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Theodor W. Adorno

Noten zur Literatur


© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1974
  
Noten zur Literatur I
  Jutta Burger gewidmet
 
 Der Essay als Form
Bestimmt, Erleuchtetes zu sehen, nicht das Licht.
Goethe, Pandora
 
Daß der Essay in Deutschland als Mischprodukt verrufen ist; daß es
an überzeugender Tradition der Form gebricht; daß man ihrem
nachdrücklichen Anspruch nur intermittierend genügte, wurde oft
genug festgestellt und gerügt. »Die Form des Essays hat bis jetzt
noch immer nicht den Weg des Selbständigwerdens zurückgelegt,
den ihre Schwester, die Dichtung, schon längst durchlaufen hat: den
der Entwicklung aus einer primitiven, undifferenzierten Einheit mit
Wissenschaft, Moral und Kunst.« 1 Aber weder das Unbehagen an
diesem Zustand noch das an der Gesinnung, die darauf reagiert,
indem sie Kunst als Reservat von Irrationalität einhegt, Erkenntnis
der organisierten Wissenschaft gleichsetzt und was jener Antithese
nicht sich fügt als unrein ausscheiden möchte, hat am
landesüblichen Vorurteil etwas geändert. Noch heute reicht das Lob
des écrivain hin, den, dem man es spendet, akademisch draußen zu
halten. Trotz aller belasteten Einsicht, die Simmel und der junge
Lukács, Kassner und Benjamin dem Essay, der Spekulation über
spezifische, kulturell bereits vorgeformte Gegenstände 2 anvertraut
haben, duldet die Zunft als Philosophie nur, was sich mit der Würde
des Allgemeinen, Bleibenden, heutzutage womöglich
Ursprünglichen bekleidet und mit dem besonderen geistigen Gebilde
nur insoweit sich einläßt, wie daran die allgemeinen Kategorien zu
exemplifizieren sind; wie wenigstens das Besondere auf jene
durchsichtig wird. Die Hartnäckigkeit, mit der dies Schema
überlebt, wäre so rätselhaft wie seine affektive Besetztheit, speisten
es nicht Motive, die stärker sind als die peinliche Erinnerung daran,
was einer Kultur an Kultiviertheit mangelt, die historisch den
homme de lettres kaum kennt. In Deutschland reizt der Essay zur
Abwehr, weil er an die Freiheit des Geistes mahnt, die, seit dem
Mißlingen einer seit Leibnizischen Tagen nur lauen Aufklärung, bis
heute, auch unter den Bedingungen formaler Freiheit, nicht recht
sich entfaltete, sondern stets bereit war, die Unterordnung unter
irgendwelche Instanzen als ihr eigentliches Anliegen zu verkünden.
Der Essay aber läßt sich sein Ressort nicht vorschreiben. Anstatt
wissenschaftlich etwas zu leisten oder künstlerisch etwas zu
schaffen, spiegelt noch seine Anstrengung die Muße des Kindlichen
wider, der ohne Skrupel sich entflammt an dem, was andere schon
getan haben. Er reflektiert das Geliebte und Gehaßte, anstatt den
Geist nach dem Modell unbegrenzter Arbeitsmoral als Schöpfung
aus dem Nichts vorzustellen. Glück und Spiel sind ihm wesentlich.
Er fängt nicht mit Adam und Eva an sondern mit dem, worüber er
reden will; er sagt, was ihm daran aufgeht, bricht ab, wo er selber
am Ende sich fühlt und nicht dort, wo kein Rest mehr bliebe: so
rangiert er unter den Allotria. Weder sind seine Begriffe von einem
Ersten her konstruiert noch runden sie sich zu einem Letzten. Seine
Interpretationen sind nicht philologisch erhärtet und besonnen,
sondern prinzipiell Überinterpretationen, nach dem automatisierten
Verdikt jenes wachsamen Verstandes, der sich als Büttel an die
Dummheit gegen den Geist verdingt. Die Anstrengung des Subjekts,
zu durchdringen, was als Objektivität hinter der Fassade sich
versteckt, wird als müßig gebrandmarkt: aus Angst vor Negativität
überhaupt. Alles sei viel einfacher. Dem, der deutet, anstatt
hinzunehmen und einzuordnen, wird der gelbe Fleck dessen
angeheftet, der kraftlos, mit fehlgeleiteter Intelligenz spintisiere und
hineinlege, wo es nichts auszulegen gibt. Tatsachenmensch oder
Luftmensch, das ist die Alternative. Hat man aber einmal sich
terrorisieren lassen vom Verbot, mehr zu meinen als an Ort und
Stelle gemeint war, so willfahrt man bereits der falschen Intention,
wie sie Menschen und Dinge von sich selber hegen. Verstehen ist
dann nichts als das Herausschälen dessen, was der Autor jeweils
habe sagen wollen, oder allenfalls der einzelmenschlichen
psychologischen Regungen, die das Phänomen indiziert. Aber wie
kaum sich ausmachen läßt, was einer sich da und dort gedacht, was
er gefühlt hat, so wäre durch derlei Einsichten nichts Wesentliches
zu gewinnen. Die Regungen der Autoren erlöschen in dem
objektiven Gehalt, den sie ergreifen. Die objektive Fülle von
Bedeutungen jedoch, die in jedem geistigen Phänomen verkapselt
sind, verlangt vom Empfangenden, um sich zu enthüllen, eben jene
Spontaneität subjektiver Phantasie, die im Namen objektiver
Disziplin geahndet wird. Nichts läßt sich herausinterpretieren, was
nicht zugleich hineininterpretiert wäre. Kriterien dafür sind die
Vereinbarkeit der Interpretation mit dem Text und mit sich selber,
und ihre Kraft, die Elemente des Gegenstandes mitsammen zum
Sprechen zu bringen. Durch diese ähnelt der Essay einer
ästhetischen Selbständigkeit, die leicht als der Kunst bloß entlehnt
angeklagt wird, von der er gleichwohl durch sein Medium, die
Begriffe, sich unterscheidet und durch seinen Anspruch auf
Wahrheit bar des ästhetischen Scheins. Das hat Lukács verkannt, als
er in dem Brief an Leo Popper, der die ›Seele und die Formen‹
einleitet, den Essay eine Kunstform nannte 3 . Nicht überlegen aber
ist dem die positivistische Maxime, was über Kunst geschrieben
würde, dürfe selbst in nichts künstlerische Darstellung, also
Autonomie der Form beanspruchen. Die positivistische
Gesamttendenz, die jeden möglichen Gegenstand als einen von
Forschung starr dem Subjekt entgegensetzt, bleibt wie in allen
anderen Momenten so auch in diesem bei der bloßen Trennung von
Form und Inhalt stehen: wie denn überhaupt von Ästhetischem
unästhetisch, bar aller Ähnlichkeit mit der Sache kaum sich reden
ließe, ohne daß man der Banausie verfiele und a priori von jener
Sache abglitte. Der Inhalt, einmal nach dem Urbild des
Protokollsatzes fixiert, soll nach positivistischem Brauch gegen
seine Darstellung indifferent, diese konventionell, nicht von der
Sache gefordert sein, und jede Regung des Ausdrucks in der
Darstellung gefährdet für den Instinkt des wissenschaftlichen
Purismus eine Objektivität, die nach Abzug des Subjekts
herausspränge, und damit die Gediegenheit der Sache, die um so
besser sich bewähre, je weniger sie sich auf die Unterstützung durch
die Form verläßt, obwohl doch diese ihre Norm selber genau daran
hat, die Sache rein und ohne Zutat zu geben. In der Allergie gegen
die Formen als bloße Akzidenzien nähert sich der szientifische Geist
dem stur dogmatischen. Das unverantwortlich geschluderte Wort
wähnt, die Verantwortlichkeit in der Sache zu belegen, und die
Reflexion über Geistiges wird zum Privileg des Geistlosen.
All diese Ausgeburten der Rancune sind nicht nur die
Unwahrheit. Verschmäht es der Essay, kulturelle Gebilde zuvor
abzuleiten aus einem ihnen Zugrundeliegenden, so embrouilliert er
sich allzu beflissen mit dem Kulturbetrieb von Prominenz, Erfolg
und Prestige marktmäßiger Erzeugnisse. Die Romanbiographien und
was an verwandter Prämissen-Schriftstellerei an diese sich anhängt,
sind keine bloße Ausartung sondern die permanente Versuchung
einer Form, deren Verdacht gegen die falsche Tiefe durch nichts
gefeit ist vor dem Umschlag in versierte Oberflächlichkeit. Schon in
Sainte-Beuve, von dem die Gattung des jüngeren Essays wohl sich
herleitet, zeichnet das sich ab und hat mit Produkten wie den
Schattenrissen von Herbert Eulenberg, dem deutschen Urbild einer
Flut kultureller Schundliteratur, bis zu den Filmen über Rembrandt,
Toulouse-Lautrec und die Heilige Schrift die Neutralisierung
geistiger Gebilde zu Gütern weiterbefördert, die ohnehin das, was
im Ostbereich schmählich das Erbe heißt, in der jüngeren
Geistesgeschichte unwiderstehlich ergreift. Am sinnfälligsten
vielleicht ist der Prozeß bei Stefan Zweig, dem in seiner Jugend
einige differenzierte Essays gelangen und der schließlich in seinem
Balzacbuch herunterkam auf die Psychologie des schöpferischen
Menschen. Solches Schrifttum kritisiert nicht die abstrakten
Grundbegriffe, begriffslosen Daten, eingeschliffenen Clichés,
sondern setzt allesamt implizit, aber desto einverstandener voraus.
Der Abhub verstehender Psychologie wird fusioniert mit gängigen
Kategorien aus der Weltanschauung des Bildungsphilisters, wie der
Persönlichkeit und dem Irrationalen. Dergleichen Essays
verwechseln sich selber mit jenem Feuilleton, mit dem die Feinde
der Form diese verwechseln. Losgerissen von der Disziplin
akademischer Unfreiheit, wird geistige Freiheit selber unfrei,
willfahrt dem gesellschaftlich präformierten Bedürfnis der
Kundenschaft. Das Unverantwortliche, an sich Moment jeglicher
Wahrheit, die sich nicht in der Verantwortung gegenüber dem
Bestehenden verbraucht, verantwortet sich dann vor den
Bedürfnissen des etablierten Bewußtseins; die schlechten Essays
sind nicht weniger konformistisch als die schlechten Dissertationen.
Verantwortung aber respektiert nicht nur Autoritäten und Gremien
sondern auch die Sache.
Daran jedoch, daß der schlechte Essay von Personen erzählt,
anstatt die Sache aufzuschließen, ist die Form nicht unschuldig. Die
Trennung von Wissenschaft und Kunst ist irreversibel. Bloß die
Naivetät des Literaturfabrikanten nimmt von ihr keine Notiz, der
sich wenigstens für ein Organisationsgenie hält und gute
Kunstwerke zu schlechten verschrottet. Mit der
Vergegenständlichung der Welt im Verlauf fortschreitender
Entmythologisierung haben Wissenschaft und Kunst sich
geschieden; ein Bewußtsein, dem Anschauung und Begriff, Bild und
Zeichen eins wären, ist, wenn anders es je existierte, mit keinem
Zauberschlag wiederherstellbar, und seine Restitution fiele zurück
ins Chaotische. Nur als Vollendung des vermittelnden Prozesses
wäre solches Bewußtsein zu denken, als Utopie, wie sie die
idealistischen Philosophen seit Kant mit dem Namen der
intellektuellen Anschauung bedachten, die versagte, wann immer
aktuelle Erkenntnis auf sie sich berief. Wo Philosophie durch
Anleihe bei der Dichtung das vergegenständlichende Denken und
seine Geschichte, nach gewohnter Terminologie die Antithese von
Subjekt und Objekt, meint abschaffen zu können und gar hofft, es
spreche in einer aus Parmenides und Jungnickel montierten Poesie
Sein selber, nähert sie eben damit sich dem ausgelaugten
Kulturgeschwätz. Sie weigert sich mit als Urtümlichkeit
zurechtgestutzter Bauernschläue, die Verpflichtung des
begrifflichen Denkens zu honorieren, die sie doch unterschrieben
hat, sobald sie Begriffe in Satz und Urteil verwandte, während ihr
ästhetisches Element eines aus zweiter Hand, verdünnte
Bildungsreminiszenz an Hölderlin oder den Expressionismus bleibt
oder womöglich an den Jugendstil, weil kein Denken so
schrankenlos und blind der Sprache sich anvertrauen kann, wie die
Idee urtümlichen Sagens es vorgaukelt. Der Gewalttat, die dabei
Bild und Begriff wechselseitig aneinander verüben, entspringt der
Jargon der Eigentlichkeit, in dem Worte vor Ergriffenheit
tremolieren, während sie verschweigen, worüber sie ergriffen sind.
Die ambitiöse Transzendenz der Sprache über den Sinn hinaus
mündet in eine Sinnleere, welche vom Positivismus spielend
dingfest gemacht werden kann, dem man sich überlegen meint und
dem man doch eben durch jene Sinnleere in die Hände arbeitet, die
er kritisiert und die man mit seinen Spielmarken teilt. Unterm Bann
solcher Entwicklungen nähert Sprache, wo sie in Wissenschaften
überhaupt noch sich zu regen wagt, dem Kunstgewerbe sich an, und
der Forscher bewährt, negativ, am ehesten ästhetische Treue, der
gegen Sprache überhaupt sich sträubt und, anstatt das Wort zur
bloßen Umschreibung seiner Zahlen zu erniedrigen, die Tabelle
vorzieht, welche die Verdinglichung des Bewußtseins ohne
Rückhalt einbekennt und damit für sie etwas wie Form findet ohne
apologetische Anleihe bei der Kunst. Wohl war diese in die
vorherrschende Tendenz der Aufklärung von je so verflochten, daß
sie seit der Antike in ihrer Technik wissenschaftliche Funde
verwertete. Aber die Quantität schlägt um in die Qualität. Wird
Technik im Kunstwerk verabsolutiert; wird Konstruktion total und
tilgt sie ihr Motivierendes und Entgegengesetztes, den Ausdruck;
prätendiert also Kunst, unmittelbar Wissenschaft, richtig nach deren
Maß zu sein, so sanktioniert sie die vorkünstlerische Stoffhuberei,
sinnfremd wie nur das Seyn aus philosophischen Seminaren, und
verbrüdert sich mit der Verdinglichung, gegen die wie immer auch
stumm und selber dinghaft Einspruch zu erheben bis zum heutigen
Tag die Funktion des Funktionslosen, der Kunst, war.
Aber wie Kunst und Wissenschaft in Geschichte sich schieden,
so ist ihr Gegensatz auch nicht zu hypostasieren. Der Abscheu vor
der anachronistischen Vermischung heiligt nicht eine nach Sparten
organisierte Kultur. In all ihrer Notwendigkeit beglaubigen jene
Sparten institutionell doch auch den Verzicht auf die ganze
Wahrheit. Die Ideale des Reinlichen und Säuberlichen, die dem
Betrieb einer veritabeln, auf Ewigkeitswerte geeichten Philosophie,
einer hieb- und stichfesten, lückenlos durchorganisierten
Wissenschaft und einer begriffslos anschaulichen Kunst gemein
sind, tragen die Spur repressiver Ordnung. Dem Geist wird eine
Zuständigkeitsbescheinigung abverlangt, damit er nicht mit den
kulturell bestätigten Grenzlinien die offizielle Kultur selber
überschreite. Vorausgesetzt wird dabei, daß alle Erkenntnis
potentiell in Wissenschaft sich umsetzen lasse. Die
Erkenntnistheorien, welche das vorwissenschaftliche vom
wissenschaftlichen Bewußtsein unterschieden, haben denn auch
durchweg den Unterschied lediglich graduell aufgefaßt. Daß es aber
bei der bloßen Versicherung jener Umsetzbarkeit blieb, ohne daß je
im Ernst lebendiges Bewußtsein in wissenschaftliches verwandelt
worden wäre, verweist auf das Prekäre des Übergangs selber, eine
qualitative Differenz. Die einfachste Besinnung aufs
Bewußtseinsleben könnte darüber belehren, wie wenig
Erkenntnisse, die keineswegs unverbindliche Ahnungen sind,
allesamt vom szientifischen Netz sich einfangen lassen. Das Werk
Marcel Prousts, dem es so wenig wie Bergson am
wissenschaftlichpositivistischen Element mangelt, ist ein einziger
Versuch, notwendige und zwingende Erkenntnisse über Menschen
und soziale Zusammenhänge auszusprechen, die nicht ohne weiteres
von der Wissenschaft eingeholt werden können, während doch ihr
Anspruch auf Objektivität weder gemindert noch der vagen
Plausibilität ausgeliefert würde. Das Maß solcher Objektivität ist
nicht die Verifizierung behaupteter Thesen durch ihre
wiederholende Prüfung, sondern die in Hoffnung und Desillusion
zusammengehaltene einzelmenschliche Erfahrung. Sie verleiht ihren
Beobachtungen erinnernd durch Bestätigung oder Widerlegung
Relief. Aber ihre individuell zusammengeschlossene Einheit, in der
doch das Ganze erscheint, wäre nicht aufzuteilen und wieder zu
ordnen unter die getrennten Personen und Apparaturen etwa von
Psychologie und Soziologie. Proust hat, unter dem Druck des
szientifischen Geistes und seiner auch dem Künstler latent
allgegenwärtigen Desiderate, getrachtet, in einer selbst den
Wissenschaften nachgebildeten Technik, einer Art von
Versuchsanordnung, sei's zu retten, sei's wiederherzustellen, was in
den Tagen des bürgerlichen Individualismus, da das individuelle
Bewußtsein noch sich selbst vertraute und nicht vorweg unter
organisatorischer Zensur sich ängstigte, als Erkenntnisse eines
erfahrenen Mannes vom Typ jenes ausgestorbenen homme de lettres
galt, den Proust als höchster Fall des Dilettanten nochmals
beschwört. Keinem jedoch wäre es beigekommen, die Mitteilungen
eines Erfahrenen, weil sie nur die seinen sind und nicht ohne
weiteres wissenschaftlich sich generalisieren lassen, als
unbeträchtlich, zufällig und irrational abzutun. Was aber von seinen
Funden durch die wissenschaftlichen Maschen schlüpft, entgeht
ganz gewiß der Wissenschaft selber. Als Geisteswissenschaft
versagt sie, was sie dem Geist verspricht: dessen Gebilde von innen
aufzuschließen. Der junge Schriftsteller, der auf Hochschulen lernen
will, was ein Kunstwerk, was Sprachgestalt, was ästhetische
Qualität, ja auch ästhetische Technik sei, wird meist bloß
desultorisch etwas davon vernehmen, allenfalls Auskünfte erhalten,
die von der jeweils zirkulierenden Philosophie fertig bezogen und
dem Gehalt der in Rede stehenden Gebilde mehr oder minder
willkürlich aufgeklatscht sind. Wendet er sich aber an die
philosophische Ästhetik, so werden ihm Sätze eines
Abstraktionsniveaus aufgedrängt, die weder mit den Gebilden, die
er verstehen will, vermittelt sind, noch in Wahrheit eins mit dem
Gehalt, nach dem er tastet. Für all das aber ist nicht die
Arbeitsteilung des kosmos noetikos nach Kunst und Wissenschaft
allein verantwortlich; nicht sind deren Demarkationslinien durch
guten Willen und übergreifende Planung zu beseitigen. Sondern der
unwiderruflich nach dem Muster von Naturbeherrschung und
materieller Produktion gemodelte Geist begibt sich der Erinnerung
an jenes überwundene Stadium, die ein zukünftiges verspricht, der
Transzendenz gegenüber den verhärteten Produktionsverhältnissen,
und das lähmt sein spezialistisches Verfahren gerade seinen
spezifischen Gegenständen gegenüber.
Im Verhältnis zur wissenschaftlichen Prozedur und ihrer
philosophischen Grundlegung als Methode zieht der Essay, der Idee
nach, die volle Konsequenz aus der Kritik am System. Selbst die
empiristischen Lehren, welche der unabschließbaren, nicht
antezipierbaren Erfahrung den Vorrang vor der festen begrifflichen
Ordnung zumessen, bleiben insofern systematisch, als sie mehr oder
minder konstant vorgestellte Bedingungen von Erkenntnis erörtern
und diese in möglichst bruchlosem Zusammenhang entwickeln.
Empirismus nicht weniger als Rationalismus war seit Bacon – selbst
einem Essayisten – »Methode«. Der Zweifel an deren unbedingtem
Recht ward in der Verfahrensweise des Denkens selber fast nur vom
Essay realisiert. Er trägt dem Bewußtsein der Nichtidentität
Rechnung, ohne es auch nur auszusprechen; radikal im
Nichtradikalismus, in der Enthaltung von aller Reduktion auf ein
Prinzip, im Akzentuieren des Partiellen gegenüber der Totale, im
Stückhaften. »Vielleicht hat der große Sieur de Montaigne etwas
Ähnliches empfunden, als er seinen Schriften die wunderbar schöne
und treffende Bezeichnung ›Essais‹ gab. Denn eine hochmütige
Courtoisie ist die einfache Bescheidenheit dieses Wortes. Der
Essayist winkt den eigenen, stolzen Hoffnungen, die manchmal dem
Letzten nahe gekommen zu sein wähnen, ab – es sind ja nur
Erklärungen der Gedichte anderer, die er bieten kann und bestenfalls
die der eigenen Begriffe. Aber ironisch fügt er sich in diese
Kleinheit ein, in die ewige Kleinheit der tiefsten Gedankenarbeit
dem Leben gegenüber und mit ironischer Bescheidenheit
unterstreicht er sie noch.« 4 Der Essay pariert nicht der Spielregel
organisierter Wissenschaft und Theorie, es sei, nach dem Satz des
Spinoza, die Ordnung der Dinge die gleiche wie die der Ideen. Weil
die lückenlose Ordnung der Begriffe nicht eins ist mit dem
Seienden, zielt er nicht auf geschlossenen, deduktiven oder
induktiven Aufbau. Er revoltiert zumal gegen die seit Platon
eingewurzelte Doktrin, das Wechselnde, Ephemere sei der
Philosophie unwürdig; gegen jenes alte Unrecht am Vergänglichen,
wodurch es im Begriff nochmals verdammt wird. Er schreckt zurück
vor dem Gewaltsamen des Dogmas: dem Resultat der Abstraktion,
dem gegenüber dem darunter befaßten Individuellen zeitlich
invarianten Begriff, gebühre ontologische Dignität. Der Trug, der
ordo idearum wäre der ordo rerum, gründet in der Unterstellung
eines Vermittelten als unmittelbar. So wenig ein bloß Faktisches
ohne den Begriff gedacht werden kann, weil es denken immer schon
es begreifen heißt, so wenig ist noch der reinste Begriff zu denken
ohne allen Bezug auf Faktizität. Selbst die vermeintlich von Raum
und Zeit befreiten Gebilde der Phantasie verweisen, wie immer auch
abgeleitet, auf individuelles Dasein. Darum läßt sich der Essay von
dem depravierten Tiefsinn nicht einschüchtern, Wahrheit und
Geschichte stünden unvereinbar einander gegenüber. Hat Wahrheit
in der Tat einen Zeitkern, so wird der volle geschichtliche Gehalt zu
ihrem integralen Moment; das Aposteriori wird konkret zum
Apriori, wie Fichte und seine Nachfolger nur generell es forderten.
Die Beziehung auf Erfahrung – und ihr verleiht der Essay soviel
Substanz wie die herkömmliche Theorie den bloßen Kategorien – ist
die auf die ganze Geschichte; die bloß individuelle Erfahrung, mit
welcher das Bewußtsein als mit dem ihr nächsten anhebt, ist selber
vermittelt durch die übergreifende der historischen Menschheit; daß
stattdessen diese mittelbar und das je Eigene das Unmittelbare sei,
bloße Selbsttäuschung der individualistischen Gesellschaft und
Ideologie. Die Geringschätzung des geschichtlich Produzierten als
eines Gegenstandes der Theorie wird daher vom Essay revidiert. Die
Unterscheidung einer ersten von einer bloßen Kulturphilosophie,
welche jene voraussetze und auf ihr weiterbaue, mit der das Tabu
über den Essay theoretisch sich rationalisiert, ist nicht zu retten.
Eine Verfahrensweise des Geistes verliert ihre Autorität, welche die
Scheidung von Zeitlichem und Zeitlosem als Kanon ehrt. Höhere
Abstraktionsniveaus investieren den Gedanken weder mit höherer
Weihe noch mit metaphysischem Gehalt; eher verflüchtigt sich
dieser mit dem Fortgang der Abstraktion, und etwas davon möchte
der Essay wiedergutmachen. Der geläufige Einwand gegen ihn, er
sei stückhaft und zufällig, postuliert selber die Gegebenheit von
Totalität, damit aber Identität von Subjekt und Objekt, und gebärdet
sich, als wäre man des Ganzen mächtig. Der Essay aber will nicht
das Ewige im Vergänglichen aufsuchen und abdestillieren, sondern
eher das Vergängliche verewigen. Seine Schwäche zeugt von der
Nichtidentität selber, die er auszudrücken hat; vom Überschuß der
Intention über die Sache und damit jener Utopie, welche in der
Gliederung der Welt nach Ewigem und Vergänglichem abgewehrt
ist. Im emphatischen Essay entledigt sich der Gedanke der
traditionellen Idee von der Wahrheit.
Damit suspendiert er zugleich den traditionellen Begriff von
Methode. Der Gedanke hat seine Tiefe danach, wie tief er in die
Sache dringt, nicht danach, wie tief er sie auf ein anderes
zurückführt. Das wendet der Essay polemisch, indem er behandelt,
was nach den Spielregeln für abgeleitet gilt, ohne dessen endgültige
Ableitung selber zu verfolgen. In Freiheit denkt er zusammen, was
sich zusammenfindet in dem frei gewählten Gegenstand. Nicht
kapriziert er sich auf ein Jenseits der Vermittlungen – und das sind
die geschichtlichen, in denen die ganze Gesellschaft sedimentiert ist
– sondern sucht die Wahrheitsgehalte als selber geschichtliche. Er
fragt nach keiner Urgegebenheit, zum Tort der vergesellschafteten
Gesellschaft, die, eben weil sie nichts duldet, was von ihr nicht
geprägt ward, am letzten dulden kann, was an ihre eigene
Allgegenwart erinnert, und notwendig als ideologisches
Komplement jene Natur herbeizitiert, von der ihre Praxis nichts
übrig läßt. Der Essay kündigt wortlos die Illusion, der Gedanke
vermöchte aus dem, was thesei, Kultur ist, ausbrechen in das, was
physei, von Natur sei. Gebannt vom Fixierten, eingestandenermaßen
Abgeleiteten, von Gebilden, ehrt er die Natur, indem er bestätigt,
daß sie den Menschen nicht mehr ist. Sein Alexandrinismus
antwortet darauf, daß noch Flieder und Nachtigall, wo das
universale Netz ihnen zu überleben etwa gestattet, durch ihre bloße
Existenz glauben machen, das Leben lebte noch. Er verläßt die
Heerstraße zu den Ursprüngen, die bloß zu dem Abgeleitetesten,
dem Sein führt, der verdoppelnden Ideologie dessen, was ohnehin
ist, ohne daß doch die Idee von Unmittelbarkeit ganz verschwände,
die der Sinn von Vermittlung selbst postuliert. Alle Stufen des
Vermittelten sind dem Essay unmittelbar, ehe er zu reflektieren sich
anschickt.
Wie er Urgegebenheiten verweigert, so verweigert er die
Definition seiner Begriffe. Deren volle Kritik ist von der
Philosophie unter den divergentesten Aspekten erreicht worden; bei
Kant, bei Hegel, bei Nietzsche. Aber die Wissenschaft hat solche
Kritik niemals sich zugeeignet. Während die mit Kant anhebende
Bewegung, als eine gegen die scholastischen Residuen im modernen
Denken, anstelle der Verbaldefinitionen das Begreifen der Begriffe
aus dem Prozeß rückt, in dem sie gezeitigt werden, verharren die
Einzelwissenschaften, um der ungestörten Sicherheit ihres
Operierens willen, bei der vorkritischen Verpflichtung zu
definieren; darin stimmen die Neopositivisten, denen die
wissenschaftliche Methode Philosophie heißt, mit der Scholastik
überein. Der Essay dafür nimmt den antisystematischen Impuls ins
eigene Verfahren auf und führt Begriffe umstandslos, »unmittelbar«
so ein, wie er sie empfängt. Präzisiert werden sie erst durch ihr
Verhältnis zueinander. Dabei jedoch hat er eine Stütze an den
Begriffen selber. Denn es ist bloßer Aberglaube der aufbereitenden
Wissenschaft, die Begriffe wären an sich unbestimmt, würden
bestimmt erst durch ihre Definition. Der Vorstellung des Begriffs
als einer tabula rasa bedarf die Wissenschaft, um ihren
Herrschaftsanspruch zu festigen; als den der Macht, welche einzig
den Tisch besetzt. In Wahrheit sind alle Begriffe implizit schon
konkretisiert durch die Sprache, in der sie stehen. Mit solchen
Bedeutungen hebt der Essay an und treibt sie, selbst wesentlich
Sprache, weiter; er möchte dieser in ihrem Verhältnis zu den
Begriffen helfen, sie reflektierend so nehmen, wie sie bewußtlos in
der Sprache schon genannt sind. Das ahnt das Verfahren der
Bedeutungsanalyse in der Phänomenologie, nur daß es die
Beziehung der Begriffe auf die Sprache zum Fetisch macht. Dazu
steht der Essay ebenso skeptisch wie zu ihrer Definition. Er zieht
ohne Apologie den Einwand auf sich, man wisse nicht über allem
Zweifel, was man unter den Begriffen sich vorzustellen habe. Denn
er durchschaut, daß das Verlangen nach strikten Definitionen längst
dazu herhält, durch festsetzende Manipulationen der
Begriffsbedeutungen das Irritierende und Gefährliche der Sachen
wegzuschaffen, die in den Begriffen leben. Dabei jedoch kommt er
weder ohne allgemeine Begriffe aus – auch die Sprache, die den
Begriff nicht fetischisiert, kann seiner nicht entraten – noch geht er
mit ihnen nach Belieben um. Die Darstellung nimmt er darum
schwerer als die Methode und Sache sondernden, der Darstellung
ihres vergegenständlichten Inhalts gegenüber gleichgültigen
Verfahrensweisen. Das Wie des Ausdrucks soll an Präzision
erretten, was der Verzicht aufs Umreißen opfert, ohne doch die
gemeinte Sache an die Willkür einmal dekretierter
Begriffsbedeutungen zu verraten. Darin war Benjamin der
unerreichte Meister. Solche Präzision kann jedoch nicht atomistisch
bleiben. Weniger nicht, sondern mehr als das definitorische
Verfahren urgiert der Essay die Wechselwirkung seiner Begriffe im
Prozeß geistiger Erfahrung. In ihr bilden jene kein Kontinuum der
Operationen, der Gedanke schreitet nicht einsinnig fort, sondern die
Momente verflechten sich teppichhaft. Von der Dichte dieser
Verflechtung hängt die Fruchtbarkeit von Gedanken ab. Eigentlich
denkt der Denkende gar nicht, sondern macht sich zum Schauplatz
geistiger Erfahrung, ohne sie aufzudröseln. Während aus ihr auch
dem traditionellen Denken seine Impulse zuwachsen, eliminiert es
seiner Form nach die Erinnerung daran. Der Essay aber wählt sie als
Vorbild, ohne sie, als reflektierte Form, einfach nachzuahmen; er
vermittelt sie durch seine eigene begriffliche Organisation; er
verfährt, wenn man will, methodisch unmethodisch.
Wie der Essay die Begriffe sich zueignet, wäre am ehesten
vergleichbar dem Verhalten von einem, der in fremdem Land
gezwungen ist, dessen Sprache zu sprechen, anstatt schulgerecht aus
Elementen sie zusammenzustümpern. Er wird ohne Diktionär lesen.
Hat er das gleiche Wort, in stets wechselndem Zusammenhang,
dreißigmal erblickt, so hat er seines Sinnes besser sich versichert,
als wenn er die aufgezählten Bedeutungen nachgeschlagen hätte, die
meist zu eng sind gegenüber dem Wechsel je nach dem Kontext,
und zu vag gegenüber den unverwechselbaren Nuancen, die der
Kontext in jedem einzelnen Fall stiftet. Wie freilich solches Lernen
dem Irrtum exponiert bleibt, so auch der Essay als Form; für seine
Affinität zur offenen geistigen Erfahrung hat er mit dem Mangel an
jener Sicherheit zu zahlen, welchen die Norm des etablierten
Denkens wie den Tod fürchtet. Nicht sowohl vernachlässigt der
Essay die zweifelsfreie Gewißheit, als daß er ihr Ideal kündigt.
Wahr wird er in seinem Fortgang, der ihn über sich hinaustreibt,
nicht in schatzgräberischer Obsession mit Fundamenten. Seine
Begriffe empfangen ihr Licht von einem ihm selbst verborgenen
terminus ad quem, nicht von einem offenbaren terminus a quo, und
darin drückt seine Methode selber die utopische Intention aus. Alle
seine Begriffe sind so darzustellen, daß sie einander tragen, daß ein
jeglicher sich artikuliert je nach den Konfigurationen mit anderen.
In ihm treten diskret gegeneinander abgesetzte Elemente zu einem
Lesbaren zusammen; er erstellt kein Gerüst und keinen Bau. Als
Konfiguration aber kristallisieren sich die Elemente durch ihre
Bewegung. Jene ist ein Kraftfeld, so wie unterm Blick des Essays
jedes geistige Gebilde in ein Kraftfeld sich verwandeln muß.
 
Der Essay fordert das Ideal der clara et distincta perceptio und der
zweifelsfreien Gewißheit sanft heraus. Insgesamt wäre er zu
interpretieren als Einspruch gegen die vier Regeln, die Descartes'
Discours de la méthode am Anfang der neueren abendländischen
Wissenschaft und ihrer Theorie aufrichtet. Die zweite jener Regeln,
die Zerlegung des Objekts in »so viele Teile ... als nur möglich und
als erforderlich sein würde, um sie in der besten Weise aufzulösen«
5 , entwirft jene Elementaranalyse, in deren Zeichen die traditionelle
Theorie die begrifflichen Ordnungsschemata und die Struktur des
Seins einander gleichsetzt. Der Gegenstand des Essays aber, die
Artefakte, versagen sich der Elementaranalyse und sind einzig aus
ihrer spezifischen Idee zu konstruieren; nicht umsonst hat darin
Kant Kunstwerke und Organismen analog behandelt, obwohl er sie
zugleich so unbestechlich wider allen romantischen Obskurantismus
unterschied. Ebensowenig ist die Ganzheit als Erstes zu
hypostasieren wie das Produkt der Analyse, die Elemente. Beidem
gegenüber orientiert sich der Essay an der Idee jener
Wechselwirkung, welche streng die Frage nach Elementen so wenig
duldet wie die nach dem Elementaren. Weder sind die Momente rein
aus dem Ganzen zu entwickeln noch umgekehrt. Es ist Monade, und
doch keine; seine Momente, als solche begrifflicher Art, weisen
über den spezifischen Gegenstand hinaus, in dem sie sich
versammeln. Aber der Essay verfolgt sie nicht dorthin, wo sie sich
jenseits des spezifischen Gegenstandes legitimierten: sonst geriete er
in schlechte Unendlichkeit. Sondern er rückt dem hic et nunc des
Gegenstandes so nah, bis er in die Momente sich dissoziiert, in
denen er sein Leben hat, anstatt bloß Gegenstand zu sein.
Die dritte Cartesianische Regel, »der Ordnung nach meine
Gedanken zu leiten, also bei den einfachsten und am leichtesten zu
erkennenden Gegenständen zu beginnen, um nach und nach
sozusagen gradweise bis zur Erkenntnis der zusammengesetztesten
aufzusteigen«, widerspricht schroff der Essayform insofern, als
diese vom Komplexesten ausgeht, nicht vom Einfachsten, allemal
vorweg Gewohnten. Sie läßt sich nicht beirren im Verhalten dessen,
der Philosophie zu studieren beginnt und dem dabei ihre Idee irgend
schon vor Augen steht. Er wird kaum zuerst die simpelsten
Schriftsteller lesen, deren common sense meist dahinplätschert, wo
zu verweilen wäre, sondern eher nach den angeblich schwierigen
greifen, die dann ihr Licht rückwärts aufs Einfache werfen und es
erhellen als eine »Stellung des Gedankens zur Objektivität«. Die
Naivetät des Studenten, dem das Schwierige und Formidable gerade
gut genug dünkt, ist weiser als die erwachsene Pedanterie, die mit
drohendem Finger den Gedanken ermahnt, er solle das Einfache
kapieren, ehe er an jenes Komplexe sich wage, das doch allein ihn
reizt. Solche Vertagung der Erkenntnis verhindert sie bloß. Dem
convenu der Verständlichkeit, der Vorstellung von der Wahrheit als
einem Wirkungszusammenhang gegenüber, nötigt der Essay dazu,
die Sache mit dem ersten Schritt so vielschichtig zu denken, wie sie
ist. Korrektiv jener verstockten Primitivität, die der gängigen ratio
allemal sich gesellt. Wenn die Wissenschaft das Schwierige und
Komplexe einer antagonistischen und monadologisch
aufgespaltenen Realität nach ihrer Sitte fälschend auf
vereinfachende Modelle bringt und diese dann nachträglich, durch
vorgebliches Material, differenziert, so schüttelt der Essay die
Illusion einer einfachen, im Grunde selber logischen Welt ab, die
zur Verteidigung des bloß Seienden so gut sich schickt. Seine
Differenziertheit ist kein Zusatz sondern sein Medium. Gern rechnet
das etablierte Denken sie der bloßen Psychologie der Erkennenden
zu und meint dadurch ihr Verpflichtendes abzufertigen. Die
wissenschaftlichen Brusttöne gegen Übergescheitheit gelten in
Wahrheit nicht der vorwitzig unzuverlässigen Methode, sondern
dem Befremdenden an der Sache, das sie erscheinen läßt.
Unverändert kehrt die vierte Cartesianische Regel, man »solle
überall so vollzählige Aufzählungen und so allgemeine Übersichten
anstellen«, daß man »sicher wäre, nichts auszulassen«, das
eigentlich systematische Prinzip, wieder noch in Kants Polemik
gegen das »rhapsodistische« Denken des Aristoteles. Sie entspricht
dem Vorwurf gegen den Essay, er sei, nach der Rede der
Schulmeister, nicht erschöpfend, während jeder Gegenstand, und
gewiß der geistige, unendlich viele Aspekte in sich schließt, über
deren Auswahl nichts anderes entscheidet als die Intention des
Erkennenden. Nur dann wäre die »allgemeine Übersicht« möglich,
wenn vorweg feststünde, daß der zu behandelnde Gegenstand in den
Begriffen seiner Behandlung aufgeht; daß nichts übrig bleibt, was
von diesen her nicht zu antezipieren wäre. Die Regel von der
Vollständigkeit der einzelnen Glieder aber prätendiert, im Gefolge
jener ersten Annahme, daß der Gegenstand in lückenlosem
Deduktionszusammenhang sich darstellen lasse: eine
identitätsphilosophische Supposition. Wie in der Forderung von
Definition hat die Cartesianische Regel, als denkpraktische
Anweisung, das rationalistische Theorem überlebt, auf dem sie
beruhte; umfassende Übersicht und Kontinuität der Darstellung wird
auch der empirisch offenen Wissenschaft zugemutet. Dadurch
verwandelt sich, was bei Descartes als intellektuelles Gewissen über
die Notwendigkeit der Erkenntnis wachen will, in Willkür, die eines
»frame of reference«, einer Axiomatik, die zur Befriedigung des
methodischen Bedürfnisses und um der Plausibilität des Ganzen an
den Anfang gestellt werden soll, ohne daß sie selbst ihre Gültigkeit
oder Evidenz mehr dartun könnte, oder, in der deutschen Version,
eines »Entwurfs«, der mit dem Pathos, aufs Sein selber zu gehen,
seine subjektiven Bedingungen bloß unterschlägt. Die Forderung
der Kontinuität der Gedankenführung präjudiziert tendenziell schon
die Stimmigkeit im Gegenstand, dessen eigene Harmonie.
Kontinuierliche Darstellung widerspräche einer antagonistischen
Sache, solange sie nicht die Kontinuität zugleich als Diskontinuität
bestimmte. Unbewußt und theoriefern meldet im Essay als Form das
Bedürfnis sich an, die theoretisch überholten Ansprüche der
Vollständigkeit und Kontinuität auch in der konkreten
Verfahrungsweise des Geistes zu annullieren. Sträubt er sich
ästhetisch gegen die engherzige Methode, die nur ja nichts auslassen
will, so gehorcht er einem erkenntniskritischen Motiv. Die
romantische Konzeption des Fragments als eines nicht vollständigen
sondern durch Selbstreflexion ins Unendliche weiterschreitenden
Gebildes verficht dies antiidealistische Motiv inmitten des
Idealismus. Auch in der Art des Vortrags darf der Essay nicht so
tun, als hätte er den Gegenstand abgeleitet, und von diesem bliebe
nichts mehr zu sagen. Seiner Form ist deren eigene Relativierung
immanent: er muß so sich fügen, als ob er immer und stets
abbrechen könnte. Er denkt in Brüchen, so wie die Realität brüchig
ist, und findet seine Einheit durch die Brüche hindurch, nicht indem
er sie glättet. Einstimmigkeit der logischen Ordnung täuscht über
das antagonistische Wesen dessen, dem sie aufgestülpt ward.
Diskontinuität ist dem Essay wesentlich, seine Sache stets ein
stillgestellter Konflikt. Während er die Begriffe aufeinander
abstimmt vermöge ihrer Funktion im Kräfteparallelogramm der
Sachen, scheut er zurück vor dem Obergriff, dem sie gemeinsam
unterzuordnen wären; was dieser zu leisten bloß vortäuscht, weiß
seine Methode als unlösbar und sucht es gleichwohl zu leisten. Das
Wort Versuch, in dem die Utopie des Gedankens, ins Schwarze zu
treffen, mit dem Bewußtsein der eigenen Fehlbarkeit und
Vorläufigkeit sich vermählt, erteilt, wie meist geschichtlich
überdauernde Terminologien, einen Bescheid über die Form, der um
so schwerer wiegt, als er nicht programmatisch sondern als
Charakteristik der tastenden Intention erfolgt. Der Essay muß an
einem ausgewählten oder getroffenen partiellen Zug die Totalität
aufleuchten lassen, ohne daß diese als gegenwärtig behauptet würde.
Er korrigiert das Zufällige und Vereinzelte seiner Einsichten, indem
sie, sei es in seinem eigenen Fortgang, sei es im mosaikhaften
Verhältnis zu anderen Essays, sich vervielfachen, bestätigen,
einschränken; nicht durch Abstraktion auf die aus ihnen
abgezogenen Merkmaleinheiten. »So unterscheidet sich also ein
Essay von einer Abhandlung. Essayistisch schreibt, wer
experimentierend verfaßt, wer also seinen Gegenstand hin und her
wälzt, befragt, betastet, prüft, durchreflektiert, wer von
verschiedenen Seiten auf ihn losgeht und in seinem Geistesblick
sammelt, was er sieht, und verwortet, was der Gegenstand unter den
im Schreiben geschaffenen Bedingungen sehen läßt.« 6 Das
Unbehagen an dieser Prozedur; das Gefühl, es könne nach Belieben
so weiter gehen, hat seine Wahrheit und seine Unwahrheit. Seine
Wahrheit, weil der Essay in der Tat nicht schließt und das
Unvermögen dazu als Parodie seines eigenen Apriori hervorkehrt;
als Schuld wird ihm dann das aufgebürdet, was eigentlich jene
Formen verschulden, welche die Spur der Beliebigkeit verwischen.
Unwahr aber ist jenes Unbehagen, weil die Konstellation des Essays
doch nicht derart beliebig ist, wie es einem philosophischen
Subjektivismus dünkt, der den Zwang der Sache in den der
begrifflichen Ordnung verlegt. Ihn determiniert die Einheit seines
Gegenstandes samt der von Theorie und Erfahrung, die in den
Gegenstand eingewandert sind. Seine Offenheit ist keine vage von
Gefühl und Stimmung, sondern wird konturiert durch seinen Gehalt.
Er sträubt sich gegen die Idee des Hauptwerks, welche selber die
von Schöpfung und Totalität widerspiegelt. Seine Form kommt dem
kritischen Gedanken nach, daß der Mensch kein Schöpfer, daß
nichts Menschliches Schöpfung sei. Weder tritt der Essay selbst,
stets bezogen auf schon Geschaffenes, als solche auf, noch begehrt
er ein Allumfassendes, dessen Totalität der der Schöpfung gliche.
Seine Totalität, die Einheit einer in sich auskonstruierten Form, ist
die des nicht Totalen, eine, die auch als Form nicht die These der
Identität von Gedanken und Sache behauptet, die sie inhaltlich
verwirft. Die Befreiung vom Identitätszwang schenkt dem Essay
zuweilen, was dem offiziellen Denken entgleitet, das Moment des
Unauslöschlichen, der untilgbaren Farbe. Gewisse Fremdwörter bei
Simmel – Cachet, Attitude – verraten diese Intention, ohne daß sie
selber theoretisch behandelt würde.
Er ist offener und geschlossener zugleich, als dem traditionellen
Denken gefällt. Offener insofern, als er Systematik durch seine
Anlage negiert und sich selbst um so besser genügt, je strenger er es
damit hält; systematische Residuen in Essays, etwa die Infiltration
literarischer Studien mit fertig bezogenen, verbreiteten
Philosophemen, durch die sie sich respektabel machen wollen,
taugen nicht mehr als psychologische Trivialitäten. Geschlossener
aber ist der Essay, weil er an der Form der Darstellung emphatisch
arbeitet. Das Bewußtsein der Nichtidentität von Darstellung und
Sache nötigt jene zur unbeschränkten Anstrengung. Das allein ist
das Kunstähnliche des Essays; sonst ist er vermöge der in ihm
vorkommenden Begriffe, die ja selber von draußen nicht nur ihre
Bedeutung sondern auch ihren theoretischen Bezug mitbringen,
notwendig der Theorie verwandt. Freilich verhält er zu ihr sich so
vorsichtig wie zum Begriff. Weder leitet er sich bündig aus ihr ab –
der Kardinalfehler aller späteren essayistischen Arbeiten von Lukács
– noch ist er Abschlagszahlung auf kommende Synthesen. Unheil
droht der geistigen Erfahrung, je angestrengter sie zu Theorie sich
verfestigt und gebärdet, als habe sie den Stein der Weisen in
Händen. Gleichwohl strebt geistige Erfahrung selbst dem eigenen
Sinn nach solcher Objektivierung zu. Diese Antinomie wird vom
Essay gespiegelt. Wie er Begriffe und Erfahrungen von draußen
absorbiert, so auch Theorien. Nur ist sein Verhältnis zu ihnen nicht
das des Standpunkts. Ist die Standpunktlosigkeit des Essays nicht
länger naiv und der Prominenz ihrer Gegenstände hörig; nutzt er
vielmehr die Beziehung auf seine Gegenstände als Mittel wider den
Bann des Anfangs, so verwirklicht er parodisch gleichsam die sonst
nur ohnmächtige Polemik des Denkens gegen bloße
Standpunktphilosophie. Er zehrt die Theorien auf, die ihm nah sind;
seine Tendenz ist stets die zur Liquidation der Meinung, auch der,
mit der er selbst anhebt. Er ist, was er von Beginn war, die kritische
Form par excellence; und zwar, als immanente Kritik geistiger
Gebilde, als Konfrontation dessen, was sie sind, mit ihrem Begriff,
Ideologiekritik. »Der Essay ist die Form der kritischen Kategorie
unseres Geistes. Denn wer kritisiert, der muß mit Notwendigkeit
experimentieren, er muß Bedingungen schaffen, unter denen ein
Gegenstand erneut sichtbar wird, noch anders als bei einem Autor,
und vor allem muß jetzt die Hinfälligkeit des Gegenstandes erprobt,
versucht werden, und eben dies ist ja der Sinn der geringen
Variation, die ein Gegenstand durch seinen Kritiker erfährt.« 7 Wird
dem Essay, weil er keinen außerhalb seiner selbst liegenden
Standpunkt einbekennt, Standpunktlosigkeit und Relativismus
vorgeworfen, so ist dabei eben jene Vorstellung von der Wahrheit
als einem »Fertigen«, einer Hierarchie von Begriffen im Spiel, die
Hegel zerstörte, der Standpunkte nicht mochte: darin berührt sich
der Essay mit seinem Extrem, der Philosophie des absoluten
Wissens. Er möchte den Gedanken von seiner Willkür heilen, indem
er sie reflektierend ins eigene Verfahren hineinnimmt, anstatt sie als
Unmittelbarkeit zu maskieren.
Jene Philosophie freilich blieb behaftet mit der Inkonsequenz,
daß sie zugleich den abstrakten Oberbegriff, das bloße »Resultat«,
im Namen des in sich diskontinuierlichen Prozesses kritisierte und
doch, nach idealistischer Sitte, von dialektischer Methode redete.
Darum ist der Essay dialektischer als die Dialektik dort, wo sie
selbst sich vorträgt. Er nimmt die Hegelsche Logik beim Wort:
weder darf unmittelbar die Wahrheit der Totalität gegen die
Einzelurteile ausgespielt noch die Wahrheit zum Einzelurteil
verendlicht werden, sondern der Anspruch der Singularität auf
Wahrheit wird buchstäblich genommen bis zur Evidenz ihrer
Unwahrheit. Das Gewagte, Vorgreifende, nicht ganz Eingelöste
jedes essayistischen Details zieht als Negation andere herbei; die
Unwahrheit, in die wissend der Essay sich verstrickt, ist das
Element seiner Wahrheit. Unwahres liegt gewiß auch in seiner
bloßen Form, der Beziehung auf kulturell Vorgeformtes,
Abgeleitetes, als wäre es an sich. Je energischer er aber den Begriff
eines Ersten suspendiert und sich weigert, Kultur aus Natur
herauszuspinnen, um so gründlicher erkennt er das naturwüchsige
Wesen von Kultur selber. Bis zum heutigen Tag perpetuiert sich in
ihr der blinde Naturzusammenhang, der Mythos, und darauf gerade
reflektiert der Essay: das Verhältnis von Natur und Kultur ist sein
eigentliches Thema. Nicht umsonst versenkt er, anstatt sie zu
»reduzieren«, sich in Kulturphänomene als in zweite Natur, zweite
Unmittelbarkeit, um durch Beharrlichkeit deren Illusion aufzuheben.
Er täuscht sich so wenig wie die Ursprungsphilosophie über die
Differenz zwischen Kultur und darunter Liegendem. Aber ihm ist
Kultur kein zu destruierendes Epiphänomen über dem Sein, sondern
das darunter Liegende selbst ist thesei, die falsche Gesellschaft.
Darum gilt ihm der Ursprung nicht für mehr als der Überbau. Seine
Freiheit in der Wahl der Gegenstände, seine Souveränität gegenüber
allen priorities von Faktum oder Theorie verdankt er dem, daß ihm
gewissermaßen alle Objekte gleich nah zum Zentrum sind: zu dem
Prinzip, das alle verhext. Er glorifiziert nicht die Befassung mit
Ursprünglichem als ursprünglicher denn die mit Vermitteltem, weil
ihm die Ursprünglichkeit selber Gegenstand der Reflexion, ein
Negatives ist. Das entspricht einer Situation, in der
Ursprünglichkeit, als Standpunkt des Geistes inmitten der
vergesellschafteten Welt, zur Lüge ward. Sie erstreckt sich von der
Erhebung historischer Begriffe aus historischen Sprachen zu
Urworten bis zum akademischen Unterricht in »creative writing«
und zu der gewerbsmäßig betriebenen Primitivität, zu Blockflöten
und finger painting, in denen die pädagogische Not sich als
metaphysische Tugend geriert. Der Gedanke ist nicht verschont von
Baudelaires Rebellion der Dichtung gegen Natur als
gesellschaftliches Reservat. Auch die Paradiese des Gedankens sind
einzig noch die künstlichen, und in ihnen ergeht sich der Essay.
Weil, nach Hegels Diktum, nichts zwischen Himmel und Erde ist,
was nicht vermittelt wäre, hält der Gedanke der Idee von
Unmittelbarkeit Treue nur durchs Vermittelte hindurch, während er
dessen Beute wird, sobald er unvermittelt das Unvermittelte ergreift.
Listig macht der Essay sich fest in die Texte, als wären sie
schlechterdings da und hätten Autorität. So bekommt er, ohne den
Trug des Ersten, einen wie immer auch dubiosen Boden unter die
Füße, vergleichbar der einstigen theologischen Exegese von
Schriften. Die Tendenz jedoch ist die entgegengesetzte, die
kritische: durch Konfrontation der Texte mit ihrem eigenen
emphatischen Begriff, mit der Wahrheit, die ein jeder meint, auch
wenn er sie nicht meinen will, den Anspruch von Kultur zu
erschüttern und sie zum Eingedenken ihrer Unwahrheit zu bewegen,
eben jenes ideologischen Scheins, in dem Kultur als naturverfallen
sich offenbart. Unterm Blick des Essays wird die zweite Natur ihrer
selbst inne als erste.
Bewegt sich die Wahrheit des Essays durch seine Unwahrheit,
so ist sie nicht im bloßen Gegensatz zu seinem Unehrlichen und
Verfemten aufzusuchen sondern in diesem selber, seiner Mobilität,
seinem Mangel an jenem Soliden, dessen Forderung die
Wissenschaft von Eigentumsverhältnissen auf den Geist
transferierte. Die den Geist glauben gegen Unsolidität verteidigen zu
müssen, sind seine Feinde: Geist selber, einmal emanzipiert, ist
mobil. Sobald er mehr will als bloß die administrative
Wiederholung und Aufbereitung des je schon Seienden, hat er etwas
Ungedecktes; die vom Spiel verlassene Wahrheit wäre nur noch
Tautologie. Historisch ist denn auch der Essay der Rhetorik
verwandt, welcher die wissenschaftliche Gesinnung seit Descartes
und Bacon den Garaus machen wollte, bis sie folgerecht im
wissenschaftlichen Zeitalter zur Wissenschaft sui generis, der von
den Kommunikationen, herabsank. Wohl war Rhetorik stets schon
der Gedanke in seiner Anpassung an die kommunikative Sprache.
Er zielte auf die unmittelbare: die Ersatzbefriedigung der Hörer. Der
Essay nun bewahrt gerade in der Autonomie der Darstellung, durch
die er von wissenschaftlicher Mitteilung sich unterscheidet, Spuren
des Kommunikativen, deren jene enträt. Die Befriedigungen, welche
Rhetorik dem Hörer bereiten will, werden im Essay sublimiert zur
Idee des Glücks einer Freiheit dem Gegenstand gegenüber, welche
diesem mehr von dem seinen gibt, als wenn er unbarmherzig der
Ordnung der Ideen eingegliedert würde. Das szientifische
Bewußtsein, gerichtet gegen jegliche anthropomorphistische
Vorstellung, war von je mit dem Realitätsprinzip verbündet und
glücksfeindlich gleich diesem. Während Glück der Zweck aller
Naturbeherrschung sein soll, stellt es dieser zugleich immer als
Regression in bloße Natur sich dar. Das zeigt sich bis in die
höchsten Philosophien, bis in Kant und Hegel hinein. Die Vernunft,
an deren absoluter Idee sie ihr Pathos haben, wird zugleich von
ihnen als naseweis und respektlos angeschwärzt, sobald sie
Geltendes relativiert. Gegen diesen Hang errettet der Essay ein
Moment der Sophistik. Spürbar ist die Glücksfeindschaft des
offiziell kritischen Gedankens zumal in Kants transzendentaler
Dialektik, welche die Grenze zwischen Verstand und Spekulation
verewigen möchte und, nach der charakteristischen Metapher, das
»Ausschweifen in intelligible Welten« verhindern. Während die
Vernunft, die sich selbst kritisiert, bei Kant mit beiden Füßen fest
auf dem Boden stehen, sich selbst begründen soll, dichtet sie sich
dem innersten Prinzip nach ab gegen jegliches Neue und gegen die
auch von der Existentialontologie beschimpfte Neugier, das
Lustprinzip des Gedankens. Was Kant inhaltlich als den Zweck der
Vernunft einsieht, die Herstellung der Menschheit, die Utopie, wird
von der Form, der Erkenntnistheorie her verwehrt, welche der
Vernunft es nicht gestattet, über den Bereich der Erfahrung
hinauszugehen, der im Mechanismus von bloßem Material und
unveränderlicher Kategorie zu dem zusammenschrumpft, was von je
schon war. Gegenstand des Essays jedoch ist das Neue als Neues,
nicht ins Alte der bestehenden Formen Zurückübersetzbares. Indem
er den Gegenstand gleichsam gewaltlos reflektiert, klagt er stumm
darüber, daß die Wahrheit das Glück verriet und mit ihm auch sich
selbst; und diese Klage reizt zur Wut auf den Essay. Das
Überredende der Kommunikation wird an ihm, analog dem
Funktionswechsel mancher Züge in der autonomen Musik, seinem
ursprünglichen Zweck entfremdet und zur reinen Bestimmung der
Darstellung an sich, dem Bezwingenden ihrer Konstruktion, die
nicht die Sache abbilden sondern aus ihren begrifflichen membra
disiecta wiederherstellen möchte. Die anstößigen Übergänge der
Rhetorik aber, in denen Assoziation, Mehrdeutigkeit der Worte,
Nachlassen der logischen Synthesis es dem Hörer leicht machten
und den Geschwächten dem Willen des Redners unterjochten,
werden im Essay mit dem Wahrheitsgehalt verschmolzen. Seine
Übergänge desavouieren die bündige Ableitung zugunsten von
Querverbindungen der Elemente, für welche die diskursive Logik
keinen Raum hat. Er benutzt Äquivokationen nicht aus Schlamperei,
nicht in Unkenntnis ihres szientifischen Verbots, sondern um
heimzubringen, wozu die Äquivokationskritik, die bloße Trennung
der Bedeutungen selten gelangt: daß überall, wo ein Wort
Verschiedenes deckt, das Verschiedene nicht ganz verschieden sei,
sondern daß die Einheit des Worts an eine wie sehr auch verborgene
in der Sache mahnt, ohne daß freilich diese, nach dem Brauch
gegenwärtiger restaurativer Philosophien, mit
Sprachverwandtschaften verwechselt werden dürfte. Auch darin
streift der Essay die musikalische Logik, die stringente und doch
begriffslose Kunst des Übergangs, um der redenden Sprache etwas
zuzueignen, was sie unter der Herrschaft der diskursiven Logik
einbüßte, die sich doch nicht überspringen, bloß in ihren eigenen
Formen überlisten läßt kraft des eindringenden subjektiven
Ausdrucks. Denn der Essay befindet sich nicht im einfachen
Gegensatz zum diskursiven Verfahren. Er ist nicht unlogisch;
gehorcht selber logischen Kriterien insofern, als die Gesamtheit
seiner Sätze sich stimmig zusammenfügen muß. Keine bloßen
Widersprüche dürfen stehenbleiben, es sei denn, sie würden als
solche der Sache begründet. Nur entwickelt er die Gedanken anders
als nach der diskursiven Logik. Weder leitet er aus einem Prinzip ab
noch folgert er aus kohärenten Einzelbeobachtungen. Er koordiniert
die Elemente, anstatt sie zu subordinieren; und erst der Inbegriff
seines Gehalts, nicht die Art von dessen Darstellung ist den
logischen Kriterien kommensurabel. Ist der Essay, im Vergleich zu
den Formen, in denen ein fertiger Inhalt indifferent mitgeteilt wird,
vermöge der Spannung zwischen Darstellung und Dargestelltem,
dynamischer als das traditionelle Denken, so ist er zugleich, als
konstruiertes Nebeneinander, statischer. Darin allein beruht seine
Affinität zum Bild, nur daß jene Statik selber eine von
gewissermaßen stillgestellten Spannungsverhältnissen ist. Die leise
Nachgiebigkeit der Gedankenführung des Essayisten zwingt ihn zu
größerer Intensität als der des diskursiven Gedankens, weil der
Essay nicht gleich diesem blind, automatisiert verfährt, sondern in
jedem Augenblick auf sich selber reflektieren muß. Diese Reflexion
freilich erstreckt sich nicht nur auf sein Verhältnis zum etablierten
Denken sondern ebenso auch auf das zu Rhetorik und
Kommunikation. Sonst wird, was überwissenschaftlich sich dünkt,
eitel vorwissenschaftlich.
Die Aktualität des Essays ist die des Anachronistischen. Die
Stunde ist ihm ungünstiger als je. Er wird zerrieben zwischen einer
organisierten Wissenschaft, in der alle sich anmaßen, alle und alles
zu kontrollieren, und die, was nicht auf den Consens zugeschnitten
ist, mit dem scheinheiligen Lob des Intuitiven oder Anregenden
aussperrt; und einer Philosophie, die mit dem leeren und abstrakten
Rest dessen vorlieb nimmt, was der Wissenschaftsbetrieb noch nicht
besetzte und was ihr eben dadurch Objekt von Betriebsamkeit
zweiten Grades wird. Der Essay jedoch hat es mit dem Blinden an
seinen Gegenständen zu tun. Er möchte mit Begriffen aufsprengen,
was in Begriffe nicht eingeht oder was durch die Widersprüche, in
welche diese sich verwickeln, verrät, das Netz ihrer Objektivität sei
bloß subjektive Veranstaltung. Er möchte das Opake polarisieren,
die darin latenten Kräfte entbinden. Er bemüht sich um die
Konkretion des in Raum und Zeit bestimmten Gehalts; konstruiert
das Zusammengewachsensein der Begriffe derart, wie sie als im
Gegenstand selbst zusammengewachsen vorgestellt werden. Er
entschlüpft dem Diktat der Attribute, welche seit der Definition des
Symposions den Ideen zugeschrieben werden, »ewig seiend und
weder werdend noch vergehend, weder wechselnd noch
abnehmend«; »ein um sich selbst für sich selbst ewig eingestaltiges
Sein«; und bleibt doch Idee, indem er vor der Last des Seienden
nicht kapituliert, nicht dem sich beugt, was bloß ist. Aber er mißt es
nicht an einem Ewigen, sondern eher an einem enthusiastischen
Fragment aus Nietzsches Spätzeit: »Gesetzt, wir sagen Ja zu einem
einzigen Augenblick, so haben wir damit nicht nur zu uns selbst,
sondern zu allem Dasein Ja gesagt. Denn es steht Nichts für sich,
weder in uns selbst noch in den Dingen: und wenn nur ein einziges
Mal unsere Seele wie eine Saite vor Glück gezittert und getönt hat,
so waren alle Ewigkeiten nöthig, um dies eine Geschehen zu
bedingen – und alle Ewigkeit war in diesem einzigen Augenblick
unseres Jasagens gutgeheißen, erlöst, gerechtfertigt und bejaht.« 8
Nur daß der Essay noch solcher Rechtfertigung und Bejahung
mißtraut. Für das Glück, das Nietzsche heilig war, weiß er keinen
anderen Namen als den negativen. Selbst die höchsten
Manifestationen des Geistes, die es ausdrücken, sind immer auch
verstrickt in die Schuld, es zu hintertreiben, solange sie bloßer Geist
bleiben. Darum ist das innerste Formgesetz des Essays die Ketzerei.
An der Sache wird durch Verstoß gegen die Orthodoxie des
Gedankens sichtbar, was unsichtbar zu halten insgeheim deren
objektiven Zweck ausmacht.
 Fußnoten
 
