-::) ?~ \J~~ Petrarca erlebe Natur noch nicht als Landschaft in der Korrespondenz von
Welt und Seele. Karl Heinz Stierle verstärkt und vervielfacht das Echo der
~ Seine Besteigung des Mont Ventoux hat Prancesco Petrarea auf den 26. April Thesen Ritters, wenn er 1979 in PttrarcaJ Landschaftm diesen auf dem Mont
')-..
1336 dauert. I Sechshundert Jahre später schrieb der Bergschriftsteller Walter Ventoux an der Schwelle zu einer neuen Epoche der ästhetischen Wahrneh-
Schmidkunz zum Wiederabdruck der deutschen Übersetzung von Petrareas mung sieht, verfallen der -ästhetischen Paszination einer die menschliche
1
.". Brief in Früht allgnuse du Alpmbtgtutmmg über dieses Ereignis: ' Man hat Sehkraft übersteigenden, den Blick ins Unabsehbare erschlossenen Land-
Petrarea den ,Vater des Bergsteigens. genannt und jenen 26. April als den schaft" .
~
'Geburtstag des Alpinismus. bezeichnet ... Petrarcas Bergfahrt war für seine Zehn Jahre später geht Stierle über diese Interpretation noch hinaus :
Zeit eine Tat, die zugleich ein großer Anfang, ei n hymnischer Auftakt war, in · Petrarcas Blick nach unten folgt einer übermächtigen Verlockung, die
den die vollen Akkorde allerdings erst spät, sehr spät einfielen.' wirksam wird, noch ehe die Reflexion auf den Plan tritt ... Die Welt zeigt sich
~ Eine solche Einschätzung war keineswegs der skurrile Einfall eines Bergli- dem Auge in einer neuen, innerweltlichen Erschlossenheit, die etwas von
teraten . Sie geht vielmehr auf keinen Geringeren alsJacob Burekhardt zurück, einer magisch saugenden Intensität hat ... Der Anblick der in momentaner
~ der 1860 in seiner Kllltllr du Renaissal1ft ill/talim betonte: -Vollständig und mit
größter Entschiedenheit bezeugt dann Petrarea, einer der frühesten völlig
Evidenz sich ausbreitenden Welt ist die Erfahrung einer jähen Bewußtseinser-
weiterung bis an die Grenzen der Bewußtseinsüberforderung. In ihr wird das
~ modernen Menschen, die Bedeutung der Landschaft fur die erregbare Seele Bewußtsein sich gleichsam erstmals seiner Mächtigkeit zur Welterschließung
.t . .. der Anblick der Natur traf ihn unmittelbar. Der Naturgenuß ist für ihn der inne.· 2
~ erwünschteste Begleiter jeder geistigen Beschäftigung ... Die wahrste und Das sind starke Töne und starke Interpretationen. Kann der Text des
tiefste Aufregung aber kömmt über ihn bei der Besteigung des Mont Ventoux Briefes sie tragen?
... Ein unbestimmter Drang nach einer weiten Rundsicht steigert sich in ihm Die drei zitierten Autoren beschreiben, wenn auch mit unterschiedlichem
l
aufs höchste ... Eine Beschreibung der Aussicht erwartet man nun allerdings Pathos, Petrarcas Zuwendung zur äußeren Natur als großen, neuartigen
vergebens, aber nicht, weil der Dich ter dagegen unempfindlich wäre, sondern Aufbruch, der auf dem Gipfel einen jähen Umschlag erfahrt: in jenem
im Gegenteil, weil der Eindruck all zu gewaltig auf ihn wirkt." entscheidenden Augenblick nämlich, in dem Petrarca einem Wort Augustins
Burekhardts Urteil ist als kanonisches in die Geschichtsbücher eingegan- folgt, sich von der diesseitigen Welt abwen det und ins eigene Ich versenkt.
'f
~~"-??
ge n. Es bewies eine solche Suggestiv kraft, daßJoachim Ritter seinen berühm- Hans Blumenberg charakterisiert in Legitimitllt der Nelluit (1966) den gesamten
ten Vortrag LmlliIchaft. Zur Fllnktion des kthetuch", ill der modernen Gesellschaft Vorgang als einen, ,dessen Attribute man genauso als ,tiefmittelalterlich' wie
(1962) mit Petrareas Besteigung des Mont Ventoux beginnen läßt, obwohl als ,frühn euzeitlich· bezeichnen könnte". Aus dieser Perspektive erscheint der
;. dieses Ereignis zu seinem systematischen Ansatz eigentümlich querliegt. 26. April 1336 als einer -der großen, unentschieden zwischen den Epochen
Q• Denn Ritters zentrale These lautet : Natur als Landschaft kann es nur unter oszillierenden Augenblicke", auch wenn sich am Ende -die Innerlichkeit
~ 'l- der Bedingung der Freiheit auf dem Boden der modernen Gesellschaft geben. gegen die Weltergriffenheit durchsetzt".
~
"
~
~ Gleichwohl hat rur Ritter die Besteigung des Mont Ventoux -epochale
Bedeutung"; hier erweise sich nämlich zum ersten Mal, daß Natur als
Landschaft Frucht und Erzeugnis des theoretischen Geistes sei.
Aber ist dieses Schema -Aufbruch ins Neue - Rückfall ins Alte" dem Text
angemessen? Was zu der weiteren Prage führt, ob dieser Brief Petrarcas denn
überhaupt eine Epochenscheide in der Geschichte der ästhetischen Naturer-
x
~ Ritters Theorie der Landschaftserfahrung war außerordentlich einfluß- fahrung markiert.
"" c reich. Seit Jahrzehnten spielt sie in den Veröffentlichungen zum Thema Möglicherweise ist die Tatsache, daß der Text heute gemeinhin unter dem
Titel ßesltigllng des Mont Ventollx abgedruckt wird, bereits selbst Ausdruck und
j•
Naturästhetik eine wichtige :olle:-fürH1!lIT1\o 1 bert J auß' Interpretation wie
MONUMENTA ' Ergebnis eines - überaus produktiven - rezeptionsgeschichtlichen Mißver-
~ Gl.:RMANIAE stän·dnisses . Denn Petrarea hat im Anschreiben des Briefes den Mont
;, I Die Pctrarca-Tcxtc si nd am eh ang Iclli-n :- Dich/lU/gm, Brit{t. Schriftm. Frank- Ventoux nicht thematisiert. Er will vielmehr seinem Beichtvater Dionigi ode
I': furt : Inse.1 1980; Lr Familiar~. Bd. I: Florenz 1933; Brit{t n1l dir Nachwelt. Leipzig 1910;
~ ProJt. Malland 1955; C(l11zomtre. Madand 1974. - Was die neueste Petra rca' Di skussi on
betrifft, beziehen wir uns außer den ziti erten Autoren vor allem auf Han s Baron Rino l Karl Hein z Stierle, Dit E1Jldrckrmg drr Lmrdsrhaft in l_ilfratur und Malmi dtr ilnlimi!rhm
Capu to, Kenneth M. Cool, Robert M. Durling, Wilhclm Pötters, Fran cisco Ri~o,Jill RmaisJaf/u. In : Heinz-Dieter Weber (Hrsg.), Vom If/nmld du IUlluitlirhm Nalllrbtf,riffi.
Iln l, I" ••, .. Ko nsta nz : Universitärsve rlag 1989.
~ -_. - Merkur 46, 1992 (N o. 51"(), S. 290 - 30 7 Petrarca und der Moot Ventoux 29\
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Welt und Seele. Karl Heinz Stierle verstärkt und vervielfacht das Echo der
~ Seine Besteigung des Mont Ventoux hat Prancesco Petrarea auf den 26. April Thesen Ritters, wenn er 1979 in PttrarcaJ Landschaftm diesen auf dem Mont
')-..
1336 dauert. I Sechshundert Jahre später schrieb der Bergschriftsteller Walter Ventoux an der Schwelle zu einer neuen Epoche der ästhetischen Wahrneh-
Schmidkunz zum Wiederabdruck der deutschen Übersetzung von Petrareas mung sieht, verfallen der -ästhetischen Paszination einer die menschliche
1
.". Brief in Früht allgnuse du Alpmbtgtutmmg über dieses Ereignis: ' Man hat Sehkraft übersteigenden, den Blick ins Unabsehbare erschlossenen Land-
Petrarea den ,Vater des Bergsteigens. genannt und jenen 26. April als den schaft" .
~
'Geburtstag des Alpinismus. bezeichnet ... Petrarcas Bergfahrt war für seine Zehn Jahre später geht Stierle über diese Interpretation noch hinaus :
Zeit eine Tat, die zugleich ein großer Anfang, ei n hymnischer Auftakt war, in · Petrarcas Blick nach unten folgt einer übermächtigen Verlockung, die
den die vollen Akkorde allerdings erst spät, sehr spät einfielen.' wirksam wird, noch ehe die Reflexion auf den Plan tritt ... Die Welt zeigt sich
~ Eine solche Einschätzung war keineswegs der skurrile Einfall eines Bergli- dem Auge in einer neuen, innerweltlichen Erschlossenheit, die etwas von
teraten . Sie geht vielmehr auf keinen Geringeren alsJacob Burekhardt zurück, einer magisch saugenden Intensität hat ... Der Anblick der in momentaner
~ der 1860 in seiner Kllltllr du Renaissal1ft ill/talim betonte: -Vollständig und mit
größter Entschiedenheit bezeugt dann Petrarea, einer der frühesten völlig
Evidenz sich ausbreitenden Welt ist die Erfahrung einer jähen Bewußtseinser-
weiterung bis an die Grenzen der Bewußtseinsüberforderung. In ihr wird das
~ modernen Menschen, die Bedeutung der Landschaft fur die erregbare Seele Bewußtsein sich gleichsam erstmals seiner Mächtigkeit zur Welterschließung
.t . .. der Anblick der Natur traf ihn unmittelbar. Der Naturgenuß ist für ihn der inne.· 2
~ erwünschteste Begleiter jeder geistigen Beschäftigung ... Die wahrste und Das sind starke Töne und starke Interpretationen. Kann der Text des
tiefste Aufregung aber kömmt über ihn bei der Besteigung des Mont Ventoux Briefes sie tragen?
... Ein unbestimmter Drang nach einer weiten Rundsicht steigert sich in ihm Die drei zitierten Autoren beschreiben, wenn auch mit unterschiedlichem
l
aufs höchste ... Eine Beschreibung der Aussicht erwartet man nun allerdings Pathos, Petrarcas Zuwendung zur äußeren Natur als großen, neuartigen
vergebens, aber nicht, weil der Dich ter dagegen unempfindlich wäre, sondern Aufbruch, der auf dem Gipfel einen jähen Umschlag erfahrt: in jenem
im Gegenteil, weil der Eindruck all zu gewaltig auf ihn wirkt." entscheidenden Augenblick nämlich, in dem Petrarca einem Wort Augustins
Burekhardts Urteil ist als kanonisches in die Geschichtsbücher eingegan- folgt, sich von der diesseitigen Welt abwen det und ins eigene Ich versenkt.
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ge n. Es bewies eine solche Suggestiv kraft, daßJoachim Ritter seinen berühm- Hans Blumenberg charakterisiert in Legitimitllt der Nelluit (1966) den gesamten
ten Vortrag LmlliIchaft. Zur Fllnktion des kthetuch", ill der modernen Gesellschaft Vorgang als einen, ,dessen Attribute man genauso als ,tiefmittelalterlich' wie
(1962) mit Petrareas Besteigung des Mont Ventoux beginnen läßt, obwohl als ,frühn euzeitlich· bezeichnen könnte". Aus dieser Perspektive erscheint der
;. dieses Ereignis zu seinem systematischen Ansatz eigentümlich querliegt. 26. April 1336 als einer -der großen, unentschieden zwischen den Epochen
Q• Denn Ritters zentrale These lautet : Natur als Landschaft kann es nur unter oszillierenden Augenblicke", auch wenn sich am Ende -die Innerlichkeit
~ 'l- der Bedingung der Freiheit auf dem Boden der modernen Gesellschaft geben. gegen die Weltergriffenheit durchsetzt".
~
"
~
~ Gleichwohl hat rur Ritter die Besteigung des Mont Ventoux -epochale
Bedeutung"; hier erweise sich nämlich zum ersten Mal, daß Natur als
Landschaft Frucht und Erzeugnis des theoretischen Geistes sei.
Aber ist dieses Schema -Aufbruch ins Neue - Rückfall ins Alte" dem Text
angemessen? Was zu der weiteren Prage führt, ob dieser Brief Petrarcas denn
überhaupt eine Epochenscheide in der Geschichte der ästhetischen Naturer-
x
~ Ritters Theorie der Landschaftserfahrung war außerordentlich einfluß- fahrung markiert.
"" c reich. Seit Jahrzehnten spielt sie in den Veröffentlichungen zum Thema Möglicherweise ist die Tatsache, daß der Text heute gemeinhin unter dem
Titel ßesltigllng des Mont Ventollx abgedruckt wird, bereits selbst Ausdruck und
j•
Naturästhetik eine wichtige :olle:-fürH1!lIT1\o 1 bert J auß' Interpretation wie
MONUMENTA ' Ergebnis eines - überaus produktiven - rezeptionsgeschichtlichen Mißver-
~ Gl.:RMANIAE stän·dnisses . Denn Petrarea hat im Anschreiben des Briefes den Mont
;, I Die Pctrarca-Tcxtc si nd am eh ang Iclli-n :- Dich/lU/gm, Brit{t. Schriftm. Frank- Ventoux nicht thematisiert. Er will vielmehr seinem Beichtvater Dionigi ode
I': furt : Inse.1 1980; Lr Familiar~. Bd. I: Florenz 1933; Brit{t n1l dir Nachwelt. Leipzig 1910;
~ ProJt. Malland 1955; C(l11zomtre. Madand 1974. - Was die neueste Petra rca' Di skussi on
betrifft, beziehen wir uns außer den ziti erten Autoren vor allem auf Han s Baron Rino l Karl Hein z Stierle, Dit E1Jldrckrmg drr Lmrdsrhaft in l_ilfratur und Malmi dtr ilnlimi!rhm
Capu to, Kenneth M. Cool, Robert M. Durling, Wilhclm Pötters, Fran cisco Ri~o,Jill RmaisJaf/u. In : Heinz-Dieter Weber (Hrsg.), Vom If/nmld du IUlluitlirhm Nalllrbtf,riffi.
Iln l, I" ••, .. Ko nsta nz : Universitärsve rlag 1989.
292 Ruth Groh/Dieter Groh Pctrarca und der Mont Ventoux 293
curis pfopciis«, von seinen eigenen Sorgen, seinen inneren Konflikten Nun reicht der Hinweis auf den fiktiven Status des Briefes noch nicht aus,
berichten. Und in der internationalen Petrarca-Forschung herrscht auch um das Mont-Ventoux-Erlebnis als Zeugnis einer Epochenschwelle hinsicht-
weitgehend Einvernehmen darüber, daß ' we must give up the charming lich der Landschaftserfahrung in Zweifel zu ziehen . Denn Petrarcas fiktives
notion of Petrarch alpinirta, the first European to c1imb a mountain because it Ich erl ebt ja immerhin einen für dieses Ich wirklichen Berg. Petrarca verfolgt
is there·" Freilich hat Petrarca selbst zu dieser Legende beigetragen. Durch jedoch ei ne literarische Strategie, die die Wirklichkeit des Berges, seine
ei ne falsche Datieruilg hat er bei geneigte n Lesern die Illusion ge nährt, der Bedeutung als Gegenstand de r natürlichen Welt in einem Netzwerk meta-
Bericht sei spo ntaner Ausdruck eines überwältigenden Bergerlebnisses, zu phorischer Verweisungen beinahe zum Verschwinden bringt.
Papier gebracht am Abend des 26. April 1336, unmittelbar nach der Rückkehr In Petrarcas Brief lassen sich auf den ersten Blick zwei Diskursformen
vom Mont Ventoux. In Wahrheit hat Petrarca den Brief erst 1353, also 17 unterscheiden; zum einen die Rede, die sich auf das Unternehmen der
Jahre später verfaßt, zu einem Zeitpunkt, an dem der Adressat bereits zehn Besteigung bezieht, also auf den lilerariJehm Berg als wirklichen. Dazu ge hö ren
Jahre tot war. der Bericht über die Vorbereitunge n, die Nennung des Motivs, die Suche
Bereits der unbefangene Leser mag sich wundern, daß dieser Buchgelehrte nach einem Begleiter, die Begegnung mit dem alten Hirten, die Schilderung
seinen kunstvoll konstruierten, g ut zehn Druckseiten lange n Brief . in Eile der Beschaffenheit des Weges und die Beschreibung der Aussicht vom
und aus dem Stegreif. geschrieben haben will. Und das am späten Abend des Gipfel. Diese Teile des Briefes nennen wir - zu heuristischen Zwecken - den
Tages der Besteigung in der Herberge von Malauc"ne nach einem Fußmarsch . Außenweitdiskurs' . Den . Innenweltdiskurs· bilden demgegenüber die
von 40 Kilometern und nach Überwindung von über 1300 Höhenmetern. Er Selbstgespräche Petrarcas, seine durch den Aufstieg und das Gipfelerlebnis
wird auch, schlägt er die Forschungsliteratur auf, rasch darüber belehrt, daß ausgelösten Erinnerungen und sei ne Reflexionen · de (uris propriis«. Der
Petrarca für die Abfassung seines Textes wo hl seine Bibliothek zur Hand wese ntliche innere Konflikt nährt sich aus dem für ihn antithetischen
gehabt haben muß, wenn er rund 20 direkte un d indirekte Zitate im Text Verhältnis von Außenwelt und Innenwelt, aus den unüberwindbar scheinen-
verarbeitet hat. den moralphilosoph ischen Oppositionen von Weltverfallenheit un d Versen-
Eine formale Betrachtung von De mriJ propriis, nach Meinung vieler kung ins eigene Ich, vo n Diesseitigkeit und Heilssorge.
