Fotografie zu er-
Seele bekommen«."' klären oder die Ansicht zu verbreiten, nur unscharfe Bilder
In manchen Ausstellungen demonstrierten Fotografe n den könnte n künstlerisch sein. Aufjeden Fall wurde >Unschärfe< im
von ihnen eroberten Spielraum voller Stolz sogar damit, daß sie Ietztenjahrzehnt des 19.jahrhunderts zu einer zentra len Katego-
unter ihre >eigentlichen< Fotos und Gummidrucke noch eine Fo- rie der Beurteilung fotografischer Bilder, und das Gegensatzpaar
tografie desselben Sujets hängten, die dieses in seiner >objekti- >scharf< und >unscharf< findet sich seither weitaus häufiger in die-
ven<Erscheinung zeigen sollte. Mit einer solchen Vorher-Nach- sem Zusammenhang als zur Beschreibung von Phänomenen des
her-Konstellation bestätigten die Kunstfotografen freilich die Sehsi nns oder zur Qualifizierung des Erinnerungsvermögens.•6
Vorbehalte ihrer Gegner, gaben sie doch ihrerseits zu, daß Foto- Zwar hatte es in der Kunstgeschichte auch zuvor immer wie-
grafie ursprünglich ein bloß mechanisch abbildendes Medium der Auseinandersetzungen über den Status von Kontur und Li-
sei und nur durch Tricks dazu gebracht werden könne, anderes nie gegeben, doch waren dabei andere Leitbcgriffe maßgeblich.
zu bieten als pure Mimesis. Nicht nur zeugte diese Praxis von ei- •Scharf<und >unscha rf<sind sogar so sehr Termini des Fotografi-
ner gewissen Naivität hinsichtlich des Dualismus von >objekti- schen , daß es bis beute schwerfallt, sie auf andere Bilder anzu-
ven<und >künstlerischen<Bildern. sondern die Fotografen muß- wenden . Leonardos Sfumato, das Inkarnat des späten Tizian,
ten sich damit auch um so meh r daranmessen lassen, ob sie zu Rembrandes Interieurs oder die Seestücke Thrners einfach mit
gleichermaßen großen Abweichungen vom >normalen<Sehbild de m Attribut der Unschärfe zu belegen, erscheint als zweifel-
in der Lage wären wie die Maler oder Graphiker. Gerade dies hafte Übertragung eines moderneren Terminus auf- jeweils zu-
aber gelang ihnen - außer mit stark retuschierenden Verfahren - dem unterschiedliche - Phänomene der vorangehenden Bildge-
nicht, was sie erneut in die Defensive brachte. So höhnte der bei- schichte. Damit charakterisiert >Unschärfe<auch lediglich einen
gisehe Maler Fernand Khnopff, dem Forografen sei sein Sujet Typus innerhalb einer ganzen Gattung von Bildern, auf denen
•ein mitwirkender Preund« und kein Diener: Anstatt selbst allei- einzelne Gegenstände nicht durch klare Konturen voneinander
niger Herr über seine Bilder zu sein, müsse der Fotograf die Bild- abgetrennt sind und bei denen der Gesamteindruck wichtiger ist
'
I
34 35
als die Wiedergabe von Details. Während in der Malerei meist netcn oder überbelichteten Fotografien zu sehen. Oft liegen ih·
der Malprozeß oder d ie materielle Dimen sion der Farbe in den nen ähnliche Bildintentionen zugrunde, oder sie entfa lten gar
Vo rde rg rund tritt, we nn die Kont uren vernachlässigt werden , dieselbe Bildrhetorik; daher ist es auch möglich , den Beginn der
wi rd die Bi ldobe rfläche bei der Fotografie - sowie bei anderen Geschichte der Unschärfe vor dem Zeitalter der Fotografie anzu-
>unscharfen< Bildern - durch die Preisgabe der Details nicht grö- setzen, wenngleich es nicht sinnvoll erscheint, hi nter das 19.jahr-
ber oder präsenter, sondern bleibt glatt und unauffallig. hundert zurückz ugehen , da man es sonst m it anderen ideenge-
Auch Hein rich Wölfflin sprach in sei nen für Generationen schichtlichen Zu sammen hängen zu tun bekommt, in denen
von Studenten verbindlichen Ku nstgeschichtlichen Grundbegriffen , noch kein Platz für Unscharfes war.
erstmals r9r5 publiziert, nicht von >Schä rfe< oder >Unschärfe<, u m Tatsäeblich näm lich wären solche Unschärfe-Effekte wie auf
das Verhältnis der einzelnen Ku nststile zur Linie zu beschreiben. Fotografien in der Malerei bereits seit Jahrhunderten möglich ge·
Zwar sieht er gerade diese Frage als zentral für die gesam te Em- wesen . Immerhin arbeiteten zahlreiche Maler spätestens ab der
wicklung der abendländischen Kunst an, doch benennt er den Renaissance mit optischen Hilfsmitteln wie konvexen Spiegeln
seiner Meinung nach wicht igsten Dualismus der Stilgesch ichte oder einer Camera obscura und hatten dabei- wie David Hock·
lieber mit Gegensatzpaa ren wie »linear« und »malerisch«, »Viel- ney eindrucksvoll zeigte 49 - oftmals m it dem Phänomen zu t un,
heit« und »Einheit« oder »Klarheit« und »Unklarheit«. Dabei sucht daß das auf die Malfläche projizierte Bild nur geringe Tiefen-
er zu zeigen , dafS auf eine Epoche, in der das Lineare und Klare schärfe au fwies und nachjustiert werden mußte. Doch inter:pre·
Priorität genießt, jeweils eine Stilrichtung folgt, die genau diese tierte jeder dieser Maler Unschärfe als Manko und strebte nac h
ästhetischen Werte negiert. Renaissance und Barock sind fürihn durchgängiger Bildschärfe : Weder Vermeer noch Caravaggio
Prototypen dieses Dualismus, und wenn er im Klassizismus den oder Velazquez gingen so w eit, die ihnen durchaus bekann te
Beginn eines neuen Zyklus sieht, setzt ab dem Impression ismus Weichzeichnung zu erproben und das ästhetische Potential aus-
- und ebenso m it der >unscharfen Richtung< - folgerichtig w ieder zuschöpfen, das in verschwommenen Linien oder miteinander
eine Phase malerischer und >unklaren Bilder ein. Typisch für ei- ve rschmelzenden Bildgründen liegt und das dann ab de m
nen Stil, bei dem Linie und Form Licht und Schatten sowie Farb- 19.ja hrhundert so eifrig genutzt werden sollte.
modu lationen untergeordnet werden, sei ei ne Bildwirku ng, »a ls Somit sind die techn ischen Voraussetzu ngen einer Ästhetik
ob alles aus einem Stoff wä re«. Entsprechend sehe m an dan n kein hinreichender Grund für deren Erfolg. Die Fotografie er·
»Statt einer Anzahl von isolierten Körpern(...] unbestimmte hel- laubte es jedoch, relativ einfach Unschärfen zu produzieren - so
lere und dunklere Massen , die zu einer gemeinsamen Tonbewe- wie sie es andererseits genauso möglich machte, mit sehr viel we-
gung zusammenfließen«- dies eine Charakteristik, d ie einmal niger Zeitaufwand als die Malerei detailreiche Bilder hervorzu·
mehr an das Bedürfnis nach Gr undakkord und Stim mu ng er- bringen. Daß sich die Produ ktionsdauer fü r Bilder mit der Foto·
innert.•' gra fie ve rkürzte, mag de n Trend zum Unscharfen freilich
Obgleich Wölfflin nie ausdrücklich auf die Fotografie zu spre- begünstigt haben: Wer ein Bild relativ rasch anzufertigen ver-
chen kom mt u nd sie lediglich als Reproduktionsm edium be- mag, wird es einerseits von Details, Aussagen und erzählerischer
greift•8, eignen sich seine Grundbegriffe als Rüstzeug, um Ge- Dichte entlasten, kann andererseits aber besser als bisher eine
meinsam keiten z wischen verwischten, lasierend gemalten oder momentane und ku rzzeitige Stimmung - sei es eine äußere At·
pastellig-zarren Bi ldern sowie verschwommenen, weichgezeich ~ rnosphäre oder eine innere Befindlichkeit - zum T hema m achen.
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Indem es mit der Fotografie - und der Beschleunigung der
Bildgenese-im I9.Jahrhundert zugleich zu einer Multiplikation
an Bildern kam, wurde auch für d ie Rezipienten das einzelne
Bild weniger kostbar und daher von Ansprüchen befreit: Auf ein·
mal genügte es, wenn ein Bild nur eine Stimmung vermittelte -
und keinen Mythos mehr schilderte, nicht länger Allegorie auf AURA, MEDIEN, OKKULTISMUS
hehre Werte war und nicht mehr über Geschichte oder fremde
Länder informierte. Hätten die Maler früherer Jahrhunderte »Ich erbat mir einen seiner weichen Stifte, dazu das mit einer
noch befürchten müssen, mit unscharfen Bildern ihre Reputa· vom vielen Gebrauch schon ganz geschwärzten Filzkappe verse-
tion als Erzähler, als Schöpfer einer zweiten Welt aufs Spiel zu hene Stäbchen, womit er seinen Produkten die Weihe der Unklar·
setzen, konnten es sich die Bilderproduzenten des I9.Jahrhun- heit gab, und zeichnete, nachdem ich flüchtig in die Luft geblickt,
derts leisten, das Wissen, das Bilder bis dahin zu vermitteln hat· stümperhaft genug, eine Dorfkirche mit vom Sturme gebeugten
ten, auszuwischen. Bäumen daneben, indem ich aber schon während der Arbeit die
Um sich zu etablieren, benötigte die Ästhetik der Unschärfe Kinderei mit dem Filzwisch in lauter Genialität hüllte.« Ein gutes
also zusätzliche mentalitätsgeschichtliche Bedingungen: Ohne halbes Jahrhundert nachdem Effekte der Unschärfe beliebt ge·
einen gewandelten Begriff von Kunst und ohne Interpretation worden waren, decouvrierte sie Thomas Mann 1954 mit diesen
der Bilder in Kategorien des Musikalischen wäre die Unschärfe Worten als bloße Masche - und billigste Art von Magie. Er läßt
nie zu einem wichtigen bildnerischen Mittel aufgestiegen - die seinen Felix Krull jene »Weihe der Unklarheit« verspotten, als
Fotografie hätte keine >unscharfe Richtung<erlebt, sondern sich dieser davon berichtet, wie er sich darauf vorbereitete, einen jun-
stolz ihrer Schärfe und ihres Erzähldrangs gebrüstet; wäre sie in gen Marquis zu cloubleu und an dessen Stelle aufWeitreise zu ge-
einem früheren, weltverliebteren Jahrhundert entdeckt worden, hen. Schien die Neigung des Marquis zum Malen und Zeichnen
hätte sie vielleicht sogar alle anderen Bildtypen und insbeson- zuerst ein Problem zu sein, da sich künstlerische Begabung ei-
dere die Malerei vollständig verdrängt. gentlich nicht mimen läßt, stellt Krull bald fest, daß er die ihm
zukommende Aufgabe meistern könne: Immerhin sieht ein Bild
schon nach etwas Kunst aus, wenn man nur eine einzige Technik
beherrscht, mit der auch der Marquis seine Zeichnungen bestritt,
nämlich »einfach dadurch, daß alle Linien, kaum gezogen, mit
einem Wisch-Utensil so gut wie aufgehoben und ineinander ge-
nebelt waren«. Das Ergebnis war in jedem Fall >>etwas unkontrol-
lierbar Schattenhaftes und gegenständlich kaum Erkennbares«.5°
Da Krull den Malstil des Marquis so perfekt nachzuahmen
versteht, erscheint dieser freilich ebenfalls als bloßer Nachahmer
- oder seinerseits als Hochstapler - . der nicht mehr als ein biß·
chen Kunst-Rhetorik beherrscht. Was auf den ersten Blick genial
I aussehen mag, ist lediglich das Repertoire, das Zeichenschulen
/ 39
jedem vermitteln, der nach Anerkennung künstlerischer Bega- ums Dasein zurück« und verhindere
bung heischt. Tatsächlich galten seit der Jahrhundertwende Ef- jede höhere Regung. Daher sei es
fekte des Verwischens und der Unschärfe geradezu als Äqui- wichtig, daß »das moderne Stim-
valent für Kunst - und damit als probates, wohlfeiles Mittel, mungsbedürfnis« durch eine »von
Eindruck zu schinden: Kohlezeichnungen mit flüchtige n Kontu- Haus aus fernsichtige Malerei gestillt
ren ließen sich als spontane, eruptive Geniestreiche würdigen , in und befriedigt« werde. Wie Adam
Düsternis und Sfumato verschwindende Bildsujets besaßen, Mü Ii er forderte Riegl Bilder, die
wenn sich schon sonst nicht mehr viel erkennen ließ, zurilindest nichts mehr plastisch erscheinen las-
eine besondere Aura. sen und keine haptischen Bedürf-
Weit über die Fotografie hinaus war das Klare und Helle, die nisse wecken, sondern die dem
nüchterne und detaillierte Schilderung nun verpönt, und·die ro- Betrachter reine Kontemplation er-
mantischen Kategorien durften, wenngleich oft karikaturhaft lauben.53 Noch vehementer als eine
übertrieben, als etabliert gelten. Dabei waren die ästhetischen um die Stofflichkeit der Dinge be-
Normen noch immer stark von Landschaftserfahrungen ge- mühte Malerei lehnte Riegl die Bild-
prägt, wurden doch Phänomene wie Nebel, Mondlicht oder hauerei ab, die für ihn ohnehin nur
Dämmerung in poetischen wie kunsttheoretischen Texten be- noch mit der »Beharrungstendenz
schworen und noch öfter zu Bildsujets erkoren. 1 ' Was sich bei einer Kulturüberlieferung und deko- Medardo Rosso: AetasAurea.(t 886)
diesen an Weichzeichnung oder Wischtechniken üben ließ, rati ven Bedürfnissen<< zu erklären
wandte man dann zunehmend auch auf andere Sujets - etwa sei, aber kaum mehr den Rang einer Kunst besäße, da sie fast
Porträts oder Interieurs- an. 52 So dehnte sich das Terrain der nicht in der Lage sei, Stimmungen zu erzeugen. 54
Unschärfe aus; anders als noch in der romantischen Landschafts- Selbst etliche Bildhauer hätten Riegl nicht widersprochen -
malerei wurde sie nicht mehr nur da gesucht (und gegebenen- und forderten ausdrücklich, Skulpturen als rein visuelles und at-
falls verstärkt), wo sie dem abgebildeten Objekt zu eigen ist, son- mosphärisches Ereignis zu begreifen, nicht aber als taktiles oder
dern emanzipierte sich zu ei nem Mittel der Bildsprache, das räumliches Phänomen. Am weitesten ging dabei wohl Medardo
unabhängig vom Sujet Verwendung fand. Weiterhin mochten Rosso, dem es erstaunlicherweise gelang, >unscharfe< Gebilde,
zwar Bildthemen bevorzugt werden, die gleichsam natürliche meist aus Wachs, zu formen. Entsprechend leugnete er die Exi-
Unschärfen besaßen, doch genügte dies nicht mehr, um die Be- stenz von festen Formen oder Abgrenzungen zwischen einzel-
dürfnisse nach Stimmung, Anspruchslosigkeit und Detailferne nen Dingen; vielmehr beharrte er auf der Einheit des Raums als
zu befriedigen. Stimmungsraum oder auch als Musik (>>tout est unite«; »tautest
Selbst ein vergleichsweise positivistischer Kunsthistoriker air<<; >>tout est musique«ss). Für ihn war die Materie sogar nur eine
wie Alois Riegl bestimmte als »Inhalt der modernen Kunst« eine Einbildung (»La matit~re n'existe pas«56), die sich verflüchtigte,
harmonische, beseligende, alles Alltägliche transzendierende sobald das Licht stärker würde: »Wäre das Licht viermal so stark,
Stimmung, die, wie er meinte, allein aus >>Ruhe und Fernsicht« wäre alles erledigt, abgesehen von ein oder zwei Sonderformen.
entstehen könne. Was sich bewege oder auch nur in >>Nahsicht« Was dann Bestand hat, der Gedanke, der dann überlebt, das ist es,
präsent sei, »schleudert« den Betrachter h ingegen >>in den Kampf was man als Bildhauer angehen muß«.57
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tauchten am Ende des 19.Jahrhunderrs aber auch Maler auf, deren oder Cezannes. War deren Bild-
Bilder durchaus als >unscharf< bezeichnet werden können, ver- sprache schroff und verlieh dem
schwinden doch die klargezeichneten Umrisse und stofflichen Jeweiligen Motiv aggressive
Profile der Sujets, ohne daß deshalb Farbe oder Faktur an Eigen- Präsenz, so daß sich der Be-
wert gewinnen. Künstler wieJames Whistler, Matthijs Maris oder lrachter überfallen oder ausge-
Eugene Carriere, aber ebenso Vertreter des Symbolismus sind hier stoßen fühlen konnte, ver-
zu erwähnen. Vereinzelt mögen sie sogar von der >unscharfen bergen Carrieres Gemälde die
Richtung<der Fotografie inspiriert (oder zumindest bestätigt) Bildgege n stände eher. Sie
worden sein, und auch bei ihnen fungierte Landschaftswahrneh- schmiegen sich der Fantasie des
mung als Paradigma für Wahrnehmung insgesamt, wobei sie in Rezipienten an und erscheinen
ihren Bildern den Fernblick gleichsam generalisierten. damit nie fremd oder gar heftig,
Carriere schwärmt in Briefen von der Harmonie bei Wande- bieten vielmehr ebenfalls eher
rungen in hügeliger Natur: Der Fernblick offenbare die Land- Projektionen psychischer Zu-
schaft als >>unseren Spiegel<<(>>nous presente notre miroir«)>6, wor- stände als eine eigenständige
aus er ableitet, man dürfe den Dingen generell nicht zu nahe ~i ul~ere Welt. Je länger und mit
treten. Natur, Menschen und auch Gemälde verlangen, aus der tc mehr Geduld und Hingabe
Ferne betrachtet ZU werden (>>demandent a etre vus de loin<<); als der Betrachter das Sujet zu ver- Eugene Carrierc: La Nantre (1907)
er selbst einmal den Abstand habe verkürzen wollen, sei ihm kein gegenwärtigen sucht, desto
Glück beschieden gewesen - daher verzichte er nun lieber auf eher kann er vermutlich auch die Erfahrung machen, auf eine
Vordergründe. s9 Auf seinen um die Jahrhundertwende entstande- Art von - erotischem - Vexierbild zu blicken, das immer wieder
nen Bildern - oft Darstellungen von Frauen als Mutter - ver- leicht anderes zu enthüllen scheint.
schwinden die Sujets entsprechend in imaginierter Ferne und dif- Doch eignet sich ein solcher Malstil auch dazu, die Frau als
fusem Licht, bis sie fast unkenntlich werden. Carriere hielt die das Mysterium zu inszenieren, als das man sie im schwülen Fin
Konturen, die dem Augenschein nach die Gegenstände voneinan- dc Sieeie oft empfand. Mit einem raumlos-dunklen Hintergrund
der abgrenzen, in Wirklichkeit ohnehin nicht für existent. 60 Da- verschmolzen, wurde sie zum geheimnisvoll immateriellen We-
für seien die fein nuancierten Farbvaleurs von größter Bedeutung. sen. So als sei sie zwischen der diesseitigen und einer anderen-
Wie aber mochte ein Bild wie Femme aux seins nus. La Nature ungreifbaren- \Velt angesiedelt, konnte sie ebenso verlocken
(1896) auf zeitgenössische Betrachter gewirkt haben, die noch wie beunruhigen oder gar bedrohen, sich als gute Fee wie als
keine Seherfahrung mit abstrakter Kunst hatten? Tatsächlich Femme fatale zeigen. Oft wurde sie in Kreisen des Symbolismus
war Carriere zu Lebzeiten ein populärer Maler, und eben dieses als Medium begriffen und damit ganz wörtlich als etwas, das
Bild stand sogar im Zentrum einer Gedächtnisausstellung, die zwischen zwei an sich getrennten Spären vermittelt. Erblickte
nach seinem Tod 1906 im Pariser Salon de Ia Societe Nationale der englische Kunstt heoretiker Walter Pater bereits in den sfu-
des Beaux-Arts veranstaltet wurde. Mit seinen Reduktionen von maro-weichen Frauen Leonardos >>reinste Medien, durch die wir
Gegenständlichkeit hatte das Kunstpublikum also offenbar viel die verborgenen Kräfte der Natur in uns selber spüren können«
weniger Schwierigkeiten als mit den Abstraktionen Van Goghs und >>bei denen die körperlichen Dinge in so feine Schwingungen
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geraten, daß sie geistig werden((.. , Entzücken und abgründigem
so sind die Frauen Carrieres oder Trieb angesiedelt und damit zur
auch die anämischen , mond- Einheit des Gegensätzlichen sti·
süchtigen Mädchen Rossettis erst li siert, tauchten Frauen kaum
rechtsolche Zwischenwesen. noch in klar umrissener Gestalt,
Momente der Metamorphose ~o ndern nebulös und andeu·
und des Übergangs- passend zur tungsweise - in Spielarten der
Dämmerung als dem Übergang Unschärfe - auf. Das galt na·
zwischen Tag und Nacht - waren t ürlieh ebenso innerhalb der
folglich beliebte Themen: Sphin- Fotografie, für die zudem die
gen und Meerjungfrauen· als rät- llöflichkeitsregel existierte, die
selhafte Figuren zwischen Tier Da menwelt vor einer zu ge-
und Mensch, zwischen Mythos na uen Wiedergabe von Falten,
und Wirklichkeit, beschäftigten Pickeln oder Sommersprossen
die Maler, und ebenso gerne zu bewahren. Man konnte sich
wurde ein friedvoll-entrücktes hierbei auf Vorschriften beru-
Sterben oder eine Geburt gezeigt fe n . die bereits am Ende des GeorgeScclcy: Spri11g (r9ro)
- allerdings weniger die eines r8.Jahrhunderts, nach dem Hö-
Kinds als die der Frau selbst, die hepunkt des Klassizismus, entstanden und die sich 1793 im ersten
man dabei zum Symbol für die deutschsprachigen Kunstlexikon unter dem Stichwort >>Contour;
fruchtbare Natur im ganzen er- Contournieren(( folgenderma[~en lesen: »Der fließende Contour
höhte. She sltall be called Woman ... 1 kommt [ ...J gewissen Stellungen einer zarten und weich·
(1892) heißt ein Gemälde von Iic hen Natur, wie der Jugend und des zweiten Geschlechtes zu((. 6 z
George Frederic Watts, das Eva Ra tgeber für Fotoamateure formulierten dann noch bis in die
im Augenblick ihrer Erschaffung Mitte des 2o.jahrhunderts hinein regelmäßig entsprechende
aus einem Gemisch von Blumen, Tips, >>das Gesicht einer schönen Frau[ ...) nicht mit dem Mikro-
Vögeln, Wasser und Wolken em· skop(( zu betrachten: »Dort braucht man Weichzeichnung((. 63
George Frederic Watts: porsteigen läßt. Ihren Kopf wen· Doch dezente Zurückhaltung genügte den nach künstleri·
Slte sltall be called Woma11 (r892) det sie den Strahlen der Sonne zu, \C hem Ausdruck strebenden Fotografen der Jahrhundertwende
ist aber noch nicht wirklich da, nicht; sie versuchten vielmehr, die Leistungen symbolistischer
nicht ganz Gestalt geworden, sondern dem Urgrund und chtho- Maler noch zu überbieten. So winden sich aufihren Fotos Frauen
nischen Energien verhaftet, Teil der Natur, die sie dann zu reprä- nicht nur lasziv oder sind in aller Unschuld mit sich selbst be-
sentieren hat. schäftigt, sondern verschwimmen- verschwinden geradezu- in
Zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen apollinischer di ffusem oder fahlem Licht. Es bleibt kaum mehr als eine An-
Verklärung und dionysischem Walten, zwischen erotischem mutung, kein Körper und nicht einmal ein wirkliches Bild, son-
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dern allein eine gleichsam immaterielle Erscheinung, die die Röntgen-Strah len blühten Spe-
Frau einma l mehr zu einem Medium - einem Wesen zwischen kulationen über weitere Strah-
dem Diesseits und imaginären anderen Welten- verwandelt. So ll-n und Energiefelder, und es
enigmatisch-entrückt, wie sie auf Fotografien von George Seeley, wurde eifrig darüber disku-
Clarence White oder Gertrude Käsebier zu sehen sind, wirken IICrt, ob nicht jeder Mensch
die Frauen jedenfalls, als sei es nur den besonderen Fähigkeiten \On einem Astralleib umgeben
der Fotografie zu verdanken, daß überhaupt etwas- sonst ei- \Cl sowie Odstrahlen, magneti-
gentlich Unsichtbares - auf die Fotoplatte zu zaubern wa r. 'che Schwingungen oder an-
Ohnehin gefiel es dem Symbolismus, mit Ästhetiken des Ent- dere unsichtbare Energien aus-
zugs - mit Unschärfe- oder Claire-obscure-Effekten - eine ge- 'ende, also weit mehr sei als
heimnisvoll aufgeladene Stimmung zu erzeugen, die zugleich bloß ei n materieller Körper.
viel mehr suggerierte, als es klar entschlüsselbare Allegorien je /.a hlreiche Künstler - etwa
gekonnt hätten. Diese wurden auch oft als zu platt empfunden, Fgon Schiele oder Oskar Ko-
während eine im Allgemeineren verbleibende, bedeutungs- koschka malten ausdrücklich
schwere Atmosphäre als Inbegriffvon Kunst galt: Dem Betrach- n 1cht nur die sichtbare, son- Edvard Munch: 30b Pilestret1ct (u m 1901.)
ter wurde das Gefü hl vermittelt, Einblick in die ihm sonst ver- dern auch die von ihnen exklu-
schlossene - eben unsichtbare - >wahre<Weltjenseits der banalen , ;v geschaute Welt immaterieller Phänomcne 64 ; andere, wie bei-
und alltäglichen Oberfläche der Dinge nehmen zu dürfen. Daß ~pie l sweise Edvard Munch, bedienten sich zudem der Fotografie,
auf den Bildern nur mit Mühe etwas weil sie der Auffassung waren, damit eher - und glaubwürdiger
zu erken nen war, mochte als Beleg da- festha lten zu können, was sich auf anderen Ebenen und mit »an-
für gelten, wie schwer es selbst noch ders beschaffeneo Augen« wahrnehmen ließe.M
Künstlern fiel, in jenen Bezirk der Sowieso traute man neben den Künstlern gerade der Foto-
Wahrheit - ei nen dem Rationalen grafie zu, solche Phänomene sichtbar zu machen, was zeigt, daß
nicht zugänglichen Kontinent- vorzu- d1t' c ntstehung des fotografischen Bilds immer noch als Wunder
stoßen. als Magie - empfunden wurde. Nur wenige hatten daher auch
Hier verbanden sich nicht selten t·rnsthafte Zweifel an (weit verbreiteten) Geisterfotografien, mit
Symbolismus und Okkultismus, konn- dc:nen bevorzugt spiritistische Sitzungen dokumentiert werden
ten sich Künstler doch als Seher - ih- 'ollten . Wiederum waren es meist Frauen, die dabei als Medien
rerseits als Medien - in Szene setzen, zu fu ngieren hatten und die die Botschaften Verstorbener oder
wenn sie es schafften , mit ihren Bil- .mdere Nachrichten aus jenseitigen Welten transportierten oder
dern eine Ahnung von den zahlrei- denen Geister erschienen, die sonst niemand sah und die höch-
chen immateriellen Dimensionen zu Mens - und vermeintlich - der FotOapparat zu fixieren vermochte.