1 Georg von Lukács, Die Seele und die Formen, Berlin 1911, S. 29.
 
2 Vgl. Lukács, a.a.O., S. 23: »Der Essay spricht immer von etwas
bereits Geformtem, oder bestenfalls von etwas schon einmal
Dagewesenem, es gehört also zu seinem Wesen, daß er nicht neue
Dinge aus einem leeren Nichts heraushebt, sondern bloß solche, die
schon irgendwann lebendig waren, aufs neue ordnet. Und weil er sie
nur aufs neue ordnet, nicht aus dem Formlosen etwas Neues formt,
ist er auch an sie gebunden, muß er immer ›die Wahrheit‹ über sie
aussprechen. Ausdruck für ihr Wesen finden.«
 
3 Vgl. Lukács, a.a.O., S. 5 und passim.
 
4 Lukács, a.a.O., S. 21.
 
5 Descartes, Philosophische Werke, ed. Buchenau, Leipzig 1922,
Bd. 1, S. 15.
 
6 Max Bense, Über den Essay und seine Prosa, in: Merkur 1 (1947),
S. 418.
 
7 Bense, a.a.O., S. 420.
 
8 Friedrich Nietzsche, Werke, Bd. 10, Leipzig 1906, S. 206 (Der
Wille zur Macht II, § 1032).
Über epische Naivetät
 
»Und wie erfreulich das Land herschwimmenden Männern
erscheinet, / Welchen Poseidons Macht das rüstige Schiff in der
Meerflut / Schmetterte, durch die Gewalt des Orkans und
geschwollener Brandung; / ... Freudig anjetzt ersteigen sie Land,
dem Verderben entronnen, / So war ihr auch erfreulich der Anblick
ihres Gemahls, / Und fest hielt um den Hals sie die Lilienarme
geschlungen.« 1 Mißt man die Odyssee an diesen Versen, dem
Gleichnis für das Glück der wieder vereinten Gatten, nicht als an
einer bloß eingeschobenen Metapher sondern als an dem gegen
Ende der Erzählung nackt erscheinenden Gehalt, so wäre sie nichts
anderes als der Versuch, dem stets erneuten Anschlagen des Meeres
auf die Felsenküste nachzuhorchen, geduldig nachzuzeichnen, wie
das Wasser die Klippen überflutet, um rauschend von ihnen
zurückzuströmen und in tieferer Farbe das Feste leuchten zu lassen.
Solches Rauschen ist der Laut der epischen Rede, in dem das
Eindeutige und Feste mit dem Vieldeutigen und Verfließenden
zusammentrifft, um davon gerade sich zu scheiden. Die gestaltlose
Flut des Mythos ist das Immergleiche, das Telos der Erzählung
jedoch das Verschiedene, und die mitleidslos strenge Identität, in
der der epische Gegenstand festgehalten wird, dient gerade dazu,
dessen Nichtidentität mit dem schlecht Identischen, dem
unartikulierten Einerlei, seine Verschiedenheit selber, zu vollziehen.
Die Epopöe will berichten von etwas Berichtenswertem, von einem,
das nicht allem andern gleicht, nicht vertauschbar ist und um seines
Namens willen verdient, überliefert zu werden.
Weil jedoch der Erzähler der Welt des Mythos als seinem Stoff
zugewandt ist, war sein Beginnen, heute mit Unmöglichkeit
geschlagen, stets schon widerspruchsvoll. Denn der Mythos, dem
die rationale und kommunikative Rede des Erzählers samt ihrer
subsumierenden Logik, welche alles Berichtete gleichmacht, als
dem Konkreten nachhängt, dem, was von der nivellierenden
Ordnung des Begriffssystems noch verschieden wäre – solcher
Mythos ist gerade selber doch von der Wesensart der
Immergleichheit, die in der ratio zum Bewußtsein ihrer selbst
erwachte. Der Erzähler war von jeher der, welcher der universalen
Fungibilität widersteht, aber was er in der Geschichte bis auf den
heutigen Tag zu berichten hat, war immer schon das Fungible. Aller
Epik wohnt daher ein anachronistisches Element inne: dem
homerischen Archaismus jener Anrufung der Muse, die helfen soll,
das Ungeheure zu vermelden, ebenso wie den verzweifelten.
Anstrengungen des späten Goethe und Stifters, bürgerliche
Verhältnisse als urtümliche, dem unaustauschbaren Wort gleichwie
einem Namen offene Wirklichkeit zu fingieren. Dieser Widerspruch
aber hat sich, seit es große Epik gibt, in der Verhaltensweise des
Erzählers niedergeschlagen als das Element epischer Dichtung, das
man als Gegenständlichkeit hervorzuheben pflegt. Gegenüber dem
aufgeklärten Bewußtseinsstand, dem die erzählende Rede angehört,
dem allgemeinbegrifflichen Wesen, erscheint dies gegenständliche
Element stets als eines von Dummheit, ein Nichtverstehen,
Nichtbescheidwissen, verstockt ans Besondere dort sich Halten, wo
es zugleich schon als vom Allgemeinen Aufgelöstes bestimmt ist.
Das Epos ahmt den Bann des Mythos nach, um ihn zu erweichen. K.
Th. Preuss hat jene Verhaltensweise »Urdummheit« genannt, und
Gilbert Murray die der homerisch-olympischen Phase
voraufgehende, die erste Stufe der griechischen Religion, eben
dadurch charakterisiert 2 . In der starren Fixierung des epischen
Berichts an seinen Gegenstand, welche die Macht von Furcht vor
dem brechen soll, welchem das identifizierende Wort ins Auge
sieht, wird der Erzähler gleichsam des Gestus von Furcht mächtig.
Naivetät ist der Preis, den er dafür zollt, und ihn verbucht die
herkömmliche Ansicht als Gewinn. Die traditionelle Lobpreisung
solcher erst in der Dialektik der Form entsprungenen Dummheit des
Erzählens hat aus ihr eine bewußtseinsfeindliche, restaurative
Ideologie gemacht, deren letzter Abhub in den falsch konkreten
philosophischen Anthropologien von heutzutage verschachert wird.
Aber die epische Naivetät ist nicht nur Lüge, um die allgemeine
Besinnung von der blinden Anschauung des Besonderen
fernzuhalten. Wie sie, als antimythologische Anstrengung, aus dem
aufklärerischen, gleichsam positivistischen Bestreben hervorgeht,
treu und unverstellt was einmal war so festzuhalten, wie es war, und
damit den Zauber, den das Gewesene ausübt, den Mythos im
eigentlichen Sinn zu sprengen, bleibt ihr in der Beschränkung aufs
Einmalige ein Zug eigentümlich, der Beschränkung transzendiert.
Denn das Einmalige ist nicht bloß der trotzige Rückstand gegen die
umfassende Allgemeinheit des Gedankens, sondern auch dessen
innerste Sehnsucht, die logische Form eines Wirklichen, das nicht
mehr von der gesellschaftlichen Herrschaft und dem ihr
nachgebildeten klassifizierenden Gedanken umfaßt wäre; der
Begriff, der sich versöhnt mit seiner Sache. In der epischen Naivetät
lebt die Kritik der bürgerlichen Vernunft. Sie hält jene Möglichkeit
von Erfahrung fest, welche zerstört wird von der bürgerlichen
Vernunft, die sie gerade zu begründen vorgibt. Die Beschränktheit
in der Darstellung des einen Gegenstandes ist das Korrektiv der
Beschränktheit, die jeglichen Gedanken ereilt, indem er den einen
Gegenstand kraft dessen begrifflicher Operation vergißt, ihn
überspinnt, anstatt ihn eigentlich zu erkennen. Wie es leicht ist, die
homerische Einfalt, die selber schon zugleich das Gegenteil von
Einfalt war, sei's zu belächeln, sei's hämisch gegen den analytischen
Geist ins Feld zu führen, so wäre es leicht, die Befangenheit von
Gottfried Kellers letztem Roman darzutun und der Konzeption des
›Martin Salander‹ vorzuwerfen, daß das auftrumpfende
So-schlecht-sind-heute-die-Menschen kleinbürgerliche Unkenntnis
der ökonomischen Gründe der Krisen, der gesellschaftlichen
Voraussetzungen der Gründerjahre verrate und das Wesentliche
verfehle. Aber nur solche Naivetät wiederum erlaubt es, von den
unheilschwangeren Anfängen der spätkapitalistischen Ära zu
erzählen und der Anamnesis sie zuzueignen, anstatt bloß von ihnen
zu berichten und sie kraft des Protokolls, das von Zeit einzig noch
als einem Index weiß, mit trugvoller Gegenwärtigkeit ins Nichts
dessen hinabzustoßen, woran keine Erinnerung mehr sich zu heften
vermag. In solcher Erinnerung an das, was eigentlich schon gar
nicht mehr sich erinnern läßt, drückt dann freilich Kellers
Beschreibung der beiden betrügerischen Advokaten, die
Zwillingsbrüder, Duplikate, sind, soviel von der Wahrheit aus,
nämlich gerade von der erinnerungsfeindlichen Fungibilität, wie erst
wieder einer Theorie möglich wäre, die noch den Verlust von
Erfahrung aus der Erfahrung der Gesellschaft durchsichtig
bestimmte. Vermöge der epischen Naivetät übt das erzählende
Wort, in dessen Habitus dem Vergangenen gegenüber immer ein
Apologetisches, die Rechtfertigung der Begebenheit als einer
bemerkenswerten, lebt, Korrektur an sich selber. Die Genauigkeit
des beschreibenden Wortes sucht die Unwahrheit aller Rede zu
kompensieren. Der Drang Homers, einen Schild wie eine
Landschaft zu beschreiben und eine Metapher zur Aktion
durchzubilden, bis sie, selbständig geworden, das Gewebe der
Erzählung zerreißt – dieser Drang ist der gleiche, der die größten
Erzähler des neunzehnten Jahrhunderts, zumindest in Deutschland,
Goethe, Stifter und Keller, immer wieder dazu trieb, zu zeichnen
und zu malen, anstatt zu schreiben, und die archäologischen Studien
Flauberts mag der gleiche Impuls inspiriert haben. Der Versuch, die
Darstellung von der reflektierenden Vernunft zu emanzipieren, ist
der stets schon verzweifelte Versuch der Sprache, indem ihre
bestimmende Intention bis zum äußersten getrieben wird, vom
Negativen ihrer Intentionalität, der begrifflichen Manipulation der
Gegenstände zu heilen und das Wirkliche rein, unverstört von der
Gewalt der Ordnungen hervortreten zu lassen. Die Dummheit und
Blindheit des Erzählers – nicht zufällig hat die Überlieferung Homer
als Blinden aufgefaßt – drückt bereits Unmöglichkeit und
Hoffnungslosigkeit solchen Beginnens aus. Gerade das
gegenständliche Element des Epos, das aller Spekulation und
Phantasie extrem entgegengesetzte, führt die Erzählung, um ihrer
apriorischen Unmöglichkeit willen, an den Rand des Wahnsinns.
Die letzten Novellen Stifters geben vom Übergang der
gegenständlichen Treue in die manische Obsession die deutlichste
Kunde, und keine Erzählung hat je Teil an der Wahrheit gehabt, die
nicht in den Abgrund hinabgeblickt hätte, in welchen die Sprache
einstürzt, die sich selbst aufheben möchte in Namen und Bild. Die
homerische Besonnenheit macht davon keine Ausnahme. Wenn im
letzten Gesang der Odyssee, der zweiten Nekyia, die Seele des
Freiers Amphimedon der des Agamemnon im Hades von der Rache
des Odysseus und seines Sohnes berichtet, kommen die. Verse vor:
»Beide, da über der Freier entsetzlichen Mord sie geratschlagt, /
Kamen zur prangenden Stadt der Ithaker; nämlich Odysseus /
Folgete nach; ihm voraus war Telemachos früher gegangen.« 3 Das
»Nämlich« 4 hält um des Zusammenhangs willen die logische Form
sei's der Erklärung, sei's der Affirmation fest, während der Inhalt des
Satzes, als rein darstellende Aussage, in einem solchen
Zusammenhang mit dem Vorhergehenden gar nicht steht. In dem
minimalen Widersinn der fortführenden Partikel stößt der Geist der
erzählenden, logischintentionalen Sprache zusammen mit dem Geist
der wortlosen Darstellung, dem jene nachhängt, und gerade die
logische Form der Fortführung droht den Gedanken, der nicht
fortführt, eigentlich Gedanke schon nicht mehr ist, dorthin zu
verschlagen, wo Syntax und Stoff sich verlieren und der Stoff seine
Übermacht bekräftigt, indem er die syntaktische Form, die ihn zu
umfassen strebt, Lügen straft. Das aber ist das epische, das
eigentlich antikische Element in Hölderlins Wahnsinn. In dem
Gedicht ›An die Hoffnung‹ heißt es: »Im grünen Tale, dort, wo der
frische Quell / Vom Berge täglich rauscht und die liebliche /
Zeitlose mir am Herbsttag aufblüht, / Dort, in der Stille, du holde,
will ich / Dich suchen, oder wenn in der Mitternacht / Das
unsichtbare Leben im Haine wallt, / Und über mir die immerfrohen /
Blumen, die blühenden Sterne glänzen.« 5 Das Oder, und häufig
dann Partikeln bei Trakl, gleicht jenem homerischen Nämlich.
Während die Sprache, um Sprache überhaupt zu bleiben, in solchen
Wendungen urteilend noch Synthesis des Zusammenhangs der
Dinge zu sein beansprucht, begibt sie in den Worten, deren
Verwendung gerade den Zusammenhang auflöst, sich des Urteils.
Die epische Verknüpfung, in der die Führung des Gedankens
schließlich erschlafft, wird zur Gnade, die in der Sprache vorm
Recht des Urteils ergeht, das sie doch unweigerlich bleibt.
Gedankenflucht, die Opfergestalt der Rede, ist die Flucht der
Sprache aus ihrem Gefängnis. Wenn bei Homer, wie Thomson
besonders hervorhebt, die Metapher gegenüber dem Bedeuteten, der
Handlung, Selbständigkeit gewinnt 6 , so prägt darin die gleiche
Feindschaft gegen die Gebundenheit der Sprache im
Zusammenhang der Intentionen sich aus. Das sprachlich ausgeführte
Bild vergißt an die eigene Bedeutung, um die Sprache selber ins
Bild hineinzuziehen, anstatt das Bild durchsichtig zu machen auf
den logischen Sinn des Zusammenhanges. In der großen Erzählung
kehrt tendenziell das Verhältnis von Bild und Handlung sich um.
Davon hat Goethes Technik in den ›Wahlverwandtschaften‹ und den
›Wanderjahren‹, wo bildchenhafte, intermittierende Novellen das
Wesen des Dargestellten reflektieren, Zeugnis abgelegt, und
Homer-Allegoresen von der Art der berühmten Schellingschen
Formel von der Odyssee des Geistes 7 haben das Gleiche geahnt.
Nicht daß die Epen von allegorischer Absicht diktiert wären. Aber
die Gewalt der geschichtlichen Tendenz in Sprache und Sachgehalt
ist in ihnen so groß, daß im Lauf des Prozesses zwischen
Subjektivität und Mythologie Menschen und Dinge vermöge der
Blindheit, mit der das Epos ihrer Darstellung sich überläßt, in bloße
Schauplätze sich verwandeln, über denen jene Tendenz sichtbar
wird, gerade dort, wo der pragmatische und sprachliche
Zusammenhang brüchig sich zeigt. »Es kämpfen keine Individuen,
sondern Ideen miteinander«, heißt es in einem Fragment Nietzsches
zu ›Homers Wettkampf‹ 8 . Der objektive Umschlag der reinen
bedeutungsfernen Darstellung in die Allegorie der Geschichte ist es,
der am logischen Zerfall der epischen Sprache wie an der Ablösung
der Metapher vom Gang der buchstäblichen Handlung sichtbar wird.
Erst durch Sinnverlassenheit ähnelt die epische Rede dem Bilde sich
an, einer Figur objektiven Sinnes, die aus der Negation von
subjektiv vernünftigem Sinn aufsteigt.
 Fußnoten
 
1 Homer, Odyssee, XXIII, 210ff. (Voß).
 
2 Vgl. G. Murray, Five Stages of Greek Religion, New York 1925,
p. 16; vgl. U.v. Wilamowitz-Möllendorf, Der Glaube der Hellenen,
I, S. 9.
 
3 Odyssee, XXIV, 153ff.
 
4 Schröder übersetzt: »und wahrlich Odysseus blieb zurück«. Die
wörtliche Übertragung des h als einer Partikel der Bekräftigung und
nicht der Explikation ändert nichts am enigmatischen Charakter der
Stelle.
 
5 Friedrich Hölderlin, Gesamtausgabe des Insel-Verlags (Text nach
Zinkernagel), Leipzig o.J., S. 139. – Zwischen Voß und Hölderlin
bestehen literargeschichtliche Zusammenhänge.
 
6 »No, one would deny that ... true similes have been in constant use
from the beginnings of human speech ... But, besides these, there are
others which, as we have seen, are formally similes, but in reality
are disguised identifications or transformations.« (J.A.K. Thomson,
Studies in the Odyssey, Oxford 1914, p. 7.) Metaphern sind danach
Spuren des historischen Prozesses.
 
7 Vgl. Schelling, Werke, Bd. 2, Leipzig 1907, S. 302 (System des
transzendentalen Idealismus). Im übrigen hat Schelling später in der
›Philosophie der Kunst‹ die allegorische Auslegung Homers
ausdrücklich verworfen (vgl. a.a.O., Bd. 3, S. 57).
 
8 Nietzsche, Werke, Bd. 9, S. 287.
 
 Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman
Die Aufgabe, in wenige Minuten einiges über den gegenwärtigen
Stand des Romans als Form zusammenzudrängen, zwingt dazu, sei's
auch gewaltsam, ein Moment herauszugreifen. Das soll die Stellung
des Erzählers sein. Sie wird heute bezeichnet durch eine Paradoxie;
es läßt sich nicht mehr erzählen, während die Form des Romans
Erzählung verlangt. Der Roman war die spezifische literarische
Form des bürgerlichen Zeitalters. An seinem Beginn steht die
Erfahrung von der entzauberten Welt im ›Don Quixote‹, und die
künstlerische Bewältigung bloßen Daseins ist sein Element
geblieben. Der Realismus war ihm immanent; selbst die dem Stoff
nach phantastischen Romane haben getrachtet, ihren Inhalt so
vorzutragen, daß die Suggestion des Realen davon ausging. Diese
Verhaltensweise ist, in einer bis ins neunzehnte Jahrhundert
zurückreichenden, heute zum Extrem beschleunigten Entwicklung
fragwürdig geworden. Vom Standpunkt des Erzählers her durch den
Subjektivismus, der kein unverwandelt Stoffliches mehr duldet und
eben damit das epische Gebot der Gegenständlichkeit unterhöhlt.
Wer heute noch, wie Stifter etwa, ins Gegenständliche sich
versenkte und Wirkung zöge aus der Fülle und Plastik des demütig
hingenommenen Angeschauten, wäre gezwungen zum Gestus
kunstgewerblicher Imitation. Er machte der Lüge sich schuldig, der
Welt mit einer Liebe sich zu überlassen, die voraussetzt, daß die
Welt sinnvoll ist, und endete beim unerträglichen Kitsch vom
Schlage der Heimatkunst. Nicht geringer sind die Schwierigkeiten
von der Sache her. Wie der Malerei von ihren traditionellen
Aufgaben vieles entzogen wurde durch die Photographie, so dem
Roman durch die Reportage und die Medien der Kulturindustrie,
zumal den Film. Der Roman müßte sich auf das konzentrieren, was
nicht durch den Bericht abzugelten ist. Nur sind ihm im Gegensatz
zur Malerei in der Emanzipation vom Gegenstand Grenzen gesetzt
durch die Sprache, die ihn weithin zur Fiktion des Berichtes nötigt:
konsequent hat Joyce die Rebellion des Romans gegen den
Realismus mit einer gegen die diskursive Sprache verbunden.
Die Abwehr seines Versuchs als abseitig individualistischer
Willkür wäre armselig. Zerfallen ist die Identität der Erfahrung, das
in sich kontinuierliche und artikulierte Leben, das die Haltung des
Erzählers einzig gestattet. Man braucht nur die Unmöglichkeit sich
zu vergegenwärtigen, daß irgendeiner, der am Krieg teilnahm, von
ihm so erzählte, wie früher einer von seinen Abenteuern erzählen
mochte. Mit Recht begegnet die Erzählung, die auftritt, als wäre der
Erzähler solcher Erfahrung mächtig, der Ungeduld und Skepsis
beim Empfangenden. Vorstellungen wie die, daß einer sich hinsetzt
und »ein gutes Buch liest«, sind archaisch. Das liegt nicht bloß an
der Dekonzentration der Leser sondern am Mitgeteilten selber und
seiner Form. Etwas erzählen heißt ja: etwas Besonderes zu sagen
haben, und gerade das wird von der verwalteten Welt, von
Standardisierung und Immergleichheit verhindert. Vor jeder
inhaltlich ideologischen Aussage ist ideologisch schon der Anspruch
des Erzählers, als wäre der Weltlauf wesentlich noch einer der
Individuation, als reichte das Individuum mit seinen Regungen und
Gefühlen ans Verhängnis noch heran, als vermöchte unmittelbar das
Innere des Einzelnen noch etwas: die allverbreitete biographische
Schundliteratur ist ein Zersetzungsprodukt der Romanform selber.
Von der Krisis der literarischen Gegenständlichkeit ist die
Sphäre der Psychologie, in der gerade jene Produkte sich häuslich,
wenngleich mit wenig Glück einrichten, nicht ausgenommen. Auch
dem psychologischen Roman werden seine Gegenstände vor der
Nase weggeschnappt: mit Recht hat man bemerkt, daß zu einer Zeit,
da Journalisten ohne Unterlaß an den psychologischen
Errungenschaften Dostojewskys sich berauschten, die Wissenschaft,
zumal die Psychoanalyse Freuds, längst jene Funde des Romanciers
hinter sich gelassen hatte. Übrigens hat man wohl mit solchem
phrasenhaften Lob Dostojewsky verfehlt: soweit es bei ihm
überhaupt Psychologie gibt, ist es eine des intelligiblen Charakters,
des Wesens, und nicht des empirischen, der Menschen, so wie sie
herumlaufen. Und gerade darin ist er fortgeschritten. Nicht nur, daß
alles Positive, Greifbare, auch die Faktizität des Inwendigen von
Informationen und Wissenschaft beschlagnahmt ist, nötigt den
Roman, damit zu brechen und der Darstellung des Wesens oder
Unwesens sich zu überantworten, sondern auch, daß, je dichter und
lückenloser die Oberfläche des gesellschaftlichen Lebensprozesses
sich fügt, um so hermetischer diese als Schleier das Wesen verhüllt.
Will der Roman seinem realistischen Erbe treu bleiben und sagen,
wie es wirklich ist, so muß er auf einen Realismus verzichten, der,
indem er die Fassade reproduziert, nur dieser bei ihrem
Täuschungsgeschäfte hilft. Die Verdinglichung aller Beziehungen
zwischen den Individuen, die ihre menschlichen Eigenschaften in
Schmieröl für den glatten Ablauf der Maschinerie verwandelt, die
universale Entfremdung und Selbstentfremdung, fordert beim Wort
gerufen zu werden, und dazu ist der Roman qualifiziert wie wenig
andere Kunstformen. Von jeher, sicherlich seit dem achtzehnten
Jahrhundert, seit Fieldings ›Tom Jones‹, hatte er seinen wahren
Gegenstand am Konflikt zwischen den lebendigen Menschen und
den versteinerten Verhältnissen. Entfremdung selber wird ihm dabei
zum ästhetischen Mittel. Denn je fremder die Menschen, die
Einzelnen und die Kollektive, einander geworden sind, desto
rätselhafter werden sie einander zugleich, und der Versuch, das
Rätsel des äußeren Lebens zu dechiffrieren, der eigentliche Impuls
des Romans, geht über in die Bemühung ums Wesen, das gerade in
der von Konventionen gesetzten, vertrauten Fremdheit nun
seinerseits bestürzend, doppelt fremd erscheint. Das antirealistische
Moment des neuen Romans, seine metaphysische Dimension, wird
selber gezeitigt von seinem realen Gegenstand, einer Gesellschaft,
in der die Menschen voneinander und von sich selber gerissen sind.
In der ästhetischen Transzendenz reflektiert sich die Entzauberung
der Welt.
All das hat kaum seinen Platz in der bewußten Erwägung des
Romanciers, und Grund ist zur Annahme, daß, wo es in jene
eindringt, wie etwa in den sehr groß intendierten Romanen Hermann
Brochs, es dem Gestalteten nicht zum besten anschlägt. Vielmehr
setzen sich die geschichtlichen Veränderungen der Form um in
idiosynkratische Empfindlichkeiten der Autoren, und es entscheidet
wesentlich über ihren Rang, wie weit sie als Meßinstrumente des
Geforderten und Verwehrten fungieren. An Empfindlichkeit gegen
die Form des Berichts hat keiner Marcel Proust übertroffen. Sein
Werk gehört in die Tradition des realistischen und psychologischen
Romans, auf der Linie von dessen subjektivistisch extremer
Auflösung, wie sie, ohne alle historische Kontinuität mit dem
Franzosen, über Gebilde wie Jacobsens ›Niels Lyhne‹ und Rilkes
›Malte Laurids Brigge‹ führt. Je strenger es mit dem Realismus des
Auswendigen, der Geste »so war es« gehalten wird, um so mehr
wird jedes Wort zum bloßen Als ob, um so mehr wächst der
Widerspruch zwischen seinem Anspruch an und dem, daß es nicht
so war. Eben jener immanente Anspruch, den der Autor
unabdingbar erhebt: daß er genau wisse, wie es zugegangen sei, will
ausgewiesen werden, und die ins Schimärische getriebene Präzision
Prousts, die mikrologische Technik, unter der schließlich die Einheit
des Lebendigen nach Atomen sich spaltet, ist eine einzige
Anstrengung des ästhetischen Sensoriums, diesen Ausweis zu
leisten, ohne den Bannkreis der Form zu überschreiten. Mit dem
Bericht von einem Unwirklichen einzusetzen etwa, als wäre es
wirklich gewesen, hätte er nicht über sich gebracht. Daher beginnt
sein zyklisches Werk mit der Erinnerung daran, wie ein Kind
einschläft, und das ganze erste Buch ist nichts als eine Entfaltung
der Schwierigkeiten beim Einschlafen, wenn dem Knaben seine
schöne Mutter nicht den Gute-Nacht-Kuß gegeben hat. Der Erzähler
stiftet gleichsam einen Innenraum, der ihm den Fehltritt in die
fremde Welt erspart, wie er zutage käme an der Falschheit des Tons,
der mit jener vertraut tut. Unmerklich wird die Welt in diesen
Innenraum – man hat der Technik den Titel des monologue intérieur
verliehen – hineingezogen, und was immer an Äußerem sich
abspielt, kommt so vor, wie es auf der ersten Seite vom Augenblick
des Einschlafens gesagt wird: als ein Stück Innen, ein Moment des
Bewußtseinsstroms, behütet vor der Widerlegung durch die
objektive raumzeitliche Ordnung, zu deren Suspension das
Proustsche Werk aufgeboten ist. Aus ganz anderen Voraussetzungen
und in ganz anderem Geist hat der Roman des deutschen
Expressionismus, etwa Gustav Sacks ›Verbummelter Student‹
Verwandtes visiert. Das epische Bestreben, nichts Gegenständliches
darzustellen, als was sich ganz und gar füllen läßt, hebt schließlich
die epische Grundkategorie der Gegenständlichkeit auf.
Der traditionelle Roman, dessen Idee vielleicht am
authentischsten in Flaubert sich verkörpert, ist der Guckkastenbühne
des bürgerlichen Theaters zu vergleichen. Diese Technik war eine
der Illusion. Der Erzähler lüftet einen Vorhang: der Leser soll
Geschehenes mitvollziehen, als wäre er leibhaft zugegen. Die
Subjektivität des Erzählers bewährt sich in der Kraft, diese Illusion
herzustellen, und – bei Flaubert – in der Reinheit der Sprache, die
sie zugleich durch Vergeistigung doch dem empirischen Bereich
enthebt, dem sie sich verschreibt. Ein schweres Tabu liegt über der
Reflexion: sie wird zur Kardinalsünde gegen die sachliche Reinheit.
Mit dem illusionären Charakter des Dargestellten verliert heute auch
dies Tabu seine Kraft. Oft ist hervorgehoben worden, daß im neuen
Roman, nicht nur bei Proust, sondern ebenso beim Gide der
›Faux-Monnayeurs‹, beim späteren Thomas Mann, in Musils ›Mann
ohne Eigenschaften‹ die Reflexion die reine Formimmanenz
durchbricht. Aber solche Reflexion hat kaum mehr als den Namen
mit der vor-Flaubertschen gemein. Diese war moralisch:
Parteinahme für oder gegen Romanfiguren. Die neue ist
Parteinahme gegen die Lüge der Darstellung, eigentlich gegen den
Erzähler selbst, der als überwacher Kommentator der Vorgänge
seinen unvermeidlichen Ansatz zu berichtigen trachtet. Die
Verletzung der Form liegt in deren eigenem Sinn. Heute erst läßt
Thomas Manns Medium, die enigmatische, auf keinen inhaltlichen
Spott reduzierbare Ironie, sich ganz verstehen aus ihrer
formbildenden Funktion: der Autor schüttelt mit dem ironischen
Gestus, der den eigenen Vortrag zurücknimmt, den Anspruch ab,
Wirkliches zu schaffen, dem doch keines selbst seiner Worte
entrinnen kann; am sinnfälligsten vielleicht in der Spätphase, im
›Erwählten‹ und in der ›Betrogenen‹, wo der Dichter, spielend mit
einem romantischen Motiv, durch den Habitus der Sprache den
Guckkastencharakter der Erzählung, die Unwirklichkeit der Illusion
einbekennt, und eben damit, nach seinem Wort, dem Kunstwerk
jenen Charakter des höheren Jux zurückgibt, den es besaß, ehe es
mit der Naivetät der Unnaivetät den Schein allzu ungebrochen als
Wahres präsentierte.
Wenn vollends bei Proust der Kommentar derart mit der
Handlung verflochten ist, daß die Unterscheidung zwischen beiden
schwindet, so greift damit der Erzähler einen Grundbestand im
Verhältnis zum Leser an: die ästhetische Distanz. Diese war im
traditionellen Roman unverrückbar. Jetzt variiert sie wie
Kameraeinstellungen des Films: bald wird der Leser draußen
gelassen, bald durch den Kommentar auf die Bühne, hinter die
Kulissen, in den Maschinenraum geleitet. Zu den Extremen, an
denen mehr über den gegenwärtigen Roman sich lernen läßt als an
irgendeinem sogenannten »typischen« mittleren Sachverhalt rechnet
das Verfahren Kafkas, die Distanz vollends einzuziehen. Durch
Schocks zerschlägt er dem Leser die kontemplative Geborgenheit
vorm Gelesenen. Seine Romane, wenn anders sie unter den Begriff
überhaupt noch fallen, sind die vorwegnehmende Antwort auf eine
Verfassung der Welt, in der die kontemplative Haltung zum blutigen
Hohn ward, weil die permanente Drohung der Katastrophe keinem
Menschen mehr das unbeteiligte Zuschauen und nicht einmal dessen
ästhetisches Nachbild mehr erlaubt. Auch von den minderen
Erzählern, die schon kein Wort mehr zu schreiben wagen, das nicht
als Tatsachenbericht um Entschuldigung dafür bittet, daß es geboren
ist, wird die Distanz eingezogen. Kündigt bei ihnen die Schwäche
eines Bewußtseinsstandes sich an, der zu kurzatmig ist, um seine
ästhetische Darstellung zu dulden, und der kaum mehr Menschen
hervorbringt, die solcher Darstellung fähig wären, so ist in der
fortgeschrittensten Produktion, der solche Schwäche nicht fremd
bleibt, die Einziehung der Distanz Gebot der Form selber, eines der
wirksamsten Mittel, den vordergründigen Zusammenhang zu
durchschlagen und das Darunterliegende, die Negativität des
Positiven auszudrücken. Nicht daß notwendig wie bei Kafka die
Schilderung von Imaginärem die von Realem ablöste. Er eignet sich
schlecht zum Muster. Aber die Differenz zwischen Realem und
imago wird grundsätzlich kassiert. Es ist den großen Romanciers der
Epoche gemeinsam, daß die alte Romanforderung des »So ist es«,
bis zu Ende gedacht, eine Flucht geschichtlicher Urbilder auslöst, in
Prousts unwillkürlicher Erinnerung wie in den Parabeln Kafkas und
in den epischen Kryptogrammen von Joyce. Das dichterische
Subjekt, das von den Konventionen gegenständlicher Darstellung
sich lossagt, bekennt zugleich die eigene Ohnmacht, die Übermacht
der Dingwelt ein, die inmitten des Monologs wiederkehrt. So
bereitet sich eine zweite Sprache, vielfach aus dem Abhub der ersten
destilliert, eine zerfallene assoziative Dingsprache, wie sie den
Monolog nicht bloß des Romanciers, sondern der ungezählten der
ersten Sprache Entfremdeten durchwächst, welche die Masse
ausmachen. Wenn Lukács in seiner ›Theorie des Romans‹ vor
vierzig Jahren die Frage aufwarf, ob die Romane Dostojewskys
Bausteine zukünftiger Epen, wo nicht selber bereits solche Epen
seien, dann gleichen in der Tat die heutigen Romane, die zählen,
jene, in denen die entfesselte Subjektivität aus der eigenen
Schwerkraft in ihr Gegenteil übergeht, negativen Epopöen. Sie sind
Zeugnisse eines Zustands, in dem das Individuum sich selbst
liquidiert und der sich begegnet mit dem vorindividuellen, wie er
einmal die sinnerfüllte Welt zu verbürgen schien. Mit aller
gegenwärtigen Kunst teilen diese Epopöen die Zweideutigkeit, daß
es nicht bei ihnen steht, etwas darüber auszumachen, ob die
geschichtliche Tendenz, die sie registrieren, Rückfall in die Barbarei
ist oder doch auf die Verwirklichung der Menschheit abzielt, und
manche fühlen sich im Barbarischen allzu behaglich. Kein modernes
Kunstwerk, das etwas taugte und nicht an der Dissonanz und dem
Losgelassenen auch seine Lust hätte. Aber indem solche
Kunstwerke gerade das Grauen ohne Kompromiß verkörpern und
alles Glück der Betrachtung in die Reinheit solchen Ausdrucks
werfen, dienen sie der Freiheit, die von der mittleren Produktion nur
verraten wird, weil sie nicht zeugt von dem, was dem Individuum
der liberalen Ära widerfuhr. Ihre Produkte sind über der
Kontroverse zwischen engagierter Kunst und l'art pour l'art, über der
Alternative zwischen der Banausie der Tendenzkunst und der
Banausie der genießerischen. Karl Kraus hat einmal den Gedanken
formuliert, was immer aus seinen Werken moralisch als leibhafte,
nichtästhetische Wirklichkeit spreche, sei ihm lediglich unterm
Gesetz der Sprache, also im Namen von l'art pour l'art zuteil
geworden. Die Einziehung der ästhetischen Distanz im Roman
heute, und damit dessen Kapitulation vor der übermächtigen und nur
noch real zu verändernden, nicht im Bilde zu verklärenden
Wirklichkeit, wird erheischt von dem, wohin die Form von sich aus
möchte.
 Rede über Lyrik und Gesellschaft
 
Bei der Ankündigung eines Vortrags über Lyrik und Gesellschaft
wird viele von Ihnen Unbehagen ergreifen. Sie werden eine
soziologische Betrachtung erwarten, wie sie nach Belieben an jeden
Gegenstand sich heften kann, so wie man vor fünfzig Jahren
Psychologien, vor dreißig Phänomenologien aller erdenklichen
Dinge erfand. Sie werden dabei das Mißtrauen hegen, daß die
Erörterung der Bedingungen, unter denen Gebilde entstanden, und
die ihrer Wirkung, sich vorwitzig an Stelle der Erfahrung von den
Gebilden wie sie sind setzen will; daß Zuordnungen und Relationen
die Einsicht in Wahrheit oder Unwahrheit des Gegenstandes selber
verdrängen. Sie werden argwöhnen, daß ein Intellektueller dessen
schuldig werde, was Hegel dem »formellen Verstand« vorwarf, daß
er nämlich, indem er das Ganze übersieht, über dem einzelnen
Dasein steht, von dem er spricht, das heißt, es gar nicht sieht,
sondern es etikettiert. Das Peinliche eines solchen Verfahrens wird
Ihnen an der Lyrik besonders fühlbar. Das Zarteste, Zerbrechlichste
soll angetastet, mit eben dem Getriebe zusammengebracht werden,
von dem unberührt sich zu halten im Ideal zumindest des
traditionellen Sinnes von Lyrik liegt. Eine Sphäre des Ausdrucks,
die ihr Wesen geradezu daran hat, die Macht der Vergesellschaftung
sei's nicht anzuerkennen, sei's, wie bei Baudelaire oder Nietzsche,
durchs Pathos der Distanz zu überwinden, soll arrogant durch die
Art ihrer Betrachtung zum Gegenteil dessen gemacht werden, als
was sie sich selber weiß. Kann, so werden Sie fragen, von Lyrik und
Gesellschaft ein anderer reden als ein amusischer Mensch?
Offenbar ist dem Verdacht nur dann zu begegnen, wenn lyrische
Gebilde nicht als Demonstrationsobjekte soziologischer Thesen
mißbraucht werden, sondern wenn ihre Beziehung auf
Gesellschaftliches an ihnen selber etwas Wesentliches, etwas vom
Grund ihrer Qualität aufdeckt. Sie soll nicht wegführen vom
Kunstwerk, sondern tiefer in es hinein. Daß das aber zu erwarten
sei, darauf allerdings führt die einfachste Besinnung. Denn der
Gehalt eines Gedichts ist nicht bloß der Ausdruck individueller
Regungen und Erfahrungen. Sondern diese werden überhaupt erst
dann künstlerisch, wenn sie, gerade vermöge der Spezifikation ihres
ästhetischen Geformtseins, Anteil am Allgemeinen gewinnen. Nicht,
daß was das lyrische Gedicht ausdrückt, unmittelbar das sein müßte,
was alle erleben. Seine Allgemeinheit ist keine volonté de tous,
keine der bloßen Kommunikation dessen, was die anderen nur eben
nicht kommunizieren können. Sondern die Versenkung ins
Individuierte erhebt das lyrische Gedicht dadurch zum Allgemeinen,
daß es Unentstelltes, Unerfaßtes, noch nicht Subsumiertes in die
Erscheinung setzt und so geistig etwas vorwegnimmt von einem
Zustand, in dem kein schlecht Allgemeines, nämlich zutiefst
Partikulares mehr das andere, Menschliche fesselte. Von
rückhaltloser Individuation erhofft sich das lyrische Gebilde das
Allgemeine. Ihr eigentümliches Risiko aber hat Lyrik daran, daß ihr
Individuationsprinzip nie die Erzeugung von Verpflichtendem,
Authentischem garantiert. Sie hat keine Macht darüber, ob sie nicht
in der Zufälligkeit der bloßen abgespaltenen Existenz verharrt.
Jene Allgemeinheit des lyrischen Gehalts jedoch ist wesentlich
gesellschaftlich. Nur der versteht, was das Gedicht sagt, wer in
dessen Einsamkeit der Menschheit Stimme vernimmt; ja, noch die
Einsamkeit des lyrischen Wortes selber ist von der
individualistischen und schließlich atomistischen Gesellschaft
vorgezeichnet, so wie umgekehrt seine allgemeine Verbindlichkeit
von der Dichte seiner Individuation lebt. Daher aber ist das Denken
des Kunstwerks berechtigt und verpflichtet, dem gesellschaftlichen
Gehalt konkret nachzufragen, nicht bei dem vagen Gefühl eines
Allgemeinen und Umfangenden sich zu beruhigen. Solche denkende
Bestimmung ist keine kunstfremde und äußerliche Reflexion,
sondern wird von jedem sprachlichen Gebilde gefordert. Sein
eigenes Material, die Begriffe, erschöpfen sich nicht in der bloßen
Anschauung. Um ästhetisch angeschaut werden zu können, wollen
sie immer auch gedacht werden, und der Gedanke, einmal vom
Gedicht ins Spiel gesetzt, läßt sich nicht auf dessen Geheiß sistieren.
Dieser Gedanke aber, die gesellschaftliche Deutung von Lyrik,
wie übrigens von allen Kunstwerken, darf danach nicht unvermittelt
auf den sogenannten gesellschaftlichen Standort oder die
gesellschaftliche Interessenlage der Werke oder gar ihrer Autoren
zielen. Vielmehr hat sie auszumachen, wie das Ganze einer
Gesellschaft, als einer in sich widerspruchsvollen Einheit, im
Kunstwerk erscheint; worin das Kunstwerk ihr zu Willen bleibt,
worin es über sie hinausgeht. Das Verfahren muß, nach der Sprache
der Philosophie, immanent sein. Gesellschaftliche Begriffe sollen
nicht von außen an die Gebilde herangetragen, sondern geschöpft
werden aus der genauen Anschauung von diesen selbst. Der Satz aus
Goethes ›Maximen und Reflexionen‹, daß du, was du nicht
verstehst, auch nicht besitzest, gilt nicht nur für das ästhetische
Verhältnis zu Kunstwerken sondern ebenso für die ästhetische
Theorie: nichts, was nicht in den Werken, ihrer eigenen Gestalt ist,
legitimiert die Entscheidung darüber, was ihr Gehalt, das Gedichtete
selber, gesellschaftlich vorstellt. Das zu bestimmen verlangt freilich
Wissen wie vom Inneren der Kunstwerke so auch von der
Gesellschaft draußen. Aber verbindlich ist dies Wissen nur, wenn es
in dem rein der Sache sich Überlassen sich wiederentdeckt.
Wachsamkeit ist geboten zumal dem heute ins Unerträgliche
ausgewalzten Ideologiebegriff gegenüber. Denn Ideologie ist
Unwahrheit, falsches Bewußtsein, Lüge. Sie offenbart sich im
Mißlingen der Kunstwerke, ihrem Falschen in sich und wird
getroffen von Kritik. Großen Kunstwerken aber, die an Gestaltung
und allein dadurch an tendenzieller Versöhnung tragender
Widersprüche des realen Daseins ihr Wesen haben, nachzusagen, sie
seien Ideologie, tut nicht bloß ihrem eigenen Wahrheitsgehalt
unrecht, sondern verfälscht auch den Ideologiebegriff. Dieser
behauptet nicht, aller Geist tauge nur dazu, daß irgendwelche
Menschen irgendwelche partikularen Interessen als allgemeine
unterschieben, sondern will den bestimmten falschen Geist
entlarven und ihn zugleich in seiner Notwendigkeit begreifen.
Kunstwerke jedoch haben ihre Größe einzig daran, daß sie sprechen
lassen, was die Ideologie verbirgt. Ihr Gelingen selber geht, mögen
sie es wollen oder nicht, übers falsche Bewußtsein hinaus.
Lassen Sie mich an Ihr eigenes Mißtrauen anknüpfen. Sie
empfinden die Lyrik als ein der Gesellschaft Entgegengesetztes,
durchaus Individuelles. Ihr Affekt hält daran fest, daß es so bleiben
soll, daß der lyrische Ausdruck, gegenständlicher Schwere
entronnen, das Bild eines Lebens beschwöre, das frei sei vom
Zwang der herrschenden Praxis, der Nützlichkeit, vom Druck der
sturen Selbsterhaltung. Diese Forderung an die Lyrik jedoch, die des
jungfräulichen Wortes, ist in sich selbst gesellschaftlich. Sie
impliziert den Protest gegen einen gesellschaftlichen Zustand, den
jeder Einzelne als sich feindlich, fremd, kalt, bedrückend erfährt,
und negativ prägt der Zustand dem Gebilde sich ein: je schwerer er
lastet, desto unnachgiebiger widersteht ihm das Gebilde, indem es
keinem Heteronomen sich beugt und sich gänzlich nach dem je
eigenen Gesetz konstituiert. Sein Abstand vom bloßen Dasein wird
zum Maß von dessen Falschem und Schlechtem. Im Protest dagegen
spricht das Gedicht den Traum einer Welt aus, in der es anders
wäre. Die Idiosynkrasie des lyrischen Geistes gegen die Übergewalt
der Dinge ist eine Reaktionsform auf die Verdinglichung der Welt,
der Herrschaft von Waren über Menschen, die seit Beginn der
Neuzeit sich ausgebreitet, seit der industriellen Revolution zur
herrschenden Gewalt des Lebens sich entfaltet hat. Auch Rilkes
Dingkult gehört in den Bannkreis solcher Idiosynkrasie als Versuch,
noch die fremden Dinge in den subjektiv-reinen Ausdruck
hineinzunehmen und aufzulösen, ihre Fremdheit metaphysisch ihnen
gutzuschreiben; und die ästhetische Schwäche dieses Dingkults, der
geheimnistuerische Gestus, die Vermischung von Religion und
Kunstgewerbe, verrät zugleich die reale Gewalt der Verdinglichung,
die von keiner lyrischen Aura mehr sich vergolden, in den Sinn
einholen läßt.
Man verleiht solcher Einsicht ins gesellschaftliche Wesen von
Lyrik nur eine andere Wendung, wenn man sagt, ihr Begriff, so wie
er uns unmittelbar, gewissermaßen zweite Natur ist, sei durchaus
moderner Art. Analog hat die Landschaftsmalerei und ihre Idee von
»Natur« erst in der Moderne autonom sich entwickelt. Ich weiß, daß
ich damit übertreibe, daß Sie mir viele Gegenbeispiele
entgegenhalten könnten. Das eindringlichste wäre Sappho. Von der
chinesischen, japanischen, arabischen Lyrik rede ich nicht, da ich
sie nicht im Original lesen kann und den Verdacht hege, daß sie
durch die Übersetzung in einen Anpassungsmechanismus gerät, der
angemessenes Verständnis überhaupt unmöglich macht. Aber die
Bekundungen des uns vertrauten, im spezifischen Sinn lyrischen
Geistes aus älterer Zeit leuchten nur versprengt auf, so wie zuweilen
Hintergründe alter Malerei die Idee des Landschaftsbildes
ahnungsvoll vorwegnehmen. Sie konstituieren nicht die Form. Die
großen Dichter der früheren Vergangenheit, die nach
literargeschichtlichen Begriffen der Lyrik zurechnen, Pindar etwa
und Alkaios, aber auch das Werk Walthers von der Vogelweide in
seinem überwiegenden Teil sind unserer primären Vorstellung von
Lyrik ungemein fern. Ihnen geht jener Charakter des Unmittelbaren,
Entstofflichten ab, den wir zu Recht oder Unrecht uns gewöhnt
haben, als Kriterium von Lyrik anzusehen, und über den nur die
angestrengte Bildung uns hinausführt.
Was wir jedoch mit Lyrik meinen, ehe wir den Begriff sei's
historisch erweitern, sei's kritisch gegen die individualistische
Sphäre wenden, hat, je »reiner« es sich gibt, das Moment des
Bruches in sich. Das Ich, das in Lyrik laut wird, ist eines, das sich
als dem Kollektiv, der Objektivität entgegengesetztes bestimmt und
ausdrückt; mit der Natur, auf die sein Ausdruck sich bezieht, ist es
nicht unvermittelt eins. Es hat sie gleichsam verloren und trachtet,
sie durch Beseelung, durch Versenkung ins Ich selber,
wiederherzustellen. Erst durch Vermenschlichung soll der Natur das
Recht abermals zugebracht werden, das menschliche
Naturbeherrschung ihr entzog. Selbst lyrische Gebilde, in die kein
Rest des konventionellen und gegenständlichen Daseins, keine
krude Stofflichkeit mehr hineinragt, die höchsten, die unsere
Sprache kennt, verdanken ihre Würde gerade der Kraft, mit der in
ihnen das Ich den Schein der Natur, zurücktretend von der
Entfremdung, erweckt. Ihre reine Subjektivität, das, was bruchlos
und harmonisch an ihnen dünkt, zeugt vom Gegenteil, vom Leiden
am subjektfremden Dasein ebenso wie von der Liebe dazu – ja ihre
Harmonie ist eigentlich nichts anderes als das Ineinanderstimmen
solchen Leidens und solcher Liebe. Noch das »Warte nur, balde /
ruhest du auch« hat die Gebärde des Trostes: seine abgründige
Schönheit ist nicht zu trennen von dem, was sie verschweigt, der
Vorstellung einer Welt, die den Frieden verweigert. Einzig indem
der Ton des Gedichtes mit der Trauer darüber mitfühlt, hält er fest,
daß doch Friede sei. Fast möchte man das in dem benachbarten
Gedicht gleichen Titels stehende »Ach, ich bin des Treibens müde«
als Interpretation von ›Wanderers Nachtlied‹ zu Hilfe holen.
Freilich, dessen Größe rührt daher, daß es nicht vom Entfremdeten,
Störenden redet, daß in ihm selber nicht die Unruhe des Objekts
dem Subjekt entgegensteht: vielmehr zittert dessen eigene Unruhe
nach. Verhießen wird eine zweite Unmittelbarkeit: das Menschliche,
die Sprache selber scheint, als wäre sie noch einmal die Schöpfung,
während alles Auswendige im Echo der Seele verklingt. Mehr als
Schein aber und zur ganzen Wahrheit wird es, weil, kraft des
sprachlichen Ausdrucks der guten Müdigkeit, noch über der
Versöhnung der Schatten der Sehnsucht bleibt und selbst der des
Todes: dem »Warte nur balde« wird mit dem rätselhaften Lächeln
von Trauer das ganze Leben zum kurzen Augenblick vor dem
Einschlafen. Der Ton des Friedens bezeugt, daß Frieden nicht
gelang, ohne daß doch der Traum zerbräche. Keine Macht hat der
Schatten über das Bild des zu sich selbst zurückgekehrten Lebens,
aber er verleiht als letzte Erinnerung an dessen Entstelltsein erst
dem Traum die schwere Tiefe unter dem schwerelosen Lied. Im
Angesicht der ruhenden Natur, von der die Spur des
Menschenähnlichen getilgt ist, wird das Subjekt der eigenen
Nichtigkeit inne. Unmerklich, lautlos streift Ironie das Tröstende
des Gedichts: die Sekunden vor der Seligkeit des Schlafes sind die
gleichen, die das kurze Leben vom Tode trennen. Diese erhabene
Ironie ist dann nach Goethe zur hämischen herabgesunken. Stets
aber war sie bürgerlich: zur Erhöhung des befreiten Subjekts gehört
als Schatten dessen Erniedrigung zum Austauschbaren, zum bloßen
Sein für anderes hinzu; zur Persönlichkeit das »Was bist du schon?«
Seine Authentizität jedoch hat das Nachtlied an seinem Augenblick:
der Hintergrund jenes Zerstörenden entrückt es dem Spiel, während
das Zerstörende noch keine Gewalt hat über die gewaltlose Macht
des Trostes. Man pflegt zu sagen, ein vollkommenes lyrisches
Gedicht müsse Totalität oder Universalität besitzen, müsse in seiner
Begrenzung das Ganze, in seiner Endlichkeit das Unendliche geben.
Soll das mehr sein als ein Gemeinplatz aus jener Ästhetik, die da als
Allerweltsmittel den Begriff des Symbolischen zur Hand hat, dann
zeigt es an, daß in jedem lyrischen Gedicht das geschichtliche
Verhältnis des Subjekts zur Objektivität, des Einzelnen zur
Gesellschaft im Medium des subjektiven, auf sich
zurückgeworfenen Geistes seinen Niederschlag muß gefunden
haben. Er wird um so vollkommener sein, je weniger das Gebilde
das Verhältnis von Ich und Gesellschaft thematisch macht, je
unwillkürlicher es vielmehr im Gebilde von sich aus sich
kristallisiert.
Sie können mir vorwerfen, ich hätte durch diese Bestimmung,
aus Angst vorm plumpen Soziologismus, das Verhältnis von Lyrik
und Gesellschaft so sublimiert, daß eigentlich nichts davon übrig
bleibt; gerade das nicht Gesellschaftliche am lyrischen Gedicht solle
nun sein Gesellschaftliches sein. Sie könnten mich an jene Karikatur
eines erzreaktionären Abgeordneten von Gustave Doré erinnern, der
sein Lob auf das ancien régime steigert zu dem Ausruf: »Und wem,
meine Herren, haben wir die Revolution von 1789 zu verdanken,
wenn nicht Ludwig XVI.!« Sie könnten das auf meine Auffassung
von Lyrik und Gesellschaft anwenden: in ihr spiele die Gesellschaft
die Rolle des hingerichteten Königs und die Lyrik die jener, die ihn
bekämpften; Lyrik sei aber so wenig aus der Gesellschaft zu
erklären wie die Revolution zum Verdienst des Monarchen zu
machen, den sie stürzte und ohne dessen Torheiten sie vielleicht zu
jenem Zeitpunkt nicht ausgebrochen wäre. Dahin steht, ob der
Abgeordnete Dorés wirklich nur ein dumm-zynischer
Propagandaredner war, so wie der Zeichner ihn verspottet, und ob
nicht an seinem unbeabsichtigten Witz mehr Wahrheit ist als der
gesunde Menschenverstand einräumt; Hegels Geschichtsphilosophie
hätte manches zur Rettung jenes Abgeordneten beizutragen.
Indessen will der Vergleich doch nicht recht stimmen. Lyrik soll
nicht aus der Gesellschaft deduziert werden; ihr gesellschaftlicher
Gehalt ist gerade das Spontane, das nicht schon folgt aus jeweils
bestehenden Verhältnissen. Aber die Philosophie – wiederum die
Hegels – kennt den spekulativen Satz, das Individuelle sei durchs
Allgemeine vermittelt und umgekehrt. Das will nun heißen, auch der
Widerstand gegen den gesellschaftlichen Druck sei nichts absolut
Individuelles, sondern in ihm regten, durchs Individuum und seine
Spontaneität hindurch, künstlerisch sich die objektiven Kräfte,
welche einen beengten und beengenden gesellschaftlichen Zustand
über sich hinaus treiben zu einem menschenwürdigen hin; Kräfte
also einer Gesamtverfassung, keineswegs bloß der starren
Individualität, die der Gesellschaft blind opponiert. Darf in der Tat
der lyrische Gehalt als ein vermöge der eigenen Subjektivität
objektiver angesprochen werden – und sonst wäre ja das Einfachste,
das die Möglichkeit von Lyrik als einer Kunstgattung stiftet: ihre
Wirkung auf andere als den monologisierenden Dichter, nicht zu
erklären – dann nur, wenn das sich in sich selbst Zurück-, in sich
selbst Hineinnehmen des lyrischen Kunstwerks, seine Entfernung
von der gesellschaftlichen Oberfläche, über den Kopf des Autors
hinweg gesellschaftlich motiviert ist. Das Medium dafür aber ist die
Sprache. Die spezifische Paradoxie des lyrischen Gebildes, die in
Objektivität umschlagende Subjektivität, ist gebunden an jenen
Vorrang der Sprachgestalt in der Lyrik, von dem der Primat der
Sprache in der Dichtung überhaupt, bis zur Form von Prosa,
herstammt. Denn die Sprache ist selber ein Doppeltes. Sie bildet
durch ihre Konfigurationen den subjektiven Regungen gänzlich sich
ein; ja wenig fehlt, und man könnte denken, sie zeitigte sie
überhaupt erst. Aber sie bleibt doch wiederum das Medium der
Begriffe, das, was die unabdingbare Beziehung auf Allgemeines und
die Gesellschaft herstellt. Die höchsten lyrischen Gebilde sind
darum die, in denen das Subjekt, ohne Rest von bloßem Stoff, in der
Sprache tönt, bis die Sprache selber laut wird. Die
Selbstvergessenheit des Subjekts, das der Sprache als einem
Objektiven sich anheimgibt, und die Unmittelbarkeit und
Unwillkürlichkeit seines Ausdrucks sind dasselbe: so vermittelt die
Sprache Lyrik und Gesellschaft im Innersten. Darum zeigt Lyrik
dort sich am tiefsten gesellschaftlich verbürgt, wo sie nicht der
Gesellschaft nach dem Munde redet, wo sie nichts mitteilt, sondern
wo das Subjekt, dem der Ausdruck glückt, zum Einstand mit der
Sprache selber kommt, dem, wohin diese von sich aus möchte.
Andererseits aber ist die Sprache auch nicht, wie es manchen der
heute geläufigen ontologischen Sprachtheorien gefiele, als Stimme
des Seins wider das lyrische Subjekt zu verabsolutieren. Das
Subjekt, dessen Ausdrucks, gegenüber der bloßen Signifikation
objektiver Inhalte, es bedarf, um jene Schicht der sprachlichen
Objektivität zu erlangen, ist keine Zutat zu deren eigenem Gehalt,
ist ihr nicht äußerlich. Der Augenblick der Selbstvergessenheit, in
dem das Subjekt in der Sprache untertaucht, ist nicht dessen Opfer
ans Sein. Er ist keiner der Gewalt, auch nicht der Gewalt gegen das
Subjekt, sondern einer von Versöhnung: erst dann redet die Sprache
selber, wenn sie nicht länger als ein dem Subjekt Fremdes redet
sondern als dessen eigene Stimme. Wo das Ich in der Sprache sich
vergißt, ist es doch ganz gegenwärtig; sonst verfiele die Sprache, als
geweihtes Abrakadabra, ebenso der Verdinglichung wie in der
kommunikativen Rede. Das weist aber zurück auf das reale
Verhältnis zwischen Einzelnem und Gesellschaft. Nicht bloß ist der
Einzelne in sich gesellschaftlich vermittelt, nicht bloß sind seine
Inhalte immer zugleich auch gesellschaftlich. Sondern umgekehrt
bildet sich und lebt die Gesellschaft auch nur vermöge der
Individuen, deren Inbegriff sie ist. Wenn einmal die große
Philosophie die freilich heute von der Wissenschaftslogik
verschmähte Wahrheit konstruierte, Subjekt und Objekt seien
überhaupt keine starren und isolierten Pole, sondern könnten nur aus
dem Prozeß bestimmt werden, in dem sie sich aneinander abarbeiten
und verändern, dann ist die Lyrik die ästhetische Probe auf jenes
dialektische Philosophem. Im lyrischen Gedicht negiert, durch
Identifikation mit der Sprache, das Subjekt ebenso seinen bloßen
monadologischen Widerspruch zur Gesellschaft, wie sein bloßes
Funktionieren innerhalb der vergesellschafteten Gesellschaft. Je
mehr aber deren Übergewicht übers Subjekt anwächst, um so
prekärer die Situation der Lyrik. Das Werk Baudelaires hat das als
erstes registriert, indem es, höchste Konsequenz des europäischen
Weltschmerzes, nicht bei den Leiden des Einzelnen sich beschied,
sondern die Moderne selbst als das Antilyrische schlechthin zum
Vorwurf wählte und kraft der heroisch stilisierten Sprache daraus
den dichterischen Funken schlug. Schon bei ihm kündet dabei ein
Verzweifeltes sich an, das eben nur auf der Spitze der eigenen
Paradoxie balanciert. Als dann der Widerspruch der poetischen
Sprache zur kommunikativen ins Extrem sich steigerte, ward alle
Lyrik zum va-banque-Spiel; nicht, wie die banausische Meinung es
möchte, weil sie unverständlich geworden wäre, sondern weil sie
vermöge des reinen zu sich selbst Kommens der Sprache als einer
Kunstsprache, durch die Anstrengung zu deren absoluter, von keiner
Rücksicht auf Mitteilung geschmälerter Objektivität, zugleich sich
entfernt von der Objektivität des Geistes, der lebendigen Sprache,
und eine nicht mehr gegenwärtige durch die poetische Veranstaltung
surrogiert. Das poetisierende, gehobene, subjektiv gewalttätige
Moment schwacher späterer Lyrik ist der Preis, den sie für den
Versuch zu zahlen hat, unverschandelt, fleckenlos, objektiv sich am
Leben zu erhalten; ihr falscher Glanz das Komplement zur
entzauberten Welt, der sie sich entwindet.
All das freilich bedarf der Einschränkung, um nicht mißdeutet
zu werden. Es war meine Behauptung, das lyrische Gebilde sei stets
auch der subjektive Ausdruck eines gesellschaftlichen
Antagonismus. Da aber die objektive Welt, welche Lyrik
hervorbringt, an sich die antagonistische ist, so geht der Begriff von
Lyrik nicht auf im Ausdruck der Subjektivität, der die Sprache
Objektivität schenkt. Nicht bloß verkörpert das lyrische Subjekt, je
angemessener es sich kundgibt, um so verbindlicher auch das
Ganze. Sondern die dichterische Subjektivität verdankt sich selber
dem Privileg: daß es nur den wenigsten Menschen je vom Druck der
Lebensnot erlaubt wurde, in Selbstversenkung das Allgemeine zu
ergreifen, ja überhaupt als selbständige, des freien Ausdrucks ihrer
selbst mächtige Subjekte sich zu entfalten. Die andern jedoch, jene,
die nicht nur dem befangenen dichterischen Subjekt fremd
gegenüberstehen, als wären sie Objekte, sondern die im
buchstäblichsten Verstand zum Objekt der Geschichte erniedrigt
wurden, haben das gleiche oder größeres Recht, nach dem Laut zu
tasten, in dem Leid und Traum sich vermählen. Dies
unveräußerliche Recht ist immer wieder durchgebrochen, wenn
auch so unrein, verstümmelt, fragmentarisch, intermittierend, wie es
denen nicht anders möglich ist, welche die Last zu tragen haben. Ein
kollektiver Unterstrom grundiert alle individuelle Lyrik. Meint diese
in der Tat das Ganze und nicht selber bloß ein Stück des
Besserhabens, Feinheit und Zartheit dessen, der es sich leisten kann,
zart zu sein, dann gehört die Teilhabe an diesem Unterstrom
wesentlich zur Substantialität auch der individuellen Lyrik: er wohl
macht überhaupt erst die Sprache zu dem Medium, in dem das
Subjekt mehr wird als nur Subjekt. Die Beziehung der Romantik
zum Volkslied ist dafür nur das sinnfälligste, sicherlich nicht das
eindringlichste Beispiel. Denn die Romantik verfolgt
programmatisch eine Art Transfusion des Kollektiven ins
Individuelle, kraft deren die individuelle Lyrik eher der Illusion
allgemeiner Verbindlichkeit technisch nachhing, als daß ihr jene
Verbindlichkeit aus sich selbst heraus zugefallen wäre. Oftmals
haben statt dessen Dichter, die jegliche Anleihe bei der
Kollektivsprache verschmähten, kraft ihrer geschichtlichen
Erfahrung an jenem kollektiven Unterstrom teil. Ich nenne
Baudelaire, dessen Lyrik nicht bloß dem juste milieu, sondern auch
jedem bürgerlichen sozialen Mitgefühl ins Gesicht schlägt und der
doch, in Gedichten wie den ›Petites vieilles‹ oder dem von der
Dienerin mit großem Herzen aus den ›Tableaux Parisiens‹, den
Massen, denen er seine tragisch-hochmütige Maske entgegenkehrte,
treuer war als alle Armeleutepoesie. Heute, da die Voraussetzung
jenes Begriffs von Lyrik, von dem ich ausgehe, der individuelle
Ausdruck, in der Krise des Individuums bis ins Innerste erschüttert
scheint, drängt an den verschiedensten Stellen der kollektive
Unterstrom der Lyrik nach oben, erst als bloßes Ferment des
individuellen Ausdrucks selbst, dann aber doch auch vielleicht als
Vorwegnahme eines Zustandes, der über bloße Individualität positiv
hinausgeht. Wenn die Übersetzungen nicht trügen, dann ist etwa
García Lorca, den die Schergen Francos ermordeten und den kein
totalitäres Regime hätte ertragen können, Träger solcher Kraft; und
der Name Brechts drängt sich auf als der des Lyrikers, dem
sprachliche Integrität zuteil ward, ohne daß er den Preis des
Esoterischen hätte entrichten müssen. Ich versage es mir, darüber zu
urteilen, ob hier in der Tat das dichterische Individuationsprinzip in
einem höheren aufgehoben ward, oder ob der Grund Regression, die
Schwächung des Ichs ist. Vielfach dürfte die kollektive Gewalt
zeitgenössischer Lyrik den sprachlichen und seelischen Rudimenten
eines noch nicht ganz individuierten, eines im weitesten Sinn
vorbürgerlichen Zustandes – dem Dialekt – sich verdanken. Die
traditionelle Lyrik aber, als die strengste ästhetische Negation der
Bürgerlichkeit, ist eben damit bis heute an die bürgerliche
Gesellschaft gebunden gewesen.
 