Forscher der Höhepunkt seines gesamten Briefwerks, zeigt, wie kunstvoll der Die eingangs zi tierten Deutungen unter dem Schema · Aufbruch ins Neue-
Brief komponiert wurde. Die Mittel, die der Autor dabei verwendet, erhärten Rückfall ins Alte. lesen den Bericht, als kippe auf dem G ipfel der Außenwelt-
die Vermutung, daß es sich hier um ei n fiktives Dokument einer idealisierten diskurs in den Innenweltdiskurs um. Nun zeigt aber bereits der jeweilige
Autobiographie handelt. Umfang der beiden Diskurse ei ne deu tliche Prävalenz der Innenwelt an;
Wie der von ihm bewunderte Dante und andere Dichter seines Zeitalters darüber hinaus erweist sich der Außenweltdiskurs von de r ersten Seite an als
war Petrarca fasziniert von der Zahlensymbolik, ei nem christianisierten und imliliziier Innenweltdiskurs.
biblisch (Weis heit 11,21) legitimierten Erbe platonisch-pythagoräischen Den-
kens. Dem Mont-Ventoux-Briefhat er ein ausgek lügeltes Gerüst za hlensym -
bolischer Bezüge eingebaut, basierend auf den heiligen Zahlen 3, 6 und 10.
Der Mont VelllOllx als Bekehl'/lllgsberg
Hier nur ein Beispiel: Bereits das fingierte Datum folgt dem tradierten Am Schlu ß seines Berichts bittet Petrarca den Adressaten, Dionigi, sei n
Konzept eines typologischen Zeitverständnisses. Am 26. April 1336 befand . Iiebevo ller Vater' möge für ihn beten, damit seine Gedanken, die solange
sich Petrarca nämlich im 33. Lebensjahr, also im selben Alter, in dem unstet und unbeständig gewesen seien, nun »endlich ei nmal verweilen" und
Augustin sei ne Bekehrung in der Nachfolge Christi erlebt haben will. sich "lU dem einen Guten, Wahren, Sicheren, Dauernden kehren « mögen.
Außerdem ve rlangte die christliche Symboli k für eine Bekehrung vorzugs- Der Autor wi ll, daß sein Leser die Geschichte dieses Tages als Bekehrungsge-
weise den April und einen Freitag, weshalb nur de r 26. April 1336 in Frage schichte versteht. Er selbst reiht seine Geschichte in die der Bekehrungen ein,
kam, weil in der 26 immerhin die Zahl 6 enthalten war. indem er an Antonius und Augustin erinnert, die sich beide vo n Bibelworten
Alles spricht dafür, daß der Bericht von de r Besteigung des Mont Ventoux unmittelbar ansprechen und auffordern lassen, die entscheidende Wende
am 26. April 1336 fingiert ist. Ob Petrarca den Berg oder einen von ihres Lebens hin zu Gott zu vollziehen.
verg leichbarer Höhe je bestiegen hat und mit wem, da rüber gibt es nur Nu n gehört zu ei ner ordentlichen Bekehru ng ein Sü nder, und die Frage ist,
Vermutungen . J edenfalls hat er den Brief eigens geschrieben, um ihn als an welcher Stelle des Textes sich der Autor als Sünder zu erke nnen gibt. Auf
.Jugendbrief. dem Corpus seiner umfangreichen Briefsammlung ei nzufügen. den ersten Blick fang t näm lich sein Bericht ga nz munter an. Der zweite Satz
nen nt als einziges Motiv für die Besteigung -die Begierde, die ungewöhnliche
Höhe dieses Flecks Erde durch Augenschein kenn enzulernen· (-sola videndi
3 Michael O'Conncll, Alllhority ami Ihr Tru,h in Ptlrar(h's ·Armu o[ Monl Vmtoux-. In: insignem loci altitudinem cupiditate ductus' ) ' Scho n lange habe er vorge habt,
PhilnlfJP;mIOllflrltrlv. Nr. 62. 1983184. den Berg, der ihm seit seiner Kindheit vor Augen gesta nden, zu besteigen .
292 Ruth Groh/Dieter Groh Pctrarca und der Mont Ventoux 293
curis pfopciis«, von seinen eigenen Sorgen, seinen inneren Konflikten Nun reicht der Hinweis auf den fiktiven Status des Briefes noch nicht aus,
berichten. Und in der internationalen Petrarca-Forschung herrscht auch um das Mont-Ventoux-Erlebnis als Zeugnis einer Epochenschwelle hinsicht-
weitgehend Einvernehmen darüber, daß ' we must give up the charming lich der Landschaftserfahrung in Zweifel zu ziehen . Denn Petrarcas fiktives
notion of Petrarch alpinirta, the first European to c1imb a mountain because it Ich erl ebt ja immerhin einen für dieses Ich wirklichen Berg. Petrarca verfolgt
is there·" Freilich hat Petrarca selbst zu dieser Legende beigetragen. Durch jedoch ei ne literarische Strategie, die die Wirklichkeit des Berges, seine
ei ne falsche Datieruilg hat er bei geneigte n Lesern die Illusion ge nährt, der Bedeutung als Gegenstand de r natürlichen Welt in einem Netzwerk meta-
Bericht sei spo ntaner Ausdruck eines überwältigenden Bergerlebnisses, zu phorischer Verweisungen beinahe zum Verschwinden bringt.
Papier gebracht am Abend des 26. April 1336, unmittelbar nach der Rückkehr In Petrarcas Brief lassen sich auf den ersten Blick zwei Diskursformen
vom Mont Ventoux. In Wahrheit hat Petrarca den Brief erst 1353, also 17 unterscheiden; zum einen die Rede, die sich auf das Unternehmen der
Jahre später verfaßt, zu einem Zeitpunkt, an dem der Adressat bereits zehn Besteigung bezieht, also auf den lilerariJehm Berg als wirklichen. Dazu ge hö ren
Jahre tot war. der Bericht über die Vorbereitunge n, die Nennung des Motivs, die Suche
Bereits der unbefangene Leser mag sich wundern, daß dieser Buchgelehrte nach einem Begleiter, die Begegnung mit dem alten Hirten, die Schilderung
seinen kunstvoll konstruierten, g ut zehn Druckseiten lange n Brief . in Eile der Beschaffenheit des Weges und die Beschreibung der Aussicht vom
und aus dem Stegreif. geschrieben haben will. Und das am späten Abend des Gipfel. Diese Teile des Briefes nennen wir - zu heuristischen Zwecken - den
Tages der Besteigung in der Herberge von Malauc"ne nach einem Fußmarsch . Außenweitdiskurs' . Den . Innenweltdiskurs· bilden demgegenüber die
von 40 Kilometern und nach Überwindung von über 1300 Höhenmetern. Er Selbstgespräche Petrarcas, seine durch den Aufstieg und das Gipfelerlebnis
wird auch, schlägt er die Forschungsliteratur auf, rasch darüber belehrt, daß ausgelösten Erinnerungen und sei ne Reflexionen · de (uris propriis«. Der
Petrarca für die Abfassung seines Textes wo hl seine Bibliothek zur Hand wese ntliche innere Konflikt nährt sich aus dem für ihn antithetischen
gehabt haben muß, wenn er rund 20 direkte un d indirekte Zitate im Text Verhältnis von Außenwelt und Innenwelt, aus den unüberwindbar scheinen-
verarbeitet hat. den moralphilosoph ischen Oppositionen von Weltverfallenheit un d Versen-
Eine formale Betrachtung von De mriJ propriis, nach Meinung vieler kung ins eigene Ich, vo n Diesseitigkeit und Heilssorge.
Forscher der Höhepunkt seines gesamten Briefwerks, zeigt, wie kunstvoll der Die eingangs zi tierten Deutungen unter dem Schema · Aufbruch ins Neue-
Brief komponiert wurde. Die Mittel, die der Autor dabei verwendet, erhärten Rückfall ins Alte. lesen den Bericht, als kippe auf dem G ipfel der Außenwelt-
die Vermutung, daß es sich hier um ei n fiktives Dokument einer idealisierten diskurs in den Innenweltdiskurs um. Nun zeigt aber bereits der jeweilige
Autobiographie handelt. Umfang der beiden Diskurse ei ne deu tliche Prävalenz der Innenwelt an;
Wie der von ihm bewunderte Dante und andere Dichter seines Zeitalters darüber hinaus erweist sich der Außenweltdiskurs von de r ersten Seite an als
war Petrarca fasziniert von der Zahlensymbolik, ei nem christianisierten und imliliziier Innenweltdiskurs.
biblisch (Weis heit 11,21) legitimierten Erbe platonisch-pythagoräischen Den-
kens. Dem Mont-Ventoux-Briefhat er ein ausgek lügeltes Gerüst za hlensym -
bolischer Bezüge eingebaut, basierend auf den heiligen Zahlen 3, 6 und 10.
Der Mont VelllOllx als Bekehl'/lllgsberg
Hier nur ein Beispiel: Bereits das fingierte Datum folgt dem tradierten Am Schlu ß seines Berichts bittet Petrarca den Adressaten, Dionigi, sei n
Konzept eines typologischen Zeitverständnisses. Am 26. April 1336 befand . Iiebevo ller Vater' möge für ihn beten, damit seine Gedanken, die solange
sich Petrarca nämlich im 33. Lebensjahr, also im selben Alter, in dem unstet und unbeständig gewesen seien, nun »endlich ei nmal verweilen" und
Augustin sei ne Bekehrung in der Nachfolge Christi erlebt haben will. sich "lU dem einen Guten, Wahren, Sicheren, Dauernden kehren « mögen.
Außerdem ve rlangte die christliche Symboli k für eine Bekehrung vorzugs- Der Autor wi ll, daß sein Leser die Geschichte dieses Tages als Bekehrungsge-
weise den April und einen Freitag, weshalb nur de r 26. April 1336 in Frage schichte versteht. Er selbst reiht seine Geschichte in die der Bekehrungen ein,
kam, weil in der 26 immerhin die Zahl 6 enthalten war. indem er an Antonius und Augustin erinnert, die sich beide vo n Bibelworten
Alles spricht dafür, daß der Bericht von de r Besteigung des Mont Ventoux unmittelbar ansprechen und auffordern lassen, die entscheidende Wende
am 26. April 1336 fingiert ist. Ob Petrarca den Berg oder einen von ihres Lebens hin zu Gott zu vollziehen.
verg leichbarer Höhe je bestiegen hat und mit wem, da rüber gibt es nur Nu n gehört zu ei ner ordentlichen Bekehru ng ein Sü nder, und die Frage ist,
Vermutungen . J edenfalls hat er den Brief eigens geschrieben, um ihn als an welcher Stelle des Textes sich der Autor als Sünder zu erke nnen gibt. Auf
.Jugendbrief. dem Corpus seiner umfangreichen Briefsammlung ei nzufügen. den ersten Blick fang t näm lich sein Bericht ga nz munter an. Der zweite Satz
nen nt als einziges Motiv für die Besteigung -die Begierde, die ungewöhnliche
Höhe dieses Flecks Erde durch Augenschein kenn enzulernen· (-sola videndi
3 Michael O'Conncll, Alllhority ami Ihr Tru,h in Ptlrar(h's ·Armu o[ Monl Vmtoux-. In: insignem loci altitudinem cupiditate ductus' ) ' Scho n lange habe er vorge habt,
PhilnlfJP;mIOllflrltrlv. Nr. 62. 1983184. den Berg, der ihm seit seiner Kindheit vor Augen gesta nden, zu besteigen .
1{,uth lJroh /lJteter vroh Petrarca und der Mont Ve ntoux 29)
Aber erst die Lektüre von Livius' Bericht über die Besteigung des Berges bedeutet, etwas um seiner selbst willen lieben . Solche Liebe steht nur Gott
Haemus durch Philipp von Mazedo nien habe den Anstoß dazu gegeben. Für zu, Lieben wir etwas anderes, einen Menschen, einen Sinnenreiz, eine
die heutige Besteigung habe er nach reiflicher Überlegung als Gefahrten Erkenntnis um seiner oder ihrer selbst willen, so ist das verkehrte Liebe,
seinen jüngeren Bruder Gherardo gewählt, um die ·anständige Vergnügung", abgöttische Liebe im genauen Wortsinn: Idolatrie, Götzendienst. Augustin
die er im Sinn gehabt habe, nicht durch die Wahl eines ungeeigneten nennt sie je nachdem ctlpiditas, voluptas oder cOl1C11pircentia. Da er nur Gott als
Begleiters zu gefahrden. Was jedoch als Vergnügung geplant war, erweist sich Selbstzweck anerkennt, muß er alle Dinge dieser Welt als Mittel zu diesem
alsbald durch die widerständige Natur des Ortes als verwegenes Unterneh- Zweck ansehen. Seine Theorie sinnlicher Erfahrung gebietet geradezu, das
men. Der Berg erscheint als . eine jäh abstürzende, fast unersteigliche Fels- Irdische, Menschen und Natur, zu einem überirdischen Zweck zu gebrau-
masse". An seinem Hang begegnet die Gruppe - jeder der Brüder hat einen chen. Dieses Theorem kann Petrarca auf das Verhältnis zur äußeren Natur
Diener bei sich - einem greisen Hirten, der als Warner auftritt. Dieser habe nicht anwenden; dafür zeugt sein Motiv der {tlpiditas videndi. Er stellt von
' vor fünfzig Jahren in ebensolchem Ansturm jugendlichen Feuers den vornherein das ganze Unternehmen der Besteigung unter das Verdikt Augu-
höchsten Gipfel erstiegen", jedoch · nichts heimgebracht als Reue und Mühe stins. .
und von Felskanten und Dornenges trüpp zerrissenen Leib und Rock-. Aber Joachim Ritter hat in seinem Landschafts-Aufsatz Petrarcas Motiv ganz
die Warnungen fru chteten nichts, im Gegenteil: "am Verbote« wuchs nur ,.das anders interpretiert : -Er besteigt, alle praktischen Zwecke hinter sich lassend,
Verlangen« (. crescebat ex prohibitione cupiditas"). den Berg, um auf dem Gipfel, getrieben allein von dem Verlangen zu schauen,
Dieser erste Abschnitt des Berichts böte eine für das Jahr 1336 erstaunlich in freier Betrachtung und Theorie an der ganzen N atur und an Gott teil zu
modern e Geschichte eine r Bergreise, wen n er nicht folgenden Rechtferti- haben.'
gungsversuch enthielte: ' Mir schien für einen Jüngling ohne Anteil am Damit stell t Ritter Petrarca in die Tradition der theomilchen Kontemplation,
Staatsleben entschuldbar zu sein, was man ja an einem g reisen König nicht die seit Plato n und Aristoteles ihre ErfUllung darin findet, des Göttlichen
tadelt". Petrarca unterschlägt freilich bei dieser Analogie, daß Philipp nicht teilhaftig zu werden.
aus bloßer Neugier, sondern aus strategischen Gründen den Haemus bestie- Augustin kennt außer der rein geistigen Schau des Absoluten aber auch die
gen hat, so daß im Brieftext beider Motive in ei ns fallen : Es ist Lust auf Schau Gottes, vermittelt durch die sichtbare Welt. Dieser Erkenntnisweg zu
Welterkundung durch sinnliche Erfahrung um ihrer selbst willen. Diese Lust Gott läßt sich offensichtlich in Einklang bringe n mit dem II/ifrui-Schema,
gilt Petrarca als eige ntlich un erlaubt, ihr nachzugehen als Jugendsünde. denn hierbei werden Weltdinge nicht um ihrer selbst willen genossen,
Bereits hier meldet sich die Innenwelt zu Wort, und die ist, wie später der sondern zu einem überirdischen Zweck gebraucht. Im 7. Buch der COl1ftjjioneJ
Aufstieg auf den Berg und das Gipfelerlebnis in aller Deutlichkeit zeigen bekennt er unter Berufung auf Römer 1,20: · Ich war mir auch völlig gewiß,
werden, bestimmt durch die Augustinische Moralphilosophie. Keineswegs daß ,Dein Unschaubares sei t Erschaffung der Welt im Mittel der Schöpfungs-
setzt Petrarca, wie manche meinen, mit seinem Bekenntnis zur CIIpiditaJ vidcndi dinge erkenntnis weise zu ersehen ist ., ,'«
das tradierte Tabu der CIIrio,itas außer Kraft. Sein Rechtfertig ungsvers uch mit Dieses Zitat ist nu r eines unter vielen, die über das schöpfungstheologische
der Struktur eines Zwar-Aber-Arguments - Es ist zwa r verbote n, aber man Konzept Augustins Auskunft gebe n. Hier liegt der Ursprung der mittelalter-
wird mir schon mildernde Umstände zubilligen, etwa mein jugendliches lichen Auffass ung, die Natur, alle natürlichen Dinge hätten Zeichen- oder
Ungestüm - bestätigt vielmehr entschieden die Geltung des Augustinischen Verweisungscharakter: Alles Schöne verweise auf die transzendente Quelle
Neugierverbots. Petrarcas Motiv der ctlpiditas vidmdi ist deshalb nichts des Schönen. Diese Lehre ist in Augustinischer Tradition ein Erbe der antiken
anderes als die von Augustin verworfene VO/UPlaJ oder COf/CUpiscenlia om/orum. theoria, und dieses Erbe hat bis weit in die Neu zeit hinein seine Wirkungs kraft
Weder die Lust der Augen an den Schönheiten - oder Abscheulichkeiten - nicht verloren. Naturbetrachtung ist so kein 'irdisches Vergnügen, sondern
der Welt noch die Lust des Erkennens wird von Augustin gebilligt. Das Sehen ein . irdisches Vergnügen in Gott·, wie der physikotheologische Dichter
um des Sehens willen verurteilt er mit gleicher Schärfe wie das Wissen um des Barthold Hinrich Brockes zu Beginn des 18. Jahrhunderts sagen wird. Vo m
Wissens willen, das ästhetische Vergnügen ebenso wie di e wissenschaftliche irdischen Vergnügen, wenn auch in Gott, war freilich der Kirchenvater noch
Neugier. weit entfernt. Sein Rigorismus hätte das Brockes-Prog ramm des doppelten
Die Grundlage, der mo ralphilosophischen Theorie sin nl icher Erfahrung Sehens - si nnlich und übersinnlich - verwerfen müssen, wollte er doch den
bildet Augusti ns berühmte Unterscheidung von [rtli und tl/i': Genießen.[rui, Dingen der natürlichen Welt lediglich eine Rolle als flü chtiger Anreger zur
darf der Mensch nur Gott; alles an dere darf nur ge braucht werden, /IIi. Eine Gotteserkenntnis zugestehen .