William Hope: LadyG/enconncr, vermitteln, die gerade zur jahrhun- Finheitliches Erkennungszeichen aller immateriellen Erschei-
with ar1 Extra ident ifred as thtu of dertwende allenthalben vermutet nungen war aber die Unschärfe, die oft durch Doppel- oder
Licutenant McKenzie (191.ocr Jahre) wurden. Zumal nach Entdeckung der Überbelichtungen entstand. Gerade solche typischen, zum Teil
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damals tatsächlich unerklärlichen fotografischen Effekte wur- können. Was sich bis dahin noch als nationalmetaphysische Äu-
den nun zur Inszenierung medialer Sensationen benutzt. nerung in der Tradition von Fichtes Reden an die deutsche Nation
Die Vorliebe ftir im Dunkel verschwindende oder vom Licht ( 1807/08 ) ausnehmen mochte, wurde durch Langbehns eigen-
überstrahlte Konturen, für Valeurs und Massen statt Formen willige Argumentationjedoch zur Legitimation puren Imperia-
und Linien bewirkteamEnde des Ig.jahrhunderts auch eine Re- lismus: Wer zu originell ist, um sich an strenge Formen - starre
vision der Ku nstgeschichte sowie manchen Heldenwec hseL Schemata - zu halten, könne auch nicht in territoriale Grenzen
Nicht mehr der kla re Raffael oder der genaue Dürer führten d ie gcpreßt werden; vielmehr habe, wie gerade das Beispiel des in
Rangliste der meistverehrten Künstler an, sondern Rembrandt de n Niederlanden tätigen Rembrandt zeige, »der deutsche Volks-
stand nu n an der Spitze. Dessen dram atische Licht- und Dunkel- geist (.. .) den deutschen Volkskörper« immer wieder •aus den
Malerei, die über Grenzsetzungen zwischen Gegenständen hin- Fugen getrieben«.67
wegging, galt noch mehr als die massierende Malweise von Einen anderen Zusammenhang zwischen Individualität und
Velazquez, dessen manchmal beinahe fotografisch -weichge- Oekonturierung legte Georg Simmel in seinem Rembrandt-Buch
zeichneten Bilder ebenfalls aufgewertet wurden. Gleichgültig frei: Solange man Dinge scharfvoneinander ?bgrenze, behandle
welche Intention mit Rembrandts Bildern ursprünglich verbun- man alles gleichmäßig, unterscheide nicht zwischen Wichtigem
den gewesen sein mochte, galten sie jetzt als bedeutungsschwan- und Unwichtigem und versäume es, das jeweils Eigentümliche
ger-tiefe Szenerien von einzigartiger Ereignisdichte. Selbst der herausz ua rbeiten. Nicht durch Konturen und die durch sie um-
sachliche Hei nrich Wölfflin wurde pathetisch, wenn es um rissenen Details- in der »scharf abschneidenden Isolierung« -
Rembrandt ging, den seiner Meinung nach malerischsten aller komme das Wesen einer Sache zum Audruck, sondern in der Un-
Maler. Da bei ihm »die Linie a ls Grenzsetzung entwertet« sei, terordnung der Formen unter einen Malstil, der - etwa durch die
scheine es, »a ls ob es plötzlich in allen Winkeln lebendig würde Modulation von Hell und Dunkel - zu werten und zu profilieren
von einer geheimnisvollen Bewegung. [ ...) Ob die Bewegung vermöge. 68 Hier ist Rembrandt also Kronzeuge der Skepsis ge-
flackernd und heftig sei oder nur ein leises Zittern und Flim- genüber Details, die einmal mehr verdächtigt werden, lediglich
mern: sie bleibt für die Anschauung ein Unerschöpfliches«.•• die Oberfläche der Dinge zu definieren, ihren >wahren< Charak-
Rembrandt wurde nicht nur dem Symbolismus zum Ahn- ter aber zu verdecken.
herrn, sondern seine Bilder stim ulierten auch die Fantasie ande- Es war eine Sehnsucht nach dem Unbegrenzten und die Faszi-
rer Sinnsuchender, wodurch die Beliebtheit einer aufklare Kon- nation, Bedeutungen zu folgen, die in geheimnisvoll-entzogene
tu ren weitgehend verzichtenden Bildsprache nochmals in Tiefen füh ren, was Symbolisten und Okkultisten , Rembrandt-
anderem Licht erschien. So deutete der )Rembrandt-Deutsche< jü nger und Fotografen der )unscharfen Richtung<zur Zeit der
julius Langbehn Rembrandts Mißachtung fester Umrisse als Be- Ja hrhundertwende miteinander verband. Sie alle waren einer
leg für seine überbordende Individualität und Originalität und klar definie rten Zivilisation überdrüssig oder erkannten darin
damit zugleich als stärksten Beweis dafür, daß es sich bei ihm sogar eine Bedrohung für die irrationalen, spirituellen, religi-
um den »deutschesten aller deutschen Künstler« handeln müsse, ösen Kräfte. Bilder sahen sie als Retter an, als eines der letzten
sei es doch typisch für alles Deutsche, sich wegen seiner kaum Refu gien, wo die Opfer der entzauberten Welt ein Asyl finden
zu bändigenden Kreativität nicht mit vorgegebenen Formen, ja konnten; je mehr sich im Dunkel, zwischen diffus Gemaltem
überhaupt nicht mit Linien und Grenzen zufriedengeben zu oder verschwommen Fotografiertem verbergen mochte, desto
so 51
besser eigneten sich die Bilder als Fluchtraum, desto eher wur- mit dem »nervösen Zeitalter« assoziiert werden konnte, wurde
den sie auch zu Orten der Hoffnung, die in ihnen aufgehobenen vielmehr vermieden. 70
Sinnwelten wtirden einmal- wieder- zu voller Entfaltung fin- Auch Robert de Ia Sizeranne lobte, daß die Künstler sich nun
den und sich als stärker - ewiger- erweisen als die zivilisiert-öde vor allem für Phänomene abgeschiedener Natur interessierten:
Alltäglichkeit. jedes Tal, jeder Hügel erscheine bedeutsamer, sobald sich Dunst
Der französische Kunsttheoretiker Robert de Ia Sizeranne darüberlege, alles noch so Beiläufige werde dann auf einmal se-
drUckte d ie der Ästhetik der Unschärfe zugrunde liegende Men- henswert und geheimnisvoll, so wie die Dämmerung dem kla-
talität besonders treffend aus, als er folgende Gleichung auf- ren Licht des Mittags überlegen sei. 71 Der ruhige Blick ins indefi-
stellte: »Oie Weichzeichnung verhält sich zum Scharfen wie die nit Ferne galt also immer noch, fast hundert Jahre nach Adam
Hoffnung zur Obersättigung«. 69 Scharfe, klare Bilder langweil- Müller, als eine Vorschule der Transzendenz- in den Worten
ten nicht nur, weil sie alles profan und bürokratisch vollständig von de Ia Sizeranne: »Das Unbestimmte ist der Weg zum Unend-
abbildeten, sondern beunruhigten auch, weil sie zuviel zeigten. lichen«.71
Oie Angst vor einem Überfluß an Information, einer Überrei-
zung der Nerven, unter der schon Goethes Wilhelm Meister ge-
litten hatte, war am Ende des 19.jahrhunderts mächtig gewor-
den, und erstmals in der Geschichte der Menschheit sehnten sich
die Bewohner der technisierten Länder auch nicht nach mehr
Bildern, als ihnen zur Verfügung standen, sondern sahen sich ei-
ner Bilderflut ausgesetzt, die sie kaum zu bewältigen vermoch-
ten. Ein zeitgenössischer Kulturkritiker hätte vielleicht sogar die
Theorie aufstellen können, die Gesamtheit aller Bilder einer Zeit
könne und dürfejeweils nur ein bestimmtes Quantum an Sicht-
barem zeigen; je mehr Bilder es gebe, desto breiter müsse sich
dieses Quantum verteilen; schließlich würden irgendwann ein-
mal so viele Bilder existieren, daß die meisten von ihnen zu ver-
schwommen u nd düster-fahl geworden wären, um überhaupt
noch etwas aufihnen erkennen zu können.
Oie Unschärfe diente also dazu, ein Gleichgewicht zu wahren,
und je stärker sich die Menschen - gerade auch - von Bildern
und Reizen übersättigt fühlten, desto mehr suchten sie anderer-
seits nach Bildern, in die sie sich aus ihrer Alltagswelt flüchten
konnten - bei denen sich ihre Wünsche nach Ruhe, Harmonie,
Anspruchslosigkeit erfüllten. Deshalb tauchten als Sujets weich-
gezeichneter Fotos oder verschwommen gemalter Bilder nie
großstädtische Szenen oder das Milieu der Arbeit auf; alles, was
52
KUNSTPRODUKTION:
DIE VERSCHMELZUNG DER GATTUNGEN
54 55
tention seines Buchs entsprach: Anstatt ein Bild unvoreingenom- sogar gegen sein eigenes Medium stellen müsse, das ihm die
men auf sich wirken zu lassen, leugneten die Skeptiker- so sein Kom plizenschaft verweigere.
Vorwurf - die kü nstlerische Qualität eines Fotos allein wegen Die verschiedenen Modi der Unschärfe waren somit beides:
seiner mechanisch-technischen Entstehungsweise. Caffin setzte Ausdruckjenes >Entgegenarbeitens•- Beleg gestalterischer Frei-
im Gegenzug ganz auf eine Wirkungsästhetik und erklärte da- heit wie auch ei ne leichte Möglichkeit, Bildern eine hohe
bei - wie das Siegfoto zeigt- gerade Formen von Unschärfe zu Sti mmungsqualität zu verleihen. Während sich die Maler von
bildnerischen Mitteln von höchster künstlerischer Dignität. vornherein lediglich fü r letzteres zu interessieren brauchten, dif-
Dabei orientierten sich die meisten Fotografen an Bildern, die fere nzierten die Vert reter der bildmäßigen Fotografie nie aus-
in traditionellen künstlerischen Techn iken angefertigt waren. drücklich zwischen der defensiven Zurücknahme und dem Wir-
Ihr Bestreben ging da hin, den Fotos das Aussehen von Kreide-, kungsa rgument. Ihnen war nur wichtig, daß d ie Unschärfe den
Kohle- oder Rötelzeichnungen oder zumindest die Faktur ·einer Kunstcha rakter der Fotos beglaubigte. Als Dokumenre beson-
Druckgraphik zu verleihen, so daß nicht nur die Sujets, sondern ders ausgeprägten Künstlerturns veranschaulichen Fotos der
ebenso die Gattungsgrenzen verwischt wurden. War dies für die bildmäßigen Fotografie dann auch besser als alles andere die
Fotografen selbst ein Beweis ihrer künstlerischen Freiheit, pro- (hohen) Erwartungen, die in der Zeit um 1900 gegenüber Kunst
vozierte es bei ihren Gegnern den Vorwurf der Täuschung. Mit bestanden. Nicht selten erscheinen sie sogar als ein Konzentrat
Unmut registrierten sie, daß nun mechanisch möglich war, was der damals vorherrschenden Kunst-Rhetorik und lassen sich als
bis dahin nur durch Handarbeit vollbracht werden konnte, über- Il lustration des herrschenden Begriffs von Kunst deuten.
sahen dabei jedoch , daß ein Gummidruck mit dem Erschei- Dies gilt nicht zuletzt für den Fotografen, den das zwölfjäh-
nungsbild etwa ei ner Kohlezeichnung oft zeitaufwendiger war rige Mädchen in jenem Test zum Sieger erkoren hatte: Edward
als eine solche Zeichnung selbst. Um ihre gestalterische Freiheit Steichen war 1901, als Caffins Buch erschien, erst 22 Jahre alt,
unter Beweis zu stellen, gaben die Fotografen also einen großen ga lt aber bereits als einer der international wichtigsten Vertreter
Vorteil ihres Mediums, nämlich dessen Zeitökonomie, preis, was der bildmäßigen Fotografie. Als Sohn luxemburgischer Emi·
die Frage aufwarf, warum sie eigentlich überhaupt noch m it granten in Michigan aufgewachsen, hatte er zuerst ei ne Ausbil-
dem Fotoapparat arbeiteten. dung als Lithograph erhalten, was ein zusätzlicher Grund dafür
Verteidiger der (bild mäßigen) Fotografie antworteten darauf, gewesen sein mag, daß viele seiner (frühen). Fotos das Aussehen
daß die Fotografie wie jede Kunst vor der »alten, einigermaßen (druck)graphischer Techniken besaßen. Ferner spielten bei Stei-
tragischen Aufgabe« stehe, daß sie »ih rem eigensten Können ent- ( hens Unschärfe-Ästhetik Einflüsse der religiös geprägten ame-
gegenarbeiten" müsse. 7• Je weniger ein Foto an ein Foto erinnert, nkanischen Romantik eine Rolle, die ebenfalls immer wieder
desto eher könnte es gemäß dieser Logik Kunst sein, wobei offen- die Unbegrenztheit der Natur und die Harmonie ihrer Teile
bleibt, wonach denn die Werke traditioneller Künste wie der Ma- besc hwor. Im wichtigsten - über Generationen hinweg ei n-
lerei oder der Skulptur aussehen müßten, um als Kunst ernstge· flußreichsten - Text des romantischen Amerika, in Ralph Waldo
nommen zu werden. Dieses äußerst zweifelhafte Argument Emersons Traktat Nat ure (1836}, findet sich etwa die Beschrei-
wurde jedoch du rc h eine melodramatische Auffassung vom bung eines Sonnenuntergangs, dessen Schönheit gerade darin
Künstler begünstigt: Heroisch einsam sei er nicht nur, weil er bestehen soll, daß die Wolken sich aus »tints of unspeakable
sich in gesellschaftlicher Isolation befinde, sondern weil er sich softness« zusammensetzen. 75
57
Auch Steichen beschäftig· dere als das Selbstbild nis eines Forografen; vielmehr sieht man
ten Momente des Übergangs, Steichen als Maler, der gerade kraftvoll mit seinem Pinsel über
wobei ihm die Phänomene der eine Palette streicht. Zwar malte er in jenen Jahren tatsächlich,
Dämmerung die intensivsten seine Erfolge hatte er jedoch allein auf dem Gebiet der Fotogra-
Eindrücke bescherten, »when fie. Deshalb verwundert, daß er sich - zu mal auf einem fotogra-
things disappear and seem to fischen Selbstporträt! - nicht auch als Fotograf präsentieren
melt into each other«. 76 Ging wollte: Selbst für ihn war ein Bekenntnis zum Künstlerturn of-
es ihm einerseits um mög· fenbar nur dann überzeugend, wenn es mit den Accessoires ei-
liehst stimmungsstarke Bilder, ner etablierten Kunst stattfand.
so waren ihm - nach eigener Das Bild bestätigt weitere Topoi des Künstlers. So blickt Stei-
Aussage - Unschärfe-Effekte chen den Betrachter aus dunklen Augenhöhlen heraus dämo-
andererseits wichtig, weil sie nisch-streng an, was an den Maler in Edgar Allen Poes Erzäh-
über ein plattes fotografisches lung The Oval Portrait erinnert, der der Frau, die er malt, ähnlich
Abbilden hinausführten und einem Vampir die Lebenkraft entzieht, um sie in sein Bild zu
ein Zeugnis gestalterischer bannen. Dieser beinahe unheimliche Eindruck wird dadurch
Autonomie darstellten. 77 Da- verstärkt, daß Steichen in einem zum Malen viel zu dunklen
mit verbanden sich auch bei Raum steht; damit verwischt er nochmals Spuren und suggeriert,
Edward Steichen: $reichen die beiden Standard· künstlerisches 'TUn sei unabhängig von Licht, auf das er als Foto·
Selbstportrait mit PittSel 11nd Palette (190Vol) argumente für die Unschärfe grafjedoch gerade angewiesen ist. Zudem hat die düstere Umge-
untrennbar miteinander. Frei· bung den Effekt, eine Art von Nimbus sichtbar zu machen, der
lieh war wohl kein zweiter Fotograf so kreativ im Umgang mit den Körper des Künstlers zu umgeben scheint, so als besitze die-
verschiedenen Tricks und Techntken: Manchmal befeuchtete er ~e r übersinnliche Ausstrahlung. Oder wollteSteichen damit vor-
emfach die Linse, um sein Sujet verschwimmend fotografieren fuhren , daß auch er über die seltene Gabe verfüge, nicht nur
zu können, bei anderen Aufnahmen hingegen versetzte er die ~• c htbarc Körper. sondern seinen Astralleib, Odstrahlen oder an-
Kamera während der Belichtung in leichte Schwingungen. ln dere übersinnliche Phänomene zu erkennen?
seinen Lebenserinnerungen schildert er, wie ihn das Bedürfnis Abgesehen davon, daß er sich als Künstler mit außernatür-
nach Unschärfe spätestens beim Justieren des Objektivs immer lichen Fähigkeiten porträtiert, zeigt Steichen deutlich an, wo er
wieder überkam, selbst wenn er ursprünglich geplant hatte, ein den Sitz des künstlerischen Genius verortet: Kopf und Hand sind
Motiv scharf zu fotografieren.'" die einzigen Partien des Körpers, die aus dem Dunkel auftau-
Wie sehr Steichen einer künstlerischen Wirkung zuliebe chen. Damit distanziert er sich ein weiteres Mal von seinem ei-
Techniken der Druckgraphik simulierte, wird kaum einmal so gentlichen Metier. Indem er den schöpferischen Prozeß nämlich
deutlich wie an seinem Selbstportrait mit Pinsel und Palette, das er .1ls Tätigkeit der Hand darstellt, liefert er denjenigen Schützen-
1901 aufnahm und ein Jahr später, nach langwierigen Experimen hrlfe, die Kunst als Ausdruck eigener Handschrift definieren und
ten, in einem Gummidruckverfahren reproduzierte. Das Foto den Kunstwert der Fotografie in Frage stellen, da diese als me-
wirkt nicht nur wie eine Lithographie, sondern ist auch alles an- chanisches Medium keinen hinreichenden gestalterischen Frei-
ss 59
raum biete. Die Faktur von Steichens Selbstporträt bestätigt Ansprüche weit hinter sich
diese Haltung nochmals, sind doch Pinsel- und Kratzspuren un- u nd bieten dramatische, teils
übersehbar, die dem Bild einen expressiv-gestischen Charakter soga r bizarre Inszenierungen
verleihen und es klar als Werk einer Hand zur Geltung bringen. Rodinseher Werke , deren
Das Foto ist somit insgesamt ein großes Paradoxon: Anstatt sich Sein sgrad inmitten geheim-
als Fotograf zu fotografieren oder als Maler zu malen, fotogra- msvollem Dunkel undefinier-
fiert sich Steichen als Maler und zeigt seine technische Meister- bar scheint - ähnlich undefi-
schaft gerade daran, daß er alles Fotografische verleugnet. An- nae rbar wie die überbelichtet
ders formuli ert: Nur einem hervorragenden Fotografen wie w1rkenden Skulpturen Rosses.
$reichen konnte es gelingen, sich so perfekt als Maler zu insze- Auch Eugene Carriere hatte
nieren. \IC h vor Sreichen bereits an
Seine Anerkennung als Künstler war Edward Steichen also Rodin vers ucht und ihn 1897
wichtiger als die Ehrenrettung der Fotografie, deren gewohnte lü r eine Lithographie parträ-
Erscheinungsweise er mit Unschärfe-Effekten und Tricks viel- t ic rt, auf der der Meister -
mehr so weitgehend verwischte, daß sie niemand mehr als Ur- ~·bc nfalls vor dunklem Hinter-
sprung des Selbstporträts vermutet hätte. Dies mag als Zeichen g rund - wie fluoreszierend
der Unsicherheit des jungen Steichen gedeutet werden, der es wirkt, fas t ins Immaterielle
noch nicht wagte, mit >reinen<Fotos Kunstwürden für sich zu .1ufgelöst und zu einer magi- Edward Sreichcn : Auguste Rodin ( t90V'ol)
beanspruchen. Z ugleich zeugt es jedoch von überbordendem \C hen Gestalt mutiert.
Kunstwollen sowie enormem Selbstvertrauen, daß er sich mit al- Steichen dürfte diese Lithographie gekannt haben, als er im
len Attributen des Künstlers inszenierte, obwohl er eigentlich Sommer 19or, während eines längeren Paris-Aufenthalts, Rodins
Fotograf war. Damit verriet er doch wieder die Überzeugung, l·rlaubnis für Porträtfotos einholte. Einhalbesjahr lang besuchte
daß die Fotografie ein gleichberechtigtes Medium der Kunst sei. t·r 1hn allwöchentlich, bevor er wagte, die ersten Aufnahmen zu
Wie sehr er sie sogar zu einer Art von Kunst-Verstärker für die m,1chen. Diese zeigen den Bildhauer fast nie allein, sondern zu-
übrigen Kunstgattungen, zu ei ner Technik der Visualisierung ,,tmmen mit einzelnen seiner Werke, bevorzugt mit der Skulp-
künstlerischen Genius machen wollte, ist einer Serie von Foto- tu r des Victor Hugo. Dabei schafft Steichen, vor allem m it Kontra
grafien zu entnehmen, die Steichen ab 1901 von Auguste Rodin, 'll'n von Licht und Schatten, eine eigentümliche Korrespondenz
de m damals w ohl berühmtesten lebenden Kunst-Star, sowie von tw1schen Künstler u nd Kunstwerk: Rodin selbst ist im Profil zu
etlichen seiner Werke anfertigte. Rodin galt als besonders 'l'hcn. mit hoher Stirn, kräftigen Augenbrauen, langem..Bart; er
schwierig und wählerisch, durften doch nur von ihm autorisierte w1rkt in sich ruhend und zugleich so, als könne er alles um sich
Abbildungen seiner Skulpturen publiziert werden. VorSteichen ht·rum beherrschen. Die Skulptur erscheint infolge der Un-
hatte er schon mehrere andere Fotografen unter Vertrag genom- 'rhärfc, dererSteichen sich hier bedient, als imaginäre Gesta lt
men , die ihn und seine Arbeiten in genialem Licht zeigen soll- und nicht mehr als Werk aus Stein. Damit interpretiert der Be-
ten.79 Vor allem die Aufnahmen von Eugene Druet, aber auch tl ac hter sie als geistige Schöpfung Rodins, zu mal eine gewisse
vo n Stephen Hawe is und Henry Coles lassen dokumentarische physiognomische Ähnlichkeit zwischen dessen Kopf und dem
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der Hugo-Skulptur besteht. Diese ist gleichsam nach dem Eben- vermitteln, bedurfte es eines (dritten) Mediums, nämlich der
bild des Künstlers geformt, der seine Gestalten ähnlich einem Fotografie, die ihrerseits sensibel genug zur Fixierung feinster
Schöpfergott originär aus sich heraus bildet. Das Foto suggeriert Phänomene war.
also, genau den Augenblick der Schöpfung festzuha lten - oder Indem Steichen Rodins Skulptu ren in Unsch är fe auflöste
überhaupt erst sichtbar zu machen: Der Körper der Skulptur ist (1907 wiederholte er dasselbe m it einer bei Mondlicht aufgenom-
noch ungeformt, auch der Kopfbesitzt keine kla ren Konturen, menen Serie des BaLzac), erfüllte sich einmal mehr, was Riegl als
alles scheint zu flimmern und zu vi br ieren, so als arbeite des Ans pruch an die Ku nst formuliert hatte: Sie tauscht Plastizität
Künstlers Imaginationsvermögen auf höchster Stufe. gegen Stimmung, die Illusion von Stoffiichkeit gegen atmosphä-
Anders als auf seinem Selbstbildnis zeigt Steichen den künst- risc hen Raum. Steichen gewährte Rodins Skulpturen also die
lerischen Prozeß hier nicht als Gestaltung mit der Hand (was bei Gunst eines simulierten Fernblicks, der sie z u geheimnisvoll
einem Bildhauer ja noch besser paßte), sondern als rein geistige unfa ßlichen, beinahe imaginären Ereignissen verklärte - end-
Leistung: Wie eine Denkblase schwebt das Werk über dem Kopf lich davon befreit, mit Volumen und Materie anwesend sein zu
des Künstlers- oder läßt die Assoziation mit einem heftigen Ge- müssen.
witter zu, dessen Energien sich gerade gewalt ig entladen, was Es dürfte innerhalb der Geschichte de r Bilder wenige Bei-
künstlerisches Tun zum genialen Geistesblitz erklärt. Zeitgenös- ~ piele geben, bei denen ähnlich virtuos eine doppelte Transfor-
sischen Betrachtern kamen angesichts dieser Rodln-Apotheose mation stattfindet: Sowoh l die Fotografie - als Bildmedium -
vermutlich auch die Geisterfotografien in den Sinn, die Steichen wie auch die Skulptur - als Bildsujet - übersch reiten die Grenzen
hier als ikonographisches Muster zitiert, was Rodin in die Rolle ihrer Gattung, ohne deshalb einer anderen oder gar neuen Gat-
eines Mediums versetzt, das in Verbindung zu anderen - hö- tung zuzugehören. Vielmehr ist der Betrachter zweifach irritiert,
heren - Welten steht und seine schöpferische Kraft daraus be- weiß weder klar zu sagen , was fü r ein Bild er vor sich hat, noch,
zieht. Der Kunst insgesamt wird damit ein spiritueller Charakter welchen Status das Abgebildete besitzt. Damit sind Steichen Bil-
zugesprochen, der in Kategorien herkömmlicher Ontologie der gelungen, in denen verschiedene bildende Künste ineinander
nicht zu fassen ist. .1ufgehen, und man ahnt die hohe und auch eitle Intention, die er
Mit der Nähe z ur Geisterfotografie bekundet Steichen aber da mit verfolgte. Er wollte nicht weniger, als >die Kunst an' sich<
vor allem seinen Anspruch, als Fotokünstler Phänomene sicht- sichtbar machen, die nicht länger nur partiell, gebunden an die
bar machen zu können, die dem menschlichen Auge bis dahin Spezifika der jeweiligen Gattung, sondern unmittelbar und um-
verborgen bleiben mußten: Künstlerisches Ingenium, ja das tran- fa ssend zur Geltu ng kommen sollte. Das hieß zugleich, Werke
szendente Ereignis der Kunst selbst anschaulich und authentisch \c haffcn zu wollen , die alles andere, was in den Künsten pas-
zu zeigen, sollte als die herausragende Eigenschaft des Rodln- sierte, übertreffen und nochmals transzendieren.