Weil prinzipielle Erwägungen nicht genügen, möchte ich an einigen
Gedichten das Verhältnis des dichterischen Subjekts, das allemal für
ein weit allgemeineres, kollektives Subjekt einsteht, zu der ihm
antithetischen gesellschaftlichen Realität konkretisieren. Dabei
werden die stofflichen Elemente, deren kein sprachliches Gebilde,
selbst die poésie pure nicht, ganz sich zu entäußern vermag, ebenso
der Interpretation bedürfen wie die sogenannten formalen.
Besonders wird hervorzuheben sein, wie beide sich durchdringen,
denn nur kraft solcher Durchdringung hält eigentlich das lyrische
Gedicht in seinen Grenzen den geschichtlichen Stundenschlag fest.
Indessen möchte ich nicht solche Gebilde wählen, wie das
Goethesche, an dem ich einiges hervorhob, ohne es zu analysieren,
sondern Späteres, Verse, denen nicht jene unbedingte Authentizität
eignet wie dem ›Nachtlied‹. Wohl haben die beiden, über die ich
etwas sagen will, an dem kollektiven Unterstrom Anteil. Ich möchte
aber Ihre Aufmerksamkeit vor allem darauf lenken, wie sich in
ihnen verschiedene Stufen eines widerspruchsvollen
Grundverhältnisses der Gesellschaft im Medium des poetischen
Subjekts darstellen. Wiederholen darf ich, daß es sich nicht um die
Privatperson des Dichters, nicht um seine Psychologie, nicht um
seinen sogenannten gesellschaftlichen Standpunkt handelt, sondern
eben um das Gedicht als geschichtsphilosophische Sonnenuhr.
Zunächst möchte ich Ihnen ›Auf einer Wanderung‹ von Mörike
vorlesen:
 
In ein freundliches Städtchen tret ich ein,
In den Straßen liegt roter Abendschein.
Aus einem offnen Fenster eben,
Über den reichsten Blumenflor
Hinweg, hört man Goldglockentöne schweben,
Und eine Stimme scheint ein Nachtigallenchor,
Daß die Blüten beben,
Daß die Lüfte leben,
Daß in höherem Rot die Rosen leuchten vor.
Lang hielt ich staunend, lustbeklommen.
Wie ich hinaus vors Tor gekommen,
Ich weiß es wahrlich selber nicht.
Ach hier, wie liegt die Welt so licht!
Der Himmel wogt in purpurnem Gewühle,
Rückwärts die Stadt in goldnem Rauch;
Wie rauscht der Erlenbach, wie rauscht im Grund die Mühle!
Ich bin wie trunken, irrgeführt –
O Muse, du hast mein Herz berührt
Mit einem Liebeshauch!
 
Auf drängt sich das Bild jenes Glücksversprechens, wie es heute
noch am rechten Tage von der süddeutschen Kleinstadt dem Gast
gewährt wird, aber ohne das leiseste Zugeständnis ans
Butzenscheibenhafte, an die Kleinstadtidylle. Das Gedicht gibt das
Gefühl der Wärme und Geborgenheit im Engen und ist doch
zugleich ein Werk des hohen Stils, nicht von Gemütlichkeit und
Behaglichkeit verschandelt, nicht sentimental die Enge gegen die
Weite preisend, kein Glück im Winkel. Rudimentäre Fabel und
Sprache helfen gleichermaßen, die Utopie der nächsten Nähe und
die der äußersten Ferne kunstvoll in eins zu setzen. Die Fabel weiß
vom Städtchen einzig als flüchtigem Schauplatz, nicht als von
einem des Verweilens. Die Größe des Gefühls, das ans Entzücken
über die Mädchenstimme sich schließt, und nicht diese allein,
sondern die der ganzen Natur, den Chor vernimmt, offenbart sich
erst jenseits des begrenzten Schauplatzes, unter dem offenen
purpurn wogenden Himmel, wo goldene Stadt und rauschender
Bach zur imago zusammentreten. Dem kommt sprachlich ein
unwägbar feines, kaum am Detail fixierbares antikes, odenhaftes
Element zu Hilfe. Wie von weit her mahnen die freien Rhythmen an
griechische reimlose Strophen, etwa auch das ausbrechende und
doch nur mit den diskretesten Mitteln der Wortumstellung bewirkte
Pathos der Schlußzeile der ersten Strophe: »Daß in höherem Rot die
Rosen leuchten vor.« Entscheidend das eine Wort Muse am Ende.
Es ist, als glänzte dies Wort, eines der vergriffensten des deutschen
Klassizismus, dadurch, daß es dem genius loci des freundlichen
Städtchens verliehen wird, noch einmal, wahrhaft wie im Licht der
untergehenden Sonne auf und wäre als schon verschwindendes all
der Gewalt der Entzückung mächtig, von der sonst der Anruf der
Muse mit Worten der neuzeitlichen Sprache komisch hilflos
abgleitet. Die Inspiration des Gedichts bewährt sich kaum in einem
seiner Züge so vollkommen wie darin, daß die Wahl des
anstößigsten Wortes an der kritischen Stelle, behutsam motiviert
durch den latent griechischen Sprachgestus, wie ein musikalischer
Abgesang die drängende Dynamik des Ganzen einlöst. Der Lyrik
gelingt im knappsten Raum, wonach die deutsche Epik selbst in
Konzeptionen wie ›Hermann und Dorothea‹ vergebens griff.
Die gesellschaftliche Deutung solchen Gelingens gilt dem
geschichtlichen Erfahrungsstand, der in dem Gedicht sich anzeigt.
Der deutsche Klassizismus hatte es unternommen, im Namen der
Humanität, der Allgemeinheit des Menschlichen, die subjektive
Regung der Zufälligkeit zu entheben, die ihr in einer Gesellschaft
droht, in der die Beziehungen zwischen den Menschen nicht mehr
unmittelbar, sondern bloß noch durch den Markt vermittelt sind. Er
hatte die Objektivierung des Subjektiven angestrebt, so wie Hegel in
der Philosophie, und versucht, im Geiste, in der Idee die
Widersprüche des realen Lebens der Menschen versöhnend zu
überwinden. Das Fortbestehen dieser Widersprüche in der Realität
jedoch hatte die geistige Lösung kompromittiert: gegenüber dem
von keinem Sinn getragenen, in der Geschäftigkeit konkurrierender
Interessen sich abquälenden oder, wie es der künstlerischen
Erfahrung sich darstellt, prosaischen Leben; gegenüber einer Welt,
in der das Schicksal der einzelnen Menschen nach blinden Gesetzen
sich vollzieht, wird Kunst, deren Form sich gibt, als rede sie aus der
gelungenen Menschheit, zur Phrase. Der Begriff des Menschen, wie
der Klassizismus ihn gewonnen hatte, zog darum in die private,
einzelmenschliche Existenz und ihre Bilder sich zurück; nur in
ihnen noch schien das Humane geborgen. Notwendig ward auf die
Idee der Menschheit als ganzer, sich selbst bestimmender, vom
Bürgertum wie in der Politik so in den ästhetischen Formen
verzichtet. Das sich Verstocken bei der Beschränktheit des je
Eigenen, das selber einem Zwang gehorcht, macht dann Ideale wie
die des Behaglichen und Gemütlichen so suspekt. Der Sinn selber
wird an die Zufälligkeit des individuellen Glücks gebunden;
gleichsam usurpatorisch wird ihm eine Würde zugeschrieben, die es
erst zusammen mit dem Glück des Ganzen erlangte. Die
gesellschaftliche Kraft im Ingenium Mörikes jedoch besteht darin,
daß er beide Erfahrungen, die des klassizistischen hohen Stils und
der romantischen privaten Miniatur verband und daß er dabei mit
unvergleichlichem Takt der Grenzen beider Möglichkeiten inne
ward und sie gegeneinander ausglich. In keiner Regung des
Ausdrucks überschreitet er, was zu seinem Augenblick wahrhaft
sich füllen ließ. Das vielberufene Organische seiner Produktion ist
wohl nichts anderes als jener geschichtsphilosophische Takt, wie ihn
kaum ein Dichter deutscher Sprache im selben Maße besaß. Die
angeblich krankhaften Züge Mörikes, von denen Psychologen zu
berichten wissen, auch das Versiegen seiner Produktion in späteren
Jahren sind der negative Aspekt seines zum Extrem gesteigerten
Wissens um das, was möglich ist. Die Gedichte des
hypochondrischen Cleversulzbacher Pfarrers, den man zu den
naiven Künstlern zählt, sind Virtuosenstücke, die kein Meister des
l'art pour l'art überbot. Das Hohle und Ideologische des hohen Stils
ist ihm so gegenwärtig wie das Mindere, kleinbürgerlich Dumpfe
und gegen die Totalität Verblendete des Biedermeiers, in dessen
Zeit der größere Teil seiner Lyrik fällt. Es treibt den Geist in ihm,
einmal noch Bilder zu bereiten, die weder an den Faltenwurf noch
an den Stammtisch sich verraten, weder an die Brusttöne noch ans
Schmatzen. Wie auf einem schmalen Grat findet sich in ihm, was
eben noch vom hohen Stil, verhallend, als Erinnerung nachlebt,
zusammen mit den Zeichen eines unmittelbaren Lebens, die
Gewährung verhießen, als sie selber von der historischen Tendenz
eigentlich schon gerichtet waren, und beides grüßt den Dichter, auf
einer Wanderung, nur noch im Entschwinden. Er hat schon Anteil
an der Paradoxie von Lyrik im heraufkommenden Industriezeitalter.
So schwebend und zerbrechlich wie erstmals seine Lösungen, sind
dann die der großen nachfolgenden Lyriker allesamt gewesen, auch
derer, die durch einen Abgrund von ihm getrennt erscheinen, wie
jenes Baudelaire, von dem doch Claudel sagte, sein Stil sei eine
Mischung aus dem Racines und dem des Journalisten seiner Zeit. In
der industriellen Gesellschaft wird die lyrische Idee der sich
wiederherstellenden Unmittelbarkeit, wofern sie nicht ohnmächtig
romantisch Vergangenes beschwört, immer mehr zu einem jäh
Aufblitzenden, in dem das Mögliche die eigene Unmöglichkeit
überfliegt.
Das kurze Gedicht von Stefan George, zu dem ich Ihnen nun
noch einiges sagen möchte, entstand in einer viel späteren Phase
dieser Entwicklung. Es ist eines der berühmten Lieder aus dem
›Siebenten Ring‹, aus einem Zyklus aufs äußerste verdichteter, in
aller Leichtigkeit des Rhythmus an Gehalt überschwerer Gebilde,
aller Jugendstilornamente ledig. Ihre verwegene Kühnheit hat erst
die Vertonung durch den großen Komponisten Anton von Webern
dem schmählichen Kulturkonservativismus des Kreises entrissen;
bei George klaffen Ideologie und gesellschaftlicher Gehalt weit
auseinander. Das Lied lautet:
 
Im windes-weben
War meine frage
Nur träumerei.
Nur lächeln war
Was du gegeben.
Aus nasser nacht
Ein glanz entfacht –
Nun drängt der mai
Nun muss ich gar
Um dein aug und haar
Alle tage
In sehnen leben.
 
Am hohen Stil ist keine Sekunde Zweifel. Das Glück der nahen
Dinge, das Mörikes so viel älteres Gedicht noch streift, verfällt dem
Verbot. Es wird fortgewiesen von eben jenem Nietzscheschen
Pathos der Distanz, als dessen Nachfahren George sich wußte.
Zwischen Mörike und ihm liegt abschreckend der Abhub der
Romantik; die idyllischen Reste sind ohne Hoffnung veraltet und zu
Herzenswärmern verkommen. Während Georges Dichtung, die
eines herrischen Einzelnen, die individualistische bürgerliche
Gesellschaft und den für sich seienden Einzelnen als Bedingung
ihrer Möglichkeit voraussetzt, ergeht über das bürgerliche Element
der einverstandenen Form nicht anders als über die bürgerlichen
Inhalte ein Bannfluch. Weil aber diese Lyrik aus keiner anderen
Gesamtverfassung als der von ihr nicht nur a priori und
stillschweigend, sondern auch ausdrücklich verworfenen
bürgerlichen reden kann, wird sie zurückgestaut: sie fingiert von
sich aus, eigenmächtig, einen feudalen Zustand. Das verbirgt sich
gesellschaftlich hinter dem, was das Cliché Georges aristokratische
Haltung nennt. Sie ist nicht die Pose, über die der Bürger sich
empört, der diese Gedichte nicht abtätscheln kann, sondern wird, so
gesellschaftsfeindlich sie sich gebärdet, von der gesellschaftlichen
Dialektik gezeitigt, die dem lyrischen Subjekt die Identifikation mit
dem Bestehenden und seiner Formenwelt verweigert, während es
doch bis ins Innerste dem Bestehenden verschworen ist: von keinem
anderen Ort aus kann es reden als dem einer vergangenen, selber
herrschaftlichen Gesellschaft. Ihm ist das Ideal des Edlen entlehnt,
das die Wahl eines jeden Wortes, Bildes, Klanges in dem Gedichte
diktiert; und die Form ist, auf eine kaum dingfest zu machende,
gleichsam in die sprachliche Konfiguration hineingetragene Weise,
mittelalterlich. Insofern ist das Gedicht, wie George insgesamt, in
der Tat neuromantisch. Beschworen aber werden nicht Realien und
nicht Töne, sondern eine entsunkene Seelenlage. Die artistisch
erzwungene Latenz des Ideals, die Abwesenheit jedes groben
Archaismus, hebt das Lied über die verzweifelte Fiktion hinaus, die
es doch bietet; mit der Wandschmuck-Poesie der Frau Minne und
der Aventuren läßt es so wenig sich verwechseln wie mit dem
Requisitenschatz von Lyrik aus der modernen Welt; sein
Stilisationsprinzip bewahrt das Gedicht vorm Konformismus. Für
die organische Versöhnung widerstreitender Elemente ist ihm so
wenig Raum gelassen, wie sie in seiner Epoche real mehr sich
schlichten ließen: bewältigt werden sie nur durch Selektion, durchs
Fortlassen. Wo nahe Dinge, das, was man gemeinhin konkret
unmittelbare Erfahrungen nennt, in Georges Lyrik überhaupt noch
Einlaß finden, ist er ihnen verstattet einzig um den Preis von
Mythologisierung: keine darf bleiben, was sie ist. So wird, in einer
der Landschaften des ›Siebenten Ringes‹, das Kind, das Beeren
pflückte, wortlos, wie mit dem Zauberstab, mit magischer
Gewalttat, ins Märchenkind verwandelt. Die Harmonie des Liedes
ist einem Äußersten an Dissonanz abgezwungen: sie beruht auf
dem, was Valéry refus nannte, auf einem unerbittlichen sich
Versagen alles dessen, woran die lyrische Konvention die Aura der
Dinge zu besitzen wähnt. Das Verfahren behält bloß noch Modelle
übrig, die reinen Formideen und Schemata des Lyrischen selber, die,
indem sie jegliche Zufälligkeit abwerfen, prall vor Ausdruck noch
einmal reden. Inmitten des Wilhelminischen Deutschland darf der
hohe Stil, dem jene Lyrik polemisch sich entrang, auf keinerlei
Tradition sich berufen, am letzten aufs klassizistische Erbe. Er wird
gewonnen, nicht, indem er etwas an rhetorischen Figuren und
Rhythmen sich vorgibt, sondern indem er asketisch ausspart, was
immer die Distanz von der vom Kommerz geschändeten Sprache
mindern könnte. Damit das Subjekt wahrhaft hier der
Verdinglichung in Einsamkeit widersteht, darf es nicht einmal mehr
versuchen, aufs Eigene wie auf sein Eigentum sich zurückzuziehen;
es schrecken die Spuren eines Individualismus, der unterdessen
selbst schon im Feuilleton dem Markt sich überantwortete, sondern
das Subjekt muß aus sich heraustreten, indem es sich verschweigt.
Es muß sich gleichsam zum Gefäß machen für die Idee einer reinen
Sprache. Ihrer Errettung gelten die großen Gedichte Georges.
Gebildet an den romanischen Sprachen, besonders aber an jener
Reduktion der Lyrik aufs Einfachste, durch die Verlaine sie ins
Instrument fürs Differenzierteste umschuf, hört das Ohr des
deutschen Mallarméschülers die eigene Sprache gleichwie eine
fremde. Er überwindet ihre Entfremdung, die durch den Gebrauch,
indem er sie übersteigert zur Entfremdung einer eigentlich schon
nicht mehr gesprochenen, ja einer imaginären, an der ihm aufgeht,
was in ihrer Zusammensetzung möglich wäre, doch nie geriet. Die
vier Zeilen »Nun muss ich gar / Um dein aug und haar / Alle tage /
In sehnen leben«, die ich zu dem Unwiderstehlichsten zähle, was
jemals der deutschen Lyrik beschieden war, sind wie ein Zitat, aber
nicht aus einem anderen Dichter, sondern aus dem von der Sprache
unwiederbringlich Versäumten: sie müßten dem Minnesang
gelungen sein, wenn dieser, wenn eine Tradition der deutschen
Sprache, fast möchte man sagen, wenn die deutsche Sprache selber
gelungen wäre. Aus solchem Geiste wollte dann Borchardt den
Dante übertragen. Subtile Ohren haben an dem elliptischen »gar«
sich gestoßen, das wohl an Stelle von »ganz und gar« und
einigermaßen um des Reimes willen verwandt ist. Man mag solche
Kritik ebenso zugestehen, wie daß das Wort, so wie es in den Vers
verschlagen ward, überhaupt keinen rechten Sinn gibt. Aber die
großen Kunstwerke sind jene, die an ihren fragwürdigsten Stellen
Glück haben; so etwa, wie die oberste Musik nicht rein aufgeht in
ihrer Konstruktion, sondern mit ein paar überflüssigen Noten oder
Takten über diese hinausschießt, verhält es sich auch mit dem »gar«,
einem Goetheschen »Bodensatz des Absurden«, mit dem die
Sprache der subjektiven Intention entflieht, die das Wort herbeizog;
wahrscheinlich ist es überhaupt erst dies »gar«, das mit der Kraft
eines déjà vu den Rang des Gedichtes stiftet: durch das seine
Sprachmelodie hinausreicht übers bloße Bedeuten. Im Zeitalter ihres
Untergangs ergreift George in der Sprache die Idee, die der Gang
der Geschichte ihr verweigerte, und fügt Zeilen zusammen, die
klingen, nicht als wären sie von ihm, sondern als wären sie von
Anbeginn der Zeiten da gewesen und müßten für immer so sein. Die
Donquixoterie dessen aber; die Unmöglichkeit solcher
wiederherstellenden Dichtung, die Gefahr des Kunstgewerbes
wächst noch dem Gehalt des Gedichts zu: die schimärische
Sehnsucht der Sprache nach dem Unmöglichen wird zum Ausdruck
der unstillbaren erotischen Sehnsucht des Subjekts, das im anderen
seiner selbst sich entledigt. Es bedurfte des Umschlags der ins
Maßlose gesteigerten Individualität zur Selbstvernichtung – und was
ist der Maximinkult des späten George anderes als die verzweifelt
positiv sich auslegende Abdankung von Individualität –, um die
Phantasmagorie dessen zu bereiten, wonach die deutsche Sprache in
ihren größten Meistern vergebens tastete, das Volkslied. Nur
vermöge einer Differenzierung, die so weit gedieh, daß sie die
eigene Differenz nicht mehr ertragen kann, nichts mehr, was nicht
das von der Schmach der Vereinzelung befreite Allgemeine im
Einzelnen wäre, vertritt das lyrische Wort das An-sich-Sein der
Sprache wider ihren Dienst im Reich der Zwecke. Damit aber den
Gedanken einer freien Menschheit, mag auch die Georgesche
Schule ihn mit niedrigem Höhenkultus sich selber verdeckt haben.
George hat seine Wahrheit daran, daß seine Lyrik in der Vollendung
des Besonderen, in der Sensibilität gegen das Banale ebenso wie
schließlich auch gegen das Erlesene, die Mauern der Individualität
durchschlägt. Zog ihr Ausdruck sich zusammen in den
individuellen, so wie sie ihn ganz mit Substanz und Erfahrung der
eigenen Einsamkeit sättigt, dann wird eben diese Rede zur Stimme
der Menschen, zwischen denen die Schranke fiel.
 Zum Gedächtnis Eichendorffs
 
Je devine, à travers un murmure
Le contour subtil des voix anciennes
Et dans les lueurs musiciennes,
Amour pâle, une aurore future!
Verlaine
 
Die Beziehung zur geistigen Vergangenheit in der falsch
auferstandenen Kultur ist vergiftet. Der Liebe zum Vergangenen
gesellt vielfach sich die Rancune gegen das Gegenwärtige; der
Glaube an einen Besitz, den man doch verliert, sobald man ihn
unverlierbar wähnt; das Wohlgefühl im vertraut Überkommenen, in
dessen Zeichen gern jene dem Grauen entfliehen, deren
Einverständnis es bereiten half. Die Alternative zu alldem scheint
schneidend: der Gestus »Das geht nicht mehr«. Allergie gegen das
falsche Glück der Geborgenheit bemächtigt eifernd sich auch des
Traumes vom wahren, und die gesteigerte Empfindlichkeit gegen
Sentimentalität zieht sich auf den abstrakten Punkt des bloßen Jetzt
zusammen, vor dem das Einst so viel gilt, als wäre es nie gewesen.
Erfahrung wäre die Einheit von Tradition und offener Sehnsucht
nach dem Fremden. Aber ihre Möglichkeit selber ist gefährdet. Der
Bruch in der Kontinuität historischen Bewußtseins, den Hermann
Heimpel erkannte, bewirkt eine Polarisierung in antiquarische, wo
nicht zu ideologischen Zwecken zurechtgestutzte Kulturgüter, und
in eine Aktualität, die, gerade weil es ihr an Erinnerung gebricht, auf
dem Sprung steht, dem bloß Bestehenden auch dort spiegelnd sich
zu verschreiben, wo sie ihm opponiert. Der Rhythmus von Zeit ist
verstört. Während die philosophischen Gassen von Zeitmetaphysik
widerhallen, ist Zeit den Menschen, einst gemessen am beständigen
Ablauf ihres Lebens, selber entfremdet; darum wohl wird sie so
krampfhaft beredet. Das wahrhaft tradierte Vergangene wäre in
seinem Gegenteil, in der fortgeschrittensten Gestalt des Bewußtseins
aufgehoben; fortgeschrittenes Bewußtsein aber, das seiner selbst
mächtig wäre und nicht fürchten müßte, von der nächsten
Information dementiert zu werden, hätte darum auch die Freiheit,
Vergangenes zu lieben. Große avantgardistische Künstler wie
Schönberg mußten nicht sich selber durch die Wut auf Vorfahren
bestätigen, daß sie deren Bann entrannen. Entronnene und Befreite,
durften sie die Tradition als ihresgleichen wahrnehmen, anstatt auf
einem Unterschied zu insistieren, der mit dem Gebot des radikalen,
gleichsam naturhaften Neubeginns nur die Geschichtshörigkeit
übertönt. Sie wußten sich als Vollstrecker des geheimen Willens
jener Tradition, die sie zerbrachen. Nur wo sie nicht mehr
durchbrochen wird, weil man sie nicht mehr spürt und darum auch
nicht die eigene Kraft an ihr erprobt, verleugnet man sie; was anders
ist, scheut nicht die Wahlverwandtschaft mit dem, wovon es abstößt.
Gegenwärtig wäre nicht das zeitlose Jetzt sondern eines, das
gesättigt ist mit der Kraft des Gestern und es darum nicht zu
vergötzen braucht. An dem avancierten Bewußtsein wäre es, das
Verhältnis zum Vergangenen zu korrigieren, nicht indem der Bruch
beschönigt wird, sondern indem man dem Vergänglichen am
Vergangenen das Gegenwärtige abzwingt und keine Tradition
unterstellt. Sie gilt so wenig mehr wie umgekehrt der Glaube, die
Lebenden hätten Recht gegen die Toten, oder die Welt finge mit
ihnen an.
Spröde widerstrebt Joseph von Eichendorff solcher Bemühung.
Die ihn preisen, sind vorab Kulturkonservative. Manche rufen ihn
als Kronzeugen einer positiven Religiosität an, wie er sie, zumal in
den literarhistorischen Arbeiten seiner Spätzeit, schroff dogmatisch
behauptete. Andere beschlagnahmen ihn in landsmannschaftlichem
Geiste, einer Art Stammespoetik Nadlerschen Schlages. Sie
möchten ihn gewissermaßen rücksiedeln, ihr »er war unser« soll
patriotischen Ansprüchen zugute kommen, mit deren jüngster
Gestalt sein restaurativer Universalismus doch wohl wenig gemein
hat. Solchen Anhängern gegenüber ist dann der zeitgemäße Hinweis
aufs Unzeitgemäße an Eichendorff nur allzu einleuchtend. Deutlich
erinnere ich mich aus meiner Gymnasialzeit daran, wie ein Lehrer,
der auf mich bedeutenden Einfluß ausübte, mich bei den Zeilen »Es
war, als hätt' der Himmel /Die Erde still geküßt«, die mir so
selbstverständlich waren wie Schumanns Komposition, auf die
Trivialität des Bildes aufmerksam machte. Ich war unfähig, der
Kritik zu begegnen, ohne daß sie mich doch recht überzeugt hätte,
wie denn Eichendorff allen Einwänden preisgegeben ist. Aber
dennoch gefeit gegen jeglichen. Was, nach Brahmsens Wort, jeder
Esel hört, prallt ab von der Qualität der Eichendorffschen Gedichte.
Wird sie indessen zum Geheimnis erklärt, das man zu respektieren
habe, so verbirgt hinter solchem demütigen Irrationalismus sich die
Trägheit, die angestrengte Passivität aufzubringen, welche das
Gedicht erheischt; am Ende auch die Bereitschaft, das einmal
Approbierte weiter zu bewundern und sich zu bescheiden mit der
vagen Überzeugung, daß irgend etwas daran mehr sei als in
Anthologien oder Klassikerausgaben aufgebahrte Lyrik. Zu einer
Stunde aber, zu der keine künstlerische Erfahrung mehr fraglos
vorgegeben ist; zu einer Stunde, da in unserer Kindheit keine
Autorität von Lesebüchern uns die Schönheit zueignet, die wir
verstehen, weil wir sie noch nicht verstehen, fordert jegliche
Anschauung des Schönen, daß wir den Grund wissen, warum es
schön genannt wird. Selbstgerecht und unwahr bleibt die Naivetät,
die davon sich dispensiert; der Gehalt des Kunstwerks, der Geist ist,
hat den Geist nicht zu fürchten, der sucht, ihn zu begreifen, sondern
sucht ihn selber.
Eichendorff erkennend vor Freunden und Feinden retten, ist das
Gegenteil sturer Apologie. Das Element seiner Gedichte, das dem
Männergesangverein überantwortet ward, ist nicht immun gegen
sein Schicksal und hat es vielfach herbeigezogen. Ein Ton des
Affirmativen, der Verherrlichung des Daseins schlechthin bei ihm
hat geradewegs in jene Lesebücher geführt. Die apokryphe
Unsterblichkeit freilich, die er dort fand, steht zu verachten nicht an.
Wer nicht als Kind »Wem Gott will rechte Gunst erweisen, / Den
schickt er in die weite Welt« auswendig lernte, kennt nicht eine
Schicht der Erhebung des Wortes über den Alltag, die kennen muß,
wer sie sublimieren, wer den Riß zwischen der menschlichen
Bestimmung und dem ausdrücken will, was die Einrichtung der
Welt aus ihm macht. So sind auch Schuberts Müllerlieder nur dem
ganz nah, der zuvor einmal die Vulgärkomposition von »Das
Wandern ist des Müllers Lust« im Schulchor mitgesungen hat.
Manche Verse von Eichendorff, »Am liebsten betracht' ich die
Sterne, / Die schienen, wenn ich ging zu ihr«, klingen wie Zitate
beim ersten Mal, memoriert nach dem Lesebuch Gottes.
Darum jedoch muß man die allzu ungebrochenen Töne nicht
verteidigen, mit denen Eichendorff lobt und dankt. In den
Generationen, die seit seinen Tagen vergingen, ist das Ideologische
am weltfrohen und geselligen Eichendorff hervorgetreten, um in der
Prosa manchmal Lächeln zu provozieren. Aber selbst um diese
Schicht ist es bei ihm nicht ganz einfach bestellt. Ein goethisch
angestimmtes geselliges Lied enthält die Zeilen:
 
Das Trinken ist gescheiter,
Das schmeckt schon nach Idee,
Da braucht man keine Leiter,
Das geht gleich in die Höh'.
 
Nicht bloß streift die studentenhaft saloppe Nennung des Wortes
Idee die große Philosophie, deren Zeitalter Eichendorff angehört,
sondern es wird eine über jenes Zeitalter weit hinausgreifende
Vergeistigung des Sinnlichen innerviert, wie sie nichts mit
verspäteter Anakreontik gemein hat und erst in den tödlichen
Weingedichten Baudelaires zu sich selber kam: so flüchtig und
ephemer ist von nun an die Idee, das Absolute, wie der Duft des
Weines. Wohl geziemt es nicht, nach einer verbreiteten
literarhistorischen Manier, Eichendorffs affirmativen Ton als dem
Dunklen entrungen zu rechtfertigen, von dem jene Gedichte und
Prosasätze wenig bezeugen. Aber fraglos sind sie doch verwandt mit
dem europäischen Weltschmerz. Ihm antwortet Eichendorffs
gekaufter Mut, jener Entschluß zur Munterkeit, wie er mit
befremdend paradoxer Gewalt am Ende eines der größten seiner
Gedichte, dem vom Zwielicht, sich bekundet: »Hüte dich, sei wach
und munter«. Was bei Schumann einmal »im fröhlichen Ton« heißt,
gleicht bei diesem wie bei Eichendorff schon dem Rilkeschen »Als
ob wir noch Fröhlichkeit hätten«:
 
Hinaus, o Mensch, weit in die Welt
Bangt dir das Herz in krankem Mut;
Nichts ist so trüb in Nacht gestellt,
Der Morgen leicht macht's wieder gut.
 
Die Ohnmacht solcher Strophen ist nicht die des beschränkten
Glücks, sondern der vergeblichen Beschwörung, und der Ausdruck
ihrer Vergeblichkeit, mit dem wohl skeptisch Wienerischen »leicht«
für »vielleicht«, ist zugleich die Kraft, die mit ihnen versöhnt.
Kinderangst will der Schluß des ›Zwielichts‹ übertäuben, aber:
»Manches bleibt in Nacht verloren«. Der späte Eichendorff hat die
verfrühte Dankbarkeit des jungen so nach Hause gebracht, daß sie
des eigenen Truges inne wird und die eigene Wahrheit doch festhält:
 
Mein Gott, dir sag' ich Dank,
Daß du die Jugend mir bis über alle Wipfel
In Morgenrot getaucht und Klang,
Und auf des Lebens Gipfel,
Bevor der Tag geendet,
Vom Herzen unbewacht
Den falschen Glanz gewendet,
Daß ich nicht taumle ruhmgeblendet,
Da nun herein die Nacht
Dunkelt in ernster Pracht.
 
So unwiederbringlich heute das Befriedete selbst dieser Verse dahin
ist, so strahlend leuchtet es, und längst nicht mehr bloß der
Todesnacht des Einzelnen. Eichendorff verherrlicht was ist und
meint doch nicht das Seiende. Er war kein Dichter der Heimat
sondern der des Heimwehs, im Sinne des Novalis, dem er nahe sich
wußte. Selbst in jenem »Es war als hätt' der Himmel«, das er unter
die ›Geistlichen Gedichte‹ einreihte und das klingt, als wäre es mit
dem Bogenstrich gespielt, trägt das Gefühl der absoluten Heimat nur
darum, weil es nicht unmittelbar die beseligte Natur meint, sondern
mit einem Akzent unfehlbaren metaphysischen Takts bloß
gleichnishaft ausgesprochen wird:
 
Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.
 
Anderswo schreckt die Katholizität des Dichters nicht zurück vor
der wie immer auch trauernden Zeile: »Das Reich des Glaubens ist
geendet.«
Gleichwohl ist Eichendorffs Positivität seinem
Konservativismus verschwistert, sein Lob dessen, was ist, der Idee
des Bewahrenden. Aber wenn irgendwo, dann hat in der Dichtung
der Stellenwert des Konservativismus zum äußersten sich verändert.
Hilft er heute, nach dem Zerfall der Tradition, als willkürliches Lob
von Bindungen, bloß zur Rechtfertigung eines schlechten
Bestehenden, so wollte er einmal auch ein sehr anderes, das erst an
seinem Gegensatz, der hereinbrechenden Barbarei, ganz sich wägen
läßt. Wieviel an Eichendorff aus der Perspektive des depossedierten
Feudalen stammt, ist so offenbar, daß gesellschaftliche Kritik daran
albern wäre; in seinem Sinne aber lag nicht nur die Restauration der
entsunkenen Ordnung, sondern auch der Widerstand gegen die
destruktive Tendenz des Bürgerlichen selber. Seine Überlegenheit
über alle Reaktionäre, die heute die Hand nach ihm ausstrecken,
bewährt sich daran, daß er, wie die große Philosophie seiner
Epoche, die Notwendigkeit der Revolution begriff, vor der ihn
schauderte: er verkörpert etwas von der kritischen Wahrheit des
Bewußtseins derer, die den Preis für den fortschreitenden Gang des
Weltgeistes zu entrichten haben. Seine Schrift über den Adel und
die Revolution enthält gewiß viel Beschränktes, und seine
Vorbehalte gegen den eigenen Stand sind nicht frei von
puritanischen Klagen über dessen »Seuche der Glanz-und
Genußsucht«, die freilich von ihm zusammengebracht werden mit
der unter den Feudalen sich ausbreitenden kapitalistischen
Gesinnung, mit ihrer Neigung, den Grundbesitz »in ihrer
beständigen Geldnot durch verzweifelte Güterspekulationen zur
gemeinen Ware« zu machen. Aber er hat nicht nur von den
»bramarbasierenden Haudegen des Siebenjährigen Krieges«
gesprochen, »die mit einer unnachahmlich lächerlichen
Manneswürde von einer gewissen Biderbigkeit Profession
machten«, sondern auch den deutschen Nationalisten der
Napoleonischen Ära den »Terrorismus einer groben Vaterländerei«
vorgeworfen. Teilt er, mit einem Einschlag von Sozialkritik, die der
Rechten seiner Zeit geläufigen Argumente gegen kosmopolitische
Nivellierung, so hat der Feudale doch keineswegs mit den Jahn und
Fries sich gemein gemacht. Überraschend sein Organ für die
revolutionären und auflösenden Sympathien der Aristokratie; er hat
sie bejaht: »Es brütete ... eine unheimliche Gewitterluft über dem
ganzen Lande, jeder fühlte, daß irgendetwas Großes im Anzuge sei,
ein unausgesprochenes, banges Erwarten, man wußte nicht von was,
hatte mehr oder minder alle Gemüter beschlichen. In dieser Schwüle
erschienen, wie immer vor nahenden Katastrophen, seltsame
Gestalten und unerhörte Abenteurer, wie der Graf St. Germain,
Cagliostro u.a., gleichsam als Emissäre der Zukunft.« Und er fand
Sätze über Figuren wie den Baron Grimm und den radikalen
Emigranten Grafen Schlabrendorf, die mit dem Cliché vom
Konservativen so wenig zusammenstimmen wie jene Partien der
Hegelschen Rechtsphilosophie, die von den über sich
hinaustreibenden Kräften der bürgerlichen Gesellschaft handeln. Die
Sätze lauten: »Aus diesen Sonderbündlern sind später, als die
Revolution zur Tat geworden, einige höchst denkwürdige
Charaktere hervorgegangen. So der rastlos unruhige
Freiheitsfanatiker Baron Grimm, unablässig wie der Sturmwind die
Flammen schürend und wendend, bis sie über ihm
zusammenschlugen und ihn selber verzehrten. So auch der berühmte
Pariser Einsiedler Graf Schlabrendorf, der in seiner Klause die
ganze soziale Umwälzung wie eine große Welttragödie
unangefochten, betrachtend, richtend und häufig lenkend, an sich
vorübergehen ließ. Denn er stand so hoch über allen Parteien, daß er
Sinn und Gang der Geisterschlacht jederzeit klar überschauen
konnte, ohne von ihrem wirren Lärm erreicht zu werden. Dieser
prophetische Magier trat noch jugendlich vor die große Bühne, und
als kaum die Katastrophe abgelaufen, war ihm der greise Bart bis an
den Gürtel gewachsen.« Wohl ist die Sympathie mit der Revolution
hier bereits zu gebildet zuschauender Humanität neutralisiert, aber
noch diese erhebt sich gebietend über den heutigen Kult des Heilen,
Organischen und Ganzheitlichen: Eichendorffs Bewahrendes ist
weit genug, sein eigenes Gegenteil mitzuumfassen. Seine Freiheit
zur Einsicht in das Unwiderrufliche des geschichtlichen Prozesses
ist dem Konservativismus der spätbürgerlichen Phase gänzlich
abhanden gekommen; je weniger die vorkapitalistischen Ordnungen
mehr sich wiederherstellen lassen, desto verbissener klammert sich
die Ideologie an deren angeblich geschichtloses, absolut verbürgtes
Wesen.
Das vorbürgerliche Ferment im Eichendorffschen
Konservativismus, das über die Bürgerlichkeit selber die Unruhe
von Sehnsucht, Ausbruch und seliger Nutzlosigkeit bringt, reicht
aber tief hinein bis in seine Lyrik. In Benjamins ›Einbahnstraße‹
heißt es: »Der Mann ..., der sich in Einklang mit den ältesten
Überlieferungen seines Standes oder seines Volkes weiß, stellt
gelegentlich sein Privatleben ostentativ in Gegensatz zu den
Maximen, die er im öffentlichen Leben unnachsichtlich vertritt, und
würdigt ohne leiseste Beklemmung des Gewissens sein eigenes
Verhalten insgeheim als bündigsten Beweis unerschütterlicher
Autorität der von ihm affichierten Grundsätze.« 1 Das könnte zwar
nicht auf Eichendorffs Privatleben, wohl aber auf seinen
dichterischen Habitus gemünzt sein. Hinzuzufügen wäre die Frage,
ob nicht eben solche Unzuverlässigkeit, neben dem Gesichertsein
selbst, auch das Korrektiv an der Sicherheit, die Transzendenz zu
einer bürgerlichen Gesellschaft ausdrücke, in der der Konservative
nicht ganz domestiziert ist und zu deren Gegnern ihn etwas hinzieht.
Sie werden bei Eichendorff von den Vaganten vertreten, den
Heimatlosen von einst als Boten an die Zukunft derer, die, wie es
bei Novalis die Philosophie will, überall zuhause sind. Nach dem
Lob der Familie als der Keimzelle der Gesellschaft wird man bei
ihm vergebens suchen. Enden einige Novellen – nicht der große
Jugendroman ›Ahnung und Gegenwart‹ – konventionell mit der Ehe
des Helden, so bekennt sich in der Lyrik der Dichter als der, welcher
keine Bleibe hat, mit unmißverständlichem Spott gegen das
Gebundensein. Das Motiv kommt aus dem Volkslied, aber die
Insistenz, mit der Eichendorff es wiederholt, sagt etwas über ihn
selber. Der Soldat singt: »Und spricht sie vom Freien: / So schwing
ich mich auf mein Roß – / Ich bleibe im Freien, / Und sie auf dem
Schloß.« Und der wandernde Musikant: »Manche Schöne macht
wohl Augen, / Meinet, ich gefiel' ihr sehr, / Wenn ich nur was wollte
taugen, / So ein armer Lump nicht wär. – / Mag dir Gott ein'n Mann
bescheren, / Wohl mit Haus und Hof versehn! / Wenn wir zwei
zusammen wären, / Möcht mein Singen mir vergehn.« Noch das
berühmte Gedicht von den zwei Gesellen würde verfehlen, wer
dächte, die Strophe vom ersten, der ein Liebchen fand, dem die
Schwieger Haus und Hof kaufte und der behaglich seine Familie
gründet, entwerfe das Bild richtigen Lebens. Die Schlußstrophe mit
dem jähen Weinen »Und seh ich so kecke Gesellen« gilt dem
mittleren Glück des ersten nicht weniger als dem verlorenen
zweiten; das richtige Leben ist zugehängt, vielleicht schon
unmöglich, und in der letzten Zeile: »Ach Gott, führ uns liebreich zu
dir!« sprengt niederbrechende Verzweiflung hilflos das Gedicht.
Ihr Gegenteil ist die Utopie: »Es redet trunken die Ferne / Wie
von künftigem, großem Glück!« – und nicht vom vergangenen: so
unzuverlässig war Eichendorffs Konservativismus. Es ist aber eine
schweifend erotische. Wie die Helden seiner Prosa schwanken
zwischen Frauenbildern, die ineinanderspielen, niemals
gegeneinander konturiert sind, so zeigt Eichendorffs Lyrik kaum ans
konkrete Bild einer Geliebten sich gebunden: eine jegliche
bestimmte Schöne wäre schon Verrat an der Idee schrankenloser
Erfüllung. Selbst in »Übern Garten durch die Lüfte«, einem der
passioniertesten Liebesgedichte der deutschen Sprache, erscheint
weder sie selber noch redet der Dichter von sich. Laut wird einzig
der Jubel: »Sie ist Deine, sie ist dein!« Über Namen und Erfüllung
ist ein Bilderverbot ergangen. Der älteren Tradition der deutschen
Dichtung war im Gegensatz zur französischen die unverhüllte
Darstellung des Sexus fremd, und sie hat auf ihrem mittleren Niveau
mit Prüderie und idealischem Philistertum bitter dafür zu büßen
gehabt. In ihren größten Repräsentanten aber ist ihr das
Verschweigen zum Segen angeschlagen, die Kraft des Ungesagten
ins Wort gedrungen und hat ihm seine Süße geschenkt. Noch das
Unsinnliche und Abstrakte ward bei Eichendorff zum Gleichnis für
ein Gestaltloses: archaisches Erbe, früher als die Gestalt und
zugleich späte Transzendenz, das Unbedingte über die Gestalt
hinaus. Das sinnlichste Gedicht aus seiner Hand hält sich im
nächtlich Unsichtbaren:
 
Über Wipfel und Saaten
In den Glanz hinein –
Wer mag sie erraten?
Wer holte sie ein?
Gedanken sich wiegen,
Die Nacht ist verschwiegen,
Gedanken sind frei.
 
Errät es nur eine,
Wer an sie gedacht,
Beim Rauschen der Haine,
Wenn niemand mehr wacht,
Als die Wolken, die fliegen –
Mein Lieb ist verschwiegen
Und schön wie die Nacht.
 
Der noch Zeitgenosse Schellings war, tastet nach den ›Fleurs du
mal‹, der Zeile: »O toi que la nuit rend si belle.« Eichendorffs
entfesselte Romantik führt bewußtlos zur Schwelle der Moderne.
Die Erfahrung des modernen Elements in Eichendorff, das heute
wohl erst offen liegt, führt am ehesten ins Zentrum des dichterischen
Gehalts. Es ist wahrhaft antikonservativ: Absage ans
Herrschaftliche, an die Herrschaft zumal des eigenen Ichs über die
Seele. Eichendorffs Dichtung läßt sich vertrauend treiben vom
Strom der Sprache und ohne Angst, in ihm zu versinken. Für solche
Generosität, die nicht haushält mit sich selber, dankt ihm der Genius
der Sprache. Die Zeile: »Und ich mag mich nicht bewahren!«, die in
einem seiner Gedichte vorkommt, das er selber an den Anfang von
deren Ausgabe setzte, präludiert in der Tat sein gesamtes oeuvre.
Hier zuinnerst ist er Schumanns Wahlverwandter, gewährend und
vornehm genug, noch das eigene Daseinsrecht zu verschmähen: so
verströmt die Ekstase des dritten Satzes von Schumanns
Klavierphantasie ins Meer. Todverfallen ist diese Liebe und
selbstvergessen. In ihr verhärtet das Ich nicht länger sich in sich
selber. Es möchte etwas gutmachen von dem uralten Unrecht, Ich
überhaupt zu sein. Eichendorff ist schon ein bâteau ivre, aber eines
noch auf dem Fluß zwischen grünen Ufern und mit bunten
Wimpeln. »Nacht, Wolken, wohin sie gehen, / Ich weiß es recht
gut«, heißt es aufgelöst expressionistisch in den gleichwohl dem
Volkslied nachgebildeten ›Nachtigallen‹: diese Konstellation ist der
ganze Eichendorff. Der wandernde Musikant sagt: »In der Nacht
dann Liebchen lauschte / An dem Fenster süß verwacht«, ein Bild
der Traumbefangenen mit wirrem Haar, von keiner exakten
Vorstellung mehr einzuholen, aber, durch die Synkopierung des
Ausdrucks, der die Süße des Mädchens und die Übernächtigkeit
ineinanderfügt, magischer als jegliche Beschreibung; im selben
Geist wird sie anderswo »ein süßverträumtes Kind« genannt.
Zuweilen sind bei Eichendorff Worte hingelallt, aller Kontrolle bar,
und die bis zum Extrem gediehene Lockerung nähert sie dem immer
schon Gewesenen: »Lied, mit Tränen halb geschrieben.«
Wie wenig ein Begriff von Kultur taugt, welcher die Künste
abschneidend auf einen Nenner bringt, bezeugt die deutsche
Dichtung, die, seit Lessing Shakespeare gegen den Klassizismus
wandte, im äußersten Gegensatz zur großen Musik und Philosophie,
nicht Integration, System, subjektiv gestiftete Einheit des
Mannigfaltigen wollte, sondern Ausatmen und Dissoziation. An
diesem deutschen Unterstrom, wie er vom Sturm und Drang und
vom jungen Goethe über Büchner und manches von Hauptmann bis
zu Wedekind, dem Expressionismus und Brecht treibt, hat
Eichendorff insgeheim Anteil. Seine Lyrik ist gar nicht
»subjektivistisch«, so, wie man von der Romantik es sich
vorzustellen pflegt: sie erhebt, als Preisgabe an die Impulse der
Sprache, stummen Einspruch gegen das dichterische Subjekt. Auf
kaum einen paßt das bequeme Schema vom Erlebnis und der
Dichtung schlechter als auf ihn. Das Wort »wirr«, eines seiner
liebsten, ist völlig anderen Sinnes als das »dumpf« des jungen
Goethe: es meldet die Suspension des Ichs, seine Preisgabe an ein
chaotisch Andrängendes an, während die Goethesche Dumpfheit
stets den seiner selbst gewissen Geist meint, der sich erst bildet. Ein
Eichendorffsches Gedicht beginnt: »Ich hör die Bächlein rauschen /
Im Walde her und hin, / Im Walde in dem Rauschen / Ich weiß
nicht, wo ich bin«: so weiß diese Lyrik überhaupt nie, wo ich bin,
weil das Ich sich vergeudet an das, wovon es flüstert. Genial falsch
ist die Metapher von den Bächlein, die »her und hin« rauschen, denn
die Bewegung der Bäche ist einsinnig, aber das Her und Hin gibt
das Verstörte dessen wieder, was die Laute dem Ich sagen, das
lauscht, anstatt sie zu lokalisieren; auch ein Stück Impressionismus
wird in solchen Wendungen antezipiert. An eine äußerste Grenze
gelangen jene Verse ›Zwielicht‹, die Thomas Mann besonders
liebte. In der Jagdszene aus ›Ahnung und Gegenwart‹, in die sie
eingeflochten sind, wahren sie, mit Eifersucht motiviert, eine
gewisse Oberflächen-Verständlichkeit. Aber sie reicht nicht weit.
Die Zeile: »Wolken ziehn wie schwere Träume« gewinnt der Lyrik
die spezifische Art des Meinens im deutschen Wort Wolken, zum
Unterschied etwa von nuage: das Wort Wolken und was es begleitet
zieht in diesem Vers dahin wie schwere Träume, gar nicht erst die
Gebilde, die es bedeutet. Vollends in der Fortsetzung bezeugt das
Gedicht, isoliert vom Roman, die Selbstentfremdung des Ichs, das
sich seiner entäußert hat, bis zum Wahnsinn der schizoiden
Mahnung: »Hast ein Reh du lieb vor andern, /Laß es nicht alleine
grasen«, und der Verfolgungsphantasie des Abgeschiedenen, die
ihm den Freund in den Feind verhext.
Eichendorffs Selbstentäußerung hat nichts gemein mit jener
Kraft gegenständlicher Anschauung, jener Fähigkeit zur Konkretion,
die das convenu dem dichterischen Vermögen gleichsetzt. Sein
lyrisches Werk neigt zum Abstrakten nicht bloß in der imago der
Liebe. Kaum je gehorcht es den Kriterien sinnlichdichter Erfahrung
von der Welt, die man von Goethe, Stifter, auch Mörike abgezogen
hat. Es weckt damit Zweifel am unbedingten Recht jener Kriterien
selbst als an einer Reaktionsbildung, dem Versuch, für das zu
kompensieren, was die idealistische Philosophie gerade dem
deutschen Geist entzog. In den Märchen der Grimmschen
Sammlung wird kein Wald je beschrieben oder auch nur
charakterisiert; und welcher Wald wäre doch so sehr einer wie der
aus den Märchen. Mit Recht hat Wolfdietrich Rasch auf die
Seltenheit von Zeilen »erhöhter Anschaulichkeit, mit besonderen
optischen Reizen« bei Eichendorff aufmerksam gemacht wie
»Schon funkelt das Feld wie geschliffen«. Nur ist es nicht mit der
rhetorischen Frage getan, ob es überhaupt nötig sei zu zeigen, worin
das Faszinierende seiner Verse beruhe. Denn er erreicht die
außerordentlichsten Wirkungen mit einem Bilderschatz, der bereits
zu seiner Zeit abgebraucht gewesen sein muß. Von jenem Schloß,
an dem Eichendorffs Sehnsucht haftete, ist nicht anders die Rede als
eben nur von dem Schloß; der obligate Vorrat von Mondschein,
Waldhörnern, Nachtigallen, Mandolinen wird aufgeboten, ohne daß
doch die Requisiten der Eichendorffschen Dichtung viel zuleide
täten. Dazu trägt bei, daß er an den Bruchstücken der lingua mortua
als erster wohl Ausdruckskraft entdeckt. Er hat die lyrischen
Valeurs von Fremdwörtern entbunden. In dem utopischen Gedicht
›Schöne Fremde‹ folgt unmittelbar auf das »Wirr wie in Träumen«
die »phantastische Nacht«, und das Abstraktum phantastisch, uralt
und unberührt in eins, ruft alles Gefühl der Nacht auf, das ein
genaueres Epitheton zerschnitte. Erweckt jedoch werden die
Requisiten nicht durch solche Funde, auch nicht durch neue
Anschauung, sondern durch die Konstellation, in die sie treten.
Totes erwecken will Eichendorffs Lyrik insgesamt, so wie der einer
Schonfrist bedürftige Spruch am Ende des ›Sängerleben‹
überschriebenen Abschnitts postuliert: »Schläft ein Lied in allen
Dingen, / Die da träumen fort und fort, /Und die Welt hebt an zu
singen, / Triffst du nur das Zauberwort.« Dies Wort, dem die wohl
von Novalis inspirierten Verse nachhängen, ist kein geringeres als
die Sprache selbst. Ob die Welt singt, darüber entscheidet, daß der
Dichter ins Schwarze, ins Sprachdunkle, trifft, als in ein zugleich an
sich schon Seiendes. Das ist der Antisubjektivismus des
Romantikers Eichendorff. Vorab wird man dabei, bei dem Dichter
des Heimwehs, in dem viel ungebrochener Barock gegenwärtig war,
an Allegorie gemahnt. Den Vollzug seiner allegorischen Intention
halten zwei Strophen fast protokollarisch fest:
 
Es zog eine Hochzeit den Berg entlang,
Ich hörte die Vögel schlagen,
Da blitzten viel Reiter, das Waldhorn klang,
Das war ein lustiges Jagen!
 
Und eh' ich's gedacht, war alles verhallt,
Die Nacht bedecket die Runde,
Nur von den Bergen noch rauschet der Wald,
Und mich schauert im Herzensgrunde.
 
In der Vision der sogleich verschwindenden Hochzeit zielt
Eichendorffs ganz unausgesprochene und darum um so
nachdrücklichere Allegorie ins Zentrum des allegorischen Wesens
selber, die Vergänglichkeit; der Schauer, der ihn vor dem
Ephemeren des Festes ergreift, das doch Dauer meint, verwandelt
die Hochzeit zurück in eine Geisterhochzeit; läßt das Jähe des
Lebens selber zum Gespenstischen erstarren. Stand am Anfang der
deutschen Romantik die spekulative Identitätsphilosophie, in der das
Gegenständliche Geist ist und der Geist Natur, dann verleiht
Eichendorff den bereits verdinglichten Dingen im Einstand noch
einmal die Kraft des Bedeutens, des über sich Hinausweisenden.
Dieser Augenblick des Aufblitzens einer gleichsam noch in sich
erzitternden Dingwelt erklärt wohl in einigem Maß das
Unverwelkliche am Welken bei Eichendorff. »Aus der Heimat
hinter den Blitzen rot«, hebt ein Gedicht an, als wäre das
Wetterleuchten ein geronnenes, Trauer verkündendes Stück der
Landschaft, wo Vater und Mutter lange tot sind. So gleichen
zuweilen die hellen Sonnenränder zwischen Gewitterwolken
Blitzen, die aus ihnen zünden könnten. Keines der Eichendorffschen
Bilder ist nur das, was es ist, und keines läßt sich doch auf seinen
Begriff bringen: dies Schwebende allegorischer Momente ist sein
dichterisches Medium.
Freilich erst das Medium. In seiner Dichtung sind die Bilder
wahrhaft nur Elemente, überantwortet dem Untergang im Gedicht
selber. Der vergessene deutsche Ästhetiker Theodor Meyer hat in
dem Buch ›Das Stilgesetz der Poesie‹, einer ebenso bescheiden
vorgetragenen wie kühn gedachten Konzeption, vor mehr als fünfzig
Jahren gegen den Lessingschen Laokoon und die an ihn sich
anschließende Tradition, und sicherlich ohne Kenntnis Mallarmés,
eine Theorie entwickelt, die etwa die Sätze zusammenfassen: »Es
könnte sich bei genauerem Betrachten ergeben, daß solche
Sinnenbilder mit der Sprache gar nicht geschaffen werden können,
daß die Sprache allem, was durch sie hindurchgeht, auch dem
Sinnlichen ihren eigenen Stempel aufdrückt; daß sie uns also das
Leben, das uns der Dichter zu genießendem Nacherleben darbieten
möchte, in psychischen Gebilden vorführt, die verschieden von den
Erscheinungen der sinnlichen Wirklichkeit nur unserer Vorstellung
eigen sind. Dann wäre die Sprache nicht das Vehikel, sondern das
Darstellungsmittel der Poesie. Denn nicht in Sinnbildern, die durch
die Sprache suggeriert wären, sondern in der Sprache selber und in
den durch sie geschaffenen ihr allein eigentümlichen Gebilden
bekämen wir den Gehalt. Man sieht, die Frage nach dem
Darstellungsmittel der Poesie ist nicht müßig, ist kein Streit um des
Kaisers Bart; sie wird alsbald zur Frage nach der Gebundenheit der
Kunst an die sinnliche Erscheinung. Sollte es sich finden, daß die
Lehre vom Vehikel ein Irrtum ist, der fallen muß, so fällt mit ihm
auch die Definition der Kunst als Anschauung.« 2 Das paßt genau
auf Eichendorff. Die »Sprache als Darstellungsmittel der Poesie«,
als ein Autonomes, ist seine Wünschelrute. Ihr dient die
Selbstauslöschung des Subjekts. Der sich nicht bewahren will,
findet für sich die Zeilen: »Und so muß ich, wie im Strome dort die
Welle, / Ungehört verrauschen an des Frühlings Schwelle.« Zum
Rauschen macht sich das Subjekt selber: zur Sprache, überdauernd
bloß im Verhallen wie diese. Der Akt der Versprachlichung des
Menschen, ein Wortwerden des Fleisches, bildet der Sprache den
Ausdruck von Natur ein und transfiguriert ihre Bewegung ins Leben
noch einmal. Rauschen war sein Lieblingswort, fast eine Formel;
das Borchardtsche »Ich habe nichts als Rauschen« dürfte als Motto
über Vers und Prosa Eichendorffs stehen. Dies Rauschen jedoch
wird von der allzu hastigen Erinnerung an Musik versäumt.
Rauschen ist kein Klang sondern Geräusch, der Sprache verwandter
als dem Klang, und Eichendorff selber stellt es als sprachähnlich
vor. »Er verließ schnell den Ort«, wird vom Helden des
›Marmorbildes‹ erzählt, »und immer schneller und ohne auszuruhen
eilte er durch die Gärten und Weinberge wieder fort, der ruhigen
Stadt zu; denn auch das Rauschen der Bäume kam ihm nun wie ein
verständiges, vernehmliches Geflüster vor, und die langen
gespenstischen Pappeln schienen mit ihren weitgestreckten Schatten
hinter ihm drein zu langen.« Das ist nochmals allegorischen
Wesens: als würde Natur dem Schwermütigen zur bedeutenden
Sprache. Aber die allegorische Intention wird in Eichendorffs
eigener Dichtung getragen nicht sowohl von der Natur, der er sie an
jener Stelle zuschreibt, als von seiner Sprache in ihrer
Bedeutungsferne. Sie ahmt Rauschen und einsame Natur nach.
Damit drückt sie eine Entfremdung aus, die kein Gedanke sondern
nur noch der reine Laut überbrückt. Doch auch das
Entgegengesetzte. Die erkalteten Dinge werden durch die
Ähnlichkeit ihres Namens mit ihnen selber heimgeholt, und der Zug
der Sprache erweckt jene Ähnlichkeit. Ein Potential des jungen
Goethe, der nächtigen Landschaft von ›Willkommen und Abschied‹,
wird bei Eichendorff zum Formgesetz: das der Sprache als zweiter
Natur, in der die vergegenständlichte, dem Subjekt verlorene diesem
wiederkehrt als beseelte. Eichendorff ist dem Bewußtsein davon
sehr nahe gekommen, und zwar nicht zufällig in einem Tafellied zu
Goethes Geburtstag 1831, dessen letztem: »Wie rauschen nun
Wälder und Quellen / Und singen vom ewigen Port.« Sagt Proust
von den Bildern Renoirs, daß, seit sie gemalt wurden, die Welt
selbst anders aussieht, so wird hier mit tiefem Blick an der Lyrik
Goethes das Ungeheure gerühmt, daß durch sie Natur selber sich
verändert habe, durch ihn die Rauschende geworden sei. Der »Port«
aber, den nach Eichendorffs Deutung Wälder und Quellen besingen,
ist die Versöhnung mit den Dingen durch die Sprache. Zur Musik
transzendiert sie erst kraft jener Versöhnung. Das Requisitenhafte
der Sprachelemente widerspricht dem nicht sowohl, als daß es die
Bedingung dafür abgibt. Die Sigel einer selber bereits
verdinglichten Romantik stehen in Eichendorffs Dichtung ein für
die Entzauberung der Welt, und an ihnen gerade gelingt die
Erweckung durch Selbstpreisgabe. Kraft gegen das Härteste hat bei
Eichendorff allein das Zarteste wie in Brechts Laotse-Gedicht: »Daß
das weiche Wasser in Bewegung mit der Zeit den Stein besiegt. Du
verstehst.« Das weiche Wasser in Bewegung: das ist das Gefälle der
Sprache, das, wohin sie von sich aus möchte, die Kraft des Dichters
aber die zur Schwäche, die, dem Sprachgefälle nicht zu widerstehen
eher als die, es zu meistern. Gegen den Vorwurf des Trivialen ist es
so wehrlos wie die Elemente; aber was es vollbringt: die Wörter
wegzuschwemmen von ihren abgezirkelten Bedeutungen und sie, in
dem sie sich berühren, aufleuchten zu machen, überführt
dergleichen Einwände der Armseligkeit pedantischen Gebildetseins.
Eichendorffs Größe ist nicht dort zu suchen, wo er gesichert ist,
sondern wo die Schutzlosigkeit seines Gestus am äußersten sich
exponiert. Das Gedicht ›Sehnsucht‹ lautet:
 
Es schienen so golden die Sterne,
Am Fenster ich einsam stand
Und hörte aus weiter Ferne
Ein Posthorn im stillen Land.
Das Herz mir im Leibe entbrennte,
Da hab' ich mir heimlich gedacht:
Ach, wer da mitreisen könnte
In der prächtigen Sommernacht!
 
Zwei junge Gesellen gingen
Vorüber am Bergeshang,
Ich hörte im Wandern sie singen
Die stille Gegend entlang:
Von schwindelnden Felsenschlüften,
Wo die Wälder rauschen so sacht,
Von Quellen, die von den Klüften
Sich stürzen in die Waldesnacht.
 
Sie sangen von Marmorbildern,
Von Gärten, die überm Gestein
In dämmernden Lauben verwildern,
Palästen im Mondenschein,
Wo die Mädchen am Fenster lauschen,
Wann der Lauten Klang erwacht
Und die Brunnen verschlafen rauschen
In der prächtigen Sommernacht.
 