Sü nde ist es, etwas zu ge nießen, das nur gebraucht werde n darf. Genießen Vo n solchen Gedankengängen findet sich im Mont-Ventoux-Brief keine
Spur. Ritter hat also, angeregt durch Burckhardt und in dem Bestreben, in
diesem Bericht eine frühe Form der Landschaftserfahrung -auf dem Boden
4 Vgl. Kurt Fla sch, AugtlJlin, Stuttga rt: Rcclam 1980. des theoretischen Geistes" auszumachen. die Ihcn,.ia in den Text hinein jl"('lC'·
1{,uth lJroh /lJteter vroh Petrarca und der Mont Ve ntoux 29)
Aber erst die Lektüre von Livius' Bericht über die Besteigung des Berges bedeutet, etwas um seiner selbst willen lieben . Solche Liebe steht nur Gott
Haemus durch Philipp von Mazedo nien habe den Anstoß dazu gegeben. Für zu, Lieben wir etwas anderes, einen Menschen, einen Sinnenreiz, eine
die heutige Besteigung habe er nach reiflicher Überlegung als Gefahrten Erkenntnis um seiner oder ihrer selbst willen, so ist das verkehrte Liebe,
seinen jüngeren Bruder Gherardo gewählt, um die ·anständige Vergnügung", abgöttische Liebe im genauen Wortsinn: Idolatrie, Götzendienst. Augustin
die er im Sinn gehabt habe, nicht durch die Wahl eines ungeeigneten nennt sie je nachdem ctlpiditas, voluptas oder cOl1C11pircentia. Da er nur Gott als
Begleiters zu gefahrden. Was jedoch als Vergnügung geplant war, erweist sich Selbstzweck anerkennt, muß er alle Dinge dieser Welt als Mittel zu diesem
alsbald durch die widerständige Natur des Ortes als verwegenes Unterneh- Zweck ansehen. Seine Theorie sinnlicher Erfahrung gebietet geradezu, das
men. Der Berg erscheint als . eine jäh abstürzende, fast unersteigliche Fels- Irdische, Menschen und Natur, zu einem überirdischen Zweck zu gebrau-
masse". An seinem Hang begegnet die Gruppe - jeder der Brüder hat einen chen. Dieses Theorem kann Petrarca auf das Verhältnis zur äußeren Natur
Diener bei sich - einem greisen Hirten, der als Warner auftritt. Dieser habe nicht anwenden; dafür zeugt sein Motiv der {tlpiditas videndi. Er stellt von
' vor fünfzig Jahren in ebensolchem Ansturm jugendlichen Feuers den vornherein das ganze Unternehmen der Besteigung unter das Verdikt Augu-
höchsten Gipfel erstiegen", jedoch · nichts heimgebracht als Reue und Mühe stins. .
und von Felskanten und Dornenges trüpp zerrissenen Leib und Rock-. Aber Joachim Ritter hat in seinem Landschafts-Aufsatz Petrarcas Motiv ganz
die Warnungen fru chteten nichts, im Gegenteil: "am Verbote« wuchs nur ,.das anders interpretiert : -Er besteigt, alle praktischen Zwecke hinter sich lassend,
Verlangen« (. crescebat ex prohibitione cupiditas"). den Berg, um auf dem Gipfel, getrieben allein von dem Verlangen zu schauen,
Dieser erste Abschnitt des Berichts böte eine für das Jahr 1336 erstaunlich in freier Betrachtung und Theorie an der ganzen N atur und an Gott teil zu
modern e Geschichte eine r Bergreise, wen n er nicht folgenden Rechtferti- haben.'
gungsversuch enthielte: ' Mir schien für einen Jüngling ohne Anteil am Damit stell t Ritter Petrarca in die Tradition der theomilchen Kontemplation,
Staatsleben entschuldbar zu sein, was man ja an einem g reisen König nicht die seit Plato n und Aristoteles ihre ErfUllung darin findet, des Göttlichen
tadelt". Petrarca unterschlägt freilich bei dieser Analogie, daß Philipp nicht teilhaftig zu werden.
aus bloßer Neugier, sondern aus strategischen Gründen den Haemus bestie- Augustin kennt außer der rein geistigen Schau des Absoluten aber auch die
gen hat, so daß im Brieftext beider Motive in ei ns fallen : Es ist Lust auf Schau Gottes, vermittelt durch die sichtbare Welt. Dieser Erkenntnisweg zu
Welterkundung durch sinnliche Erfahrung um ihrer selbst willen. Diese Lust Gott läßt sich offensichtlich in Einklang bringe n mit dem II/ifrui-Schema,
gilt Petrarca als eige ntlich un erlaubt, ihr nachzugehen als Jugendsünde. denn hierbei werden Weltdinge nicht um ihrer selbst willen genossen,
Bereits hier meldet sich die Innenwelt zu Wort, und die ist, wie später der sondern zu einem überirdischen Zweck gebraucht. Im 7. Buch der COl1ftjjioneJ
Aufstieg auf den Berg und das Gipfelerlebnis in aller Deutlichkeit zeigen bekennt er unter Berufung auf Römer 1,20: · Ich war mir auch völlig gewiß,
werden, bestimmt durch die Augustinische Moralphilosophie. Keineswegs daß ,Dein Unschaubares sei t Erschaffung der Welt im Mittel der Schöpfungs-
setzt Petrarca, wie manche meinen, mit seinem Bekenntnis zur CIIpiditaJ vidcndi dinge erkenntnis weise zu ersehen ist ., ,'«
das tradierte Tabu der CIIrio,itas außer Kraft. Sein Rechtfertig ungsvers uch mit Dieses Zitat ist nu r eines unter vielen, die über das schöpfungstheologische
der Struktur eines Zwar-Aber-Arguments - Es ist zwa r verbote n, aber man Konzept Augustins Auskunft gebe n. Hier liegt der Ursprung der mittelalter-
wird mir schon mildernde Umstände zubilligen, etwa mein jugendliches lichen Auffass ung, die Natur, alle natürlichen Dinge hätten Zeichen- oder
Ungestüm - bestätigt vielmehr entschieden die Geltung des Augustinischen Verweisungscharakter: Alles Schöne verweise auf die transzendente Quelle
Neugierverbots. Petrarcas Motiv der ctlpiditas vidmdi ist deshalb nichts des Schönen. Diese Lehre ist in Augustinischer Tradition ein Erbe der antiken
anderes als die von Augustin verworfene VO/UPlaJ oder COf/CUpiscenlia om/orum. theoria, und dieses Erbe hat bis weit in die Neu zeit hinein seine Wirkungs kraft
Weder die Lust der Augen an den Schönheiten - oder Abscheulichkeiten - nicht verloren. Naturbetrachtung ist so kein 'irdisches Vergnügen, sondern
der Welt noch die Lust des Erkennens wird von Augustin gebilligt. Das Sehen ein . irdisches Vergnügen in Gott·, wie der physikotheologische Dichter
um des Sehens willen verurteilt er mit gleicher Schärfe wie das Wissen um des Barthold Hinrich Brockes zu Beginn des 18. Jahrhunderts sagen wird. Vo m
Wissens willen, das ästhetische Vergnügen ebenso wie di e wissenschaftliche irdischen Vergnügen, wenn auch in Gott, war freilich der Kirchenvater noch
Neugier. weit entfernt. Sein Rigorismus hätte das Brockes-Prog ramm des doppelten
Die Grundlage, der mo ralphilosophischen Theorie sin nl icher Erfahrung Sehens - si nnlich und übersinnlich - verwerfen müssen, wollte er doch den
bildet Augusti ns berühmte Unterscheidung von [rtli und tl/i': Genießen.[rui, Dingen der natürlichen Welt lediglich eine Rolle als flü chtiger Anreger zur
darf der Mensch nur Gott; alles an dere darf nur ge braucht werden, /IIi. Eine Gotteserkenntnis zugestehen .
Sü nde ist es, etwas zu ge nießen, das nur gebraucht werde n darf. Genießen Vo n solchen Gedankengängen findet sich im Mont-Ventoux-Brief keine
Spur. Ritter hat also, angeregt durch Burckhardt und in dem Bestreben, in
diesem Bericht eine frühe Form der Landschaftserfahrung -auf dem Boden
4 Vgl. Kurt Fla sch, AugtlJlin, Stuttga rt: Rcclam 1980. des theoretischen Geistes" auszumachen. die Ihcn,.ia in den Text hinein jl"('lC'·
296 Ruth Groh/Dieter Groh Petrarca und der Mont Ventoux 297
sen. Wir können unsere Kritik noch mit einem anderen argumentationslogi- dem Weg über die Natur zu Gott, sondern über die Einsicht tn die
schen Einwand verstärken. Ritter hat sich bei seiner Lesart vor allem auf das Notwendigkeit des Heilsweges auf den Berg.
Moment der Zweckfreiheit berufen: .Das 'sola videndi cupiditate ductus< Wie weit der Autor in seiner allegorischen Konstruktion des Briefes
entspricht unmittelbar ,der Liebe zum Sehen ohne jeden Bezug zum Nutzen<, gegangen ist, lehrt die Petrarca-Forschung. Daß sein Bruder Gherardo auf
mit der Aristoteles ... die Zugehörigkeit der Theorie zum Menschsein einem geraden und steilen Weg dem Gipfel zustrebt, kann in seiner allegori-
begründet.. schen Bedeutung nur dann verstanden werden, wenn man weiß, daß Ghe~
Bei dieser Deutung ist Ritter entgangen, daß die von Augustin verworfene rardo nach einem wilden Jugendleben und nach dem Tod seiner Geliebten ins
- atheoretische - vo/up/as oculorum als Sehen um des Sehens willen gleichfalls Kloster eingetreten ist und seit 1343 den Heilsweg der Weltaskese zu Gott
keine praktischen Zwecke verfolgt, in dieser Hinsicht sich also nicht von der beschritten hat. Gherardo, so könnte man sagen, ist überhaupt nur aus
theoria unterscheidet. Es ist deshalb unplausibel, Petrarca unter Hinweis auf allegorischen Motiven zum Begleiter auf dieser Bergfahrt gewählt worden. Er
die selbstbezeugte Zweckfreiheit seines Unternehmens in die Tradition der spielt denn auch im weiteren Verlauf der Ereignisse die Rolle eines eher
theoretischen Kontemplation einzuordnen. Nicht »um an der ganzen Natur lästigen Statisten.
und an Gott teilzuhaben. , ist das Ich des Briefes auf den Berg gestiegen, Den Bericht von seinem Tun auf dem Gipfel leitet Petrarca mit dem Satz
sondern aus reiner Augenlust und aus Neugier im Bewußtsein eines moral- ein, der oft als Kronzeuge für eine ·moderne' ästhetische Weltzuwendung
philosophisch unstatthaften Unternehmens. zitiert wird: . Zuerst stand ich, durch einen ungewohnten Hauch der Luft und
Obwohl Petrarca als eifriger Leser der Conjmiones die Schöpfungs theologie durch einen ganz freien Rundblick bewegt, wie gebannt..
Augustins kennen konnte, bleibt unklar, ob er sie wirklich rezipiert hat. Wer aber nun erwartet, daß er im Außenweltdiskurs seiner ästhetischen
Jedenfalls macht er im Brief keinen Gebrauch von schöpfungstheologischen Faszination durch den Anblick der weiten Landschaft Ausdruck verleiht,
Argumenten. Das erweist sich im fo lgenden an den Allegorien der Aufstiegs- sieht sich getäuscht. Dreimal ändert er seine Blickrichtung auf die Lalldschaft:
geschichte. Er berichtet, er selbst sei schon bald ermattet zurückgeblieben, Er schaut zuerst nach unten , dann in Richtung Alpen und Italien und zuletzt
während sein Bruder Gherardo auf einem direkten und steilen Pfad gerade- nach Westen. Jedesmal benennt oder beschreibt er kurz und äußerst nüch-
wegs dem Gipfel zustrebte. Dreimal muß er Gherardo mühsam wieder tern, was er sieht, beziehungsweise nicht sieht, und wendet sich dann
einholen, nachdem er auf der Suche nach einem bequemeren Weg vergeblich unverzüglich dem Innenweltdiskurs der memoria zu: der Erinnerung an
durch die Täler geirrt ist. Auf dem letzten Umweg läßt er sich erschöpft Gelesenes und Gelebtes, an Raum und Zeit seiner eigenen Lebensgeschichte.
nieder und schwingt sich · auf Gedankenflügeln vom Körperlichen zum Wobei die jeweils dem Blick folgenden Reflexionen in kunstvoller Steigerung
Unkörperlichen hinüber-. Dieses Hinüberschwingen ist der Vergleich des den .Weg von außen nach innen, von äußeren Daten zum moralphiloso-
körperlichen Aufstiegs auf den Berg mit dem unkörperlichen Aufstieg der phischen oder moraltheologischen Kernproblem seines Lebens nachvoll-
Seele zu Gott, die Allegorisierung von Außenwelt und Innenwelt, von ziehen.
Sichtbarem und Unsichtbarem. Das selige Leben liegt auf einem hohen Sein Blick nach unten ist nicht der Herrscherblick des selbstermächtigten
Gipfel, .ein schmaler Pfad . .. führt zu ihm empor-. Wie der Körper von Individuums auf die Welt, die ihm zu Füßen liegt. Wenn Petrarca sich
Hügel zu Hügel aufsteigt, so erhebt sich die Seele voranschreitend von überhaupt dessen bewußt war, daß der Blick nach unten den Bruch eines
Tugend zu Tugend. In dieser Allegorie erkennt Petrarca sich selbst, sein Tabus bedeuten konnte, dann hat er seinem Brief-Ich diesen Blick jedenfalls
Verhalten beim Aufstieg wieder: auf der Seite des Leiblichen in seiner nicht freigegeben. Denn was er unter sich sieht, sind nichts als Wolken, und
Weichlichkeit, die ihn auf Umwege und in Talgründe treibt, auf der Seite des sogleich folgt eine literarische Assoziation: Berichte über Athos und Olymp
Moralischen in seinen »irdischen und allerniedrigsten Gelüsten«, die ihn dazu scheinen ihm nun weniger zweifelhaft. Der zweite Blick in Richtung Italien
verleiten, · in den Talgründen« seiner "Sünden säumig zu erliegen .. . Es gibt nur fallt zuerst auf die Alpen : Sie sind . eisstarrend und schneebedeckt,. Außer
eine Möglichkeit, der ewigen »Finsternis« zu entrinnen: »nach langer Irrfahrt« der Nennung dieser konventionellen Attribute erfolgt keine Beschreibung
hinanzusteigen ' zum Gipfel des seligen Lebens selber-. Diese Überlegung ihrer sinnlichen Qualitäten, auch kein Ausdruck eines Gefühls in Reaktion
richtet Geist und Körper wieder auf und gibt ihm die Kraft, den leiblichen auf diesen Anblick, sondern ebenfalls eine literarische Assoziation: die
Aufstieg zum· Gipfel des Mont Ventoux zu bewältigen. · Ach könnte ich Erinnerung an Hannibals Zug über die Alpen. Italien selbst, Vaterland und
doch-, klagt er, . ebenso mit dem Geist jene Wanderung vollführen, nach der Ort der Sehnsucht, ist dem Blick kaum erreichbar, es steht mehr vor seinem
ich Tag und Nacht schmachte-. Geist als vor seinen Augen.