Zyklus bewundert werden. Diese Eigenschaft verdankte sich- Vermutlich wirkte hier ein Gedanke fort, der am Ende des
so hätte Streichen es wohl selbst erklärt - de m glücklichen Zu- 11l .jahrhunderts erstmals von Schi ller formuliert und dann vcf.,
sammentreffen von drei medialen Ereign issen : Oie spirituelle v1elen, die an >die Kunst an sich< glaubten, aufgegriffen wurde:
Kraft Rodins konnte nur von einem seherisch begabten Künstler Mit »jedem höhern Grade«, den ein Werk erreiche, würden •die
gleichen Rangs - also von Steichen - erkannt werden ; um sie ' pezifischen Schran ken« der Gattung, der es angehört, aufgeho-
aber auch zu dokumentieren und dem normalen Publikum zu ben; es erlange dadurch »einen mehr allgemeinen Charakter«,
und im Zustand der Vollendung würden »die verschiedenen
Künste in ihrer Wirkung auf das Gemüt einander immer ähn-
lichen<.go Allerdings beharrt Schiller zugleich darauf, daß bei g ro-
ßen Werken die einzelnen Kunstgattungen »ohne Verrückung
ihrer objektiven Grenzen« in dem Allgemeinen der Kunst aufge-
hoben werden, während Steichen gerade versucht, diese Gren-
zen zu ignorieren und damit förmlich einen Mehrwert an Kunst
zu erzeugen . Unschärfe spielt dabei die wichtigste Rolle, dient
sie doch nicht nur zum Verwischen von Gegenstandskonturen,
sondern ebenso zur Angleichung und schließlich Verschmel-
zung der einzelnen Gattungen. Sie wird zum Mittel und Indika-
tor künstlerischer Dichte.
Von einer Verschmelzung der Kunstgattungen träumte auch
Alfred Stieglitz, neben Stcichen der - zumindest in Amerika -
wichtigste Vertreter der bildmäßigen Fotografie. Seine Bedeu-
tung ergibt sich nicht nur aus seiner fotografischen Arbeit, son- Al tred Stieglitz: Equivalent (1925)
dern ebenso aus seinem organisatorischen Talent, dem es zu
verdanken war, daß die Protagonisten der >unscharfen Richtung< Jards bei weitem, und Stieglitz ließ die wichtigsten Fotos des
überhaupt zusammentrafen, eine gemeinsame, übernationale •pictOrialism< zudem von Essays einflußreicher Kunsttheoretiker
Identität ausprägten und eine breitere Öffentlichkeit erreichen und Schriftsteller eskortieren, um seine Kunst-Ambitionen noch
konnten. Stieglitz, der oft zwischen Buropa und den USA pen- nac hdrücklicher zu untermauern. Zunehmend wurde Ca111era
delte, schuf der bildmäßigen Fotografie als Herausgeber von Work auch zum Publikationsorgan der Galerie 291, benannt nach
zwei Zeitschriften sowie als Gründer einer Galerie ein Forum - der Hausnummer der New Yorker Fifth Avenue, in der Stieglitz,
und bewies dabei jeweils erstaunliches Kunst wollen, ja agierte oft in Zusammenarbeit mit Steichen, Ausstellungen von Vertre·
geradezu als Lobbyist, der die Fotografie endlich als Kunst tern der bildmäßigen Fotografie sowie der zeitgenössischen
durchzusetzen strebte. Zuerst, ab 1897, edierte er Camera Notes, Kunst veranstaltete und die, obwohl gerade mal fünfzehn Qua·
das Organ des New Yorker Carnera Clubs. Bald berühmt wegen Jr,n meter groß. über Jahre hinweg der wichtigste Treffpunkt für
der hervorragenden Qualität der Bildreproduktionen, brachte J1e Protagonisten der >unscharfen Richtung<wurde.
diese Zeitschrift Stieglitz dennoch viel Ärger ein; sie war defizi· Nachdem Stieglitz die Galerie 1917 geschlossen hatte, wid·
tär, und einige Mitglieder des Clubs sahen sich durch den eindeu· mete er sich wieder verstärkt der eigenen fotografischen Arbeit,
tigen Kunst-Kurs, den Stieglitz fuh r, nicht repräsentiert. So legte wobei sein Ehrgeiz zusätzlich dadurch angestachelt worden sein
er seine Funktion 1902 nieder, um einige Monate später seine ei· dürfte, daß er ab 1920 mit Georgia O'Keeffe zusammenlebte, die
gene Zeitschrift, Camera Work , zu gründen, die bis 1917 in insge· er 1924 heiratete. Zur seihen Zeit entstand, unter dem Titel Equi-
samt fünfzig lleften (einige davon Doppel hefte) erschien. Auch valents, eine Serie von Wolken-Fotografien, die er schon länger
hier übertraf die Abbildungsqualität die damals üblichen Stan- zu realisieren vorgehabt hatte und in denen seine Sehnsucht
6s
nach künstlerischer Anerkennung am stärksten zum Ausdruck gen und Variationen bestehen und d ie damit jeweils einen eige·
kam. In einer Situation großer Niedergeschlagenheit begonnen, nen Rhythmus besitzen. Nur deshalb können sie, obwohl >bloß<
sollte diese Serie, wie Stieglitz später schrieb, seine Weltanschau- abfotografiert, mehr sein als Bilder, nämlich autonome, rein for-
ung gleichsam endgültig zusammenfassen. Vor allem war ihm male Gebilde, wie es sie sonst nur in der Musik gibt. Während
wichtig, daß deutlich würde, wie wenig ein Fotograf au fbeson- Steichen mit seinen Fotos durch eine Synthese der bildenden
dere Sujets angewiesen ist, um besondere Bilder zu machen; ein- Künste - du rch eine Aufhebung ihrer Unterschiede - die Kunst
mal mehr ging es also darum, künstlerische Freiheit- gestalteri- •a n sich< zu destillieren hoffte, strebte Stieglitz also nach
schen Spielraum - unter Beweis zu stellen, in diesem Fall durch Fotografien, die die Grenze zwischen bildender Kunst und Mu-
die Wahl von Motiven, die so geläufig wie nur möglich sind: sik zum Verschwinden bringen können- und die damit, als Fu·
»Wolken gibt es für jedermann, sie sind noch immer steuerfrei«.'' sion bisher konkurrierender Künste, die Kunst insgesamt auf ein
Um ein Kriterium für die künstlerische Qualität seiner· Bilder neues Niveau emporheben.
zu haben, ersann Stieglitz - hier durchaus vergleichbar mit Caf- Allerdings kritisierten einige bildmäßige Fotografen Stieglitz,
fin - eine Art von Test, der eindrucksvoll belegt, wie sehr sich weil seine Equiva!ents wie Fotografien aussähen, und sie beurteil·
der Fotograf nicht nur bezüglich der bildenden Kunst, sondern - ren es als Manko, daß er bei dieser Serie nicht eigens mit Un-
als mutmaßlicher Teil von dieser - insbesondere der Musik ge- schärfe-Effekten gearbeitet, sondern sich mit natürlichem Sfu-
genüber in ängstlicher Kon kurrenz sah: Bevor er seine Serie be· mato begnügt hatte. Doch da das Sujet ohnehin nichts mehr mit
gann, habe er - so Stieglitz - O' Keeffe gesagt, der Komponist der >>Prosa des Lebens« (Hege!) und Alltagsdetails zu tun hatte,
Ernest Bloch müsse, wenn ihm d ie Wolken-Fotos gezeigt wür· bedurfte es auch keiner weiteren Verfremdung: Oie Pormatio-
den, begeistert ausrufen: >>Music! music! Man, why that is music! nen waren abstrakt- autonom - genug, um zu leisten, was sonst
How did you ever do thatk Ferner solle er spontan den Plan äu· mit Unschärfen versucht worden wäre. S~ kehrte Stieglitz einer-
ßern, eine Symphonie mit dem Titel Clouds zu komponieren seits zur Romantik zurück, indem er sich mit Phänomenen des
(»Not like Debussy's but much, much more«). Als Bloch die Equiva- Pcrnblicks begnügte, machte aber zugleich deutlich, daß zusätz·
lents von Stieglitz dann zu Gesicht bekam, hätten sie die Probe liehe Unschärfe nicht nötig ist, sobald die gegenständliche Welt
furios bestanden: »Als ich schließlich meine Folge von zehn Bil· auch anders ausgeblendet werden kann.
dern gedruckt hatte und Bloch sie sah, passierte Wort für Wort
genau das, was ich erhofft hatte«. 82
Kaum einmal sonst ist die heimliche Sehnsucht des bildenden
Künstlers so direkt ausgesprochen, der Musiker möge endlich
einmal auf ihn neidisch werden und sich gar von einem Bild zu
eigener Arbeit inspiriert fühlen. Aber nicht nur das: Stieglitz
wünscht, daß seine Fotografien ausdrücklich als Musik wahrge-
nommen werden , damit ebensosehr als Klang, Melodie -Stirn·
mung - gelten wie als Flächen und Farben. Dies erklärt auch die
Sujet-Wahl: Wolken erscheinen als Kompositionen ohne gegen-
ständliche Elemente, als Formkomplexe, d ie aus W iederholun·
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damit größere Zu sammenhänge erkennen läßt : Nichts sonst
kommt dem Stilwillen eines Malers besser entgegen, der darum
bemüht ist, alles einem einheitlichen Darstellungsprinzip zu un-
terwerfen, um seinen >eigenen< Blick und seine Originalität un-
ter Beweis zu stellen. Entsprechend wird an Kunstschulen späte-
ÄSTHETIK DES AUSNAHMEZUSTANDS stens seit der Mitte des 19.jahrhunderts - und zum Teil bis heute
gelehrt, als Vorbereitung zum Malen müsse man die Natur mit
In einer weit verbreiteten augenheilkundlichen Zeitsch rift be- zusammengekniffenen Augen, in künstlicher Unschärfe betrach-
richtet ein Schweizer Augenarzt im Jahr 1917, ein Maler habe, ten: »Diese Art des Schauens vereinfacht die Sujets; Einzelheiten
nachdem ihm eine Brille verordnet worden sei, gegen die Korrek- verschwinden. Man nimmt dann nur noch die großzügige Ver-
tur seiner Kurzsichtigkeit (Myopie) protestiert und >>kategorisch teilung von Licht und Schatten wahr<<. 8"
eine Unterkorrektur verlangt, da er die Aussenwelt durchaus Neben dem Interesse an einem abstrahierenden Blick war
nicht so haarscharf und deutlich zu sehen wü nsche•c. 8' Diese No- aber auch das Streben nach Außenseiterturn ein Grund für die
tiz ergänzt einen wissenschaftlichen Aufsatz, in dem die These Ablehnung von Brillen und scharfer Sicht: Auf Unschärfe zu
vertreten wird, •dass die Myopie die ideale Sehschärfe des Malers bestehen, hieß, sich von den angeblich normalen Sehgewohnhei-
ist«. >>Der Myope kann sich gratulieren zu seinem Auge und sei- ren abzugrenzen, anders sein zu wollen als der Durchschn itt.
nen Empfindungen«, heißt es weiter, was damit begründet wird, Cerade Kunststudenten und junge Künstler signalisierten mit ih-
daß ihm die Anstrengung erspart bleibe, den Blick je nach Entfer- rem Desinteresse gegenüber Sehschärfe immer wieder, daß sie
nung des Sehobjekts immer wieder neu scharf zu stellen.8• Ein die sichtbare Welt als zu profan verachteten und künstlerische
Kurzsichtiger nehme seine Umwelt somit ruhiger und gleichmä- Wahrheit jenseits des oberflächlich Wahrnehmbaren suchten .
ßiger w ahr, was zu Kontemplation und im weiteren zu Künstler- Kurzsichtigkeit bot somit (ähnlich wie Rossos Überbelichtung)
turn disponiere. Immerhin wird im selben Artikel eine Studie eine bequeme Chance, alles auszublenden, was vom >Eigent-
zitiert, derzufolge sich unter Malern angeblich überdurchschnitt- lichen< ablenkte; stolz- und auch ein wenig selbstgerecht -
lich viele Kurzsichtige befänden, was zu der Frage verleite: >>Fühlt kon nte man sich als jemand fühlen , der sich von einem bloß dies-
sich der Myope speziell zur Malerei hingezogen?« seitigen Leben gelöst hatte.
Genauer hätte diese Frage wohllauten müssen, ob Kurzsic h- Dieser Gestus der Verweigerung radikalisiert Goethes oder
tige eher zu einem malerischen Stil disponiert sind, der statt Li- Brentanos Brillen-Aversion, verändert aber auch die Einschät-
nien Farben , statt Formen und Stofflichkeiten Flächen betont. zung unscharfer Bilder. Selbst wenn sie das Ziel verfolgen , stim-
»Unter den Myopen findet man die schönsten Koloristen•, be- mu ngsvolle- >anspruchslose<- Impressionen zu bieten, sind sie
merkt die ophthalmologische Studie tatsächlich, definiert Kunst doch vor allem ein Dementi von Normalität. Bekanntes soll so
aber, den Vorlieben der Zeit entsprechend, auch allein über diese sehr überformt werden, bis seine Darstellung nicht mehr mit der
malerischen Qualitäten. Bekanntlich äußerten sich einige pro- üblichen Wahrnehmung vereinbar ist . Damit aber wendet sich
minente Maler w ie Monet oder Cezanne ebenfalls ablehnend ge- die Unschärfe aggressiv gegen das Abgebildete - und erhält
genüber Brillen" ; ihnen erschien es als Vorzug, daß unscharfes schließlich sogar eine ikoneklastische Dimension, schwächt sie
Sehen die Dinge egalisiert - ihre Eigenpräsenz zähmt - und doc h das Bild qua Abbild. Das Vernebeln von Details wird selbst
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von den Vertretern der >unscharfen Richtung< als ein Akt der Ne- bruch als eine Flucht, aus der nicht selten sogar ein Marsch hinter
gation und Form von Zerstörung beschrieben; immer wieder ist die Moderne zurück wurde. Nur die ungewohnten Bildsprachen
von einer »Bekämpfung der gegenständlichen Treue« oder davon verdecken bis heute erfolgreich , daß die Avantgarde-Kunst aus
die Rede, daß man »Störende Einzelheiten völlig beseitigen«31 Angst, Ressentiments und jener Sehnsucht nach dem Ausnahme-
und »Unterdrücken«88 müsse. zustand geboren wurde (wie der Antimodernismus generell der
Dies kommt einer Kriegserklärung an die gewohnte Welt markanteste Charakterzug der Moderne sein dürfte).
gleich und offenbart eine Sehnsucht nach Ausnahmezustand. Der oft schroffe Gestus der Avantgarde läßt es auch seltsam
Anstatt sich noch friedlich mit den gesellschaftlich vorherrschen- erscheinen, sie in Verwandtschaft zu den Protagonisten der bild-
den, mutmaßlich von Entfremdung geprägten Vorstellungswel- mäßigen Fotografie bringen zu wollen, die üblicherweise - si-
ten zu arrangieren, werden Kompromisse ausgeschlagen. Ge- cher auch wegen ihres allzu offensichtlichen Kunstwollens- als
speist von einem Geist des Ressentiments und der Xenophobie, schwül-sentimentale Ausläufer des 19. j ahrhunderts angesehen
soll die Kunst autonome, abgesch iedene Inseln bilden, die frei- werden. Was sollten Fotografien von Steichen oder White mit
lich eher Orte vager Hoffnung als konkreter Utopien darstellen. den resoluten Formexperimenten des Kubismus, des Blauen Reiter
Ihre Aufgabe ist es nicht mehr, das Allgemeine im Alltäglichen oder von De Stijl zu tun haben? Und kann man sich Gegensätz-
sichtbar zu machen, sondern es von letzterem zu befreien. licheres denken als die düster-weichgezeichnete Impression ei-
Seit der Landschaftsmalerei des frühen 19.jahrhunderts - der ner Steichenschen Dämmerung und ein leuchtend gemaltes Bild
bescheidenen Freude an verschwimmenden Horizontlinien - von Pranz Mare? Aber ob es deshalb gerechtfertigt ist, in beidem
ließ sich die Kunst immer stärker auf eine Ästhetik des Ausnah- Antipoden und nicht vielmehr Varianten zu sehen, wird zweifel-
mezustands ein. Dabei stellten Spielarten wie die Weichzeich- haft, sobald man Texte von Avantgarde-Künstlern mit den Argu-
nung lediglich erste Versuche einer solchen Ästhetik dar, und menten für Weichzeichnung und Soft-Effekte vergleicht. Dann
schon bald war die Unschärfe keineswegs die einzige Möglich- zeigt sich plötzlich sogar eine Konkurrenz zwischen Unschärfe
keit, Details zu unterdrücken und homogene, autonome, am und anderen Modi von Abstraktion. Dabei geriet jene, nach einer
Vorbild absoluter Musik orientierte Bilder zu schaffen. Vielmehr Phase großer Beliebtheit, bald ins Hintertreffen gegenüber den
entwickelten sich verschiedene schließlich zur Abstraktion füh- radikaleren, aggressiver abstrahierenden - und schließlich ab-
rende Bildsprachen, die das Dementi der sichtbaren Welt bald strakten - Bildsprachen.
schon entschiedener zu formulieren erlaubten. Da sich die Hauptvertreter der bildmä(~igen Fotografie an
Die sich autonomisierende Kunst heroisch zum Inbegriff mo- Malern wie Carriere oder Whistler orientierten, die ihre künstle-
dernen Vorwärtsstrebens zu verklären, wie es üblicherweise ge- rische Identität rund zwanzig Jahre früher ausgebildet hatten,
schieht, erscheint vor diesem Hintergrund mehr als fragwürdig: liegt es nahe, deren kunsttheoretische Äußerungen als erste Re-
In Wirklichkeit sind die meisten Strömungen der Avantgarde und ferenz heranzuziehen, um sie dann den Konzepten der Künstler
Klassischen Moderne antimodern insofern, als sie den wesentli- nachfolgender Generationen gegenüberzustellen.
chen Merkmalen der modernen Welt - der Technisierung, der zu- Wie Carriere gewinnt auch Whistler sein Verständnis von
nehmenden Arbeitsteilung und Industrialisierung der Arbeit, der Bildern wesentlich aus Naturerfahrungen - etwa aus dem
Verstädterung, aber auch dem Rationalismus der Wissenschaften Abendnebel, der alle Gegenstände, selbst Fabrikgebäude, poetisch
- ablehnend begegnen. Sie sind zuerst weniger ein mutiger Auf- verkläre. Dies - so Whistler - bemerke jedoch kaum einer; zu
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die Betrachter zu unterhalten und die Umwelt möglichst genau
abzubilden (dies wollte Whistler lieber den Fotografen überlas-
sen !); überhaupt waren in der bildenden Kunst alle Assoziatio-
nen zum alltäglichen Leben zu unterbinden . Ziel wurde es, »a
picture as a picture« zu betrachten, »apart from any story which
it may be supposed to telk Und weiter: »Art [ .. .) should stand
alone and appea l to the artistic sense of eye or ear, without con-
fou nding this with emotions entircly foreign to it, as devotion,
pity, Iove, patriotism, and the like«.90
Damit formuliert Whistler- rund dreißig Jah re vor Etablie-
rung der abstrakten Malerei, aber auch ru nd dreißig Jahre nach
Baudelaire - ein Konzept des autonomen Bilds: Es soll nicht hin-
sichtlich seiner mimetischen oder allegorischen Leistung und
james Whistler: Nocturne in blue and s ilvcr (um 1875) da mir nicht als Verweis auf anderes, sondern rein als Bild rezi-
piert werden . Alle äst hetischen Entscheidungen erfolgen nach
geschäftig seien die Menschen , hastig und ohne Blick für die bildinternen Kriterien, ja das Bild ist eine Komposition nach ei-
phantastischen Verfremdungseffekte. Im Gegenteil: Sie zögen es genen Regeln. Dies verlangt nicht zwangsläufig einen Verzicht
vor, die Dinge unverstellt und mit allen Details zu sehen , und auf gegenständliche Sujets, bedeutet aber zumindest, daß diese
wenn möglich, benützten sie sogar noch ein Vergrößerungsglas. parallel zur außerbildliehen Realität als eigene auch als höher
Oiesem analytisch-instrumentellen Zugang widerstehe allein verstandene - Wirklichkeit entwickelt werden.
der Künstler und erweise sich damit als wahrer Sohn der Natur. Schon bald sollte Whistlers Bildauffassung seine eigene Bild-
Nur für ihn allein singe sie »her exquisite song«, während »buil- praxis überschreiten : Sfumato-Effekte und Dämmerungsszene-
dings lose themselves in the dim sky (...) and the whole cit y rie n bleiben der Erscheinungsweise der Gegenstände noch zu
hangs in the heavens, and faireyland is before usc.89 sehr verpfl ichtet. um Bilder zuzulassen, die gegenüber assoziati-
Damit steht Whistler ganz in romantischer Tradition und ver- ve n Vercinnahmungen resistent sind. Verfremdungen oder stim-
gißt auch nicht, das Erlebnis san ften lneinanderfließens in musi- mungsvolle Veduten mögen den Betrachter zwar fü r kurze Zeit
kalischer Metaphorik - als Gesang - zu beschreiben. Von der Ma- seiner Alltagssorgen entledigen , sie reichen aber kaum hin, um
lerei verlangt er, sie müsse wie Musik sein, und einige seiner die Sehnsucht nac h Zivilisationsabkehr und >reiner Musik<län-
Bilder bezeichnete er selbst bereits im Titel als Symphonien oder gerfristig zu stillen. So erfaßte die Stilentwicklung der Kunst in
llarmonien. Dahinter sta nd auc h die Hoffnung, d ie Malerei den folgenden Jahrz-ehnten eine Dynamik, die nur damit zu er-
möge ähnlich starke Stimmungen entfa lten wie die Musik. Da- klären ist, daß für die veränderten Erwartungen gegenüber Bil-
bei ging es nicht um irgendwelche Lieder oder Ohrwürmer, son- dern erst die gemäßen Bildsprachen gefunden werden mußten.