Dies Gedicht, unvergänglich wie nur eines aus Menschenhand,
enthält kaum einen Zug, dem man nicht das Abgeleitete, Sekundäre
vorrechnen könnte, aber jeder dieser Züge wandelt sich in Charakter
durch die Fühlung mit dem nächsten. Was ließe von der nächtlichen
Landschaft Unverbindlicheres sich sagen, als daß sie still sei, und
was wäre fataler als das Posthorn; aber das Posthorn im stillen Land,
der tiefsinnige Widersinn, daß der Klang die Stille nicht sowohl
tötet, denn, als ihre eigene Aura, zur Stille erst macht, trägt
schwindelnd hinweg übers Gewohnte, und die unmittelbar
anschließende Zeile »Das Herz mir im Leibe entbrennte«, mit dem
ungebräuchlichen Präteritum, das gleichsam vom ungestümen
Pochen der Gegenwart nicht los kann, verbürgt durch den Kontrast
zu dem Vorhergehenden eine Würde und Eindringlichkeit, von der
kein einzelnes ihrer Worte etwas weiß. Oder: wie schwach wäre,
nach allen Maßstäben des Gewählten, für die Sommernacht das
Attribut »prächtig«. Aber das Assoziationsfeld des Adjektivs
begreift die von Menschen geschaffene Schönheit, allen Reichtum
von Stoff und Stickerei in sich ein und nähert damit das Bild des
gestirnten Himmels dem uralten von Mantel und Gezelt: die
ahnungsvolle Erinnerung daran macht es glühen. Wie offen zutage
liegt die Abhängigkeit der vier Zeilen übers Gebirge von denen aus
»Kennst du das Land«, aber wie weltfern von dem mächtig
festbannenden »Es stürzt der Fels und über ihn die Flut« Goethes ist
das Pianissimo des »Wo die Wälder rauschen so sacht«, das
Paradoxon eines leisen, gleichsam nur noch im akustischen
Innenraum vernehmbaren Rauschens, in das die heroische
Landschaft zerrinnt, opfernd die Bestimmtheit der Bilder für ihre
Flucht in offene Unendlichkeit. So ist auch das Italien des Gedichts
nicht bestätigtes Ziel der Sinne, sondern selber wiederum nur
Allegorie der Sehnsucht, voll des Ausdrucks der Vergängnis, des
»Verwilderten«, kaum Gegenwart. Die Transzendenz der Sehnsucht
aber ist gebannt im Ende des Gedichts, einem Formeinfall des
Genius, der im metaphysischen Gehalt entspringt. Wie in
musikalischer Reprise schließt es sich kreishaft zusammen. Als
Erfüllung der Sehnsucht dessen, der da mitreisen möchte in der
prächtigen Sommernacht, erscheint die prächtige Sommernacht
noch einmal, Sehnsucht selbst. Das Gedicht rankt sich gleichsam um
den Goetheschen Titel ›Selige Sehnsucht‹: Sehnsucht mündet in
sich als in ihr eigenes Ziel, so wie, in ihrer Unendlichkeit, der
Transzendenz über alles Bestimmte, der Sehnsüchtige den eigenen
Zustand erfährt; so wie Liebe stets so sehr der Liebe gilt wie der
Geliebten. Denn wie das letzte Bild des Gedichts die Mädchen
erreicht, die am Fenster lauschen, enthüllt es sich als erotisch; aber
das Schweigen, mit dem allerorten Eichendorff Begierde zudeckt,
schlägt um in jene oberste Idee des Glücks, worin Erfüllung als
Sehnsucht selber sich offenbart, die ewige Anschauung der Gottheit.
 
Eichendorff zählt, nach der Periodisierung der Geistesgeschichte
und auch dem eigenen Habitus nach, bereits in die Phase des
Verfalls der deutschen Romantik. Wohl hat er viele aus der ersten
Generation, darunter Clemens Brentano, noch gekannt, aber das
Band scheint zerrissen; nicht zufällig hat er den deutschen
Idealismus, nach Schlegels Wort, eine der großen Tendenzen des
Zeitalters, mit dem Rationalismus verwechselt. Er hat den
Nachfolgern Kants, für den er einsichtsvolle und ehrfürchtige Worte
fand, »eine Art chinesischer Schönmalerei ohne allen Schatten, der
doch das Bild erst wahrhaft lebendig macht« in vollkommenem
Mißverständnis vorgeworfen und an ihnen kritisiert, daß sie »das
Geheimnisvolle und Unerforschliche, das sich durch das ganze
menschliche Dasein hindurchzieht, ohne weiteres als störend und
überflüssig negierten«. Dem Bruch der Tradition, den solche
ununterrichteten Sätze dessen bekunden, der selber noch im
Heidelberg der großen Jahre studierte, entspricht seine Stellung zu
den romantischen Errungenschaften als zu einem Erbe. Aber weit
entfernt davon, daß dergleichen geistesgeschichtliche Reflexionen
Eichendorffs Lyrik minderten, beweisen sie nur das Läppische einer
Betrachtungsweise nach dem Schema von Aufstieg, Höhe und
Verfall. Den Dichtungen Eichendorffs fiel mehr zu als denen der
Inauguratoren der deutschen Romantik, die ihm bereits historisch
waren und die er kaum mehr recht begriff. Hat Romantik, nach dem
Wort eines anderen ihrer Spätlinge, Kierkegaard, an jedem Erlebnis
die Taufe der Vergessenheit vollzogen und es der Ewigkeit der
Erinnerung geweiht, dann bedurfte es wohl der Erinnerung, um der
Idee der Romantik ganz Genüge zu tun, die ihrer eigenen
Unmittelbarkeit und Gegenwart widersprach. Erst die
abgeschiedenen Worte sind, von Eichendorffs Munde gesprochen,
zur Natur zurückgekehrt, erst die Trauer um den verlorenen
Augenblick hat errettet, was der lebendige bis heute stets wieder
versäumte.
 
CODA: SCHUMANNS LIEDER
 
Schumanns Liederkeis nach Eichendorff-Gedichten op. 39 ist einer
der großen lyrischen Zyklen der Musik. Diese bilden, seit Schuberts
Müllerliedern und der ›Winterreise‹ bis zu den Georgeliedern op. 15
von Schönberg, eine eigentümliche Form, welche die Gefahr allen
Liedwesens, die Verniedlichung der Musik in genrehafte
Kleinformate, bannt durch Konstruktion: das Ganze steigt aus dem
Zusammenhang miniaturhafter Elemente auf. Der Rang des
Schumannschen Zyklus ward so wenig je in Zweifel gezogen wie
sein Zusammenhang mit der glücklichen Wahl großer Dichtung.
Viele der bedeutendsten Eichendorff- Verse sind darunter, und die
wenigen anderen haben durch besondere Eigentümlichkeiten die
Komposition inspiriert. Mit Grund nennt man die Lieder kongenial.
Das heißt aber nicht, daß sie den lyrischen Gehalt ihres Vorwurfs
bloß wiederholten; dann wären sie, nach höchster künstlerischer
Ökonomie, überflüssig. Sondern sie bringen ein Potential der
Gedichte heraus, jene Transzendenz zum Gesang, die entspringt in
der Bewegung über alles bildhaft und begrifflich Bestimmte hinweg,
im Rauschen des Wortgefälles. Die Kürze der gewählten Texte –
keine Komposition außer der gleichsam exterritorialen dritten ist
länger als zwei Seiten – erlaubt jeder einzelnen äußerste Präzision
und schließt mechanische Wiederholung vorweg aus. Meist handelt
es sich um variierte Strophenlieder, zuweilen um dreiteilige
Liedformen nach dem Grundriß a-b-a, einigemale auch um ganz
unkonventionelle, in einen Abgesang mündende Formen. Die
Charaktere sind aufs genaueste gegeneinander ausgewogen, sei es
durchs Mittel sich steigernder Kontraste, sei es durch verbindende
Übergänge. Gerade die Profiliertheit der einzelnen Charaktere
macht aber den Plan des Ganzen notwendig, wenn es nicht in
Details sich zersplittern soll; die unausrottbare Frage, ob ein solcher
Plan dem Komponisten bewußt war, ist gleichgültig gegenüber dem
Komponierten. Wird immer wieder von Schumanns Formalismus
geredet, so mag etwas daran sein, solange es um die überlieferten
und ihm bereits entfremdeten Formen sich handelt; wo er sich
eigene schafft, wie in seinen früheren Instrumental- und
Vokalzyklen, bewährt er nicht nur den subtilsten Formsinn sondern
obendrein einen von äußerster Originalität. Alban Berg hat, in seiner
exemplarischen Analyse der ›Träumerei‹ und ihrer Stellung in den
›Kinderszenen‹, zum ersten Mal, zwingend, darauf aufmerksam
gemacht. Der Aufbau der Eichendorfflieder, in vielem den
›Kinderszenen‹ verwandt, erheischt ähnliche Einsicht, wenn man
über die bloß wiederholende Beteuerung ihrer Schönheit
hinausgelangen will.
Jener Aufbau des Liederkreises steht im engsten Verhältnis zum
Gehalt der Texte. Wörtlich ist der von Schumann herrührende Titel
›Liederkreis‹ zu nehmen: die Folge schließt sich den Tonarten nach
zusammen und durchmißt zugleich einen modulatorischen Weg von
der Melancholie des ersten, in fis-moll, zur Ekstase des letzten im
Dur des gleichen Tons. Ähnlich wie die ›Kinderszenen‹ ist das
Ganze zweiteilig gegliedert; und zwar im einfachsten
Symmetrieverhältnis, mit der Zäsur nach dem sechsten Lied. Sie
wäre durch ein deutliches Absetzen zu markieren. Das letzte Lied
des ersten Teils, ›Schöne Fremde‹, steht in H-Dur, mit
entschiedenem Aufstieg in die Dominanzregion; das letzte des
gesamten Zyklus, in Fis-Dur, führt diesen Aufstieg noch um eine
Quint weiter. Dies architektonische Verhältnis drückt ein poetisches
aus: das sechste Lied endet mit der Utopie des künftigen großen
Glücks, mit Ahnung; das letzte, die ›Frühlingsnacht‹ mit dem Jubel:
»Sie ist Deine, sie ist dein«, mit Gegenwart. Verstärkt wird die
Zäsur durch den Tonartenplan. Während die Lieder des ersten Teils
allesamt in Kreuztonarten geschrieben sind, senken sie sich zu
Beginn des zweiten Teils zweimal nach a-moll, ohne Vorzeichen,
um dann die im ersten Teil vorwaltenden Tonarten reprisenhaft
wieder aufzunehmen, bis die Anfangstonart erreicht und zugleich
mit der Versetzung in Dur die stärkste modulatorische Steigerung
bewirkt wird. Die Folge der Tonarten ist bis ins einzelne balanciert;
das zweite Lied bringt die Dur-Parallele zum ersten, das dritte deren
Dominante; das vierte senkt sich ins terzverwandte G-Dur, das
fünfte stellt das vorausgehende E-Dur wieder her, und das sechste
erhebt sich weiter nach H-Dur. Von den beiden a-moll-Liedern des
zweiten Teils schließt das erste auf einem Dominantakkord, der das
Gedächtnis an E-Dur wachruft; das anschließende, ›In der Fremde‹,
anstatt in a-moll in A-Dur, das folgende erreicht dann wiederum
E-Dur als Dominanz-Tonart von A-Dur, analog dem
architektonischen Verhältnis des dritten zum zweiten. Ähnlich
korrespondiert das zehnte, in e-moll, dem vierten in G-Dur, beide in
Tonarten mit nur einem Kreuz. Anstelle des E-Dur des fünften
jedoch bringt das elfte nur A-Dur und verleiht dadurch dem
Übergang in die extreme Tonart, Fis-Dur, mit der großen Spannung
allen modulatorischen Nachdruck. –
Diese harmonischen Proportionen vermitteln die innere Form
des Zyklus. Er beginnt also mit zwei lyrischen Stücken, traurig das
eine, im abgerungen fröhlichen Ton das zweite. Das dritte,
›Waldesgespräch‹, die Loreleiballade, kontrastiert ebenso durch den
erzählenden Ton wie durch die breitere Anlage und den
doppelstrophischen Bau; im ersten Teil nimmt es eine ähnliche
Sonderstellung ein wie dann im zweiten die an analoger Stelle
lokalisierte ›Wehmut‹. Das vierte und fünfte Lied wenden sich zum
intimen Charakter zurück, steigern aber dessen Zartheit, ›Die Stille‹,
ein piano-, die ›Mondnacht‹, ein pianissimo- Lied. Das sechste, die
›Schöne Fremde‹, bringt den ersten großen Ausbruch. Der zweite
Teil wird eröffnet von einem Stück zwischen Lied und Ballade, und
auch das folgende gibt den lyrischen Ausdruck im Medium des
Erzählens. Die ›Wehmut‹ dann ist formal ein Intermezzo wie zuvor
das ›Waldesgespräch‹, nun aber lyrisch ganz und gar, gleichsam die
Selbstreflexion des Zyklus. Das zehnte Lied, ›Zwielicht‹, erreicht,
wie das Gedicht es verlangt, den Schwerpunkt des Ganzen, die
tiefste, dunkelste Stelle des Gefühls. Es zittert nach im elften, der
Jagdvision ›Im Walde‹. Darauf endlich, mit dem stärksten Kontrast
des gesamten Zyklus, die Elevation der ›Frühlingsnacht‹. –
Zu den einzelnen Liedern mag so viel bemerkt sein: das erste,
›In der Heimat hinter den Blitzen rot‹, ist »Nicht schnell«
überschrieben und wird darum stets zu langsam genommen; man
muß es in ruhigen Halben, nicht in Vierteln denken. Auffallend
vorab die dissonierenden Akkordakzente; der kurze Mittelteil kennt
ein bleich schimmerndes Dur, mit kurzen Motivansätzen im Klavier;
eine unbeschreiblich ausdrucksvolle harmonische Variante fällt auf
die Worte »Da ruhe ich auch«. Innerhalb der Gesamtform des
Zyklus erfüllt das Lied einleitende Funktion. Es geht melodisch
noch nicht aus sich heraus, hält meist mit Sekundintervallen haus. –
Das zweite Lied, ›Dein Bildnis wunderselig‹, am ehesten
Schumanns Heinegesängen vergleichbar, hat einen drängenden
Mittelteil, dessen Impuls von der Reprise nach Hause gebracht wird.
Diese beginnt mit einer Dehnung der Dominante, unter Aussparung
der Tonika, so daß der harmonische Strom über den Formeinschnitt
hinwegfließt. Abermals gibt es Ansätze selbständiger
Nebenstimmen, eine Art hingetuschten harmonischen Kontrapunkts,
der für den Stil des ganzen Werkes charakteristisch ist; folgerecht
arbeitet dann auch das Nachspiel mit Imitationen des Themas durch
seine Gegenbewegung. – Das ›Waldesgespräch‹ ist eines jener
Schumannmodelle, aus denen Brahms entsprang. Die Form bildet
der Kontrast des Balladenberichts und der Geisterstimme.
Musikalisch am originellsten sind die zwiespältigen alterierten
Akkorde, welche die drohende Lockung ausdrücken. – Das vierte,
ganz vor sich hingesungene Lied bricht in der Mitte jäh aus und
nimmt sogleich ins Leise sich zurück. Zum Wort »wissen« wird ein
quartiger Akkord angeschlagen, der, durch doppelte
Vorhaltsbildung, gefärbt ist wie vom Triangel. – Von der
›Mondnacht‹ läßt so schwer sich reden, wie, nach Goethes Diktum,
von allem, was eine große Wirkung getan hat. Doch darf bei der
Komposition, der tongewordenen Klarheit, wenigstens auf Züge
verwiesen werden, durch die sie der Monotonie entgeht, wie die
hinzugefügte Sekundreibung in der zweiten Strophe bei den Worten
»durch die Felder«. Sigel des Liedes ist der große Nonenakkord, mit
dem es anhebt. Durch die Setzweise und seine figurative Auflösung
hält er sich diesseits des Schwelgerischen, das er vielfach bei
Wagner, Strauss und später annimmt. Vielmehr suggerieren die
übereinander geschichteten Terzen das Gefühl des Gedichts, indem
das Ohr dieselben Intervalle wie ins Unendliche fortsetzt, über das
real Erklingende hinaus, während zugleich die Identität des
Terzenintervalls eben jene Klarheit rettet, aus deren Verhältnis zum
Unendlichen der Ton des Liedes resultiert. Die Form nähert sich
dem Bar; die letzte Strophe zeichnet als Abgesang die ausgreifende
Gebärde des Gedichts nach, während doch die beiden letzten Zeilen
Reprise des Beginns bleiben und das transzendierende Gebilde
wiederum in sich verschließen. Der rhythmischen Dehnung zu den
Schlußworten »Als flöge sie nach Haus«, wo aus zwei
Dreiachteltakten ein großer Dreivierteltakt wird, dürfte kein Ohr
sich versagen, das sie einmal wahrgenommen hat. Dies
auskomponierte Ritardando hat ein Brahmsisches Verfahren
gezeitigt, das endlich die bei Schumann unbestrittene Vorherrschaft
der achttaktigen Periode brach. – Die ›Schöne Fremde‹ setzt auf der
dritten Stufe ein, gewissermaßen in schwebender Tonalität, so daß
das H-Dur des ekstatischen Schlusses wirkt, als wäre es nicht
vorweg da, sondern aus dem Gang der Melodie erst erzeugt; das
Wort »phantastisch« spiegelt sich in einer süß eindringenden
Dissonanz. Auch hier hat die Schlußstrophe deutlich das Wesen des
Abgesangs; aber in dem Lied ist insgesamt auf Symmetrie durch
Wiederholung verzichtet, es strömt mit wahrhaft unerhörter Freiheit
dorthin, wo es melodisch und harmonisch hinaus will.
›Auf einer Burg‹, das ritterromantische Stück, mit dem der
zweite Teil anhebt, wird ausgezeichnet durch die kühnen, bei
Schumann und im früheren neunzehnten Jahrhundert wohl
einzigartigen Dissonanzen, die aus dem Zusammenstoß der
melodischen Linie mit den choralhaften Bindungen der an
Nebenstufen reichen Begleitung resultieren; es ist, als hätte die
Modernität dieser Harmonisierung vorweg das Gedicht vorm
Veralten schützen wollen. – Das gedämpft hastende ›Ich hör die
Bächlein rauschen‹ ist aus einfachsten Zweitaktern, ohne jede
rhythmische Variation gefügt, aber mit derart expressiven
harmonischen Nuancen und, am Schluß, einem so grellen Akzent,
daß gleichwohl die wildeste Rührung davon ausgeht. – Das
Adagio-Intermezzo ›Wehmut‹ hält sich im undurchbrochenen
Legatosatz harmonischer Instrumentalstimmen; die modulatorische
Ausweichung in die Unterdominanzregion beim Wort »Sehnsucht«
läßt jedoch darauf eine Sekunde lang schräg, wie von außen,
trübsinniges Licht fallen; gegen das angedeutete D-Dur scheint die
Haupttonart E-Dur kränklich aufzuleuchten. – ›Zwielicht‹, vielleicht
das großartigste Stück des Zyklus, der Form nach einfaches
Strophenlied, ist als starker Kontrast zum vorhergehenden
kontrapunktisch, mit jener unendlich produktiven Umdeutung
Bachs, an der der Historismus sich stößt, während also verwandelt
Bach wahrhaft nachlebt. Das umgedachte Vorbild ist wohl das
Thema der h-moll-Fuge aus dem ersten Band des Wohltemperierten
Klaviers. Das c im Kontrapunkt des zweiten Takts, aus der
harmonischen Molltonleiter gewonnen, hat eine Art von Schwere,
die dann dem Ganzen, horizontal und vertikal, sich mitteilt, die
ganze Musik in die Tiefe hinunterzieht. Die erste und zweite
Strophe endet im dunklen Ton eines lang hallenden Akkords, als
tönte das Lied in einem hohlen Raum; die dritte, »Hast du einen
Freund hinnieden«, verdichtet das kontrapunktische Gewebe durch
Hinzufügung einer dritten selbständigen Stimme; die vierte
schließlich vereinfacht das Lied, bei identischer Melodie, ins
Homophone und faßt die merkwürdige letzte Zeile, »Hüte dich, sei
wach und munter«, aufs knappste, rezitativisch. – Das folgende
Lied, ›Im Walde‹, wird erzeugt aus der anschlagenden
Tonwiederholung des Horns und dem immer wiederkehrenden
Gegensatz von Ritardando und a tempo, der übrigens der
Darstellung außerordentliche Schwierigkeiten bereitet. Schumanns
Formsinn triumphiert darin, daß er, gleichsam um die hartnäckig
retardierenden Momente auszugleichen, einen fast widerstandslos
gleitenden und gerade dadurch höchst unheimlichen Abgesang
schreibt, der doch stets den Hornrhythmus markiert bis in die beiden
letzten Noten der Singstimme hinein. – Die ›Frühlingsnacht‹
endlich, berühmt wie nur »Es war, als hätt' der Himmel«, scheint so
sehr aus einem Guß, als spottete sie des analytischen Blicks; aber
ihre Einheit wird gerade von der vielfältigen Artikulation des
gedrängten Verlaufs erzeugt. Analog zur ›Mondnacht‹ ist die Idee
des Liedes – hier die des hingerissen über sich Hinausgreifenden –
im Ausgangsmaterial implizit. Die Melodie hat zum Kern einen
umschriebenen Septim-Akkord. Melodisch prägnant an ihm ist das
Septimintervall, dessen Schwung die Dreiklangsterzen und
Sekundfüllungen überfliegt und das, in einem sonst von diesen
definierten kompositorischen Raum, einer Subjektivität zur Sprache
verhilft, die der Fessel sich entledigt. Schumanns Ingenium hat es
jedoch nicht bei der Affektensymbolik belassen, sondern das
kritische Intervall der Septime strukturell ins Zentrum gerückt.
Angedeutet wird es schon in der Aufeinanderfolge der
Phrasenendungen und -anfänge bei »Jauchzen möcht' ich, möchte
weinen«; bei dem Wort »Sterne« erfaßt es die Singstimme, und
schließlich, vor »Sie ist Deine«, wird es von der Begleitphrase des
Klaviers variiert, so daß der motivische Verlauf identisch ist mit der
Gefühlskurve. Das Lied des äußersten Ausbruchs ist ein piano-Lied,
nach jeder Welle zum leisen Grunde zurückkehrend, und nur dem
verdankt es das Atemlose, das erst im Forte der beiden Zeilen sich
entlädt. Der Mittelsatz »Jauchzen möcht' ich, möchte weinen« setzt
zu der jagenden Akkordbegleitung eine abermals nur eben
angedeutete Gegenstimme, ohne daß doch die Bewegung
unterbrochen würde. Das Atemlose steigert sich aufs höchste dort,
wo, vor den Worten »Mit dem Mondesglanz herein«, ein guter
Taktteil ganz ausgespart ist. Die Wiederholung der ersten Strophe
führt zur Klimax nicht nur durch die harmonischen und melodischen
Varianten, sondern dadurch, daß an der entscheidenden Stelle der
Kontrapunkt des Mittelteils, nun erst ganz frei und erfüllend,
hinzugefügt wird und ins Nachspiel hinüberträgt, in dem dies Motiv,
der wahre Jubel, alles andere vergessen hinter sich zurückläßt.
 Fußnoten
 
1 Walter Benjamin, Schriften, Frankfurt a.M. 1955, Bd. 1, S. 523f.
 
2 Theodor A. Meyer, Das Stilgesetz der Poesie, Leipzig 1901, S. 8.
 
 Die Wunde Heine
Wer im Ernst zum Gedächtnis Heines am hundertsten Tag seines
Todes beitragen will und keine bloße Festrede halten, muß von einer
Wunde sprechen; von dem, was an ihm schmerzt und seinem
Verhältnis zur deutschen Tradition, und was zumal in Deutschland
nach dem zweiten Krieg verdrängt ward. Sein Name ist ein
Ärgernis, und nur wer dem ohne Schönfärberei sich stellt, kann
hoffen, weiterzuhelfen.
Nicht erst von den Nationalsozialisten ist Heine diffamiert
worden. Ja diese haben ihn beinahe zu Ehren gebracht, als sie unter
die Loreley jenes berühmt gewordene »Dichter unbekannt« setzten,
das die insgeheim schillernden Verse, die an Figurinen der
Pariserischen Rheinnixen einer verschollenen Offenbachoper
mahnen, als Volkslied unerwartet sanktionierte. Das ›Buch der
Lieder‹ hatte unbeschreibliche Wirkung getan, weit über den
literarischen Umkreis hinaus. In seiner Folge ward schließlich die
Lyrik hinabgezogen in die Sprache von Zeitung und Kommerz.
Darum geriet Heine um 1900 bei den geistig Verantwortlichen in
Verruf. Man mag das Verdikt der Georgeschule dem Nationalismus
zuschreiben, das von Karl Kraus läßt sich nicht auslöschen. Seitdem
ist die Aura Heines peinlich, schuldhaft, als blutete sie. Seine eigene
Schuld ward zum Alibi jener Feinde, deren Haß gegen den
jüdischen Mittelsmann am Ende das unsägliche Grauen bereitete.
Das Ärgernis umgeht, wer sich auf den Prosaschriftsteller
beschränkt, dessen Rang, inmitten des durchweg trostlosen Niveaus
der Epoche zwischen Goethe und Nietzsche, in die Augen springt.
Diese Prosa erschöpft sich nicht in der Fähigkeit bewußter
sprachlicher Pointierung, einer in Deutschland überaus seltenen, von
keiner Servilität gehemmten polemischen Kraft. Platen etwa bekam
sie zu spüren, als er Heine antisemitisch anrempelte und eine Abfuhr
erhielt, die man heutzutage wohl existentiell nennen würde, hielte
man nicht den Begriff des Existentiellen so sorgfältig von der realen
Existenz der Menschen rein. Aber Heines Prosa reicht weit über
solche Bravourstücke hinaus durch ihren Gehalt. Wenn, seitdem
Leibniz Spinoza die kalte Schulter zeigte, alle deutsche Aufklärung
insofern jedenfalls mißlang, als sie den gesellschaftlichen Stachel
verlor und zum untertänig Affirmativen sich beschied, dann hat
Heine allein unter den berühmten Namen der deutschen Dichtung,
und in aller Affinität zur Romantik, einen unverwässerten Begriff
von Aufklärung bewahrt. Das Unbehagen, das er trotz seiner
Konzilianz verbreitet, geht von jenem scharfen Klima aus. Mit
höflicher Ironie weigert er sich, das soeben Demolierte durch die
Hintertür – – oder die Kellertür der Tiefe – sogleich wieder
einzuschmuggeln. Man mag bezweifeln, ob er so stark den frühen
Marx beeinflußte, wie manche jungen Soziologen es möchten.
Politisch war Heine ein unsicherer Geselle: auch des Sozialismus.
Aber er hat diesem gegenüber den rasch genug zugunsten von
Sprüchen wie »Wer nicht arbeitet, soll nicht essen« verschütteten
Gedanken ungeschmälerten Glücks im Bild einer rechten
Gesellschaft festgehalten. In seiner Aversion gegen revolutionäre
Reinheit und Strenge meldet sich Mißtrauen gegen das Muffige und
Asketische an, dessen Spur bereits manchen frühen sozialistischen
Dokumenten nicht fehlt und weit später verhängnisvollen
Entwicklungstendenzen zugutekam. Heine der Individualist, der es
so sehr war, daß er sogar aus Hegel nur Individualismus
heraushörte, hat doch dem individualistischen Begriff der
Innerlichkeit nicht sich gebeugt. Seine Idee sinnlicher Erfüllung
begreift die Erfüllung im Auswendigen mit ein, eine Gesellschaft
ohne Zwang und Versagung.
Die Wunde jedoch ist Heines Lyrik. Einmal hat ihre
Unmittelbarkeit hingerissen. Sie hat das Goethesche Diktum vom
Gelegenheitsgedicht so ausgelegt, daß jede Gelegenheit ihr Gedicht
fand und jeder die Gelegenheit zum Dichten für günstig hielt. Aber
diese Unmittelbarkeit war zugleich überaus vermittelt. Heines
Gedichte waren prompte Mittler zwischen der Kunst und der
sinnverlassenen Alltäglichkeit. Die Erlebnisse, die sie verarbeiteten,
wurden ihnen unter der Hand, wie dem Feuilletonisten, zu
Rohstoffen, über die sich schreiben läßt; die Nuancen und Valeurs,
die sie entdeckten, machten sie zugleich fungibel, gaben sie in die
Gewalt einer fertigen, präparierten Sprache. Das Leben, von dem sie
ohne viel Umstände zeugten, war ihnen verkäuflich; ihre
Spontaneität eins mit der Verdinglichung. Ware und Tausch
bemächtigten sich in Heine des Lauts, der zuvor sein Wesen hatte an
der Negation des Treibens. So groß war die Gewalt der entfalteten
kapitalistischen Gesellschaft damals schon geworden, daß die Lyrik
sie nicht mehr ignorieren konnte, wenn sie nicht ins provinziell
Heimelige versinken wollte. Damit ragt Heine in die Moderne des
neunzehnten Jahrhunderts hinein gleich Baudelaire. Aber
Baudelaire, der Jüngere, zwingt der Moderne selbst, der weiter
vorgerückten Erfahrung des unaufhaltsam Zerstörenden und
Auflösenden, heroisch Traum und Bild ab, ja transfiguriert den
Verlust aller Bilder selbst ins Bild. Die Kräfte solchen Widerstandes
wuchsen mit denen des Kapitalismus. In dem Heine, den noch
Schubert komponierte, waren sie nicht ebenso angespannt. Williger
hat er sich dem Strom überlassen, hat gleichsam eine dichterische
Technik der Reproduktion, die dem industriellen Zeitalter entsprach,
auf die überkommenen romantischen Archetypen angewandt, nicht
aber Archetypen der Moderne getroffen.
Darüber genau schämen sich die Nachgeborenen. Denn seit es
bürgerliche Kunst gibt derart, daß die Künstler ohne Protektoren ihr
Leben erwerben müssen, haben sie neben der Autonomie ihres
Formgesetzes insgeheim das Marktgesetz anerkannt und für
Abnehmer produziert. Nur verschwand solche Abhängigkeit hinter
der Anonymität des Marktes. Sie erlaubte es dem Künstler, sich und
anderen als rein und autonom zu erscheinen, und dieser Schein
selbst wurde honoriert. Dem Romantiker Heine, der vom Glück der
Autonomie zehrte, hat der Aufklärer Heine die Maske
heruntergerissen, den bislang latenten Warencharakter
hervorgekehrt. Das hat man ihm nicht verziehen. Die sich selbst
überspielende und damit wiederum sich selbst kritisierende
Willfährigkeit seiner Gedichte demonstriert, daß die Befreiung des
Geistes keine Befreiung der Menschen war und darum auch keine
des Geistes.
Die Wut dessen aber, der das Geheimnis der eigenen
Erniedrigung an der eingestandenen des anderen wahrnimmt, heftet
sich mit sadistischer Sicherheit an seine schwächste Stelle, das
Scheitern der jüdischen Emanzipation. Denn seine von der
kommunikativen Sprache erborgte Geläufigkeit und
Selbstverständlichkeit ist das Gegenteil heimatlicher Geborgenheit
in der Sprache. Nur der verfügt über die Sprache wie über ein
Instrument, der in Wahrheit nicht in ihr ist. Wäre es ganz die seine,
er trüge die Dialektik zwischen dem eigenen Wort und dem bereits
vorgegebenen aus, und das glatte sprachliche Gefüge zerginge ihm.
Dem Subjekt aber, das die Sprache wie ein vergriffenes Ding
gebraucht, ist sie selber fremd. Heines Mutter, die er liebte, war des
Deutschen nicht ganz mächtig. Seine Widerstandslosigkeit
gegenüber dem kurrenten Wort ist der nachahmende Übereifer des
Ausgeschlossenen. Die assimilatorische Sprache ist die von
mißlungener Identifikation. Die allbekannte Geschichte, daß der
Jüngling Heine dem alten Goethe auf dessen Frage nach seiner
gegenwärtigen Arbeit »ein Faust« geantwortet habe und darauf
ungnädig verabschiedet wurde, erklärte Heine selbst mit seiner
Schüchternheit. Sein Vorwitz entsprang der Regung dessen, der für
sein Leben gern aufgenommen sein möchte und damit doppelt die
Bodenständigen reizt, die, indem sie ihm die Hilflosigkeit seiner
Anpassung vorhalten, die eigene Schuld übertäuben, daß sie ihn
ausgeschlossen haben. Das ist heute noch das Trauma von Heines
Namen, und geheilt kann es nur werden, wenn es erkannt wird,
anstatt trüb, vorbewußt fortzuwesen.
Die Möglichkeit dazu aber liegt rettend in der Heineschen Lyrik
selber beschlossen. Denn die Macht des ohnmächtig Spottenden
übersteigt seine Ohnmacht. Ist aller Ausdruck die Spur von Leiden,
so hat er es vermocht, das eigene Ungenügen, die Sprachlosigkeit
seiner Sprache, umzuschaffen zum Ausdruck des Bruchs. So groß
war die Virtuosität dessen, der die Sprache gleichwie auf einer
Klaviatur nachspielte, daß er noch die Unzulänglichkeit seines
Worts zum Medium dessen erhöhte, dem gegeben ward zu sagen,
was er leidet. Mißlingen schlägt um ins Gelungene. Nicht in der
Musik derer, die seine Lieder vertonten – erst in der vierzig Jahre
nach seinem Tod entstandenen von Gustav Mahler, in der die
Brüchigkeit des Banalen und Abgeleiteten zum Ausdruck des
Realsten, zur wild entfesselten Klage taugt, hat dies Heinesche
Wesen sich ganz enthüllt. Erst die Mahlerschen Gesänge von den
Soldaten, die aus Heimweh die Fahne flohen, die Ausbrüche des
Trauermarschs der V. Symphonie, die Volkslieder mit dem grellen
Wechsel von Dur und moll, die zuckende Gestik des Mahlerschen
Orchesters haben die Musik der Heineschen Verse entbunden. Das
Altbekannte nimmt im Munde des Fremden etwas Maßloses,
Übertriebenes an, und das eben ist die Wahrheit. Ihre Chiffren sind
die ästhetischen Risse; sie versagt sich der Unmittelbarkeit runder
erfüllter Sprache.
In dem Zyklus, den der Emigrant ›Die Heimkehr‹ nannte, stehen
die Verse:
 
Mein Herz mein Herz ist traurig,
Doch lustig leuchtet der Mai;
Ich stehe, gelehnt an der Linde,
Hoch auf der alten Bastei.
 
Da drunten fließt der blaue
Stadtgraben in stiller Ruh;
Ein Knabe fährt im Kahne,
Und angelt und pfeift dazu.
 
Jenseits erheben sich freundlich,
In winziger, bunter Gestalt,
Lusthäuser und Gärten und Menschen,
und Ochsen und Wiesen und Wald.
 
Die Mägde bleichen Wäsche,
Und springen im Gras herum:
Das Mühlrad stäubt Diamanten,
Ich höre sein fernes Gesumm.
 
Am alten grauen Turme
Ein Schilderhäuschen steht;
Ein rotgeröckter Bursche
Dort auf und nieder geht.
 
Er spielt mit seiner Flinte,
Die funkelt im Sonnenrot,
Er präsentiert und schultert –
Ich wollt, er schösse mich tot.
 
Hundert Jahre hat es gebraucht, bis aus dem absichtsvoll falschen
Volkslied ein großes Gedicht ward, die Vision des Opfers. Heines
stereotypes Thema, hoffnungslose Liebe, ist Gleichnis der
Heimatlosigkeit, und die Lyrik, die ihr gilt, eine Anstrengung,
Entfremdung selber hineinzuziehen in den nächsten
Erfahrungskreis. Heute, nachdem das Schicksal, das Heine fühlte,
buchstäblich sich erfüllte, ist aber zugleich die Heimatlosigkeit die
aller geworden; alle sind in Wesen und Sprache so beschädigt, wie
der Ausgestoßene es war. Sein Wort steht stellvertretend ein für ihr
Wort: es gibt keine Heimat mehr als eine Welt, in der keiner mehr
ausgestoßen wäre, die der real befreiten Menschheit. Die Wunde
Heine wird sich schließen erst in einer Gesellschaft, welche die
Versöhnung vollbrachte.
 Rückblickend auf den Surrealismus
 
Die verbreitete Theorie des Surrealismus, wie sie in den Manifesten
von Breton niedergelegt ist, aber auch die Sekundärliteratur
beherrscht, setzt ihn zum Traum in Beziehung, zum Unbewußten,
womöglich den Jungschen Archetypen, die in den Collages wie in
den automatischen Niederschriften ihre von der Zutat des bewußten
Ichs befreite Bildersprache gefunden hätten. So sollen Träume mit
den Elementen des Realen umspringen wie seine Verfahrensweise.
Ist aber keine Kunst gehalten, sich selbst zu verstehen – und man ist
versucht, ihr Selbstverständnis und ihr Gelingen für fast unvereinbar
zu halten – dann braucht man auch jener programmatischen und von
den Vermittlern wiederholten Auffassung nicht zu parieren.
Ohnehin ist das Fatale an der Interpretation von Kunst, auch der
philosophisch verantwortlichen, daß sie genötigt ist, Befremdendes,
indem sie es auf den Begriff bringt, durch bereits Vertrautes
auszudrücken und dadurch wegzuerklären, was einzig der Erklärung
bedürfte: so sehr die Kunstwerke ihrer Erklärung harren, so sehr
begeht eine jegliche, sei's auch entgegen der eigenen Absicht, ein
Stück Verrat an den Konformismus. Wäre in der Tat der
Surrealismus nichts anderes als eine Sammlung literarischer und
graphischer Illustrationen zu Jung oder selbst Freud, er verdoppelte
nicht bloß überflüssig, was die Theorie selber ausspricht, anstatt daß
sie es metaphorisch verkleidete, sondern er wäre auch von einer
Harmlosigkeit, die kaum Raum ließe für den scandal, den der
Surrealismus meint und der sein Lebenselement bildet. Ihn auf die
psychologische Traumtheorie nivellieren, unterwirft ihn bereits der
Schmach des Offiziellen. Dem versierten: Das ist eine Vaterfigur,
gesellt sich das befriedigte: Kennen wir schon, und was bloß Traum
sein soll, läßt allemal, wie Cocteau erkannte, die Realität
unbeschädigt, mag ihr Bild noch so beschädigt sein.
Jene Theorie verfehlt aber die Sache selbst. So träumt man nicht,
keiner träumt so. Dem Traum sind die surrealistischen Gebilde mehr
nicht als bloß analog, indem sie die gewohnte. Logik und die
Spielregeln des empirischen Daseins außer Kraft setzen, dabei aber
doch die einzelnen auseinander gesprengten Dinge respektieren, ja
all ihren Inhalt, und gerade auch den menschlichen, der Dinggestalt
annähern. Es wird zerschlagen, umgruppiert, aber nicht aufgelöst.
Gewiß hält es der Traum nicht anders, aber die Dingwelt erscheint
doch in ihm unvergleichlich verschleierter, weniger als Realität
gesetzt denn im Surrealismus, wo Kunst an der Kunst rüttelt. Das
Subjekt, das im Surrealismus weit offener und ungehemmter am
Werk ist als in den Träumen, wendet seine Energie gerade an seine
Selbstauslöschung, zu der es im Traum keiner Energie bedarf;
dadurch aber gerät alles gleichsam objektiver als im Traum, wo das
Subjekt, vorweg abwesend, was immer begegnet hinter den
Kulissen umfärbt und durchdringt. Die Surrealisten sind selbst
unterdessen darauf gekommen, daß man so, wie sie dichten, auch
nicht etwa in der psychoanalytischen Situation assoziiert. Übrigens
ist die Unwillkürlichkeit selbst der psychoanalytischen
Assoziationen keineswegs unwillkürlich. Jeder Analytiker weiß,
welcher Mühe und Anstrengung, welchen Willens es bedarf, um des
unwillkürlichen Ausdrucks mächtig zu werden, der vermöge solcher
Anstrengung bereits in der analytischen Situation, geschweige denn
erst in der künstlerischen der Surrealisten sich formt. In den
Welttrümmern des Surrealismus kommt nicht das An sich des
Unbewußten zutage. Mäße man sie an ihrer Beziehung darauf, die
Symbole erwiesen sich als viel zu rationalistisch. Solche
Dechiffrierungen spannten die wuchernde Vielfalt des Surrealismus
über wenige Leisten, brächten sie auf ein paar dürftige Kategorien
wie den Ödipuskomplex, ohne die Gewalt zu erreichen, die wenn
nicht stets von den surrealistischen Kunstwerken so doch von deren
Idee ausging; so scheint ja auch Freud auf Dali reagiert zu haben.
Nach der europäischen Katastrophe sind die surrealistischen
Schocks kraftlos geworden. Es ist, als hätten sie Paris durch
Angstbereitschaft gerettet: der Untergang der Stadt war ihr Zentrum.
Will man danach den Surrealismus im Begriff aufheben, so wird
man nicht auf Psychologie, sondern auf die künstlerische
Verfahrungsweise zurückgehen müssen. Deren Schema sind aber
fraglos die Montagen. Leicht ließe sich zeigen, daß auch die
eigentlich surrealistische Malerei mit deren Motiven operiert und
daß das diskontinuierliche Aneinanderfügen von Bildern in der
surrealistischen Lyrik Montagecharakter hat. Diese Bilder stammen
aber, wie man weiß, teils buchstäblich, teils dem Geist nach, aus
Illustrationen des späteren neunzehnten Jahrhunderts, mit denen die
Eltern der Generation von Max Ernst Umgang hatten; schon in den
zwanziger Jahren gab es, diesseits des surrealistischen Bereichs,
Sammlungen solchen Bildmaterials wie ›Our Fathers‹ von Allan
Bott, die an dem surrealistischen Schock – parasitär – teilhatten und
dabei dem Publikum zuliebe die Mühe der Verfremdung durch
Montage sich ersparten. Die eigentlich surrealistische Praxis jedoch
hat jene Elemente mit ungewohnten versetzt. Eben die haben ihnen
durch den Schreck das Vertraute, das: Wo habe ich das schon
einmal gesehen? verliehen. Man wird also die Affinität zur
Psychoanalyse nicht in einer Symbolik des Unbewußten vermuten
dürfen, sondern im Versuch, durch Explosionen
Kindheitserfahrungen aufzudecken. Was der Surrealismus den
Abbildern der Dingwelt hinzufügt, ist, was uns von der Kindheit
verlorenging: so sollen uns als Kindern jene damals selbst schon
veralteten Illustrierten angesprungen haben wie jetzt die
surrealistischen Bilder. Das subjektive Moment steckt dabei in der
Handlung der Montage: diese möchte, vielleicht vergebens, aber der
Intention nach unverkennbar, Wahrnehmungen herstellen, so wie sie
damals gewesen sein müßten. Das Riesenei, aus dem jeden
Augenblick das Monstrum eines jüngsten Tages ausschlüpfen kann,
ist so groß, weil wir damals so klein waren, als wir zum ersten Mal
vorm Ei erschauerten.
Zu diesem Effekt hilft aber das Veraltete. An Moderne wirkt
paradox, daß sie, stets schon im Bann der Immergleichheit von
Massenproduktion, überhaupt Geschichte hat. Diese Paradoxie
entfremdet sie und wird in den »Kinderbildern der Moderne« zum
Ausdruck einer Subjektivität, die mit der Welt auch sich selbst
fremd geworden ist. Die Spannung im Surrealismus, die im Schock
sich entlädt, ist die zwischen Schizophrenie und Verdinglichung,
gerade nicht also eine psychologischer Beseeltheit. Das frei über
sich verfügende, jeder Rücksicht auf die empirische Welt ledige,
absolut gewordene Subjekt enthüllt sich im Angesicht der totalen
Verdinglichung, die es vollends auf sich und seinen Protest
zurückwirft, selber als Unbeseeltes, virtuell als das Tote. Die
dialektischen Bilder des Surrealismus sind solche einer Dialektik
der subjektiven Freiheit im Stande objektiver Unfreiheit. In ihnen
erstarrt der europäische Weltschmerz gleich der Niobe, die ihre
Kinder verlor; in ihnen schleudert die bürgerliche Gesellschaft die
Hoffnung auf ihr Überleben von sich. Kaum zu vermuten, daß einer
der Surrealisten die Hegelsche Phänomenologie kannte, aber ein
Satz daraus, den man zusammendenken muß mit dem allgemeineren
von der Geschichte als dem Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit,
definiert den surrealistischen Gehalt. »Das einzige Werk und Tat der
allgemeinen Freiheit ist daher der Tod, und zwar ein Tod, der keinen
inneren Umfang und Erfüllung hat.« Die darin gegebene Kritik hat
der Surrealismus zur eigenen Sache gemacht; das erklärt seine
politischen Impulse wider die Anarchie, die doch wieder mit jenem
Gehalt unvereinbar waren. Man hat von dem Hegelschen Satz
gesagt, in ihm hebe die Aufklärung sich durch ihre eigene
Verwirklichung auf; um keinen geringeren Preis, nicht als eine
Sprache der Unmittelbarkeit, sondern als Zeugnis des Rückschlags
der abstrakten Freiheit in die Vormacht der Dinge und damit in
bloße Natur wird man den Surrealismus begreifen dürfen. Seine
Montagen sind die wahren Stilleben. Indem sie Veraltetes
auskomponieren, schaffen sie nature morte.
Diese Bilder sind nicht sowohl die eines Inwendigen als
vielmehr Fetische – Warenfetische – an die einmal Subjektives,
Libido sich heftete. An ihnen, nicht durch die Selbstversenkung,
holen sie die Kindheit herauf. Die Modelle des Surrealismus wären
die Pornographien. Was in den Collages geschieht, was in ihnen
krampfhaft innehält wie der gespannte Zug von Wollust um den
Mund, ähnelt den Veränderungen, die eine pornographische
Darstellung im Augenblick der Befriedigung des Voyeurs
durchmacht. Abgeschnittene Brüste, Beine von Modepuppen in
Seidenstrümpfen auf den Collages – das sind Erinnerungsmerkmale
jener Objekte der Partialtriebe, an denen einst die Libido aufwachte.
Das Vergessene offenbart dinghaft, tot, sich in ihnen als das, was
die Liebe eigentlich wollte, dem sie sich selbst gleichmachen will,
dem wir gleichen. Verwandt der Photographie ist der Surrealismus
als erstarrtes Erwachen. Wohl sind es imagines, die er erbeutet, aber
nicht die invarianten, geschichtslosen des unbewußten Subjekts, zu
denen die konventionelle Auffassung sie neutralisieren möchte,
sondern geschichtliche, in denen das Innerste des Subjekts seiner
selbst als dessen Auswendiges, als Nachahmung eines
Gesellschaftlich-Geschichtlichen innewird. »Geh Joe, mach die
Musik von damals nach.«
Damit aber bildet der Surrealismus das Komplement der
Sachlichkeit, mit der gleichzeitig er erstand. Das Grauen, das diese
im Sinn des Worts von Adolf Loos vor dem Ornament als
Verbrechen empfindet, wird mobilisiert vom surrealistischen
Schock. Das Haus hat eine Geschwulst, seinen Erker. Die malt der
Surrealismus: aus dem Haus wuchert ein Auswuchs von Fleisch.
Die Kinderbilder der Moderne sind der Inbegriff dessen, was die
Sachlichkeit mit einem Tabu zudeckt, weil es sie an ihr eigenes
dinghaftes Wesen gemahnt und daran, daß sie nicht damit fertig
wird, daß ihre Rationalität irrational bleibt. Der Surrealismus
sammelt ein, was die Sachlichkeit den Menschen versagt; die
Entstellungen bezeugen, was das Verbot dem Begehrten antat.
Durch sie errettet er das Veraltete, ein Album von Idiosynkrasien, in
denen der Glücksanspruch verraucht, den die Menschen in ihrer
eigenen technifizierten Welt verweigert finden. Wenn aber heute der
Surrealismus selber obsolet dünkt, so darum, weil die Menschen
bereits jenes Bewußtsein der Versagung sich selbst versagen, das im
Negativ des Surrealismus festgehalten ward.
 Satzzeichen
 
Je weniger die Satzzeichen, isoliert genommen, Bedeutung oder
Ausdruck tragen, je mehr sie in der Sprache den Gegenpol zu den
Namen ausmachen, desto entschiedener gewinnt ein jegliches unter
ihnen seinen physiognomischen Stellenwert, seinen eigenen
Ausdruck, der zwar nicht zu trennen ist von der syntaktischen
Funktion, aber doch keineswegs in ihr sich erschöpft. Die Erfahrung
des Grünen Heinrich, der, nach dem großen deutschen P befragt,
ausruft: das ist der Pumpernickel, gilt erst recht für die Figuren der
Interpunktion. Gleicht nicht das Ausrufungszeichen dem drohend
gehobenen Zeigefinger? Sind nicht Fragezeichen wie Blinklichter
oder ein Augenaufschlag? Doppelpunkte sperren, Karl Kraus
zufolge, den Mund auf: weh dem Schriftsteller, der sie nicht
nahrhaft füttert. Das Semikolon erinnert optisch an einen
herunterhängenden Schnauzbart; stärker noch empfinde ich seinen
Wildgeschmack. Dummschlau und selbstzufrieden lecken die
Anführungszeichen sich die Lippen.
 
Alle sind Verkehrssignale; am Ende wurden diese ihnen
nachgebildet. Ausrufungszeichen sind rot, Doppelpunkte grün,
Gedankenstriche befehlen stop. Aber es war der Irrtum der
Georgeschule, sie darum mit Zeichen der Kommunikation zu
verwechseln. Vielmehr sind es solche des Vortrags; sie dienen nicht
beflissen dem Verkehr der Sprache mit dem Leser, sondern
hieroglyphisch einem, der im Sprachinnern sich abspielt, auf ihren
eigenen Bahnen. Überflüssig darum, sie als überflüssig einzusparen:
dann verstecken sie sich bloß. Jeder Text, auch der dichtest
gewobene, zitiert sie von sich aus, freundliche Geister, von deren
körperloser Gegenwart der Sprachleib zehrt.
 
In keinem ihrer Elemente ist die Sprache so musikähnlich wie in den
Satzzeichen. Komma und Punkt entsprechen dem Halb- und
Ganzschluß. Ausrufungszeichen sind wie lautlose Beckenschläge,
Fragezeichen Phrasenhebungen nach oben, Doppelpunkte
Dominantseptimakkorde; und den Unterschied von Komma und
Semikolon wird nur der recht fühlen, der das verschiedene Gewicht
starker und schwacher Phrasierungen in der musikalischen Form
wahrnimmt. Vielleicht ist aber die Idiosynkrasie gegen Satzzeichen,
die vor fünfzig Jahren sich regte und der kein Aufmerksamer sich
ganz entziehen wird, gar nicht so sehr Auflehnung gegen ein
ornamentales Element, wie daß darin sich niederschlägt, wie heftig
Musik und Sprache auseinanderstreben. Kaum jedoch wird man es
für Zufall halten können, daß die Berührung der Musik mit
sprachlichen Satzzeichen an das Schema der Tonalität gebunden
war, das unterdessen zerfiel, und daß man die Mühe der neuen
Musik recht wohl als eine um Satzzeichen ohne Tonalität darstellen
könnte. Ist aber Musik gezwungen, in Satzzeichen das Bild ihrer
Sprachähnlichkeit zu bewahren, so mag die Sprache ihrer
Musikähnlichkeit nachhängen, indem sie den Satzzeichen mißtraut.
 
Der Unterschied zwischen dem griechischen Semikolon, jenem
erhöhten Punkt, der der Stimme verwehren will, sich zu senken, und
dem deutschen, das mit Punkt und Unterlänge die Senkung vollzieht
und gleichwohl, indem es den Beistrich in sich aufnimmt, die
Stimme in der Schwebe läßt, wahrhaft ein dialektisches Bild –
dieser Unterschied scheint den zwischen der Antike und dem
christlichen Zeitalter, der durchs Unendliche gebrochenen
Endlichkeit, nachzuahmen; auf die Gefahr hin, daß das heute
gebräuchliche griechische Zeichen erst von Humanisten des
sechzehnten Jahrhunderts erfunden ward. In den Satzzeichen hat
Geschichte sich sedimentiert, und sie ist es weit eher als Bedeutung
oder grammatische Funktion, die aus jedem, erstarrt und mit leisem
Schauder, herausblickt. Wenig fehlt darum, und man möchte für die
wahren Satzzeichen nur die der deutschen Fraktur halten, deren
graphisches Bild allegorische Züge bewahrt, und die der Antiqua für
bloße säkularisierte Nachbilder.
 
Das geschichtliche Wesen der Satzzeichen kommt daran zutage, daß
an ihnen genau das veraltet, was einmal modern war.
Aufrufungszeichen sind unerträglich geworden als Gebärde der
Autorität, mit der der Schriftsteller von außen her einen Nachdruck
zu setzen versucht, den die Sache nicht selbst ausübt, während das
musikalische Seitenstück zum Ausrufungszeichen, das Sforzato,
heute noch so unentbehrlich ist wie zu Beethovens Zeiten, als es den
Einbruch subjektiven Willens ins musikalische Gewebe markierte.
Die Ausrufungszeichen aber sind zu Usurpatoren von Autorität,
Beteuerungen der Wichtigkeit verkommen. Sie waren es indessen,
die einmal die graphische Gestalt des deutschen Expressionismus
prägten. Ihre Häufung lehnte sich gegen die Konvention auf und war
Symptom der Ohnmacht zugleich, das Sprachgefüge von innen her
zu verändern, an dem man stattdessen von außen rüttelte. Sie
überleben als Male des Bruchs von Idee und Realisiertem aus jener
Epoche, und ihre hilflose Beschwörung errettet sie in der
Erinnerung: verzweifelte Schriftgebärde, die vergebens über die
Sprache hinausmöchte. In ihr hat der Expressionismus sich
verbrannt; mit den Ausrufungszeichen hat er die eigene Wirkung
sich gutgeschrieben, und darum ist sie in ihnen verpufft. Sie
gleichen, in expressionistischen Texten, heute den Millionenziffern
auf Banknoten der deutschen Inflation.
 
Literarische Dilettanten sind daran kenntlich, daß sie alles
miteinander verbinden wollen. Ihre Produkte haken die Sätze durch
logische Partikeln ineinander, ohne daß die von jenen Partikeln
behauptete logische Beziehung waltete. Wer nichts wahrhaft als
Einheit zu denken vermag, dem ist alles unerträglich, was ans
Brüchige, Abgesetzte mahnt; erst wer eines Ganzen mächtig ist,
weiß um Zäsuren. Die aber lassen sich vom Gedankenstrich lernen.
An ihm wird der Gedanke seines Fragmentcharakters inne. Nicht
zufällig wird gerade dies Zeichen dort, wo es seinen Zweck erfüllt:
wo es trennt, was Verbundenheit vortäuscht, im Zeitalter des
fortschreitenden Sprachzerfalls vernachlässigt. Es hält nur noch
dazu her, läppisch auf Überraschungen vorzubereiten, die eben
dadurch keine mehr sind.
 
Der ernste Gedankenstrich: sein unübertroffener Meister in der
deutschen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts war Theodor
Storm. Selten sind die Satzzeichen so tief dem Gehalt verschworen
wie jene in seinen Novellen, stumme Linien in die Vergangenheit,
Falten auf der Stirn der Texte. Die vortragende Stimme fällt mit
ihnen in sorgenvolles Schweigen: die Zeit, die sie zwischen zwei
Sätze einsprengen, ist eine des lastenden Erbes und hat, kahl und
nackt zwischen den angezogenen Ereignissen, etwas vom Unheil
des Naturzusammenhangs und von der Scham, daran zu rühren. So
diskret versteckt sich der Mythos im neunzehnten Jahrhundert; er
sucht Unterschlupf in der Typographie.
 
Zu den Verlusten, mit denen die Interpunktion am Sprachzerfall
teilhat, rechnet der des schräggestellten Strichs, wie er etwa Verse
einer Strophe voneinander sondert, die in einem Prosastück zitiert
ist. Als Strophe gesetzt, zerrisse sie barbarisch das Sprachgewebe;
einfach als Prosa gedruckt, machen Verse einen lächerlichen Effekt,
weil Metron und Reim als kalauerhafter Zufall erscheinen; der
moderne Gedankenstrich aber ist zu kraß, um zu leisten, was er in
dergleichen Fällen leisten sollte. Die Fähigkeit, physiognomisch
solche Differenzen wahrzunehmen, ist jedoch die Voraussetzung für
jeglichen angemessenen Gebrauch der Satzzeichen.
 
Die drei Punkte, mit denen man in der Zeit des zur Stimmung
kommerzialisierten Impressionismus Sätze bedeutungsvoll offen zu
lassen liebte, suggerieren die Unendlichkeit von Gedanken und
Assoziation, die eben der Schmock nicht hat, der sich darauf
verlassen muß, durchs Schriftbild sie vorzuspiegeln. Reduziert man
aber, wie die Georgeschule, jene den unendlichen Dezimalbrüchen
der Arithmetik entwendeten Punkte auf die Zahl zwei, so meint
man, die fiktive Unendlichkeit ungestraft weiter beanspruchen zu
können, indem man, was dem eigenen Sinn nach unexakt sein will,
als exakt drapiert. Der Interpunktion des unverschämten Schmocks
ist die des verschämten nicht überlegen.
 
Anführungszeichen soll man nur dort verwenden, wo man etwas
anführt, beim Zitat, allenfalls wo der Text von einem Wort, auf das
er sich bezieht, sich distanzieren will. Als Mittel der Ironie sind sie
zu verschmähen. Denn sie dispensieren den Schriftsteller von jenem
Geist, dessen Anspruch der Ironie unabdingbar innewohnt, und
freveln an deren eigenem Begriff, indem sie sie von der Sache
trennen und das Urteil über diese als vorentschieden hinstellen. Die
gehäuften ironischen Anführungszeichen bei Marx und Engels sind
Schatten, welche das totalitäre Verfahren vorauswirft über ihre
Schriften, die das Gegenteil meinten: der Samen, aus dem
schließlich wurde, was Karl Kraus das Moskauderwelsch nannte.
Die Gleichgültigkeit gegen den sprachlichen Ausdruck, die in der
mechanischen Überantwortung der Intention ans typographische
Cliché sich kundgibt, weckt den Verdacht, es sei eben die Dialektik
stillgestellt, die den Inhalt der Theorie ausmacht, und das Objekt
werde ihr von oben her, verhandlungslos, subsumiert. Dort, wo es
überhaupt etwas zu sagen gibt, weist allerorten Indifferenz
gegenüber der literarischen Form auf Dogmatisierung des Inhalts.
Der blinde Richtspruch der ironischen Anführungszeichen ist deren
graphischer Gestus.
 
Theodor Haecker erschrak mit Recht darüber, daß das Semikolon
ausstirbt: er erkannte darin, daß keiner mehr eine Periode schreiben
kann. Dazu gehört die Furcht vor seitenlangen Abschnitten, die vom
Markt erzeugt ward; von dem Kunden, der sich nicht anstrengen
will und dem erst die Redakteure und dann die Schriftsteller, um ihr
Leben zu erwerben, sich anpaßten, bis sie am Ende der eigenen
Anpassung Ideologien wie die der Luzidität, der sachlichen Härte,
der gedrängten Präzision erfanden. Bei dieser Tendenz lassen aber
Sprache und Sache nicht sich trennen. Durch das Opfer der Periode
wird der Gedanke kurzatmig. Die Prosa wird auf den Protokollsatz,
der Positivisten liebstes Kind, heruntergebracht, auf die bloße
Registrierung der Tatsachen, und indem Syntax und Interpunktion
des Rechts sich begeben, diese zu artikulieren, zu formen, Kritik an
ihnen zu üben, schickt bereits die Sprache sich an, vor dem bloß
Seienden zu kapitulieren, ehe nur der Gedanke Zeit hat, diese
Kapitulation eifrig von sich aus ein zweites Mal zu vollziehen. Mit
dem Verlust des Semikolons fängt es an, mit der Ratifizierung des
Schwachsinns durch die von aller Zutat gereinigte Vernünftigkeit
hört es auf.
 
Die Sensibilität des Schriftstellers in der Interpunktion bewährt sich
in der Behandlung der Parenthesen. Der Vorsichtige wird dazu
neigen, sie zwischen Gedankenstriche zu stellen und nicht in
Klammern, denn die Klammer nimmt die Parenthese aus dem Satz
ganz heraus, schafft gleichsam Enklaven, während doch nichts, was
in guter Prosa vorkommt, dem Gesamtbau entbehrlich sein sollte;
mit dem Zugeständnis solcher Entbehrlichkeit geben die Klammern
stillschweigend den Anspruch auf die Integrität der sprachlichen
Gestalt auf und kapitulieren vor der pedantischen Banausie.
Dagegen halten die Gedankenstriche, welche die Parenthese aus
dem Fluß herausstauen, ohne sie ins Gefängnis zu sperren,
Beziehung und Distanz gleichermaßen fest. Aber wie das blinde
Vertrauen auf ihre Kraft, das zu leisten, illusionär wäre, indem es
vom bloßen Mittel erwartete, was einzig von Sprache und Sache
selber geleistet werden kann, so läßt sich an der Alternative von
Gedankenstrichen und Klammern entnehmen, wie hinfällig
abstrakte Normen der Interpunktion sind. Proust, den keiner leicht
einen Banausen nennen wird und dessen Pedanterie nichts ist als ein
Aspekt seiner großartigen mikrologischen Kraft, hat unbedenklich
mit Klammern gearbeitet, vermutlich, weil in den großen Perioden
die Parenthesen so lang gerieten, daß ihre bloße Länge die
Gedankenstriche annulliert hätte. Sie bedürfen festerer Dämme, um
nicht die ganze Periode zu überfluten und jenes Chaos zu bereiten,
dem jede dieser Perioden atemlos abgezwungen ward. Das Recht für
den Proustschen Interpunktionsgebrauch liegt aber einzig beim
Ansatz seines gesamten Romanwerkes: daß der Schein des
Kontinuums der Erzählung durchbrochen wird, daß durch alle seine
Fenster der asoziale Erzähler hineinzuklettern bereit ist, um den
dunklen temps durée mit der Blendlaterne der gar nicht so
unwillkürlichen Erinnerung zu beleuchten. Seine eingeklammerten
Parenthesen, die wie das Schriftbild so den Vortrag unterbrechen,
sind Denkmäler der Augenblicke, da der Autor, müde des
ästhetischen Scheins und mißtrauisch gegen die Selbstgenügsamkeit
der Vorgänge, die er doch ohnehin nur aus sich hervorspinnt, offen
die Zügel ergreift.
 