Von der ästhetischen Erfahrung dußerer Natur im Sinn der theoretischen Der Gedanke an das Land seiner Kindheit und seiner Studienjahre leitet
Kontemplation , Augustinisch gesprochen: von dem Weg, über die sichtbare sodann wieder einen Übergang ein: von der Betrachtung des Raumes zur
Schönheit der Welt zur Erkenntnis des unsichtbaren Gottes zu gelangen, ist Betrachtung der Zeit. Er führt ins Zentrum seiner Innenwelt, zu seiner
auch hier keine Rede. Das Ich des Mont-Ventoux-Briefes gelangt nicht auf moralischen Biographie. Nach dem Vorbild der Confessiones Augustins wolle er
296 Ruth Groh/Dieter Groh Petrarca und der Mont Ventoux 297
sen. Wir können unsere Kritik noch mit einem anderen argumentationslogi- dem Weg über die Natur zu Gott, sondern über die Einsicht tn die
schen Einwand verstärken. Ritter hat sich bei seiner Lesart vor allem auf das Notwendigkeit des Heilsweges auf den Berg.
Moment der Zweckfreiheit berufen: .Das 'sola videndi cupiditate ductus< Wie weit der Autor in seiner allegorischen Konstruktion des Briefes
entspricht unmittelbar ,der Liebe zum Sehen ohne jeden Bezug zum Nutzen<, gegangen ist, lehrt die Petrarca-Forschung. Daß sein Bruder Gherardo auf
mit der Aristoteles ... die Zugehörigkeit der Theorie zum Menschsein einem geraden und steilen Weg dem Gipfel zustrebt, kann in seiner allegori-
begründet.. schen Bedeutung nur dann verstanden werden, wenn man weiß, daß Ghe~
Bei dieser Deutung ist Ritter entgangen, daß die von Augustin verworfene rardo nach einem wilden Jugendleben und nach dem Tod seiner Geliebten ins
- atheoretische - vo/up/as oculorum als Sehen um des Sehens willen gleichfalls Kloster eingetreten ist und seit 1343 den Heilsweg der Weltaskese zu Gott
keine praktischen Zwecke verfolgt, in dieser Hinsicht sich also nicht von der beschritten hat. Gherardo, so könnte man sagen, ist überhaupt nur aus
theoria unterscheidet. Es ist deshalb unplausibel, Petrarca unter Hinweis auf allegorischen Motiven zum Begleiter auf dieser Bergfahrt gewählt worden. Er
die selbstbezeugte Zweckfreiheit seines Unternehmens in die Tradition der spielt denn auch im weiteren Verlauf der Ereignisse die Rolle eines eher
theoretischen Kontemplation einzuordnen. Nicht »um an der ganzen Natur lästigen Statisten.
und an Gott teilzuhaben. , ist das Ich des Briefes auf den Berg gestiegen, Den Bericht von seinem Tun auf dem Gipfel leitet Petrarca mit dem Satz
sondern aus reiner Augenlust und aus Neugier im Bewußtsein eines moral- ein, der oft als Kronzeuge für eine ·moderne' ästhetische Weltzuwendung
philosophisch unstatthaften Unternehmens. zitiert wird: . Zuerst stand ich, durch einen ungewohnten Hauch der Luft und
Obwohl Petrarca als eifriger Leser der Conjmiones die Schöpfungs theologie durch einen ganz freien Rundblick bewegt, wie gebannt..
Augustins kennen konnte, bleibt unklar, ob er sie wirklich rezipiert hat. Wer aber nun erwartet, daß er im Außenweltdiskurs seiner ästhetischen
Jedenfalls macht er im Brief keinen Gebrauch von schöpfungstheologischen Faszination durch den Anblick der weiten Landschaft Ausdruck verleiht,
Argumenten. Das erweist sich im fo lgenden an den Allegorien der Aufstiegs- sieht sich getäuscht. Dreimal ändert er seine Blickrichtung auf die Lalldschaft:
geschichte. Er berichtet, er selbst sei schon bald ermattet zurückgeblieben, Er schaut zuerst nach unten , dann in Richtung Alpen und Italien und zuletzt
während sein Bruder Gherardo auf einem direkten und steilen Pfad gerade- nach Westen. Jedesmal benennt oder beschreibt er kurz und äußerst nüch-
wegs dem Gipfel zustrebte. Dreimal muß er Gherardo mühsam wieder tern, was er sieht, beziehungsweise nicht sieht, und wendet sich dann
einholen, nachdem er auf der Suche nach einem bequemeren Weg vergeblich unverzüglich dem Innenweltdiskurs der memoria zu: der Erinnerung an
durch die Täler geirrt ist. Auf dem letzten Umweg läßt er sich erschöpft Gelesenes und Gelebtes, an Raum und Zeit seiner eigenen Lebensgeschichte.
nieder und schwingt sich · auf Gedankenflügeln vom Körperlichen zum Wobei die jeweils dem Blick folgenden Reflexionen in kunstvoller Steigerung
Unkörperlichen hinüber-. Dieses Hinüberschwingen ist der Vergleich des den .Weg von außen nach innen, von äußeren Daten zum moralphiloso-
körperlichen Aufstiegs auf den Berg mit dem unkörperlichen Aufstieg der phischen oder moraltheologischen Kernproblem seines Lebens nachvoll-
Seele zu Gott, die Allegorisierung von Außenwelt und Innenwelt, von ziehen.
Sichtbarem und Unsichtbarem. Das selige Leben liegt auf einem hohen Sein Blick nach unten ist nicht der Herrscherblick des selbstermächtigten
Gipfel, .ein schmaler Pfad . .. führt zu ihm empor-. Wie der Körper von Individuums auf die Welt, die ihm zu Füßen liegt. Wenn Petrarca sich
Hügel zu Hügel aufsteigt, so erhebt sich die Seele voranschreitend von überhaupt dessen bewußt war, daß der Blick nach unten den Bruch eines
Tugend zu Tugend. In dieser Allegorie erkennt Petrarca sich selbst, sein Tabus bedeuten konnte, dann hat er seinem Brief-Ich diesen Blick jedenfalls
Verhalten beim Aufstieg wieder: auf der Seite des Leiblichen in seiner nicht freigegeben. Denn was er unter sich sieht, sind nichts als Wolken, und
Weichlichkeit, die ihn auf Umwege und in Talgründe treibt, auf der Seite des sogleich folgt eine literarische Assoziation: Berichte über Athos und Olymp
Moralischen in seinen »irdischen und allerniedrigsten Gelüsten«, die ihn dazu scheinen ihm nun weniger zweifelhaft. Der zweite Blick in Richtung Italien
verleiten, · in den Talgründen« seiner "Sünden säumig zu erliegen .. . Es gibt nur fallt zuerst auf die Alpen : Sie sind . eisstarrend und schneebedeckt,. Außer
eine Möglichkeit, der ewigen »Finsternis« zu entrinnen: »nach langer Irrfahrt« der Nennung dieser konventionellen Attribute erfolgt keine Beschreibung
hinanzusteigen ' zum Gipfel des seligen Lebens selber-. Diese Überlegung ihrer sinnlichen Qualitäten, auch kein Ausdruck eines Gefühls in Reaktion
richtet Geist und Körper wieder auf und gibt ihm die Kraft, den leiblichen auf diesen Anblick, sondern ebenfalls eine literarische Assoziation: die
Aufstieg zum· Gipfel des Mont Ventoux zu bewältigen. · Ach könnte ich Erinnerung an Hannibals Zug über die Alpen. Italien selbst, Vaterland und
doch-, klagt er, . ebenso mit dem Geist jene Wanderung vollführen, nach der Ort der Sehnsucht, ist dem Blick kaum erreichbar, es steht mehr vor seinem
ich Tag und Nacht schmachte-. Geist als vor seinen Augen.
Von der ästhetischen Erfahrung dußerer Natur im Sinn der theoretischen Der Gedanke an das Land seiner Kindheit und seiner Studienjahre leitet
Kontemplation , Augustinisch gesprochen: von dem Weg, über die sichtbare sodann wieder einen Übergang ein: von der Betrachtung des Raumes zur
Schönheit der Welt zur Erkenntnis des unsichtbaren Gottes zu gelangen, ist Betrachtung der Zeit. Er führt ins Zentrum seiner Innenwelt, zu seiner
auch hier keine Rede. Das Ich des Mont-Ventoux-Briefes gelangt nicht auf moralischen Biographie. Nach dem Vorbild der Confessiones Augustins wolle er
J.\UlU ulUu • .L./H.. I.\•• l U!VU
).
dereinst auch Rechenschaft ablegen und sich seine »vergangenen Abscheu- Schilderung der Aussicht erlaubt), und Petrarca standen ja, wie die Land-
lichkeiten« und seiner »Seele fleischliche Verderbnis« vergegenwärtigen. Er schaftsschilderungen in seinen Briefen zeigen, die sprachlichen Mittel dazu
spricht von der Liebe, von dem, was er zu lieben pflegte und nun immer noch sehr wohl zur Verfügung. Hier aber begnügt er sich damit, zu sagen, daß er
liebe, aber »wider Willen, gezwungen, betrübt und voll Trauer«. Ein »verkehr- das Wahrgenommene bestaunte und jetzt Irdisches genoß. Es fällt auf, daß
ter und nichtsnutziger Wille« habe ihn früher ganz besessen, aber nun werde Petrarca das Geschaute nicht positiv, sondern mit dem moralphilosophisch
bereits im drittenjahr in seinem Innern eine »höchst mühselige und auch jetzt negativ besetzten Begriff des Irdischen bezeichnet.
noch unentschiedene Schlacht geschlagen darüber, wer herrschen soll von Folgerichtig verspürt er einen Mangel, denn um nun »nach dem Beispiel
den beiden Menschen in mir«. des Leibes auch die Seele zu Höherem« zu erheben, greift er nach den
Diese Schlacht steht in Analogie zu den inneren Kämpfen Augustins. Confessiones, nach seinem Lieblingsbuch, das er seit 1333 ständig mit sich führt.
Dessen Bekehrung unter dem legendären Feigenbaum bedeutete - neben Und sein Blick trifft zufällig auf jene Stelle im 10. Buch, wo Augustin das
dem Verzicht auf weltliche Karriere und Reichtum - den endgültigen Verzicht seelenlose Bestaunen irdischer Natur, mithin die bloße Augen- oder Sinnen-
auf die Frau gemäß der Forderung des Paulus nach Absage an Sinnenlust und lust, die volllptas oculomm, beklagt: »Und da gehen die Menschen hin und
Geschlechtsliebe. So stiftet der Text unausgesprochen und vorausweisend bewundern die Höhen der Berge, das mächtige Wogen des Meeres und die
eine Analogie zwischen dem Feigenbaum und dem: Mont Ventoux als weit dahinfließenden Ströme und den Saum des Ozeans und die Kreisbahnen
Emblemen einer conversio. der Gestirne, und haben nicht acht ihrer selbst. «
Wenn Petrarca auf dem Gipfel mit den Worten Augustins über seiner Das ist der dramatische Höhepunkt des Briefes, die Stelle, auf die hin die
»Seele fleischliche Verderbnis« klagt, so bringt er die auf das andere kunstvolle Konstruktion geordnet ist, und zugleich der Gipfel der Innenwelt-
Geschlecht gerichtete Form der C1Ipiditas in unmittelbare Analogie zur cupidi/as erfahrung. Ausgezeichnet und hervorgehoben wird sie nicht nur durch das
videndi und zitiert damit wiederum indirekt den Text der Confessiones, der Wort zufällig, sondern auch durch die Anrufung Gottes und seines Bruders
ebenfalls concupiscentia camis und {oncupiscentia oculomm analogisiert. In der zu Zeugen der durch göttlichen Zufall bestimmten Leseerfahrung. Mit jähem
Rückschau wird nun auch die allegorische Rolle des greisen Hirten erkennbar. Erschrecken - »obstupui« (ich war bestürzt, ich erstarrte) - erkennt sich
Der »Ansturm jugendlichen Feuers auf den Gipfel«, von dem er spricht, Petrarca im Gelesenen wieder. Vor den Augen seines großen Vorbildes steht
verweist auf den ungezügelten Geschlechtstrieb der Adoleszenz und den er als Sünder da, der sich unchristlich an die Welt verliert. Das irdische
Berg als Gipfel der Sinnenlust ebenso wie die Reaktion der jugendlichen Vergnügen kann offensichtlich nicht zu einem irdischen Vergnügen in Gott
Herzen Petrarcas und Gherardos : »crescebat ex prohibitione cupiditas« (Was erhöht werden. Zwischen außen und innen , zwischen Welt und Seele,
verboten ist, das macht uns gerade scharf!). Hinsichtlich der Begehrlichkeit zwischen Irdischem und Überirdischem gibt es keine Brücke . Petrarcas Blick
des Fleisches ist der Berg noch nicht bezwungen, hinsichtlich der cupiditas !st transzendenzunfähig. Daß es ihm nicht gelingt, seine sinnliche Erfahrung
videndi steht in der narratio die Probe noch aus. 1m Rahmen des theoria-Konzepts als . philosophische und theologische
Petrarca kehrt von 'seinen Sorgen«, seinen inneren Konflikten zur Außen- Erhebung zur Anschauung des Ganzen « zu deuten, bemerkt auch Joachim
welt zurück. Er hatte, so sagt er, gewissermaßen vergessen , an welchen Ort er Ritter. Was Ritter aufgrund seiner irrtümlichen Deutung des Neugier-Motivs
gekommen war und zu welchem Zweck. Aber nun schaut er um sich und als »großen Aufbruch« zu einer . Zuwendung zur Natur als Landschaft.
sieht »wirklich das, was zu sehen ich hergekommen war": »Der Grenzwall der jedoch nicht bemerkt, ist, daß sich in Petrarcas Erschrecken ob seiner Sünde
gallischen Lande und Hispaniens, der Grat des Pyrenäengebirges, ist von dort genau das erfüllt, was das Motiv der C/lpiditas videndi präsupponiert hat : das
nicht zu sehen, nicht daß meines Wissens irgendein Hindernis dazwischen - Verdikt Augustins. Die Rhetorik des Berichts ist die des moralphilosophi-
träte - nein, nur infolge der Gebrechlichkeit des menschlichen Sehvermö- schen Traktats, das Ergebnis des fingierten moralphilosophischen Experi-
gens. Hingegen sah ich sehr klar zur Rechten die Gebirge der Provinz von ments entspricht der Versuchsanordnung.
Lyon, zur Linken sogar den Golf von Marseille, und den, der gegen Aigues- Petrarca schließt die Confessiones im Zorn darüber, daß er Irdisches bewun-
Mortes brandet, wo doch all dies einige Tagesreisen entfernt ist. Die Rhone dert hat, wendet das innere Auge auf sich selbst und spricht während des
lag mir geradezu vor Augen .« langen Abstiegs vom Berg kein einziges Wort mehr. Er vollzieht hinsichtlich
Wieder sagt letrarca sehr trocken, was er sieht und was er nicht sieht. Seine der äußeren Natur - er macht sich selbst blind und stumm - seine Bekehrung
Beschreibung'ist eine eher topographische. Seine Worte deuten ein Staunen als sinnliche Askese. Rückschauend schrumpft ihm der Berg zu einer Nichtig-
über die Weite des Blicks an . Weltergriffenheit in einem »Augenblick keit von der »Höhe einer Elle-. Was die äußere Natur dem Menschen bietet
höchsten irdischen Genusses« aus ihnen herauszulesen , mutet jedoch über- sind, sagt er, nur · Ieere Schauspiele«: -nichts ist bewundernswert außer de:
trieben an. Dazu ist die Sprache zu nüchtern; Epitheta ornantia fehlen in der
Beschreibung ebenso wie Verben der Gemütsbewegung. D as Neugier-Motiv
hätte ja inn erhalb einer Bekehrungsgeschichte durchaus eine begeisterte ) Vgl. Bcrnhard König, Pr/ramM Landrchaftm. In : Romanisch! FOrJch/mgm, Nr. 92, 1980.