dern allein um absolute Musik (»pure music as distinguishcd Die Kluft zwischen einem autonomen Bildbegriffund einer nur
from airs«). Für Bilder hieß das einmal mehr: Sie sollten nicht verhalten eigenständigen Malweise, wie sie das Werk Whistlers
länger mit der Aufgabe belastet sein. Geschichten zu erzählen, kennzeichnet, wurde innerhalb von ein bis z wei Generationen
72 73
geschlossen. ln dieser Zeit änderte sich jedoch kaum noch etwas Allerdings begründet Matisse
an den kunsttheoretischen Grundlagen - lediglich deren Umset- seine Aversion gegen Details
zung wurde konsequenter verfolgt. Dadurch geriet die Un- noch mit einem anderen Argu-
schärfe als zu harmloses, zu unentschiedenes Stilmittel zuneh- ment: Sie >>Störe n die Reinheit
mend ins Abseits. Da sie sogar geradezu Inbegriff des Vagen und der Linien, sie schaden der In-
Unddinierten ist, wurde sie um so mißtrauischer gesehen, ging te nsität des Gefüh l s«.~• Anstatt
es doch darum, entschlossene, ma rkante Zeichen eines Neube- Kleinteiliges durch Weichzeich-
ginns der Malerei zu setzen. nung oder andere Unschärfe-
Wie weit Künstler der Avantgarde mit Malern wie Whistler in Effe kte zum Verschwinden zu
ihren Grundüberzeugungen übereinstimmen und diesen ledig- bringen, verfolgt Matisse also
lich auf anderem Weg Ausdruck verleihen, soll das Beispiel von genau die gegenteilige Strategie:
Henri Matisse illustrieren. Dieser hatte in seinen Notes d 'un Ein Bild wird für ihn um so stär-
peintre ( 1908) den später oft zitierten Vergleich der Kunst mit ei- ker, je konsequenter es auf die
nem Lehnstuhl gebracht, um sein Verständnis von Bildern zu •lignes essentielles« reduziert
veranschaulichen. Er träume ,.von einer Kunst des G lcichge· 1st .•' Eine Bi ldsprache, die die
wichts, der Reinheit, der Ruhe, ohne beunruhigende und sich Konturen betont und bei der Edward Steichcn: HenriMatisse (um 1909)
aufdrängende Gegenstände«, einer Kunst also, die als »Beruhi- Wahl der Farben auf Zwischen-
gungsmittel« und »Erholung<<wirken k.önne. 91 Was Whistler im töne verzichtet, wirkt erheblich entschiedener und energischer
englischen Nebel und Adam Müller zuvor bereits im Fernblick als Sfumato oder Dämmerlicht und kann daher den Anspruch
gefunden und was zur ästhetischen Aufwertung des Unscharfen auf eine Autonomie der Bilder besser befriedigen.
geführt hatte, ist hier also immer noch Programm: Matisse sucht Dennoch führte diese gegenüber Whistler, Carriere, Steichen
nach einer Ästhetik des Anspruchslosen, nach Bildern, die eine oder Stieglitz kont räre Methode, >anspruchslose<Bilder zu schaf-
bessere Alternative sind. fen, nicht von vo rnhe rein zum Bruch mit den Vertretern der
Deshalb ford ert er ebenfalls völlige Unabhängigkeit der Bild- >unscharfen Richtung<. Vielmehr war ein igen Malern und Foto·
sprache von der äußere n Realität, und während er den FotOgra- grafen am Anfang des 2o.jahrhunderts durchaus noch die ge-
fen die Zuständigkeit für genaue Abbilder zuweist, verlangt er meinsame Grundlage ihrer jeweiligen Bildsprachen bewußt; sie
vom Künstler, alles einer »Bildidee [zu] unterwerfen« (»soumettre sahe n sich derselben Sache gegenüber verpflichtet und beurteil-
al'esprit du tableau«). Das autonome Bild beschreibt Matisse wie- ten ihre bildnerischen Mittel als lediglich verschiedenartige Ex-
derum in Analogie zur Musik: Zuerst müßten die Beziehungen perimente im Zuge derselben Aufgabe. So ließ sich Matisse 1909,
zwischen den Tönen ausfindig gemacht werden, dann bestehe als er selbst gerade intensiv an seinem konturbetonten Stil arbei-
die Aufgabe darin, einen Zusammenk lang zu bilden, »Une bar- tete, von Steichen fotografieren, der dabei, mittlerweile als Por-
monie analogue ä celle d'une composirion musicale«.n Dazu je- trätist von Künstlern ebenso erfahren wie berühmt, einmal
doch dürfe sich das Bild nicht mit der Abbildung von Einzelhei- mehr seine Fertigkeit im Umgang mit Weichzeichnung unter
ten belasten: »j edes überflüssige Detail würde im Gemüt des Beweis stellt. Er zeigt den Künstler beim Modellieren einer klei-
Betrachters ein anderes, wesentl iches Moment verdrängen«. 93 nen Aktfigur; Mund, Bart und Hintergrund verschwimmen zu
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einer einzigen dunklen Fläche, was den Eindruck erweckt, der licht wurden, galt ein Sonderheft 1912 Gemälden und Skulpturen
Künstler sei stumm - unansprechbar auf die Arbeit konzentriert. von Matisse und Picasso, der vor allem m it Werken aus der kubi-
Seine großen Augen sind, inn ig blickend, allein auf die Figur ge· stischen Periode vorgestellt wurde. Schon einige Hefte zuvor
richtet; jeglicher Kontakt zu anderen Menschen scheint ausge· war ein Aufsatz in Camera Work Picasso gewidmet, in dem der
schlossen. Ähnlich wie bei seinem Selbstbildnis ein Jahrzehnt mexikanische Künstler und Kunsttheoretiker Marius de Z ayas
zuvor betont Steichen auch beim Matisse-Bildnis Stirn und dessen Kunst nach Kritierien charakterisiert, die sie als verwandt
Handwerkszeug des Künstlers, während der Raum, in diffusem mit der >unscharfen Richtung< erscheinen läßt: Da es Picasso
Dunkel, gänzlich ausgeblendet wird. Oie Botschaft des Fotos nicht um die Wiedergabe von Sujets, sondern um eine Überset-
drückt damit, obgleich mit ganz anderen Mitteln, genau die Ein· zu ng der Eindrücke und Empfindungen gehe, die die äußere
Stellung von Matisse aus: Kunst machen heißt, sich abschließen Wirklichkeit auslöse, gebe er etwa die Zentralperspektive auf
von der Außenwelt, nach Ruhe und Harmonie jenseits äußerer und trenne nicht länger zwischenVorder- und Hintergrund, son-
Reize, nach Autonomie streben. dern bemühe sich um möglichst große H armonie zwischen den
Doch nicht nur Steichens Interesse für einen Künstler, dessen Bildelem enten. Wie die Perspektive verabschiede er auch die
Bildsprache von der eigenen denkbar weit entfernt ist, verrät Farben als Bedeutungsträger und beschäftige sich dafür allein
eine Verbundenheit auf anderer - ideeller - Ebene. Noch auf- mit dem licht und seinen Effekten, was für den Betrachter »cer-
schlußreicher ist, daß Werke von Matisse in Camera Work, dem tain vibrations« erzeuge.
von Stieglitz herausgegebenen Zentralorgan der >unscharfen Daß solche Formulierungen eine formale Nähe zur bildmäßi-
Richtung<publiziert wurden. Inmitten weichgezeichneter, ver- gen Fotografie suggerieren, war von de Zayas beabsichtigt. So
wischter oder in Claire-obscure-Manier fotografierter Landschaf- unterstellt seine Beschreibung von Picassos Verzicht auf Per·
ten finden sich 1910, in Heft Nr. 32, plötzlich zwei Abbildungen spektive ganz dire kt eine Verwandtschaft zur Transzendierung
von Aktzeichungen, die mit hartem Strich die Formen der Kör· des Bildraums durch Unschärfe-Effekte . Vergleicht m an den Pi-
per umreißen. Weniger die Tatsache, daß in einer der Fotografie casso-Aufsatz m it einem Text über Steichen , den de Zayas zwei
gewidmeten Zeitschrift auf einmal Zeichnungen auftauchen. als Jahre später in derselben Zeitschrift unter dem Titel Photography
vielmehr deren Stil erscheint zuerst völlig unverständlich. Auch and Artistic-Photography drucken ließ, w ird noch augenfälliger,
das Argument, Stieglitz habe auf diesem Weg versucht, die (bild- w ie sehr hier bildnerische Ansätze enggeführt werden, die die
mäßige) Fotografie auf dieselbe Stufe z u stellen wie die Avant· Geschichtsschreibung moderner Kunst später nie wieder zusam-
garde-Kunst, überzeugt nicht, da aufgrundder starken formalen menbrachte. Hatte de Z ayas festgestellt, Picasso zeige, wie Licht
Divergenzen zwischen den Fotografien und den Matisse-Zeich- und Form in seinem Kopf vearbeitet würden, womit das jewei-
nungen der gegenteilige Schluß genauso möglich gewesen wäre. lige Bild »synthetischer Ausdruck seiner Empfindungen« sei 96 , so
Zudem war Matisse in jenen Jahren selbst noch keineswegs als schreibt er über Steichen, dessen fotografische Leistung bestehe
Großmeister der Moderne anerkannt, vermochte also nicht un- darin, »die völlige Verschmelzung von Subjekt und Objekt aus-
bedingt als Statussymbol für Stieglitz u nd seine Zeitschrift zu zudrücken«.97
fungiere n. Solche Gleichsetzungen m achen deutlich, daß die Geste der
Es blieb nicht bei diesem Einzelfall: Nachdem 19u neben Ro- Autonomisierung mehr zählte als das jeweilige Formklima. Das
din-Fotos von Steichen Aktzeichungen des Bildhauers veröffent- Bedürfnis nach Bildern, die anders waren als das, was sich der
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Wahrnehmung normalerweise der auf Stimmungsbilder ausgerichteten Haager Schule der Land·
bot , fü hrte dazu, daß scheinbar Schaftsmalerei verpflichtet. Seine theoretischen Grundsätze, mit
unüberbrückbare stilistische Dif- denen er später seine abstrakten Bildordnungen legitimierte, for·
ferenzen überspielt werden konn- mierten sich ebenfalls bereits in dieser frühen Phase - und damit
ten. Wo man sonst aus historischer einmal mehr ausgehend von der Landschaftsmalerei. Daß er
Distanz zu Nivellierungen neigt schließl ich der strengen Linie und klaren Kontrasten gegenüber
und gem einsa me Tendenzen in aufgelösten Konturen und zarten Abtönungen den Vorzug gab,
verschiedenen Bereichen zu e nt· bedeutete keine Abkehr von romantisc hen, symbolistischen
decken vermag, ist es hier also um- oder eskapistischen lntentionen, sondern geschah aus der Über·
gekehrt, und man erken nt heute zeugung heraus, damit dasselbe Ziel besser erreichen zu können.
nur noch schwer, was von Bildern Wie sehr Mondrian diesen AnHingen t reu blieb, macht einer
ehedem - über heterogene Strö· seiner zentralen Texte, der Trialog Natürlicl1e und abstrakte ReaLi·
mungen hinweg- erwartet wurde tät (19I9 ho) deutlich. Das Gespräch zwischen einem Kunstlieb·
und was sie jeweils auf ihre Art zu haber, einem naturalistischen Maler der alten Schule und einem
erfüllen versuchten. abstrakten Maler, dem Alterego Mondrians, beginnt nämlich
Matthijs Maris: Siska ( 1890) Da die Sehnsucht nach dem auf dem Land, bei Nacht und Mondschein und vor einem weiten
Ausnahmezustand die versch iede- Horizont. Der abst rakte Maler begeistert sich z uerst über die
nen Richtungen einte, warestrotz aller Konkurrenz sogar nahe- Ruhe, die eine solche Landschaftsstimmung auszeichnet, und er-
liegend, daß sich Koalitionen zwischen ihnen bildeten : Eine Ei· klärt es dann zum Z iel, dieselbe Ruhe in seinen Bildern zu schaf-
nigung auf eine bestimmte Bildsprache war nicht erforderlich, fen. Sie wird im übrigen als Harmonie und damit wiederum in
solange man sich primär ex negativo definierte und das gemein· musika lischen Termini beschrieben: Von Tönen, Kompositio·
sameZiel im Dementi des Alltäglichen und Gewohnten sah. Da· nen und Symphonien ist die Rede, womit die Werke einer nach
bei wären sogar scheinbar noch entlegenere Verbindungen als Autonomie strebenden Kunst - wie schon bei Whistler - zwar
zwischen Steichen und Picasso möglich gewesen. Etwa beruht von der Natur inspiriert, aber unabhängig von dieser sein sollen.
Pier Mondrians abstraktes Bildprinzip ebenfalls auf romantisch· Die Ruhe der Gesprächspartner wird im weiteren jedoch ge·
antimodernen Grundlagen, und sein Werk der beiden ersten stört, freilich nicht einmal durch Elemente der Zivilisation, son·
Jahrzehnte des 2o. j ahrhunderrs ist eigentlich nur ei ne konse· dern durch ei ne Baumgru ppe, die die Horizontlinie unterbricht.
quenre Fortführung dessen , was mit Unschärfen begonnen hatte. Der abstrakte Maler erblickt darin »das Launische, das Fratzen·
So waren etliche seiner frühen Bilder von einer symbolistischen hafte der Natur«, das er auch als »tragisch« empfindet, da es ab·
Bildsprache, vor allem von dem seinerzeit einflu ßreichen Matt· lenkt und gegen die •Anspruchslosigkeit< verstößt. Am liebsten
hijs Maris und dessen Sfumaro beeinflußt, während andere Arbei- würde er diese Gruppe loswerden , so wie Friedrich die Schiffe
ten verblüffende Ähnlichkeit zu gleichzeitig entstandenen Gemäl- übermalte, um den Blick in die Ferne durch nichts irritieren zu
den Edward Steichens aufwiesen. Insgesamt deckte Mondrian das lassen. Um so erleichterter sind die drei Protagonisten, als sie die
gesamte Repertoire zeittypischer Sujets ab und blieb mit Mond· Bäume hinter sich haben und über eine Sandebene spazieren, die
schein, Dämmerung sowie einsamen und weiten Landschaften vom klaren Sternenhi mmel überwölbt wird. Oie Ruhe, die sie
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nun erfahren, ist vollkommen, aus der Landschaft ist alles ver- garde-Künstler hatten sich nie bloß gegen die Welt, sondern
schwunden - genau so wie es der abstrakte Maler als Ziel der ebenso gegen die eigene Tradition zu stellen; nur ein Werk, das
Kunst anvisiert. Für ihn bedeutet die >>abstrakte ästhetische Be· innerhalb der Geschichte der Kunst eine Ausnahme darstellte,
trachtung [ ...],sich bewußt dem Universalen zu vermählen«, al- kon nte auch sonst ein überzeugendes Dementi bieten. >>Die
les Einzelne und Alltägliche hinter sich zu lassen und die Chance Avantgarde versetzt das Kunstwerk in einen Ausnahmezustand,
zu haben, >>die verschiedenen Momente der Betrachtung in ein wie der Krieg den Menschen in einen Ausnahmezustand ver·
einziges Moment, in eine ununterbrochene Betrachtung überzu- setzt«, bemerkt Boris Groys und stellt weiter fest, daß man in der
führen<<. jegliche Ablenkung ist eliminiert, für Mondrian der Moderne nur den Ausnahmezustand als wahr - als Kontrast
>>Idealzustand« und >>fortgesetztes Glück«. 98 zum verlogen-oberflächlichen Alltag - akzeptiert. 100 Insofern er
Bis dahin sei jedoch ein »Kampf« auszufechten, wie Mondrian Dringlichkeit verheißt und alles Gewöhnliche zu relativieren
anderswo klagte, müsse doch erst die »gewöhnliche Sichtweise« vermag, das dann pauschal beliebig und oberflächlich erscheint,
transzendiert werden, die gerade >>nach der detaillierten Abbil- postuliert der Ausnahmezustand für sich selbst auch absolute
dung« verlange. Auch hier wird also der Alltagswelt der Krieg er- Geltung- und damit letztbegründete Wahrheit. Kunst, die auf
klärt, der im übrigen nicht zu gewinnen ist, solange man sichle- sich hält, muß sich daher in einer Rhetorik der Irritation und
diglich in Weichzeichnung und Halbtönen übt; vielmehr verlangt Provokation, besser sogar noch als Schock präsentieren. Dann
Mondrian , daß die äußere Welt auf dem Bild zuerst »gestrafft« wird sie ebenso zum Protest wie zur Gegenwelt, kann aggressiv
werde, um dann in der Strenge gerader Linien und flächiger Pri- und >anspruchslos<zugleich sein.
märfarben aufzugehen! 9 So führt die Entwicklung von Mondri- So große Aufgaben drohten die Kunstjedoch auch zu überfor-
ans Werk anschaulich vor, wie weit man sich gerade dann von dern. Aufjeden Fall ist die Idee des Ausnahmezustands ein Indiz
Unschärfe-Effekten entfernen konnte- oder mußte? - , wenn man dafür, daß Bilder in der Moderne eine starke Legitimation benö-
den Grundsätzen treu blieb, die diese Effekte zuerst veranlaßt tig ten - und nur akzeptiert wurden, wenn sie mehr boten als ein
hatten. Das Dementi der Alltäglichkeit ist erst dann markant ge- blo[ks Abbild der äußeren Realität, anderes waren als eine di-
nug, die >Anspruchslosigkeit< erst dann umfassend erreicht, wenn daktische oder unterhaltsame Angelegenheit. Dieser gestiegene
alle Verbindungen zur äußeren Welt gekappt, alle Gegenstands- Legiti mationsdruck auf die bildende Kunst erfolgte aber nicht
bezüge verschwunden sind. Mondrians Bildsprache bedeutet so- nur wegen der Konkurrenz zur Musik; vielmehr spiegelt er
mit keinen Gegensatz zur Bildsprache Whistlers oder Steichens, ebenso die heimliche Macht einer bilderfeindlichen - oder zu-
sondern ist deren konsequente Steigerung oder auch- so hätten mindest bilderskeptischen- Tradition: Unterlag schon die Ver-
es die abstrakten Künstler selbst beschrieben - eine Besinnung weigerung von Staffage und Erzählung in der romantischen
auf den Ursprung: Während unscharfe Bilder gleichsam auf der Landschaftsmalerei nicht zuletzt dem Einfluß pietistischer As·
Ebene des Atmosphärischen blieben - ihre Orientierung galt dem kese10 ', so kam in unscharfen und zunehmend abstrakten Bildern
Musikerleben -,benannte die Abstraktion dessen Elemente und erst recht eine protestantische Haltung zum Ausdruck. Dazu
verhieß damit eine Auseinandersetzung mit der Partitur der Welt. paßt, daß etwa Mondrian einer streng calvinistischen Familie
In der Klassischen Moderne war eine solche Radikalisierung entstammte; Protagonisten der >Unscharfen Richtung< (z. ß. Ger-
bereits angelegt, da sich alles zuerst Neue selbst zu etablieren trude Käsebier) waren Quäker oder standen dem Pietismus nahe.
drohte und daher wiederum überboten werden mußte. Avant.- Für sie alle war es nur deshalb vertretbar, Kunst zu machen, weil
So Sr
sie Bilder als Ausnahme, als Ort sowohl von Protest wie auch
von Utopie - und keinesfalls als Lust oder Luxus - verstanden.
Die Aufwertung der (bildenden) Kunst, ihre Indienstnahme für
hehre Ziele ist somit nicht etwa ein Liebesbeweis, sondern im
Gegenteil eine Strategie, schlechtem Gewissen sowie einem Un-
behagen an einfach nur schönen Bildern entgegenzuwirken.
Daß Bildermachen etwas Gutes, Wichtiges, geradezu Revolu- DIE WA H RH EIT IM WAHR NEHM EN
tionäres sein könne, daß man aber ohne den Glauben an d ie ei-
gene Mission keine Bilder machen dürfe, war für das Selbstver- Diente die Weichzeichnung oft dazu, der Tautologie des Äußerli-
ständnis der Pioniere der Klassischen Moderne grundlegend. chen zu entkommen und das Sujet auf das Wesentliche, sonst
Ohne deren tief verborgene Ablehnung von Bildern wären· diese Übersehene zu reduzieren, konnten Unschärfe-Effekte noch auf
vermutlich jedoch nicht nur von solch hohen Ambitionen ver- andere Weise als >wahr< gelten. Dann folgten sie einem Nach-
schont geblieben, sondern die Ansprüche ihnen gegenüber hätten ahmungsgebot, das in der zweiten Hälfte des 19.jahrhunderts an
sich auch in einer anderen Ästhetik niedergeschlagen -vielleicht Bedeutung gewann, als immer mehr Künstler ihre Empfindun-
eher in mimetischen Überbietungsleistungen oder zunehmender gen und Eindrücke zum eigentlichen Sujet der Kunst erklärten:
Komplexität und Vielschichtigkeit, und nicht in Unschärfen und Die möglichst genaue Wiedergabe von Wahrnehmungsbildern -
Reduktionen, die a.ußer von hochmoralischen Absichten ebenso und nicht des Wahrgenommenen - wurde ihnen nun zu einer
von einem unausgesprochenen ikonoklastischen Bedürfnis moti- zentralen Aufgabe.
viert waren: Bildverehrung und Bildverachtung fanden zuerst in Dazu ließen sie sich auch auf aktuelle naturwissenschaftliche
der Unschärfe, dann in der Abstraktion ihren gemeinsamen Aus- Wahrnehmungstheorien ein, in denen mehrheitlich schon seit
druck. dem frühen 19.jahrhundert die Auffassung vertreten wurde, daß
man Reize nicht nur passiv rezipiere , sondern im Wahrneh-
mungsprozeß ordne und filtere .102 Dabei werde Unwichtiges aus-
geblendet und sei höchstens verschwommen präsent, hieß es,
was natürlich auch die Debatte über Unschärfe beeinflußte. De-
ren Befürworter - Kunsttheoretiker und Fotografen - beriefen
sich etwa au f Forschungen von Hermann Helmholtz, einem der
bekanntesten Naturwissenschaftler des 19.)ahrhunderts, der
darauf einging, wie sehr die Wahrnehmung von den jeweiligen
Interessen des Wahrnehmenden abhänge und entsprechend se-
lektiv sowie insgesamt ungenau und >unscharf( stattfinde: »Was
uns interessirt, blicken wir an und sehen es scharf; was wir nicht
scharf sehen, interessiert uns der Regel nach in dem Augenblicke
auch nicht, wir beachten es nicht, und bemerken nicht d ie Un-
deutlichkeit seines Bildes«. 103
Grundsätzlich gibt es zwei Wege, aus diesem Prinzip optischer die Erfahrung von Schönheit wie auch die Produktion von Kunst
Wahrnehmung Maximen künstlerischer Praxis abzuleiten. So - möglich ist, wenn der Rezipient oder Künstler sich von keiner
kann es ein Ziel sein, mit besonders stark entwickelten Interessen Zwecksetzung - keinem spezifischen Interesse - leiten läßt.
ein Wahrnehmungsbild zu gewinnen, das dem anderer Menschen Schopenhauer radikalisierte diese Theorie, indem er Kunst als
an Kla rheit oder Erkenntniskraft überlegen und rein auf die- ei· Ergebnis völliger Willenlosigkeit und damit als etwas definierte,
gensfreizulegende - Wahrheitder Dinge konzentriert sein solL das jenseits alltäglicher Bindungen entsteht und den Rezipienten
Schon die Aneignung der Au[~enwelt ist dann davon gekennzeich· ebenfalls aus seiner zweckorientierten Welt holt. Schopenhauers
net, gewohnte - vermeintlich oberflächliche - Sehweisen auszu- Maßstab aller Kunst war dabei einmal mehr die Instrumental-
schalten und das Bedürfnis nach dem ganz Anderen - nach Aus- musik, die jeglichen Gegenstandsbezug überwunden hat und die
nahmezustand - auszudrücken, zugleich aber Ansatzpunkte fü r empirische Welt vollständig auszublenden vermag.
eine neue - wahrere - Weltordnung zu artikulieren. Der weitere Wichtig ist in diesem Zusammenhang auchjohn Ruskins be-
Verlauf der Geschichte moderner Kunst belegt diese Unterwer· rühmtes Postulat des »unschuldigen Auges«, demzufolge es die
fung der Wahrnehmung unter jeweils eigene Form- und Stilinter· Aufgabe des Künstlers ist, jenen Zustand der Interesselosigkeit
essen, und hier begann auch, was erst im 2o.j ahrhundert explizit zu erlangen, um die Wahrnehmung an ihrem Ursprung - dem
werden sollte, nämlich die zunehmende Verlagerung künstleri· reinen Reiz- zu erfahren. Wahrheit besitzt für Ruskin allein
scher Begabung vom Schaffensakt in den Blick. diese Phase des Wahrnehmungsakts, und der Künsder zeichnet
Im I9.Jahrhundert allerdings bezogen sich viele Künstler auf sich dadurch aus, einseitige Interpretationen des Wahrge nom·
andere Weise auf die vorherrschenden Wahrnehmungstheorien. menen zu vermeiden und sein ursprüngliches, pures Wahrneh-
Sie versuchten, sich beim Wahrnehmen gar nicht mehr von mungsbild als Zeichnung oder Gemälde wiedergeben zu können .