Den Satzzeichen gegenüber befindet der Schriftsteller sich in
permanenter Not; wäre man beim Schreiben seiner selbst ganz
mächtig, man fühlte die Unmöglichkeit, je eines richtig zu setzen,
und gäbe das Schreiben ganz auf. Denn die Anforderungen der
Regeln der Interpunktion und des subjektiven Bedürfnisses von
Logik und Ausdruck lassen sich nicht vereinen: in den Satzzeichen
geht der Wechsel, den der Schreibende auf die Sprache zieht, zu
Protest. Weder kann er den vielfach starren und groben Regeln sich
anvertrauen, noch kann er sie ignorieren, wenn er nicht einer Art
Eigenkleidung verfallen und durch die Pointierung des
Unscheinbaren – und Unscheinbarkeit ist das Lebenselement der
Interpunktion – deren Wesen verletzen will. Umgekehrt aber darf er,
wenn er es ernst meint, nichts von dem, was er sucht, einem
Allgemeinen opfern, mit dem kein Schreibender heute sich ganz und
gar identisch fühlen kann und mit dem er sich überhaupt nur um den
Preis des Archaisierens gleichzusetzen vermöchte. Jedesmal ist der
Konflikt auszutragen, und man braucht viel Kraft oder viel
Dummheit, um darüber nicht den Mut zu verlieren. Zu raten wäre
allenfalls, man solle mit den Satzzeichen umgehen wie Musiker mit
verbotenen Fortschreitungen der Harmonien und Stimmen. Einer
jeden Interpunktion, wie einer jeden solchen Fortschreitung, läßt
sich anmerken, ob sie eine Intention trägt oder bloß schlampt; und,
subtiler, ob der subjektive Wille die Regel brutal durchbricht oder
ob das wägende Gefühl sie behutsam mitdenkt und mitschwingen
läßt, wo er sie suspendiert. Das wird sich besonders an den
unscheinbarsten Zeichen erweisen, den Kommata, deren
Beweglichkeit sich am ehesten dem Ausdruckswillen anschmiegt,
die aber gerade in solcher Nähe zum Subjekt die Tücke des Objekts
entfalten und besonders empfindlich werden mit Ansprüchen, die
man ihnen kaum zutraut. Jedenfalls wird heute wohl der am besten
fahren, der an die Regel: besser zuwenig als zuviel, sich hält. Denn
die Satzzeichen, welche die Sprache artikulieren und damit die
Schrift der Stimme anähneln, haben durch ihre logisch-semantische
Verselbständigung von dieser doch gleich aller Schrift sich
geschieden und geraten in Konflikt mit ihrem eigenen mimetischen
Wesen. Davon sucht der asketische Gebrauch der Satzzeichen etwas
gutzumachen. Jedes behutsam vermiedene Zeichen ist eine
Reverenz, welche die Schrift dem Laut darbringt, den sie erstickt.
 Der Artist als Statthalter
 
Die Rezeption Paul Valérys in Deutschland, die bis heute nicht recht
gelang, stellt darum vor besondere Schwierigkeiten, weil sein
Anspruch vorab auf dem lyrischen Werk beruht. Kaum bedarf es
eines Wortes, daß Lyrik in eine fremde Sprache nicht entfernt so
transponiert werden kann wie Prosa; ganz gewiß nicht die
unerbittlich gegen jede Kommunikation mit einer vorgestellten
Leserschaft abgedichtete poésie pure des Mallarmé-Schülers. Mit
Recht hat gerade George gesagt, es sei überhaupt nicht die Aufgabe
der Übersetzung von Lyrik, einen fremdländischen Verfasser
einzuführen, sondern ihm in der eigenen Sprache ein Denkmal zu
errichten oder, wie der Gedanke von Benjamin gewandt ward, die
eigene Sprache durch den Einbruch des fremden Dichtwerks zu
erweitern und zu steigern. Immerhin ist trotzdem, oder vielleicht
gerade wegen der Intransigenz seines großen Übersetzers,
Baudelaire aus dem geschichtlichen Material der deutschen Literatur
nicht wegzudenken. Nichts dergleichen bei Valéry; übrigens blieb
auch bereits Mallarmé Deutschland wesentlich verschlossen. Wenn
die Auswahl Valéryscher Verse, an der Rilke sich versucht hat,
nichts von dem leistete, was den großen Übersetzungswerken von
George, auch etwa den Borchardtschen Swinburne-Übertragungen
gelang, so liegt das nicht nur an der Sprödigkeit des Gegenstandes.
Rilke hat das Grundgesetz jeglicher legitimen Übertragung, die
Treue zum Wort, verletzt und ist gerade Valéry gegenüber in eine
Übung des ungefähren Nachdichtens zurückgefallen, die weder dem
Modell Gerechtigkeit widerfahren läßt, noch kraft dessen strenger
Abbildung sich in sich selbst zur vollen Freiheit erhebt. Man braucht
nur Rilkes Version eines der berühmtesten und in der Tat schönsten
Gedichte von Valéry, ›Les Pas‹, mit dem Original zu vergleichen,
um zu sehen, welcher Unstern über dem Rencontre waltete.
Nun besteht aber, wie man weiß, das Valérysche Werk
keineswegs bloß in Lyrik, sondern auch in Prosa wahrhaft
kristallinischer Art, die sich auf dem schmalen Grat zwischen
ästhetischer Gestaltung und Reflexion über die Kunst provokativ
bewegt. In Frankreich finden sich höchst kompetente Beurteiler,
unter ihnen Gide, die diesem Teil von Valérys Produktion sogar das
größere Gewicht zusprechen. In Deutschland ist auch sie, abgesehen
von ›Monsieur Teste‹ und ›Eupalinos‹, bis heute kaum erfahren
worden. Wenn ich hier auf eines der Prosabücher zu sprechen
komme, so geschieht das nicht bloß, um dem bekannten Namen
eines unbekannten Autors etwas von der Resonanz zu erbitten, um
die er nicht zu bitten brauchte, sondern um mit der sachlichen Kraft,
die seinem Werke innewohnt, der sturen Antithese von engagierter
und reiner Kunst zu Leibe zu rücken. Sie ist ein Symptom der
verhängnisvollen Tendenz zur Stereotypie, zum Denken in starren
und schematischen Formeln, wie sie die Kulturindustrie allenthalben
hervorbringt und wie sie längst auch ins Bereich der ästhetischen
Erwägung eingedrungen ist. Die Produktion droht sich zu
polarisieren in die sterilen Verwalter der Ewigkeitswerte auf der
einen Seite und auf der anderen die Unheilsdichter, von denen man
schon manchmal nicht mehr weiß, ob ihnen nicht die
Konzentrationslager als Begegnung mit dem Nichts ganz recht sind.
Ich möchte zeigen, welcher geschichtliche und gesellschaftliche
Inhalt gerade dem Werke Valérys innewohnt, das jeden Kurzschluß
zur Praxis sich versagt; ich möchte deutlich machen, daß das
Beharren auf der Formimmanenz des Kunstwerks nicht zu tun haben
muß mit dem Anpreisen unveräußerlicher, aber lädierter Ideen und
daß in solcher Kunst und in dem Gedanken, der an ihr sich nährt
und ihr gleicht, tieferes Wissen von historischen Veränderungen des
Wesens sich kundgeben kann als in Äußerungen, die so behend es
auf die Veränderung der Welt abgesehen haben, daß ihnen die
lastende Schwere eben der Welt zu entgleiten droht, die es zu
verändern gilt.
Das Buch, das ich meine, ist leicht zugänglich. Es ist in der
Bibliothek Suhrkamp erschienen und trägt den deutschen Titel
›Tanz, Zeichnung und Degas‹ 1 . Die Übertragung stammt von
Werner Zemp. Sie ist ansprechend, auch wenn sie nicht stets die mit
unendlicher Anstrengung errungene Grazie des Valéryschen Textes
so hintergründig wiedergibt, wie sie es erheischt. Aber es ist dafür
doch das Element des Leichten als solches, das Arabeskenhafte, und
dessen paradoxes Verhältnis zu den aufs äußerste belasteten
Gedanken bewahrt; zumindest der Schrecken der Unverständlichkeit
wird von dem Bändchen kaum ausgehen. Neid erregt Valérys
Fähigkeit, die subtilsten und schwierigsten Erfahrungen spielerisch,
schwerelos zu formulieren, so wie er es zu Beginn des Degas-Buchs
sich selbst als Programm setzt: »Wie ein etwas zerstreuter Leser
seinen Bleistift an den Rändern eines Buches spazierenführt und,
dank seiner Zerstreutheit und der Laune des Stifts, kleine Figuren
oder unbestimmtes Schnörkelwerk neben den gedruckten Text
kritzelt, so will ich das Folgende nach Einfall und Belieben an den
Rand dieser paar Studien von Edgar Degas schreiben. Ich begleite
diese Bilder mit ein wenig Text, der nicht unbedingt gelesen zu
werden braucht, oder doch nicht unbedingt in einem Zug, und der
nur einen ganz losen Zusammenhang mit diesen Zeichnungen hat, ja
in überhaupt keiner unmittelbaren Beziehung zu ihnen steht.« (7)
Diese Fähigkeit Valérys ist nicht billig auf die stets wieder als
Lückenbüßer bemühte romanische Formbegabung, nicht einmal auf
seine eigene exzeptionelle zurückzuführen. Sie wird gespeist von
seinem unermüdlichen Drang zum Objektivieren und, mit Cézannes
Wort, Realisieren, der kein Dunkles, Unaufgehelltes, Ungelöstes
duldet; dem die Transparenz nach außen zum Maß des Gelingens im
Innern selbst wird.
Um so eher könnte man wohl Anstoß daran nehmen, wenn ein
Philosoph über ein Buch spricht, das ein esoterischer Dichter über
einen vom Handwerk besessenen Maler geschrieben hat. Ich möchte
dies Bedenken lieber vorweg erörtern, als es naiv provozieren; um
so mehr als dabei ein Zugang zur Sache selbst sich eröffnet. Ich
halte es nicht für meine Aufgabe, über Degas mich zu äußern, und
fühle mich dieser Aufgabe auch nicht gewachsen. Die Gedanken
von Valéry, auf die ich hinweisen möchte, greifen allesamt über den
großen impressionistischen Maler hinaus. Aber sie sind gewonnen
vermöge jener Nähe zum künstlerischen Objekt, deren nur fähig ist,
wer selbst in äußerster Verantwortung produziert. Große Einsichten
in die Kunst geraten überhaupt entweder in absoluter Distanz, aus
der Konsequenz des Begriffs, ungestört vom sogenannten
Kunstverständnis, wie bei Kant oder auch Hegel, oder in solcher
absoluten Nähe, der Haltung dessen, der hinter den Kulissen steht,
der nicht Publikum ist, sondern das Kunstwerk mitvollzieht unter
dem Aspekt des Machens, der Technik. Der mittlere, sich
einfühlende Kunstverständige, der Mann mit Geschmack ist
zumindest heute und wahrscheinlich schon stets in Gefahr, die
Kunstwerke zu verfehlen, indem er sie zu Projektionen seiner
Zufälligkeit erniedrigt, anstatt ihrer objektiven Disziplin sich zu
unterwerfen, Valéry bietet den fast einzigartigen Fall des zweiten
Typus, dessen, der vom Kunstwerk durchs métier, den präzisen
Arbeitsprozeß weiß, in dem aber dieser Prozeß sogleich so glücklich
sich reflektiert, daß er in die theoretische Einsicht umschlägt, in jene
gute Allgemeinheit, die nicht das Besondere fortläßt, sondern es in
sich bewahrt und es aus der Kraft der eigenen Bewegung ins
Verbindliche treibt. Er philosophiert nicht über Kunst, sondern
durchbricht, im gleichsam fensterlosen Vollzug des Gestaltens
selber, die Blindheit des Artefakts. So drückt er etwas von der
Verpflichtung aus, die jeglicher ihrer selbst bewußten Philosophie
heute auferlegt ist; derselben Verpflichtung, die am
entgegengesetzten Pol, dem spekulativen Begriff, in Deutschland
vor hundertundvierzig Jahren von Hegel erreicht war. Das zur
äußersten Konsequenz gesteigerte l'art pour l'art-Prinzip
transzendiert bei Valéry sich selber, treu dem Satz der
›Wahlverwandtschaften‹, daß alles in seiner Art Vollkommene über
seine Art hinausweise. Der Vollzug des dem Kunstwerk selbst
streng immanenten geistigen Prozesses heißt zugleich: Blindheit und
Befangenheit des Kunstwerks überwinden. Nicht umsonst haben
Valérys Gedanken immer wieder um Lionardo da Vinci gekreist, in
dem zu Beginn der Epoche eben jene Identität von Kunst und
Erkenntnis unvermittelt gesetzt ist, die am Ende, durch hundert
Vermittlungen hindurch, in Valéry zum großartigen
Selbstbewußtsein gefunden hat. Das Paradoxon, um welches das
Valérysche Werk geordnet ist und das auch im Degas-Buch immer
wieder sich anmeldet, ist nichts anderes, als daß mit jeder
künstlerischen Äußerung und mit jeder Erkenntnis der Wissenschaft
der ganze Mensch und das Ganze der Menschheit gemeint sei, daß
aber diese Intention nur durch selbstvergessene und bis zum Opfer
der Individualität, zur Selbstpreisgabe des je einzelnen Menschen
rücksichtslos gesteigerte Arbeitsteilung sich verwirklichen lasse.
Diesen Gedanken trage ich nicht willkürlich in Valéry hinein.
»Das, was ich die ›Große Kunst‹ nenne, ist, mit einem Wort, die
Kunst, die gebieterisch alle Fähigkeiten eines Menschen für sich
beansprucht und deren Werke so sind, daß alle Fähigkeiten eines
andern sich von ihnen angesprochen fühlen und aufgeboten werden
müssen, um sie zu begreifen ...« (138) Eben das wird, mit einem
düsteren geschichtsphilosophischen Seitenblick, auch vom Künstler
selber gefordert, vielleicht gerade in Erinnerung an Lionardo: »Hier
wird nun mehr als einer ausrufen, was schon daran liege! Ich
meinerseits glaube, es ist wichtig genug, daß an der Hervorbringung
des Kunstwerks der ganze Mensch sich beteiligt. Aber wie ist es nur
möglich, daß das, was man heute ohne weiteres glaubt
vernachlässigen zu dürfen, ehemals so wichtig genommen wurde?
Ein Liebhaber, ein Kenner aus der Zeit Julius II. oder Ludwigs XIV.
wäre höchlichst erstaunt, vernehmen zu müssen, daß beinahe alles,
was ihm an der Malerei wesentlich erschien, heutzutage nicht nur
vernachlässigt wird, sondern für die Absichten des Malers und für
die Ansprüche des Publikums völlig belanglos ist. Ja, je verfeinerter
dieses Publikum ist, desto fortgeschrittener, das heißt: desto weiter
entfernt ist es von jenen früheren Idealen. Aber es ist der gesamte
Mensch, von dem man sich solchermaßen entfernt. Der Vollmensch
stirbt aus.« (135/6) Es bleibt dahingestellt, ob der Ausdruck
Vollmensch, der peinliche Assoziationen mit sich führt, die
angemessene Übersetzung des von Valéry Gemeinten bietet;
jedenfalls aber zielt er auf den ungeteilten Menschen, den, dessen
Reaktionsweisen und Fähigkeiten nicht selber nach dem Schema der
gesellschaftlichen Arbeitsteilung voneinander gerissen, einander
entfremdet, zu verwertbaren Funktionen geronnen sind.
Aber Degas, dessen Ungenügsamkeit im Anspruch an sich
selbst, Valéry zufolge, auf diese Idee der Kunst hinausläuft, wird
von ihm als das äußerste Gegenteil eines Universalgenies
dargestellt, obwohl der Maler nicht nur, wie man weiß, als Plastiker
arbeitete, sondern auch Sonette schrieb, über die es zu
denkwürdigen Kontroversen mit Mallarmé kam. Valéry sagt von
ihm: »Die Arbeit, das Zeichnen waren bei ihm zur Leidenschaft
geworden, einer strengen Übung, Gegenstand einer Mystik und
einer Ethik, die sich selber genügten, zu einem höchsten Anliegen,
das jeden andern Belang schlechterdings aufhob, einem Anstoß nie
gelöster, genau umrissener Aufgaben, die ihn jeder weiteren
Neugierde entband. Er war Spezialist und wollte es sein, in einem
Bereich, der sich bis zu einer gewissen Universalität zu steigern
vermag.« (114) Solche Steigerung des Spezialistentums zur
Universalität, die verrannte Intensivierung der arbeitsteiligen
Produktion enthält nach Valéry das Potential einer möglichen
Gegenwirkung gegen jenen Zerfall der menschlichen Kräfte – im
jüngsten Sprachgebrauch der Psychologie würde man sagen: der
Ichschwäche – dem Valérys Spekulation nachhängt. Er führt eine
Äußerung des siebzigjährigen Degas an: »›Man muß eine hohe
Meinung haben, nicht sowohl von dem, was man im Augenblick
macht, als vielmehr von dem, was man eines Tages wird machen
können; ohne das verlohnt es sich nicht, zu arbeiten.‹« (114) Das
interpretiert Valéry: »So spricht der echte Stolz, Gegengift jeder
Eitelkeit. Wie der Spieler fieberhaft seinen Partien nachsinnt, nachts
vom Gespenst des Schachbretts oder des Spieltisches, auf den die
Karten fallen, heimgesucht, von taktischen Kombinationen und
ebenso spannenden wie nichtigen Lösungen bedrängt wird, so auch
der Künstler, der wesentlich Künstler ist. Ein Mensch, der nicht
ständig von einer derart heftig ihn erfüllenden Gegenwart sich
belagert fühlt, ist ein Mensch ohne Bestimmung: ein brachliegendes
Erdreich. Die Liebe, ohne Zweifel, und der Ehrgeiz sowie die
Habgier beanspruchen viel Raum in einem Menschenleben. Aber
das Vorhandensein eines sicheren Ziels und die damit verbundene
Gewißheit, daß es näher oder ferner, erreicht oder nicht erreicht ist,
ziehen diesen Leidenschaften bestimmte Grenzen. Dagegen rückt
der Wunsch, etwas zu schaffen, wovon eine größere Macht oder
Vollkommenheit ausgehen soll, als wir sie uns selber zutrauen, den
betreffenden, jedem irdischen Augenblick entschlüpfenden und sich
versagenden Gegenstand von uns ab in unendliche Fernen. Jeder
Fortschritt unsererseits entrückt ihn ebensosehr, als er ihn
verschönert. Die Vorstellung, die Technik einer Kunst völlig zu
beherrschen, dereinst in der Lage zu sein, über ihre Mittel ebenso
sicher und mühelos verfügen zu können, wie man über den
normalen Gebrauch seiner Sinne und Glieder verfügt, gehört zu
jenen Wunschbildern, auf die gewisse Menschen mit einer
unendlichen Beharrlichkeit, unendlichen Aufwendungen, Übungen,
Qualen reagieren müssen.« (114–116) Und Valéry faßt die
Paradoxie des universalen Spezialistentums zusammen: »Flaubert,
Mallarmé, jeder auf seinem Gebiet und auf seine Weise, sind
literarische Beispiele für das völlige Aufgehen eines Lebens im
Dienste des alles umfassenden imaginären Anspruchs, den sie der
Kunst des Schreibens beimaßen.« (116)
Ich darf an meine Behauptung erinnern, daß dem berüchtigten
Artisten und Ästheten Valéry tiefere Einsicht in das
gesellschaftliche Wesen von Kunst zufällt als der Doktrin ihrer
unmittelbaren praktisch-politischen Nutzanwendung. Man mag das
hier erhärtet finden. Denn die Theorie vom engagierten Kunstwerk,
wie sie heute gang und gäbe ist, setzt sich über die in der
Tauschgesellschaft unabdingbar herrschende Tatsache der
Entfremdung zwischen den Menschen sowohl wie zwischen dem
objektiven Geist und der Gesellschaft, die er ausdrückt und richtet,
umstandslos hinweg. Sie will, daß die Kunst unmittelbar zu den
Menschen spreche, als ließe sich in einer Welt universaler
Vermittlung das Unmittelbare unmittelbar realisieren. Gerade damit
aber degradiert sie Wort und Gestalt zum bloßen Mittel, zum
Element des Wirkungszusammenhangs, zur psychologischen
Manipulation und höhlt die Stimmigkeit und Logik des Kunstwerks
aus, das nicht mehr nach dem Gesetz der eigenen Wahrheit sich
entfalten, sondern die Linie des geringsten Widerstands bei den
Konsumenten verfolgen soll. Valéry ist aktuell und das Widerspiel
jenes Ästheten, zu dem ihn das vulgäre Vorurteil stempelt, weil er
dem kurzatmig-pragmatischen Geist den Anspruch der
unmenschlichen Sache um des Menschlichen willen entgegensetzt.
Daß aber die Arbeitsteilung nicht durch ihre Verleugnung, daß die
Kälte der rationalisierten Welt nicht durch empfohlene Irrationalität
sich bannen läßt, ist eine gesellschaftliche Wahrheit, die durch den
Faschismus aufs nachdrücklichste demonstriert worden ist. Durch
ein Mehr, nicht durch ein Weniger an Vernunft lassen die Wunden
sich heilen, welche das Werkzeug Vernunft im unvernünftigen
Ganzen der Menschheit schlägt.
Dabei hat Valéry weder naiv die Position des vereinsamten und
entfremdeten Künstlers hingenommen, noch von der Geschichte
abstrahiert, noch sich Illusionen gemacht über den
gesellschaftlichen Prozeß, der in der Entfremdung terminierte.
Gegen die Pächter der privaten Innerlichkeit, die Schlauheit, die oft
genug ihre Funktion auf dem Markt erfüllt, indem sie die Reinheit
dessen vorspiegelt, der nicht nach rechts und nicht nach links blickt,
zitiert er einen sehr schönen Satz von Degas: »›Wieder einer jener
Eremiten, die wissen, wann der nächste Zug abgeht.‹« (129) Mit
aller Härte, ohne alle ideologische Zutat, wie kein Theoretiker der
Gesellschaft es rücksichtsloser vermöchte, spricht Valéry den
Widerspruch der künstlerischen Arbeit als solcher zu den heute
herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen der materiellen
Produktion aus. Er zeiht, wie in Deutschland vor mehr als hundert
Jahren Carl Gustav Jochmann, die Kunst selber des Archaismus:
»Bisweilen kommt mir der Gedanke, die Arbeit des Künstlers sei
eine Arbeit noch ganz urtümlicher Art; der Künstler selber etwas
Überlebtes; zu einer im Aussterben begriffenen Klasse von
Arbeitern oder Handwerkern gehörig, die unter Anwendung höchst
persönlicher Methoden und Erfahrungen Heimarbeit verrichtet; im
vertrauten Durcheinander ihrer Werkzeuge lebt, blind für ihre
Umgebung, nur sieht, was sie sehen will; die zerschlagene Töpfe,
häuslichen Eisenkram und sonstiges überzähliges Zeug ihren
Zwecken dienstbar macht ... Ob dieser Zustand sich je ändert und
man vielleicht an Stelle des wunderlichen Wesens, das mit so
weitgehend vom Zufall abhängigem Werkzeug sich behilft, dereinst
einen peinlich in Weiß gekleideten, mit Gummihandschuhen
versehenen Herrn in seinem Mal-Laboratorium antreffen wird, der
sich an einen strikten Stundenplan hält, über streng spezialisierte
Apparate und ausgesuchte Instrumente verfügt: jedes an seinem
Platz, jedes einer bestimmten Verwendung vorbehalten? ... Bis jetzt
freilich ist der Zufall aus unserem Tun noch nicht ausgeschaltet, so
wenig als das Geheimnis aus der Technik, die Trunkenheit aus dem
Stundenplan; aber ich möchte mich für nichts verbürgen.« (33/4)
Man könnte wohl Valérys ironisch vorgetragene ästhetische Utopie
als den Versuch bezeichnen, dem Kunstwerk die Treue zu halten
und es zugleich durch Änderung der Verfahrungsweisen von der
Lüge zu befreien, von der alle Kunst, und die Lyrik zumal, entstellt
scheint, die unter den herrschenden technologischen Bedingungen
sich regt. Der Künstler soll sich zum Instrument umschaffen: selbst
zum Ding werden, wenn er nicht dem Fluch des Anachronismus
inmitten einer verdinglichten Welt verfallen will. Valéry faßt den
zeichnerischen Vorgang zusammen in dem Satz: »Der Künstler tritt
vor und tritt zurück, er neigt sich bald nach dieser, bald nach jener
Seite, er blinzelt, er benimmt sich, als sei sein gesamter Körper nur
ein Zubehör seiner Augen, er selber vom Scheitel bis zur Sohle ein
bloßes Instrument im Dienste des Zielens, Punktierens, Linierens,
Präzisierens.« (67) Damit rückt Valéry jener unendlich verbreiteten
Vorstellung vom Wesen des Kunstwerks zuleibe, die es, nach dem
Muster des Privateigentums, dem gutschreibt, der es hervorgebracht
hat. Er weiß besser als jeder andere, daß dem Künstler von seinem
Gebilde nur das wenigste »gehört«; daß in Wahrheit der
künstlerische Produktionsprozeß, und damit auch die Entfaltung der
im Kunstwerk beschlossenen Wahrheit, die strenge Gestalt einer
von der Sache erzwungenen Gesetzmäßigkeit hat, und daß ihr
gegenüber die viel berufene schöpferische Freiheit des Künstlers
nicht ins Gewicht fällt. Damit begegnet er sich mit einem anderen,
ähnlich konsequenten, auch ähnlich unbequemen Künstler seiner
Generation, Arnold Schönberg, der noch in seinem letzten Buch
›Style and Idea‹ entwickelt, daß große Musik in der Einlösung von
»obligations«, von Verpflichtungen bestünde, die der Komponist
gleichsam mit der ersten Note eingehe. Im gleichen Geiste sagt
Valéry: »Auf allen Gebieten ist der wahrhaft starke Mensch
derjenige, der am besten einsieht, daß einem nichts geschenkt ist,
daß alles gemacht, daß alles erkauft werden muß; und der zittert,
wenn er keine Widerstände spürt; der sie sich selber schafft ... Bei
ihm ist die Form ein begründeter Entscheid.« (120) In Valérys
Ästhetik waltet eine Metaphysik der Bürgerlichkeit. Am Ende der
bürgerlichen Epoche will er die Kunst vom traditionellen Fluch ihrer
Unehrlichkeit reinigen, sie rechtschaffen machen. Er mutet ihr zu,
daß sie die Schulden bezahle, in die unabdingbar jedes Kunstwerk
sich stürzt, indem es als wirklich sich setzt, ohne wirklich zu sein.
Zweifel sind daran erlaubt, ob Valérys und Schönbergs Vorstellung
vom Kunstwerk als einer Art von Tauschvorgang die ganze
Wahrheit, ob sie nicht eben jener Verfassung des Daseins hörig sei,
mit der nicht mitzuspielen doch eben von Valérys Konzeption
gefordert wird. Aber es liegt ein Befreiendes in dem
Selbstbewußtsein, das schließlich die bürgerliche Kunst von sich als
bürgerlicher erringt, sobald sie sich ernst nimmt wie die Realität, die
sie nicht ist. Die Geschlossenheit des Kunstwerks, die
Notwendigkeit seines Gepräges in sich soll es von der Zufälligkeit
heilen, durch die es hinter Zwang und Gewicht des Wirklichen
zurücksteht. Im Moment der objektiven Verpflichtung, nicht in
einem Verwischen der Grenze der Bereiche ist die Affinität der
Valéryschen Kunstphilosophie zur Wissenschaft zu suchen und
nicht zuletzt seine Wahlverwandtschaft mit Lionardo.
Seine Pointierung von Technik und Rationalität gegenüber der
bloßen Intuition, die es einzuholen gilt; die Hervorhebung des
Prozesses gegenüber dem ein-für allemal fertigen Werk läßt sich
aber ganz verstehen nur auf dem Hintergrund von Valérys Urteil
über die breiten Entwicklungstendenzen der neueren Kunst. In
dieser gewahrt er ein Zurücktreten der konstruktiven Kräfte, ein sich
Überlassen an die sinnliche Rezeptivität – kurz in Wahrheit eben die
Schwächung der menschlichen Kräfte, des Gesamtsubjekts, auf das
er alle Kunst bezieht. Die Worte, die er, abschiednehmend, der
Dichtung und Malerei der impressionistischen Ära widmet, können
in Deutschland vielleicht am ehesten verstanden werden, wenn man
sie auf Richard Wagner und Strauss anwendet, deren Signalement
sie ungewollt entwerfen: »Eine Beschreibung setzt sich aus Sätzen
zusammen, die man, im allgemeinen, miteinander vertauschen kann:
ich vermag ein Zimmer vermittels einer Reihe von Sätzen zu
schildern, deren Aufeinanderfolge beinahe belanglos ist. Der Blick
schweift, wie er will. Nichts ist natürlicher und der ›Wahrheit‹ näher
als dieses Schweifen, denn ... die ›Wahrheit‹ ist das vom Zufall
Gegebene ... Aber wenn dieses unverbindliche Ungefähr, samt der
daraus sich ergebenden Gewöhnung zur Leichtigkeit, in den Werken
vorzuherrschen beginnt, so dürfte es die Schriftsteller schließlich
dazu bringen, aller Abstraktion zu entsagen, ebenso wie es den
Leser noch der geringsten Verpflichtung zur Aufmerksamkeit
entbinden wird, um ihn einzig und allein für Augenblickswirkungen
empfänglich zu machen, für die überzeugende Gewalt des Schocks
... Diese Art von Kunstschaffen, die prinzipiell wohl zu
verantworten ist und der wir so manche wunderschönen Dinge zu
danken haben, führt indessen gleicherweise wie der mit der
Landschaft getriebene Mißbrauch zu einer Schwächung der
geistigen Seite der Kunst.« (135) Und kurz danach noch
grundsätzlicher: »Die moderne Kunst sucht fast ausschließlich die
sinnenhafte Seite unseres Empfindungsvermögens auszuwerten auf
Kosten der allgemeinen oder gemüthaften Sensibilität, auf Kosten
auch unserer konstruktiven Kräfte, sowie unserer Befähigung,
Zeitintervalle zu addieren und mit Hilfe des Geistes Umformungen
zu vollziehen. Sie versteht es ausgezeichnet, Aufmerksamkeit zu
erregen, und verwendet alle Mittel, um sie zu erregen:
Höchstspannungen, Kontraste, Rätsel, Überraschungen. Bisweilen
gewinnt sie dank ihren subtilen Mitteln oder der Kühnheit der
Ausführung sehr kostbare Beute: höchst verwickelte oder höchst
flüchtige Zustände, irrationale Werte, eben erst aufkeimende
Empfindungen, Resonanzen, Übereinstimmungen, Ahnungen von
ungewisser Tiefe ... Aber diese Gewinne wollen bezahlt sein.«
(136/7)
Hier erst enthüllt sich ganz der objektive gesellschaftliche
Wahrheitsgehalt Valérys. Er setzt die Antithese zu den
anthropologischen Veränderungen unter der spätindustriellen, von
totalitären Regimes oder Riesenkonzernen gesteuerten
Massenkultur, die die Menschen zu bloßen Empfangsapparaten,
Bezugspunkten von conditioned reflexes reduziert und damit den
Zustand blinder Herrschaft und neuer Barbarei vorbereitet. Die
Kunst, die er den Menschen, wie sie sind, entgegenhält, meint Treue
zu dem möglichen Bilde vom Menschen. Das Kunstwerk, welches
das äußerste von der eigenen Logik und der eigenen Stimmigkeit
wie von der Konzentration des Aufnehmenden verlangt, ist ihm
Gleichnis des seiner selbst mächtigen und bewußten Subjekts,
dessen, der nicht kapituliert. Nicht umsonst zitiert er mit
Enthusiasmus eine Äußerung von Degas gegen die Resignation.
Sein Gesamtwerk ist ein einziger Protest gegen die tödliche
Versuchung, es sich leicht zu machen, indem man dem ganzen
Glück und der ganzen Wahrheit entsagt. Lieber am Unmöglichen
zugrunde gehen. Die dicht organisierte, lückenlos gefügte und
gerade durch ihre bewußte Kraft ganz versinnlichte Kunst, der er
nachhängt, läßt sich kaum realisieren. Aber sie verkörpert die
Resistenz gegen den unsäglichen Druck, den das bloß Seiende übers
Menschliche ausübt. Sie steht ein für das, was wir einmal sein
könnten. Sich nicht verdummen, sich nicht einlullen lassen, nicht
mitlaufen: das sind die sozialen Verhaltensweisen, die im Werk
Valérys sich niedergeschlagen haben, das sich weigert, das Spiel der
falschen Humanität, des sozialen Einverständnisses mit der
Entwürdigung des Menschen, mitzuspielen. Kunstwerke
konstruieren heißt ihm: dem Opiat sich verweigern, in das die große
sinnliche Kunst seit Wagner, Baudelaire und Manet sich verwandelt
hat; die Schmach abzuwehren, welche die Werke zu Medien und die
Konsumenten zu Opfern psychotechnischer Behandlung macht.
Es geht um das gesellschaftliche Recht des als Esoteriker
rubrizierten Valéry, um das, womit sein Werk einen jeglichen
betrifft, auch und gerade weil er es verschmäht, irgend jemandem
nach dem Munde zu reden. Aber einen Einwand erwarte ich und ich
möchte ihn nicht leicht nehmen. Man kann fragen, ob nicht in
Valérys Werk und Philosophie, nach dem was geschehen ist und
weiter droht, Kunst selber maßlos überschätzt sei; ob er nicht
deswegen doch jenem neunzehnten Jahrhundert angehöre, für
dessen ästhetische Unzulänglichkeit er ein so hellsichtiges Organ
hatte. Weiter kann man fragen, ob er nicht, trotz der objektiven
Wendung der Interpretation des Kunstwerks, eine
Künstlermetaphysik oktroyiere, etwa wie Nietzsche. Ob Valéry,
oder auch Nietzsche, die Kunst überschätzt haben, wage ich nicht zu
entscheiden. Wohl aber möchte ich, zum Ende, etwas sagen über die
Frage der Künstlermetaphysik. Das ästhetische Subjekt Valérys,
mag es nun er selber sein oder Lionardo oder Degas, ist nicht
Subjekt in dem primitiven Sinn des Künstlers, der sich ausdrückt.
Die ganze Valérysche Konzeption richtet sich gegen diese
Vorstellung, gegen die Inthronisierung des Genies, wie sie
insbesondere in der deutschen Ästhetik seit Kant und Schelling so
tief eingewurzelt ist. Das, was er vom Künstler verlangt, die
technische Selbsteinschränkung, die Unterwerfung unter die Sache,
gilt nicht der Einschränkung sondern der Erweiterung. Der Künstler,
der das Kunstwerk trägt, ist nicht der je Einzelne, der es
hervorbringt, sondern durch seine Arbeit, durch passive Aktivität
wird er zum Statthalter des gesellschaftlichen Gesamtsubjekts.
Indem er der Notwendigkeit des Kunstwerks sich unterwirft,
eliminiert er aus diesem alles, was bloß der Zufälligkeit seiner
Individuation sich verdanken könnte. In solcher Stellvertretung des
gesamtgesellschaftlichen Subjekts aber, eben jenes ganzen,
ungeteilten Menschen, an den Valérys Idee vom Schönen appelliert,
ist zugleich ein Zustand mitgedacht, der das Schicksal der blinden
Vereinzelung tilgt, in dem endlich das Gesamtsubjekt
gesellschaftlich sich verwirklicht. Die Kunst, die in der Konsequenz
von Valérys Konzeption zu sich selbst kommt, würde Kunst selber
übersteigen und sich erfüllen im richtigen Leben der Menschen.
 Fußnoten
 
1 Vgl. Paul Valéry, Tanz, Zeichnung und Degas, übertr. von Werner
Zemp, Berlin, Frankfurt a.M.o.J. [1951]. – Die im folgenden in
Klammern gesetzten Ziffern beziehen sich auf die Seiten dieses
Bandes.
 
 Noten zur Literatur II
 Zur Schlußszene des Faust
Für den Alexandrinismus, die auslegende Versenkung in
überlieferte Schriften, spricht manches in der gegenwärtigen
geschichtlichen Lage. Scham sträubt sich dagegen, metaphysische
Intentionen unmittelbar auszudrücken; wagte man es, so wäre man
dem jubelnden Mißverständnis preisgegeben. Auch objektiv ist
heute wohl alles verwehrt, was irgend dem Daseienden Sinn
zuschriebe, und noch dessen Verleugnung, der offizielle Nihilismus,
verkam zur Positivität der Aussage, einem Stück Schein, das
womöglich die Verzweiflung in der Welt als deren Wesensgehalt
rechtfertigt, Auschwitz als Grenzsituation. Darum sucht der
Gedanke Schutz bei Texten. Das ausgesparte Eigene entdeckt sich
in ihnen. Aber beide sind nicht Eines: das in den Texten Entdeckte
beweist nicht das Ausgesparte. In solcher Differenz drückt sich das
Negative, die Unmöglichkeit aus; ein O wär' es doch, gleich weit
von der Versicherung, daß es so sei, wie von der, es sei nicht. Die
Interpretation beschlagnahmt nicht, was sie findet, als geltende
Wahrheit und weiß doch, daß keine Wahrheit wäre ohne das Licht,
dessen Spur in den Texten sie folgt. Das färbt sie als die Trauer, von
welcher die Behauptung des Sinnes nichts ahnt und welche von der
Insistenz auf dem, was der Fall sei, krampfhaft verleugnet wird. Der
Gestus des interpretierenden Gedankens gleicht dem
Lichtenbergischen »Weder leugnen noch glauben«, den verfehlte,
wer ihn einebnen wollte auf bloße Skepsis. Denn die Autorität der
großen Texte ist, säkularisiert, jene unerreichbare, die der
Philosophie als Lehre vor Augen steht. Profane Texte wie heilige
anschauen, das ist die Antwort darauf, daß alle Transzendenz in die
Profanität einwanderte und nirgends überwintert als dort, wo sie
sich verbirgt. Blochs alter Begriff der Symbolintention zielt wohl
auf diese Art des Interpretierens.
Dem heute unversöhnlich klaffenden Widerspruch zwischen der
dichterisch integren Sprache und der kommunikativen sah bereits
der alte Goethe sich gegenüber. Der zweite Teil des Faust ist einem
Sprachverfall abgezwungen, der vorentschieden war, seitdem
einmal die dinghaft geläufige Rede in die des Ausdrucks eindrang,
die jener darum so wenig zu widerstehen vermag, weil die beiden
feindlichen Medien doch zugleich eins sind, nie ganz gelöst
voneinander. Was an Goethes Altersstil für gewaltsam gilt, sind
wohl die Narben, die das dichterische Wort in der Abwehr des
mitteilenden davontrug, diesem selber zuweilen ähnlich. Denn
tatsächlich hat Goethe keine Gewalttat an der Sprache begangen. Er
hat nicht, wie es am Ende unvermeidlich ward, mit der
Kommunikation gebrochen und dem reinen Wort eine Autonomie
zugemutet, wie sie, durch den Gleichklang mit dem vom Kommerz
besudelten, allzeit prekär bleibt. Sondern sein restitutives Wesen
trachtet, das besudelte als dichterisches zu erwecken. An keinem
einzelnen könnte das gelingen, so wenig wie in der Musik ein
verminderter Septimakkord, nach der Schande, die ihm die
Vulgarität des Salons antat, je wieder klingt wie jener mächtige am
Anfang von Beethovens letzter Klaviersonate. Wohl aber flammt die
heruntergekommene und zur Metapher verschlissene Wendung dort
noch einmal auf, wo sie buchstäblich genommen ist. Dieser
Augenblick birgt die Ewigkeit der Sprache am Schluß des Faust in
sich. Der Pater profundus preist, als »liebevoll im Sausen«, den
»Blitz, der flammend niederschlug, / Die Atmosphäre zu verbessern,
/ Die Gift und Dunst im Busen trug« (11876–81). Auf den Vorsatz,
die Atmosphäre zu verbessern, redet unterdessen das armseligste
Konferenzkommuniqué sich heraus, wenn es den verängstigten
Völkern vertuschen will, daß wieder nichts erreicht wurde.
Schlachtet der scheußliche Brauch nicht selber bereits einen
Goethevers aus, dessen Kenntnis freilich den zitierfreudigen Herren
schwerlich zuzutrauen ist, so war an der eingängigen Phrase schon
zu Goethes Zeiten kaum viel Segen. Er aber fügt sie in die
Darstellung von Abgrund und Wasserfall ein, die mit ungeheurem
Bogen den Ausdruck der permanenten Katastrophe in einen des
Segens umschafft. »Die Atmosphäre zu verbessern« ist Werk der
furchtbaren Liebesboten, die den in der Schwüle Erstickenden den
Atem des ersten Tages zurückerstatten. Sie retten die Banalität, die
es bleibt, und sanktionieren zugleich das Pathos der dröhnenden
Naturbilder als eines erhabener Zweckmäßigkeit. Ruft wenige Verse
vorm Finis die Mater gloriosa aus: »Komm! hebe dich zu höhern
Sphären!« (12094), so verwandelt ihr Stichwort die eitle Klage der
bürgerlichen Mutter über den mangelnden Realitätssinn ihres
Sprößlings, der allzu gern dort verweile, in die sinnliche Gewißheit
einer Szenerie, deren Bergschluchten zur »höheren Atmosphäre«
geleiten. – »Weichlich« ist ein pejoratives Wort, war es wohl auch
damals. Fleht aber die Magna peccatrix »Bei den Locken, die so
weichlich / Trockneten die heil'gen Glieder« (12043/4), so erfüllt
sich die Form mit der wörtlichen Kraft der adverbiellen
Bestimmung, empfängt die Zartheit des Haares, Zeichen der
erotischen Liebe, in der Aura der himmlischen. Das Unzulängliche,
hier wird's Ereignis, in der Sprache.
 
Berührung der Extreme: man ergötzt sich an dem Vers der
Friederike Kempner, die anstelle des selber schon unmöglichen
Miträupchens vom Miteräupchen spricht, um durch das souverän
eingefügte e die ihren Trochäen fehlende Silbe einzubringen. So hält
ein ungeschickter Knabe, wider die Regel, beim Eierlauf das Ei fest,
um es ungefährdet ans Ziel zu tragen. Aber die Schlußszene des
Faust kennt das gleiche Mittel, dort wo der Pater Seraphicus vom
Wasserstrom, der »abestürzt« (11911) redet; auch in der Pandora
braucht Goethe »abegewendet«. Die sprachgeschichtliche
Begründung, daß es um die mittelhochdeutsche Form der
Präposition sich handle, mildert nicht den Schock, den der
Archaismus, Spur einer metrischen Not, bereiten könnte. Wohl aber
die unermeßliche Distanz eines Pathos, das mit dem ersten Ton so
weit weg ist vom Trug der natürlichen Rede, daß keinem diese
einfiele und keinem das Lachen. Der Schritt vom Erhabenen zum
Lächerlichen, welcher der kleinste sein soll, entscheidet über den
hohen Stil; nur was an den Abgrund der Lächerlichkeit gezogen
wird, hat soviel Gefahr in sich, daß daran das Rettende sich mißt
und daß es gelingt. Wesentlich ist der großen Dichtung das Glück,
das sie vorm Sturz bewahrt. Das Archaische der Silbe jedoch teilt
sich mit, nicht als vergeblich romantisierende Beschwörung einer
unwiederbringlichen Sprachschicht, sondern als Verfremdung der
gegenwärtigen, die sie dem Zugriff entzieht. Dadurch wird sie zum
Träger jener ungeselligen Moderne, von der Goethes Altersstil bis
heute nichts einbüßte. Der Anachronismus wächst der Gewalt der
Stelle zu. Sie führt die Erinnerung an ein Uraltes mit sich, welche
die Gegenwart der leidenschaftlichen Rede als eine des Weltplans
offenbart; als wäre es von Anbeginn so und nicht anders
beschlossen gewesen. Der so schrieb, durfte auch den Chor der
seligen Knaben ein paar Verse weiter singen lassen: »Hände
verschlinget / Freudig zum Ringverein« (11926/7) – ohne daß, was
danach mit dem Wort Ringverein geschah, dem Namen Unheil
brächte. Paradoxe Immunität gegen die Geschichte ist das
Echtheitssiegel jener Szene.
 
In der Strophe der johanneischen Mulier Samaritana heißt es –
abermals dem Vers zuliebe, abermals äußerste Tugend aus Not –
anstatt Abraham Abram (12046). Im Lichtfeld des exotischen
Namens wird aus der vertrauten, von zahllosen Assoziationen
überdeckten Figur aus dem Alten Testament jäh der
östlich-nomadische Stammesfürst. Die treue Erinnerung an ihn wird
mit mächtigem Griff der kanonisierten Tradition entrissen. Das allzu
gelobte Land wird gegenwärtige Vorwelt. Ausgeweitet über die zur
Idylle geschrumpften Patriarchenerzählungen hinaus, gewinnt sie
Farbe und Kontur. Das auserwählte Volk ist jüdisch wie das Bild
der Schönheit im dritten Akt griechisch. Sagt die mit Bedacht
gewählte Bezeichnung Chorus mysticus in der Schlußstrophe mehr
als das vage Cliché einer Sonntagsmetaphysik, dann zitieren die
Sachgehalte, mochte Goethe es wollen oder nicht, jüdische Mystik
herbei. Der jüdische Tonfall der Ekstase, rätselhaft in den Text
verschlagen, motiviert die Bewegung der Sphären jenes Himmels,
der über Wald, Fels und Einöde sich eröffnet. Er ahmt die göttliche
Gewalt in der Schöpfung nach. Der Ausruf des Pater ecstaticus:
»Pfeile, durchdringet mich, /Lanzen, bezwinget mich, / Keulen,
zerschmettert mich, / Blitze, durchwettert mich!« (11858–61);
vollends die Verse des Pater profundus: »O Gott! beschwichtige die
Gedanken, / Erleuchte mein bedürftig Herz!« (11888/9) sind die
einer chassidischen Stimme, aus der kabbalistischen Potenz der
Gewura. Das ist der »Bronn, zu dem schon weiland / Abram ließ die
Herde führen« (12045/6), und daran hat Mahlers Komposition in der
Achten Symphonie sich entzündet.
 
Wer Goethe nicht unter die Gipsplastiken geraten lassen möchte, die
in seinem eigenen Weimarer Haus herumstehen, darf der Frage
nicht ausweichen, warum seine Dichtung mit Grund schön genannt
wird, trotz der prohibitiven Schwierigkeiten, welche der
Riesenschatten der geschichtlichen Autorität seines Werkes einer
Antwort bereitet. Die erste wäre wohl eine eigentümliche Qualität
von Großheit, die nicht mit Monumentalität zu verwechseln ist, aber
der näheren Bestimmung zu spotten scheint. Am ähnlichsten ist sie
vielleicht dem Gefühl des Aufatmens im Freien. Es ist kein
unvermitteltes vom Unendlichen, sondern geht dort auf, wo es ein
Endliches, Begrenztes überschreitet; das Verhältnis zu diesem
bewahrt sie vorm Zerfließen in leeren kosmischen Enthusiasmus.
Großheit selber wird erfahrbar an dem, was von ihr überflügelt wird;
nicht zuletzt darin ist Goethe Wahlverwandter von Hegels Idee. In
der Schlußszene des Faust ist diese rein in der Sprachgestalt
gegenwärtige Großheit nochmals die von Naturanschauung wie in
der Jugendlyrik. Ihre Transzendenz aber läßt konkret sich nennen.
Die Szene beginnt sogleich mit der Waldung, die heranschwankt,
der unvergleichlichen Modifikation eines Motivs aus Shakespeares
Macbeth, das seinem mythischen Zusammenhang entrückt wird: der
Gesang der Verse läßt Natur sich bewegen. Bald darauf hebt der
Pater profundus an: »Wie Felsenabgrund mir zu Füßen / Auf tiefem
Abgrund lastend ruht, /Wie tausend Bäche strahlend fließen / Zum
grausen Sturz des Schaums der Flut, / Wie strack mit eignem
kräftigen Triebe / Der Stamm sich in die Lüfte trägt: /So ist es die
allmächtige Liebe, / Die alles bildet, alles hegt« (11866–73). Die
Verse gelten der Szenerie, einer hierarchisch gegliederten, in Stufen
aufsteigenden Landschaft. Was aber in ihr sich zuträgt, der Sturz des
Wassers, erscheint, als spräche die Landschaft ihre eigene
Schöpfungsgeschichte allegorisch aus. Das Sein der Landschaft hält
inne als Gleichnis ihres Werdens. Es ist dies in ihr verschlossene
Werden, welches sie, als Schöpfung, der Liebe anverwandelt, deren
Walten im Aufstieg von Faustens Unsterblichem verherrlicht wird.
Indem das naturgeschichtliche Wort das verfallene Dasein als Liebe
anruft, öffnet sich der Aspekt der Versöhnung des Natürlichen. Im
Eingedenken ans eigene Naturwesen entragt es seiner
Naturverfallenheit.
 
Das Begrenzte als Bedingung der Großheit hat bei Goethe wie bei
Hegel seinen gesellschaftlichen Aspekt: das Bürgerliche als
Vermittlung des Absoluten. Hart prallt beides zusammen. Nach den
emphatischen Versen »Wer immer strebend sich bemüht, / Den
können wir erlösen« (11936/7), die nicht umsonst von
Anführungszeichen eingefaßt werden wie ein Zitat, Maxime
innerweltlicher Askese, fahren die Engel fort: »Und hat an ihm die
Liebe gar / Von oben teilgenommen, / Begegnet ihm die selige
Schar / Mit herzlichem Willkommen« (11938–41): wie wenn das
Äußerste, wonach die Dichtung tastet, zum Streben nur als
ergänzendes Akzidens hinzukäme; lehrhaft streckt das »gar« den
Zeigefinger in die Höhe. Vom gleichen Geist ist die karge und
herablassende Belobigung Gretchens als der »guten Seele, / die sich
einmal nur vergessen« (12065/6). Um die eigene Weitherzigkeit
unter Beweis zu stellen, meint der Kommentator dazu, die Zahl der
Liebesnächte werde im Himmel nicht nachgerechnet, und markiert
so erst das Philiströse des Passus, der klügelnd die entschuldigt,
welche alle Schmach der männlichen Gesellschaft zu erdulden hatte,
während mit ihrem Geliebten, dem Meuchelmörder ihres Bruders,
weit großzügiger verfahren wird. Lieber als bürgerlich das
Bürgerliche vertuschen sollte man es begreifen in seinem Verhältnis
zu dem, was anders wäre. Dies Verhältnis vielleicht definiert
Goethes Humanität und die des objektiven Idealismus insgesamt.
Die bürgerliche Vernunft ist die allgemeine und eine partikulare
zugleich; die einer durchsichtigen Ordnung der Welt und eines
Kalküls, der dem Vernünftigen sicheren Gewinn verspricht. An
solcher partikularen Vernunft bildet sich die allgemeine, welche
jene aufhöbe; das gute Allgemeine realisierte sich nur durch den
bestimmten Zustand hindurch, in dessen Endlichkeit und
Fehlbarkeit. Die Welt jenseits des Tausches wäre zugleich die, in
welcher kein Tauschender mehr um das Seine gebracht würde;
überspränge Vernunft die Einzelinteressen abstrakt, ohne
Aristotelische Billigkeit, so frevelte sie gegen Gerechtigkeit, und
Allgemeinheit selber reproduzierte das schlechte Partikulare. Das
Verweilen beim Konkreten ist unauslöschliches Moment dessen,
was von der Partikularität sich befreit, während doch deren
Bestimmtsein in solcher Bewegung ebenso als beschränkt bestimmt
wird wie die blinde Herrschaft eines Totalen, das der Partikularität
nicht achtet. Hat der junge Goethe, in einem Entwurf zum ersten
Auftreten Gretchens, »das anmuthige beschränkte des bürgerlichen
Zustands« gerühmt, so ist dies früh geliebte Beschränkte in die
Sprache des alten eingedrungen. So wenig verschmilzt es mit ihr
wie in der bürgerlichen Gesellschaft das Einzelne mit dem Ganzen.
Aber an ihm nährt sich die Kraft des Übersteigens. Nämlich als
Nüchternheit. Das Wort, das dissonierend noch inmitten des
äußersten Überschwangs, sich selbst prüfend und abwägend, seiner
mächtig bleibt, entgeht dem Schein von Versöhnung, der diese
hintertreibt. Erst das Besonnene, Einschränkende, etwa im
Sprachgestus der vollendeteren Engel, die von ihrem Erdenrest
sagen »Und wär' er von Asbest, / Er ist nicht reinlich« (11956/7),
sättigt die Elevation mit der Schwere des bloßen Daseins. Sie erhebt
sich darüber, indem sie es mitnimmt, anstatt ohnmächtig, losgelöste
Idee, es unter sich zu belassen. Human läßt die Sprache das
Nichtidentische, in den protestierenden Worten des jungen Hegel
Positive, Heteronome stehen, opfert es nicht der bruchlosen Einheit
eines idealischen Stilisationsprinzips: im Eingedenken der eigenen
Grenze wird der Geist zum Geist, der über jene hinwegträgt. Das
Pedantische, dessen Einschlag der Schlußszene insgesamt nicht
fehlt, ist nicht nur Eigenheit, sondern hat seine Funktion. Es giriert
die Verpflichtungen, welche die Handlung umschreiben, ebenso wie
die, welche die Dichtung selbst eingeht, indem sie die Handlung
entfaltet. Nur dadurch aber, daß der Ausdruck Schuldverschreibung
seine schwere Doppelbedeutung, die einer zu begleichenden
Rechnung und die der Schuldhaftigkeit des Lebenszusammenhangs
behält, bewegt sich das Irdische dergestalt, wie das Gleichnis der
heranschwankenden Waldung es erheischt. Der Bodensatz des
Pedestren, nicht vollends Spiritualisierten will durch seine Differenz
vom Geiste dessen Vermögen zur Rettung verbürgen. Eingebracht
wird die Dialektik des Namens aus dem Prolog im Himmel, wo
Faust dem Mephistopheles der Doktor heißt, dem Herrn aber sein
Knecht. Die Nüchternheit ist die des Geheimrats und die heilige in
eins.
 
Das fiktive Zitat »Wer immer strebend sich bemüht« bezieht sich,
wie man weiß, gleich den darauffolgenden Versen der jüngeren
Engel auf die Wette, über die freilich bereits in der
Grablegungsszene entschieden ist, wo die Engel Faustens
Unsterbliches entführen. Was hat man nicht alles angestellt mit der
Frage, ob der Teufel die Wette nun gewonnen oder verloren habe.
Wie sophistisch hat man an den Potentialis »Zum Augenblicke dürft'
ich sagen« sich geklammert, um herauszulesen, daß Faust das
»Verweile doch, du bist so schön« des Studierzimmers gar nicht
wirklich spreche. Wie hat man nicht, mit der erbärmlichsten
largesse, Buchstaben und Sinn des Paktes unterschieden. Als wäre
nicht die philologische Treue die Domäne dessen, der auf der
Unterschrift mit Blut besteht, weil es ein ganz besonderer Saft sei;
als hätte in einer Dichtung, die wie kaum eine andere deutsche dem
Wort den Vorrang erteilt vorm Sinn, die dümmlich sublime
Berufung auf diesen die geringste Legitimation. Die Wette ist
verloren. In der Welt, in der es mit rechten Dingen zugeht, in der
Gleich um Gleich getauscht wird – und die Wette selbst ist ein
mythisches Bild des Tauschs – hat Faust verspielt. Nur
rationalistisches, nach Hegels Sprachgebrauch reflektierendes
Denken möchte sein Unrecht in Recht verbiegen inmitten der
Sphäre des Rechts. Hätte Faust die Wette gewinnen sollen, so wäre
es absurd, Hohn auf die künstlerische Ökonomie gewesen, ihm im
Augenblick seines Todes eben die Verse in den Mund zu legen, die
ihn dem Pakt zufolge dem Teufel überantworten. Vielmehr wird
Recht selber suspendiert. Eine höhere Instanz gebietet der
Immergleichheit von Credit und Debet Einhalt. Das ist die Gnade,
auf welche das trockene »gar« verweist: wahrhaft jene, die vor
Recht ergeht; an der der Zyklus von Ursache und Wirkung zerbricht.
Der dunkle Drang der Natur steht ihr bei, aber gleicht ihr nicht ganz.
Die Antwort der Gnade auf das Naturverhältnis, wie immer auch in
diesem vorgedacht, springt doch umschlagend als neue Qualität
hervor und setzt in die Kontinuität des Geschehenden die Zäsur.
Diese Dialektik hat die Dichtung sichtbar genug gemacht mit dem
alten Motiv des betrogenen Teufels, dem nach seinem Maß, dem
rechtenden Verstande, der wie Shylock auf dem Schein besteht, das
Verbriefte vorenthalten wird. Ginge die Rechnung so bündig auf,
wie jene es wollen, welche die Gnade vorm Teufel verteidigen zu
müssen glauben, der Dichter hätte sich den kühnsten Bogen seiner
Konstruktion ersparen können: daß der Teufel, bei ihm schon der
von Kälte, übertölpelt wird von der eigenen Liebe, die Negation der
Negation. In der Sphäre des Scheins, des farbigen Abglanzes,
erscheint Wahrheit selber als das Unwahre; im Licht der
Versöhnung jedoch verkehrt diese Verkehrung sich abermals. Noch
das Naturverhältnis der Begierde, das dem Zusammenhang der
Verstrickung angehört, enthüllt sich als das, was dem Verstrickten
entrinnen hilft. Die Metaphysik des Faust ist nicht jenes strebende
Bemühen, dem im Unendlichen die neukantische Belohnung winkt,
sondern das Verschwinden der Ordnung des Natürlichen in einer
anderen.
 
Oder ist es auch das noch nicht? Ist nicht gar die Wette »im
höchsten Alter« Faustens vergessen, samt aller Untat, die der
Verstrickte beging oder gestattete, selbst noch der letzten gegen
Philemon und Baucis, deren Hütte dem Herrn des neu den
Menschen unterworfenen Bodens so wenig erträglich ist wie aller
naturbeherrschenden Vernunft, was ihr nicht gleicht? Ist nicht die
epische Gestalt der Dichtung, die sich Tragödie nennt, die des
Lebens als eines Verjährens? Wird nicht Faust darum gerettet, weil
er überhaupt nicht mehr der ist, der den Pakt unterschrieb; hat nicht
das Stück in Stücken seine Weisheit daran, wie wenig mit sich
selbst identisch der Mensch ist, wie leicht und winzig jenes
»Unsterbliche«, das da entführt wird, als wäre es nichts? Die Kraft
des Lebens, als eine zum Weiterleben, wird dem Vergessen
gleichgesetzt. Nur durchs Vergessen hindurch, nicht unverwandelt
überlebt irgend etwas. Darum wird der Zweite Teil präludiert vom
unruhigen Schlaf des Vergessens. Der Erwachende, dem »des
Lebens Pulse frisch lebendig schlagen«, der »wieder nach der Erde
blickt«, vermag es nur, weil er nichts mehr weiß von dem Grauen,
das zuvor geschah. »Dieses ist lange her.« Auch im Anfang des
zweiten Akts, der ihn nochmals im engen gotischen Zimmer,
»ehemals Faustens, unverändert«, zeigt, naht er der eigenen Vorwelt
nur sich als Schlafender, gefällt von der Phantasmagorie des
Künftigen, der Helenas. Daß im Zweiten Teil so spärlich der
Realien des ersten gedacht wird; daß die Verbindung sich lockert,
bis die Deutenden nichts in Händen halten als die dünne Idee
fortschreitender Läuterung, ist selber die Idee. Wenn aber, mit
einem Verstoß gegen die Logik, dessen Strahlen alle Gewalttaten
der Logik heilt, in der Anrufung der Mater gloriosa als der
Ohnegleichen das Gedächtnis an Gretchens Verse im Zwinger wie
über Äonen heraufdämmert, dann spricht daraus überselig jenes
Gefühl, das den Dichter mag ergriffen haben, als er kurz vor seinem
Tod auf der Bretterwand des Gickelhahns das Nachtlied wieder las,
das er vor einem Menschenalter darauf geschrieben hatte. Auch jene
Hütte ist verbrannt. Hoffnung ist nicht die festgehaltene Erinnerung
sondern die Wiederkunft des Vergessenen.
 Balzac-Lektüre
 
Für Gretel
 
Kommt der Bauer in die Stadt, so sagt ihm alles: verschlossen. Die
mächtigen Türen, die Fenster mit Rouleaus, die ungezählten
Menschen, die er nicht kennt und zu denen er, bei der Strafe der
Lächerlichkeit, nicht sprechen darf, selbst die Geschäfte mit
unerschwinglichen Waren weisen ihn ab. Eine derbe Novelle von
Maupassant weidet sich an der Blamage des Unteroffiziers, der im
fremden Milieu einen respektablen Familienkreis mit einem Bordell
verwechselt: diesem, dem Heimlichen und lockend Verbotenen,
ähnelt in den Augen des Zugereisten jegliches Versperrte. Cooleys
soziologische Unterscheidung primärer und sekundärer Gruppen
danach, ob es Beziehungen von Angesicht zu Angesicht gibt oder
nicht, bekommt schmerzhaft am eigenen Leib zu spüren, wer jäh
von der einen in die andere verschlagen ist. Literarisch war Balzac
wohl der erste solche paysan de Paris und behielt seinen Habitus, als
er gründlich Bescheid wußte. Aber zugleich inkarnierten sich in ihm
die Produktivkräfte des Bürgertums auf der Schwelle zum
Hochkapitalismus. Als erfinderisches Ingenium reagiert er aufs
Verschlossensein: gut, so werd ich mir ausdenken, was dahinter
vorgeht, und da soll die Welt einmal etwas zu hören bekommen. Die
Rancune des Provinzialen, der mit empörter Ignoranz an dem sich
berauscht, was sie seiner Vorstellung zufolge selbst in jenen
allerersten Kreisen treiben, wo man es am letzten erwarte, wird zum
Motor exakter Phantasie. Zuweilen kommt die Groschenromantik
heraus, mit deren kommerziellem Betrieb Balzac in seiner Frühzeit
Kompagnie hatte; zuweilen der Kinderspott von Sätzen des Typus:
jedesmal, wenn man freitags gegen elf Uhr vormittags an dem Haus
rue Miromesnil 37 vorbeigeht und die grünen Läden des ersten
Stocks noch nicht geöffnet sind, kann man sicher sein, daß in der
Nacht vorher dort eine Orgie stattfand. Zuweilen aber treffen die
kompensatorischen Phantasien des Weltfremden die Welt genauer
denn der Realist, als den man ihn pries. Die Entfremdung, die ihn
zum Schreiben veranlaßte, wie wenn jeder Satz der emsigen Feder
eine Brücke ins Unbekannte schlüge, ist selber das geheime Wesen,
das er erraten möchte. Was die Menschen voneinander reißt und sie
dem Dichter fernrückt, hält auch die Bewegung der Gesellschaft in
Gang, deren Rhythmus Balzacs Romane nachahmen. Das
abenteuerlich erdachte und unwahrscheinliche Schicksal des Lucien
de Rubempré wird ins Rollen gebracht von den sachverständig
beschriebenen technischen Veränderungen des Druckverfahrens wie
des Papiers, die Literatur als Massenproduktion ermöglichten;
Cousin Pons, der Sammler, ist außer Mode auch darum, weil er als
Komponist hinter den gleichsam industriellen Fortschritten der
Instrumentationstechnik zurückblieb. Solche Durchblicke Balzacs
wiegen so viel an Forschung auf, weil sie aus einem Begriff der
Sache kommen und ihn wiederum rekonstruieren, den die
Forschung verblendet auszumerzen sich bemüht. Seiner
intellektuellen Anschauung ist aufgegangen, daß im
Hochkapitalismus die Menschen, nach dem späteren Ausdruck von
Marx, Charaktermasken sind. Verdinglichung erstrahlt in
morgendlicher Frische, den leuchtenden Farben des Ursprungs,
schauerlicher als die Kritik der politischen Ökonomie am hohen
Mittag. Den Agenten eines Beerdigungsinstituts um 1845, der dem
Genius des Todes gleicht – den hat keine Satire des Amerikanismus
in den hundert Jahren danach, auch die Evelyn Waughs nicht
überboten. Desillusion, wie sie einem seiner größten Romane und
einer literarischen Gattung den Namen schenkte, ist die Erfahrung,
daß die Menschen und ihre gesellschaftliche Funktion auseinander
klaffen. Den Totalitätscharakter der Gesellschaft, den zuvor die
klassische Ökonomie und die Hegelsche Philosophie theoretisch
dachten, hat er schlagend aus dem Ideenhimmel zur sinnlichen
Evidenz hinabzitiert. Keineswegs bleibt jene Totalität bloß extensiv,
die Physiologie des gesamten Lebens in seinen verschiedenen
Sparten, welche das Programm der Comédie humaine bilden
mochte. Sie wird intensiv als Funktionszusammenhang. In ihr tobt
die Dynamik: daß nur als ganze, durchs System hindurch, die
Gesellschaft sich reproduziert, und daß es des letzten Mannes als
Kunden dazu bedarf. Wohl erscheint das perspektivisch verkürzt,
allzu unmittelbar wie stets, wenn Kunst die abstrakt gewordene
Gesellschaft anschaulich zu beschwören sich vermißt. Aber die
individuellen Schandtaten, mit denen sie sich gegenseitig, sichtbar,
den unsichtbar bereits angeeigneten Mehrwert abjagen, lassen das
Unwesen so plastisch hervortreten, wie es sonst einzig durch die
Vermittlungen des Begriffs hindurch gelingen könnte. Die
Présidente braucht zu ihrem Erbmanöver den Winkeladvokaten und
die Concierge: Gleichheit ist verwirklicht insofern, als das falsche
Ganze alle Klassen einspannt in seine Schuld. Selbst das
Hintertreppenhafte, über das literarischer Geschmack wie
Weltkenntnis die Nase rümpfen, hat seine Wahrheit: allein am
Rande entblößt sich, was in den Schächten der Gesellschaft, der
Unterwelt ihrer Produktionssphäre sich zuträgt, und woraus in einer
späteren Phase die totalitären Greuel aufstiegen. Balzacs Stunde war
solcher exzentrischen Wahrheit günstig, eine ursprünglicher
Akkumulation 1 , altertümlicher Conquistadorenwildheit inmitten
der französischen industriellen Revolution des früheren neunzehnten
Jahrhunderts. Kaum je wohl hat überhaupt die Aneignung fremder
Arbeit rein nach den Marktgesetzen sich vollzogen. Das Unrecht,
das jenen Gesetzen selbst innewohnt, vermehrt sich in dem jeder
einzelnen Handlung, ein Surplusprofit der Schuld. Versierte mögen
Balzac der schlechten Psychologie von Filmen überführen. Es gibt
gute genug bei ihm. Jene Concierge ist kein Ungeheuer schlechthin,
sondern war, was ihre Mitbürger eine rührende Person nennen, ehe
sie von deren social disease, der Gier, befallen wird. Ebensogut
weiß Balzac, wie Kennerschaft – die Sache – das bloße Profitmotiv
überflügelt, wie die Produktivkraft über die Produktionsverhältnisse
hinausschießt; er weiß auch, wie die bürgerliche Individuation als
Wucherung idiosynkratischer Züge zugleich die Individuen,
eingefleischte Fresser oder Geizhälse, zerstört; er ahnt das
Mütterliche als Geheimnis der Freundschaft; hat den Instinkt dafür,
daß dem Edlen die geringste Schwäche zum Verhängnis gereicht, so
wie Pons in die Maschinerie des Untergangs durch seine
Gourmandise gerät. Daß Madame de Nucingen Dritten gegenüber
von einer Aristokratin mit dem Vornamen spricht, um den Anschein
zu erwecken, sie verkehre bei ihr, könnte bei Proust stehen. Wo aber
Balzac wirklich seinen Personen marionettenhafte Züge leiht,
legitimieren sich diese jenseits der psychologischen Sphäre. Im
tableau économique der Gesellschaft agieren die Menschen wie die
Marionetten auf dessen mechanischem Modell im Schloß von
Hellbrunn. Nicht umsonst ähneln viele von Daumiers Karikaturen
dem Polichinell. In seinem Geist demonstrieren Balzacs
Geschichten die soziale Unmöglichkeit von Wohlgeratenheit und
Integrität. Sie grinsen: wer kein Verbrecher ist, muß zugrunde
gehen; manchmal schreien sie es heraus. Darum fällt das Licht des
Humanen auf Verfemte, die Hure, fähig zur großen Passion und zur
Selbstaufopferung, den Galeerensträfling und Mörder, der als
interesseloser Altruist handelt. Weil dem physiologischen Verdacht
Balzacs die Bürger Verbrecher sind; weil jeder, der unbekannt und
undurchdringlich über die Straße flaniert, aussieht, als habe er die
Erbsünde der gesamten Gesellschaft begangen – deshalb sind ihm
die Verbrecher und Ausgestoßenen Menschen. Das erklärt
vielleicht, daß er die Homosexualität, der die Novelle Sarrasine
gewidmet ist und auf der die Konzeption Vautrins basiert, der
Literatur entdeckte. Angesichts des unwiderstehlich sich
durchsetzenden Tauschprinzips mochte er von der geächteten,
vorweg hoffnungslosen Liebe etwas wie deren unverstümmelte
Gestalt sich erträumen: er traut sie dem falschen Kanonikus zu, der
als Banditenhäuptling den Äquivalententausch aufgekündigt hat.
 