J.\UlU ulUu • .L./H.. I.\•• l U!VU
).
dereinst auch Rechenschaft ablegen und sich seine »vergangenen Abscheu- Schilderung der Aussicht erlaubt), und Petrarca standen ja, wie die Land-
lichkeiten« und seiner »Seele fleischliche Verderbnis« vergegenwärtigen. Er schaftsschilderungen in seinen Briefen zeigen, die sprachlichen Mittel dazu
spricht von der Liebe, von dem, was er zu lieben pflegte und nun immer noch sehr wohl zur Verfügung. Hier aber begnügt er sich damit, zu sagen, daß er
liebe, aber »wider Willen, gezwungen, betrübt und voll Trauer«. Ein »verkehr- das Wahrgenommene bestaunte und jetzt Irdisches genoß. Es fällt auf, daß
ter und nichtsnutziger Wille« habe ihn früher ganz besessen, aber nun werde Petrarca das Geschaute nicht positiv, sondern mit dem moralphilosophisch
bereits im drittenjahr in seinem Innern eine »höchst mühselige und auch jetzt negativ besetzten Begriff des Irdischen bezeichnet.
noch unentschiedene Schlacht geschlagen darüber, wer herrschen soll von Folgerichtig verspürt er einen Mangel, denn um nun »nach dem Beispiel
den beiden Menschen in mir«. des Leibes auch die Seele zu Höherem« zu erheben, greift er nach den
Diese Schlacht steht in Analogie zu den inneren Kämpfen Augustins. Confessiones, nach seinem Lieblingsbuch, das er seit 1333 ständig mit sich führt.
Dessen Bekehrung unter dem legendären Feigenbaum bedeutete - neben Und sein Blick trifft zufällig auf jene Stelle im 10. Buch, wo Augustin das
dem Verzicht auf weltliche Karriere und Reichtum - den endgültigen Verzicht seelenlose Bestaunen irdischer Natur, mithin die bloße Augen- oder Sinnen-
auf die Frau gemäß der Forderung des Paulus nach Absage an Sinnenlust und lust, die volllptas oculomm, beklagt: »Und da gehen die Menschen hin und
Geschlechtsliebe. So stiftet der Text unausgesprochen und vorausweisend bewundern die Höhen der Berge, das mächtige Wogen des Meeres und die
eine Analogie zwischen dem Feigenbaum und dem: Mont Ventoux als weit dahinfließenden Ströme und den Saum des Ozeans und die Kreisbahnen
Emblemen einer conversio. der Gestirne, und haben nicht acht ihrer selbst. «
Wenn Petrarca auf dem Gipfel mit den Worten Augustins über seiner Das ist der dramatische Höhepunkt des Briefes, die Stelle, auf die hin die
»Seele fleischliche Verderbnis« klagt, so bringt er die auf das andere kunstvolle Konstruktion geordnet ist, und zugleich der Gipfel der Innenwelt-
Geschlecht gerichtete Form der C1Ipiditas in unmittelbare Analogie zur cupidi/as erfahrung. Ausgezeichnet und hervorgehoben wird sie nicht nur durch das
videndi und zitiert damit wiederum indirekt den Text der Confessiones, der Wort zufällig, sondern auch durch die Anrufung Gottes und seines Bruders
ebenfalls concupiscentia camis und {oncupiscentia oculomm analogisiert. In der zu Zeugen der durch göttlichen Zufall bestimmten Leseerfahrung. Mit jähem
Rückschau wird nun auch die allegorische Rolle des greisen Hirten erkennbar. Erschrecken - »obstupui« (ich war bestürzt, ich erstarrte) - erkennt sich
Der »Ansturm jugendlichen Feuers auf den Gipfel«, von dem er spricht, Petrarca im Gelesenen wieder. Vor den Augen seines großen Vorbildes steht
verweist auf den ungezügelten Geschlechtstrieb der Adoleszenz und den er als Sünder da, der sich unchristlich an die Welt verliert. Das irdische
Berg als Gipfel der Sinnenlust ebenso wie die Reaktion der jugendlichen Vergnügen kann offensichtlich nicht zu einem irdischen Vergnügen in Gott
Herzen Petrarcas und Gherardos : »crescebat ex prohibitione cupiditas« (Was erhöht werden. Zwischen außen und innen , zwischen Welt und Seele,
verboten ist, das macht uns gerade scharf!). Hinsichtlich der Begehrlichkeit zwischen Irdischem und Überirdischem gibt es keine Brücke . Petrarcas Blick
des Fleisches ist der Berg noch nicht bezwungen, hinsichtlich der cupiditas !st transzendenzunfähig. Daß es ihm nicht gelingt, seine sinnliche Erfahrung
videndi steht in der narratio die Probe noch aus. 1m Rahmen des theoria-Konzepts als . philosophische und theologische
Petrarca kehrt von 'seinen Sorgen«, seinen inneren Konflikten zur Außen- Erhebung zur Anschauung des Ganzen « zu deuten, bemerkt auch Joachim
welt zurück. Er hatte, so sagt er, gewissermaßen vergessen , an welchen Ort er Ritter. Was Ritter aufgrund seiner irrtümlichen Deutung des Neugier-Motivs
gekommen war und zu welchem Zweck. Aber nun schaut er um sich und als »großen Aufbruch« zu einer . Zuwendung zur Natur als Landschaft.
sieht »wirklich das, was zu sehen ich hergekommen war": »Der Grenzwall der jedoch nicht bemerkt, ist, daß sich in Petrarcas Erschrecken ob seiner Sünde
gallischen Lande und Hispaniens, der Grat des Pyrenäengebirges, ist von dort genau das erfüllt, was das Motiv der C/lpiditas videndi präsupponiert hat : das
nicht zu sehen, nicht daß meines Wissens irgendein Hindernis dazwischen - Verdikt Augustins. Die Rhetorik des Berichts ist die des moralphilosophi-
träte - nein, nur infolge der Gebrechlichkeit des menschlichen Sehvermö- schen Traktats, das Ergebnis des fingierten moralphilosophischen Experi-
gens. Hingegen sah ich sehr klar zur Rechten die Gebirge der Provinz von ments entspricht der Versuchsanordnung.
Lyon, zur Linken sogar den Golf von Marseille, und den, der gegen Aigues- Petrarca schließt die Confessiones im Zorn darüber, daß er Irdisches bewun-
Mortes brandet, wo doch all dies einige Tagesreisen entfernt ist. Die Rhone dert hat, wendet das innere Auge auf sich selbst und spricht während des
lag mir geradezu vor Augen .« langen Abstiegs vom Berg kein einziges Wort mehr. Er vollzieht hinsichtlich
Wieder sagt letrarca sehr trocken, was er sieht und was er nicht sieht. Seine der äußeren Natur - er macht sich selbst blind und stumm - seine Bekehrung
Beschreibung'ist eine eher topographische. Seine Worte deuten ein Staunen als sinnliche Askese. Rückschauend schrumpft ihm der Berg zu einer Nichtig-
über die Weite des Blicks an . Weltergriffenheit in einem »Augenblick keit von der »Höhe einer Elle-. Was die äußere Natur dem Menschen bietet
höchsten irdischen Genusses« aus ihnen herauszulesen , mutet jedoch über- sind, sagt er, nur · Ieere Schauspiele«: -nichts ist bewundernswert außer de:
trieben an. Dazu ist die Sprache zu nüchtern; Epitheta ornantia fehlen in der
Beschreibung ebenso wie Verben der Gemütsbewegung. D as Neugier-Motiv
hätte ja inn erhalb einer Bekehrungsgeschichte durchaus eine begeisterte ) Vgl. Bcrnhard König, Pr/ramM Landrchaftm. In : Romanisch! FOrJch/mgm, Nr. 92, 1980.
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Seele: Neben ihrer Größe ist nichts groß«. Hinsichtlich der cupidi/ai vidmdi zugleich überdeutlich: Das Brief-Ich betrachtet die äußere Natur ganz aus der
wird der Abstieg zum spirituellen Aufstieg, so wie der Aufstieg sich als moralphilosophischen Perspektive seines Lebensproblems. Und aus dieser
spiritueller Abstieg ins Tal der Sünde entpuppt hatte. Perspektive wird Natur in ihrer konkreten, sinnlich erfahrbaren Gestalt
unwichtig gegenüber ihrer Funktion als Zeichen für alles bloß Irdische und
damit zur festen Chiffre in einem moralphilosophischen Diskurs.
Der Mont Ventoux als Metapher oder das Verschwinden der Natur Von hier aus fallt ein neues Licht auf die eigentümliche sprachliche
Hätte Petrarca die Confessiones nicht im Ärger über sich selbst zugeschlagen, Nüchternheit der Beschreibung des Ausblicks vom Gipfel. Petrarca sieht
sondern weitergelesen, dann hätte er womöglich den Anblick der Landschaft nämlich buchstäblich das, was Augustin in den Confessiones aufzählt, Berg und
nicht als leeres irdisches Schauspiel verwerfen müssen. Denn Augustin zeigt Fluß, Küste und Meer. Er gibt also möglicherweise gar keine sinnliche
selbst gegen Ende des 10. Buches an einem kleinen Beispiel, wie es möglich Erfahrung wieder, sondern reproduziert eine Leseerfahrung, in der äußere
ist, sich aus der Sünde der ästhetischen Faszination durch äußere Natur zur Natur ebenfalls nicht in ihrer Rolle als Gegenstand sinnlicher Erfahrung
Anschauung des Ganzen zu erheben und also die bloß irdische Natur zu thematisiert wird, sondern als bloßes Zeichen fungiert für das Irdische, für
einem überirdischen Zweck zu gebrauchen. alles, was Menschen ablenkt von der Besinnung auf sich selbst. Fast könnte
Was hinderte Petrarca daran, diesem Beispiel zu folgen und auf dem Mont man meinen, Petrarca habe sich durch die Lektüre der zitierten Stelle aus den
Ventoux die Natur als Gottes herrliche Schöpfung wahrzunehmen? Zum Confessiones überhaupt erst anregen lassen zu seinem Briefbericht. Geogra-
einen ist unklar, ob er überhaupt die Schöpfungstheologie Augustins in ihrer phisch beschlagen wie er war, konnte er eine Landkarte topographisch
theoretischen Tragweite wirkJich rezipiert hat. Zum anderen konnte er im visualisieren, konnte er sich auch - ohne je auf dem Berg gewesen zu sein -
Konzept des Briefes als Bekehrungsgeschichte keine andere Wahl treffen als vorstellen, daß man von seinem Gipfel aus das sieht, was im Text steht: Berg
die heilstheologische der sinnlichen Askese. Petrarca stellt nämlich seine und Fluß, Küste und Meer.
conversio in eine Reihe mit der von Antonius und Augustin . Ein solcher Der Mont Ventoux steht uns nach dieser Lektüre in der Hauptsache als
Vergleich wäre kaum möglich gewesen, wenn er nicht auf dem Gipfel die allegorischer Berg vor Augen: als Metapher für den Gipfel des Überirdischen
totale Abwendung von der äußeren Natur vollzogen hätte. Denn aus dem auf der einen Seite, als Metapher für den Gipfel des Irdischen auf der anderen.
Übergang von der cupiditas vidmfli zur theoretischen Betrachtung der Natur Beide antithetischen Gipfel verweisen wechselseitig aufeinander, sind in ihrer
läßt sich keine Bekehrungsgeschichte konstruieren. Dazu taugt nur die Bedeutung voneinander abhängig. Den einen zu bejahen, heißt den anderen
semantische Opposition Weltverfallenheit versus Heilssorge. zu verneinen. Weltverfallenheit oder Heilssorge, tertium non datur - jedenfalls
Diese Opposition mindert aber die Bedeutung der äußeren Natur im nicht in diesem Brief. Das Irdische steht für alles, was Augustinisch gespro-
gesamten Kontext erheblich. Sie ist nämlich derart radikal auf das ganze chen unsere Seele haben will, die nur Gott haben darf. In unserer Redeweise
Leben bezogen, daß die Position Weltverfallenheit mit Petrarcas sündhaftem steht es für alles, was zur Obsession werden kann, zur Sucht: Ruhm,
Genießen eines Ausblicks ziemlich schwach besetzt ist. Das ist auch der Leidenschaft, Sexualität, sinnlicher Genuß jeder Art. Die moralphilosophi-
Grund, warum es fast vermessen erscheint, wenn Petrarca seine eigene sche Dialektik dieser beiden allegorischen Gipfel konstituiert im Briefbericht
Bekehrung auf dem Gipfel mit der radikalen Lebenswende der Vorbilder die Lebenskrise des Autors. Der Berg als Ort und Anlaß einer metaphori-
Antonius und Augustin vergleicht. Die Wende von außen nach innen hat schen Bekehrung, der Berg als eine Kette metaphorischer Verweisungen,
denn auch eher den Charakter einer stellvertretenden, einer metaphorischen schließlich der Berg als Emblem einer Lebenskrise: der Mont Ventoux wird
Bekehrung. Die Reflexionen während des Abstiegs wiederholen nämlich die zur Allegorie von Metaphern.
Allegorien des Aufstiegs: Wenn man schon soviel Mühe und Schweiß für den Die äußere, die konkrete Natur ist so gesehen nicht Gegenstand einer
körperlichen Aufstieg auf den Berg aufwendet, »mit welchem Eifer müßten ästhetischen Erfahrung, sie verweist nicht auf sich selbst als Möglichkeit einer
wir uns mühen, nicht um eine Höhe der Erde unter den Fuß zu bekommen solchen Erfahrung, sondern auf einen anderen Raum jenseits der sichtbaren
sondern die von irdischen Trieben geblähten Begierden« und die »aufge~ Welt. Ihre Signifikanten implizieren außernatürliche Signifikate. Die »jäh
schwollene Bergeskuppe der Überhebung«. abstürzende, fast unersteigliche Felsmasse« des Berges ist Zeichen für die
Der allegorisc.he Berg der irdischen Gelüste nach Liebe und Ruhm ist beiden antithetischen Gipfel in der Innenwelt des Brief-Ichs. Sobald der Berg
mithin noch langst nicht bezwungen, die wirkliche Bekehrung steht noch seine Funktion als Zeichen erfüllt hat, ist er bedeutungslos geworden, hat er
aus; aber der Wille, sich aus der Weltverfallenheit seiner abgöttischen Liebe nur noch die »Höhe einer Elle.«
und Ruhmsucht zu lösen, ist offenbar zu schwach . Schwerer zu leisten als der Was nun aber, wenn Petrarca in einem ganz anderen, radikaleren Sinn
Verzicht auf das Genießen einer Aussicht ist der Verzicht auf Liebe und modern wäre? Martin Seel hat jüngst ästhetische Kontemplation als "ganz
Ruhm. In der Rückschau wird der wirkliche Berg zum allegorischen Berg profane Angelegenheit«, als »Fest der ungebundenen Sinne« beschrieben. Die
einer Lebenskrise und ihrer ersehnten Überwindung. Die Rückschau zeigt rein ästhetische Kontemplation habe sich -im Sog der neuzeitlichen Naturer-
J VV .1\UUI \.)lUJl I VH_lt,;, U1Uli t't:uarla Ullll lIe, MUIIl Vt:IlLOUX )Vl
Seele: Neben ihrer Größe ist nichts groß«. Hinsichtlich der cupidi/ai vidmdi zugleich überdeutlich: Das Brief-Ich betrachtet die äußere Natur ganz aus der
wird der Abstieg zum spirituellen Aufstieg, so wie der Aufstieg sich als moralphilosophischen Perspektive seines Lebensproblems. Und aus dieser
spiritueller Abstieg ins Tal der Sünde entpuppt hatte. Perspektive wird Natur in ihrer konkreten, sinnlich erfahrbaren Gestalt
unwichtig gegenüber ihrer Funktion als Zeichen für alles bloß Irdische und
damit zur festen Chiffre in einem moralphilosophischen Diskurs.
Der Mont Ventoux als Metapher oder das Verschwinden der Natur Von hier aus fallt ein neues Licht auf die eigentümliche sprachliche
Hätte Petrarca die Confessiones nicht im Ärger über sich selbst zugeschlagen, Nüchternheit der Beschreibung des Ausblicks vom Gipfel. Petrarca sieht
sondern weitergelesen, dann hätte er womöglich den Anblick der Landschaft nämlich buchstäblich das, was Augustin in den Confessiones aufzählt, Berg und
nicht als leeres irdisches Schauspiel verwerfen müssen. Denn Augustin zeigt Fluß, Küste und Meer. Er gibt also möglicherweise gar keine sinnliche
selbst gegen Ende des 10. Buches an einem kleinen Beispiel, wie es möglich Erfahrung wieder, sondern reproduziert eine Leseerfahrung, in der äußere
ist, sich aus der Sünde der ästhetischen Faszination durch äußere Natur zur Natur ebenfalls nicht in ihrer Rolle als Gegenstand sinnlicher Erfahrung
Anschauung des Ganzen zu erheben und also die bloß irdische Natur zu thematisiert wird, sondern als bloßes Zeichen fungiert für das Irdische, für
einem überirdischen Zweck zu gebrauchen. alles, was Menschen ablenkt von der Besinnung auf sich selbst. Fast könnte
Was hinderte Petrarca daran, diesem Beispiel zu folgen und auf dem Mont man meinen, Petrarca habe sich durch die Lektüre der zitierten Stelle aus den
Ventoux die Natur als Gottes herrliche Schöpfung wahrzunehmen? Zum Confessiones überhaupt erst anregen lassen zu seinem Briefbericht. Geogra-
einen ist unklar, ob er überhaupt die Schöpfungstheologie Augustins in ihrer phisch beschlagen wie er war, konnte er eine Landkarte topographisch
theoretischen Tragweite wirkJich rezipiert hat. Zum anderen konnte er im visualisieren, konnte er sich auch - ohne je auf dem Berg gewesen zu sein -
Konzept des Briefes als Bekehrungsgeschichte keine andere Wahl treffen als vorstellen, daß man von seinem Gipfel aus das sieht, was im Text steht: Berg
die heilstheologische der sinnlichen Askese. Petrarca stellt nämlich seine und Fluß, Küste und Meer.
conversio in eine Reihe mit der von Antonius und Augustin . Ein solcher Der Mont Ventoux steht uns nach dieser Lektüre in der Hauptsache als
Vergleich wäre kaum möglich gewesen, wenn er nicht auf dem Gipfel die allegorischer Berg vor Augen: als Metapher für den Gipfel des Überirdischen
totale Abwendung von der äußeren Natur vollzogen hätte. Denn aus dem auf der einen Seite, als Metapher für den Gipfel des Irdischen auf der anderen.