einzelnen Interessen und Intentionen leiten zu lassen, um ein Für Ruskin, tief in romantischen Traditionen stehend, kehrt
Wahrnehmungsbild zu erhalten, das die reinen Reize noch vor der Künstler in den Zustand eines Kinds zurück, das noch keine
jeglichem Deutungsakt - und damit frei von Subjektivität - kon- gesellschaftlichen Sehkonvemionen gelernt hat. (Vielleicht ist es
serviert. Ein solches Bild durfte, folgte man Helmholtz, nirgends auch ein Reflex auf Ruskin, wenn Caffin ein zwölfjähriges Kind
mehr scharf konturiert sein; dieser hatte sogar eigens bemerkt, die Exponate der von ihm aufgebauten Ausstellung testen ließ -
reine Reize seien konturlose Flecke u nd ein »Aggregat fa rbiger und vielleicht konnte nur ein >Unschuldiges< Mädchen das ab-
Flächen«. 104 strakteste, am wenigsten scharfe, flächigste Bild, nämlich Stei-
Die Idee, sich von Intentionen und ei ner aufWeniges konzen· chens Foto, zum Sieger küren?) Auch ein Blinder, der plötzlich
trierten Wahrnehmung freizumachen, entsprang oft einer defen- sehen könnte, wäre für Ruskin rein den Reizen ausgesetzt und
siven Orientierung: Der Wunsch nach Ruhe sowie nach Distanz verfügte über ein unschuldiges, nicht von Deutungswillkür ge-
zum Alltäglichen war in diesem Fall nicht mit dem Drang zu Re· lenktes Auge: •Unsere Wahrnehmung fester Körpe r ist aus-
volution gekoppelt; vielmehr genügte es, wenn der aufnichts Be· schließlich Sache der Erfahrung. Wir sehen nichts als Farben in
stirnrotes fixierte - losgelöste - Blick die Rückkehr des betrach· der Fläche.[.. .) Die ganze technische Seite der Malerei hängt da-
tend-reflektierenden Individuums zu sich selbst erlaubte. Dabei von ab, ob es uns gelingt, das wiederzuerlangen, was ich die Un-
wirkte Kams berühmte Formel vom »interesselosen Wohlgefal- schuld des Auges nennen möchte. Damit meine ich eine Art von
len« nach, derzufolge nur dann ein ästhetisch-freies Verhältnis- kindlicher Wahrnehmung dieser Farbflecken so, wie sie sind,
ohne jedes Bewußtsein dessen, dem Verlangen nach >Anspr uchslosigkeit<- und daher mit anti·
was sie bedeuten«.' 05 modernen Ressentiments: Da ih m Zeit und Ruhe unabdingbar
Ocr ei nzige Maler, der da rin , schienen, um das Wahrnehmen beobachten und in den Zustand
Ruskin zufolge, Erfolg hatte, war der Unschuld zurückführen zu können. war ihm die Beschleuni-
W illi am Tu rne r. Z umal desse n gung des alltäglichen Lebens, w ie sie die Industrialisieru ng und
späteres Werk als gesteigerte An · insbesondere der Eisenbahnverkehr m it sich brachte n, Anlaß zu
strengung erscheint, gegenstands- Sorge und laute r Kri tik. Damit ve rbinden sich zwei scheinbar
fixierte Wahrnehmungskonven- gegensätzliche Impulse auf eine für das 19. j ahrhundert bezeich-
tionen z u bekämpfen und zum nende Weise: Wissenschaftliche Genauigkeit, die verlangt,
>reinen< Sehen (zurück)zufinden. Wahrnehmung von allen persönlichen Deutungen zu reinigen
Die Wiedergabe der un m ittelba- und auf Reize zu reduzieren, fällt mit einer roma ntischen
ren Sinneseindrücke forcierte Thr- Attitüde zusammen, derzufolge es geboten ist, sich dem verderb-
ner etwa dadurch, daß er sich ex- lichen Einfluß der Gesellschaft, allen nachträglichen Konven-
tremen Situationen aussetzte, fü r tione n zu entziehen . Eine Mechanisierung des Sehens und d ie
William Turner: Licht und Farbe die möglichst keine Sehgewoh n- Unschuld des Auges we rden zu Äquivalenten.'06
(GoeLhes Theo rie) (um 1843) heiten existierten und in denen es Bei Turner wie auch bei nachfolgenden, verwandten Richtun-
leichte r sein sollte, allein au f Licht-, gen (Impressionismus, Pointillismus und Neoimpressionismus)
Parb- und Bewegungsphänomene zu achten. Zu malen, was er ka m dabei erneut der Erfahrung von Landschaft und Natur eine
sehe, und nicht, was er wisse, de klarierte Turner als sein Ziel, vorbildhafte Rolle zu . Offenbar war es hier am leichteste n mög-
was manchmal zu nahezu gegen standslosen Bildfläc hen in lich, sich von Konventionen zu lösen und das Wahrgenommene
wechselnden Farbschattierungen führte . Daß sich der dreidi- frei von Deutungen, als Folge reiner Farb- und Formempfmdu n-
mensionale Illusionsraum hierbei zum Abbild des zweidimensio- gen zu erfahren. Bei anderen Sujets hingegen drohte sich das ab-
nalen Netzhautbilds verkürzt, verdeutlicht die kopernikan ische strahierende Sehen - die Bemühung um ein >unschuldiges Auge<
Wende innerhalb der Kunst (und Kunsttheorie) des I9.Jahrhun- - selbst w ieder schuldig z u machen, konnte es doch als un-
derts am besten: Nicht mehr den Sujets de r Wahrneh mung, son- menschlich erscheinen, wen n alles ausgesch lossen wurde, was
de rn der Wahrnehmung selbst g ilt die Aufmerksam keit der das Verhältnis des Gesehenen zum Sehenden - und da m it die Be-
Künstler, die ihren eigenen Sinnesapparat zum Gegenstand viel- deutung - betraf. Bekannt ist etwa, wie Monet erschrak und sich
fä ltiger Experim ente und Exerzitien machen, um ihn besser zu schämte, als ihm bewußt w urde, daß er seine soeben verstor-
durchscha uen und um das >norma le<, n icht eigens reflektierte bene Frau nicht als geliebten Menschen wahrnahm, sondern
Wahrnehmen zu übe rlisten. statt ihres Gesichts nu r schematisch ei ne Reihe von Farbabstu-
Abermals wurde som it ein Ausnah mezustand gesucht , aus fungen regisrricrte. In diesem Moment empfand er seine Art des
dem heraus wahre Bilder entstehen sollten, wäh rend man alles Sehens als »deformation professionelle« u nd selbst bloß wieder
außerhalb des Irregulären und Exzeptioneliio ls schuldig und als eine Konvention, die sich gar noch rigider und schematischer
falsch abwehrte. Gerade bei Ruskin verband sich die Sehnsucht - ma nischer - äußerte als die Konventionen, die er damit hatte
nac h einem Ursprung jenseits von Ra u m und Bedeutung m it überwinden wollen.' 07
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Monets Blick ist ebenso asozial wie der des Protagonisten in - gleichsam digitalen - Wechsel
Ram6n y Cajals schon genannter Erzählung, und in beiden von Schwarz und Weiß, der die
Fällen wird eine harmonische, einheitliche und damit universell Zeichnung aus der Nähe ganz ab-
gültige Erfahrung der Welt erst durch den Wechsel von einem st rakt, aus größerer Entfernung
menschlich-interessierten zu einem abstrakt-mechanischen Se- als Ensemble gege nstandsähn-
hen möglich. Die Wahrheit der Kunst mußte Monet also teuer licher Schem en erscheinen läßt,
erkaufen, was den Topos des kompromißlosen Künstlers bedient, die flirrend ineinande r überge-
der für seinen Ruhm Opfer zu bringen hat. Tatsächlich ist das hen . Ohne den jeweiligen Bildti-
Opfer-Motiv in zahlreichen kunsttheoretischen Texten der Klas- tel könnte der Betrachter manch-
sischen Moderne präsent. Von •sacrifices necessaires« sprach Ro- mal nicht e inmal vermuten,
ben de la Sizeranne bezogen auf Bilddetails108, und eine Genera- welche Suj ets in der porösen
tion später verlangte Paul Signac, daß ein Maler zu r Steigerung Oberfläche des Papiers verbor-
der Qualität seiner Bilder nicht nur •unnütze Einzelheiten« (•les gen sind. Wo sich aus der Distanz
details inutiles«), sondern alles opfern müsse, was mit Inhalt und eine Grenze zwischen zw ei Ge-
Bedeutung zu tun habe, um sich allein auf die formalen Aspekte · ge nständen o der Bildebenen
zu konzentrieren: »Das Genie vereinfacht, schließt aus, opfert«. 109 zeigt, macht Seurat keinerlei An· Georges Se ur~t : Stltdie zu »La GrandeJatte<•
Wie gut die künstlerische Vision eines >unschuldigen Auges< deutungen einer Kontur und (1884/tl5)
mit dem Impetus der Naturwissenschaft vereinbar war, läßt sich scheint die Kreideführung auch
auch am Werk von Georges Seurat studieren. Um sicherzugehen, nicht zu verändern, so als habe er tatsächlich jedes gegenständ-
auf jeden Fall an den letzten Ursprung des Wahrnehmens ge- liche Sehen überwunden. Von nah betrachtet, g ibt es also nur
langt zu sein, malten er und die Pointillisten ihre Bilder in stren- ganz leichte, nicht bewußt gesetzt wirkende Übergänge, wes-
ger Abstimmung m it wahrneh mungspsychologischen Leh re n. halb sich die Bildgegenstände selbst aus der Ferne noch ineinan -
Der Kult des reinen Farbr~izes brachte sie auf Gemälde, deren der verlieren. Sie sind w ie Lichtphänomene oder Gespenster und
Sujets jeweils erst im Auge des Betrachters entstehen sollten; so scheinen der Schwerkraft entzogen.
setzte man etwa Farbpunkte im Komplementärkontrast neben- Sowenig jemand wie Seurat einen Widerspruch zwischen
einander, um flimmernde Effekte - eine Auflösung schwerer Wissenschaft und Kunst sah, so wenig störte das Nebeneinander
Farbe in Licht - zu erreichen." 0 beider Autoritäten auch diejenigen, die jenen anderen Weg gin-
Noch stärkere Spielarten von Unschärfe erzielte Seurat a ls gen und als Kilnstier einen möglichst prägnanten, eigentüm-
Zeichner. Auf einigen Blättern werden die Sujets sogar fa st un- lichen - interessierten - Blick auszubilden versuchten , um die
kenntlich, und die Faktur wirkt mechanisch, da kaum noch ein- noch unbestimmten Reize zu sta rken, 1wesentlichen< Bildern
zelne Striche zu unterscheiden sind. Georges Seurat verwendete auszugestalten . Dies lief freilich einmal mehr auf eine Detail-
grobkörniges Michallon-Papier, bei dem die Krei4_e abhängig da- reduktion - und damit wiederum au f ein Plädoyer fü r Unschär-
von, wie stark sie aufgedrückt wird, entweder nur'auf der Ober- fe -Effekte - h inaus. So konnte man sich auf Helmholtz oder
fläche des Blatts oder aber flächendeckend Spuren hinterläßt. verwandte Positionen berufen, wollte man begründen, daß On-
Statt verschiedener Grauabstufungen gibt es somit lediglich den schärfen - als Mechanismen der Ausblendung von Unwichtigem
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- »physiologische Berechtigung« besä(\en." ' Insbesondere Für· (und andere T heoretiker) zwischen diesen beiden Begründun-
sprecherder >unscharfen Richtung< fanden hier ei n willkomme· gen für Unschärfe wiederum nicht trennen, mag ein H inweis
nes Argumenr und machten sich auch gar nicht die Mühe, die da rauf sein, wie sekundär Argumente oft sind : Man schiebt sie
kunstspezifische Begründung der Unschärfe davon zu trennen: nach, um eine umstrittene Bildsprache zu nobilitieren, und nur
Willi Warstat, über lange Zeit einer der eifrigsten Wortführer selten - wie beim Pointillismus - sind es Theorien, aus denen
der bildmäßigen Fotografie, bezeichnete scharfe (»rohe«) Fotos bestimmte Stilmittel erst abgeleitet werden. Freilich belegt das
in einem Atemzug als »nicht nur unkünstlerisch, sondern gera- Nebeneinander unterschiedliche r Argu mentationsrichtu ngen
dezu unnatürlich•, da sie den »physiologischen und psychologi- im Fall der Unschärfe nicht nur deren Komplexität - ähnliche Ef-
schen Vorgängen« widersprächen.m fekte dienen verschiedenen Zwecken - , sondern zeugt auch da-
Neben etlichen Aufsätzen und Kapiteln in fototheoretischen von, daß es möglichst mehrerer Autoritäten bedurfte, um die
Werken widmete Warstar diesem Thema 1909 sogar ein eigenes Skepsis gegen etwas Verwischtes, Blässliches oder Konturloses
Buch (Allgemeine Äs thetik der photographischen Kunst aufpsychologi- zu mildern.
scher Grundlage), das das Ziel verfolgte, scharfe, deta il lierte Bil- Dabei machte eine naturwissenschaftlich fund ierte Argu-
der als widernatürlich - und zugleich ku nstlos - auszuweisen. mentation besonders viel Eindruck, weshalb Kritiker der >Un·
Nicht die getreue Wiedergabe der Natur, sondern die Wieder- scharfen Richtung• ihrerseits versuchten, bereits auf der Ebene
gabe des persönlichen Eindruc ks der Natur sei die Aufgabe der der Wahrnehmung und m it vermeintlich wissenschaftlich-empi·
(bildmäßigen) Potografic, und der Künstler unterscheide sich risc h fundierten Argumenten anzusetzen, um Schärfe als reali-
darin von anderen Menschen, daß er nur diejenigen Reize nach- tätsnahen Bildmodus rechtfertigen zu können. So hieß es 1891 in
bilde, »die von Gefühlswirkungen begleitet, d. h. ästhetisch wert· den Photographischen Mitteilungen, •wenn wir zu der Betrachtung
voll sind«. 113 Künstlerische Arbeit soll das in einer Wahrnehmung de r Natur zurückkehren, so werden wir nach scharfer [sie!)
angelegte Erfahrungspotential voll zur Entfaltung bringen, wo- Selbstbeobachtung finden, dass wir kaum einen Gegenstand ver-
mit exemplarisch und konzentriert geschieht, was in j edem schwommen sehen, sondern alle scharf und zwar sehr scharf«.
Wahrneh mungsprozeß stattfindet. Das Künstlerische ist nach Zwar wurde konzediert, daß man »eine Landschaft nicht mit ei-
dieser Auffassung eine gesteigerte Form des Natürlichen, näm· nem mal« überblicke, ihre Teile also nur »nach einander scharf
!ich eine gleichsam perfektionierte Detailunterdrückung. sehen« könne, doch fi nde »die Anpassung des Auges so ruhig
Allerdings ist zweifelhaft, wann eine Unschärfe noch den Mo· statt, dass wir[.. .) den Eindruck gewinnen, als wenn wir auf ein-
dus intensiven Wahrnehmens nachahmt, wann sie aber darüber mal ein grosses Bild scharf sähen«. 11• Allerdings blieben solche
hinausgeht und eher dem Ziel der Verfremdung dient. Der Rück- Beschreibungen des Wah rnehmens selten; mit ihnen war auch
griff auf wissenschaftliche Theorien lenkt von diesem weltver- keine weiter gehende Ambition verbunden, sondern sie besaßen
neinenden und ikonoklastischen Zug ab, und ebenso kommt da- allein die abwehrende Funktion, die aufkommende Mode un-
bei zu kurz, daß ein Effekt w ie die Weichzeichnung n icht nu r scharfer Bilder einzudämmen.
einer >natürlichen<Reizselektion entspricht und damit eine de- Umgekehrt ließ sich die Unschärfe dan k der Einbeziehung
fensive Funktion erfüllt, sondern, als Mittel der Harmonisieru ng, wahrnehmungsphysiologischer Erkenntnisse von dem Vorwurf
auch besser als anderes geeignet ist; jene >~Gefühlsw irkungeno: zu freisprechen, lediglich verunklärend zu wirken. Als Mittel gegen
übertragen und Stimmungsräull1~ zu erzeugen. Daß Warstar Reizüberflut ung, als Instrument, das filterte, unterdrückte, wer-
90
)! 91
tete und den Wahrnehmenden >knochige<Härte unvermittelter und nur aufkleine Bildpartien
davon entband , mehr wahr· beschränkter Schärfe[... ] gemildert wird«. 116 Es gab also eine
nehmen zu müssen, als ihn in· >gute< und eine weniger gute Unschärfe, wobei Kühnseigene Fo-
teressiert, konnte sie sogar tografien verdeutlichen, was er damit meinte. Aufihnen sind die
zum Hüter von Ordnung und Sujets zu Grundformen vereinfacht, und die Weichzeichnung
Klarheit ausgerufen werden. schafft, ande rs als etwa im Symbolismus, keine vagen, rätselhaf-
Dies galt gerade im deutsch· ten Partien- das wäre >wollig<-, sondern nimmt dem Bild im
sprachigen Raum viel, wo man Gegenteil jedes Element, das zu Spekulation oder Ablenkung
sich zwar für zu schöpferisch Anlaß geben könnte. Von den Personen sind nicht einmal die Ge·
hielt, um an feste Formen und siebter erkennbar, weshalb sich der Betrachter auch in keine Phy·
Regeln gebunden zu sein, wo siognomien vertiefen kann. Ebenso erzählt die Landschaft
man aber auch stolz auf angeb- nichts, enthält kaum mehr als eine Horizontlinie, die Himmel
lich spezifisch deurschc Tugen· und Erde voneinander trennt; Angaben über Jahreszeit, Sonnen·
den wie begriffliche Schärfe stand oder Wetter sind nicht möglich . So abstrakt-allgemein, wie
und Genauigkeit war. Entspre· die einzelnen Gegenstände erscheinen, verwirklicht sich tat·
chend wiesen Protagonisten sächlich jene Klarheit, die Kühn propagierte und die er als ty·
der bildmäßigen Fotografie pisch für die deutsche Bildtradition von Dürer und Holbein bis
Heinrich Kilhn : Fernblick (u m 1905 ) darauf hin, ein Stilmittel wie zu Leib! ansah.
die Weichzeichnung müsse Daß Kühns Fotos ofr Szenen im Freien und auf dem Land zei·
»für uns Deutsche« dahingehend ausgelegt werden, daß. •alle gen. ihre Titel gar Fernblick lauten. verrät auch den Wunsch,
kleinlichen Nebensächlichkeiten, die gleichgültig oder der großen Weire und Unendlichkeit der Natur, eine zeitlos-antimoderne Al-
Bildwirkung abträglich sind, zurückgedrängt werden. f...] Also ternative zum Stadtleben z u vermitteln und dem Betrachter
abgerundete, aber Ieiare Bilderscheinung; keine unsichere Ver· seine eigene Freiheit - und sei es nur die Freiheit der Reflexion-
schwommenheit!« bewußt zu machen. Rund ein Jahrhundert nach Adam Müller
Der FotografHeinrich Kühn, dem es hier eigens um die Ent· geht es um eine Fortsetzung romantischer Bildmuster mit den
wiekJu ng ei ner »deutschen Auffassung« des Komplexes >Un· Mitteln der Fotografie, geadelt durch den Beistand der Wissen·
schärfe< zu tun war, gehörte zugleich zu den wenigen, die es schaft. die das bevorzugte Formklima auch als das natürliche
überhaupt unternahmen, gen auer zwischen einzelnen Un· erweist. Doch sind die Foragrafien von Heinrich Kühn wirklich
schärfe-Effekten zu differenzieren . Es ist bezeichnend, daß ge· •wa hre- entsprechen sie den Bildern der Wahrnehmung?
rade der Nationalitätenstreit zu solchen Unterscheidungen moti·
vierte.'" So hob Kühn die »amerikanischen soft focus-Linien« als
zu äunertich und >>>wollige< Unschärfe« als ein Dokument >>süßli·
eher Weichlichkeit«, ja als Beleg für die »schwankende Unbestän·
digkeit einer internationalen, mondänen Mode« von den »weich·
zeichnenden Linien« ab, durch d,le »die direkt verletzende
92.
/
seine stilistische Heimat, und zusammen mit Hans Watzek und
Hugo Henneberg gehörte er bald zu den füh renden Mitgliedern
des Clubs, der auf allen wichtigen internationalen Foto-Ausstel-
lungen vertreten war. Auch zu den Hauptvertretern des ameri-
kanischen >pictorialism< besaß Kühn enge Kontakte, was ihn al-
DIESUCHE NACH DEN INNEREN BILDERN lerdings nicht daran hinderte, jene zitierte, vergleichsweise
chauvinistische »deutsche Auffa ssung« der Unschärfe zu prokla-
»lch entstamme einer Familie, die viele Bildhauer und Maler, dar- mieren .
unter Caspar David Friedrich, hervorgebracht hat, bin also mit Als Fototheoretiker trat Kühn verstärkt erst nach dem Ersten
Kunst erblich belastet. Vor vierzig Jahren habe ich Naturwissen- Weltkrieg an die Öffentlichkeit: Nachdem das Familienvermö-
schaften und Medizin studiert und [ ...) die unbestechlich' exakte gen Kriegsanleihen sowie der Nachkriegsinflation zum Opfer
Untersuchu ngsmethode kennengelernt, die skeptisch jedem Ver- gefa llen war, war er gezwungen, Geld zu verdienen, und suchte
suchsergebnis zunächst Mißtrauen entgegenbringt und erst zu- sich nicht zuletzt mit Beiträgen in Fotozeitschriften über Wasser
frieden ist, wenn alle Kontrolluntersuchungen das gleiche Resul- zu halten. Die darin (w ie auch in seinem Buch Technik der Licht-
tat zeitigen.« 111 Diese kurze autobiographische Skizze Heinrich bildnerei) vorgetragenen Argumente für die Unschärfe kommen
Kühns belegt einmal mehr eine >double bind<-Situation, die frei- also etwas verspätet, war die bildmäßige Fotografie doch längst
lich gar nicht als Problem gesehen wird: Er berief sich auf die nicht mehr lcgitimationsbedürftig; ihre Bildsprache hatte dank
Kunst und speziell die Romantik, war aber zugleich stolz auf aufla genstarker Foto-Ratgeber Popularität erlangt, u nd gerade
naturwissenschaftliche Kenntnisse und Arbeitsmethoden·. die Unschärfe war ein selbstverständliches Stilmittel gewor-
H einrich Küh n (1866-1944 ) gilt als der wichtigste Vertreter den.119 So boten die TexteKühnseher eine nachträgliche Erläute-
der bildmäßigen Fotografie im deutschsprachigen Raum - viel- rung, sind aber eine hervorragende Quelle für die Rekonstruk-
leicht gerade weil Kunstwollen und Wissenschaftsethos bei ihm tion einiger weltanschaulicher Hintergründe der >unscharfen
ausgeprägt au feinandertrafen. Einem großbürgerlichen Dresdner Richtung<.
Elternhaus entsta mmend, studierte er zuerst Medizin und war Vieles liest sich vertraut: Das Streben nach Einheit, der Wunsch,
wohl auch Hörer bei Helmholtz." 8 Die im Studium vorgesehene die >>Aufdringlichkeit« der Details in eine »Eindringlich keit« der
Beschäftigung mit Mikrofotografie veranlaßte ihn zu intensive- Bildwirkung zu verwandeln 120 , die Unterscheidung zwischen
ren fototechnischen Studien. Da er wohlhabend war, konnte er es »der äußeren, kalten, leblosen Wahrheit der Dinge und einem Su-
sich leisten, auf die Ausübung seines Berufs zu verzichten, der chen nach der inneren , subjektiv empfundenen Wahrheit«.lll
ihm ohnehin schwergefallen wäre, weil er an starkem Asthma Letztere war für Kühn jedoch gerade nicht gleichbedeutend mit
litt. So ließ sich Kühn als Amateurfotog raf in Innsbruck nieder; einer Wahrheit der Wahrnehmung. Als ebenso genauer wie am-
später zog er ganz aufs Land und mied das städtische Leben. bitionierter Beobac hter äußerte er sogar Zweifel, ob eine Foto -
Entscheidend wurde für ihn eine Ausstellung des »Wiener Ca- g rafie den Wahrnehmungsprozeß überhaupt nachbilden könne.
mera Club«, auf der, international angelegt, 1891 erstmals Arbei- Im Unterschied zum Auge sei sie nämlich nicht in der Lage, im-
ten von Fotografen zu sehen waren, die später zu den Protagoni- mer wieder neu zu fokussieren, sondern lege d ie Schärfe- und
sten der bildmäßigen Fotografie gehören sollten. Hier fand Kühn Unschärfeverteilung endgültig fest. Anders verhält es sich - so
94 95
Kühn - bei Vorstellungs- und Erinnerungsbildern: Da die ent- und läßt nichts in der Schwebe: »... ein Unterschied im Grade der
scheidenden Momente einer Wahrnehmung auf ihnen b ereits Schärfe, der so weit ginge, daß er die Deutlichkeit der einzelnen
fixiert seien, könnten Fotos ihnen auch eher entsprechen. Das Bildpartien unter sich auffallend abstufen würde, ist unbefriedi-
brachte Ki.ihn dazu, sein mimetisches Interesse au f die Wieder- gend.(...) Versucht m an aber, ein scharfes Grundbild durch ein
gabe der Bilder des >inneren Auges< zu lenken und nach Mög- weicheres zu überlagern, so kommt man dem natürlichen Ein-
üchkeiten z u suchen, sie fotografisch nachzuempfinden. Auch druc k viel näher«.