Balzac hegte eine besondere Liebe zu den Deutschen, zu Jean Paul,
zu Beethoven; sie wurde ihm von Richard Wagner entgolten und
von Schönberg. Trotz des visuellen Penchant hat sein Werk
überhaupt etwas Musikalisches. Erinnert viele Symphonik des
neunzehnten und des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts in
ihrem Hang zu großen Situationen, in leidenschaftlichem Anstieg
und Sturz, in der ungebärdigen Fülle von Lebendigem an Romane,
so sind dafür die Balzacschen, Archetypen der Gattung, musikhaft
im Strömenden, Gestalten Hervorbringenden und wiederum in sich
Hineinsaugenden, in Setzung und Abwandlung von Charakteren, die
auf dem Band des Traums dahintreiben. Scheint die romanhafte
Musik wie im Finstern, abgeblendet gegen die Konturen der
Gegenständlichkeit, im Kopf deren Bewegung zu wiederholen, so
schwirrt der Kopf dem, der, auf die Fortsetzung spannend, Balzacs
Seiten umwendet, als wären all ihre Beschreibungen und Aktionen
der Vorwand für ein wildes und buntes Getön, das ihn durchflutet.
Sie gewähren, was dem Kind die Zeilen der Flöten, Klarinetten,
Hörner und Pauken verhießen, ehe es recht Partitur lesen konnte. Ist
Musik die im Innenraum entgegenständlichte Welt noch einmal,
dann ist der als Welt nach außen projizierte Innenraum von Balzacs
Romanen die Rückübersetzung von Musik ins Kaleidoskop. An
seiner Beschreibung des Musikers Schmucke läßt sich denn auch
entnehmen, worauf seine Germanophilie ging. Sie ist desselben
Wesens wie die Wirkung der deutschen Romantik in Frankreich,
vom Freischütz und von Schumann bis zum Antirationalismus des
zwanzigsten Jahrhunderts. Nicht allein jedoch verkörpert gegenüber
dem lateinischen Terror der clarté das deutsche Dunkle im
Labyrinth von Balzacs Sätzen ebensoviel an Utopie, wie umgekehrt
die Deutschen an der Aufklärung verdrängten. Darüber hinaus mag
Balzac auf die Konstellation von Chthonischem und Humanität
angesprochen haben. Denn Humanität ist das Eingedenken der
Natur im Menschen. Er folgt ihr dorthin, wo Unmittelbarkeit vorm
Funktionszusammenhang der Gesellschaft sich verkriecht und an
ihm zuschanden wird. So archaisch ist aber auch die poetische
Kraft, die in ihm das grimmige Scherzo der Moderne entbindet. Der
Allmensch, das transzendentale Subjekt gleichsam, das hinter
Balzacs Prosa zum Schöpfer, dem der in zweite Natur verhexten
Gesellschaft sich aufwirft, ist wahlverwandt dem mythischen Ich der
großen deutschen Philosophie und der ihr korrespondierenden
Musik, das alles was ist aus sich selbst heraus setzt. Während
solcher Subjektivität das Menschliche beredt wird durch die Kraft
ursprünglicher Identifikation mit dem Anderen, als das sie sich
selbst weiß, ist sie zugleich immer auch unmenschlich in der
Gewalttat, die damit umspringt, es ihrem Willen untertan macht.
Balzac rückt der Welt um so näher auf den Leib, je weiter er von ihr
sich entfernt, indem er sie schafft. Die Anekdote, der zufolge er in
den Tagen der Märzrevolution von den politischen Begebenheiten
sich abkehrte und an den Schreibtisch ging mit den Worten:
»Kehren wir zur Wirklichkeit zurück«, beschreibt ihn treu, auch
wenn sie erfunden sein sollte. Sein Gestus ist der des späten
Beethoven, der im Hemd, wütend vor sich hinbrummend, Noten des
cis-moll-Quartetts riesenhaft vergrößert an die Wand seines
Zimmers malte. Wie in der Paranoia spielen Wut und Liebe
ineinander. Nicht anders treiben die Elementargeister ihren
Schabernack mit den Menschen und helfen den Armen.
 
Freud ist nicht entgangen, daß der Paranoiker ein System hat wie die
Philosophen. Alles hängt zusammen, überall walten Beziehungen,
alles dient einem geheimen und sinistren Zweck. Was aber
heranreift in der realen Gesellschaft, von der Balzac zuweilen redet,
wie jene Gräfinnen, die bien, bien sagen, weil sie ein fließendes
Französisch sprechen, ist davon nicht gar zu verschieden. Es
formiert sich ein System universaler Abhängigkeiten und
Kommunikationen. Die Konsumenten bedienen die Produktion.
Können sie die Waren nicht bezahlen, so gerät das Kapital in die
Krise, die jene vernichtet. Das Kreditwesen kettet das Schicksal des
einen an das des anderen, mögen sie es wissen oder nicht. Das
Ganze bedroht die, aus denen es sich zusammensetzt, mit dem
Untergang, indem es sie reproduziert, und öffnete, solange seine
Oberfläche noch nicht ganz dicht gefügt ist, den Durchblick auf
dessen Potential. An den unerwartetesten Stellen der Comédie
humaine tauchen als Passanten der Stollen wohlbekannte Personen
wieder auf, die Gobsecks, Rastignacs und Vautrins, in
Konstellationen, die nur der Beziehungswahn erdenken, nur das
Dictionnaire biographique des personnages fictifs de la Comédie
humaine ordnen kann. Aber die fixen Ideen, die überall dieselben
Mächte am Werk vermuten, bewirken Kurzschlüsse, in denen für
einen Augenblick der Gesamtprozeß aufleuchtet. Deshalb schlägt
die Entfernung des Subjekts von der Wirklichkeit durch Obsession
mit ihr um in exzentrische Nähe.
 
Am frühen Industrialismus gewahrt Balzac, der mit der Restauration
sympathisierte, Symptome, die man erst der Phase der Entartung
zuzuschreiben pflegt. In den Illusions perdues antezipiert er den
Angriff von Karl Kraus auf die Presse; dieser hat auf ihn sich
berufen. Gerade die restaurativen Journalisten haben es bei ihm am
schlechtesten; der Widerspruch zwischen ihrer Ideologie und dem a
priori demokratischen Medium zwingt sie zum Zynismus. Derlei
objektive Sachverhalte vertragen sich nicht mit Balzacs Gesinnung.
Die Konflikte in der sich durchsetzenden neuen Produktionsweise
sind so ungemildert wie seine Phantasie und setzen sich fort in der
Struktur seiner Gebilde. Romantischer und realistischer Aspekt
überblenden sich in Balzac geschichtlich. Die Financiers, Pioniere
der noch nicht etablierten Industrie, sind Abenteurer aus dem Epos,
dessen Kategorien der noch im achtzehnten Jahrhundert geborene
Dichter ins neunzehnte hinüberrettet. Vor dem Hintergrund der
erschütterten, aber fortbestehenden vorbürgerlichen Ordnung nimmt
die losgelassene Rationalität etwas Irrationales gleich dem
universalen Schuldzusammenhang an, der jene ratio bleibt; in ihren
ersten Beutezügen präludiert sie die Irrationalität ihrer Spätphase.
Die Normen des homo oeconomicus sind noch nicht zu
standardisierten Verhaltensweisen der Menschen geworden; die
Jagd nach dem Profit ähnelt noch der Blutgier undomestizierter
Jäger, das Ganze der unerbittlich blinden Verkettung von Schicksal.
Adam Smith's invisible hand wird bei Balzac zur schwarzen Hand
an der Kirchhofsmauer. Wovor Hegels Spekulation in der
Rechtsphilosophie ebenso erschrak wie der Positivist Comte, die
sprengenden Tendenzen des Systems, das die naturwüchsigen
Strukturen verdrängt, das flammt Balzacs hingerissener Betrachtung
als chaotische Natur auf. Seine Epik berauscht sich an dem, was die
Theoretiker so wenig vertragen konnten, daß Hegel als
Schiedsrichter den Staat beschwor und Comte die Soziologie.
Balzac braucht beides nicht, weil in ihm das Kunstwerk selber als
jene Instanz auftritt, welche mit weiter Gebärde die zentrifugalen
Kräfte der Gesellschaft umfängt.
 
Der Balzacsche Roman lebt von der Spannung zwischen den
Leidenschaften der Menschen und einer Verfassung der Welt, die
tendenziell Leidenschaft, als Störung des Betriebs, bereits nicht
mehr toleriert. Die Leidenschaften steigern sich an den Verboten
und Versagungen, denen sie damals wie je unterworfen sind, zur
Manie. Unerfüllt, werden sie deformiert zugleich und unersättlich,
pathische Eigenheiten. Noch aber verschwinden die Triebe nicht
durchaus in den gesellschaftlichen Schemata. Sie heften sich an die
weithin noch unerreichbaren Güter, solche zumal, auf denen ein
natürliches Monopol liegt, oder treten als Geiz, Geldgier und
Gründerwut in den Dienst des expansiven Kapitalismus, der,
solange er nicht ganz eingespielt ist, zusätzlicher Energien der
Individuen bedarf. Die Parole enrichissez-vous bringt die Figuren
Balzacs zum Tanzen. Während die frühindustrielle Welt den an sie
noch nicht Adaptierten den Doppelsinn des Wortes Bazar, den von
Tausendundeiner Nacht und Warenhaus, von Märchen und
Kommerz bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein entgegenkehrt – so
ließ der Zufall den Namen eines der wichtigsten von Saint-Simons
Schülern klingen –, tummeln davor die Leute sich wie Agenten und
Irrfahrer zugleich, Agenten des Mehrwerts und Don Quixoten eines
Reichtums, von dessen Erweiterung sie, wie Feudale ohne viel
Arbeit, etwas zu ergattern hoffen, Glücksritter, anstürmend gegen
die Windmühlen der Fortuna, die sie nach dem Gesetz der
Durchschnittsprofitrate zu Boden schlägt. So bunt ist der Einbruch
des Graus, so bezaubernd die Entzauberung der Welt, so viel läßt
von dem Prozeß sich erzählen, dessen Prosa dafür sorgt, daß es bald
nichts mehr zu erzählen gibt. Wie der Lyriker der Epoche hat auch
ihr Epiker die Blumen des Bösen gepflückt, dort, wo auf dem
sozialistischen Volksatlas »Sumpf des Kapitalismus« verzeichnet
steht. Mag immer der romantische Aspekt von Balzacs Werk
subjektiv von geschichtlicher Zurückgebliebenheit, vom
vorkapitalistischen Blick dessen herrühren, der als Opfer der
liberalen Gesellschaft sehnsüchtig zurückschaut und dennoch an
ihren Prämien partizipieren möchte – er entstammt gleichwohl
ebenso der gesellschaftlichen Realität: und einer realistischen
Formgesinnung, welche auf diese zielt. Balzac braucht nur mit
ernüchtert verbissenem »So fürchterlich ist die Welt« sie zu
schildern, und die katastrophischen Prätuberanzen werden zur
Aureole.
 
Welcher deutsche Leser Balzacs, der gewissenhaft zum
französischen Original greift, wäre nicht schon in Verzweiflung
geraten über die unzähligen ihm unbekannten Vokabeln für
spezifische Differenzen von Gegenständen, die er im Wörterbuch
suchen muß, wenn nicht die Lektüre schwimmen soll; bis er dann
resigniert und beschämt den Übersetzungen sich anvertraut. Die
handwerkliche Genauigkeit des Französischen selber, der Respekt
für Nuancen des Materials wie der Bearbeitung, in dem so viel von
Kultur sich niederschlägt, mag dafür verantwortlich sein. Aber
Balzac outriert das. Zuweilen setzt er die Kenntnis ganzer
technischer Terminologien von Spezialgebieten voraus. Das fällt in
einen umfassenderen Kontext seines Werkes. Dieser reißt oft mit
den ersten Sätzen einer Erzählung den Leser in sich hinein.
Präzision fingiert äußerste Nähe zu den Sachgehalten und damit
leibhaftige Gegenwart. Balzac übt die Suggestion des Konkreten
aus. Sie ist aber so überwertig, daß man ihr nicht arglos nachgeben,
sie nicht der ominösen Fülle epischer Anschauung gutschreiben soll.
Viel eher ist jene Konkretheit, worauf ihr Eifer verweist:
Beschwörung. Um durchschaut zu werden, kann die Welt nicht
mehr angeschaut werden. Dafür, daß der literarische Realismus
überholt ward, weil er als Darstellung der Realität diese verfehlt, ist
kein besserer Zeuge zu zitieren als derselbe Brecht, der dann in die
Zwangsjacke des Realismus schlüpfte, als wäre sie ein
Maskenkostüm. Er hat gesehen, daß das ens realissimum Prozesse
sind, keine unmittelbaren Tatsachen, und sie lassen sich nicht
abbilden: »Die Lage wird dadurch so kompliziert, daß weniger denn
je eine einfache ›Wiedergabe der Realität‹ etwas über die Realität
aussagt. Eine Photographie der Kruppwerke oder der AEG ergibt
beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die
Funktionale gerutscht. Die Verdinglichung der menschlichen
Beziehungen, also etwa die Fabrik, gibt die letzteren nicht mehr
heraus.« 2 Zu Balzacs Zeit war das noch nicht zu erkennen. Er
rekonstruiert die Welt aus den Verdachten des Outsiders. Dazu
bedarf er, reaktiv, der permanenten Versicherung, eben so sei es und
nicht anders. Konkretion ersetzt jene reale Erfahrung, die nicht bloß
den großen Dichtern des industriellen Zeitalters fast
unvermeidlicher Weise mangelt, sondern dessen eigenem Begriff
inkommensurabel wird. Die Absonderlichkeit Balzacs wirft Licht
auf einen Zug der Prosa des neunzehnten Jahrhunderts insgesamt
seit Goethe. Der Realismus, dem auch idealisch Gesonnene
nachhängen, ist nicht primär, sondern abgeleitet: Realismus aus
Realitätsverlust. Epik, die des Gegenständlichen, das sie zu bergen
trachtet, nicht mehr mächtig ist, muß es durch ihren Habitus
übertreiben, die Welt mit exaggerierter Genauigkeit beschreiben,
eben weil sie fremd geworden ist, nicht mehr in Leibnähe sich
halten läßt. Jener neueren Gegenständlichkeit, die dann in Werken
wie Zolas Ventre de Paris zur Auflösung von Zeit und Aktion, zu
einer sehr modernen Konsequenz getrieben ward, wohnt schon in
Stifters Verfahrungsweise, ja in den Sprachformeln des späteren
Goethe ein pathogener Kern inne, der Euphemismus. Analog setzen
Zeichnungen Schizophrener nicht aus dem isolierten Bewußtsein
eine Phantasiewelt. Vielmehr kritzeln sie die Details der verlorenen
Objekte mit einer Akribie, die Verlorenheit selber ausdrückt. Das,
keine ungebrochene Ähnlichkeit mit den Dingen, ist die Wahrheit
des literarischen Konkretismus. Nach der Sprache der analytischen
Psychiatrie wäre er ein Restitutionsphänomen. Darum ist es so
töricht, realistische Stilprinzipien der Literatur einem – nach dem
Cliché des Ostbereichs – gesunden, nicht dekadenten Verhältnis zur
Wirklichkeit gleichzusetzen. Normal, das Wort emphatisch
genommen, wäre dies Verhältnis, wo das dichterische Subjekt das
gesellschaftliche Unwesen bannt, indem es die verhärtete und darum
entfremdete Fassade der Empirie durchbricht.
 
Marx belegt eine Bemerkung über die kapitalistische Funktion des
Geldes im Gegensatz zum altertümlichen Horten mit Balzac:
»Verschluß des Geldes gegen die Zirkulation wäre gerade das
Gegenteil seiner Verwertung als Kapital, und Warenakkumulation
im schatzbildnerischen Sinn reine Narrheit. So ist bei Balzac, der
alle Schattierungen des Geizes so gründlich studiert hatte, der alte
Wucherer Gobseck schon verkindischt, als er anfängt, sich einen
Schatz aus aufgehäuften Waren zu bilden.« 3 Der Weg aber, der
Balzac zu jener »tiefen Auffassung der realen Verhältnisse« geleitet,
die Marx anderswo 4 ihm attestiert, verläuft in der Gegenrichtung
der ökonomischen Analyse. Wie ein Kind fasziniert ihn das
Schreckbild und die Narretei des Wucherers. Sein Emblem ist der
Schatz, mit dem er infantil sich umgibt. Zur Narretei ist er erst
geschichtlich geworden, das vorkapitalistische Rudiment im Herzen
des Freibeuters der Zirkulation. Solche blinde Physiognomik, nicht
theoretisch orientierte Dichtung genügt der dialektischen Theorie
und trifft die Tendenz. Kein legitimes Verhältnis von Kunst und
Erkenntnis wird dadurch gestiftet, daß die Kunst der Wissenschaft
Thesen abborgt, sie illustriert, ihr vorausläuft, um von ihr eingeholt
zu werden. Erkenntnis wird sie, wo sie ohne Vorbehalt der Arbeit an
ihrem Material sich anvertraut. Das war aber bei Balzac die
Anstrengung einer Phantasie, die nicht rastet, bis ihre Produkte so
sehr sich selbst gleichen, daß sie auch der Gesellschaft gleichen, vor
der sie retirieren.
 
Von der bürgerlichen Illusion, das Individuum sei wesentlich für
sich, und die Gesellschaft oder das Milieu wirke von außen auf es
ein, ist Balzac noch, oder schon, frei. Seine Romane stellen nicht
nur die Übermacht gesellschaftlicher, zumal ökonomischer
Interessen über die private Psychologie dar, sondern auch die
gesellschaftliche Genese der Charaktere in sich selber. Vorab
werden sie motiviert von ihren Interessen, denen von Karriere und
Erwerb, dem Mischprodukt aus feudal-hierarchischem Status und
bürgerlich-kapitalistischer Verfügung. Dabei jedoch ist die
Divergenz zwischen menschlicher Bestimmung und sozialer Rolle
agnostiziert. Die kraft ihrer Interessen als Räder des Getriebes
Fungierenden behalten ein Residuum an Eigenschaften, das sie in
der späteren Entwicklung einbüßen. Es geht mit den Interessen und
der Interessenpsychologie nicht zusammen. Die gleichen Personen,
die als Wirtschaftsführer ihre Konkurrenten gleichermaßen mit
ökonomischen und kriminellen Mitteln ruinieren, ruinieren bei
Balzac sich selbst, wenn der Sexus sie übermannt, für den die
Interessen ihnen keine Zeit ließen. Täppisch verfällt der ältliche,
brutale und gewissenlose Nucingen der blutjungen Esther, die ihn
nach Hurenart und besten Kräften um sich selber betrügt, weil sie
der Engel ist, der vergebens unter die Glücksräder sich wirft, den
Geliebten zu erretten.
 
Den von einem Tag zum anderen als Journalisten arrivierten Lucien
Chardon sucht der Herzog de Rhétoré für die Sache des Royalismus
zu gewinnen mit den Worten: »Vous vous êtes montré un homme
d'esprit, soyez maintenant un homme de bon sens.« Er hat damit die
bürgerliche Ansicht von Vernunft und Verstand kodifiziert. Sie ist
das Gegenteil dessen, was Kant darüber verkündet. Geist – die
»Ideen« – leiten, »regulieren« nicht den Verstand, sondern
behindern ihn. Balzac diagnostiziert jene Gesundheit, die tödliche
Angst davor hat, einer könne zu gescheit sein. Wer vom Geist
beherrscht wird, anstatt ihn als Mittel zu beherrschen, dem geht es
um die Sache als Zweck. Immer wieder unterliegt er, etwa in
Gremien, solchen, denen diese gleichgültig ist, er hält sie nur auf.
Sie können ihre ungeschmälerte Energie der Taktik widmen, etwas
zu erreichen. Ihren Erfolgen gegenüber wird der Geist zur
Dummheit. Reflexion, die in den je gegebenen Situationen,
Forderungen, Notwendigkeiten nicht sich bescheidet, Unnaivetät
also, versagt als Naivetät. Nicht bloß sind bon sens und esprit nicht
dasselbe, sondern zwischen ihnen herrscht eine Antinomie. Wer
esprit hat, wird die Desiderate des bon sens kaum recht kapieren:
»Die Sprache der Menschen verstand ich nie.« Der bon sens aber ist
allemal auf dem Quivive, den esprit als Versuchung zu eitler
Ausschweifung von sich abzuwehren. Was der Psychologe Lipps
die Enge des Bewußtseins nannte, die keinem Menschen allseitig,
über den beschränkten Vorrat seiner libidinösen Kräfte hinaus sich
zu aktualisieren erlaubt, das sorgt dafür, daß man nur das eine haben
kann oder das andere. Die unangekränkelt mitspielen, verachten die
anima candida als Trottel. Jene Unfähigkeit der Menschen, über ihre
unmittelbare, von Aktionsobjekten angefüllte Interessensituation
sich zu erheben, liegt nicht primär am bösen Willen. Der Blick, der
das Nächste übersteigt, läßt es als Schlechtes hinter sich und
erschwert zu funktionieren. Heutzutage fehlt es nicht an Studenten,
die fürchten, durch Theorie allzu viel über die Gesellschaft zu
lernen: wie sollten sie dann noch die Berufe ausüben, zu denen ihr
Studium sie qualifiziert. Sie gerieten in das, was sie soziale
Schizophrenie zu nennen lieben. Als wäre es die Aufgabe des
Bewußtseins, damit es besser zurecht kommt, für sich Widersprüche
wegzuräumen, die gar nicht im Bewußtsein ihren Ort haben sondern
in der Realität. Ebensowohl stellt diese, als Reproduktion des
Lebens, legitime Forderungen an die Individuen, wie sie durch die
gleiche Reproduktion sich selbst und alle tödlich bedroht. Dem
selbsterhaltenden Verstand gereicht zu viel Vernunft zum Schaden.
Umgekehrt befleckt jegliche Konzession an den Betrieb der
herrschenden Praxis nicht nur den Geist, der sich nicht beirren
lassen will, sondern sistiert seine Bewegung, verdummt ihn.
 
Engels hat in jenem Altersbrief an Margaret Harkness, den man in
der marxistischen Ästhetik verhängnisvoll kanonisierte, den
Balzacschen Realismus verherrlicht 5 . Er mag ihn dabei für
realistischer genommen haben, als sein oeuvre siebzig Jahre später
sich liest. Das dürfte der Doktrin des sozialistischen Realismus
einiges von der Autorität entziehen, die sie mit dem Engelsschen
Votum begründet. Wesentlicher jedoch ist, wieweit Engels selbst
von der später offiziellen Theorie abweicht. Wenn er Balzac »allen
vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Zolas« vorzieht, kann
er schwerlich etwas anderes gemeint haben als jene Momente, durch
die der Ältere weniger realistisch ist als der szientifisch gesonnene
Nachfahre, der nicht umsonst den Begriff des Realismus durch den
des Naturalismus ersetzte. Wie in der Geschichte der Philosophie
jeder Positivist dem auf ihn folgenden nicht positivistisch genug,
sondern ein Metaphysiker ist, so geht es auch in der Geschichte des
literarischen Realismus zu. In dem Augenblick aber, in dem der
Naturalismus auf die protokollarische Darstellung der Fakten sich
vereidigen ließ, schlug der Dialektiker sich auf die Seite dessen, was
die Naturalisten nun als Metaphysik verfemten. Er sträubt sich
gegen die automatisierte Aufklärung. Geschichtliche Wahrheit
selber ist am Ende nichts anderes als jene im permanenten Zerfall
des Realismus hervortretende, sich erneuernde Metaphysik. Gerade
die Fassadentreue eines von den Balzacschen Deformationen
gereinigten Verfahrens harmoniert wie in der Kulturindustrie so im
sozialistischen Realismus mit eingelegten Intentionen, durch die
Balzacs Erzählertum für keine Sekunde sich ablenken läßt: Planung
bestätigt sich an entstrukturierten Daten, das literarisch Geplante
aber ist die Tendenz. Gegen diese, und damit implizit gegen alle seit
Stalin im Osten tolerierte Kunst, kehrt sich die Spitze der Sätze von
Engels. Ihm bewährt die Größe von Balzac sich eben an den
Darstellungen, die dessen eigenen Klassensympathien und
politischen Vorurteilen entgegenlaufen, die legitimistische Tendenz
desavouieren. Der Dichter ist mit dem Weltgeist, weil die Kraft
ursprünglicher Erzeugung, die seine Prosa durchwaltet, kollektiv ist,
eins mit der geschichtlichen. Engels nennt das den größten Triumph
von Balzacs Realismus, die »revolutionäre Dialektik in seiner
poetischen Gerechtigkeit« 6 . Dieser Triumph aber war daran
gebunden, daß Balzacs Prosa vor den Realien nicht sich beugt,
sondern sie anstarrt, bis sie transparent werden aufs Unwesen.
Lukács hat das zaghaft angemeldet 7 . Um so weniger handelt es
sich bei Engels, wie jener sogleich wieder beteuert, »um die Rettung
der unvergänglichen Größe seines« – des Balzacschen –
»Realismus«. Dessen eigener Begriff ist keine konstante Norm:
Balzac hat um der Wahrheit willen an ihr gerüttelt. Invarianten sind
auch dann unvereinbar mit dem Geist von Dialektik, wenn der
Hegelsche Klassizismus sie vindiziert.
 
Als Zirkulationsmittel, Geld, erreicht und modelt der kapitalistische
Prozeß die Personen, deren Leben die Romanform einfangen will. In
dem Hohlraum zwischen den Vorgängen an der Börse und den
tragenden der Wirtschaft, von der jene temporär sich ablöst, sei's,
daß sie ihre Bewegungen diskontiert, sei's, daß sie nach eigener
Dynamik sich verselbständigt, drängt individuelles Leben inmitten
der totalen Fungibilität sich zusammen und besorgt doch durch seine
Individuation hindurch die Geschäfte des
Funktionszusammenhangs: das ist das Klima der Rothschildfigur
des Barons Nucingen. Aber die Zirkulationssphäre, von der
Abenteuerliches zu erzählen ist – Wertpapiere stiegen und fielen
damals wie die Tonfluten der Oper –, verzerrt zugleich die
Ökonomie, mit der der Schriftsteller Balzac so leidenschaftlich sich
engagierte wie in seiner Jugend als homme d'affaires. Die
Inadäquanz seines Realismus datiert schließlich darauf zurück, daß
er, der Schilderung zuliebe, den Geldschleier nicht durchbrach,
kaum schon ihn durchbrechen konnte. Wo die paranoide Phantasie
überwuchert, ist er denen verwandt, welche die Formel des über den
Menschen waltenden gesellschaftlichen Schicksals in Machenschaft
und Verschwörung von Bankiers und Finanzmagnaten in Händen zu
halten wähnen. Balzac ist Glied einer langen Reihe von
Schriftstellern, die von Sade, in dessen Justine die Balzacsche
Fanfare »insolent comme tous les financiers« 8 vorkommt, bis zu
Zola und dem früheren Heinrich Mann reicht. Im Ernst reaktionär an
ihm ist nicht die konservative Gesinnung sondern seine Komplizität
mit der Legende vom raffenden Kapital. In Tuchfühlung mit den
Opfern des Kapitalismus, vergrößert er zu Monstren die Exekutoren
des Urteils, die Geldleute, die den Wechsel präsentieren. Die
Industriellen aber werden, soweit sie überhaupt vorkommen,
Saint-Simonistisch der produktiven Arbeit zugerechnet. Entrüstung
über die auri sacra fames ist ein Stück aus dem ewigen Vorrat
bürgerlicher Apologetik. Sie lenkt ab: die wilden Jäger teilen bloß
die Beute. Auch dieser Schein aber ist nicht aus dem falschen
Bewußtsein Balzacs zu erklären. Die Relevanz des Geldkapitals, das
die Expansion des Systems bevorschußt, ist im Frühindustrialismus
unvergleichlich viel größer als später, und dem entsprechen die
Usancen, solche von Spekulanten und Wucherern. Dort kann der
Romancier besser zupacken als in der eigentlichen Sphäre der
Produktion. Eben weil in der bürgerlichen Welt vom
Entscheidenden nicht sich erzählen läßt, geht das Erzählen
zugrunde. Die immanenten Mängel des Balzacschen Realismus sind
potentiell bereits das Verdikt über den realistischen Roman.
 
Was Hegel für den Weltgeist galt, die große geschichtliche
Bewegung, war der Aufstieg des kapitalistischen Bürgertums. Ihn
malt Balzac als Bahn der Verwüstung. Die Traumata, welche der
ökonomische Sieg der Bourgeoisie in der traditionalistischen
Ordnung zurückläßt, prophezeien in seinen Romanen die düstere
Zukunft, welche das Unrecht, das die junge Klasse von der
gestürzten alten ererbt hat und weiterträgt, an jener wiederum
ahndet. Das hat die Comédie humaine noch im Veralten jung
erhalten. Ihr Elan, ihre Dynamik aber ist die neugeborene des
wirtschaftlichen Aufschwungs. Er verleiht dem Zyklus seinen
symphonischen Atem. Noch der Widerstand gegen die Tendenz ist
von dieser inspiriert. Was De Coster, der manche Züge mit Balzac
teilt, freilich sie schon ins saftig Affirmative verdarb, seinem
Hauptwerk als Untertitel beigab: ein fröhliches Buch trotz Tod und
Tränen, darf auch der Autor der Contes drôlatiques reklamieren. Der
gesamtgesellschaftliche Fortschritt, der die Comédie humaine
durchfährt, ist nicht eins mit der Kurve des individuellen Lebens. Er
überglänzt noch die Opfer all der Ränke derart, wie es heute selbst
Glücklichen, falls solche in irgendeine Darstellung sich verirrten,
nicht mehr zukäme. Die pubertäre Lust, Balzac zu lesen, nährt sich
daran, daß über der Qual alles Einzelnen wortlos das Versprechen
einer Gerechtigkeit des Ganzen regenbogenhaft sich wölbt. Das
materielle Fundament der beiden Rubempré-Romane wird in der
Geschichte von David Séchards Erfindung gelegt. Provinzielle
Gauner betrügen ihn um deren Frucht. Aber die Erfindung setzt sich
durch, und der Anständige erlangt nach allen Katastrophen durch
Erbschaft doch noch bescheidenen Wohlstand. Ulrich von Hutten,
der verfolgt und syphilitisch zugrunde geht und ausruft, es sei eine
Freude zu leben, ist wie das Urbild von Balzacs Figuren, aus jener
bürgerlichen Vorwelt, deren Schründe und Schroffen der Blick des
Romanciers vom Gipfel herab wiedererkennt. Lucien de Rubempré
beginnt als schwärmerischer Jüngling mit hohen literarischen
Ambitionen. Balzac mag zweifeln am Rang der Begabung dessen,
der mit Blumensonetten und einer Nachahmung der
bestseller-Romane von Walter Scott debutiert. Aber er ist zart,
verletzlich, all das, was später differenziert und introvertiert heißt.
Soviel Talent hat er jedenfalls, um einen neuen Typus
feuilletonistischer Theaterkritik zu kreieren. Aus ihm wird ein
Gigolo, der Komplize seines Retters, des großen Verbrechers, den er
schließlich selber verrät. Wer naiv, ohne die Hände sich zu
beschmutzen, mit dem Geist umgeht, der ist, nach den mores der
Welt, die er sich nicht hat lehren lassen, verwöhnt. Er weigert sich
der Trennung von Glück und Arbeit. Noch in dieser und ihrer
Anstrengung sucht er nicht mit dem sich zu besudeln, womit
paktieren muß, wer es zu etwas bringen will. Sehr präzis wählt der
Markt aus zwischen dem, was ihm als geistige Selbstbefriedigung
des Intellektuellen anrüchig ist, und dem Geschätzten,
gesellschaftlich Nützlichen, das den Geist von Herzen anwidert, der
es leistet; belohnt wird sein Opfer im Tausch. Wer nicht bereit ist, es
zu bringen, will es auch sonst gut haben: das macht ihn anfällig. Die
Konfiguration von Reinheit und Egoismus läßt ins Bereich des
Weltfremden die Welt ein. Weil er den bürgerlichen Eid
verweigerte, tendiert sie dazu, ihn unters Bürgerliche hinabzustoßen,
den Bohémien zum feilen Schreiberling, zum Lumpen zu
degradieren. Leichter versumpft er als die anderen, bemerkt es nicht
einmal recht, und das nutzt der Weltlauf als strafverschärfenden
Umstand. Vertrauensselig schliddert Lucien in Verhältnisse hinein,
deren Implikationen der Trunkene nur halb durchschaut. Sein
Narzißmus wähnt, Liebe und Erfolg gelte ihm selber, wo er von
vornherein bloß als fungible Figur eingesetzt wird. Sein
Glücksverlangen, noch nicht von realitätsgerechter Anpassung
gedämpft und gemodelt, verschmäht die Kontrollen, die ihm
anzeigen könnten, daß die Bedingungen seiner Befriedigung die
geistiger Existenz – Freiheit – zerstören. Bewußtlos gewinnt in ihm
das parasitäre Moment die Oberhand, das allen Geist verunstaltet:
von dem, was die Bürger Idealismus nennen, ist nur ein Schritt zur
Soldknechtschaft dessen, der, sei's auch zu Recht, sich zu gut ist,
sein Leben durch bürgerliche Arbeit zu erwerben, und blind sich
abhängig macht von dem Gleichen, wovor er zurückzuckt. Selbst
die Grenze zwischen dem ihm Erlaubten und dem Verrat verwischt
sich ihm: ihr Bewußtsein kräftigt sich allein in dem Treiben, über
das er sich erhaben dünkt. Zwischen der enthusiastischen Liebschaft
mit Coralie und der Korruption vermag Lucien nicht zu
unterscheiden. Gar zu offen und plötzlich jedoch stürzt der Naive
sich hinein, als daß es gut ausgehen könnte; die Abkürzung wird als
Verbrechen gerächt, weil sie sozusagen unschuldig einbekennt, was
auf den Dschungelpfaden bürgerlicher Äquivalenz sich versteckt.
Dem Talent, das, anstatt in der Stille sich zu bilden, den Kopfsprung
in den Strom der Welt wagt, winkt der Strick. Aus Antonio aber ist
der zynische Moralist Vautrin geworden. Er klärt den gescheiterten
Jüngling auf, der nicht nur seine Illusionen verlieren mußte, sondern
zu dem Abscheulichen werden, worüber die Illusionen ihn betrogen.
 
Zu den Trouvailles des Literaten Balzac rechnet die Nichtidentität
von Geschriebenem und Schreibendem. Ihre Kritik war seit
Kierkegaard eines der bestimmenden Motive des Existentialismus.
Balzac ist diesem überlegen. Er installiert nicht den Schreiber als
Maß des Geschriebenen. Zu tief ist sein Ingenium mit Handwerk
durchtränkt, zu genau weiß der Schriftsteller, daß Dichtung im
reinen Ausdruck eines vermeintlich unmittelbaren Selbst nicht sich
erschöpft, als daß er anachronistisch den Dichter mit der Pythia
verwechselte, deren Stimme einzig von der Inspiration aus der
eigenen Tiefe tönt. Von dem Muffigen einer solchen ideologischen
Ansicht vom Dichter – der gleichen, die dann zur Hetze gegen den
Literaten taugte – war der Katholik so frei wie vom sexuellen
Vorurteil und jeglichem Puritanismus. Er gönnt dem Gedanken den
Luxus, über die Person hinweg auszuschweifen, die ihn denkt.
Lieber nehmen seine Romane das Wort des Seiltänzerkindes
Mignon sich zur Richtschnur: So laßt mich scheinen, bis ich werde.
Die gesamte Comédie humaine ist eine mächtige Phantasmagorie,
ihre Metaphysik die des Scheins. In dem Augenblick, in dem Paris
zur ville lumière wird, ist es die Stadt eines anderen Sterns. Die
Bedingungen dafür, als solche sie zu erkennen, sind gesellschaftlich.
Sie reißen den Geist hoch über die Zufälligkeit und Fehlbarkeit
dessen, der zu seinem Besitzer wird; auch die geistige
Produktivkraft multipliziert sich vermöge der Arbeitsteilung, welche
die Existentialisten ignorieren. Was Lucien überhaupt an Talent hat,
blüht hektisch auf im Widerspruch zu dem, was er ist, und zu
seinem Ideal. Einzig dank dessen, was die Gediegenen als
Windigkeit des Literaten in Wut versetzt, ist er ein paar Monate lang
wirklich ein Schriftsteller. Die Nichtidentität des Geistes mit seinen
Trägern ist dessen Bedingung und dessen Makel in eins. Sie
bekundet, daß er nur inmitten des Bestehenden, von dem er sich
loslöst, das vertritt, was anders wäre, und daß er es schändet, indem
er es bloß vertritt. Im arbeitsteiligen Betrieb ist er der Statthalter der
Utopie und verhökert sie, macht sie dem Existierenden gleich. Allzu
existentiell ist der Geist, nicht zu wenig.
 Fußnoten
 
1 Vgl. Georg Lukács, Balzac und der französische Realismus,
Berlin 1953, S. 59.
 
2 Bertolt Brechts Dreigroschenbuch, Frankfurt a.M. 1960, S. 93f.
 
3 Karl Marx, Das Kapital, Erster Band, Buch 1, Der
Produktionsprozeß des Kapitals, Berlin 1957, S. 618.
 
4 Vgl. Karl Marx, a.a.O., Dritter Band, Buch III, Der Gesamtprozeß
der kapitalistischen Produktion, S. 60.
 
5 Vgl. Engels an Margaret Harkness, London April 1888; in: Karl
Marx – Friedrich Engels, Über Kunst und Literatur, Berlin 1953, S.
121ff.
 
6 Engels an Laura Lafargue, 13. 12. 1883; in: Correspondance
Friedrich Engels – Paul et Laura Lafargue, Paris 1956, S. 154.
 