Übergang von der cupiditas vidmfli zur theoretischen Betrachtung der Natur Beide antithetischen Gipfel verweisen wechselseitig aufeinander, sind in ihrer
läßt sich keine Bekehrungsgeschichte konstruieren. Dazu taugt nur die Bedeutung voneinander abhängig. Den einen zu bejahen, heißt den anderen
semantische Opposition Weltverfallenheit versus Heilssorge. zu verneinen. Weltverfallenheit oder Heilssorge, tertium non datur - jedenfalls
Diese Opposition mindert aber die Bedeutung der äußeren Natur im nicht in diesem Brief. Das Irdische steht für alles, was Augustinisch gespro-
gesamten Kontext erheblich. Sie ist nämlich derart radikal auf das ganze chen unsere Seele haben will, die nur Gott haben darf. In unserer Redeweise
Leben bezogen, daß die Position Weltverfallenheit mit Petrarcas sündhaftem steht es für alles, was zur Obsession werden kann, zur Sucht: Ruhm,
Genießen eines Ausblicks ziemlich schwach besetzt ist. Das ist auch der Leidenschaft, Sexualität, sinnlicher Genuß jeder Art. Die moralphilosophi-
Grund, warum es fast vermessen erscheint, wenn Petrarca seine eigene sche Dialektik dieser beiden allegorischen Gipfel konstituiert im Briefbericht
Bekehrung auf dem Gipfel mit der radikalen Lebenswende der Vorbilder die Lebenskrise des Autors. Der Berg als Ort und Anlaß einer metaphori-
Antonius und Augustin vergleicht. Die Wende von außen nach innen hat schen Bekehrung, der Berg als eine Kette metaphorischer Verweisungen,
denn auch eher den Charakter einer stellvertretenden, einer metaphorischen schließlich der Berg als Emblem einer Lebenskrise: der Mont Ventoux wird
Bekehrung. Die Reflexionen während des Abstiegs wiederholen nämlich die zur Allegorie von Metaphern.
Allegorien des Aufstiegs: Wenn man schon soviel Mühe und Schweiß für den Die äußere, die konkrete Natur ist so gesehen nicht Gegenstand einer
körperlichen Aufstieg auf den Berg aufwendet, »mit welchem Eifer müßten ästhetischen Erfahrung, sie verweist nicht auf sich selbst als Möglichkeit einer
wir uns mühen, nicht um eine Höhe der Erde unter den Fuß zu bekommen solchen Erfahrung, sondern auf einen anderen Raum jenseits der sichtbaren
sondern die von irdischen Trieben geblähten Begierden« und die »aufge~ Welt. Ihre Signifikanten implizieren außernatürliche Signifikate. Die »jäh
schwollene Bergeskuppe der Überhebung«. abstürzende, fast unersteigliche Felsmasse« des Berges ist Zeichen für die
Der allegorisc.he Berg der irdischen Gelüste nach Liebe und Ruhm ist beiden antithetischen Gipfel in der Innenwelt des Brief-Ichs. Sobald der Berg
mithin noch langst nicht bezwungen, die wirkliche Bekehrung steht noch seine Funktion als Zeichen erfüllt hat, ist er bedeutungslos geworden, hat er
aus; aber der Wille, sich aus der Weltverfallenheit seiner abgöttischen Liebe nur noch die »Höhe einer Elle.«
und Ruhmsucht zu lösen, ist offenbar zu schwach . Schwerer zu leisten als der Was nun aber, wenn Petrarca in einem ganz anderen, radikaleren Sinn
Verzicht auf das Genießen einer Aussicht ist der Verzicht auf Liebe und modern wäre? Martin Seel hat jüngst ästhetische Kontemplation als "ganz
Ruhm. In der Rückschau wird der wirkliche Berg zum allegorischen Berg profane Angelegenheit«, als »Fest der ungebundenen Sinne« beschrieben. Die
einer Lebenskrise und ihrer ersehnten Überwindung. Die Rückschau zeigt rein ästhetische Kontemplation habe sich -im Sog der neuzeitlichen Naturer-
302 Ruth Groh/Dieter Groh Petrarca und der Mont Ventoux 303
,J
fahrung aus ihrer Bindung an die Theorie«, also aus ihrer Bindung an Petrarca als eindrucksvollen Zeugen einer profanen, rein ästhetischen Natur-
Metaphysik gelöst. Für Seel ist die herkömmliche Auffassung, daß theoreti- erfahrung sucht, findet ihn in diesen Briefen. Der Genuß an den konkreten,
sche und ästhetische Kontemplation eine unauflösliche Einheit bilden, in sinnlich erfahrbaren Gestalten der Landschaft ist hier nicht ein sinnlich-
ihrer »Plausibilität« bedroht, seit Petrarca auf dem Gipfel des Mont Ventoux, übersinnlicher, er ist aus christlicher Perspektive areligiös, vielleicht heid-
-bevor er sich erschrocken eines Höheren besinnt-, Augenblicke einer nisch. Nirgends ist von Gottes herrlicher Schöpfung die Rede, nicht einmal
profanen, das heißt nicht-theoretischen sinnlichen Anschauung erlebt hat. 6 In bei Schilderungen des Gebirges. Landschaftsgenuß ohne Bezug auf Höheres
der Tat ist ja gerade - das liegt in der Logik der Bekehrung - areligiöse ist jedenfalls für Petrarca, wie seine Landschaftsschilderungen zeigen, nicht
sinnliche Weltzuwendung Merkmal der Gipfelerfahrung. Und dieses Merk- problematisch, sondern 'wie selbstverständlich. Der Mont-Ventoux-Brief ist
mal teilt das Mont-Ventoux-Erlebnis mit der modernen profanen, rein anscheinend der einzige literarische Ort in seinem Werk, in dem diese
ästhetischen Naturerfahrung. Also liefe es am Ende doch darauf hinaus, daß Selbstverständlichkeit von der Augustinischen Moralphilosophie in Frage
Petrarca mit seiner profanen Naturerfahrung als einsamer Vorläufer auf die gestellt wird. Natur als Landschaft steht hier nur als schwaches Zeichen für alles,
moderne nachmetaphysische Naturerfahrung voraus wiese, daß er in dieser was die Seele des Menschen haben will, für alle seine Obsessionen, und ihre
Hinsicht also doch der erste der -völlig modernen Menschen- gewesen sei? Bedeutung geht in dieser Funktion als Zeichen auf. Oder anders gesagt:
Keineswegs. Denn das angeblich Neue der Petrarkischen Naturzuwendung Landschaft als Gegenstand ästhetischer Erfahrung ist im Mont-Yentoux-Brief
ist in Wahrheit etwas ganz Altes. Es ist genau das, was die Menschen nach nicht Petrarcas Thema; ästhetische Naturerfahrung ist nicht sein Thema, weil
Augustin immer schon tun, wenn sie profan die Natur bewundern, anstatt sie nicht sein Problem ist.
ihre Seele kontemplativ zum Schöpfer zu erheben. Es ist auch ganz ähnlich Petrarca verdankt die sprachlichen Ausdrucksmittel für seine Naturschilde-
dem, was die Hörbegierigen und Schaulustigen Platon zufolge tun : Sie -lieben rungen bekanntlich der lateinischen Pastoraldichtung. Wo amöne Orte ihren
die schönen Töne und Farben und Gestalten und alles, was aus dergleichen Zauber entfalten, Nymphen auftauchen, Ceres und Bacchus ihre Gaben
gearbeitet ist, die Natur des Schönen selbst aber ist ihre Seele unfähig zu verschenken, Landstriche wie elysische Gefilde wirken, hat da einer, der so
sehen und zu lieben· (Politeia). Wenn Gegenbeispiele die Plausibilität einer schreibt, womöglich mit den Topoi zugleich die weltanschaulichen Voraus
Metaphysik der Kontemplation in Frage stellen können, dann wurde diese setzungen der alten Texte mit übernommen? Das ist im Fall Petrarcas unwahr-
Metaphysik schon lange durch eine philosophie- und gottferne Alltagspraxis scheinlich. Wohl aber mußte ihm bewußt sein, daß eine so beschriebene Natur
in Frage gestellt. Der bloßen ästhetischen Kontemplation wären Theologen eine heidnisch besetzte ist. Ihre Funktion als Projektionsraum einer sündhaften
und Philosophen immer schon mit der Mahnung entgegengetreten, wer sich Leidenschaft, also die Rolle, die sie im Canzoniere spielt, konnte evidenterweise
an die Welt der Erscheinungen verliere und seinen inneren Sinn nicht auf die eine so geartete Natur weitaus besser erfüllen als eine schöpfungstheologisch
-Natur des Schönen selbst-, auf den Ursprung alles Schönen richte, verfehle überhöhte. Vielleicht liegt darin eine Erklärung für Petrarcas offensichtliches
seine wahre Bestimmung. Das Vorhandensein normativer Forderungen läßt Desinteresse an einer christlichen Version der theoria, dafür, daß er sich
jedenfalls den Schluß auf eine Praxis zu, die diesen Normen eben nicht folgt. Augustins Schöpfungstheologie nicht aneignen konnte.
Insofern kann Petrarca wohl als spektakulärer, aber nicht als erster Zeuge für
die Möglichkeit einer Trennung von ästhetischer und metaphysischer Natur- Der Mont-Ventoux-Briej und Petrareas -Seere/um -
betrachtung in Anspruch genommen werden. Die moralphilosophische
Problematik rein ästhetischer Naturbetrachtung wird in seinem Bericht von Ein Blick auf jenes Werk, das in allerengster Beziehung zu dem Text des
einer Tradition diktiert, die jene Trennung, mithin die Autonomie sinnlicher Briefes steht, Petrarcas Seeretllm, soll diese These erhärten. Die Beziehung
Erfahrung, nicht zuließ. Sie hat überdies im existentiellen Lebenskonflikt, der wird gestiftet durch Titel, Entstehungszeit, Form, Inhalt und Traditionsbe-
im Zentrum des Briefes steht, nur mehr untergeordnete Bedeutung. zug.
Der Brief über die Besteigung des Mont Ventoux ist der einzige Text Bereits der Titel De secreto conflietu cllrarum mearum signalisiert, daß es in
Petrarcas, in dem das Verhältnis des Autors zur äußeren Natur problemati- dieser Schrift um dieselben Probleme geht, die der Originaltitel des Briefes an
siert und in die Darstellung seines Lebenskonflikts einbezogen wird. Die zum Dionigi mit der Wendung De curis propriis thematisiert. Der zweite Titel De
Teil sehr anschaulichen und farbigen Landschaftsschilderungen in den ande- (ontempttl mundi unterstreicht noch die Analogie bei der Texte. Sie ist derart
ren lateinischen Briefen und metrischen Episteln zeugen von durch keinerlei frappierend, daß die Petrarca-Forschung lange Zeit keine Erklärung dafür
Skrupel getrübte •• Genuß landschaftlicher Schönheit; mit besonderer Begei- fand, daß dem Leser in einem Brief aus dem Jahr 1336 bereits der Autor des
sterung schildert er weite Aussichten und panoramaartige Rundblicke. Wer Seeretum, also der vierziger und fünfziger Jahre vor Augen trat. Die Zeit der
Abfassung dieser Schrift galt als großer Einschnitt in seinem Leben, als
Secretu1ll- Krise. Erst seitdem es gelungen ist, beide Texte genau zu datieren, ist
(, M~ rtin Sr rl Pi", A" rt/" ,ib rlrr N lll ll r Fro nkfnrt · S"hrb m .... 1fJfJ 1 cl:l .~ R ~ ts e l l1"elöst.
302 Ruth Groh/Dieter Groh Petrarca und der Mont Ventoux 303
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fahrung aus ihrer Bindung an die Theorie«, also aus ihrer Bindung an Petrarca als eindrucksvollen Zeugen einer profanen, rein ästhetischen Natur-
Metaphysik gelöst. Für Seel ist die herkömmliche Auffassung, daß theoreti- erfahrung sucht, findet ihn in diesen Briefen. Der Genuß an den konkreten,
sche und ästhetische Kontemplation eine unauflösliche Einheit bilden, in sinnlich erfahrbaren Gestalten der Landschaft ist hier nicht ein sinnlich-
ihrer »Plausibilität« bedroht, seit Petrarca auf dem Gipfel des Mont Ventoux, übersinnlicher, er ist aus christlicher Perspektive areligiös, vielleicht heid-
-bevor er sich erschrocken eines Höheren besinnt-, Augenblicke einer nisch. Nirgends ist von Gottes herrlicher Schöpfung die Rede, nicht einmal
profanen, das heißt nicht-theoretischen sinnlichen Anschauung erlebt hat. 6 In bei Schilderungen des Gebirges. Landschaftsgenuß ohne Bezug auf Höheres
der Tat ist ja gerade - das liegt in der Logik der Bekehrung - areligiöse ist jedenfalls für Petrarca, wie seine Landschaftsschilderungen zeigen, nicht
sinnliche Weltzuwendung Merkmal der Gipfelerfahrung. Und dieses Merk- problematisch, sondern 'wie selbstverständlich. Der Mont-Ventoux-Brief ist
mal teilt das Mont-Ventoux-Erlebnis mit der modernen profanen, rein anscheinend der einzige literarische Ort in seinem Werk, in dem diese
ästhetischen Naturerfahrung. Also liefe es am Ende doch darauf hinaus, daß Selbstverständlichkeit von der Augustinischen Moralphilosophie in Frage
Petrarca mit seiner profanen Naturerfahrung als einsamer Vorläufer auf die gestellt wird. Natur als Landschaft steht hier nur als schwaches Zeichen für alles,
moderne nachmetaphysische Naturerfahrung voraus wiese, daß er in dieser was die Seele des Menschen haben will, für alle seine Obsessionen, und ihre
Hinsicht also doch der erste der -völlig modernen Menschen- gewesen sei? Bedeutung geht in dieser Funktion als Zeichen auf. Oder anders gesagt:
Keineswegs. Denn das angeblich Neue der Petrarkischen Naturzuwendung Landschaft als Gegenstand ästhetischer Erfahrung ist im Mont-Yentoux-Brief
ist in Wahrheit etwas ganz Altes. Es ist genau das, was die Menschen nach nicht Petrarcas Thema; ästhetische Naturerfahrung ist nicht sein Thema, weil
Augustin immer schon tun, wenn sie profan die Natur bewundern, anstatt sie nicht sein Problem ist.
ihre Seele kontemplativ zum Schöpfer zu erheben. Es ist auch ganz ähnlich Petrarca verdankt die sprachlichen Ausdrucksmittel für seine Naturschilde-
dem, was die Hörbegierigen und Schaulustigen Platon zufolge tun : Sie -lieben rungen bekanntlich der lateinischen Pastoraldichtung. Wo amöne Orte ihren
die schönen Töne und Farben und Gestalten und alles, was aus dergleichen Zauber entfalten, Nymphen auftauchen, Ceres und Bacchus ihre Gaben
gearbeitet ist, die Natur des Schönen selbst aber ist ihre Seele unfähig zu verschenken, Landstriche wie elysische Gefilde wirken, hat da einer, der so
sehen und zu lieben· (Politeia). Wenn Gegenbeispiele die Plausibilität einer schreibt, womöglich mit den Topoi zugleich die weltanschaulichen Voraus
Metaphysik der Kontemplation in Frage stellen können, dann wurde diese setzungen der alten Texte mit übernommen? Das ist im Fall Petrarcas unwahr-
Metaphysik schon lange durch eine philosophie- und gottferne Alltagspraxis scheinlich. Wohl aber mußte ihm bewußt sein, daß eine so beschriebene Natur
in Frage gestellt. Der bloßen ästhetischen Kontemplation wären Theologen eine heidnisch besetzte ist. Ihre Funktion als Projektionsraum einer sündhaften
und Philosophen immer schon mit der Mahnung entgegengetreten, wer sich Leidenschaft, also die Rolle, die sie im Canzoniere spielt, konnte evidenterweise
an die Welt der Erscheinungen verliere und seinen inneren Sinn nicht auf die eine so geartete Natur weitaus besser erfüllen als eine schöpfungstheologisch
-Natur des Schönen selbst-, auf den Ursprung alles Schönen richte, verfehle überhöhte. Vielleicht liegt darin eine Erklärung für Petrarcas offensichtliches
seine wahre Bestimmung. Das Vorhandensein normativer Forderungen läßt Desinteresse an einer christlichen Version der theoria, dafür, daß er sich
jedenfalls den Schluß auf eine Praxis zu, die diesen Normen eben nicht folgt. Augustins Schöpfungstheologie nicht aneignen konnte.