andere sahen in Vorstellungs- und Erin nerungsbildern die maß- Kühn experimentierte »einige dreißigja hre«, bis er sich sicher
gebliche Referenz fü r den Fotografen - und zugleich eine Legiti- war, die Technik zu kennen, m it der innere Bilder adäquat zu re-
mation fU r unscharfe Bilder. So war 1897 in der Photograpltisclten präsentieren sind. Es ist bezeichnend fü r ihn, fortwäh rend neue
Rundschau. zu lesen, »dass der Eindruck im Auge für u ns völlig Versuchsanordnungen entwickelt zu haben, um sich seinem Ab-
gleichgültig sei, dass wir nur nach dem geistigen Eindrucke ur- bi ldungsziel mit wissenschaftlicher Akribie zu nähern. Dabei
teilen, dessen abgeschwächtes Bild die Erinnerung ist, die uns bleibt die Auswahl seiner Sujets in all den Jahren seltsam gleich-
zeigt, wie wenig in Wahrheit alle die Nebensächlichkeiten aus förmig. Die Stilleben m it traditionellen Gegenständen wie Obst
dem Bilde im Auge in unser Gehirn aufgenommen werden«.'u oder Krügen, die ländlichen Szenen und vor allem die Personen
Tatsächlich wird immer wieder als typisch fü r >innere Bilder< wirken oft gestellt, was sie sogar etwas unheimlich, leblos und
hervorgehoben, daß die einzelnen Sujets zwar genau präsent ent rückt erscheinen läßt. Auf jeden Fall zeugt die häufige Wie-
sind, sich jedoch entziehen - gleichsam unscharf werden - , so- derhol ung derselben Themen von einer gewissen Verlegenheit -
bald die Aufmerksa mkeit darauf gerichtet wird. Auch Warstar als sei es Kühn weniger um die Motive als um die jeweilige Foto-
versuchte mit Verweis auf dieses Phänomen, der Unschärfe als technik gegangen . Vielleicht hat er sogar gezielt immer wieder
bildnerischem Mittel zusätzliche Rechtfertigung zu verschaffen ähnliche Bildkompositionen gesucht, um die Effekte der ver-
(wobei er anders als Kühn nicht streng zwischen Wahrneh- schiedenen fotografischen Verfahren besser vergleichen zu kön-
mungs- und Erinnerungsbild trennte): •Wir können sehr oft auf nen. Entsprechend verachtete er fotografische Laien, die ohne
die Frage nach gar nicht un wesentlichen Einzelheiten unserer großen Einsatz zu guten Bildern kommen wollten, und wetterte
täglichen Umgebung, nach der Farbe u nd dem Muster der Tape- gegen den >>Photobolschewismus« massenhaften Kn ipsertu ms.' 24
te n etwa, der Form und den Ornamenten bestimmter Möbel, Letztlich befriedigten ih n am meisten die Bilder, die mit ei-
nach Einzelheiten an der Kleidung uns nahestehender Personen nem bestimmten Objektiv au fgenommen waren, zu mal er sich.
keine genaueund bestimmte Auskunft geben«.' 23 Solange man nach anfangliehen Versuchen mit Gummidrucken, von allen re-
jedoch nicht mit einer solchen Frage konfrontiert ist, glaubt man tusc hierenden Techniken distanziert hatte. Die Besonderheit des
durchaus, ein um fassendes Bild ei ner Situation zu haben, und von Kühn favorisierten Objektivs bestand dari n, nicht korrigiert
empfindet die eigenen Erinnerungsbilder nicht als lückenhaft zu sein und insofern zwei Abbildungsfehler zu enthalten, die
oder zu unbestimmt. Muster, Designs oder Frisuren sind in der ei nfache Linsen immer erzeugen und die sich beide als Un-
Erinnerung da und zugleich nicht da. Dieser Zwischenzustand schärfe äußern. Man spricht hierbei von der chromatischen und
von An- und Abwesenheit verbietet es gemäß Kühn, die Haupt- der sphärischen Abweichung. Erstere ergibt sich da raus, daß das
sujets auf einem Foto scharf abz ubilden, das Übrige hingegen Licht durch die Linse in sein Spektrum zerlegt wird: Da die ein-
unscharf; d ann nämlich wertet der Fotograf bereits endgültig zelnen Farben des Spektrums einen leicht unterschiedlichen
97
Bren npunkt besitzen, kommt der Lichtstrahl nicht als scharfer
Punkt, sondern leicht zerstreut auf der Fotoplatte an. Folge ist
eine Unschärfe, bei der sich die Komuren etwas auflösen und alles
ein wenig verschwimmt. Die sphärische Abweichung hingegen
entsteht dadurch, daß parallel einfallende Lichtstrahlen abhängig
davon, wo sie auf der Linse auftreffen, unterschiedlich stark ge·
brochen werden (in der Linsenmitte geringer als am Rand), wes·
halb sie keinen gemeinsamen Brennpunkt haben. Unscharf wirkt
das Bild dann eher aufgrund eines Überlagerungseffekts; alles
bleibt zwar klar erkennbar, ist jedoch überblendet vom Licht der
Strahlen, deren Brennpunkt auf einer anderen Ebene liegt:
Damit ist eine Unschärfe möglich, die dem »natürlichen Ein·
druck<<- so Kühn - nahekommr: Alles ist gleichmäßig unscharf,
aber nicht zu verschwommen oder verwischt, sondern immer
noch deutlich erkennbar: Oie »Bildeinzelheiten Lbleiben] erhal·
ten, verlieren aber das Aufdringliche. Es ist der eigentümliche
Z ustand, daß man sie entdecken, aber auch übersehen kann«. Al Heinrich Kühn: Vordem I Taus (1912)
lerdings würde die sphärische Abweichung für sich allein irritie·
ren, da der Kontrast zwischen dem scharfen Bild und seiner druck (.. .] in eine klare und deshalb eindrucksvollere Form zu
Überlagerung zu stark ausfallen kann . Zu mildern ist diese Wir· fassen und eine Resonanz der Wucht des Natureindrucks vom
kung durch eine zusätzliche leichte Weichzeichnung der Linien, Beschauer zu erzwingcn«.' 1" Diese etwas martialische Formulie-
wie sie die chromatische Abweichung mit sich bringt. Daraus Iei· rung zeigt, daß Kühn die Qualität eines Werks danach bemaß,
tet Kühn eine ideale Kombination von Unschärfe-Effekten ab ob es >anstecken<und den Betrachter in dieselbe Stimmung hin·
und erklärt eine unkorrigierte Linse zum besten Instrument, das einziehen konnte, die auch den Künsder während des schöpferi·
Aussehen inne1·e1· Bilder zu simulieren: »Um die l larmonie des sehen Prozesses beherrschte. Ei nmal mehr verrät sich hier der
Vortrags zu sichern, wird also ein geringer, unauffalliger Grad Wunsch, bildende Kunst solle so unmittelbar und >zwingend<
chromatischer Unschärfe mit einem beträchtlich höheren Maße sein wie ein Stück Musik.
sphärischer Unterkorrektion gleichzeitig zu verwenden sein«.m Da eine möglichst perfekte Wiedergabe des Modus von 8rin·
So intensiv sich Kühn um die technische Seite der Fotografie nerungsbi ldern als Voraussetzungfüreine starke Wirkung - und
kümmerte - aus seinen vielen Beiträgen in Fotozeitschriften damit als Kriterium des Kunstcharakters - der Fotos galt, gab
spricht immer wieder der unermüdliche Tüfder -, so sehr sah er Kühn sich auch nicht mit Schwarz-Weiß-Techniken zufrieden.
seine Bilder doch zugleich als Kunst an. Dabei war er einem ex· Zwar heißt es von Erinnerungen, sie seien nicht so bunt wie die
pressionistischen Kunstbegriff verpflichtet und davon geleitet, realen Gegenstände, dennoch gelten sie nicht als farblos, son·
subjektives Empfinden nicht nur sichtbar, sondern für andere dern höchstens als verblaßt. So gehörte Kühn zu den ersten, die
auch nacherlebbar zu machen. Es gehe darum, »den erlebten Ein· mit farbfotografischen Verfahren experimentierten, welche zu
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Beginn des 2.o.jahrhunderts bereits erstaunliche Ergebnisse er- "Gewühl«, das Elemente verschiedener Sinne in sich birgt: Neben
brachten. Im Sommer 1907 traf er sich sogar mit Steichen und visuellen sind es ebenso akustische oder taktile Empfindungen,
Stieglitz, um das Potential einer auf die Gehrüder Lumicre zu- und auc h etwas später legt sich Stifter nicht eindeutig auf Bilder
rückgehenden Technik auszuloten. So überzeugend die damit fest, sondern charakterisiert das, was er in frühester Kindheit er-
erzielten Farbwerte sein mochten, so seh r wurde es für diese fuhr, allgemeiner als •Jammervolles, Unleidliches, dann Süßes,
Technikjedoch zum Problem, daß die Bilder nur als gefährdete Stillendes«w Damit ist die Unbestimmtheit des Erinnerten genau
Unikate auf Glas hergestellt werden konnten, die zudem von charakterisiert, und es wird bewußt, wie sehr Erinnerungen eher
hinten beleuchtet werden mußten, um ihre Wirkung zu entfal- ein synästhetisches als ein rein bildliebes Phänomen sind.
ten. Für eine Präsentation von Fotos in illuminierten Glaskästen In der berühmten Passage von Prousts A La recherche du temps
war die Zeit aber noch nicht reif, weshalb sich Kühn und seine perdu, in der der Erzähler berichtet, was der Geschmack einer Ma-
Mitstreiter nach einer kurzen Phase der Euphorie bald wieder de Ieine in Verbindung mit einem Löffel Tee bei ihm auslöse, geht
(weitgehend) auf Schwarz-Weiß-Techniken des Negativ-Positiv- es sogar eigens um die Zusammenhänge, die zwischen Erinne-
Verfahrens beschränkten. rungen verschiedener Sinnessphären bestehen. So gehört für
Kühns Interesse für Vorstellungs- und Erinnerungsbilder Proust zu einem Geschmack eine visuelle Erinnerung, die jedoch
dürfte auch von Tendenzen in der Literatur oder Psychologie be- als »allzu schwach erkennbare beschrieben wird: »Kaum nehme
einflußt gewesen sein. Schon im 19.jahrhundert untersuchte ich einen gestaltlosen Lichtschein wahr, in dem sich der ungreif-
man verschiedentlich das Phänomen des Sich-Erinnerns und be- barc Wirbel der Farben vermischt und verliert«. Die Form der Er-
schrieb den besonderen Charakter des Erinnerungsvermögens. innerung ist somit nicht identifizierbar, vielmehr geben sich Ge-
Kurz vor seinem Tod verfaßte etwa Adalbert Stifter eine kleine schmack und Bild als •unzertrennliche Gefahrtenc.118
Skizze. in der er seine ersten Erinnerungen zu rekonst ruieren Oie Unschärfe wird dieser Synästhesie insofern gerecht, als sie
unternahm. Auch wenn die Vokabel >unscharf< darin nicht vor- gerade kein Maximum an optischer Information bietet und die Su-
kommt, erweckt doch die gesamte Schilderung den Eindruck jets ihrer Individualität beraubt. Da der Rezip.ient daher nicht voll-
von beunruhigender Verschwommenheit: »Weit zurück in dem ständig von visuellen Assoziationen vereinnahmt wird, öffnet
leeren Nichts ist etwas wie Wonne und Entzücken, das gewaltig sich ihm das Abgebildete: Der Bildraum wird zum Stimmungs-
fassend, fast vernichtend in mein Wesen drang [. .. 1 Die Merk- raum, füllt sich mit zusätzlichen Dimensionen, und es lassen sich
male, die darin festgehalten wurden, sind: es war Glanz, es war Empfindungen anderer Sinne daran anknüpfen. Zugleich sugge-
Gewüh l, es war unten. (. ..1 Dann war etwas anderes, das sanft riert ein unscharfes Bild Verschwinden oder Auftauchen, in jedem
und lindernd durch mein Inneres ging. Das Merkmal ist: es wa- Fall aber einen Übergang zwischen Realität und Nichts, ein indefi-
ren Klänge. Dann schwamm ich in etwas Fächelndem, ich nites Dazwischen , so wie Stifter es mit seinen zu Hauptwörtern
schwamm hin und wider, es wurde immer weicher in m ir, dann transformierten Adjektiven ausdrückt. Tatsächlich regieren in ei-
wurde ich wie trunken, dann war nichts mehr«. ner unscharfen Welt die Eigenschaften, während die bestimmba-
Erst allmählich bilden sich aus solchen kleinen, vagen Erinne- ren Dinge, denen sie sonst zukommen, ausgelöscht sind.
rungsi nseln konkretere Eindrücke, schließlich bleiben benenn- Allerdings wurde auch bestritten, daß unscharfe Bilder- etwa
bare Gegenstände haften. Typisch für die ersten Erinnerungen ist die Fotografien von Heinrich Kühn - Erinnerungen zutreffend
aber gerade, daß sie noch keine Bilder sind, sondern eher jenes wiedergeben. Sprachanalytische Philosophen wie Wirtgenstein
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bezweifeln sogar, daß innerpsychische Zustände überhaupt reprä- scheinen läßt. Anstatt den Gesetzen der Schwerkraft unterwor-
sentierbar sind; vielmehr werden Ausdrücke wie >Erinnerungs- fen zu sein, soll das in diesem Modus Gezeigte also immateriel-
bild<oder >inneres Bild<von ihnen als Metaphern - Sprachspiele - ler Natur - ein mentales Ereignis - sein.
interpretiert. Das läßt es fraglich erscheinen, ob etwas wie ein Die Assoziation von Unschärfe mit dem Geistigen gelingt so
•inneres Bild< überhaupt jenseits seiner (sprachlichen) Explikation zuverlässig, daß sie sogar stattfindet, wenn keine ikonographi-
als Bild existiert. Entsprechend gilt jede Mimesis-Vorstellung - der sche Absicht vorliegt. Gerade in der Frühzeit der Fotografie, als
Glaube, man könne ein >inneres Bild<wie einen Apfel beschreiben das neue Medium ohnehin noch befremdete, bot es immer wie-
oder abbilden - als zu einfach oder auch völlig verfehlt, und jeder, der Stoff zu Spekulationen, wenn auf einem Bild unerwartet un-
der meint, ein Bild oder Foto könne grundsätzlich einer Erinne- scharfe Partien, Auflösungserscheinungen oder Schleierbildun-
rung oder Vorstellung entsprechen, scheint von jenen Metaphern gen auftraten. Anstatt generell Material-oder Enrwicldungsfehler
verführt zu sein - als Opfer einer fixen Idee. zu unterstellen, mutmaßte man lieber, der Apparat könnte mehr
Die Behauptung, da(~ Erinnerungsbilder bevorzugt unscharf als das dem menschlichen Auge Sichtbare aufgenommen haben.
seien, läßt sich dann ebenfalls als Folge einer naiven Metaphern- ln Verbindung mir okkultistischen Neigungen war es dann kein
gläubigkeit deuten: Redewendungen wie »unscha rfe Erinne- weiter Weg bis zu dem Glauben, die Fotografie sei dazu im-
rung«, »schwindendes Gedächtn is« oder »etwas vage im Ge- stande, nicht nur Erschein ungen, Visionen und die Geister Ver-
dächtnis haben«, aber auch Beispiele aus der Poesie129 verleiten storbener, sondern ebenso Gedanken, Erinnerungen und inner-
dazu, Erinnerungsbilder ihrerseits verschwommen , pastellig psychische Bilder und Z ustände aller Art festzuhalten. Auch hier
oder grobkörnig zu entwerfen. Wirtgenstein erwähnt sogar die- stimulierte die Entdeckung der Röntgen-Strahlen am Ende des
ses Beispiel, wenn er die Unmöglichkeit einer Ähnlich keits-Be- 19.jahrhunderts zu mancherlei Experimenten, die das Ziel ver-
ziehung zwischen innerpsychischen Vorgängen und deren exter- folgten, noch mehr •In neres< u nd endlich auch Immaterielles
ner Repräsentation erörtert. So bestreitet er, daß »man die sichtba r zu machen.
Erinnerung an ein Bild [ ...] durch dieses Bild in blassen Farben Zwischen naiver Faszination gegenüber der Fotografie, ernst-
gemalt darstellen kann. Die Blässe der Erinnerung ist etwas haften wissenschaftlichen Ambitionen und Betrug z u unter-
ganz anderes als die Blässe des gesehenen Farbtons und die Un- scheiden, ist dabei im Einzelfall - und erst recht im Rückblick -
klarheit des Sehens von anderer Art als die Verschwommenheit nicht immer einfach . Was heure alles gleichermaßen absurd oder
einer unscharfen Zeichnung«.130 verstiegen anmutet, mochte ehedem zum Teil du rchaus plau-
Somit ist es lediglich eine Konvention, wenn man unscharfe sibel erscheinen. Dennoch konnten Pioniere der Gedankenfoto-
Bilder als genauere Abbilder des Brinnerns schätzt denn scharfe grafie die Akademien und großen Autoritäten der Wissenschaft
Bilder. Die Unschärfe fungiert hier gleichsam als Code, was viel- nur selten von ihren vermeintlichen Sensationen überzeugen. 111
leicht bei Filmen am deutlichsten wird: Man hat gelernt, daß es jemand wie Hippolyte Baraduc erlangte also eher Popularität als
sich entweder um eine Rückblende - die Erinnerung eines Prot- Reputation, als er am Ende des 19. j ahrhunderts fluidische Aus-
agonisten - oder um einen Traum handeln muß, wenn die Bilder strahlungen dokumentierten wollte, indem er eine Fotoplatte
verschwommen oder weichgezeichnet sind. Gerne wird die Un- über der Schädeldecke oder auch in der Nähe der Hände pla-
schärfe dann noch m it Zeitlupe verknüpft, die Bewegungen in zierte; die Wirbel, Flecken oder anderen - jeweils sehr ver-
die Schwebe versetzt, was das Abgebildete ebenfalls wattig er- schwommenen- Erscheinungen, die sich nach Entwicklung der
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Platte zeigten, deutete er als auch von der Lust am Entdecken vermitteln, und gleichzeitig
Niederschlag von Emotionen wird ihm suggeriert, er dürfe Augenzeuge eines bedeutenden
oder Gedanken, glaubte also Moments sein. Unschärfe gerät hier zu einer Spielart des Erhabe-
Trauer, Zorn oder die Empfin- nen , mittlerweile oft noch durch kunstvolle Farbmanipulatio-
dungen während eines Gebets nen gesteigert.
darau f abgebildet zu sehen. Tatsächlich taucht in der gesamten Geschichte der Fotografie
Hier wi e bei anderen Versu- innerpsychischer Phänomene kein einziges Beispiel auf, das sein
chen einer Fotografie innerpsy· Sujet scharf zeigen w Urde. Gerade die vielen Scharlatane, die in
chischer Vorgänge öffnete sich diesem Bereich tätig waren, wußten genau, daß sie von vorn her·
Hyppolite Baraduc: den Interpreten dank de r Un- ein u m ihre Glaubwürdigkeit gebracht gewesen wären, hätten
lconographied'un b~rbtllonfl~dique (um 1896) schärfe eine Bühne, auf der sie sie auf Unschärfe-Effekte verzichtet. Diese waren als Konvention
sich als Wissenschaftler gerie- um so strenger einzuhalten, da jeder anderen Darstellungsform
ren konnten: Gerade weil eigentlich nichts auf den Bildern zu von Unsichtbarem eigens abverlangt worden wäre, ihre Richtig-
erkennen ist, imponiert es dem Laien, wenn ihm der mutmaßli- keit zu beweisen. Zwar galt dieselbe Beweislast grundsätzlich
che Fachmann erklärt, was jeweils abgebildet sei. Genau genom- auch fü r unscharfe Bilder, doch begegneten viele ihnen nicht
men staunt der Laie doppelt, nichtnur über das, was der Experte ganz so skeptisch, da sie sich dank der Uniformität ihres Ausse-
durch alle Unschärfen hindurch zu sehen vermag, sondern zu- hens gegenseitig stützten. Paradoxerweise stand also für Versu-
erst natürlich darüber, daß es überhaupt gelungen ist, so >schwie- che einer Mimesis des Unsichtbaren viel weniger Freiraum zur
rige• Sujets wie Gedanken oder Gefühle zu fotografieren . Die Verfügung als für die Abbildung des Sichtbaren: Während es
Unschärfe nährt dieses Staunen noch eigens, da sie den Betrach- zahllose Möglichkeiten gab, reale Gegenstände >richtig( zu ma-
ter nie vergessen läßt, was für einen ungeheuren Akt es bedeutet, len oder zu fotografieren, konnte das Unsichtbare immer nur auf
an sich Unsichtbares auf das Foto z u bannen. Welche Dramati k, eim: Weise dargestellt werden.
welche Finessen dahinter stehen, bis etwas der Unsichtbarkeit Allerdings hatten manche- w ie etwa der Wieocr Arzt Fried-
entrissen werden kann, würde nicht deutlich, zeigte sich der Ge- rich Feerhow- weitergehende Träume und vertraten die Mei-
danke an eine Stadt als durch und durch scharfes Bild einer Stadt. nung. Gedankenfotos würden nicht immer verschwommen blei-
Zwar wäre dies die weitaus größere Leistung als ei n bloßes ben . Dank spezieller Konzentrationstechniken sowie infolge
Schema eines kau m identifizierbaren Sujets, aber es wäre doch besserer Aufnahmeverfahren werde die Gedankenfotografie
völlig unspektakulär. Allein Unschärfe-Effekte sorgen dafür, daß schließlich sogar zur vorherrschenden Bildform aufsteigen und
ein Foto die (vermeintlich) aufregende Geschichte seiner Entste· Malerei oder Druckgraphik ersetzen: »Wenn ein Maler ein Ge-
hungerzählt-und damit einmal mehr einen Ausnahmezustand mälde schafft, so ist er gezwungen, um seiner bildhaften Vorstel-
festzuhalten scheint. Bis heute präsentiert daher selbst die seri- lung Ausdruck zu verleihen, die Idee gewissermaßen zu materia-
öse Wissenschaftsfotografie - zumindest in den Massenmedien- lisieren.[...] Ein Künstler, der direkt als Psychograph arbeiten
am liebsten nur schwer Erkennbares wie Bilder aus dem Elektro- lernt, arbeitet anders: Er nimmt eine Milchsilberplatte - später
nenmikroskop oder von Satelliten: Dem Rezipienten will man werden sich wohl noch besser geeignete Emulsionen finden -
so eine Ahnung von der Frontstellung der Wissenschaft oder vom gewünschten Format, legt sie sich im Entwicklungsbad zu-
104 105
recht und projiziert in voller Konzentration sein Phantasiebild kel oder völlig schwarz, was ei-
unmittelbar auf die empfindliche Schicht. Darauffixiert er sein nen darauf bringen könnte, hier
Bild und das Kunstwerk ist in einer Viertelstunde fertig!« 132 sei ein Einblick in die >black box<
So kühn sich eine derartige Fortschrittseuphorie ausnimmt, des Gehirns gewährt. Damit ent·
so ist da rin doch nur formuliert, was als Ziel aller Gedankenfoto- steht eine Anmutung, die der
grafie unstriteig sein müßte: Nützlich wäre sie auf Dauer nur, mancher Weltraumfotografien
wenn sie deutlich mehr böte als Unschärfe-Effekte, ja wenn sie gleicht: Wie man fasziniert davon
einen klaren Gedanken auch klar wiedergeben könnte. Deshalb ist, wenn aus den unergründli-
überrascht, wie relativ selten jemand Unmut über die Qualität chen Tiefen des dunklen Alls ein
der >Gedankenfotos<äußert- unabhängig davon, ob sie abge- heller Punkt - durch die weite
lehnt oder für echt gehalten werden . Dies legt den Verdacht Reise alt gewordenes Licht - auf·
nahe, daß der durch die extreme Unschärfe signalisierte Ausnah- taucht, besitzen auch die Pola·
mezustand- der mutmaßlich sensationell-dramatische Charak- roids von Ted Serios stilles Pa-
ter der Bilderzeugung - inder Tat vollauf genügt, um die Bilder thos; wieder wird die Unschärfe
interessant zu finden. zum Schlüsselreiz des Brhabenen.
Gerade auch der (bisher) letzte spektakuläre Fall auf dem Ter- Kann die Unschärfe bei diesen
rain der Gedankenfotografie bestätigt diese Hypothese. ln den >Gedankenfotograficn< darauf Ted Scrios: Gedankenfotografie des 1/ilron-
196oer Jahren erregte der Amerikaner Ted Serios großes Aufse· hinweisen, daß etwas an sich Un- Hotels in Denver (r96oer Jahre)
hen mit der Behauptung, er könne Bilder, die er sich vorstelle, auf sichtbares vielleicht doch irgend-
Polaroids fotografisch fixieren. Dabei schaute er aus emigen Zen- wie und teilweise sichtbar geworden ist, spielt sie bei Heinrich
timetern Entfernung in die Kamera, deren Objektiv er auf >un· Kühn eine subtilere Rolle: Entspricht sie einerseits der Vorstel-
endlich< gestellt hatte. Während auf manchen Fotos wie zu er- lung, daß ein >inneres Bild< nicht so vollständig und k.leinteilig
warten - Serios' Gesicht unscharf zu sehen ist, entstanden ab und ausgestaltet ist wie die sichtbare Welt, dient sie andererseits auch
zu, neben vielen ganz weißen oder ganz schwarzen Bildern. auch dazu, sonst Sichtbares Details - zum Verschwinden zu bringen.
Fotos, die vage etwa ein Ge- Für Kühn ist das freilich kein Gegensatz, sondern er interessiert
bäude erkennen lassen. 133 Da- sich für >innere Bilder<sogar nur deshalb, weil ihre Vagheit ihm
bei verwundert die gleichmä- eine Legitimation dafi.ir bietet, alldas auszublenden, was ihn
ßige Verschwommenheit der stört. Die Welt der >inneren Bilden ist für ihn genau so, wie er
- farbigen - Bilder: Sie sind, sich die äußere wünscht: entlastet, harmonisch, anspruchslos.
anders als die Fotos von Damit zeugt die Unschärfe immer wieder von Wünschen
Kühn, nicht etwa ohne De· nach Umverteilung, und was unscharf ist, soll zwischen Sicht·
tails, sondern sie zeigen barkeil und Unsichtbarkeit hin- und hergeschoben werden. In so·
Kleinteiliges in lediglich sehr fern ist Unschärfe auch Zeichen von Unzufriedenheit, Ausdruck
unscharfer Manier. Zu den des Verlangens, anderes zu sehen als üblicherweise und sei es
Aufnahme mit Clekrronenmikroskop (2ooo) Rändern hin werden sie dun· nur momentan, als Illusion eines Ausnahmezustands.
106
Erst im 19.Jahrhundert wurde die Bewegungsunschärfe zu ei-
nem eigens beachteten Sujet - dann als eher unfreiwillige Zutat
vieler Fotografien: Aufgrund langer Belichtungszeiten ersc hien
.1lles, was sich bewegte, verwischt oder nur als schwaches Abbild.