7 Vgl. Georg Lukács, Karl Marx und Friedrich Engels als
Literaturhistoriker, Berlin 1952, S. 65.
 
8 Marquis des Sade, Histoire de Justine, Tome I, en Hollande 1797,
p. 13.
 
 Valérys Abweichungen
Für Paul Celan
 
Kurz nacheinander sind auf deutsch zwei Bände mit Prosa von Paul
Valéry erschienen. Der Insel-Verlag bringt, in einer vorzüglichen
Übersetzung von Bernhard Böschenstein, Hans Staub und Peter
Szondi, eine Auswahl aus den Merkbüchern. Der Titel
›Windstriche‹ gibt das ›Rhumbs‹ des Originals wieder, Teilstriche
auf der Windrose, sodann die Winkel zwischen einem dieser Striche
und dem Meridian, also die Abweichung eines Kurses von der
Nordrichtung; von Valéry gemeint sind »Abweichungen von einer
bestimmten, von meinem Geist bevorzugten Richtung« (W 9) 1 . –
Die Bibliothek Suhrkamp hat die ›Pièces sur l'art‹ aufgenommen
und nennt sie verkürzt ›Über Kunst‹. Die Übertragung stammt von
Carlo Schmid, vermutlich dem ersten und einzigen deutschen
Politiker von den front benches, der Valérys Rang und Namen kennt
und heroisch die Zeit für derlei schwierige und anspruchsvolle Texte
sich abringt. Die beiden Bände sind angesiedelt an den
Gegenpunkten der Prosaschriftstellerei des Lyrikers. Der eine
enthält Einfälle, deren er als Mann der Ordnung, einem Passus des
Vorworts zufolge, kokett sich schämt; der andere offizielle
Äußerungen bei Gelegenheit von Ausstellungen und Ähnlichem. In
ihnen zeigt Valéry zuweilen den Gestus des Mitglieds der
Akademie; ihm gefährlicher vielleicht denn der »Schein des
Lebens« von Notizen, deren unterirdischer Zusammenhang ihnen
mehr an Einheit und Form verleiht, als Außenarchitektur ihnen hätte
verschaffen können.
Die späte Stunde der Publikation mag den beiden Büchern in
Deutschland günstig sein. Nicht nur vereinen sie, gleich Proust, das
Fortgeschrittene mit einer heute hierzulande seltenen Autorität des
Gelingens. Sondern das Spannungsfeld Valérys nimmt um dreißig
Jahre das der gegenwärtigen Kunst: das von Emanzipation und
Integration, vorweg. Hochmütig spricht Valéry gelegentlich sich
selbst die Qualifikation zum Ästhetiker ab (K 114), will damit
freilich das Versagen der Schulphilosophie vor den Fragen der
aktuellen Produktion treffen, ähnlich wie er der Literarhistorie die
sachliche Zuständigkeit abstreitet (K 161). Wohl ist er viel zu
gescheit, um nicht einem Ressentiment sich verdächtig zu machen,
dem er auf den Grund sah: »Man nennt den andern einen Sophisten,
wenn man fühlt, daß man dümmer ist als er. Wer das Denken nicht
angreifen kann, greift den Denkenden an.« (W 99) Aber sein
Gedanke schärft sich durch rückhaltlose Preisgabe ans Objekt, nie
durchs Spiel mit sich selber. Darüber zergehen ihm die Clichés,
deren Demontage mittlere Intellektuelle der Eitelkeit dessen
aufzubürden pflegen, der es um jeden Preis besser wissen wolle. Die
Fähigkeit, Kunstwerke von innen, in der Logik ihres Produziertseins
zu sehen – eine Einheit von Vollzug und Reflexion, die sich weder
hinter Naivetät verschanzt, noch ihre konkreten Bestimmungen
eilfertig in den allgemeinen Begriff verflüchtigt, ist wohl die allein
mögliche Gestalt von Ästhetik heute. Sie bewährt sich daran, daß
Valérys Formulierungen kaum andere Kritik dulden als eine, die sie
weiterdenkt.
Das Wort Ästhetik hat mittlerweile jenen leise archaischen
Klang angenommen, den Valérys Sensorium an so vielem anderen,
wie der Tugend, als erster registrierte. Als Lehre vom Schönen, die
dessen Gesetze ein für allemal aufrichten möchte – und der Wille
dazu war Valéry nicht fremd, so wenig er auch ihm sich verschrieb
–, ist sie so reaktionär geworden wie das mit jener Konzeption von
Kunst verschwisterte Pathos, das sie über die empirische Realität,
die Gesellschaft, ins Absolute erhöht. Dies Pathos hat Valéry von
Mallarmé ererbt, obwohl der Essay über Manets Triumphzug in den
Stücken über die Kunst gebietend auch über die Parole l'art pour
l'art sich erhebt, die man ihm so einfältig zuschiebt; er preist und
deutet den Maler als den, welchen Zola nicht weniger geliebt habe
als Mallarmé. Aber es ist in der französischen Avantgarde üblich
geworden, Valéry unter die Reaktionäre einzureihen, und das wird
gewiß seine deutsche Rezeption beeinträchtigen. Nach
Bemerkungen von Pierre Jean Jouve gehörte er auf die
Baudelairesche Rechte. Dorthin verweise ihn der
herrschaftlich-klassizistische Kultus der Form, der samt seinen
finsteren politischen Implikationen schon einen Aspekt Baudelaires
selber abgab und dann in Mallarmé von den sozialrevolutionären
Impulsen der Fleurs du mal sich schied, während der linke
Baudelaire über Rimbaud in den Surrealismus mündete. Die
Surrealisten haben Valéry in Verruf gebracht. Er muß es sich schon
gefallen lassen, daß man auf ihn selber eine Nietzsches würdige
Stelle der Windstriche anwendet: »Der Haß bewohnt den Gegner,
erforscht seine Tiefen und zergliedert die feinsten Wurzeln der
Absichten, die er in seinem Herzen hegt. Wir erkennen ihn besser
als uns selbst und besser, als er sich selber erkennt. Er vergißt sich,
wir vergessen ihn nicht. Denn wir nehmen ihn durch eine Wunde
wahr, und keiner unserer Sinne ist so stark, keiner vergrößert so sehr
und bestimmt so genau, wovon er getroffen wird, wie ein verletzter
Teil unseres Wesens.« (W 98) Den Büchern mangelt es nicht an
schlicht Reaktionärem, von einer Verbeugung vor Mussolini als
dem machtvollen Willen, »der jenseits der Berge das Regiment
führt« (K 146), über die sich anbiedernde Behauptung, es bedürfe
»gesellschaftlicher Ordnungen, die eine Aristokratie gelten lassen
und erhalten, der es weder an Reichtum noch an Geschmack
gebricht und die den Mut zu dem Gepränge in sich fühlt, das zu ihr
gehört« (K 60), bis zur fatalen Moltkeschen Befriedigung: »Diese
Welt süßer Beglückung ist nicht unsere Welt, und ich behaupte, daß
man dessen im Grunde froh sein muß.« (K 67) Antipolitisch war
Valéry wie der Thomas Mann der ›Betrachtungen‹. Pointiert jedoch
hat er seine Haltung eher in Worten, die bei Karl Kraus stehen
könnten: »Politik ist die Kunst, die Leute daran zu hindern, sich um
das zu kümmern, was sie angeht.« (W 32) Die antipolitische
Intention ist leicht genug der reaktionären des Privatiers
gleichzusetzen. Aber der Vorwurf wäre zu kurzatmig. Valéry
beschreibt eine politische Versammlung: »Einer besteigt die
Tribüne, Tumult, tierische Schreie, die ›verstimmte‹ Opposition,
usw. Er beginnt ... Ist es eine Rede? Doch nach und nach tritt,
eindringlich, die Arbeit des Denkens hervor, beginnt zu wirken. Das
Denken selbst zeigt sich an der Arbeit. Es gibt keine billigen
Lösungen mehr, keine einfachen Formeln, keine politischen
Programme, keine parlamentarische Taktik, keine überraschenden
Vergleiche, keine schlagkräftigen Entgegnungen ... Sondern die
ungeheure schöpferische Verlegenheit, die sich vortastet,
unbekannte Zukunft, unvertraute Gegenwart, mangelhafte Logik,
ungestaltetes Wissen, Verfolgung falscher Fährte, der ungreifbare
Gegenstand, das grobschlächtige Wort, die Entscheidung immer in
der Schwebe ... Alles, was die Kunst des Redners verdeckt, alles,
worin das Denken ursprünglich mit der wirklichen Wirrnis der
Dinge übereinstimmt, wird sichtbar ...« (W 32f.) Den gleichen
Widerwillen gegen das Überredende zeigt Valéry auch als
Ästhetiker, etwa gegen Wagner. Er findet es allgemein »unwürdig,
zu verlangen, daß die andern unserer Meinung seien« (W 67). Seine
Aversion gegen Politik als Herrschaftstechnik und als Gestalt von
Ideologie schießt hinaus über jenes engagement, das man dem
Artisten so pharisäisch predigt. Was sich gebärdet wie das ça ne me
regarde pas des Pariser Individualisten, sympathisiert insgeheim mit
der Anarchie.
Dennoch affiziert Valérys antipolitisch-politischer parti pris
auch sein künstlerisches Urteil. Dann geht er unter das Niveau; so
wenn er bewundert, »daß man es einmal fertig gebracht hat,
zwanzig menschliche Gestalten auf die Leinwand oder den Kalk zu
werfen und dies in den mannigfaltigsten Haltungen, und daß es um
sie her weder an Früchten, noch an Blumen, noch an Bäumen, noch
an Baulichkeiten mangelte« (K 98). Weil man es heute so gut nicht
mehr habe, passieren sogar Sätze wie: »Der ausschließliche
Geschmack am Neuen verrät eine Entartung des kritischen Sinns,
denn nichts ist einfacher, als über die Neuheit eines Werks zu
urteilen.« (W 121) Oder: »Die Künste halten mit dem Hasten nicht
Schritt. Zehn Jahre dauern unsere Ideale! Der abgeschmackte
Wahnglaube an das Neue – der unheilvollerweise an die Stelle des
alten und wohltätigen Glaubens an das Urteil der Nachwelt getreten
ist – richtet vor dem eifernden Fleiße das trügerischste aller Ziele
auf und mißbraucht ihn dazu, das Allervergänglichste zu schaffen,
zu schaffen, was schon seinem Wesen nach vergänglich sein muß:
den Reiz des Neuen.« (K 148) Veraltet auch an den Kunstwerken
genau der »Reiz des Neuen«, so werden doch die, welche eines
solchen Reizes entraten; welche nicht in ihm das eingeschliffene
Bewußtsein ihrer Epoche durchbrechen, zu dem auch das dubiose
Vertrauen aufs Urteil der Nachwelt rechnet, schwerlich alt werden.
Aber nur an den reaktionären Momenten ist abzulesen, was in
Valéry weitertreibt. Denn über seine Bücher ist nicht Progressives
und Regressives ausgestreut, sondern das Progressive wird dem
Regressiven abgezwungen und transformiert dessen Schwerkraft in
den eigenen Elan. Der Theoretiker Valéry hat, wie man es wohl
auszudrücken pflegt, zwischen den Extremen Descartes und
Bergson die Brücke geschlagen. Aber dem Cartesianer in ihm, dem
Hüter eingeborener ewiger Ideen, ebenso wie dem Bergsonianisch
aufs Fließende, »Unbestimmte« Horchenden, das der begrifflichen
Fixierung spottet, muß Hegel ursprünglich überaus fern gewesen
sein, der bewegt denkt und doch in harten Umrissen, ohne jeglichen
schwebenden oder fließenden Übergang. Um so nachdrücklicher das
Plaidoyer für die Dialektik, zu der Valéry gegen Bildung und
Temperament, lediglich durch die »Freiheit zum Objekt« genötigt
wird, dem er denkend gerecht zu werden trachtet. Sein
philosophisches Wesen, hartnäckig wie anschlagende Wellen,
unterspült das Gemeinsame der beiden philosophischen Erzfeinde,
die Illusion des Unmittelbaren als eines schlechterdings sicheren
Ersten. Die Kritik am Ausgang vom je eigenen Bewußtsein als
solcher Unmittelbarkeit und die implizite Wendung gegen die
Reinheit dessen, der nicht sich zu entäußern vermag, hat Valéry
selbst vollzogen in einem Gedankenexperiment, das man in der
Phänomenologie, vielleicht auch in der Rechtsphilosophie des seit
Cousin bis zur jüngsten deutschen Welle in Frankreich vergessenen
Hegel vermutete: »Ein Mensch, der alles nur nach seiner Erfahrung
einschätzen würde, der über nichts urteilen würde, was er nicht
gesehen und erlebt hat, der sich nur selbständig entschiede, der sich
ausschließlich aus den Tatsachen geschöpfte, vorläufige und
begründete Meinungen erlaubte, der bei jedem Gedanken, der ihm
käme, gleich hinzusetzte, er habe ihn selber erzeugt oder gelesen
oder gehört (der eine sei zufälliger und unbekannter Herkunft, der
andere nur ein Echo); und was er irgend denke oder verstehe, sei
alles nur durch Zufall oder Widerhall vermittelt, – der wäre wohl
der ehrlichste, selbständigste und wahrhaftigste Mensch auf Erden.
Doch seine Reinheit würde ihn hindern sich mitzuteilen, und seine
Wahrhaftigkeit verurteilte ihn zum Nichtsein.« (W 33f.) So wenig in
der unmittelbaren Gewißheit des ego cogitans autarkisch sich leben
läßt, so wenig stichhaltig ist der Glaube an Natur als
Unmittelbarkeit: »Keine Anschauung ist naiver als diejenige, die
alle dreißig Jahre zur Entdeckung der ›Natur‹ führt. Es gibt keine
Natur. Oder genauer: was man als gegeben annimmt, ist allemal,
früher oder später, hergestellt worden. Der Gedanke, daß man Dinge
wieder in ihrer Ursprünglichkeit erfaßt, ist von erregender Kraft.
Man stellt sich vor, es gebe ein solches Ursprüngliches. Doch das
Meer, die Bäume, die Sonnen – und gar das Menschenauge –, all
das ist Kunst.« (W 35) In den Essays ›Über Kunst‹ erweitert sich
das zu einer Denunziation jenes ästhetischen Wald- und
Wiesenbegriffs vom Einfachen, den der Philister als
Winckelmannsches Erbe hütet: »Der Wille zum Einfachen in der
Kunst ist immer tödlich, wo er sich selbst genug sein will und uns
verführt, uns um eine anfallende Mühsal zu drücken.« (K 78)
Unmittelbares, Einfaches ist für Valéry wie für Hegel nicht das
Erste sondern Resultat einer Vermittlung. Das erläutert er an einer
Anekdote von chinesischer Schönheit: »Einer der ruhmvollsten
Meister der Reitkunst aller Zeiten erhielt, arm und alt geworden,
vom Zweiten Kaiserreich eine Stallmeisterstelle in Saumur. Dorthin
kam eines Tages, ihn zu besuchen, sein Lieblingsschüler, ein junger
Rittmeister und glanzvoller Reiter. Baucher sagte zu ihm: ›Ich will
für Sie ein wenig in den Sattel steigen‹. Man hebt ihn auf ein Pferd;
er durchquert die Bahn im Schritt, kommt zurück ... Der andere,
geblendet, sieht einen vollkommenen Kentauren daherkommen.
›So‹, sprach der Meister zu ihm, ›ich mag keine Wichtigtuerei. Ich
stehe auf dem Gipfel meiner Kunst: Reiten im Schritt und dies
fehlerlos.‹« (a.a.O.) Wie er das Unmittelbare als vermittelt
durchschaut, so ist er offen fürs Unmittelbare als telos der
Vermittlung. Das ist ihm Kultur. Die Kunst der Renaissance habe
dem italienischen Volk »nicht als Dreingabe« gegolten, nicht »als
etwas, das nur in Ausnahmefällen zum Dasein gehört, sondern als
eine seiner natürlichen und so gut wie notwendigen Bedingungen,
deren Fehlen ihm eine spürbare Entbehrung bedeuten würde« (K
155). Von dem ist nicht weit zur Hegelschen Definition von Kunst
als einer Erscheinung der Wahrheit. Die Wahlverwandtschaft reicht
bis in die Logik hinein. In der Hegelschen des Wesens würden
Analysen keine üble Figur machen wie: »Aussagen haben stets
mehrere Bedeutungen, deren bemerkenswerteste sicherlich der
Grund selber ist, warum die Aussage getan wurde. So bedeutet
›Quia nominor Leo‹ durchaus nicht ›Denn Löwe heiße ich‹,
sondern: ›Ich bin ein grammatikalisches Beispiel‹.« (W 111) Dafür
hat Hegel in Sätzen wie »Je schlechter der Künstler ist, desto mehr
sieht man ihn selbst, seine Partikularität und Willkür« Valéry
prophetisch plagiiert. Früh nahmen sie die Dynamik der Idee jenes
Fortschritts vorweg, dessen Spätzeit noch Valéry, zumindest
ästhetisch, zugehörte, der subjektivistischen. Ihre Träger sind ihm
Manet, Baudelaire und Wagner, in denen sensuelle Reizsamkeit und
Differenziertheit, wie Impressionismus und Symbolismus sie teilten,
zum Prinzip geworden und aufs höchste gesteigert seien. Als einer
der ersten verbuchte Valéry, was darüber an Kräften der
Objektivation und Verbindlichkeit verlorenging. Selber vom
Symbolismus geprägt, war er vor der laudatio temporis acti gefeit,
schätzte jedoch den Preis ein, den die Stimmigkeit der Gebilde für
ihre subjektive Durchdringung zu zahlen hat. Die nach-Valérysche
moderne Kunst hat unabhängig von ihm daraus die Konsequenz
gezogen. Was in Malerei und Plastik von der Ähnlichkeit mit dem
Gegenstand, in der Musik von der Tonalität sich lossagt, wird
wesentlich motiviert von dem Drang, dem Gebilde rein von sich aus
etwas von jener Objektivität wieder anzuschaffen, deren es enträt,
solange es beim subjektiven Reflex auf ein wie immer auch
Vorgegebenes sein Bewenden hat. Je mehr das Kunstwerk all der
Bedingungen kritisch sich entäußert, die seiner je eigenen Gestalt
nicht immanent sind, desto mehr nähert es mittlerweile einer
Objektivität zweiter Potenz sich an. Insofern hat die Radikalisierung
der Kunst eingebracht, was Valéry retrospektiv am Fortschritt seiner
eigenen Epoche noch bemängelte. Dazu stimmt, daß inmitten einer
fortdauernd gefesselten Gesellschaft die Entfesselung des Subjekts,
seine Pflicht und sein Glück, zugleich auch Schein bleibt und am
allgemeinen Schein mitwirkt. Dem ästhetischen Subjekt ging die
Autorität alles Traditionalen unwiederbringlich verloren. Es muß
auf sich selbst rekurrieren, darf nur auf das sich verlassen, was es
aus sich herauszuspinnen vermag; ihm wahrhaft ist der kritische
Weg allein offen. Auf keine andere Objektivität kann es hoffen.
Zurückverwiesen auf sich, ist es künstlerisch notwendig sich selbst
das Nächste und Unmittelbarste. Gesellschaftlich aber bleibt es
abgeleitet, bloßer Agent des Wertgesetzes. Je tiefer es seine je
eigene Wahrheit als ihm allein erreichbare, von ihm allein zu
füllende ausdrückt, desto mehr verstrickt es sich in die Unwahrheit.
Diese Antinomie bezeugt Valérys gesellschaftlich bewußtlose
Trauer ums Vergangene ebenso treu, wie die ästhetische
Eigenständigkeit, die er im Gedanken an die authentischen Werke
von einst verficht, durch ihre hermetische Abdichtung vom
kommunikativen Unwesen mit Tendenzen solcher übereinkommt,
denen Valéry anathema ist und die er selbst wohl ohne Zögern als
Verfall verdammt hätte. Wenn in der Phase des Tachismus und der
Experimente mit aleatorischer Musik Mallarmés Würfeltheorie
aktuell geworden ist, so manifestiert darin sich ein Zusammenhang,
in den das oeuvre seines Schülers Valéry insgesamt fällt. Wie nach
ihm die Spannung zwischen dem konstruktiven Gesetz und der
Kontingenz in der Kunst bis zum Bersten sich steigerte, so wird
schon seiner eigenen anachronistischen Insistenz auf Begriffen wie
Ordnung, Regelhaftigkeit und Dauer die Abweichung konstitutiv
beigesellt. Sie ist ihm Bürgschaft der Wahrheit. Schroff widerspricht
er der Ansicht des common sense von Erkenntnis: »Jede Sicht der
Dinge, die nicht befremdet, ist falsch. Wird etwas Wirkliches
vertraut, so kann es nur an Wirklichkeit verlieren. Philosophische
Besinnung heißt vom Vertrauten auf das Befremdende
zurückkommen, im Befremdenden sich dem Wirklichen stellen.«
(W 144) In einer Gesellschaft, deren Totale sich fugenlos zur
Ideologie abgedichtet hat, kann wahr nur sein, was der Fassade nicht
gleicht. Das kritische Bewußtsein des konservativen Artisten vom
Banalen als Trug geht über in Brechts Verfremdungseffekt. In
seinen Gedanken so wenig wie in der Praxis der Künstler läßt das
Allgemeine dem Besonderen so bruchlos sich versöhnen, wie es der
traditionellen Kunst und Ästhetik vor Augen stand. Indem der
Reaktionär Valéry dessen gedenkt, was auf dem Weg des
Fortschritts vergessen wird; was der großen Tendenz sich entzieht,
deren Fürsprecher er doch als einer der ästhetischen
Naturbeherrschung selber ist, muß er auf die Seite der Differenz, des
nicht Aufgehenden sich schlagen. Daher der nautische Name seiner
Merkbücher. Keine Interpretation könnte das präziser herausstellen
als seine eigene Formulierung vom »Akzidens, das meine Substanz
ist« (W 80).
Dem hätte Valérys deklarierter Antipode Proust zugestimmt,
dem klassische Rationalität und Ordnungsgefüge vorweg verdächtig
sind: wozu Valéry widerstrebend sich nötigen läßt, ist das
Formgesetz des Proustischen Gesamtwerks. Aber Prousts
enthusiastisches Vertrauen auf den Wahrheitsgehalt des
Inkommensurablen, der unwillkürlichen Erinnerung ist bei Valéry
schwermütig gebrochen: »Die richtigen Gedanken sind immer
unerwartet. Jeder unerwartete Gedanke ist einige Augenblicke lang
richtig.« (W 108) Die Evidenz des Unwillkürlichen, der Zeitkern der
Wahrheit als eines jeweils Neuen, die plötzlich erscheinende
Wahrheit hat den Aspekt des Trügerischen und Hinfälligen. Das ist
der Grund des Schmerzes, den die unwiderleglich jähe Einsicht
Valéry wie Proust bereitet. Der Nachfahre Baudelaires, der die Lüge
der Geliebten verherrlichte, bringt dessen spleen ein in eine
leidvolle Physiognomik, wie Proust nicht anders an Albertine sie
hätte entwerfen können. »Die Menschen flehen schweigend die
Menschen an, ihnen zu sagen, was sie nicht denken. ›Sagt uns, was
wir hören möchten!‹ ›Sag mir etwas Freundliches!‹ singen die
Augen.« (W 137) Larochefoucauldsche Aufklärung und
neuromantische Sensibilität verschränken sich in der Beobachtung.
Gleich Proust hat Valéry die verhärtete Scheidung von Denken und
Intuition widerrufen, an welche das verdinglichte Bewußtsein
befriedigt sich klammert: »... es sei denn, man verstehe unter
Inspiration eine so bewegliche, geordnete, scharfsinnige,
unterrichtete und berechnende Kraft, daß man sie ebensogut
Intelligenz oder Kenntnis nennen könnte« (W 48). Zuweilen reicht
die Übereinstimmung bis in die philosophische These: »Die
Vergangenheit ist ganz und gar nicht, was man dafür hält. Die
Vergangenheit ist nicht, was einmal war; sie ist nur, was von dem,
was einmal war, übrigblieb. Das sind Spuren und Erinnerungen.
Sonst ist einfach nichts vorhanden.« (K 163) Die Besinnung über
den klassischen Begriff des Dauernden und Bleibenden, den Valéry
nicht antastet, führt zur Verneinung des monumentum aere
perennius. In Valérys Geschichtsphilosophie öffnet sich ein Spalt im
Gefüge der vérités éternelles. Der Generalnenner für Proust und
Valéry ist aber kein anderer als jener Bergson, dem Valéry, unter
der nationalsozialistischen Besetzung, die Totenrede hielt.
Nirgends kann man den Zwang, antithetisch über jene Art
Position hinauszugehen, welche alle traditionelle Philosophie mit
Besitzerstolz hütet, in Valéry deutlicher wohl erkennen, als an
seinem Verhältnis zur Musik. Er hat sich unmusikalisch genannt,
wenn nicht antimusikalisch: »Musik langweilt mich nach kurzer
Zeit.« (W 118) Der einem mittleren Komponisten wie Honegger
seinen »mächtigen Atem« (K 34) nachrühmt, beschreibt die
opernhaften Züge jenes Racine, »dessen Tragödien Lulli sich so
beflissen anzuhören pflegte und dessen Linienführung und Themen
sich anhören, als seien sie unmittelbar in die schönen Formgebilde
und die reinsten Durchführungen Glucks übergegangen« (K 31),
nicht wissend, daß es bei Gluck kaum »Durchführungen« gibt und
daß die Primitivität von dessen Formgestaltung ihn zum blutigen
Hohn reizen müßte, wenn er ihr in der Malerei begegnete. Dennoch
charakterisiert er unmittelbar danach Unmanieren beim Sprechen
von Versen so, wie es wörtlich auf schlechte musikalische
Interpretationen angewendet werden könnte: »Man zerschlägt sie,
man unterschlägt sie; andere Male scheint es, als ob man nur ihre
Zwänge zur Geltung bringen wolle: man unterstreicht, man
übertreibt die Zeilenfügung, die Ecksilben der Alexandriner,
eingebürgerte Formelemente, die meiner Meinung nach durchaus
ihren Nutzen haben, die aber zu grobschlächtigen Wirkungsmitteln
werden, wenn die Sprechweise sie nicht in die Gewänder ihrer
Anmut hüllt.« (a.a.O.) So fern und nah war Valéry der Musik. Er
fügte sich zunächst dem Schema, welches das Visuelle als statisch
rational in einfachen Gegensatz rückt zum Fließenden und
Chaotischen der begriffslosen Zeitkunst. Im Gegensatz zu Dichtung
und Musik schreibt er der Malerei ein dinghaft positivistisches
Moment zu. Daher seine Reservate gegen die magische Wirkung
des Bildes. Der Symbolist Valéry hat es denn auch mit den
Impressionisten gehalten und nicht mit Puvis de Chavannes: »Die
Malerei darf, bei Vermeidung von Gefahren, sich nicht
herausnehmen, uns den Traum vorzutäuschen. Die Einschiffung
nach Kythera scheint mir nicht vom Besten Watteaus zu sein. Die
Zauberwelten Turners bringen es bisweilen fertig, mich zu
entzaubern.« (K 90) Nicht wenn Kunst desperat ihr magisches Erbe
hütet, nur wenn sie es sich versagt, durch die Ernüchterung
hindurch, kann sie überleben und übergehen in jene Sprache, als
welche Valéry sie las. Darin terminiert seine Interpretation Manets.
Die »Naturalisten«, denen er ihn in diesem Zusammenhang zuzählt,
haben, analog zu Baudelaire, »ein wirkliches Verdienst: sie haben in
Gegenständen oder Vorwürfen, die bis auf ihre Zeit für schmählich
oder bedeutungslos galten, Poesie entdeckt (oder vielmehr darein
eingebracht) und bisweilen solche vom höchsten Range« (K 110).
Aber er war nicht so intransigent gegen Musik wie gegen die
Pseudomorphose an sie. Schon zu Beginn der Windstriche ist, in
erstaunlicher Parallele zu Kierkegaard, vom »philosophischen Ohr«
die Rede (W 16). Valéry besaß es selber. Der den musikalischen
Sinn sich aberkannte, konnte als Lyriker nicht darüber sich
täuschen, daß »die Wege der Musik und der Dichtung« sich kreuzen
(W 57). »Es war die Zeit des Symbolismus: wir waren, ein jeder wie
es seiner Anlage und seiner Schule entsprach, reichlich damit
beschäftigt, nach besten Kräften das Maß an Musik zu mehren, das
die französische Sprache in die Aussage einzuführen erlaubt.« (K
35) Aber er beharrt nicht auf dem synästhetischen Programm von
Verlaines Art Poétique, sondern legt seine widerspruchsvolle
Erfahrung auseinander. Den Witz: »Gute Verse vertonen heißt ein
Gemälde durch ein Kirchenfenster beleuchten« (W 61), meint er
boshaft gegen die Musik. Er zielt zu kurz: kaum sonst könnte die
Qualität von Liedern so sehr abhängen von der der Gedichte; jene
siedeln sich eher in deren Hohlräumen an, stehen ihnen eher in ihrer
Fehlbarkeit bei, als daß sie sie verdoppelten. Dafür aber ist die
Verfremdung eines Bildes durch den Strahl, der durch gemalte
Scheiben bricht, kein schlechtes Gleichnis für die Transfiguration
guter Verse in einem guten Lied. Valéry gesteht sich denn auch zu,
was Goethe nicht Wort haben mochte: seine antimusikalische
Haltung wehrt eine bedrohliche Lockung ab, der er dann doch
unerschrocken folgt. »Meine ›Ungerechtigkeit‹ gegen die Musik
kommt vielleicht von dem Gefühl, eine solche Macht wäre
imstande, selbst dem Absurden Leben zu verleihen« (W 63),
Sinnzusammenhänge jenseits des rationalen zu stiften: »... habt vor
allem keine Eile, an die Schwelle des Sinnes zu gelangen« (K 32).
Danach umschreibt Valérys Postulat jener reinen Dichtung, welche
den Sinn der Sprache unter sich lasse, die Kriterien eines seiner
selbst bewußten Musikers: »Welche Schande, zu schreiben, wenn
man nicht weiß, was Sprache, Wort, Metapher sind,
Gedankenübergänge und Wechsel im Ton; wenn man die Struktur
der zeitlichen Folge eines Werks und die Voraussetzungen für
seinen Schluß nicht begreift, kaum das Warum kennt und schon gar
nicht das Wie! Die Scham darüber, eine Pythia zu sein ...« (W 166)
Die Sehnsucht, daß der Sinn im Vers verschwinde, ist beheimatet in
der Musik, die Intentionen kennt nur als untergehende. Das Korrelat
dazu bemerkt Valéry an der Sprache: »Wenn der Klang, der
Rhythmus dem Sinn zum Bewußtsein kommen, machen sie sich nur
für einen Nu geltend: als eine sich im Augenblick aufbrauchende
Notwendigkeit, als Hilfsorgan der Sinnbedeutung, die sie herführen,
und die sie dann unverzüglich aufzehrt« (K 29) 2 . Es zeugt für die
gegensätzliche Einheit der beiden Medien, daß, wo in der Lyrik
musikalische Strukturen die meinende Sprache überflügeln, die
Musik strukturell der Prosa sich anähnelt, vor deren Spuren Valéry
den Vers schützen möchte. Die Ästhetik des Antimusikalischen
klingt zuzeiten wie eine Musikästhetik: »Alle Teile eines Werks
müssen ›arbeiten‹.« (W 169) Nicht anders verwendet die
musikalische Terminologie den Begriff thematischer Arbeit. Dies
bewußtlose Einverständnis Valérys mit der Musik kommt manchmal
Werken zugute, die er nie hörte. »In sehr kurzen Werken erreicht die
Wirkung des geringsten Details die Größenordnung der
Gesamtwirkung« (W 170) – das ist die Physiognomik Anton von
Weberns. Dem optisch-kristallinischen Valéry verwandelt am Ende
jegliche Kunst sich in die von ihm gefürchtete Musik; nicht bloß ist
ihm, wie in Benjamins Jugendwerk, alle Kunst Sprache, sondern es
gibt »Schauseiten, Formen, Zustände auch in der Welt des
Sichtbaren, die Gesang sind« (K 83). Ihn entdeckt der saugende
Blick des Dichters auf Farben und Formen.
Seine diffizile Stellung zur Musik ist aber relevant nicht bloß für
die allgemeine Abgrenzung der Künste gegeneinander und ihre
Einheit. Ein Fragenkomplex, um den Valéry kreist, rückte heute ins
Zentrum des Komponierens: die Beziehung integraler Konstruktion,
wie sie den Gedanken der Autonomie des Werks, seine
Unabhängigkeit vom je Aufnehmenden zu Ende denkt, zum Zufall.
In der Idee des integralen, in sich lückenlos geschlossenen und bloß
seiner immanenten Logik verpflichteten Kunstwerks, welche aus der
Gesamttendenz der abendländischen Künste zur fortschreitenden
Naturbeherrschung, konkret: zur vollkommenen Verfügung über ihr
Material folgt, ist etwas ausgelassen. Kunst, die dem
zivilisatorisch-rationalen Zug sich einfügt und ihm die historische
Entfaltung ihrer Produktivkräfte verdankt, meint doch zugleich auch
den Einspruch gegen ihn, das Eingedenken dessen, was in ihm nicht
aufgeht und was er eliminiert; eben das Nichtidentische, worauf das
Wort Abweichung anspielt. Sie verschmilzt darum nicht bruchlos
mit der totalen Rationalität, weil sie dem eigenen Begriff nach
Abweichung ist, nur als solche in der rationalen Welt ihr
Lebensrecht hat und die Kraft, sich zu behaupten. Wäre sie bloß
identisch mit der Rationalität, sie verschwände in dieser und stürbe
ab, während sie ihr doch nicht ausweichen darf, wenn sie nicht
hilflos Reservate besiedeln will, ohnmächtig gegenüber der
unaufhaltsamen Naturbeherrschung und ihren gesellschaftlichen
Verlängerungen, und gerade als geduldete erst recht jener hörig. Die
ästhetisch aktuelle Figur solcher Paradoxie ist der Zufall, das mit
ratio Nichtidentische, Inkommensurable als Moment der Identität
selber, einer rationalen Gesetzlichkeit von eigenem Typus, der
statistischen, deren Valéry häufig gedenkt. Als Zufall schlägt die
sich selbst entfremdete Gestalt der Subjektivität im objektiven
Kunstwerk durch, dessen Objektivität nie eine an sich sein kann,
sondern durchs Subjekt vermittelt wird, während es keinen
unmittelbaren Eingriff des Subjekts mehr dulden möchte. Zugleich
bekundet der Zufall die Ohnmacht eines Subjekts, das zu nichtig
wurde, um legitimiert zu sein, im Kunstwerk überhaupt unmittelbar
noch von sich zu reden. Er negiert das Gesetz der ästhetischen
Freiheit zuliebe und bleibt doch in seiner Heteronomie Widerspiel
der Freiheit. Das bestätigt Valéry, als spräche er wider den
gegenwärtigen Traum total determinierter und vom Subjekt
schlechterdings unabhängiger Musik: »In allen Künsten – und
darum gerade sind sie ja Künste – kann das
Aus-Notwendigkeit-so-geworden-sein, das uns ein glücklich zu
Ende gebrachtes Werk glaubhaft machen muß, nur durch einen Akt
freier Schöpfung ins Leben gerufen werden. Der Fug und der
abschließende Zusammenklang der voneinander unabhängigen
Eigenschaften, die es zu verweben gilt, werden nie durch ein Rezept
oder einen Automatismus erzielt, sondern durch das Wunder oder
schließlich und endlich durch Bemühung – durch Wunder im Verein
mit Bemühungen, die ein Wille trägt.« (K 18f.) Darum bleibt nach
seinem Willen wie dem der jüngsten Kunst der Zufall gesteuert, der
Rationalität des Ganzen unterworfen. Aber er markiert doch auch
die Grenze der Rationalität an dem Material, das sie zurichtet; nur
ist es von jener schon so ausgelaugt, daß seine Abstraktheit
wiederum mit der bloßen Gesetzmäßigkeit, der formalen Einheit des
Begriffs, zusammenfällt, der der Zufall opponiert: das
Nichtidentische als Identisches. Was der Zufall an Sinnfremdheit in
jedes Gebilde hineinträgt, ahmt die des Zeitalters nach; indem er
unbeschönigt die Sinnfremdheit der Totale einbekennt, erhebt er
Einspruch gegen sie. Die Erfahrungen alles dessen hat Valéry
gemacht. Dabei sympathisiert er wie Mallarmé ohne apologetische
Vorbehalte, großartig unbekümmert um den Widerspruch zu seiner
primären Neigung, mit dem Zufall, obgleich sein ganzes Pathos
daher rührt, daß der Geist seiner selbst mächtig werde, indem das
Kunstwerk seiner mächtig wird. Die Konstellation beider Momente
ist entworfen in dem Essay der Pièces sur l'art über die Würde der
künstlerischen Verfahrungsweisen, an denen das Feuer beteiligt ist.
»Doch all die Wachsamkeit des erlauchten Handwerkers am
Feuerofen, alles, was seine Erfahrung, seine Wissenschaft von der
Hitze, den gefährlichen Zuständen, den Temperaturen für die
Schmelze und die Reaktion der Stoffe vorauszusehen erlauben,
lassen die adelnde Ungewißheit in ihrer Unermeßlichkeit bestehen.
Sie alle schaffen den Zufall nicht ab. Seine hohe Kunst bleibt unter
der Herrschaft des Wagnisses und wird dadurch gleichsam
geheiligt.« (K 12) Was der Notwendigkeit entschlüpft, schlägt er
nicht geringer an als diese und vom Zufall erhofft er sich die
Indifferenz von beidem. Gerade das sinnfremde Moment des
Zufalls, wahrhaft eines Grenzwertes im temps espace, assoziiert er
mit dem Bergsonschen temps durée, dem unwillkürlichen
Eingedenken als der einzigen Gestalt des Überlebens. Denn in der
Anarchie der Geschichte ist dies Eingedenken selbst zufällig: das
definiert bei Valéry die Würde des Zufalls. Von einer
Keramikausstellung sagt er: »Nichts gleicht dem bis zum heutigen
Tage angehäuften Kapital unserer Kenntnisse, unserem Haben im
Buche der Geschichte so, wie diese Sammlung von Dingen, die der
Zufall uns erhalten hat. All unser Wissen ist wie sie ein Rückstand.
Unsere Geschichtsurkunden sind Strandgut, das ein Zeitalter einem
anderen überläßt, wie es der Zufall will, und in vollem
Durcheinander.« (K 164) Gleichwohl mildert diese Rettung nicht
sein Mißtrauen gegen die unmittelbare Zufälligkeit des
künstlerischen Produktionsprozesses, gegen das Zu leicht. Der
Nachdruck, den er auf widerstrebende Materialien legt, die den
Zufall ins Kunstwerk tragen, rührt her von eben diesem Mißtrauen
gegen den Zufall bloßer Subjektivität. »Darum befällt in allen
Künsten, deren zugeordneter Stoff nicht schon durch sein bloßes
So-sein gegenwirkende Widerstände häuft, die wahren Künstler das
Gefühl der Gefahren und der Langeweile allzu großer Leichtigkeit
des Schaffens.« (K 9f.) Mag der Zufall, als ein dem schaltenden
Künstler Entzogenes, mit der freilich heute bereits ein wenig
antiquierten Vorstellung vom »Akt freier Schöpfung« unvereinbar
sein – ihre Unvereinbarkeit definiert die Frage, wie Kunst überhaupt
noch möglich sei.
Valérys Widersprüche insgesamt haben ihre
gesellschaftlich-historische Seite. Wie die Essays über die
italienische Malerei der Renaissance, zumal Veronese, nach
neuromantischer Sitte Herrschaft schlechthin, die große Allüre, die
souveräne Verfügung adorieren, die im bürgerlichen
Individualismus zur Formlosigkeit zersplittert dünkt, so mag Valéry
in den Musikanten windige Leute beargwöhnt haben, deren
flüchtige Spektakel so wenig fest, verbindlich, zuverlässig im Raum
angesiedelt und der Ordnung immanent sind wie die
Herumziehenden selber. Unter seinen Idealen ist nicht das letzte das
einer Kunst, die des Vagantentums sich entäußert hätte, ihres wie
immer auch sublimierten gesellschaftlichen Odiums, während doch
dies Vagantische, der Kontrolle seßhafter Ordnung nicht gänzlich
Unterworfene allein der Kunst erlaubt, inmitten von Zivilisation zu
überleben. Aber die Lauterkeit eines Gedankens, der von der
Ideologie nicht sich fesseln läßt, auf die er vereidigt ist, hält auch
vor diesem Motiv nicht inne. Valéry, der als Kind des rationalen
Zeitalters die säuberliche Scheidung von Produktion und Reflexion
in der Kunst nicht anerkennt, ist viel zu reflektiert, um sich darüber
zu täuschen, daß auch solche Künstler, welche die Rücksicht auf
den Markt verschmähen, an die prekäre Stellung des Geistes in der
herrschaftlichen Gesellschaft gekettet bleiben, der sie noch als
opponierende willfahren müssen. Künstler heute sind Intellektuelle,
sie mögen es akzeptieren oder nicht, und als solche das, was die
Theorie der Gesellschaft dritte Personen nennt: sie leben von
abgezweigtem Profit. Während sie selber keine »gesellschaftlich
nützliche Arbeit« leisten, nichts zur materiellen Reproduktion des
Lebens beitragen, repräsentieren sie allein die Theorie und alles
Bewußtsein, das über den blinden Zwang der materiellen
Verhältnisse hinausweist; so wehrlos gegen das Mißtrauen des
Bestehenden, von dem sie leben, ohne ihm zuverlässig zu dienen,
wie gegen das seiner Feinde, denen sie nichts sind als ohnmächtige
Agenten der Macht. Sie ziehen darum als neuralgischer Punkt der
Gesellschaft den Haß der ganzen Welt auf sich. Nicht aber sind sie
durch die abstrakte Anpreisung des Geistes zu verteidigen, sondern
einzig dadurch, daß auch ihr Negatives ausgesprochen wird. Erst
wenn die ideologische Hülle ihrer eigenen Existenz fällt; erst in der
schonungslosen Selbstreflexion, die zugleich eine der Gesellschaft
wäre, gelangten sie zu ihrer gesellschaftlichen Wahrheit. Dazu hilft
Valéry. Den Makel, der jeden Gedanken befleckt, nimmt Valéry in
diesen hinein: »Ohne ihre Schmarotzer, Diebe, Sänger, Mystiker,
Tänzer, Helden, Dichter, Philosophen, Geschäftsleute wäre die
Menschheit eine Gesellschaft von Tieren; oder nicht einmal eine
Gesellschaft: eine Gattung; die Erde wäre ohne Salz.« (W 36) Die
gleiche Liste der dritten Personen könnte bei Marx stehen, dessen
Namen Valéry kaum über die Lippen gebracht hätte. Auch der
Zusammenhang des Geistes und der geistigen Produktion mit dem,
was in der Sprache der politischen Ökonomie Zirkulationssphäre
heißt, ist ihm nicht fremd. »Wenn ›Handel treiben‹ bedeutet, daß
man einkauft, mit der Absicht wiederzuverkaufen, so ist der
Künstler oder Autor ein Handelsmann, der nur darum anschaut,
reist, liest, ja lebt, um zu produzieren, um seinen Eindruck auf den
Markt zu bringen. – Statt für sich selber zu erwerben. – Aber, wer
weiß, für sich selber erwerben ist vielleicht sinnlos.« (W 41f.) Der
unbestechlich auf der Reinheit des Werkes um seiner selbst willen
insistiert, durchschaut zugleich, wie sehr diese Reinheit des
ästhetischen An sich einem Für anderes, dem Markt, sich verdankt;
wo mesquine Künstler vom Schöpfertum schwafeln und gerade,
indem sie es ideologisch anpreisen, des allgemeinen
Einverständnisses auf dem Markt sicher sind, gesteht Valéry den
paradoxen Zusammenhang des autonomen Werks mit seinem
Warencharakter zu. Es wird überhaupt erst zu einem Objektiven,
indem der Produzierende nicht unmittelbar zu seinen Erfahrungen
ist, sondern diese vergegenständlicht; die sich selbst entfremdete
Wahrheit wird zum eingestandenen Modell des absoluten Gebildes.
Was sich selbst Ursprünglichkeit und Genius ist, ist gesellschaftlich
ein natürliches Monopol. Darauf spielt eine jener witzigen
Bemerkungen an, die, laut Nietzsche, das kaum bemerkbare Lächeln
erzeugen: »Wie, könnte ein Genie zu sich selber sagen, – so bin ich
also ein Kuriosum ... Und was mir so natürlich erscheint, das Bild,
das mir da einfiel, ein unmittelbar einleuchtendes Wort, eines, das
mich nichts gekostet hat, flüchtiges Ergötzen meines inneren Auges,
meines heimlichen Hörens, meiner Stunden, und dann die Zufälle
beim Denken und Reden ... machen sie aus mir ein Ungeheuer? –
Seltsam ist meine Seltsamkeit. So wäre ich nur eine Rarität? Und
ohne daß ich mich im geringsten zu ändern brauchte, genügten
hunderttausend meinesgleichen, und ich würde nicht mehr auffallen
... Und bei einer Million wäre ich gar irgendein Trottel ... Ein
Millionstel meines früheren Wertes ...« (W 68f.) Derlei Erwägungen
kulminieren in einer erstaunlichen Gleichung von Geist,
Selbstentfremdung und Warencharakter: »Je ›bewußter‹ ein
Bewußtsein ist, desto mehr scheinen ihm seine Person, seine
Meinungen, seine Taten, seine Eigenheiten und seine Gefühle
befremdlich, – fremd. So neigt es dazu, über seinen eigensten und
persönlichsten Besitz als über etwas Äußeres und Zufälliges zu
verfügen.« (W 146) Eine selbstzerstörerische Spitze ist dabei
unverkennbar. Anti-intellektuelle Motive fehlen neben exponierten
Rettungen des Anfälligsten am Geist so wenig wie bei Nietzsche.
Stimmgeräusche aus der Ära des Vorfaschismus lassen sich
vernehmen: »Das Geschäft der Intellektuellen ist es, mittels
Zeichen, Namen, Symbolen alles aufzurühren, ohne das
Gegengewicht wirklicher Handlungen. Das macht ihre Reden
verblüffend, ihre Politik gefährlich, ihr Vergnügen oberflächlich. Es
sind soziale Reizmittel, mit den Vorteilen und Gefahren aller
Reizmittel.« (W 37) Aber wo Valérys spezifische Erfahrung sitzt, in
der künstlerischen Produktion, gewährt er derlei Flausen keinen
Raum. Intuition, der Markenartikel der Anti-Intellektuellen, kommt
bei ihm schlecht weg. Er polarisiert sie in die Extreme von
Bewußtsein und Zufall und heftet spottend den gelben Fleck der
dritten Personen gerade an die offiziell Begnadeten: »Unerträglich
ist oder sollte den Dichtern die Vorstellung sein, wonach sie das
Beste ihrer Werke von erdichteten Mächten empfangen haben.
Mittelsmänner – eine demütigende Auffassung. Ich, für mein Teil,
will davon nichts wissen. Ich berufe mich nur auf den Zufall, der
allen Menschen zugrunde liegt; und dann auf eine zähe Arbeit, die
gegen eben diesen Zufall wirkt.« (W 95)
Was in solchen Modellen sich zuspitzt, aber insgesamt den
Rhythmus von Valérys denkender Bewegung definiert, wäre, nach
dem Brauchtum der offiziellen Philosophiegeschichte, der
Widerstreit von rationalistischen und irrationalistischen Motiven. Ihr
Stellenwert in Frankreich jedoch ist umgekehrt als in Deutschland.
Hier ist man gewohnt, den Rationalismus dem Fortschritt
zuzurechnen und den Irrationalismus, als romantisches Erbe, der
Restauration. Bei Valéry aber ist das traditionale Moment eins mit
dem Cartesianisch-rationalistischen, und irrationalistisch die
Selbstkritik des Cartesianismus. Das rational-konservative Moment
bei Valéry ist das herrisch-zivilisatorische, die deklarierte
Verfügung des autonomen Ichs übers Unbewußte. »Die Träume
abschütteln, die Schlacken, die Dinge, denen Abwesenheit und
Nachlässigkeit erlaubt hat, zuzunehmen und sich breit zu machen;
die Naturprodukte, Unrat, Irrtümer, Torheiten, Schrecken,
Bedrängnisse. Die Tiere kriechen wieder in ihr Loch. Der Meister
kehrt von der Reise zurück. Der Hexenspuk ist gestört. Weggang
und Rückkehr.« (W 17) Nach wie vor wird solche Herrschaft
Cartesianisch gerechtfertigt durch clara et distincta perceptio.
Valérys Zweifel noch an den bündigen Antworten, Ferment seiner
irrationalen Abweichungen, mißt sich an jener Bündigkeit: »Aber
unsere richtigen Antworten sind überaus selten. Die meisten sind
schwach oder nichtig. Wir spüren das so genau, daß wir uns zuletzt
gegen unsere Fragen wenden. Damit aber sollte man gerade
beginnen. Man sollte eine Frage in sich ausbilden, die allen andern
vorausgeht und jede auf ihren Wert hin befragt.« (W 70) Der
Cartesianismus überschlägt sich kraft seines eigenen methodischen
Motors, des Zweifels: »Ich stelle mir oft einen Menschen vor, dem
alles zur Verfügung stände, was wir an genauen Verfahren und
Vorschriften kennen, dem aber alle Begriffe und Bezeichnungen
unbekannt wären, die keine klaren Vorstellungen erwecken, die
nicht zu einheitlichen und wiederholbaren Handlungen führen. Er
hat nie von Geist, von Denken, von Substanz reden hören, nie von
Freiheit und Willen, von Zeit und Raum, von Kräften, von Leben,
Instinkt, Gedächtnis, Ursache, von Göttern, nie von Moral, nie von
Ursprüngen; kurz: er weiß alles, was wir wissen und kennt nicht,
was uns unbekannt ist, aber er kennt nicht einmal die Namen davon.
So setze ich ihn den Schwierigkeiten aus und den Gefühlen, die sich
aus ihnen ergeben; so lasse ich ihn entstehen. Jetzt setze ich ihn in
Bewegung und liefere ihn den Umständen aus.« (W 148f.) Das
Beharren auf der Forderung des absolut Gewissen endet im Offenen,
nach Descartes' Kriterien Ungewissen. Das sum cogitans wird der
Zufälligkeit seiner bloßen Existenz überführt, auf die bei jenem
nicht reflektiert war und die den Meditationen den Boden unter den
Füßen weggezogen hätte. Ausdrücklich wird daraus die volle
erkenntnistheoretische Konsequenz gezogen, die der Nichtidentität
des Seienden mit seinem Begriff: »Die kleinen, unerklärten Fakten
enthalten in sich immer genug, um alle Erklärungen der großen
Fakten zu entkräften.« (W 140) Valéry bringt den
Rationalismusstreit, ohne Entscheidung sich anzumaßen, auf die
mathematisch elegante Formel: »Was nicht festgehalten wird, ist
nichts. Was festgehalten wird, ist tot.« (W 112) Darf etwas den
Namen von Philosophie überhaupt noch beanspruchen, dann solche
Antithesen. Indem sie unversöhnt stehenbleiben, drückt der
Gedanke die eigene Grenze aus: die Nichtidentität des Gegenstandes
mit seinem Begriff, der ebenso jene Identität fordern, wie ihre
Unmöglichkeit begreifen muß.
Auch der Rationalismusstreit hat bei Valéry seine
geschichts-philosophische Dimension, die einer Dialektik der
Aufklärung. Von ihr hat er ein Zentrales gewahrt, das
Heraufkommen eines bloß noch instrumentellen Denkens, den
Triumph subjektiver über objektive Vernunft vermöge des
Fortschritts von Rationalität als solcher: »Hinzu kommt, daß die
Ideen, selbst die grundlegenden, allmählich den Charakter von
Wesenheiten verlieren und zu Werkzeugen werden.« (W 38) Er
zögert nicht vor der Folgerung, daß damit die entfesselte Vernunft
sich gegen sich selbst wendet: »Die Wissenschaft hat das Gewissen
der Vernunft und des gesunden Menschenverstandes zerstört.«
(a.a.O.) Den Schauder, der ihn befällt, hat seitdem das Grauen der
Praxis schon überboten: »Mit dem Einwand des gesunden
Menschenverstandes weicht der Mensch vor dem Unmenschlichen
zurück, denn im gesunden Menschenverstand liegt nichts als der
Mensch, seine Vorfahren, die Maßstäbe des Menschen und die
menschlichen Fähigkeiten und Beziehungen. Doch die Forschung
und selbst die Mächte rücken vom Menschen ab. Die Menschheit
wird sich daraus retten, so gut sie kann. Die Unmenschlichkeit hat
vielleicht eine große Zukunft.« (W 39) Die Verschränktheit der
losgelassenen subjektiven Rationalität und der Selbstentfremdung
des Subjekts ist ihm so wenig entgangen wie der Zusammenhang
dieser Tendenz mit der totalitären: »Eine zu genaue Vorstellung
vom Menschen, eine zu deutliche Wahrnehmung seines
Mechanismus, das vollständige Fehlen von Aberglauben in
menschlichen Dingen, die kategorische Weigerung, den Menschen
als Ding an sich, als sein eigenes Ziel zu betrachten, eine zu
statistische Sicht der Lebenden, eine zu genaue Voraussicht ihrer
Reaktionen, der heute schon feststehenden Wandlungen und
Rückfälle, die ihre Gefühle in einigen Wochen oder Jahren erfahren
werden, ein zu starkes Gefühl für Ordnung und für das Staatsideal –
all dies ist an der Spitze vielleicht nicht am richtigen Platz. Wenn
der Verstand herrschen sollte? ...« (W 100f.) Vom neuen Staatsideal
redet er in Gleichnissen wie Karl Kraus: »Der Staat ist ein
riesengroßes, furchtbares und schwaches Wesen. Ein Zyklop von
berüchtigter Kraft und Ungeschicklichkeit, das mißgestaltete Kind
der Gewalt und des Rechts, die es aus ihren Widersprüchen gezeugt
haben. Er lebt nur dank den unzähligen Männlein, die linkisch seine
trägen Hände und Füße bewegen, und sein großes Glasauge sieht
nur Pfennige und Milliarden. Der Staat ist jedermanns Freund und
jedes Einzelnen Feind.« (W 100)
So heikel steht es um Valérys Konservativismus. Bei aller
Aversion gegen die verwaltete Welt verschmäht er es, hinter
Invektiven gegen Dekadenz und Perversion sich zu verschanzen.
Was der Vernunft, den Menschen als deren Trägern, dem Subjekt
widerfährt, ist ihr eigenes Prinzip: »Das Denken ist brutal, es kennt
keine Schonungen. Was ist brutaler als ein Gedanke?« (W 109),
oder gar: »Das Gemeinste auf der Welt, ist es nicht der Geist? Der
Körper weicht vor Schmutz und Untat zurück. Der Geist rührt gleich
einer Fliege an alles. Weder Abscheu noch Ekel, weder Bedauern
noch Reue stammen von ihm; sie sind ihm nur ein Gegenstand der
Neugier. Die Gefahr spricht ihn an, und wäre der Körper nicht so
mächtig, der Geist führte ihn mit einer Art Torheit und einer
absurden und drängenden Gier nach Erkenntnis ins Feuer.« (W 144)
Reiner Geist beichtet in Valéry die eigene Unwahrheit. Seine
Komplizität mit dem Abscheulichen ist aber nichts anderes als die
Erbschaft der Gewalt, die er seit Jahrtausenden all dem widerfahren
läßt, was ist, indem er es dem Prinzip seiner eigenen Selbsterhaltung
unterwirft. Bei Valéry ist Geist gestählt genug, um seinem
Geheimnis ins Auge zu sehen.
Dem, der soviel riskiert, ist auch die Kunst nicht tabu. Als
vergeistigte ist sie in Fortschritt und Wissenschaft zum Guten und
zum Unheil verstrickt. »Es gibt in allen Künsten einen
Naturgesetzen unterworfenen Bereich, den man nicht mehr
betrachten und behandeln kann wie ehedem: es ist nicht möglich,
ihn den Unternehmungen des Erkenntnisvermögens und der
Schaffenskraft von heute vorzuenthalten.« (K 46) Valérys Stolz
richtet in keinem Elba von Irrationalität wie in einem Fürstentum
sich ein: »Weder die Materie, noch der Raum, noch die Zeit sind in
den letzten zwanzig Jahren geblieben, was sie vordem seit jeher
waren. Man muß damit rechnen, daß so bedeutsame Neuerungen die
ganze Technik der Künste umwandeln, damit auf den
schöpferischen Vorgang selbst wirken – so sehr, daß sie vielleicht in
erstaunlicher Weise bestimmen könnten, was künftig unter Kunst zu
verstehen sein wird.« (a.a.O.) Der Erzfeind des Naturalismus schont
nicht die Romantiker: »Ihr Geist suchte sich eine Fluchtburg in
einem Mittelalter, das sie sich zurechtmachten; an der Esse des
Alchimisten brachten sie sich vor dem Chemiker in Sicherheit.
Wohl fühlten sie sich nur in der Welt der Sage oder der Geschichte,
das heißt bei den Gegenfüßlern der Physik. Sie retteten sich vor den
Bedingtheiten eines durch die Mechanismen der Gesellschaft
geprägten Daseins durch die Flucht in die Leidenschaft und die
Wallungen des Gemüts, deren Pflege und Ausbeutung sie zu einer
Institution ausbauten (und sogar zu einer Komödie). Auf die
Vergötzung des Fortschritts antwortete man mit der Vergötzung der
Verdammung des Fortschritts; das war alles und ergab zwei
Gemeinplätze.« (K 118f.) Freilich gelangt in dem fast Max
Weberschen Gestus, mit dem der Artist für die Rationalität der
Kunst Partei nimmt, das reaktionäre Element nach oben als
Einverständnis mit Entwicklungen, deren Träger bis heute die
Kulturindustrie war. Wahr ist, daß der Geist und was ihm nicht
gleicht in der Kunst von Anbeginn sich verbanden und dichter stets
sich durchdrangen: »Nun hat der Gang der Zeit, oder, wenn man
lieber will, der Dämon der unverhofften Verkettungen (jener, der
aus dem, was ist, die überraschendsten Folgerungen zieht und münzt
und daraus zusammenbraut, was sein wird), sich damit vergnügt,
zwei einstmals genau entgegengesetzte Begriffe in wunderlicher
Weise durcheinander zu werfen.« (K 120) Definiert aber Valéry
jene »Begriffe« als »das Wunderbare und das Gegebene« (a.a.O.)
und hofft er darauf, »daß diese beiden Feinde von ehedem sich
verschworen haben, um unsere Lebensordnungen in eine
unbegrenzte Abfolge von Wandlungen und Überraschungen zu
verwickeln« (a.a.O.), so ähnelt dies Vertrauen allzusehr der
Begeisterung von Poeten für die Möglichkeiten des Visionären, die
der Film eröffnen werde. Die Übermacht der mechanischen
Massenmedien verschlägt manchmal selbst Valéry den Gedanken,
ob der Fortschritt der rationalen Naturbeherrschung nicht in
Ideologie sich verkehrt, wenn er ausgespitzt als Kunst Zauber
destilliert. Auch Valéry zollt einem Zeitalter Tribut, in welchem das
positivistisch »Gegebene«, von dessen Kultus seine Meditationen
mehr als bloß die Spur tragen, mit der Verzauberung der Welt
mühelos übereinkommt: die Übermacht dessen, was der Fall ist,
wird ihr zur magischen Aura.
Valéry ist nicht blind gegen die Untaten der Kulturindustrie und
ihren gesellschaftlichen Grund: »Von der Herstellung der
Wunderwelt-Fabriken leben Tausende und Abertausende von
Menschen. Der Künstler jedoch hat an dieser Herstellung von
Wunderdingen keinerlei Anteil genommen. Sie ist Tochter der
Wissenschaft und des Kapitals. Der Bürger hat sein Geld in
Traumfabriken angelegt und spekuliert auf den Untergang des
gesunden Menschenverstandes.« (K 121) Aber die Kritik bleibt
zweideutig. Sie wappnet Valéry nicht gegen eine Banalität, wie sie
ihm sonst als Index des Unwahren gilt: »Schließlich sind dann fast
alle Träume, die die Menschheit geträumt hatte und die in unseren
Märchen verschiedenster Ordnung ihren Niederschlag gefunden
haben, nunmehr aus dem Gehege des Unmöglichen und des
Gedachten herausgetreten.« (a.a.O.) Er vergißt hinzuzufügen, daß,
wie in den Märchen selbst, bis heute die Erfüllung der Wünsche
einer Menschheit nicht zum Segen geriet, die inmitten aller
utopischen Abschlagszahlungen im Bann von Versagung verharrt.
Valéry meint: »Ludwig XIV. hat auf dem Gipfel seiner Macht nicht
den hundertsten Teil der Macht über die Natur und die Mittel
besessen, sich ein Vergnügen zu verschaffen, seinen Geist zu bilden
oder ihm Erlebnisse zu bieten, die heutzutage so vielen Menschen
recht mittelmäßigen Herkommens zu Gebote stehen.« (a.a.O.)
Derlei Vergleiche sind prekär. Was in verschiedenen Zeiten Glück
war, läßt kaum sich vergleichen. Aber man möchte doch glauben,
daß die Lust des Roi Soleil die vor dem Fernsehschirm
einigermaßen übertraf. 1928, als Valéry jene Gedanken
niederschrieb, mochte in Europa noch nicht abzusehen gewesen
sein, wohin es mit der Konsumentenkultur hinauswollte. Sicherlich
hat seitdem der Weltlauf Valéry widerlegt, wenn er den »Menschen
unserer Zeit« verherrlicht, der hinfliegen kann, wohin er will, sich
»jeden Abend in einem Palaste zum Schlafe« (K 122) niederlegt,
sich hundert Lebensformen zu eigen machen könne und in einem
jeden Augenblick in einen glücklichen Menschen sich verwandeln.
Denn die hundert Lebensformen verstecken nicht länger das Skelett
ihrer standardisierten Einheit. Sie sind auch gar nicht das
einheimische Reich dessen, dem sie aufgezwungen werden; sein
Glück ist bloß dessen subjektives Zerrbild und vielfach nicht einmal
das. So preiswert war die Einheit von Kunst und Wissenschaft nicht
zu haben, wie Valéry sardonisch es ausmalt. Freilich betrachtete er
als Modelle rationaler Kunst wohl eher die technischen Utopien von
Futuristen und Konstruktivisten als das juste milieu von Radio und
Kino. »Ein schönes Buch ist vor allem eine vollkommene
Lesemaschine, deren Bedingtheiten recht genau durch die Gesetze
und Methoden der physiologischen Optik bestimmt werden können;
gleichzeitig ist es ein Kunstgegenstand, ein Ding.« (K 21) Klee
taufte ein berühmtes Bild ›Zwitschermaschine‹.
Um so unbestechlicher hat Valéry visiert, was die jüngsten
Entwicklungen für die traditionellen Kulturgüter bedeuten: »Geben
wir doch zu, daß wir nur noch aus Pflichtgefühl bewundern, was uns
zwingt, der Vielschichtigkeit des Vorwurfs, den scharfen
Bedingungen, denen ein Künstler sich unterworfen hat, unsere
Achtung zu zollen.« (K 98) Denn »alle Werke vergehen« (W 92).
Anstatt den Verfall der traditionellen Werke larmoyant zu beklagen,
läßt er von der eigenen Erfahrung dessen Unausweichlichkeit sich
mitteilen. Genug vom fin de siécle dauerte in ihm fort, um ihn vor
Krokodilstränen über den Verlust der Mitte durch die Moderne zu
behüten: »All das – ich habe es gesagt – ist nur durch das
Vorangehen einiger Männer vom ersten Range möglich geworden.
Nur solche sind es, die je und je die Wege bahnen: um einen Verfall
einzuleiten, bedarf es nicht geringeren Könnens als erforderlich ist,
um etwas seinen möglichen Höhepunkten zuzuführen.« (K 103)
Jener Verfall, der der Werke selbst wie ihrer Rezeption, ist objektiv
diktiert durchs Schrumpfen historischen Bewußtseins, des Sinnes
für Kontinuität überhaupt. Valéry gibt davon wohl als der erste, vor
Huxleys Brave New World, Rechenschaft: »Angenommen, die
maßlose Umwandlung, deren Zeugen wir sind, die wir erleben und
die uns umtreibt, entwickle sich weiter, richte vollends zugrunde,
was noch an Bräuchen übriggeblieben ist, bringe Bedürfnisse und
Mittel des Lebens in völlig anderen Fug – dann wird das zu etwas
ganz Neuem gewordene Zeitalter bald Menschen in seinem Schoße
austragen, die durch keinerlei Gewöhnung des Geistes mehr mit der
Vergangenheit verbunden sein werden. Die Geschichtsbücher
werden ihnen Berichte zur Verfügung stellen, die ihnen fremd, ja
unverständlich vorkommen werden, denn für kein Ding ihrer Zeit
wird die Vergangenheit ein Musterbild gestellt haben, und nichts
aus der Vergangenheit wird in ihre Gegenwart hinein überleben.«
(K 123) Zugestanden wird, daß Kultur die heraufziehende Barbarei
verdiente. Als schuldhaft entblößt sie sich durch ihre beginnende
Komik: »So ist es eine der sichersten und grausamsten Wirkungen
des Fortschritts, daß er dem Tod eine Nebenstrafe beigibt, die sich
in dem Maße, in dem der Umsturz der Bräuche und der Denkbilder
deutlichere Formen annimmt und sich überstürzt, ganz von selber
immer weiter verschärft. Es war nicht genug zu vergehen: man muß
darüber hinaus unverständlich, ja lächerlich werden, und – möge
man Racine oder Bossuet gewesen sein – seinen Platz bei den
wunderlichen, buntscheckigen, tätowierten, dem Grinsen
preisgegebenen und ein wenig grauslichen Gestalten einnehmen, die
in den Galerien umherstehen und übergangslos an die zu Menschen
erklärten Endprodukte der Stammesgeschichte des Tierreichs
anschließen ...« (K 124) Was die Kultur ereilt, enthüllt sie als das,
worüber sie noch nicht hinauskam, bloße Naturgeschichte. Valéry
verifiziert den Satz Kafkas, ein Fortschritt habe noch gar nicht
angefangen.
Das wirft Licht auf seine Lehre von der Zeit. Sie weist
unmittelbar auf Baudelaire zurück, den Kultus des Todes als le
Nouveau, als des schlechthin Unbekannten, der einzigen Zuflucht
des spleen, der die Vergangenheit verlor und dem der Fortschritt den
Makel der Immergleichheit trägt. Mit Kierkegaardscher Paradoxie
vermummt die Utopie sich in das X: »Man rettet sich in das
Unbekannte. Man verbirgt sich in ihm vor dem Bekannten. Das
Unbekannte ist die Hoffnung der Hoffnung. Im Unbestimmten hätte
das Denken ein Ende. Die Hoffnung ist jener innerste Akt, der
Unwissenheit schafft, die Mauer zur Wolke wandelt, – und kein
Skeptiker, kein Zweifler zerstört Urteil und Vernunft, Evidenz und
Wahrscheinlichkeit, wie dieser rasende Dämon Hoffnung.« (W 27)
Aber noch diese wolkige Stelle wird von Valéry zerdacht. Er
bestimmt sie als Augenblick, als einzig Erfülltes; als das
Differential, das die verlorene Vergangenheit und die hoffnungslose
Zukunft um ein Geringes überragt. Valérys Passion für den
Impressionismus gilt der Verewigung des Augenblicks in
künstlerischen Verfahrungsweisen, die zur obersten Tugend des
Geistes Geistesgegenwart erheben: »Das Genie hängt an einem
Augenblick. Liebe entsteht auf einen Blick; und ein Blick genügt,
ewigen Haß zu erzeugen. Und wir sind nichts, wenn wir nicht
imstande waren und imstande wären, einen Augenblick außer uns zu
sein.« (W 28) Das äußerste Gegenbild dieser Idee ist der bürgerliche
Begriff der abstrakten Arbeitszeit, nach der die Waren sich tauschen
lassen. Idiosynkratisch sträubt Valéry sich gegen das
Heraufdämmern eines Zeitalters ohne Zeit: »Die Meinung ›Zeit ist
Geld‹ ist der Gipfel der Gemeinheit. Zeit ist Reifung, Einteilung,
Ordnung, Vollendung. Die Zeit schafft den Wein und die Güte des
Weins, solcher Weine, die sich langsam verändern und die man
trinken soll, wenn sie ein bestimmtes Alter erreicht haben, wie eine
Frau eines bestimmten Typus ihr Alter hat, das man abwarten muß,
oder nicht verpassen darf, um sie zu lieben. Dieselben großen
Nationen, denen der verfeinerte Sinn fehlt für die reiche
Zusammensetzung der Weine, für das verborgene Gleichgewicht
ihrer Qualitäten, für die Jahre, die sie brauchen und für die, die für
sie ausreichen, haben auch jene unmenschliche ›Zeitgleichung‹
eingeführt und der Welt aufgenötigt. Ihnen fehlt auch der Sinn für
Frauen und für die Nuancen der Frauen.« (W 28f.) Eindringlicheres
ist selten zur Verteidigung des verurteilten Europa gesagt worden.
Zeitbewußtsein konstituiert sich zwischen den Polen der Dauer und
des hic et nunc; was droht, kennt beides nicht mehr, die Dauer wird
kassiert, das Jetzt vertauschbar, fungibel. Dem wirft Valéry, Enkel
von Baudelaires vieux capitaine, als heroisch Scheiternder sich
entgegen: »Der Geist verabscheut die unendliche Wiederkehr, und
nun grüßen ihn die Wellen, die untergehen werden, den ganzen Tag
...« (W 81) Solchem Geist wird Sonnenuntergang zur
Baudelaireschen Allegorie seines eigenen: »Das Gefühl einer
Enthauptung liegt in der Tiefe, die dieser Dauer innewohnt.
Langsam fällt das Haupt dieses Tages. Die Scheibe ertrinkt.«
(a.a.O.)
Todverfallener Geist sympathisiert mit dem Stofflichen, nicht
selber Geistigen mitten im Geist. In einem Materialismus zweiten
Grades trifft Valéry sich mit Walter Benjamin, dessen Ästhetik
mehr wohl von ihm lernte als von irgendeinem anderen. Ihm sind
die Stoffe Gegengift gegen den sich selbst zerstörenden Geist, den
er ohnehin, wie Nietzsche, als »Schallverstärker« beargwöhnt, der
Erfahrung durch Steigerung fälsche. Einer verwegenen Meditation
sind Stoffe, Brot und Wein, Bedingungen der Logosreligion, des
Christentums: »Wo Brot und Wein selten sind oder gar fehlen, wirkt
die Religion, die sie heiligt, entwurzelt, wie eine Fremde, die nur
von ungewohnten, fernher kommenden Speisen leben kann. Im
Lande des Reises, der Bataten, der Bananen, des Biers, der sauren
Milch und des klaren Wassers sind Brot und Wein exotische
Produkte, und die heilige Handlung, die auf dem Eßtisch das
Einfachste ergreift, um es zum Erhabensten zu machen, ist dem
Leben entfremdet, dessen Hunger nach Übersinnlichem sie in
Gestalt dessen stillen wollte, was das Leben physisch erneuert und
verlängert.« (W 30) Er rührt damit an ein Moment der
unwiderstehlichen Auflösung von innen her, das der Enthusiasmus
für Bindungen eifrig übertäubt: daß der Gehalt des Christentums so
wenig wie der der anderen großen Religionen isoliert werden kann
von Sachgehalten des Lebens, die geschichtlich dahin sind. Sagt es
von allem Stofflichen, in Raum und Zeit Bestimmten sich los, wird
es reiner Geist, überantwortet es sich wahrhaft der
Entmythologisierung: dann zieht es sich nicht nur die Autorität unter
den eigenen Füßen weg, sondern verflüchtigt sich, durch bloße
Symbolik hindurch, schließlich in Menschliches und büßt jene
Substantialität ein, vor deren Schrumpfen durch die liberale
Theologie die dialektische warnte, ohne doch den Prozeß aufhalten
zu können. Daß Valéry, der Ästhetiker, all das verschweigt, steigert
bloß die Spannkraft von Denkmodellen wie dem von Brot und
Wein. Das Stoffliche ehrt er als die Schicht, in der allein der
künstlerische Geist seiner selbst mächtig wird. Je tiefer dieser
produzierend in das sich versenkt, woran er sich abarbeitet, je mehr
seine eigene Form dem sich anbildet, was ihm widerstrebt, um so
höher erhebt er sich selber: »Dichter ist, wer durch die
eigentümliche Schwierigkeit seiner Kunst auf Einfälle kommt – und
der ist es nicht, bei dem sie ihretwegen ausbleiben.« (W 46) Gerade
der spirituelle Artist hat die Naivetät verloren, in der Kunst irgend
etwas zu tolerieren, was nicht auswendig geworden wäre; Pathos der
Objektivation und Sympathie mit dem Stoff werden eines. Mit dem
Gestus des Justament nimmt er im Gedicht lieber fürs Schriftbild
Partei als für den Sinnzusammenhang: »Der Geist des Schriftstellers
blickt sich im Spiegel an, den ihm die Druckerpresse liefert.« (K 21;
vgl. K 17) Dabei glorifiziert Valéry, der Anti-Idealist, keineswegs
die Stoffe Fichteanisch als Vehikel des Geistes, um sie damit
wiederum zu erniedrigen. Trauernd vielmehr spricht er ihnen den
Sieg zu, den Geist bloß usurpiert. So ephemer ist er, daß alle
Artefakte Opfer der zerstörenden Gewalt der Stoffe ebenso wie der
eigenen Insuffizienz werden: »Bücher haben dieselben Feinde wie
der Mensch: das Feuer, die Feuchtigkeit, Tiere, die Zeit – und den
eigenen Inhalt.« (W 161) Solche Trauer macht jedoch insgeheim
gemeinsame Sache mit der Hinfälligkeit. Geist wird zum Geist erst,
wo er der eigenen Naturwüchsigkeit innewird: »Die einen Denker
haben das Verdienst klar zu sehen, was alle übrigen undeutlich
sehen; die andern, undeutlich zu sehen, was noch keiner sieht. Sehr
selten findet man diese Verdienste vereint. Die einen werden
schließlich von jedermann eingeholt. Die andern gehen in diesen auf
oder werden völlig vernichtet, spurlos und für immer. Die einen
verschwinden in der Menge, in der sie sich auflösen; die andern in
diesen oder einfach in der Zeit. Das ist das Los der Denker.« (W 65)
Es zu denken, anstatt mitleidlos von Essen und Trinken sich
loszureißen, wäre ihre humane Freiheit. Dies Äußerste spricht
Valéry epigrammatisch, als Witz aus in Betrachtungen über die
Töpferkunst: »Eine bestimmte Gattung der Dichtkunst könnte es
darauf anlegen, vom Grunde unserer Teller abgelesen zu werden.«
(K 162)
Für Valérys ästhetische Erfahrung bewähren Kraft und
Spontaneität des Subjekts sich nicht in seiner Bekundung sondern,
Hegelisch, in seiner Entäußerung: je gründlicher das Gebilde vom
Subjekt sich ablöst, desto mehr hat das Subjekt darin vollbracht.
»Ein Werk dauert gerade insofern es ganz anders zu erscheinen
vermag, als es sein Verfasser geplant hat.« (W 175) Schneidend
kritisiert Valéry, was zu schwach ist, sich zu objektivieren, die
bloßen Intentionen; was immer Dichter sich bei Werken denken
oder in Werke legen, ohne daß es von ihnen sich emanzipierte und
zu einem an sich Beredten und Verbindlichen würde. »Wenn ein
Werk erschienen ist, hat die Deutung, die ihm sein Verfasser gibt,
nicht mehr Gewicht als die eines andern ... Meine Absicht ist nur
meine Absicht, und das Werk ist das Werk.« (W 171) Er, in dem das
dichterische Vermögen und das philosophische sich wie kaum bei
einem anderen wechselseitig produzierten, haßte die
»philosophischen Dichter«, die »einen Maler von Seestücken mit
einem Schiffskapitän verwechseln« (W 61); »in Versen
philosophieren hieß und heißt immer noch, nach den Regeln des
Damespiels Schach spielen zu wollen« (W 92). Seine
Selbstreflexion der Kunstwerke wird kontrapunktiert von dem, was
am schwersten begreift, der jene von außen betritt: daß sie nicht
ihrem Autor gehören, nicht wesentlich dessen Abbild sind, sondern
daß er mit dem ersten Zug der Konzeption an diese und sein
Material gebunden ist, zum Vollzugsorgan dessen wird, was das
Gebilde will: »Ganz andere Kräfte als ein ›Verfasser‹ arbeiten an
einem Werk.« (W 48) Künstlerische Produktivkraft ist die der
Selbstauslöschung. »Wir schreiben immer, selbst in der Prosa,
notwendig solches, was wir nicht schreiben wollten. Was wir
wollten, will es.« (W 167) Schließlich wird das Convenu vom
schöpferischen Künstler antithetisch berichtigt: »Das Werk
verändert den Autor. Bei jeder Bewegung, die es aus ihm
herausholt, erfährt er eine Veränderung. Ist es vollendet, wirkt es
nochmals auf ihn. Er wird dann, zum Beispiel, derjenige, der fähig
war, es zu erzeugen. Hinterher wird er irgendwie zum Erbauer des
verwirklichten Ganzen – das ein Mythus ist.« (W 90) Verschlüsselt
ist damit erreicht, daß das ästhetische Subjekt nicht das
produzierende Individuum in seiner Zufälligkeit ist sondern ein
latentes gesellschaftliches, als dessen Stellvertreter der einzelne
Künstler agiert. Daher Valérys Verachtung für die Lehren von der
Inspiration: ihm ist das Werk kein dem Subjekt als Privateigentum
Geschenktes sondern ein Forderndes, das ihm Glück verweigert und
es zu unbegrenzter Anstrengung anspornt. Einen großen Künstler
läßt er von seinem Werk sagen: »... die unmittelbare
Gesamtwirkung, die plötzliche Erschütterung, die Entdeckung und
am Ende die Geburt des Ganzen, die vielfältige Stimmung, all dies
ist mir verwehrt, all dies ist nur für die Menschen, die dieses Werk
nicht kennen, die nicht mit ihm zusammengelebt haben, die nichts
ahnen von langsamen Tastversuchen, von Widerwillen und Zerfall
... die nur einen großartigen Plan auf einmal erfüllt sehen.« (W 90f.)
Als Geburtshelfer solcher Objektivität ist der Künstler das Gegenteil
dessen, wozu die bürgerliche Kunstreligion ihn stilisiert: »Jeder
Dichter wird schließlich soviel taugen, wie er als Kritiker (seiner
selbst) getaugt hat.« (W 126) Implizit erteilt das dem ästhetischen
Relativismus Bescheid. Die Objektivität der Kunst, die von der
Gestalt des Problems vorgezeichnet ist und nicht von der Intention
des Autors, zeitigt jeweils verbindliche Maßstäbe, ohne daß diese
doch auf abstrakte Regeln, auf apriorische Kategorien zu bringen
wären: »Das Ziel der Malerei ist unbestimmt.« (W 117) Der
Valérysche Künstler ist ein Bergmann ohne Licht, aber die Schächte
und Stollen seines Baus schreiben ihm im Dunkeln seine Bewegung
vor: der Künstler als Kritiker seiner selbst ist bei Valéry der,
welcher »ohne Maßstäbe« urteilt (K 36). Indem der
Produktionsprozeß zu dem der Reflexion auf das wird, was das sich
entäußernde Werk von seinem Urheber ebenso wie vom
Rezipierenden will, legitimiert sich das Denken über Kunst, dessen
Fusion mit dem künstlerischen Prozeß bei Valéry das
Normalbewußtsein permanent herausfordert. Das Werk entfaltet
sich in Wort und Gedanken; Kommentar und Kritik sind ihm
notwendig: »Alle Künste leben von Worten. Jedes Kunstwerk
verlangt, daß man ihm antworte; und zu dem, was den Menschen
treibt, Werke zu schaffen, gehört ebenso wie zu den Geschöpfen
dieses absonderlichen Instinkts untrennbar eine ›Literatur‹, sei diese
nun zu Papier gebracht oder nicht, entspringe sie der
Unmittelbarkeit des Erlebens oder denkerisch bewältigter
Verinnerlichung.« (K 72) Was für divergent gilt, ästhetische
Irrationalität und ästhetische Theorie, erkennt Valéry,
geschichtsphilosophisch, in seiner Einheit: »Dies veranlaßt mich,
darauf aufmerksam zu machen, daß die Künstler, die versucht
haben, aus den Mitteln, die ihnen eigneten, die kräftigste Wirkung
auf die Sinne herauszuholen; die von der Eindringlichkeit, den
Kontrasten, dem Mitschwingenlassen, den Klangwirkungen einen
Gebrauch gemacht haben, der an Mißbrauch grenzt; die die
schärfsten Reize mischten, die auf die Tiefenschichten des
Empfindungsvermögens und ihre Allgewalt, die auf die irrationalen
Entsprechungen der oberen Nervenzentren mit dem Vagus und dem
Sympathikus setzten – unsere unbeschränkten Herren –, daß diese
Künstler zugleich die ›intellektuellsten‹, am meisten
theoretisierenden, am eifrigsten auf Gesetze der Ästhetik versessen
gewesen sind. Delacroix, Wagner, Baudelaire – insgesamt sind sie
große Theoretiker, insgesamt sind sie darauf aus, die Seelen auf dem
Wege über die Sinne in ihre Gewalt zu bekommen.« (K 75)
Organon dieser Einheit ist die künstlerische Technik, die über die
unwillkürliche Regung und das heteronome Material gleichermaßen
verfügt. »Der Künstler hat ... durch sein ›Handwerk‹ und seiner Art
gemäß darzutun, was er will und was er denkt.« (K 180) Der
schwere Akzent, den bei Valéry das Werk trägt, die Absage an die
Dichtung als Erlebnis, richtet schließlich auch das ideologische
Bedürfnis von Kunden, Kunst müsse ihnen etwas geben. Valérys
Humanismus denunziert den vulgären Anspruch, Kunst solle
menschlich sein: »Gewisse Leute glauben, die Lebensdauer eines
Werks hänge von seiner ›Menschlichkeit‹ ab. Sie bemühen sich,
wahr zu sein. Doch welche Werke sind älter als
Wundergeschichten? Das Falsche und das Wunderbare ist
menschlicher als der wahre Mensch.« (W 124) Der Abhebung des
objektivierten Kunstwerks von der menschlichen Unmittelbarkeit
verdankt Valéry eine bedeutende Einsicht, die er mit Benjamin
abermals teilt, bei dem sie in der Kritik der Goetheschen
Wahlverwandtschaften in metaphysischem Zusammenhang auftritt:
daß die Kunst zur Darstellung des Moralischen überhaupt nicht und
kaum zur Psychologie fähig ist; von all dem zu reden, wäre Valéry
zufolge so sinnvoll, wie wenn man Betrachtungen über die Leber
der Venus von Milo anstellen wollte (W 61). Die Objektivation des
Kunstwerks geht auf Kosten der Abbildung von Lebendigem. Leben
gewinnen die Kunstwerke erst, wo sie auf Menschenähnlichkeit
verzichten. »Der Ausdruck eines unverfälschten Gefühls ist immer
banal. Je unverfälschter um so banaler. Um es nicht zu sein, muß
man sich anstrengen.« (W 127) »Literarischen Aberglauben« nennt
er »jede Überzeugung, die nicht von der Einsicht in die sprachliche
Bedingtheit der Literatur ausgeht. Das gilt etwa für die
Eigenexistenz und Psychologie von Figuren, Geschöpfen ohne
Eingeweide.« (W 180) Aber die imaginären Geschöpfe haben dafür
ein Leben eigener Struktur mit Entfaltung, Blüte und Absterben:
»Erst sind sie zur Freude da, dann zur Unterweisung, zuletzt als
Dokument.« (W 93) Die Morphologie solchen Lebens terminiert in
einer geschichtsphilosophischen Bestimmung des Klassischen, die
leicht alles aufwiegen dürfte, was über den verbrauchtesten Begriff
der Ästhetik je gedacht wurde: »Die klassischen Werke sind
vielleicht jene, die erkalten können, ohne zu vergehen, ohne sich zu
zersetzen, und es lohnte, einmal den Willen zur Bewahrung, den die
Begriffe ›Vollendung‹ und ›geschlossene Form‹ enthalten, in den
Prinzipien, Regeln, im Kanon und in den Gesetzen der Kunst jener
Epochen aufzudecken, welche man die klassischen nennt.« (W 121)
Das aber sprengt Valérys Klassizismus. Denn klassische Werke
überleben durch ihre Autorität, durch Ruhm, und der ist überschattet
vom blinden Zufall: »Der Ruhm von heute geht bei der Vergoldung
älterer Werke nicht planvoller vor als ein Brand oder ein Holzwurm
bei ihrem Zerstörungswerk in einer Bibliothek.« (W 52) Der
tödliche Autoritätsverlust so vieler traditioneller Kunst heute hat
Valérys Verdacht gründlich bestätigt. Dafür hat alle Kunst, auch die
avancierte, an sich bereits etwas Konservatives angenommen, den
Gestus des Überwinterns. Noch wer zum Äußersten geht, und
vielleicht er am ehesten, arbeitet, unter höchst ungewissen
Auspizien, an einem Vorrat, über den erst eine versöhnte
Menschheit verfügte; was er tut, ist nicht so aktuell, wie er vermeint,
sondern möchte an besseren Tagen einmal erwachen. Auch das ist
Valéry nicht entgangen: »Dichtung ist Fortleben. In einer Epoche,
da sich die Sprache vereinfacht, da die Formen vernachlässigt und
entstellt werden, in einer Zeit der Spezialisierung ist Dichtung ein
Bewahrtes. Heute, heißt das, würde man den Vers nicht erfinden.«
(W 163)
Trotz alledem jedoch verstockt Valérys objektivistische Ästhetik
sich nicht dogmatisch. Seine Reflexion ereilt die fetischhaften Züge
ihrer Baudelaireschen Ursprünge: noch die Entmenschlichung des
Kunstwerks wird aufs Subjekt reduziert, auf seine Naturwüchsigkeit
und Sterblichkeit. Das objektivierte Kunstwerk will Dauer, die wie
immer auch ohnmächtige, selber sterbliche Utopie des Überlebens;
insofern führt Valéry Nietzsches Programm einer zugleich
antimetaphysischen und ästhetischen Philosophie aus. Ihr zuliebe
stellt er anthropologische Spekulationen an: »Es gibt jedoch andere
Auswirkungen unserer Wahrnehmungen, die jenen ganz und gar
entgegengesetzt sind: sie erregen in uns das Verlangen, das
Bedürfnis, die Zustandsänderungen, denen eigen ist, die
auslösenden Wahrnehmungen bewahren oder neu finden oder auch
nachvollziehen zu wollen. Wenn ein Mensch Hunger hat, wird
dieser Hunger ihn tun lassen, was es braucht, um ihn so rasch wie
möglich zu beseitigen; wenn aber die Speise ihm köstlich dünkt,
wird dieses Köstlichsein in ihm weiterdauern, sich fortsetzen und
neu erstehen wollen. Der Hunger drängt uns, eine Empfindung
abzukürzen; das Köstlichsein, eine zweite sich entfalten zu lassen;
und diese zwei Strebungen werden sich bald selbständig genug
gemacht haben, um den Menschen lernen zu lassen, auf die
Verfeinerung seiner Nahrung Bedacht zu nehmen und zu essen,
ohne Hunger zu haben. Was ich vom Hunger sagte, läßt sich leicht
auf das Liebesbedürfnis erstrecken – und im übrigen auf alle Arten
von Empfindungen, auf alle Erscheinungsformen des
Empfindungsvermögens, in die bewußtes Handeln einzugreifen
vermag, um das wiederherzustellen, zu verlängern oder auch zu
steigern, zu dessen Beseitigung das Handeln aus dem Reflex allein
ausdrücklich geschaffen zu sein scheint. Sehen, Tasten, Riechen,
Hören, Bewegen, Sprechen führen uns insgesamt ein Mal ums
andere in die Versuchung, uns in den Eindrücken häuslich
einzurichten, die sie uns bescheren, sie am Leben zu erhalten oder
sie neu entstehen zu lassen.« (K 142f.) Daraus springt die Theodizee
der Kunst hervor: »Der Inbegriff dieser von mir eben
herausgeschälten Auswirkungen, deren Wesen darin besteht, auf
Un-endlichsein auszugehen, könnte die Ordnung der Dinge
bestimmen, die dem Bereich des Ästhetischen zugehören. Um
diesem Wort ›Un-endlichsein‹ sein Recht und seine scharf
umrissene Bedeutung zu geben, braucht man nur daran zu erinnern,
daß innerhalb dieser Ordnung die Befriedigung das Bedürfnis
wiedererstehen läßt, die Antwort die Frage zu neuem Leben ruft, das
Dasein in seinem Schoße das Nichtdasein austrägt und das Besitzen
das Verlangen.« (K 143) »Denn alle Lust will Ewigkeit.« Kein
anderes Motiv hat Proust zur Konstruktion des Lebens aus der
gewaltlosen, unwillkürlichen Erinnerung bewogen. Ein Moment des
Desperaten, Jugendstilhaften; der Gestus des sich selbst aus dem
Sinnverlassenen herausprojizierenden Sinnes ist dabei
unverkennbar. Ästhetisches Bewußtsein, das den Sturz der
Religionen – ausdrücklich bei Baudelaire, implizit auch bei Valéry –
voraussetzt, kann nicht Kategorien aus dem theologischen Bereich
wie die der Ewigkeit umstandslos zur Kunst säkularisieren, als ob
solche Transposition deren Anspruch und Wahrheitsgehalt nicht
selber berührte. Die Kritik, die Valéry an der Gottähnlichkeit des
künstlerischen Selbst übte, dürfte auch vor der Idee der Dauer der
Werke nicht verstummen, an deren Realität er ohnehin zweifelte.
Seitdem hat die moderne Kunst Grenzen überschritten, die Valérys
Generation respektierte und in denen seine Ästhetik veraltete.
Unter den Idealen seines in sich reflektierten, gebrochenen
Klassizismus fehlen auch die etwas gipsernen Attribute der Reife
und Vollkommenheit nicht (vgl. W 57), während doch die
exemplarischen Werke keineswegs die runden und vollkommenen
sind sondern jene, in denen der Konflikt zwischen der Intention auf
Vollkommenheit und ihrer Unerreichbarkeit die tiefsten Spuren
hinterließ. An archaischen Gebilden sieht Valéry wohl Ähnliches:
»Wenn große Epen schön sind, so sind sie es trotz ihrer Größe und
nur bruchstückweise ... Zu Beginn einer Literatur gibt es keine
reinen Dichter, wie ja auch die ersten Handwerker keine reinen
Metalle kannten.« (W 59) Ihm ist gleich Nietzsche gegenwärtig, wie
sehr Ordnung, der Kanon von Klassizität, dem Chaotischen
abgezwungen ist; den Alten kam, Valéry zufolge, »die irdische Welt
... sehr wenig geordnet vor« (W 176). »Unrein«, heißt es darum, »ist
kein Tadel.« (W 60) »Ein Gedicht zu fügen, das nur Dichtung
enthielte, ist unmöglich. Wenn es nur Dichtung enthält, ist es nicht
gefügt, ist es kein Gedicht.« (W 167) Das kommt auch der Moderne
zugute. »An den Exzessen der Neuerer von gestern verwundert uns
immer ihre Ängstlichkeit.« (W 46) Tatsächlich erweisen sich heute
die Werke der Generation von Schönberg und Picasso als durchsetzt
von Elementen, die ihrer reinen Konsequenz und Durchbildung sich
widersetzen; von Rudimenten dessen, wovon sie abstießen. Aber
das beeinträchtigt nicht die Qualität. Die Authentizität solcher
Produkte könnte gerade in dem Prozeß zwischen dem noch nicht
Gewesenen und dem Gewesenen ihre Substanz haben, an dem das
Neue sich reibt und seine Gewalt vermehrt. Diese Spannung haben
die Gebilde etwa aus dem Dezennium vor dem Ersten Weltkrieg vor
den stimmigeren nach dem Zweiten voraus, und sie erlaubt ihnen zu
überleben; der Spannungsverlust in so vielem Späteren könnte eine
Funktion sein von dessen eigener Konsequenz. Trotz dieser
Verteidigung des Stilbrüchigen aber war für Valéry Dauer, das
bürgerliche Rudiment in seinem Denken, eine nach dem Modell des
Besitzes vorgestellte Wahrheit, eins mit Ordnung. Als einzige
Macht, die den Menschen »über die Geschehnisse« gegeben sei,
»denen gegenüber sein direktes Handeln nichts ausrichtet«, ist ihm,
wie allen Klassizisten, »Ordnen göttlich« (W 177). Seinen
Klassizismus stützt er mit dem kräftigen Argument, daß ans
gelungene Kunstwerk der herkömmliche Stilunterschied von
klassisch und romantisch nicht heranreiche 3 . »Der Unterschied
zwischen klassisch und romantisch ist ganz einfach der zwischen
einem, der sein Handwerk versteht, und einem, der es nicht versteht.
Ein Romantiker, der seine Kunst gelernt hat, wird zum Klassiker.
Deshalb führte die Romantik schließlich zur Schule der
Parnassiens.« (W 179) Die Dauer verleihende Ordnung heißt ihm
Form. Sie rückt, durch Valérys Kritik alles Inhaltlichen, und wäre es
auch selber geistig, nämlich die vom Werk vermeinte Philosophie,
ins Zentrum seiner Ästhetik. Aber ihr eigener Begriff bleibt
schwächlich. »Man gelangt zur Form, wenn man danach strebt, dem
Leser sowenig Mitarbeit wie nur möglich einzuräumen und auch
sich selber möglichst wenig Unsicherheit und Willkür.« (W 169) So
wahr es ist, daß jede bewältigte künstlerische Form Zwang auf den
Rezipierenden ausübt, der als das Authentische des Gebildes
erfahren wird, so wenig verbürgt er allein dessen Rang. Gerade
Valéry hat darauf bestanden, daß im ästhetischen Formbegriff keine
wie immer geartete Rücksicht auf den Empfangenden oder den
Produzierenden enthalten sei. Aber er gleitet darüber hinweg;
vielleicht weil sonst die Kunstmetaphysik selbst gefährdet würde.
»Form«, sagt er im Einverständnis mit dem abgestandenen
Formalismus, »ist wesentlich an Wiederholung gebunden« (a.a.O.);
als hätten nicht schon zu seiner Zeit die authentischesten
Kunstwerke ihr Formgesetz am Ausschluß des äußerlichen und
regressiven Formmittels der Wiederholung gesucht; als schriebe er
nicht ein paar Seiten später: »Der Geist aber erträgt keine
Wiederholung.« (W 172) Nur einen akademischen Formbegriff
kann er wirksam vorgeblicher Neuerungssucht kontrastieren: »Die
Anbetung des Neuen ist demnach dem Bemühen um die Form
entgegengesetzt.« (W 169) Form, die über ihre Parodie, das
Schulstück, sich erhebt, wäre schwerlich noch von der Obsession
mit dem Neuen zu trennen. Aber Valéry zeigt sich darin mit dem
Neoklassizismus verschworen, daß er von außen gesetzte Formen
rechtfertigt, unabhängig von der Immanenz der Form in der
Gesetzmäßigkeit des je einzelnen Gebildes. Der nichts einem
anderen als dem Ingenium verdanken möchte, läßt von
masochistischer Freude an Typen sich verlocken, die heteronome
und unbestätigte Autorität ausüben; vergafft in den Reiz
zweideutiger, als Gesetz maskierter Zufälligkeit, der so schnell sich
verbrannte zur Asche der Langeweile. Manches aus den
Windstrichen könnte in Strawinskys musikalischer Poetik stehen:
»Ein großer Erfolg des Reims ist es, die einfältigen Leute zu ärgern,
die naiv genug sind zu meinen, es gebe auf der Welt Wichtigeres als
eine Übereinkunft. Sie haben den arglosen Glauben, irgendein
Gedanke könne tiefer und dauerhafter sein – als jede beliebige
Konvention ...« (W 167) Den ästhetischen Objektivismus Valérys
trägt, genetisch-literarisch und auch sachlich, ein Subjekt, das der
Substantialität der Formen sich unwiderruflich entfremdet weiß und
gleichwohl das Bedürfnis danach bewahrt. Es zitiert sie als
disziplinierendes Mittel, als Schwierigkeit herbei, welche die Kunst
sich selber bereiten müsse, um vollkommen zu werden; als wäre
nicht die künstlerische Praxis durch jene Mittel allzu bequem
geworden. Ihn verleitet die Willkür einer Subjektivität, die weder an
jene Formen noch wesentlich gebunden ist, noch kraft der eigenen
Arbeit und Anstrengung, die Valéry sonst zu fordern nicht müde
wird, Form aus sich selbst, ihrer Selbstversenkung, unbekümmert
um Muster und vergangene gesellschaftliche Übereinkunft,
konstituierte. In solcher Gesinnung preist Valéry, nicht ohne die
Ironie des Provokativen, eine dichterische Form, die vor andern den
Verdacht des mechanisch Klappernden erregt: »Zuweilen bin ich
einer, der, falls er in der Unterwelt dem Erfinder des Sonetts
begegnete, ihm mit viel Hochachtung sagen würde (gesetzt den Fall,
daß davon in der anderen Welt etwas übrigbleiben sollte): ›Lieber
Herr Kollege, ich begrüße Sie in aller Demut. Ich weiß nicht, was
Ihre Verse, die ich nie gelesen habe, taugen, und ich wette, daß sie
nichts taugen, weil schon immer viel dafür gesprochen hat, darauf
zu wetten, daß Verse schlecht sind. Doch so schlecht, so flach, so
blöd, so durchsichtig, so einfältig, so kindlich sie auch gefügt sein
mögen – ich stelle Sie unter allen Umständen in meinem Herzen
über alle Dichter der Erde und der Unterwelt! Sie haben eine Form
erfunden, und im Gesetz dieser Form fanden die Größten ihr Maß.‹«
(K 24f.) Wohl möchte man fragen, wie der Gedanke an die
Erfindung einer Form mit ihrer Würde sich verträgt, welche doch
diesen Gedanken erweckte. Das ist die Schwelle, die Valéry von
deutschen Erfahrungen trennt, mit denen sonst seine Spekulation
konvergiert. Damit Kunst ihm das Oberste bleibe, muß er
krampfhaft die Augen verschließen. Sie ist ihm am Ende doch nicht,
wie für Hegel, eine Entfaltung der Wahrheit, sondern, mit jenem zu
reden, ein angenehmes Spielwerk. Das Moment des weltläufig
Zivilisatorischen darin ist unverächtlich genug gegenüber der
Befangenheit in einem Reich des Geistes, das der Befangene
buchstäblich nimmt und verabsolutiert. Gleichwohl verhindert es
Valéry daran, den vollen Begriff des Kunstwerks als eines
Kraftfeldes von Subjekt und Objekt zu erreichen. Noch das hat er
empfunden. Er versichert sich, im Gegensatz zur Toleranz fürs nicht
ganz Ernste, der Unvereinbarkeit der geistigen Gebilde miteinander,
die doch widerstrebend aufeinander verwiesen sind: »Keinen von
ihnen« – den bedeutenden Künstlern – »kann ich mir einzeln
vorstellen; und dabei hat sich doch jeder verzehrt, damit keiner
neben ihm bestehe.« (W 95) Darum demontiert er ein Cliché, das,
heruntergekommen aus der großen Philosophie, nur noch zum
Vorwand jener bürgerlichen Kultur taugt, die, wo Notwendigkeit
sein sollte, Freiheit verhimmelt, weil Notwendigkeit herrscht, wo
Freiheit sein sollte: Ȇber Geschmack und Farben soll man
streiten.« (W 34) Keineswegs verläßt er sich auf die in Frankreich
sakrosankte Kategorie des Geschmacks: »Wer nie den guten
Geschmack verletzt, hat sich nie sehr weit in sich vorgewagt. Wer
gar keinen Geschmack hat, hat es getan, ohne daraus Nutzen zu
ziehen.« (W 169) Er hätte schwerlich, wie der Musicien Français
Debussy, die Pariser Erstaufführung von Mahlers Zweiter
Symphonie protestierend verlassen. Dennoch behält bei ihm das
Kunstwerk etwas Unverbindliches. Seine oberste ästhetische
Kategorie, das Formgesetz, gründet sich auf Wahl, Entschluß und
Reminiszenz. Er sperrte sich dagegen, daß eben durch den
Überschuß einer im Subjekt nicht eingeschmolzenen Objektivität,
an dem sein Objektivismus sich orientiert, Objektivität selber
herabgesetzt wird zum Trug, zur bloßen subjektiven Veranstaltung.
Und damit zu einem ideologisch Schmückenden. Trotz aller
Polemik gegen Kommunikation und Wirkungszusammenhänge fügt
sich das Valérysche Kunstwerk zustimmend in den Bannkreis der
Gesellschaft, den romanisches Denken zögert zu überschreiten, nach
Cocteaus Wort stets dessen eingedenk, wie weit man zu weit gehen
darf. »Ein Gedicht muß ein Fest des Intellekts sein. Es kann nichts
anderes sein. Ein Fest: das heißt ein Spiel, aber ein hohes,
geregeltes, voller Bedeutung; ein Bild dessen, was man gewöhnlich
nicht ist, eines Zustandes, in dem die Anstrengung im Rhythmus
erlöst ist. Man feiert etwas, indem man es in seiner reinsten und
schönsten Form vollendet darstellt.« (W 162) Man darf durch die
Spiritualisierung der Idee vom Fest nicht darüber sich täuschen
lassen, daß das festliche Kunstwerk eingeschworen bleibt auf die
Bejahung dessen, was ist. Der ästhetische Konformismus der
Valéryschen Lehre von der Form ist gesellschaftlich zugleich.
Selbst sein Neoklassizismus jedoch enträt nicht des Gärstoffs.
Die neoklassizistische Bewegung in Frankreich war insgesamt, wie
man weiß, kunststrategisch ein Gegenschlag gegen Wagner. Die
stipulierte Ordnung sollte dem rauschhaften Wesen, der trüben
Vermischung der Künste, dem deutschen Hang zum Superlativ (W
49) widerstehen. Diesem Programm hat Valéry auch als Dichter sich
verschrieben in dem Plan des musikalischen Dramas Amphion, das,
nachdem Debussy spröde sich gezeigt hatte, schließlich von
Honegger vertont wurde. Neoklassizistisch ist nicht nur der
griechische Stoff sondern die Idee. Sie beruht auf jener scharfen
Distinktion der Künste durch Valéry, die das Wagnerische
Musikdrama vorweg negiert. Er hat sie an der eigenen Entwicklung
erfahren als die der Architektur, der seine erste Liebe gehörte, und
der Musik; hat es aber nicht bei der Distinktion sein Bewenden
haben lassen und damit auch nicht bei Stilkopien des siebzehnten
und achtzehnten Jahrhunderts. In seinem Medium, der Sprache, das
ihm musikalisch war und keines der begrifflichen Signifikation,
hielt er der Architektur die Treue. Dazu inspirierte ihn, daß beide
Kunstgattungen insofern verwandt sind, als sie nichts
Gegenständliches nachahmen oder bezeichnen. Er spricht an auf die
coincidentia oppositorum: »Die Komposition – das heißt die
Verknüpfung des Ganzen mit dem Einzelnen – ist in den Werken
der Musik und der Architektur viel spürbarer und gebotener als bei
den Künsten, deren Gegenstand die Wiedergabe sichtbarer Dinge
ist: da diese ihre Elemente und ihre Musterbilder der Welt außer uns
entnehmen – der Welt der ganz und gar schon zu Ende geschaffenen
Dinge und der schon festgelegten Schicksale – entspringt daraus ein
gewisser Mangel an Reinheit der Form, einige Anspielung auf jene
andersartige Welt, manch ein Eindruck, der mehrdeutig bleibt und
zufällig ist.« (K 38) Das erst spezifiziert seine Idee von Form: die
Wiederkunft des Architektonischen im Musikhaften. »Noch bei den
ungewichtigsten Stücken muß man an das denken, was Dauer
verleiht, und das heißt an das, was in der Erinnerung zu bleiben
vermag, an die Form also, so wie die Erbauer der mit ihrem Filigran
schwerelos in den Himmel ragenden Turmspitzen an die Gesetze
denken, die den Halt des Baues verbürgen.« (K 37) Der Künstler,
dem die Reflexion auf Kunst und diese eins sind, zieht daraus den
Impuls seines Musikdramas. Sein Vorwurf ist die Urgeschichte der
Musik in ihrem Gegensatz zur Architektur, die zugleich in der
dramatischen Einheit durcheinander vermittelt sind. Gleichgültig
jedoch, ob das Projekt gelang oder nicht: nachdem einmal Valéry
auf das Abenteuer solcher Vermittlung sich einließ, geht es
Kategorien wie der säuberlichen Trennung der Künste, dem an der
Optik orientierten Primat von Ordnung, schließlich dem
Neoklassizismus ans Leben. Enthusiastisch grüßt er die
Beschreibung eines von Musik Besessenen durch E.T.A. Hoffmann,
der »glaubt, einen Ton von außerordentlicher Eindringlichkeit und
Reinheit zu vernehmen, den er den Euphon nennt und der ihm das
unendliche und eigene Weltbild des Gehörsinns aufschließt ... So
erlebt sich innerhalb der Ordnungen der Bildenden Kunst der
Mensch, der sieht, unversehens als Seele, die singt, und dieser
Zustand – ›Ich singe ja!‹ – läßt in ihm einen Durst nach Schöpfung
entstehen, der das Geschenk des Augenblicks festhalten und
verewigen möchte.« (K 94) Er verfällt darauf, »daß einer den Plan
fassen könnte, die Notenschrift zu diesem Tanze aufzuzeichnen. So
könnte man einer gegebenen Plastik ein bestimmtes Musikstück
zuordnen, das ganz auf dem Rhythmus der Hantierung des Künstlers
aufgebaut wäre.« (K 174)
Das Baudelairisch-neuromantische Motiv der Synästhesie wird
sublimiert: nicht länger verschwimmen Töne und Düfte in der Luft
des Abends, sondern das Getrennte wird synthesiert kraft seiner
harten Getrenntheit. Auch das wäre mit einem dogmatischen Begriff
von Form unvereinbar. Ihn sprengt Valérys verzehrendes
Bewußtsein, das bei keiner festen Bestimmung sich ausruht, durch
die Interpretation der Kunst als einer Sprache eigenen Wesens. Sie
ist Nachahmung; nicht eines Gegenständlichen, sondern
mimetisches Verhalten. Noch die ästhetische Kategorie, welche als
die subjektive schlechthin erscheint, die des Ausdrucks, wird im
Namen solcher Nachahmung zu einem Objektiven: zur
Nachahmung der Sprache der Dinge selber. Sie ist daran gebunden,
daß das Gebilde der Ähnlichkeit mit jenen sich entschlägt.
»Dichtung ist der Versuch, mit den Mitteln der artikulierten Sprache
das darzustellen oder wiederherzustellen, was Schreie, Tränen,
Liebkosungen, Küsse, Seufzer usw. dunkel auszudrücken
versuchen, und was die Dinge scheinbar ausdrücken wollen in dem,
was wir für ihr Leben und ihre Absicht nehmen.« (W 163) Der
musikalische Sprachgebrauch kennt in der Vortragsbezeichnung
espressivo, die gleichgültig ist gegen das Ausgedrückte wie gegen
das ausdrückende Subjekt, etwas nah Verwandtes. Als Metaphysik
der Nachahmung tastet Valérys Ästhetik am Ende des Essays über
die Würde der Künste, an denen das Feuer teilhat, nach dem
Äußersten: »Die Künste, die das Feuer wirkt, wären damit die
verehrungswürdigsten von allen, ahmen sie doch so genau das
überirdische Wirken eines Weltenschöpfers nach.« (K 14) Kunst ist
Nachahmung nicht von Geschaffenem sondern des Aktes der
Schöpfung selber. Diese Spekulation steht hinter Valérys
provokatorischer, entschlossen alexandrinischer Ansicht, der
künstlerische Produktionsprozeß sei zugleich der wahre Gegenstand
der Kunst: »Warum sollte man denn die Ausführung eines
Kunstwerkes nicht auch als Kunstwerk ansehen dürfen?« (K 174)
Das zerstört wie kaum eine andere Theorie die Illusion vom
Kunstwerk als einem Sein. Gerade als objektives verwandelt es sich
ins Werden, während die vulgäre These es statisch vorstellt und sein
dynamisches Moment dem vermeintlichen Schöpfungsakt des
Künstlers zumißt, der bei Valéry in jener höchsten Nachahmung
erlischt. Die Paradoxie erhellt sich damit, daß die objektiv gerichtete
Ästhetik Valérys, die das Werk so wenig als Nachahmung eines
Äußeren wie als die eines Inneren, der Seele des Autors, dulden
möchte, gleichwohl nicht so sehr von dem »unmittelbaren
Vergnügen«, das die Werke der Kunst ihm geben, berührt wird, »als
durch die Vorstellung, die sie mir vom Tun dessen, der sie schuf,
eingeben« (K 170). Nach der abgründigen Passage von jenem
Menschen der Vorwelt, der, »gedankenabwesend ein beliebiges
grobes Gefäß liebkosend, in sich den Gedanken keimen fühlte, ein
anderes Gefäß auszuformen, nur um es liebkosen zu können« (K
13), wäre Kunst vielleicht Nachahmung der schöpferischen Liebe
selber. Als Nachahmung eines Schöpfungsaktes anstatt der
geronnenen Gegenstände gerät Kunst in Gegensatz zur Natur: »Wir
spüren in uns gewisse Sehnsüchte, denen die Natur nicht zu genügen
vermag, und uns sind Vermögen eigen, die ihr abgehen.« (K 67) So
kommen Baudelaires paradis artificiels nach Hause, Mimesis
dessen, was aller Dinglichkeit vorausgeht, durch die künstlerische
Freiheit, die dem Bann der Dinge entrückt ist. Diese Theorie der
Nachahmung verbindet vollends mit dem Ideal des l'art pour l'art,
daß die Ähnlichkeit des Kunstwerks – nicht länger eine mit etwas –
zur Funktion seiner immanenten Form gemacht wird. »Man darf
nicht vor jeglichem Dinge die Ähnlichkeit wollen; diese muß
vielmehr aus der Übereinstimmung einander zugewandter
Beobachtungen und Verrichtungen hervorgehen, die in die Form des
Ganzen eine ständig sich mehrende Vielheit von Bezogenheiten der
einzelnen Teile speichern, die der Künstler wahrgenommen hat. Es
kennzeichnet die Güte einer Arbeit, daß man sie immer weiter der
Genauigkeit zu vorantreiben kann, ohne daß man ihre Anlage oder
die Bezugspunkte zu ändern brauchte.« (K 176) Kunstwerke wären
um so ähnlicher, je vollkommener sie durchgebildet sind bei sich
selber: »Für sie gab es eben richtigerweise die Ähnlichkeit nur in
ihrer Bezogenheit auf das allgemeine Prinzip der Kunst und deren
eigentlichen Gegenstand.« (K 177) Es wird nicht genannt und ist
zugehängt, aber sein Gleichnis ist der Schöpfungsakt, und das
Kunstwerk rangiert um so höher, je mehr es diesem gleicht; je
ähnlicher, ließe pleonastisch sich sagen, es sich selber ist. Denn in
der Ähnlichkeit mit sich selbst wird es zum Gleichnis des
Absoluten, dem es unmittelbar, in seiner Partikularität, nicht zu
ähneln vermag. »Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst«
– das ist die Utopie in ihrer ästhetischen Gestalt. Auf sie, die reine
Möglichkeit, zielt Valérys denkende Bewegung. »In meinen
Gedanken suche ich mit all dieser Zaubermacht des Meeres
zurechtzukommen, indem ich mir sage, daß es nicht aufhöre,
meinen Augen das Mögliche vorzuführen.« (K 130) Nur durch die
verblendete Besessenheit mit sich selber, nicht durch die
durchsichtige Intention auf das, was mehr wäre, wird das Kunstwerk
mehr, als es ist. Seine Ähnlichkeit mit sich selber macht es zur
Sprache. Allein in solcher Sprachähnlichkeit hat alle Kunst ihre
Einheit. Ihre Idee ist von der meinenden Sprache so geschieden wie
ästhetische Ähnlichkeit überhaupt von der mit den Dingen. Die
Inkommensurabilität der Sprachen gerade verweist auf diese
Schicht: »Es gibt Lehren, die es nicht vertragen, in eine fremde
Sprache übersetzt zu werden, die nicht die ihrer ursprünglichen
Formulierung ist. Das Vertrauen darauf, daß man ihnen Glauben
schenkt, der Zauber, die Scheu gehen dabei verloren, die ihnen
eigen waren, seitdem sie sich in Worte kristallisierten; in Worte, die
sich verschleiert und nur ihnen geweiht haben.« (W 147) In der
Konzeption ungegenständlicher Ähnlichkeit wird der
neuromantische Kultus der Nuance theoretisch heimgebracht. »Das
Schöne erfordert vielleicht die sklavische Nachahmung dessen, was
in den Dingen unbestimmbar ist« (W 94), lautet der schönste Satz
der Windstriche. Das Unbestimmbare ist das Unnachahmliche, und
die ästhetische Mimesis wird zu einer des Absoluten, indem sie im
Bedingten solches Unnachahmliche nachahmt. Daran haftet das
utopische Versprechen: »Merk auf dieses feine, unaufhörliche
Geräusch; es ist die Stille. Horch auf das, was man hört, wenn man
nichts mehr vernimmt.« (W 76)
Valérys Utopie geht über in die Prousts: »Die Blumen, die das
Blumenmädchen gegenüber, unter dem großen Palasttor, verkauft,
bringen allen Menschen Botschaften und Träume der Liebe. Was
nie eintreffen, niemals geschehen kann, duftet, riecht gut.« (W 20f.)
An sie heftet sich die Sehnsucht des Denkers nach einem Denken,
das des eigenen Zwangscharakters ledig wäre: »Am schönsten wäre
es, in einer selbsterfundenen Form zu denken.« (W 72) Unbegrenzte
Mühsal des Denkens will auf dessen Untergang in der Erfüllung
hinaus; die intellektuelle Anstrengung auf die Abschaffung der
Gewalt von »selbstgegebenen Gesetzen« (K 74). Wohl ist unstillbar
Valérys Drang, seiner selbst mächtig zu werden, und seine
Kunsttheorie möchte Autonomie dorthin noch ausdehnen, wo ihr
sonst bloß Kontingenz sich entgegensetzt. »Weder das Neue noch
das Geniale verlocken mich – sondern die Herrschaft über sich
selbst.« (W 69) Aber dies Ideal transzendiert den eigenen
Subjektivismus. »Wer arbeitet, sagt sich: Ich will mächtiger,
gescheiter, glücklicher sein – als – Ich.« (W 128) Schrankenloses
Verfügen des Subjekts über es selber meint dessen Aufhebung in
einem Objektiven. Das Werk, das die Sprache der Dinge als
Ebenbildlichkeit mit dem Schöpfungsakt nachahmt, bedarf der
Herrschaft des Produzierenden, den es wiederum unterjocht. So
wird es für Valéry zugleich Strafe: »Und zu deiner Strafe wirst du
sehr schöne Dinge herstellen. Dies hat ein Gott, der keineswegs
Jehova ist, dem Menschen nach dem Sündenfall in Wahrheit
gesagt.« (W 89) Aber mit Strafe will er sich nicht gemein machen.
Sie untergrabe, heißt es, abermals in Nietzsches Tonfall, »die Moral,
denn sie schafft für das Verbrechen einen deutlich begrenzten
Ausgleich. Aus dem Grauen vor dem Verbrechen macht sie ein
bloßes Grauen vor der Strafe; – eigentlich spricht sie frei; sie macht
das Verbrechen zu etwas Verkäuflichem und Meßbarem: feilschen
wird möglich.« (W 151) Valéry, der Denkende, durchschaut die
Befleckung von Denken selber als einem Kalkül durch den Tausch:
»Das Wertvollste darf nichts kosten. Und den andern (Gedanken):
darauf am meisten stolz sein, wofür man am wenigsten kann.« (W
165) So wird im Denken dessen Prinzip, Herrschaft selber,
widerrufen. Der alles an seine Macht als Künstler setzt, denunziert
die Kunstwerke, insoweit sie Macht ausüben. »Nichts liegt Corot
ferner als die Sorge dieser gewaltigen und umgetriebenen Geister,
die so angstvoll sich mühten, an diesen gebrechlichen und
verborgenen Punkt des Wesens heranzukommen und zu etwas von
ihnen Besessenem (im diabolischen Verstand dieses Wortes) zu
machen, der es auf dem Umwege über die Tiefenschichten des
Organismus und die Eingeweide ganz und gar ausliefert. Sie wollen
verknechten. Corot will zu dem von ihm Erfühlten hinverführen. Er
denkt nicht daran, sich zum Herren über einen Sklaven zu machen.
Doch hofft er, aus uns sich Freunde zu schaffen, Gefährten seines
glückhaften Schauens an einem schönen Tage vom silbernen
Morgen bis an die Schwelle der Nacht.« (K 76) Die Idee der
unversöhnlichen Anstrengung von Kunst ist Versöhnung als ihr
Ende.
 Fußnoten
 