Insofern kann Petrarca wohl als spektakulärer, aber nicht als erster Zeuge für
die Möglichkeit einer Trennung von ästhetischer und metaphysischer Natur- Der Mont-Ventoux-Briej und Petrareas -Seere/um -
betrachtung in Anspruch genommen werden. Die moralphilosophische
Problematik rein ästhetischer Naturbetrachtung wird in seinem Bericht von Ein Blick auf jenes Werk, das in allerengster Beziehung zu dem Text des
einer Tradition diktiert, die jene Trennung, mithin die Autonomie sinnlicher Briefes steht, Petrarcas Seeretllm, soll diese These erhärten. Die Beziehung
Erfahrung, nicht zuließ. Sie hat überdies im existentiellen Lebenskonflikt, der wird gestiftet durch Titel, Entstehungszeit, Form, Inhalt und Traditionsbe-
im Zentrum des Briefes steht, nur mehr untergeordnete Bedeutung. zug.
Der Brief über die Besteigung des Mont Ventoux ist der einzige Text Bereits der Titel De secreto conflietu cllrarum mearum signalisiert, daß es in
Petrarcas, in dem das Verhältnis des Autors zur äußeren Natur problemati- dieser Schrift um dieselben Probleme geht, die der Originaltitel des Briefes an
siert und in die Darstellung seines Lebenskonflikts einbezogen wird. Die zum Dionigi mit der Wendung De curis propriis thematisiert. Der zweite Titel De
Teil sehr anschaulichen und farbigen Landschaftsschilderungen in den ande- (ontempttl mundi unterstreicht noch die Analogie bei der Texte. Sie ist derart
ren lateinischen Briefen und metrischen Episteln zeugen von durch keinerlei frappierend, daß die Petrarca-Forschung lange Zeit keine Erklärung dafür
Skrupel getrübte •• Genuß landschaftlicher Schönheit; mit besonderer Begei- fand, daß dem Leser in einem Brief aus dem Jahr 1336 bereits der Autor des
sterung schildert er weite Aussichten und panoramaartige Rundblicke. Wer Seeretum, also der vierziger und fünfziger Jahre vor Augen trat. Die Zeit der
Abfassung dieser Schrift galt als großer Einschnitt in seinem Leben, als
Secretu1ll- Krise. Erst seitdem es gelungen ist, beide Texte genau zu datieren, ist
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304 Ruth GrohlDieter Groh Petrarca und der Mont Ve ntoux
Der hier behandelte Brief ist nicht 1336, sondern erst 1353 entstanden und besingt die geliebte Dame, sein eigenes poetisches Geschöpf, und diese
das Seere/um zwischen 1347 und 1353. Die letzte Überarbeitung dieser Schrift wiederum wird zur Schöpferin des poeta laurea/tlS.
faHt also zeitlich zusammen mit der Niederschrift des Mont-Ventoux-Briefes. Schon zu Beginn ihres Dialogs hat Augustinus an seine eigene Bekehrung
Seit dieser Entdeckung gilt der Brief als "Schlüssel- zum Seere/um - et vice erinnert und Franciscus aufgerufen, den Feigenbaum als Lebensziel über den
versa. Einen weiteren Schlüssel hat man im lyrischen Werk gefunden und Lorbeer, seinen Abgott, zu stellen: Lorbeer und Feigenbaum verkörpern als
zwar in der Canzone 264 aus den Jahren 1347/48, die mit der Formel ~ I'vo Gegenembleme die Opposition von Weltverfallenheit und Heilssorge. Damit
pensando« (»Mein Sinn geht schwer-) beginnt. Sie thematisiert gleichfalls die wird schlagartig klar, was eigentlich in diesem moralphilosophischen Lebens-
Spannung zwischen Weltverfallenheit und Heilssorge. Der Umstand, daß das konflikt auf dem Spiel steht, warum der Franciscus des Seere/llm wie der
Werk Petrarcas an mehreren Orten die Lebenskrise zum Gegenstand hat, legt Petrarca des Briefes den nötigen Eifer, Augustin nachzufolgen, nicht aufbrin-
den Umkehrschluß nahe, der eigentliche Gegenstand der Lebenskrise sei das gen kann, warum er ständig hin und her schwanken muß: Sein Lebenskon-
dichterische und schriftstellerische Werk. In unserem Zusammenhang genügt flikt ist ein existentieller. Auf dem Spiel steht das poetische und schriftstelle-
es, auf die zahlreichen Parallelen und eine wichtige Nichtparallele hinzuwei- ri.sche Werk. Den Abgöttern zu entsagen, auf amor et gloria zu verzichten,
sen, um aus dem Seeretum ein Interpretament für den Mont-Ventoux-Brief zu würde bedeuten, die Existenz als Dichter und Schriftsteller aufzugeben.
gewinnen. -Willst du, daß ich alle meine Arbeiten aufgebe und ein ruhmloses Leben
Während sich der Brief in Form eines halbierten Dialogs an den Beicht- führe? . . Was soll ich also tun? Soll ich meine Arbeiten unvollendet
vater Dionigi richtet, ist das Seeretum der vollständige Dialog zwischen liegenlassen?« Auf diese Frage fordert Franciscus am Schluß Antwort. Augu-
»Franciscus. und »Augustinus« in der Rolle des Beichtvaters und väterlichen stinus bringt das Problem auf den Punkt: . Ach ich sehe, woran es fehlt, lieber
Freundes in drei Gesprächen an drei aufeinanderfolgenden Tagen. Es treten willst du dich selbst verlassen als deine Büchlein.-
sich zwei Leser gegenüber, die des anderen Werke kennen und sich gegensei- Wer aber schließlich nachgibt, ist nicht der Dichter, sondern der Kirchen-
tig zitieren. Franciscus bekennt, wie tief ihn die Confessiones beeindruckt vater. Ein weiser, freundlicher Augustinus gibt Franciscus seinen Segen zur
haben, und Augustinus würdigt ihn als poeta Ialmatus. Mehr noch, man könnte Vollendung seiner »irdischen Geschäfte-, der Werke Afriea und De viris
meinen, ihre Bibliotheken seien identisch und bestünden fast ausschließlich illtlStribuJ. Der Heilsweg, die eonversio wird aufgeschoben, in eine ungewisse
aus den Werken antiker Dichter und Philosophen. Zukunft vertagt, genau wie im Mont-Ventoux-Brief. Das einzige, was der
Moralphilosophischer Leitgedanke des Dialogs ist - genau wie im Brief - Dichter leisten kann bei seinen »Abschweifungen«, ist · innere Einkehr«, und
der Sache nach die Augustinische Unterscheidung von »genießen« und das bedeutet: die Notwendigkeit einer vollständigen Neuorientierung seines
»gebrauchen «, von frui und u/i, und die aus dieser Unterscheidung abgeleitete Lebens im Zeichen des eon/emptuJ mllndi anzuerkennen und zugleich zu
Definition der Sünde als Genießen des Irdischen und insofern als Abgötterei. wissen, daß Bekehrung Selbstaufgabe heißt. Damit wird der Gewissenskon-
Ausgangspunkt des Gesprächs bildet die »Krankheit«, das »Irren«, das flikt auf Dauer gestellt. Der Preis für das künstlerische Werk ist das unglückli-
»Elend« des Franciscus, seine »Schwermut« (aeidia), die ihn vor langer Zeit che Bewußtsein. Wenn die Tradition recht hat und das Werk ein Abgott ist
befallen hat. Franciscus ist ein widerspenstiges Beichtlcind. Erst gegen Ende und wenn der Autor nur durch Schöpfung des Werkes sein Selbst verwirkli-
des dritten Gesprächs kann Augustinus ihn zur Einsicht in die Ursache seines chen kann, dann bedeutet Selbstverwirklichung zugleich Selbstentfremdung.
Unglücks bringen: Liebe und Ruhm (amoretgloria) sind seine Abgötter. Diese Das Subjekt konstituiert sich als unglückliches in der - halbherzigen -
Phantasmata, diese Trugbilder halten obsessiv seinen inneren Sinn gefangen. Entfremdung von Traditionen .
Es sind dieselben "von irdischen Trieben geblähten Begierden« und die In der halbherzigen Entfremdung von Traditionen, die seine Lebensform
.aufgeschwollenen Bergeskuppen der Überhebung«, die im Mont-Ventoux- bestimmt, und nicht als Pionier einer modernen ästhetischen Naturerfahrung
Brief als Gipfel der Idolatrie erscheinen und die zu bezwingen der Wille erweist sich Petrarca als Dichter der Epochenschwelle zwischen Mittelalter
Petrarcas zu schwach ist. Auch der Franciscus des Seeretum bekennt, daß er die und Neuzeit. Tiefgläubig und voller Angst um sein Seelenheil - in einer Zeit,
bequemeren und breiteren Wege, die Wege irdischen Glücks, die in Wahrheit in der die Pestzüge seit 1347 einen frühen und vor allem einen plötzlichen
ins Unglück führen, dem steilen und engen Weg zur Rechten, den Augustin Tod fürchten lehrten - hat der Petrarca des Seeretum und des Mont-Ventoux-
selber gegangen ist, vorgezogen hat. Briefes Augustin die Nachfolge versagt. Die von der Tradition gestellte
Liebe und Ruhm aber sind nicht zwei verschiedene Obsessionen, sie Alternative Gott oder Abgott, Gott oder Werk, Gott oder Ich hat er für sich
bedeuten vielmehr dasselbe . • Darum allein, weil sie den Namen Laura führt«, selbst und sein Werk entschieden und damit zugleich für sein unglückliches
so Augustinus, ·hast du mit solchem Eifer gestrebt, den Lorbeer (Iauro) .. . Bewußtsein . Wenn in der Fiktion des Seere/llm Augustinus dem Franciscus am
eines Dichters zu erringen . Und seit der Zeit gelang dir kein Gedicht, worin Ende seinen Segen gibt zur Arbeit an den »Büchlein«, entläßt er ihn getröstet
du nicht den Lorbeer nanntest«. Im Zeichen system des poetischen Werkes ist aus dem Dialog. Die Fiktion leistet eine, wenn auch bescheidene, Kompensa-
Liebe eleich Ruhm : T.~ura und lallrn verweisen ~\1fein~nrler. Ocr Dichter tion eines moral philosophisch induzierten Mangels.
304 Ruth GrohlDieter Groh Petrarca und der Mont Ve ntoux
Der hier behandelte Brief ist nicht 1336, sondern erst 1353 entstanden und besingt die geliebte Dame, sein eigenes poetisches Geschöpf, und diese
das Seere/um zwischen 1347 und 1353. Die letzte Überarbeitung dieser Schrift wiederum wird zur Schöpferin des poeta laurea/tlS.
faHt also zeitlich zusammen mit der Niederschrift des Mont-Ventoux-Briefes. Schon zu Beginn ihres Dialogs hat Augustinus an seine eigene Bekehrung
Seit dieser Entdeckung gilt der Brief als "Schlüssel- zum Seere/um - et vice erinnert und Franciscus aufgerufen, den Feigenbaum als Lebensziel über den
versa. Einen weiteren Schlüssel hat man im lyrischen Werk gefunden und Lorbeer, seinen Abgott, zu stellen: Lorbeer und Feigenbaum verkörpern als
zwar in der Canzone 264 aus den Jahren 1347/48, die mit der Formel ~ I'vo Gegenembleme die Opposition von Weltverfallenheit und Heilssorge. Damit
pensando« (»Mein Sinn geht schwer-) beginnt. Sie thematisiert gleichfalls die wird schlagartig klar, was eigentlich in diesem moralphilosophischen Lebens-
Spannung zwischen Weltverfallenheit und Heilssorge. Der Umstand, daß das konflikt auf dem Spiel steht, warum der Franciscus des Seere/llm wie der
Werk Petrarcas an mehreren Orten die Lebenskrise zum Gegenstand hat, legt Petrarca des Briefes den nötigen Eifer, Augustin nachzufolgen, nicht aufbrin-
den Umkehrschluß nahe, der eigentliche Gegenstand der Lebenskrise sei das gen kann, warum er ständig hin und her schwanken muß: Sein Lebenskon-
dichterische und schriftstellerische Werk. In unserem Zusammenhang genügt flikt ist ein existentieller. Auf dem Spiel steht das poetische und schriftstelle-
es, auf die zahlreichen Parallelen und eine wichtige Nichtparallele hinzuwei- ri.sche Werk. Den Abgöttern zu entsagen, auf amor et gloria zu verzichten,
sen, um aus dem Seeretum ein Interpretament für den Mont-Ventoux-Brief zu würde bedeuten, die Existenz als Dichter und Schriftsteller aufzugeben.
gewinnen. -Willst du, daß ich alle meine Arbeiten aufgebe und ein ruhmloses Leben
Während sich der Brief in Form eines halbierten Dialogs an den Beicht- führe? . . Was soll ich also tun? Soll ich meine Arbeiten unvollendet
vater Dionigi richtet, ist das Seeretum der vollständige Dialog zwischen liegenlassen?« Auf diese Frage fordert Franciscus am Schluß Antwort. Augu-
»Franciscus. und »Augustinus« in der Rolle des Beichtvaters und väterlichen stinus bringt das Problem auf den Punkt: . Ach ich sehe, woran es fehlt, lieber
Freundes in drei Gesprächen an drei aufeinanderfolgenden Tagen. Es treten willst du dich selbst verlassen als deine Büchlein.-
sich zwei Leser gegenüber, die des anderen Werke kennen und sich gegensei- Wer aber schließlich nachgibt, ist nicht der Dichter, sondern der Kirchen-
tig zitieren. Franciscus bekennt, wie tief ihn die Confessiones beeindruckt vater. Ein weiser, freundlicher Augustinus gibt Franciscus seinen Segen zur
haben, und Augustinus würdigt ihn als poeta Ialmatus. Mehr noch, man könnte Vollendung seiner »irdischen Geschäfte-, der Werke Afriea und De viris
meinen, ihre Bibliotheken seien identisch und bestünden fast ausschließlich illtlStribuJ. Der Heilsweg, die eonversio wird aufgeschoben, in eine ungewisse
aus den Werken antiker Dichter und Philosophen. Zukunft vertagt, genau wie im Mont-Ventoux-Brief. Das einzige, was der
Moralphilosophischer Leitgedanke des Dialogs ist - genau wie im Brief - Dichter leisten kann bei seinen »Abschweifungen«, ist · innere Einkehr«, und
der Sache nach die Augustinische Unterscheidung von »genießen« und das bedeutet: die Notwendigkeit einer vollständigen Neuorientierung seines
»gebrauchen «, von frui und u/i, und die aus dieser Unterscheidung abgeleitete Lebens im Zeichen des eon/emptuJ mllndi anzuerkennen und zugleich zu
Definition der Sünde als Genießen des Irdischen und insofern als Abgötterei. wissen, daß Bekehrung Selbstaufgabe heißt. Damit wird der Gewissenskon-
Ausgangspunkt des Gesprächs bildet die »Krankheit«, das »Irren«, das flikt auf Dauer gestellt. Der Preis für das künstlerische Werk ist das unglückli-
»Elend« des Franciscus, seine »Schwermut« (aeidia), die ihn vor langer Zeit che Bewußtsein. Wenn die Tradition recht hat und das Werk ein Abgott ist
befallen hat. Franciscus ist ein widerspenstiges Beichtlcind. Erst gegen Ende und wenn der Autor nur durch Schöpfung des Werkes sein Selbst verwirkli-
des dritten Gesprächs kann Augustinus ihn zur Einsicht in die Ursache seines chen kann, dann bedeutet Selbstverwirklichung zugleich Selbstentfremdung.
Unglücks bringen: Liebe und Ruhm (amoretgloria) sind seine Abgötter. Diese Das Subjekt konstituiert sich als unglückliches in der - halbherzigen -
Phantasmata, diese Trugbilder halten obsessiv seinen inneren Sinn gefangen. Entfremdung von Traditionen .