Das mochte zwar einmal meh r zu Spekulationen über die Exi-
METAPHYSIK DER BEWEGUNG ~te nz vo n Geistern und übersinnlichen Ereignissen verleiten,
war abe r als Phänomen so verbreitet und so leicht erklä rba r, daß
»Wi r wollen das wiedergeben, was an der Oberfl äche nicht sicht- es kei nen nachhaltigen Eindruck machte. Bald wurde das Foto-
bar ist«.u• Dieser Zielsetzung des italienischen Fotografen Anton material auch empfindliche r, was die Belichtungszeiten erheb-
Bragaglia aus dem Jahr 1913 hätten fast alle Künstler der Avant- lich verkü rzte. Der Ehrgeiz vieler Fotografen richtete sich nun
garde applaudiert - Kubisten ebenso wie Expressionisten, Ab- darauf, rasche Bewegungen genau z u fixieren, deren Verlaufmit
strakte nicht wenigera ls Symbolisten oder Fauvisten. Außerdem bloßem Auge nicht zu erkennen war. Berühmt wurden die Stu-
ließen sich damit nicht nur Weichzeichnung oder Sfumato-Ef- die n von Edward Muybridge, der mit Hi lfe der Fotografie die
fekte erklären; vielmehr füh rte der Wunsch, sonst Unsichtbare m alte Streitfrage über die Beinstellung des Pferds im Ga lopp zu
aufs Bild zu verhelfen, zur Legitimation einer weiteren Art von klären vermochte.
Unschärfe. So ist Anton Bragaglia (zusammen mit seinem Bruder War es hier fotografische Schärfe, d ie etwas sonst Unsichtba-
Artu ro) an erster Stelle zu nennen, wenn es um die Geschichte res sichtbar werden ließ, fungierte eine Generation später - näm-
der Bewegungsunschärfe geht. Gewiß war er nicht der erste, auf lich bei ßragaglia und im Futurismus - einmal mehr Unschärfe
dessen Fotografien sie als Effekt auftauchte, er ist jedoch einer als das Erkennungszeichen einer besonderen bildnerischen Lei-
der wenigen, der darin mehr sah als nur einen Effekt.ja der meta- stung. Nachdem schon im Technischen Manifest der fut uristischen
physische Spekulationen damit verband. Male rei von 1910 begeistert festgestellt worden war, »da ß Bewe-
Als Bildphänomen ist die Bewegungsunschärfe viel älter als gung und Licht die Materialität der Körper auflösen«u', und nach-
die Fotografie, und die Ehre, sie als erster auf ei nem Bild darge- t!em Umberro Boccioni ein Jahr später in einem Vortrag ausge-
stellt zu haben, gebührt wohl Diego Velazquez: Die Drehung füh rt hatte, daß das ~ungreifbare« und •Unsichtbare«, das er als
eines Spinnrads machte er dadurch kenntlich, da ß er statt der •Schwingu ngen• umschrieb, »mehr und m ehr zum Gegenstand
Speichen lediglich Schlieren und leichte von Forschungen und Beobachtungen• der Künstler werdeu6 , lag
Lichtreflexe ma lte. Bei den Zeitgenos- es nahe, d ies auch mit Mitteln der Fotografie zu demonstrieren.
sen, die um 1650 sein Bild Las Hilanderas Die Gehrüder Bragaglia experimentierten damit ab 1911 , wobei sie
betrachteten, sorgte das vermutlieb für 'ich zuerst von vermeintlich ähnlichen Versuchen distanzierten,
Irritation, und so viel Verismus setzte t! te der fran zösische Arzt Etienne Jules Marey bereits in den
sich auch nicht durch: Lange Zeit - bis 1H8oer Jahren unternommen hatte.
zu Turner - war es unüblich, eine Bewe- Marey hatte eine Fotoplatte in kurzer Abfolge oftmals hinter-
gu ng gleichsam mit >unschuldigem ei nander belichtet, wodurch das sich bewegende Sujet zwar in
Dicgo Velazqucz: Las Hilandera.s Auge<zu malen- zu zeigen, was man Jeder Phase scharf- aufgrund der kurzen Belichtungszeit nicht
(um 1650) . Au sschnitt sah, und n icht, was man wußte. 1mmer sehr deutlich - abgebildet wurde, die einzelnen Phasen
108 109
mehr als nur ein Fehler oder
Manko sein kann.
Bragaglia dürfte von e1mgen
dieser Fotografien beeinflußt ge-
wesen sein, zumal er noch stärker
als andere Futuristen seinerseits
ein okkultistisches Weltbild ver-
Etiennejules Marey: Chronofotografie Anton Giulio Bragaglia: trat und statt einzelner Bewegungs-
(um 1885) L'uomo dtccammina (1911) momente die Energie sichtbar ma-
chen wollte, die der jeweiligen
sich jedoch überlagerten. Auf diese Weise entstand ein insgesamt Bewegung zugrunde liegt. Gegen-
unscharfes FotO, das aber den Bewegungsablauf- die sich verän· stände in einem geometrischen
dernde Position einzelner Körperteile - genau erfaßte. Es war im Raum waren für ihn eine Illusion,
übrigen kein ästhetisch-künstlerisches, sondern wissenschaftli· und in der Wirklichkeit gab es nur
ches Interesse, das die >Chronofotografien< Mareys veranlaßte, Dynamik - Licht und Bewegung -,
der die mechanischen Funktionen des Lebens analysieren wollte. was allein durch seine Art des Foro-
Anders als Marey wählte Anton Bragaglia eine lange Belich- grafierens offenbar werden sollte:
tungszeit, so daß die jeweilige Bewegung kontinuierlich auf der >>\Vir suchen das innere Wesen der R. Moreau: Lofe Fullutaltzettd (um 1906)
Plane festgehalten, das sich bewegende Sujet jedoch in keiner Dinge: die reine Bewegung«; nur
Phase scharf umrissen wiedergegeben wurde. Vielmehr er- dann - im dematcrialisierten Zustand komme die •Grundstruk-
scheint es beinahe durchsichtig, und die materielle Gestalt ist in tur der Wahrheit« (•forte schcletro di verita«) zum Vorschein. In
Lichtbögen, Strudel und verwischte Flächen verwandelt. Auch seinem metaphysischen Pathos trennte Bragaglia auch strikt
hierfür existierten freilich Vorbilder, nämlich vor allem Fotos zwischen herkömmlicher Fotografie, der er vorhielt, alles bloß
der Tänzerin Lole Fuller, die bereits zur jahrhundertwende mit oberflächlich, statisch-detailliert und Ieichenhaft abzubilden,
>Geistertänzen< die okkultistischen Neigungen vieler Menschen und seinem »Fotodynamismus«; allein dieser als ~forogra fia
bediente. Die Bewegungen, die sie mit ihrem Gewand voll- trascendentale« nobilitiere die Fotografie zu einem wahren Me·
führte, ergaben, unterstützt von einer raffinierten Lichtregie, dium, sofern er die sichtbare Welt - ausnahmsweise - hinter
gespenstisch-irreale Effekte, die an Phänomene in spiritistischen sich lasse. m
Sitzungen erinnern und den Glauben an übersinnliche Welten Bragaglias Bewegungsunschärfe war freilich nur ein Versuch
nähren sollten. Auf den zahlreichen - in großem Stil vertriebe- unter mehreren, den »universalen Dynamismus« wiederzugeben,
nen - Bühnenfotos sieht man Fullers Körper in Lichtstrudel ver- der Prinzip der futuristischen Weltanschauung war. ua So gab es
flüchtigt oder zu immateriell wirkenden Bändern verzerrt. Viele parallel in der Malerei verschiedene Experimente, Bewegung er-
FotOgrafen- darunter etwa Eugene Druet, der sonst auch für lebbar zu machen und die Auflösung der Dinge in metamorphoti-
Rodin arbeitete - sammelten bei Lole Fuller ihre ersten Erfah- sche Energiezustände zu demonsrrieren. Am ähnlichsten den
rungen mit der Bewegungsunschärfe und erkannten, daß diese Fotos von Bragaglia - noch ähnlicher denen Mareys - sind dabei
no 111
Ciacomo Balla: Dinamismo dt un ca11e al Amon Ciulio Bragaglia:
guinzaglio (1912) Giacomo Balla (1912) Umbcno Boccioni: Treno che passa (t9o8 )
einige Bilder von Giacomo Balla, der den Verlauf einer Bewegung rensei nes Mediums direkt der Bi ldtechnik Bailas gegenüber-
wiedergab, indem er verschiedene Phasen simultan abbildete. Da- stellte: Diesen sieht man neben seinem Gemälde Di11amismo di un
m it realisierte er, was im Technischen Manifest der futuristischrn ca11e al guinzaglio (1912) stehen - genauer: man sieht seine du rch
Malerei kurz zuvor bereits beschrieben worden war: »Da das Bild die Körperbewegung vervielfachte und zugleich aufgelöste Ge-
ja auf der Retina beharrt, vervielfaltigen sich die bewegten Gegen- stalt, ähnlich einer Geisterfotografic, neben dem Bild eines
stände, deformieren sich, wenn sie aufeinanderfolgen , wie über- Hunds, dessen Schwanz und Beine sich fächerartig multipli-
stürzende Vibrationen in dem von ihnen durchlaufenen Raum. So zieren. Es scheint, als wollte Bragaglia damit für die Nachwelt
hat ein laufendes Pferd nicht vier Beine, sondern zwanzig, und fest halten, woher die (futuristische) Malerei ihr Wissen über die
ihre Bewegungen laufen in Dreiecksform ab«.'J9 •wir\liche• Verfaßtheit der Dinge hat - und daß der Fotodyna-
Eine gewisse Unschärfe entsteht bei Balla dabei sogar zwie· mism,us der Vater aller )richtigen< Bildsprachen ist.
fach: Sofern die einzel nen Phasen dicht nebeneinander liegen, Allerdings griff man in anderen Gemälden Unschärfe-Techni-
das bewegte Sujet also von sich selbst immer wieder leicht ver- ken des späten rg. jahrhunderrs auf, um ein •dynamisches Ge-
schoben überlagert wird, versucht das Auge des Betrachters, fühl• zu erzeugen. Ausdrücklich hoben die Futuristen den Neo-
mehrere solcher Phasen zur Deckung zu bringen und eine klare Impress ionis mus - und dessen Prinzip, Farbpunkte im
Gegensta ndskontur zu bilden. Daß dies jedoch scheitert, führt Komplementärkont rast aufzutragen - als ))wesentlich und not-
zum Eindruck der Unschärfe, den Balla noch steigert, wenn er we ndig« hervor. Maler wie Umberro Boccioni oder Luigi Rus-
zwischen den jeweils für sieb scharf gemalten Momenten ver- 'olo sahen dadurch ihre Geisteshaltung, ihren Glauben an flir-
wischte und nu r andeutungsweise erkennbare Spuren des Sujets re nde Energien repräsentiert. 140 Gerade fü r die Darstellung
auf das Bild setzt. Dieser Effekt scheint bewegungsunscharfen rasc her Bewegung - etwa die eines vorbeifahrenden Zugs -
Fotografien abgeschaut, und es wirkt, als sei das Bild mit zu lan- w;ih ltc Boccioni eine Ästhetik, die an pointillistische Gemälde
ger Belichtungszeit gemalt. erinnert, selbst wenn aus den Punkten zum Teil grelle Striche
Oie Konkurrenz der Malerei zum Fotodynamismus veran- "-erden. Weil das gesamte Bild derselben Faktur unterliegt, wird
Jaßte Anton Bragaglia zu einem Foto, auf dem er die Möglicbkei- me hr zwischen dem rasch sich bewegenden Fahrzeug und der
112 !13
Natur unterschieden- alles präsentiert entwickelte Bildsprachen rekurrierten und deren Effekte neu zu
sich gleichermaßen dyna misch, flak· kombinieren und zu optimieren trachteten. insofern zogen sie
kcrnd und sch rill. Daher läßt sich der Fu- ei ne erste Bilanz aus der bis dahin vorliegenden Geschichte der
turismus auch nicht auf eine ei nseitige Unschärfe: Während sie sich um Effekte bemühten, die Bewe-
Technik-Begeisterung reduzieren. Die gung und Auflösung suggerierten oder synästhetische Erfahrun-
Technik liefert , vor allem mit der durch gen begünstigten, wiesen sie die reine Weichzeichnung als zu
Maschinen und Motoren möglichen Ge- romantisc h-melancholisch zurück. Sosehr es auch ihnen ent-
schwindigkeit, lediglich eine besonders sprechen mochte, Details zum Verschwinden zu bringen, um
intensive, direkt erlebbare Variante allge- die >wahre< Welt hinter der Oberfläche zu entdecken, so wenig
Luigi Russolo: Parfum (1909"'o) genwärtiger Dynamik. ging es ihnen doch um eine Minimierung von Reizen oder um
Auch Balla experimentierte auf eini- eine Entlastung von der sich beschleunigenden Welt. Wo sich
gen Bildern mit der pointillistischen Gegenstandsauflösung oder Ruskin, Whistler oder Küh n nach Ruhe sehnten, idea lisierten
kombinierte dieses Mittel mit der Mareyschen Auffächerung die Futuristen im Gegenteil Tempo, Lärm und Hektik; Boccioni
von Bewegungsphasen. Russolo ließ sich ebenfalls vom Neo- etwa wollte sogar, daß die Dynamik seiner Bilder auf den Rezi-
impressionismus beeinflussen, bewahrte aber zugleich Bezie- pienten übergriff, um ihn geradezu in einen Strudel hineinzu-
hungen zu symbolistischen T hemen und Malweisen. Bei Bildern ziehen.
wie Parfum ( J9JO) diente die Auflösung fester Gegenständlichkeit Obgleich die Futuristen eklektizistisch vorgingen, waren die
- die Transfiguration von Form in Pa rbe und Vibration- nicht diversen Stile für sie eher weltanschauliche als ästhetische Phäno-
zuletzt einem synästhetischen Anliegen, war es doch ein weite- mene und wurden, wie auch von anderen Strömungen der Avant·
res Ziel der Futuristen, aufvisuellem Weg Geräusche oder Gerü· garde. daraufhin geprüft, ob sie wiedergeben konnten, was als
ehe zu vermitteln. Parallel zu den flimmernden Gemälden arbei· Wahrheit bereites vorab proklamiert worden war. Ein bildneri·
tete Russolo allerdings auch an Bildern, in denen er weitgehend scher Effekt stand damit auf derselben Stufe wie eine Aussage- er
abstrahierte und streng geometrisierende Formen mit klaren Li· war >richtig< oder >falsch<. Diese ideologische Vereinnahmung von
nien favorisierte. So traf sich in einer Person, was sonst Kunst· Stilen macht nochmals die Ansprüche bewußt, die an die Kunst -
richtungen voneinander trennte, und es zeigt sich nochm als und Bilder im allgemeinen- in der Moderne gestellt wurden.
deutlich, daß die Differenz zwischen Unschärfe und Abstraktion Allein die Ambition, die Grenzen zwischen dem Sichtbaren
nicht unbedingt als entscheidend angesehen wurde: Immerhin und Unsichtbaren zu verschieben, unterwarf die Kü nstler gro-
dienre beides demselben Ziel, nämlich der Transzendierung der ßem Leistungsdruck und zwang zu andauernden Überbietungs-
sichtbaren Welt und der Suche nach der Wahrheit - als dem gro- gesten. So beschworen gerade Futuristen eine potenzierte Sensi-
ßen >Anderen< und der Ausnahme. bilität und reklamierten für sich, ebenfalls in spiriert von der
In seiner stilistischen Vielfa lt führt der Futurismus vor Augen, Entdeckung der Röntgenstrahlung, zumindest einen sechsten
da(~ es im Zeita lter der Avantgarden verschiedene, sich stei- Sinn, um das >Eigentliche<- unterhalb der Oberfläche - darstel-
gernde und miteinander konkurrierende Versuche gab, der Aver- len zu können. Wie die O rientierung an der Musik oder der
sion gegenüber der •normalen< Welt Ausdruck zu verleihen. Wunsch, einen Ausnahmezustand auszurufen, drohte auch dies
Die fouturisten waren dabei die ersten, die auf mehrere bereits d•e bildende Ku nst zu überfordern. Es macht wohl die Tragik der
Il5
Moderne aus, sich immer wieder solche im Grunde u nerfüllba- sie als Sieger über den Rau m- und über die Illusion, die Dinge
ren Aufgaben gestellt zu haben. Und vielleicht wurde das Schei- darin könnten feste Konturen und Materialität besitzen . Andere
tern sogar gesucht, um ein tiefes Mißtra uen gegenüber Bildern - freilich beklagten diesen Verlust an Räumlichkeit, den sie als ty-
einen latenten ikonoklastischenDrang - bestätigen zu können. pisch für die moderne - elektrifizierte- Welt an sahen. So be-
Ebenso w ie die Futu risten offen gegen die Kunst der Tradi- merkte Wilhelm H ausenstein im Zweiten Weltkrieg, als man bei
tion auftraten und zur Stürmung der Museen aufriefen, verriet Stromausfa llen w ieder auf Kerzenlicht angewiesen war, wieviel
also auch die Forderung, den universellen Dynamismus sichtbar plastischer und wirklicher die Gegenstände darin erschienen,
zu machen, eine Mißac htung von Bildern und ihren Möglich- während »das elektrische Licht die Dinge platter [machtj; es teilt
keiten: Nicht nur ist fraglich, wie etwas Unsichtbares in Bilder ihnen zuviel Helle mit, und damit verlieren sie an Körper, an
übersetzt werden kann, sondern es ist ebenso schwer nachvoll- Umriß, an Substanz; an Wesen überhaupt«.'42
ziehbar, warum gerade sie - als etwas Statisches - Bewegungen Schon viel früher und deutlicher wurde eine (bildex terne)
erfahrbar machen sollten. Die Bewegungsunschärfe Bragaglias Enträumlichung - als Symptom der Moderne - in folge der MotO-
sowie der >unscharfe< Neoimpressionismus Boccionis oder Bailas risierung beobachtet. Vor allem Eisenbahn-Passagiere, nicht ge-
lassen sich daher als Symptome einer Tendenz deuten, das Bild wohnt an die relativ hohen Geschwindigkeiten, berichteten von
selbst (und nicht nur die sichtbaren Sujets) zu transzendieren - Schwindelgefühlen, welche sie sich damit erklärten, daß die
oder besser: zu verleugnen. Ehrlicher war allein Russolo, der du rch das Zugfenster betrachtete Welt verwischt - eben bewe-
schon bald zur Musik überwechselte und die Geräusche derbe- gungsu nscharf -erschien und keinen kl.aren Raum mehr zur
schleunigten Welt in seine lntonarumori aufnahm. Orientierung bot. In einem Brief aus demjahr r837 schrieb Victor
Mag der Angriff der Futuristen auf das Bild >an sich<nicht aus- Hugo: »Die Blumen am Feldrain sind keine Blumen mehr, son-
drücklich geführt worden sein, so traten sie zumindest laut ge- dern Parbflecken, oder vielmehr rote oder weiße Streifen; es gibt
gen den Jllusionismus perspektivisch gemalter Räume an und keinen Punkt mehr, alles wird Streifen; die Getreidefelder wer-
dement.icrten den Raum als Thema der Kunst. »Der Raum exi- de n zu langen gelben Strähnen; die Kleefelder erscheinen wie
stiert nicht mehr<<- dieser apodiktische Satz aus dem zweiten lange grüne Zöpfe; die Städte, die Kirchtürme und die Bäume
Manifest'" ließ sich m it kubistischen oder abstrahierenden Bild- führen einen Tanz auf und vermischen sich auf eine verrückte
sprachen umsetzen, begünstigte aber gleicherm aßen eine Weise mit dem Horizont; ab und zu taucht ein Schatten, ein e Fi-
Ästhetik der Unschärfe: Wo Gegenstände sich auflösen und in- gur, ein Gespenst an der T ür auf und verschwindet wie der Blitz,
einander übe rgehen, schwindet die Trennung zwischen Vorder- das ist der Zugschaffner«.' 43
und Hintergrund; erst recht egalisiert Bewegungsunschärfe und Diese Zeilen lesen sich, als sei der Passagier zum Blick mit
verkürzt den Raum zur Fläche. Aber auch das Unscharf-Werden •unschuldigem Auge<geradezu verdammt: Statt der Gegenstände
in den Arbeiten Medardo Rossos, den die Futuristen als Geistes- nimmt er lediglich ein zelne Farbreize wahr, die sich aber so
verwandten schätzten , reduziert die Räumlichkeit: Hier ist es rasch ablösen, daß er ihnen passiv ausgesetzt ist. Daher hätte
der Eindruck von Überbelichtu ng, der alle Volumen flach wer- Ruskin sich im übrigen auch dagegen verwehrt, die Eisenbahn
den läßt; der Raum schmilzt im hellen Licht, das die Futuristen als Chance zum gegenstandslosen Sehen zu preisen; vielmehr lö-
zur zweiten Ausprägung von Energie (neben der Bewegung) er- ste sich das konventionelle Wahrnehmen - so seine Mei nung -
klärt hatten. Elektrisches Licht und Scheinwerfer verherrlichten nur dan n auf gemäße Art und Weise in reine Farben und For-
11"6 117
men auf. wenn man zu einem ausdauernden Betrachten in der
Lage wäre und dazu käme, nach und nach durch die Gegen-
ständlichkeit hindurchzublicken-diese gleichsam abzuarbeiten.
Was man während einer Zugfahrt sah, bedeutete für Ruskin hin-
gegen lediglich eine weitere Steigerung der Oberflächlichkeit
des üblichen Wabrnehmens, ja eine Potenzierung der ohnehin
schon beklagten Reizflut.
Bemerkenswert an Victor Hugos Brief ist, daß er neben der
Enrgegenständlichung des Wahrnehmens auch das Verschwin-
den des Tiefenraums beschreibt: Bäume, die eher im Vorder- john Chamberlain: Barbrhu (1989)
grund stehen, vermischen sich scheinbar mit Kirchtürmen und
schließlich mit dem Horizont im Hintergrund. Oie Raumebenen Wie abstrakt die ersten Passagiere die an ihrem Abteilfenster
schieben sich zu einer einzigen homogenen Fläche- wie zu vorüberziehende Landschaft empfunden haben mochten, verge-
Streifen- zusammen; jegliche Grenze zwischen Sujets sowie de- genwärtigen heutzutage wohl am ehesten Fotografien vonjohn
ren plastische Profilierung wird aufgehoben: alles ist unscharf. Chamberlain. Er benutzt sogar eine Panoramakamera, die er
Die Enträumlichung reicht im Fall solcher Bewegungsunschärfe während der Belichtung schwenkt, wodurch sich die Gegen-
also noch weiter als bei einer Weichzeichnung oder pointillisti- stände, freilich nicht ganz gleichmäßig, zu ebensolchen Streifen
schen Auflösung der Gegenstände. Anders formuliert: Die Be- verziehen, wie Hugo sie beschrieben hat. jede räumliche Ord-
wegung verlangt den Raum als Opfer, wird manifest um den nung ist hier preisgegeben, und es läßt sich das Entsetzen - oder
Preis seines Verschwindens, was einmal mehr einen Austausch auch die Faszination- vorstellen, die eine solche Entgegenständ-
von Sichtbarkeit bedeutet. lichung für Menschen des 19.jahrhunderts, die noch keine Erfah-
Der Einfluß neuer Formen der Fortbewegung auf die Raum- rung mit abstrakten Bildern besaßen, bedeuten mußte. Zugleich
wahrnehmung war Thema vieler Berichte des 19.jahrhunderts. wird deutlich, wieso gerade Bewegungsunschärfe - in diesem
Wolfgang Schivelbusch, der die Geschichte der Eisenbahnreise re- Fall genauer: Verwacklungsunschärfe - immer wieder geschätzt
konstruierte, gelangt zu dem Resümee, daß »die Tiefenschärfe wurde, bietet sie doch dank der Deformationen des Sichtbaren
der vorindustriellen Wahrnehmung« verlorengegangen sei, »in- Verfremdungseffekte von gro{~er Wirkung.
dem durch die Geschwindigkeit die nahegelegenen Objekte sich Während die Futuristen oder die Fotografen der Lo"ie Fuller
verflüchtigten«. Als entscheidend hebt er somit »das Ende des darin noch okkultistische Weltbilder bestätigt sahen und der ge-
Vordergrundes« hervor, verliert der Reisende dadurch doch sei- heimnisvollen Aura jeder Verfremdung erlagen, wurde diese et-
nen unmittelbaren Bezug zur Umgebung. Anstatt noch in die was später von zahlreichen Fotografen gesucht, um- im Zuge
Landschaft eingebunden zu sein, erlebt er sie als bildhaftes Ge- des >Neuen Sehens<- ungewohnte Motive oder überraschende
genüber: »Der Raum, aus dem der Reisende heraustritt, wird die- Bildeindrücke zu kreieren. In den 192oer Jahren entstand diese
sem zum Tableau«. Was bleibt, ist ein »panoramatischer Blick<<, der Neuen Sachlichkeit nahestehende Richtung gerade in Oppo-
die Reduktion des Raums auf einen endlosen, zweidimensiona- sition zur bildmäßigen Fotografie: Da letztere sich an traditio-
len, verwischten Streifen. 144 nellen Bildmustern orientierte, um als Kunst Anerkennung zu
n8 Il9
finden, und da sich daraus der wegen ihres technisch-mechanischen Charakters. Sofern
im Lauf von zwei oder drei .lber Präzision und Detailgenauigkeit als typische Eigenschaften
Jah rzehnten eine ziemlich des Fotografischen galten, w urde überwiegend auch Bildschärfe
tautologische Bi ldprodu k- angestrebt. Weichzeichnung und Gummidruck, insbesondere
tion ergeben hatte, ve rs uch- alle druckgraphischen Erscheinungsformen lehnten die Protago-
ten die Vertreter des >Neuen nisten des >Neuen Sehens< ab. So bezeichnete es der Fotograf An-
Sehens<, die Kamera in ex- dreas Feininger als >>das einzigartige Vorrecht der Fotografie«,
tre men (eben verfremden- makellos scharfe Bilder produzieren zu können - und verurteilte
den) Positionen (z. B. Vogel- es umgekehrt als >>Verrat und Vergewaltig ung«, Schärfe zu op-
Anton Stankowski: Zeitprotokoll mit Auto (1929 /31 ) oder Froschperspektive) zu fern. Der Fotograf gebe dann die Möglichkeit der Flächenzeich-
gebrauchen , angetTieben nu ng preis und verliere »jegliche Materialwirkung•c »Arme Foto-
von dem pädagogischen Impetus, andere Sehgewohnheiten zu grafie ,- nein, denn das sind keine Fotos m ehr, - armer Fotograf,
etablieren. - nein, denn das ist auch kein Fotograf mehr! - armer Schwäch-
Der Ort der Kamera ist oft sogar eigens Thema, so bei Anton li ng kann man da nur sagen«. 145
Stankowskis Foto Zeitprotokoll mit Auto (1929/31). Schon der Titel Frei lich: Sosehr er Sfumato-Effekte ablehnte, so wenig hatte
weist das Bild als Resultat einer Versuchsanordnung aus (man Feininger etwas gegen Bewegungsunschärfe einz uwenden. Im
bedenke den Unterschied gegenüber den Titeln der bildmäßigen Gegenteil deklarie rte e r eine >>gestochen scharfe Mome ntau f-
Fotografie!), und ebenso nüchtern ist in diesem Fall die Bewe- nahme« als »eine >technische Lüge«<, da sie die Bewegung gleich-
gu ngsunschärfe zu verstehen : Sie soll eine bestimmte Geschwin- sa m einfriert und damit zunichte macht.146 Gerade große Ge-
digkeit dokumentieren und ist darüber hinaus höch stens Aus- schwindigkeiten - wie auf dem Bild Stankowskis - sollten also in
druck des Stolzes über den technischen Fortschritt, der es nicht Bewegungsunschärfe wiedergegeben werden , womit diese zu-
nur erlaubt, schnell zu fahren , sondern dem es zugleich zu ver- gleich zum adäquaten bildnerischen Mittel typisch moderner
danken ist, da ß dies sogar noch fotografiert werden kann. Zwar Phä nomene erklärt wurde. Besaß die frühe Bewegungsun-
ist auch hier etwas im Bild festgehalten, was sich normalerweise sc härfe einer LoYe Fuller noch mentalitätsgeschichtliche Ver-
nicht sehen läßt, doch wird deshalb, anders als im Futurismus, wandtschaft zu den geheimnisvollen Bildern ein iger bildmäßiger
nicht behauptet, die sonst verborgene, metaphysische Wahrheit Fotografen und wies selbst die Bewegu ngsu nschärfe der Futuri-
sei endlich - ausnahmsweise - enthü llt und fixiert worden. Das sten - trotz deren Begeisterung für Lärm , Stadt und Tempo- Be-
>Neue Sehen<akzeptiert vielmehr verschiedene Perspektiven als züge zur >tmscharfen Richtung<auf, da es jeweils um eine Trans-
gleichberechtigt, wobei ausgefallene Bilder grundsätzlich bevor- for mation des Sichtbaren ging, so war mit dem >Neuen Sehen<
zugt werden. Dies verrät immer noch eine gewisse Lust an Aus- jede Verbindung zwischen Weichzeichnung und Bewegungsun-
nahmezustand und Dissidententum, das sichjedoch weitgehend schärfe beendet: ln ersterer übten sich konservative Fotografen,
auf das Ästhetische beschränkt. die ihrem Publikum Wun schbilder - Beschauliches - bieten
Die Betonung des Überraschenden begünstigte im übrigen wollten, während letztere forcierte , wer sich progressiv fü hlte
Bilder, die erst dank neuer technischer Mittel möglich wurden. und neugierig auf tech nischen Fortschritt und die Errungen-
Die Fotografie schätzte man seit den 192o er Jahren gerade wie- schaften der Moderne war.
r:w 121
Auf einmal gab es somit zwei klar
getren nte Stränge innerhalb der Ge-
schichte der Unschärfe, was zu ei ner
Zeit paßte, die das Denken in strik-
ten Gegensätzen liebte: Wie sich
>fortschrittlich< und >reaktionär< au f AUTHENTISCH
die b eiden >Unschärfcn< verteilte,
konnte man auch >links< und >rechts<, Sensationelle Fotografien sind oft unscharf- und fast ebenso oft
>männlich < und >weiblich< oder macht erst die Unschärfe sie zur Sensation. Was innerhalb der
Stock-Forogafie von einer Börse (2o o2) >Stadt<und >Land<jeweils klar einem spiritistischen Fotografie oder auch bei Wissenschaftsfotos als
Unschärfe-Typus zuordnen. Hatten ikonographisches Grundprinzip gelten kann, trifft kaum minder
sich die Sujets, für die Weichzeichnung bevorzugt wurde, be- für andere Genres zu : j eder gute r rotojournalist und Kriegs-
reits in den Jahrzehnten zuvor etabliert, entstand nun auch ein reporte r weiß um die dramatisierende Wirkung eines verwackel-
Kanon bewegungsunscharfer Motive. Neben Bildern von ra- ten oder verwischten Bilds, und es gibt wohl keinen Bildredakteur,
schen Fahrten gehörten dazu Aufnahmen aus dem Sport sowie der nicht gelegentlich ein unscharfes Foto bevorzugt, obgleich
Fotos von den Börsen; demonstriert wurde heroische Leistung ihm dieselbe Szene ebenso in aller Schärfe vorliegt. Lediglich
und Bnergie im einen Fa ll, Hektik und Unberechenbarkeit im manchmal ist die Unschärfe tatsächlich ein bedauerliches Verse-
anderen. Die Bewegungsunschärfe ist bei solchen Bildern auch hen , und ein entsprechendes Foto wird nur veröffentlicht, weil es
nicht mehr nur ein formales, sondern beinahe ein ikonographi- ein einmaliges Ereignis als einziges doch noch irgendwie doku-
sches Mittel, hat sie sich doch im Lauf der Zeit fest mit den jewei- mentiert.
ligen Sujets verbunden: Daß es sich um eine Börse und nicht um Gerade weil - zumal im Bildjournalismus- technisch ein-
einen beliebigen Markt oder ein Großraumbüro handelt, ist mitt- wandfreie, scharfe Bilder als normal gelten, besitzen unscharfe
lerweile auf den ersten Blick allein dank der Bewegungsun- Bilder einen Sensationscharakter: Muß es sich nicht um ein au-
schärfe zu erkennen . Diese erschöpft sich allerdings nur selten ßerordentliches Sujet handeln, wenn ein Foto rrotz schlechter
darin, Tempo sichtbar zu machen, sondern dient auch der Ver- Qualität publiziert wird? Nur weil Unschärfe eigendich ein Feh-
mittlung weiterer Stimmungsmomente: Wer seine Sujets bewe- ler ist, kann sie auch zum Stilmittel von Superlativen oder Aus-
gungsunscharfüber die Bildfläche zieht, strebt meist Dramatik nahmezuständen werden und diese letztlich sogar simulieren.
und den Eindruck von Unmittelbarkeitan - sucht Authentizität. Daher wäre es woh l nicht einmal angemessen gewesen, hätte
man von einem Ereignis wie der ersten Mondlandung gestochen
scharfe Fotos veröffentlicht. Nur Bilder, die nahezu nichts erken-
nen lassen, zeigen die exzeptionellen Bedingungen, unter denen
sie entstanden sind . Die hera usfordernden Umstände der Sild-
werdu ng sind sogar das eigentliche - einzige?- Thema solcher
Fotos. Freilich erhält ein Bild, auf dem nichts zu identifizieren ist,
ersr durch die Textlegende seine dramatische oder erhabene Be-
123
deutung. Was sonst ebenso ein Jann aber ein paar Tage später - so-
Werk des abstrakten Expressionis· ;;usagen als zweite Sensation - • IJ,, \•'~I I-V
geht er!
ltwd.•c.J)(..-.rd••n
)<1/)fiiii~<JJC•Il
mus sein könnte, wird durch ein nochmals in einer scharfen Version lk.~lfm·l11
(~t,tlgt!tltHnmcn
paar Worte zum Dokument eines bringen . Selbstverständlich hatte
Wunders oder einer Katastrophe.'47 man das Bild von Anfang an in die-
Der laienhafte Betrachter staunt, ser Form, machte es aber eigens
wie genau ihm die Flecken und grobkörnig oder wattig, damit der
Schlieren auf ei nem unscharfen Enthüllungscharakter - das Unge-
Bild entschlüsselt werden, und eine heure - deutlicher zum Ausdruck Ufo-Aufnahme
Zeitung verschafft sich nicht zu- kommt und die voyeuristische Neu-
letzt dadurch Autorität und Leser- gier des Publikums angefacht wird.
vertrauen, daß sie selbst fast unent- Vor allem aber besitzt ein unscharfes Foto den Vorzug, als
zifferbare Sachverhalte aufzuklären ,lUthentisch angesehen zu werden. Man vermutet, es sei der un-
vermag. Man bedenke nur, was beholfene und eben deshalb ehrliche Schnappschuß eines Hob-
eine Zeitung wie BILD auf Papa- byfotografen- ein Bild, das frei von Kalkül oder Verwertungsin-
razzi-Fotos oder einem bis zur teressen entstanden ist. Gerade die Fotos, für die sich ein
Unkenntlichkeit vergrößerten Bild- Reporter stunden- oder tagelang auf die Lauer legte, wirken viel-
Bildzeitung vom 2t.Juli 1969 ausschnitt noch alles identifiziert: leicht am ehesten als Zufallsstücke oder Glückstreffer. Dasselbe
Pistolen, Kuß- oder >Oben-ohne<- gilt für die Klasse der UFO -Fotografien, die auffalligerweise nie
Szenen, einen Streit, die Übergabe von Lösegeld oder eine Hin· 'charf sind und deren Verhuschthcit die Überraschung- oder die
ric htung. Es kommt auch vor, daß Boulevardblätter ein Foto zu- Beunruhigung - zu verraten scheint, die den Fotografen in dem
erst, solange die Sensation noch neu ist, unscharf drucken, es Moment überfiel, als er den Auslöser drückte. So ist kaum ein-
mal das UFO alleine unscharf, sondern das gesamte Bild wirkt
ll'icht verwackelt oder verrutscht. Wenn sich die Aufregung über
das plötzlich Gesehene aber so direkt zeigt, schwinden beim Be-
t rachtcr auch die Zweifel an der Echtheit des Fotos.
Allerdings verleiht die Unschärfe dem Bild hier nicht nur Au-
t hcntizität, sondern ist geradezu notwendig: Wie sonst sollte ein
unidentifizierbares Objekt in Erscheinung treten? Wann immer
l·s scharf auftauchte, wäre man desillusioniert, da man dann ver-
mutlich sähe, daß es aus keiner anderen Form und vielleicht
fl iCht einmal aus anderen Materialien bestünde als irdische Ge-
~l·nstände. jegliche Ähnlichkeit mit Bekanntem jedoch schafft
hl·rcits ein Stück ldentifizierbarkeit und mindert entsprechend
Bildzeitung vom 24. Februar 2oor d u.: Glaubwürdigkeit der Behauptung, es müsse sich auf dem
124 125
Foto um ein UFO - etwas geheimnisvoll Außerirdisches - han-
deln. Denn daß Zivilisationen ferner Sterne etwas entwickelt ha-
ben sollten, das menschlichen Produkten nahekommt, gehört
höchstens zur Vorstellungswelt einer naiv-schlichten Fantasie;
die meisten hingegen spekulieren lieber über das >absolut An-
dere<, das freilich niemals darstellbar ist - sonst wäre es höch-
stens noch relativ anders. Radikale Differenz kann höchstens
durch Unschärfe repräsentiert werden, weshalb eine scharfe
U PO-Fotografie zwangsläufig eine Ernüchterung bedeutete.
Wie schon UFO -Bilder ihre Legitimation daraus beziehen,
daß sie gleichsam mit zitternden Händen fotografiert werden,
steigert es die Authentizität erst recht, wenn ein Foto Hektik ver-
mittelt, also stark verwackelt ist oder gegen alle Regeln der Kom-
position verstößr. Dann scheint der Fotograf nicht nur Beobach-
ter einer extremen Szene gewesen zu sein, sondern selbst in das Robert Capa: Omalta Beach. Normandy Coast,june 6th 1944
Geschehen involviert, das er dokumentiert. Eventuell befand er
sich sogar in akuter Gefahr, als er fotografierte - und entspre- mälde, nie darin erschöpft, etwas abzubilden; als fotochemischer
chend erwartet er nun , als Held bewundert zu werden. ProzefS ist ein Foto vielmehr eine kausale Reaktion und damit
Besonders wichtig kann die authentische Geste eines Bilds in- immer fixierter Teil eben der Situation, die es zeigt. Susan Son-
nerhalb der politischen Fotografie werden, da damit Emotionen tag vergleicht ein Foto daher mit einem Fußabdruck oder einer
zu wecken sind, die in Agitation umschlagen können. Fotogra- Totenmaske und bezeichnet es als ,.Aufzeichnung einer Emana-
fen und Kriegsreporter wie Robert Capa verstehen es sehr gut, uon• (von Licht), was es jedem gemalten Bild überlegen mache
ihren Bildern gerade mit Unschärfe-Effekten die Ausstrahlu ng und ihm •einen praktisch unbegrenzten Einfluß• verleihe. Wei-
direkter Augenzeugenschaft zu geben. Unscharf suggeriert: Hier ter fü hrt sie aus, daß diese Unmittelbarkeit - die eine Wahrheit -
war jemand schneller und näher dran als andere. Als Medium oft mehr gilt als die Abbildgenauigkeit - die andere Wahrheit:
der Unmittelbarkeit wird die Unschärfe einmal mehr zu einem •> llätte Holbein der Jüngere lange genug gelebt, um Shakespeare
Wahrheitsfaktor - diesmal nicht im Zuge einer Mimesis-Bemü- malen zu können, und hätte man andererseits bereits damals ein
hung oder einer Durchleuchtung der Oberfläche des Sichtbaren, Foto von Shakespeare machen können, so würden sich die mei-
sondern als Spur des dokumentierten Geschehens selbst. Anstatt Men Shakespeare-Pans für das FotO entscheiden.[...) selbst wenn
Teil eines Abbilds zu sein, ist die Unschärfe wie ein Eingriff in die hypothetische Aufnahme verblichen wäre, undeutlich, ver-
das Foto: Das Ereignis stört seine eigene Wiedergabe und ist da- ~il br , würden wir sie wahrscheinlich einem prachtvollen Hol-
mit direkt präsent. Im Extremfalllöscht es sein eigenes Abbild bein vorziehen. Ein Foto von Shakespeare besitzen wäre, als be-
aus oder läßt es gar nicht erst entstehen. ,,lße man einen Nagel vom Kreuz Christi«. 148
Gerade diese Negation des Wiedergabecharakters der Foto - Sonrags Behauptung ließe sich sogar zuspitzen, besäße ein
grafie macht auch bewußt, daß diese sich, anders als ein Ge- unsc harfes und verblichenes Shakespeare-Foto doch wohl einen
126 127
noch stärkeren Reliquien-Charakter als ein durch und durch Individualität verlieren . Die Augen verwandel n sich in dunkle
scharfes und wäre damit einem Holbein-Gemälde um so über- Höhlen, Stirn und Wangen zu weißen Flächen, weshalb die As-
legener: Während das scharfe Foto mit dem Gemälde daraufhin soziation mit Totenköpfen kaum vermeidbar ist. Gerade der Ver-
verglichen würde, ob es mehr oder weniger von Shakespeares s uch , jeden Schüler durch ein eigenes Bild zu würdigen, muß in
Charakter zu vermitteln vermag (wobei durchaus unklar wäre, de m Eingeständnis enden, daß dafür nicht genügend Substanz
welchem der beiden Bilder man den Vorrang gäbe), stünde das vo rhanden ist. Vielmehr ist nur eine schwache Lichtspur geblie-
unscharfe Foto gar nicht mehr in Konkurrenz zum gemalten ben; sonst ist der Moment, in dem das Foto aufgenommen
Bild, sondern faszinierte allein als Spur. als (letztes) Zeugnis ei - wurde, nichtig geworden und auch nicht rekonstruierbar. Der
ner längst verstorbenen Person. Betrachter leidet an der Unschärfe und dem Entzug der einst fo-
Freilich bedeutet es einen Unterschied, ob ein Foto von vorn- tOgrafierten Menschen, er fragt sich, was aus diesen wohl gewor-
herein unscharf war oder ob es im Lauf der Zeit ausgeblichen ist. de n ist, ob man sie noch ausfi ndig machen , mehr über sie erfah-
Im ersten Fall bleibt vor allem der Moment der Aufnahme - das ren könnte -und wie viele von ihnen einige Jahre nach dem Foto
fotografische Geschehen- präsent; hingegen dominiert sonst zu NS -Opfern in einem Konzentrationslager wurden, auf der
der Eindruck des Reliquienhaften. Beides sind Grenzfalle, ist das Flucht umkamen oder vielleicht in einem anderen Land ein
Sujet doch einmal gerade noch eingefangen und festgehalten, im neues Leben beginnen konnten.
anderen Fall gerade noch nicht (wieder) verschwunden. Und wie Aber nicht nur als existenziell bedrohte Juden der 1930er Jahre,
sich einmal das Fotografierte dramatisch inszeniert, wird beim sondern auch wegen ihrer Noch-jugendlichkeit machen die
anderen Mal die Vergänglichkeit zum Drama. Ähnliches kann Schüler auf dem Klassenfoto für Boltanski die Vergangenheit
eine extreme Vergrößerung bewirken, durch die - man denke an exemplarisch bewußt. So wird das Foto in doppelter Weise zu
Antonionis Film ßlow Up - die Details zunehmend verschwim- einem Dokument des Verschwindens - und die Unschärfe der
men: Dann wird bewußt, wie vieles, vielleicht Entscheidendes, Deta ilvergrößerungen zum vielleicht eindringlichsten Vanitas-
einer Szene nicht fixiert werden konnte und für immer verloren Sy mbol des 2o .jahrhunderts. Zur Erklärung seiner Arbeit äu-
ist. Je stärker man einen Ausschnitt vergrößert, 13erte ßolta nski entsprechend: »Man stirbt jeden Tag. Man ver-
in der Hoffnung, doch noch einige Einzelhei- lien j eden Moment etwas. [ ... ] Mich interessiert das eher in
ten sichtbar zu machen, desto weiter zieht sich einem abstrakten Sinne, das Verschwinden, oder die sonderbare
das Foto ins Reich der Indifferenz zurück. Passage von jemandem zu nichts. Leiden interessiert mich nicht,
Bi n Künstler wie Christian Boltanski nützt sondern jener verschwundene Moment, der unwiederbringliche
diesen melodramatischen Effekt vergrößerter Augenblick. Was mich am Tod interessiert, ist dies Verschwin-
Fotoausschnitte in vielen seiner Arbeiten. Als de n. Die Umwandlung in etwas Namenloses«.149
Ausgangspunkt diente ihm etwa das Klassen- Nichts könnte jene »sonderbare Passage« besser sichtbar
foto eines Wiener jüdischen Gymnasiums aus machen als die Unschärfe, die das Bild einer Person auf ein blo-
dem Jahr 1931; die Gesichter der u rsprünglich ßes lleli·Dunkel, das Gesicht auf eine Fläche reduziert. Sich die
nur sehr klein darauf abgebildeten Schüler re- Ohnmacht einzugestehen, daß die Vergangenheit nicht zu verle-
Christian Boltanslti: produzierte er so stark vergrößert, daß sie nicht bendigen und nicht einmal wirklich zu erkunden ist, fa llt freilich
Gymnasium Chases (1912) nur unscharf werden, sondern sogar jegliche schwer, und so löst die Unschärfe hier ein Gefühl der Trauer aus
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- eventuell auch Reue darüber, etwas versäumt, vergessen oder 1n die simple Kausalität zwischen dem lichtempfindlichen Film
ve rloren zu haben. Damit entsteht ein verstärktes Bedürfnis und dem kameraexternen Licht immer weitere technische Pro-
nach Erinnerung, und das Foto fungiert nicht nur als Memento tesse einmischen, ist oft nicht mehr zu sagen, inwiefern ein
mori, sondern ebenso als Memento meminisse, als Aufforde- Foto überhaupt noch dem Einwirke n seiner Sujets zu verdan-
rung, sich genauer, häufiger, an mehr zu erinnern. ken ist.
Wie die Unschärfe ein Foto zu etwas rein Vergangenern - zur Um den Reiz des Unmittelbaren zurückzugewinnen, bedarf
traurigen Reliquie - werden läßt und Authentizität gerade aus- t•s also einer möglichst einfachen Kamera und einer betont un-
strahlt, weil der fotochemische Ursprung des Bilds offener zu- prätenciösen Art des Fotografierens - geradezu einer plakativen
tage liegt als bei einem scharfen Foto, gibt es ebenso Unschärfe· I)cmo nstration von Gleichgültigkeit, was die ästhetische Quali-
Effekte, die ein Bild authentisch machen, weil sie dessen Sujets t;h der Fotos anbelangt. In den 1990erjahren entwickelte sich als
besonders gegenwärtig erscheinen lassen. Das Foto ist dann eher Ccgenbewegung zur technischen Aufrüstung und Digitalisie-
eine Konserve, die gespeichertes Lebenjederzeit wiederaufleben 1ung der Fotografie die Lomographie, eine zuerst !,IOn Wiener
läßt, und nichts liegt bei seiner Betracht ung ferner als Nostalgie. 'it udenten ausgehende, bald in ganz Europa verbreitete Knipse-
Meist handelt es sich dabei um flüchtig wirkende, leicht ver- •ci m it einer als kultig gefeierten russischen Billigkamera. Die
wischte, bewegungsunscharfe oder >schiefe< Bilder, um eilige, I omo'" ist technisch auf dem Stand der 196oer Jahre und besitzt
sorglos angefertigte Schnappschüsse, die um so frischer und le- .tls ei nzigen Komfort eine elektronische Belichtungsmessung,
bendiger wirken, je w enige r de r Fotograf ei ne besondere w:ih rend nu r zwischen vier Entfernungseinstellungen gewählt
inhaltliche oder kompositorisch-künstlerische Intention damit werden kann; läßt man den Finger auf dem Auslöser, ist eine
zu verfolgen schien. Gerade die Beiläufigkeit eines Bilds verheißt I .mgzeitbelichtung möglich. Dazu kommt der Char me eines
Echtheit, da der Film nur zeigt, worauf das Objektiv zufällig ge- Ostblockprodukts, das in seiner technischen Simplizität als be-
richtet war, und keiner Gestaltungsabsicht - manipulativen En- 'onders robust gilt.
ergie - unterworfen war. Die eigens gegründete Lo mographische Gesellschaft, die 1998
Gegen Ende des zo.Jahrhunderts wuchs das Bedürfnis nach tlbc r 22 . ooo Mitglieder hatte, sorgte nicht nur für den Import
authenrischen Fotografien - wohl auch als Reaktion auf die da Kameras (monatlich vertrieb man mehrere tausend Stück),
neuen digitalen Möglichkeiten der Bildbearbeitung. Innerhalb 'ondern schwor ihre Mitglieder auch auf eine bestimmte Hal-
weniger Jahre wurden die Zweifel an der Echtheit von Fotos bei- tu ng ein, die in »ro goldenen Regeln<<zusammengefaßt wurde.
nahe habituell, und obwohl die meisten ihnen weiterhin einen I>Jzu gehört die Losung »Don't t bink<<
anderen - authentischeren - Status als Gemälden attestieren, ist oder >>Sei schnell<<, aber auch der Satz
es zumindest kritischeren Naturen z ur Regel geworden, auf ei· •l>u mußt nicht im vorneherein wissen,
nem Bild nach Indizien Ausschau zu halten, die eine eventuelle w.1~ aufDeinem Film drauf ist<<sowie die
nachträgliche Bearbeitung verraten. Die Entwicklung der Foto- '\uiTorderung >> Übe den Schuß aus der
grafie zu einem (digitalen) High-Tech-Produkt droht somit ge- ll.t nd <c' 5 z All diese Maximen betonen die
rade die Eigenschaft zu verdrängen, die vielen am wichtigsten lkd ;i u figkeit des Fotografierens, das
war, nämlich j ene ihr allein zukommende Fähigkeit, statt Ab- kt• tnc Unterbrechung des sonstigen Tuns
bildern direkte Spuren des Abgebildeten zu bieten ." 0 Indem sich d.11·stellen, sondern nebenbei geschehen Lomographie
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soll - ohne Nachdenken, ohne Planung, ohne Zuhilfenahme des Foto erst recht nicht mehr als Abbild - und darrut über eine Aus-
Suchers. Entsprechend sind die meisten Bilder verwackelt, zei· 'age- rezipieren läßt, sondern als Spur, als Partikel eines unbe-
gen ihre Sujets aus der Umcrsicht - als häne der Knipser seine 'chwerdlotten Lebensgefühls wahrnehmbar macht.
Augen in Hüfthöhe - oder angeschnitten. Der Fotografsteht sei· Da aber verwackelte, schräge und nahsichtige