Es sind dieselben "von irdischen Trieben geblähten Begierden« und die In der halbherzigen Entfremdung von Traditionen, die seine Lebensform
.aufgeschwollenen Bergeskuppen der Überhebung«, die im Mont-Ventoux- bestimmt, und nicht als Pionier einer modernen ästhetischen Naturerfahrung
Brief als Gipfel der Idolatrie erscheinen und die zu bezwingen der Wille erweist sich Petrarca als Dichter der Epochenschwelle zwischen Mittelalter
Petrarcas zu schwach ist. Auch der Franciscus des Seeretum bekennt, daß er die und Neuzeit. Tiefgläubig und voller Angst um sein Seelenheil - in einer Zeit,
bequemeren und breiteren Wege, die Wege irdischen Glücks, die in Wahrheit in der die Pestzüge seit 1347 einen frühen und vor allem einen plötzlichen
ins Unglück führen, dem steilen und engen Weg zur Rechten, den Augustin Tod fürchten lehrten - hat der Petrarca des Seeretum und des Mont-Ventoux-
selber gegangen ist, vorgezogen hat. Briefes Augustin die Nachfolge versagt. Die von der Tradition gestellte
Liebe und Ruhm aber sind nicht zwei verschiedene Obsessionen, sie Alternative Gott oder Abgott, Gott oder Werk, Gott oder Ich hat er für sich
bedeuten vielmehr dasselbe . • Darum allein, weil sie den Namen Laura führt«, selbst und sein Werk entschieden und damit zugleich für sein unglückliches
so Augustinus, ·hast du mit solchem Eifer gestrebt, den Lorbeer (Iauro) .. . Bewußtsein . Wenn in der Fiktion des Seere/llm Augustinus dem Franciscus am
eines Dichters zu erringen . Und seit der Zeit gelang dir kein Gedicht, worin Ende seinen Segen gibt zur Arbeit an den »Büchlein«, entläßt er ihn getröstet
du nicht den Lorbeer nanntest«. Im Zeichen system des poetischen Werkes ist aus dem Dialog. Die Fiktion leistet eine, wenn auch bescheidene, Kompensa-
Liebe eleich Ruhm : T.~ura und lallrn verweisen ~\1fein~nrler. Ocr Dichter tion eines moral philosophisch induzierten Mangels.
Pctrarca und der Mont Ventoux 307
06 Ruth GrohlDieter Groh
für die Zuwendung zum immanenten Abgott steht und so für die Selbstrefle-
So weit reicht die Parallele zum Brief. Die signifikante Nichtparallele I~egt xivität des Zeichens. Aber die höhere Wahrheit, die der Lorbeer anspricht, ist
. daß im Seeretum die äußere Natur als Gegenstand sündhafter
d arlO, d' Faszlna-
. die Wahrheit des Urteils, er sei ein Abgott. Beide sind Instanzen desselben
tion nicht thematisiert wird. Landschaft als Versuchung, Ir Isches zu gente- i theologischen Wertsystems. Der allegorische Verweis auf die transzendente
ßen, kommt im Sterelum nicht vor. Sie kommt vor. in einer ganz ande.ren,
entgegengesetzten Rolle: als Heilmittel gegen obseSSIves Begehren .von Liebe I· Wahrheit ist Teil der Bedeutung des Zeichens -Lorbeer«. Deshalb können
.poetic order« und »theological order« keine getrennten Systeme sein. Für ~as
und Ruhm. Augustinus selber ist der Seelenarzt, :,en~ er frag~.: »Ennnerst d~ Zeichensystem Petrarcas hat dies zur Folge, daß es sowohl selbstreferentiell
dich noch, wie glückselig du einst auf dem Lande In stiller Zuruckgezogenhelt ist (und darin autonom) als auch allegorisch (und darin nicht autonom). In
lebtest? Bald lagst du mitten im Flor der Wiesenblumen ~nd lauschtest.. dem dieser gebrochenen Autonomie der Zeichen spiegelt sich der unausgetra~ene
Murmeln des fließenden Wassers, bald saßest du auf frei gelegenen Hugeln Konflikt zwischen Weltverfallenheit und Heilssorge, das unglückltche
und ließest fessellos den Blick über die drunten liegenden weiten L~nde Bewußtsein des Dichters der Epochenschwelle, der sich vollständige Autono-
schweifen, dann lagst du wieder an schattigen Plätzen des warmen, sonntgen mie nicht erlauben konnte.
Tales und gabst dich dem süßen Schlummer hin«. . Welchen zusätzlichen Gewinn bringt das Seeretum für die Lektüre des Mont-
Ganz offensichtlich gibt die ästhetische »Erfahrung der .auf einen f~rnen Ventoux-Briefes? Wir können nun die Serie der semantischen Fiktionen, die
Horizont geöffneten, bis in eine sich verlierende Ferne hlO ausgebrel~eten Kette der aufeinander verweisenden Metaphern lauro - Laura - poela laureafus
Landschaft~ dem Augustinus des Steretum keinerlei Anlaß für ~oraltsche erweitern und die metaphorische Bedeutung des Mont Ventoux genauer
Skrupel, ebensowenig Petrarca selbst, wie seine Landschaftsschllderung~n bestimmen . Im Innenweltdiskurs des Brief-Ichs war der Berg zum Zeichen für
zeigen . Dieser Befund spricht für die These, Natur als Land~chaft habe I~ Irdisches, zum Gipfel des Ruhms geworden. Derselbe Berg hatte Petrarca,
Mont-Ventoux-Brief keine eigene Bedeutung, sondern nur eine solche, die wie es zu Beginn des Briefes heißt, in seiner konkreten, sinnlich wahrnehm-
sich in der Metapher für »Irdisches" erschöpft. In beiden Texten arti~ulie.rt baren Gestalt bereits seit der frühenjugendzeit vor Augen gestanden und war
sich der existentielle Lebenskonflikt Petrarcas. Naturerfahrung spielt In schon lange Gegenstand seiner Begierde gewesen. Der Text des Seere/um, der
diesem Konflikt keine Rolle. eine klarere Sprache spricht, nennt uns in deutlicher Entsprechung zum Text
Gleichwohl hat das Bild des die Welt von oben betrachtenden Dichters des Briefes den eigentlichen Gegenstand der Begierde: Seit seinen Knaben-
solche Suggestivkraft bewiesen, daß es, gesehen durch die Brille moderner jahren hat Franciscus vom »Dichterlorbeer« geträumt. Ungeachtet der Tatsa-
Fragestellung, zu einem wissenschaftlichen Trugbild, einem Phantasma w.e.~ che, "daß der Brauch der Dichterkrönung seit Jahrhunderten veraltet war«,
den konnte. Es hat erfolgreichere Versuche gegeben, Petrarcas Modernitat
hat er sich, so Augustinus, aufgestachelt vom · süßen Klang« des Namens
nachzuweisen.John Freccero hat 1975 eine brillante semiotische Analyse des
Laura nicht von diesem Ziel abbringen lassen, bis er »über Länder und Meere
Petrarkischen Zeichensystems am Beispiel des Canzoniere und des Seere/llm
. .. hinweg nach Neapel und Rom « geeilt ist, · wo ( er) dann endlich erreicht«
vorgelegt.? Danach ist Augustins Feigen baum ein alleg~risches Zeichen: .Es
hat, · wonach (sein) Herz erglühte«. Dieses Ziel hat Franciscus mit der
verweist auf frühere Texte - auf andere Bekehrungsgeschichten - und auf eine
Nennung des Lorbeers in seinen Gedichten beschworen. Und Augustinus
Wahrheit jenseits seiner selbst, denn der Feigenbaum ist Emblem d.er
nennt auch den Namen des Abgottes, dem er dient: Es war, »als wohntest du
Zuwendung zu Gott. Petrarcas Lorbeer dagegen ist als Zeichen selbstreflexIv.
. .. als Priester des Apoll auf den Höhen von Cirrha«. Die Höhen von Cirrha
Seine Zirkuillrität, gestiftet durch den Zusammenhang v~n lauro - L~"ra -
sind aber nichts anderes als der Parnaß, Sitz des Apoll und der Musen,
poela laurea/fIS, macht dieses Zeichen zum Symbol für die Autonomie d~s
Sinnbild der Dichtkunst. In anderem Zusammenhang bringt Franciscus selbst
Dichters zum Ausweis seiner Modernität. Der Lorbeer, »the symbol of poetlc
suprema~y«, ist ein Zeichen, das Petrarca allein gehört. ~iese ~oetis~he die Rede darauf, daß -die alten Dichter des Parnassus Doppelgipfel zwei
Gottheiten geweiht« haben : Apoll und Bacchus. Beide Götter sind Projek-
Strategie fallt im theologischen Wertsystem unter den Begnff Abgotterel..
tionen menschlicher Wünsche und Bedürfnisse, Apoll der geistigen,
Man muß dieser Lesart Frecceros nicht ganz folgen . Denn erstens verweist
Bacchus der leib-sinnlichen. Dem Doppelgipfel des Parnaß entspricht im
auch der Lorbeer auf frühere Texte, auf antike Berichte von gekrönten
Mont-Ventoux-Brief die Metaphorisierung des Berges als Gipfel des Ruhms
Dichtern und Siegern , auf den Gott der Dichtung und der Musik, ApolI,
dessen Zeichen der Lorbeer war. Das Emblem gehört also nicht Petrarca allein und als Gipfel der Liebe. Im Zeichen system Petrarcas verweisen die Meta-
phern aufeinander, fallen in eins zusammen . Der irdische Gipfel des Mont
und ist insofern auch nicht selbstreferentiell. Zweitens verweist auch der
Lorbeer auf eine höhere Wahrheit jenseits seiner selbst. Zwar verbi:dlicht der Ventoux ist der Gipfel des irdischen Ruhms, der Parnaß des lorbeerbe-
Feigenbaum die Zuwendung zum transzendenten Gott, während der Lorbeer kränzten Dichters. Der Berg verkörpert das Trugbild, die Obsession, von der
Petrarca nicht lassen kann, den Grund seiner »sorgenvollen Gedanken« : Der
7 .lo hn f-rccccro. Thc Pi/!. Tm lind Ihe Lallrd. In : DiorrilirJ, Frühjahr 1975.
Berg verkörpert das Werk - und bleibt doch ein Berg in der Provence.
Pctrarca und der Mont Ventoux 307
06 Ruth GrohlDieter Groh
für die Zuwendung zum immanenten Abgott steht und so für die Selbstrefle-
So weit reicht die Parallele zum Brief. Die signifikante Nichtparallele I~egt xivität des Zeichens. Aber die höhere Wahrheit, die der Lorbeer anspricht, ist
. daß im Seeretum die äußere Natur als Gegenstand sündhafter
d arlO, d' Faszlna-
. die Wahrheit des Urteils, er sei ein Abgott. Beide sind Instanzen desselben
tion nicht thematisiert wird. Landschaft als Versuchung, Ir Isches zu gente- i theologischen Wertsystems. Der allegorische Verweis auf die transzendente
ßen, kommt im Sterelum nicht vor. Sie kommt vor. in einer ganz ande.ren,
entgegengesetzten Rolle: als Heilmittel gegen obseSSIves Begehren .von Liebe I· Wahrheit ist Teil der Bedeutung des Zeichens -Lorbeer«. Deshalb können
.poetic order« und »theological order« keine getrennten Systeme sein. Für ~as
und Ruhm. Augustinus selber ist der Seelenarzt, :,en~ er frag~.: »Ennnerst d~ Zeichensystem Petrarcas hat dies zur Folge, daß es sowohl selbstreferentiell
dich noch, wie glückselig du einst auf dem Lande In stiller Zuruckgezogenhelt ist (und darin autonom) als auch allegorisch (und darin nicht autonom). In
lebtest? Bald lagst du mitten im Flor der Wiesenblumen ~nd lauschtest.. dem dieser gebrochenen Autonomie der Zeichen spiegelt sich der unausgetra~ene
Murmeln des fließenden Wassers, bald saßest du auf frei gelegenen Hugeln Konflikt zwischen Weltverfallenheit und Heilssorge, das unglückltche
und ließest fessellos den Blick über die drunten liegenden weiten L~nde Bewußtsein des Dichters der Epochenschwelle, der sich vollständige Autono-
schweifen, dann lagst du wieder an schattigen Plätzen des warmen, sonntgen mie nicht erlauben konnte.
Tales und gabst dich dem süßen Schlummer hin«. . Welchen zusätzlichen Gewinn bringt das Seeretum für die Lektüre des Mont-
Ganz offensichtlich gibt die ästhetische »Erfahrung der .auf einen f~rnen Ventoux-Briefes? Wir können nun die Serie der semantischen Fiktionen, die
Horizont geöffneten, bis in eine sich verlierende Ferne hlO ausgebrel~eten Kette der aufeinander verweisenden Metaphern lauro - Laura - poela laureafus
Landschaft~ dem Augustinus des Steretum keinerlei Anlaß für ~oraltsche erweitern und die metaphorische Bedeutung des Mont Ventoux genauer
Skrupel, ebensowenig Petrarca selbst, wie seine Landschaftsschllderung~n bestimmen . Im Innenweltdiskurs des Brief-Ichs war der Berg zum Zeichen für
zeigen . Dieser Befund spricht für die These, Natur als Land~chaft habe I~ Irdisches, zum Gipfel des Ruhms geworden. Derselbe Berg hatte Petrarca,
Mont-Ventoux-Brief keine eigene Bedeutung, sondern nur eine solche, die wie es zu Beginn des Briefes heißt, in seiner konkreten, sinnlich wahrnehm-
sich in der Metapher für »Irdisches" erschöpft. In beiden Texten arti~ulie.rt baren Gestalt bereits seit der frühenjugendzeit vor Augen gestanden und war
sich der existentielle Lebenskonflikt Petrarcas. Naturerfahrung spielt In schon lange Gegenstand seiner Begierde gewesen. Der Text des Seere/um, der
diesem Konflikt keine Rolle. eine klarere Sprache spricht, nennt uns in deutlicher Entsprechung zum Text
Gleichwohl hat das Bild des die Welt von oben betrachtenden Dichters des Briefes den eigentlichen Gegenstand der Begierde: Seit seinen Knaben-
solche Suggestivkraft bewiesen, daß es, gesehen durch die Brille moderner jahren hat Franciscus vom »Dichterlorbeer« geträumt. Ungeachtet der Tatsa-
Fragestellung, zu einem wissenschaftlichen Trugbild, einem Phantasma w.e.~ che, "daß der Brauch der Dichterkrönung seit Jahrhunderten veraltet war«,
den konnte. Es hat erfolgreichere Versuche gegeben, Petrarcas Modernitat
hat er sich, so Augustinus, aufgestachelt vom · süßen Klang« des Namens
nachzuweisen.John Freccero hat 1975 eine brillante semiotische Analyse des
Laura nicht von diesem Ziel abbringen lassen, bis er »über Länder und Meere
Petrarkischen Zeichensystems am Beispiel des Canzoniere und des Seere/llm
. .. hinweg nach Neapel und Rom « geeilt ist, · wo ( er) dann endlich erreicht«
vorgelegt.? Danach ist Augustins Feigen baum ein alleg~risches Zeichen: .Es
hat, · wonach (sein) Herz erglühte«. Dieses Ziel hat Franciscus mit der
verweist auf frühere Texte - auf andere Bekehrungsgeschichten - und auf eine
Nennung des Lorbeers in seinen Gedichten beschworen. Und Augustinus
Wahrheit jenseits seiner selbst, denn der Feigenbaum ist Emblem d.er
nennt auch den Namen des Abgottes, dem er dient: Es war, »als wohntest du
Zuwendung zu Gott. Petrarcas Lorbeer dagegen ist als Zeichen selbstreflexIv.
. .. als Priester des Apoll auf den Höhen von Cirrha«. Die Höhen von Cirrha
Seine Zirkuillrität, gestiftet durch den Zusammenhang v~n lauro - L~"ra -
sind aber nichts anderes als der Parnaß, Sitz des Apoll und der Musen,
poela laurea/fIS, macht dieses Zeichen zum Symbol für die Autonomie d~s
Sinnbild der Dichtkunst. In anderem Zusammenhang bringt Franciscus selbst
Dichters zum Ausweis seiner Modernität. Der Lorbeer, »the symbol of poetlc
suprema~y«, ist ein Zeichen, das Petrarca allein gehört. ~iese ~oetis~he die Rede darauf, daß -die alten Dichter des Parnassus Doppelgipfel zwei
Gottheiten geweiht« haben : Apoll und Bacchus. Beide Götter sind Projek-
Strategie fallt im theologischen Wertsystem unter den Begnff Abgotterel..
tionen menschlicher Wünsche und Bedürfnisse, Apoll der geistigen,
Man muß dieser Lesart Frecceros nicht ganz folgen . Denn erstens verweist
Bacchus der leib-sinnlichen. Dem Doppelgipfel des Parnaß entspricht im
auch der Lorbeer auf frühere Texte, auf antike Berichte von gekrönten
Mont-Ventoux-Brief die Metaphorisierung des Berges als Gipfel des Ruhms
Dichtern und Siegern , auf den Gott der Dichtung und der Musik, ApolI,
dessen Zeichen der Lorbeer war. Das Emblem gehört also nicht Petrarca allein und als Gipfel der Liebe. Im Zeichen system Petrarcas verweisen die Meta-
phern aufeinander, fallen in eins zusammen . Der irdische Gipfel des Mont
und ist insofern auch nicht selbstreferentiell. Zweitens verweist auch der
Lorbeer auf eine höhere Wahrheit jenseits seiner selbst. Zwar verbi:dlicht der Ventoux ist der Gipfel des irdischen Ruhms, der Parnaß des lorbeerbe-
Feigenbaum die Zuwendung zum transzendenten Gott, während der Lorbeer kränzten Dichters. Der Berg verkörpert das Trugbild, die Obsession, von der
Petrarca nicht lassen kann, den Grund seiner »sorgenvollen Gedanken« : Der
7 .lo hn f-rccccro. Thc Pi/!. Tm lind Ihe Lallrd. In : DiorrilirJ, Frühjahr 1975.
Berg verkörpert das Werk - und bleibt doch ein Berg in der Provence.