1 Im folgenden steht W für Paul Valéry, Windstriche.
Aufzeichnungen und Aphorismen, Wiesbaden 1959, und K für Paul
Valéry, Über Kunst. Essays, Frankfurt a.M. 1959.
 
2 Vgl. Th. W. Adorno, Musik, Sprache und ihr Verhältnis im
gegenwärtigen Komponieren, in: Jahresring 56/57. Ein Querschnitt
durch die deutsche Literatur und Kunst der Gegenwart, Stuttgart
1956, S. 99 [GS 16, s. S. 653f.].
 
3 Vgl. Th. W. Adorno, Klangfiguren, Berlin, Frankfurt a. M. 1959,
S. 182ff. [GS 16, s. S. 126ff.]
 
 Kleine Proust-Kommentare
Gegen kleine Kommentare zu einigen Abschnitten aus der ›Suche
nach der verlorenen Zeit‹ ließe sich sagen, daß bei dem verwirrend
reichen und krausen Gebilde der Leser mehr der orientierenden
Überschau bedürfe, als daß er noch tiefer ins Einzelne verstrickt
werden möchte, aus dem ohnehin nur schwer und mühsam der Weg
zum Ganzen sich bahnen ließe. Der Einwand scheint mir der Sache
nicht gerecht zu werden. An großen Übersichten fehlt es nicht
länger. Das Verhältnis des Ganzen zum Detail jedoch bei Proust ist
nicht das eines architektonischen Gesamtplans zu seiner Ausfüllung
durchs Spezifische: eben dagegen, gegen das gewalttätig Unwahre
einer subsumierenden, von oben her aufgestülpten Form hat Proust
revoltiert. Wie die Gesinnung seines Werkes die herkömmlichen
Vorstellungen von Allgemeinem und Besonderem herausfordert und
ästhetisch ernst macht mit der Lehre aus Hegels Logik, das
Besondere sei das Allgemeine und umgekehrt, beides sei
durcheinander vermittelt, so kristallisiert sich das Ganze, allem
abstrakten Umriß abhold, aus den ineinandergewachsenen
Einzeldarstellungen. Eine jede birgt Konstellationen dessen in sich,
was am Ende als Idee des Romans hervortritt. Große Musiker der
Epoche, Alban Berg etwa, wußten, daß die lebendige Totale gerät
nur durchs vegetabilisch wuchernde Gerank hindurch. Die
produktive Kraft zur Einheit ist identisch mit dem passiven
Vermögen, schrankenlos, ohne Rückhalt ans Detail sich zu
verlieren. Der inneren Formzusammensetzung des Proustschen
Werkes aber, das den Franzosen seiner Zeit nicht bloß um der
langen und dunklen Sätze willen so deutsch dünkte, wohnt trotz
seiner vorwiegend optischen Begabung, und ohne alle billige
Analogie mit dem Komponieren, ein musikalischer Impuls inne. Er
bewährt sich am eindringlichsten in der Paradoxie, daß der große
Vorwurf, die Rettung des Vergänglichen, durch die eigene
Vergängnis, die Zeit hindurch gerät. Die Dauer, der das Gebilde
nachfragt, konzentriert sich in ungezählten, vielfach voneinander
isolierten Augenblicken. Einmal verherrlicht Proust mittelalterliche
Meister, die in ihren Kathedralen Zierate so verborgen angebracht
hätten, daß sie wissen mußten, es werde nie ein Mensch sie
erblicken. Die Einheit ist keine fürs menschliche Auge veranstaltete,
sondern unsichtbar mitten im Zerstreuten, und erst einem göttlichen
Betrachter würde sie offenbar. Im Gedanken an jene Kathedralen ist
Proust zu lesen, beharrend vorm Konkreten und ohne vorwitzigen
Griff nach dem, was bloß durch die tausend Facetten hindurch, nicht
unmittelbar sich gibt. Darum will ich weder bloß auf vorgebliche
Glanzstellen hinweisen noch eine Interpretation des Ganzen
vorbringen, die noch im glücklichsten Fall bloß wiederholte, was
der Autor von sich aus an Intentionen ins Werk hineintat. Sondern
ich hoffe, durch Versenkung ins Bruchstück etwas von jenem
Gehalt aufleuchten zu lassen, der sein Unverlierbares von nichts
anderem empfängt als von der Farbe des hic et nunc. Mit solchem
Verfahren glaube ich Prousts eigener Intention besser die Treue zu
halten, als wenn ich sie abzudestillieren versuchte.
 
ZU ›IN SWANNS WELT‹, 115–123 1
 
Henri Bergson, Prousts Verwandter nicht nur im Geist, vergleicht in
der ›Einleitung in die Metaphysik‹ die klassifizierenden Begriffe der
kausal-mechanischen Wissenschaft Konfektionskleidern, welche um
den Leib der Gegenstände schlotterten, während die Intuitionen, die
er preist, so genau auf der Sache säßen wie Modelle der haute
couture. Könnte ein wissenschaftliches oder metaphysisches
Verhältnis ebenso bei Proust in einem Gleichnis aus der Sphäre der
mondanité ausgesprochen sein, so hat er umgekehrt nach der
Bergsonschen Formel sich gerichtet, mochte er sie kennen oder
nicht. Freilich nicht durch bloße Intuition. Deren Kräfte balancieren
sich in seinem Werk mit denen französischer Rationalität, einer
gehörigen Portion welterfahrenen Menschenverstandes. Erst die
Spannung und Zusammensetzung beider Elemente macht das
Proustische Klima aus. Wohl aber ist ihm eigentümlich die
Bergsonsche Allergie gegen die Konfektion des Gedankens, das
vorgegebene und etablierte Cliché: unerträglich ist seinem Takt, was
alle sagen; solche Empfindlichkeit ist sein Organ für die
Unwahrheit, und damit für die Wahrheit. Während er in den alten
Chor über gesellschaftliche Heuchelei und Unwahrhaftigkeit
miteinstimmte, aber gleich jenem Chor am gesellschaftlichen Grund
nirgends ausdrückliche Kritik übte, ist er dennoch gegen seinen
Willen, und darum um so authentischer, zum Kritiker der
Gesellschaft geworden. Er respektierte weithin ihre Normen und
Inhalte; als Erzähler indessen hat er ihr Kategoriensystem
suspendiert, und damit ihren Anspruch auf Selbstverständlichkeit,
den Trug, sie wäre Natur, durchbrochen. Nur der wird Proust
begreifen, gefeit dagegen, ihn als den verzärtelt in sich selbst
Verliebten zu verkennen, der er freilich auch war, wer die
ungemessene Energie des Widerstandes gegen die Meinung spürt,
der tendenziell jeder Satz des Platonikers Proust abgerungen ist.
Dieser Widerstand, die zweite Entfremdung der entfremdeten Welt
als Mittel zu ihrer Restitution, verleiht dem Raffinierten seine
Frische. Er macht ihn so untauglich zum literarischen Vorbild wie
nur Kafka, denn jede Nachahmung seines Verfahrens setzte diesen
Widerstand als bereits geleistet voraus, dispensierte sich von ihm
und verfehlte damit vorweg, was Proust traf. Die Anekdote von
jenem alten Mönch, der in der ersten Nacht nach seinem Tod einem
befreundeten Ordensbruder im Traum erscheint und ihm »Alles
ganz anders« zuflüstert, könnte Prousts Recherche zur Maxime
dienen, als einem corpus von Recherchen darüber, wie es denn nun
im Gegensatz zu dem, worin alle einig sind, wirklich gewesen sei:
der ganze Roman ist ein einziger Revisionsprozeß des Lebens gegen
das Leben. Die Episode von der Entzweiung mit dem bewunderten
Onkel Adolf enthüllt am Schluß die völlige Disparatheit von
subjektiven Motiven und objektiv Geschehendem. Die Kokotte aber,
die ohne Schuld das Unheil auslöst, bleibt trotz jenes Bruchs dem
Roman unverloren. Sie wird als Odette Swann eine seiner
Hauptfiguren und bringt es zu den größten gesellschaftlichen Ehren,
so wie der Sohn des Kammerdieners jenes Onkels, Morel, Tausende
von Seiten später den Sturz des hochmögenden Barons Charlus
herbeiführt. In Prousts Werk ist eine der sonderbarsten Erfahrungen
aufgefangen, eine, die jeglicher Verallgemeinerung sich zu
entziehen scheint und darum im Sinne der Recherche das Urbild
wahrer Allgemeinheit ist: daß die Menschen, mit denen wir im
Leben entscheidend zu tun haben, wie von einem unbekannten
Autor designiert und abgezählt auftreten, als hätten wir sie an dieser
und keiner anderen Stelle erwartet; und daß sie, auch aufgeteilt
zwischen mehrere Personen, uns immer wieder begegnen. Diese
Erfahrung aber läuft wohl darauf hinaus, daß gegen ihr Ende die
liberale Gesellschaft, die sich noch als offene verkennt, nach
Bergsons Begriffen zu einer geschlossenen wird, einem System
prästabilierter Disharmonie.
 
ZU ›IN SWANNS WELT‹, 259–265
ZU ›DIE WELT DER GUERMANTES‹, 37–39; 113–114
 
Unter den verhärteten Vorstellungen, welche das allgemeine
Bewußtsein wie einen Besitz hütet und welche Prousts Eigensinn,
der eines Kindes, das es sich nicht ausreden läßt, zerstört, ist die
wichtigste vielleicht die von der Einheit und Ganzheit der Person.
An kaum einer Stelle speichert sein Werk so heilsames Gegengift
gegen falsche Heiltümer von heutzutage auf als an dieser. Die
Vormacht der Zeit holt ästhetisch den von Hume abgeleiteten Satz
Ernst Machs ein, das Ich sei nicht zu retten; aber haben jene es nur
als Einheitsprinzip der Erkenntnis verworfen, so präsentiert er dem
vollen empirischen Ich die Rechnung seiner Nichtidentität. Der
Geist jedoch, in dem das geschieht, ist dem des Positivismus nicht
nur verwandt sondern auch entgegengesetzt. Wohl führt Proust
konkret durch, was die Poetik sonst nur als formale Forderung
aufstellt, die Entwicklung der Charaktere, und dabei zeigt sich, daß
die Charaktere keine sind; eine Hinfälligkeit des Festen, die vom
Tod ratifiziert, keineswegs aber erst hervorgebracht wird. Diese
Auflösung jedoch ist gar nicht so sehr psychologisch als eine Flucht
der Bilder. Mit ihr greift Prousts psychologisches Werk die
Psychologie selber an. Was an den Menschen sich ändert,
entfremdet wird bis zur Unkenntlichkeit, und wie in musikalischer
Reprise wiederkehrt, sind die imagines, in die wir sie versetzen.
Proust weiß, daß es ein An sich der Menschen, jenseits dieser
Bilderwelt, nicht gibt; daß das Individuum eine Abstraktion ist, daß
sein Fürsichsein allein so wenig Wirklichkeit hat wie sein bloßes
Fürunssein, wie es dem vulgären Vorurteil für Schein gilt. Das
unendlich komplexe Gefüge des Romans ist unter diesem Aspekt
der Versuch, durch eine Totalität, welche Psychologie, Beziehungen
zwischen Personen, und Psychologie des intelligiblen Charakters,
also Verwandlung der Bilder, zusammennimmt, jene Wirklichkeit
zu rekonstruieren, die durch jeglichen aufs bloß tatsächlich
Psychologische oder Soziologische gerichteten Blick um dessen
Vereinzelung willen nicht zu gewinnen wäre. Auch darin ist sein
Werk das Ende des neunzehnten Jahrhunderts, das letzte Panorama.
Die oberste Wahrheit aber sieht Proust in den Bildern der
Menschen, die über ihnen sind, jenseits ihres Wesens und jenseits
ihres zum Wesen selber gehörigen Erscheinens. Der
Entwicklungsprozeß des Romans ist die Beschreibung der Bahn
dieser Bilder. Sie hat Stationen wie die drei Stellen, die sich auf
Oriane Guermantes beziehen; die erste Konfrontation ihres Bildes
mit der Empirie in der Kirche von Combray, dann ihre
Wiederentdeckung und Modifikation, als die Familie des Erzählers
im Pariser Haus der Herzogin, in ihrer unmittelbaren Nähe wohnt,
schließlich das Erstarren ihres Bildes in der Photographie, die der
Erzähler bei seinem Freund Saint-Loup bemerkt.
 
ZU ›DIE WELT DER GUERMANTES‹, 54–56
 
Eine von den Formulierungen, die zur Charakteristik Prousts taugen,
könnte in seinem wie ein Spiegelsaal in sich reflektierten Werk ganz
wohl selber stehen. Es ist die, daß der 1871 Geborene die Welt
bereits mit den Augen der dreißig oder fünfzig Jahre Jüngeren sah;
daß er also, auf einer neuen Stufe der Romanform, auch die einer
neuen Weise von Erfahrung repräsentiere. Das setzt sein mit so
vielen Modellen aus der französischen Tradition, etwa den
Memoiren des Herzogs von Saint-Simon und der Comédie humaine
Balzacs spielendes Werk in die unmittelbare Nähe einer
traditionsfeindlichen Bewegung, deren Anfänge er eben noch
miterlebte, des Surrealismus. Diese Affinität beschließt Prousts
Moderne in sich. Ihm wird das Zeitgenössische mythisch wie für
Joyce. Surrealistische Störungsaktionen, wie die Dalis, der eine
Abendgesellschaft im Taucheranzug besuchte, hätten, als Metapher
verbrämt, durchaus ihren Ort in einer Beschreibung wie der der
großen Soirée der Princesse de Guermantes in ›Sodom und
Gomorra‹. Prousts mythologisierender Zug will aber keine
Reduktion des Gegenwärtigen aufs Uralte und sich Gleichbleibende;
ganz gewiß zeitigt ihn keine Gier nach psychologischen Archetypen.
Sondern er ist surrealistisch insofern, als er mythische Bilder der
Moderne entlockt, wo sie am modernsten ist; darin verwandt der
Philosophie Walter Benjamins, seines ersten großen Übersetzers. Im
Guermantes-Teil wird ein Theaterabend beschrieben. Der von einem
Publikum in großer Toilette besuchte Zuschauerraum verwandelt
sich in eine Art jonischer Seelandschaft, ja ähnelt sich dem
Unterwasserreich maritimer Naturgottheiten an. Der Erzähler selbst
aber spricht davon, daß »Gestalten der Meeresungeheuer«,
mythische Bilder sich fügen einzig nach den Gesetzen der Optik und
dem jeweiligen Einfallswinkel – – also einer dem Bewußtsein
äußerlichen, naturwissenschaftlichen Notwendigkeit gehorchend.
Was wir um uns erblicken, blickt vieldeutig, rätselhaft auf uns
zurück, weil wir in nichts das Erblickte mehr als Unseresgleichen
wahrnehmen: Proust redet von »den Mineralien und Leuten, zu
denen wir keine Beziehung haben«. Die gesellschaftliche
Entfremdung der Menschen voneinander in der hochliberalen
bürgerlichen Gesellschaft, wie sie im Theater sich zur Schau stellte
und genoß; die Entzauberung der Welt, welche den Menschen
Dinge und Menschen zu bloßen Dingen werden ließ, verleiht dem
Unverständlichen zweite Bedeutung. Daß sie wahnhaft sei, daran
erinnert Proust mit der Wendung, wir zweifelten in solchen
Augenblicken an unserem Verstande. Dennoch ist sie Wahrheit.
Durch die vollendete Entfremdung hindurch enthüllt sich das
gesellschaftliche Verhältnis als blind naturwüchsiges, so wie die
mythische Landschaft es war, zu deren allegorischem Bild das
Unerreichbare und Unansprechbare gerinnt; und die Schönheit,
welche die Dinge in solchen Beschreibungen annehmen, ist die
hoffnungslose ihres Scheinens. Im geschichtlichen Einstand drücken
sie die Naturverfallenheit von Geschichte aus.
 
ZU ›DIE WELT DER GUERMANTES‹, 56–59
 
Die Beschreibung des Theaters als vorweltlich mediterraner
Landschaft leitet einige Seiten über die Prinzessin von
Guermantes-Bayern ein, welche, dank jener Beschreibung, als
Große Göttin eingeführt werden kann. Was von ihr gesagt wird und
von der Wirkung, die sie auf die Anwesenden ausübt, ist ein
Exempel jener durchs ganze Werk hindurch verstreuten Passagen,
die unsympathische Leute veranlassen, über Prousts Snobismus zu
zetern, und die den Schwachsinn des mittleren Fortschritts
herausfordern, der fragt, warum man für eine schon zu Prousts
Zeiten ihrer realen Funktion enteignete und statistisch keineswegs
repräsentative Hocharistokratie sich interessieren solle. Auch André
Gide, der von Haus aus in gewissem Sinn gesellschaftlich mehr
dazugehörte als Proust, scheint zunächst an den Proustschen
Prinzessinen sich geärgert zu haben, und noch André Maurois,
dessen Buch in manchen subtilen Details über die Vermittlersphäre
hinausweist, aus der es stammt, weiß vom Snobismus als einer
Gefahr Prousts zu melden, die er überwunden habe. Statt dessen
stünde es an, Proust gegenüber nach dem Satz von Hofmannsthal zu
verfahren, der eine ihm vorgeworfene Schwäche lieber gut erklären
wollte als verleugnen. Denn daß Proust selber von seinem Swann
sich imponieren ließ, weil dieser, wie der Erzähler nicht müde wird
zu wiederholen, tatsächlich dem Jockeyklub angehörte und als Sohn
eines Börsenmaklers in der großen Gesellschaft reçu war, ist so
offenbar, daß Proust es darauf angelegt haben muß, die eigene
provokatorische Neigung hervorzukehren. Man wird aber ihrem
Sinn am ehesten auf die Spur kommen, wenn man der Provokation
folgt. Snobismus, so wie der Begriff Prousts Recherche
durchherrscht, ist die erotische Besetzung gesellschaftlicher
Tatbestände. Darum verletzt er ein gesellschaftliches Tabu, das an
dem gerächt wird, der auf die heikle Sache zu sprechen kommt.
Bekennt der Antipode des Snobs, der Zuhälter, durch seinen Beruf
die Verflochtenheit des Sexus mit dem Erwerb ein, welche die
bürgerliche Gesellschaft zudeckt, so demonstriert umgekehrt der
Snob, was nicht minder allgemein gilt, die Ablenkung der Liebe von
der Unmittelbarkeit der Person auf die sozialen Verhältnisse. Der
Zuhälter vergesellschaftet den Sexus, der Snob sexualisiert die
Gesellschaft. Gerade weil diese die Liebe eigentlich nicht duldet,
sondern dem Reich ihrer Zwecke unterwirft, wacht sie wütend
darüber, daß Liebe mit ihr nichts zu tun habe, daß diese Natur, reine
Unmittelbarkeit sei. Der Snob verschmäht die approbierte
Neigungseinheirat, aber verliebt sich in die hierarchische Ordnung
selbst, die ihm die Liebe austreibt und die solche Gegenliebe
schlechterdings nicht ertragen kann. Er läßt die Katze aus dem Sack,
der dann das Proustsche oeuvre die Schelle anhängt: nicht umsonst
wird ihm, wie vor vierzig Jahren Carl Sternheim, automatisch der
Vorwurf gemacht, daß er als Kritiker des Snobismus jenem von ihm
übrigens harmlos genannten Laster verfallen gewesen sei, während
doch bloß der dem gesellschaftlichen Verhältnis die eigene Melodie
vorzuspielen vermag, der ihm idiosynkratisch verfallen war, anstatt
mit der Rancune des Ausgeschlossenen es zu verleugnen. Was ihm
aber an den vorgeblich überflüssigen Luxusexistenzen aufging,
rechtfertigt seine Vernarrtheit. Dem Hingerissenen wird die
gesellschaftliche Ordnung ins Märchenbild transfiguriert wie einmal
die Geliebte dem wahren Liebenden. Den Proustschen Snobismus
entsühnt, was ihm die Instinkte der nivellierten
Mittelstandsgesellschaft insgeheim vorwerfen: daß die angebeteten
Erzengel und Mächte kein Schwert mehr haben, selbst schutzlose
Nachbilder ihrer liquidierten Vergangenheit wurden. Wie jede Liebe
möchte der Snobismus aus der Verstrickung bürgerlicher
Verhältnisse hinaus in eine Welt, die nicht länger durch universale
Nützlichkeit übertüncht, daß sie die Bedürfnisse der Menschen nur
akzidentell befriedigt. Prousts Regression ist ein Stück Utopie. Wie
die Liebe scheitert er daran, aber im Scheitern denunziert er die
Gesellschaft, die befiehlt, daß es nicht sein soll. Jene Unmöglichkeit
der Liebe, die er an seinen society-Leuten, allen voran an der
eigentlichen Zentralfigur der Recherche, dem Baron Charlus,
darstellte, dem am Ende nur noch ein Zuhälter die Freundschaft
wahrt, hat sich unterdessen als Kältetod über die gesamte
Gesellschaft ausgebreitet, in der die Totalität des Funktionierens
selbstvergessene Liebe, wo sie sich noch regt, erstickt. Darin war
Proust, was er einmal den Juden zuschreibt, prophetisch. Demütig
hat er um die Gunst von Stockreaktionären wie Gaston Calmette
und Léon Daudet geworben; aber einer, der an gewissen Tagen das
Monokel trug, hieß Karl Marx.
 
ZU ›IM SCHATTEN JUNGER MÄDCHENBLÜTE‹, 475–478
 
Baron de Charlus ist der Bruder des Herzogs von Guermantes. Die
Szene seines ersten Auftritts bezeugt das Verhältnis Prousts zur
französischen Décadence, die er verkörpert zugleich und unter sich
läßt, indem sein Werk sie geschichtlich beim Namen ruft. Ein
berühmter Roman aus jener Epoche heißt A Rebours, Gegen den
Strich: Proust hat die Erfahrung gegen den Strich gekämmt. Aber
das »Alles ganz anders« bliebe geschlagen mit der Ohnmacht des
Aparten, wäre nicht seine Kraft auch die des »So ist es«.
Aufmerksam machen möchte ich auf Prousts Bemerkung, daß
manche Leute einen Laut ausstoßen, als wäre es ihnen übermäßig
schwül, ohne daß sie doch so empfänden. Ihre Evidenz kommt ihrer
Abseitigkeit gleich. Das schlechte Allgemeine zersetzt sich unter
Prousts süchtigem Blick, aber was für zufällig gilt, gewinnt dafür
eine quere, irrationale Allgemeinheit. Einem jeden, der überhaupt
die Voraussetzungen zur Lektüre Prousts mitbringt, wird es
vielerorten zumute sein, als wäre es ihm so, eben so ergangen. Mit
der Tradition des großen Romans teilt Proust die vom jungen
Lukács herausgearbeitete Kategorie des Kontingenten. Er schildert
das sinnverlassene, vom Subjekt her nicht als Kosmos zu rundende
Leben. Trotzdem aber ist seiner Beharrlichkeit, welche die der
Romanciers des neunzehnten Jahrhunderts übertrifft, der Zufall
nicht gänzlich sinnverlassen. Er führt einen Schein von
Notwendigkeit mit sich: als wäre doch ins Dasein, wirr, äffend,
geisternd in seinen dissoziierten Bruchstücken, ein Bezug auf Sinn
eingesprengt. Diese Konstellation einer bloß negativ zu spürenden
Notwendigkeit in dem ganz Zufälligen – auch sie vorweisend auf
Kafka – reißt das besessen individuierte Werk Prousts hoch über die
eigene Individuation: in deren Kern legt er das Allgemeine frei,
durch das sie vermittelt ist. Solche Allgemeinheit aber ist die des
Negativen. Proust hat, wie seine Antipoden, die Naturalisten vor
ihm, mit der entlegensten Beobachtung Recht, aber dies Recht ist
das der Desillusion und verweigert jeden tröstlichen Zuspruch. Er
gibt, wo er nimmt: wo er Recht hat, ist Schmerz. Sein Medium ist
der Verfolgungswahn, dem Prousts Triebstruktur nahe verwandt war
und der auch in der Physiognomik seines Charlus nicht fehlt. Der
hinter sich die Brücken abbrach, besetzt das Sinnlose mit Sinn und
Bedeutung, aber gerade sein Wahn reicht an das heran, was die Welt
gemacht hat aus sich und aus uns.
 
ZU ›DIE GEFANGENE‹ 101–104
 
Der fünfte Band der Recherche, Die Gefangene, ist, wie schon der
zweite Teil des ersten, eine Darstellung der Eifersucht. Der Erzähler
hat Albertine zu sich genommen, mißtraut all ihren Worten und
Handlungen und hält sie unter einer Kontrolle, der sie sich
schließlich durch die Flucht entzieht; danach erleidet sie einen
tödlichen Unglücksfall. Nicht müde wird der Autor zu versichern,
daß er, während er alle Qualen um Albertine auskostet, sie schon gar
nicht mehr liebe. Liebe und Eifersucht sind nicht so miteinander
verbunden, wie die gängige Vorstellung es möchte. Eifersucht pocht
allemal auf ein Besitzverhältnis, das die Geliebte zum Ding macht,
und frevelt so gegen die Spontaneität, an der Liebe ihre Idee hat.
Aber Prousts Eifersucht ist nicht bloß der ohnmächtige Versuch, die
Flüchtige festzuhalten, die er liebt um ihrer Flüchtigkeit, um des nie
ganz zu Haltenden willen. Sondern es möchte diese Eifersucht, wie
Proust das Leben, Liebe wiederherstellen. Das gelingt ihr aber nur
um den Preis der Individuation der Geliebten. Sie muß, um
unbeschädigt zu sein von der eigenen Lüge, in Natur sich
zurückverwandeln, ins Gattungswesen. Indem sie ihre
psychologische Individualität einbüßt, empfängt sie jene andere und
bessere, der Liebe gilt, die des Bildes, das jeder Mensch verkörpert
und das ihm selber so fremd ist wie, der Kabbala zufolge, der
mystische Name dem, der ihn trägt. Das geschieht im Schlaf. In ihm
legt Albertine ab, wodurch sie nach der Ordnung der Welt zum
Charakter wird. Sich lösend ins Amorphe, gewinnt sie die Gestalt
ihres unsterblichen Teils, an welche Liebe sich heftet: die blickloser,
bilderloser Schönheit. Es ist, als wäre die Beschreibung von
Albertines Schlaf die Exegese des Baudelaireschen Verses von der,
welche die Nacht schön macht. Diese Schönheit gewährt, was das
Dasein verweigert, Geborgenheit, aber im Verlorenen. Die arme,
hinfällige, verwirrte Liebe findet Unterschlupf, wo die Geliebte dem
Tode sich anähnelt. Seit dem zweiten Akt des Tristan ist, im
Zeitalter des Verfalls von Liebe, diese nicht inniger verherrlicht
worden als in der Beschreibung von Albertines Schlaf, die mit
erhabener Ironie den Erzähler Lügen straft, der seine Liebe
verleugnet.
 
ZU ›DIE GEFANGENE‹, 276–278
 
Von den letzten Dingen ist nicht unmittelbar mehr zu reden. Das
ohnmächtige Wort, das sie selber nennt, schwächt sie selbst;
Naivetät sowohl wie trotzige Unbekümmertheit im Ausdruck
metaphysischer Ideen verrät deren Mangel an Verbürgtheit. Aber
Prousts Geist war metaphysisch ganz und gar inmitten einer Welt,
welche die Sprache von Metaphysik verbietet: diese Spannung
bewegt sein gesamtes Werk. Einmal nur, in der Gefangenen, öffnet
er einen Spalt, so hastig, daß das Auge keine Zeit hat, an solches
Licht sich zu gewöhnen. Selbst das Wort, das er findet, läßt nicht
beim Wort sich nehmen. Hier, in der Darstellung des Todes
Bergottes, findet wirklich sich ein Satz, dessen Ton zumindest in der
deutschen Version an Kafka anklingt. Er lautet: »Der Gedanke,
Bergotte sei nicht für alle Zeiten tot, ist demnach nicht völlig
unglaubhaft.« Die Reflexion, die darauf führt, ist die, daß die
moralische Kraft des Dichters, dem er das Epitaph schreibt, einer
anderen Ordnung als der natürlichen angehöre und darum verheiße,
diese sei nicht die letzte. Vergleichbar wäre diese Erfahrung der an
großen Kunstwerken: daß ihr Gehalt unmöglich nicht wahr sein
könne; daß ihr Gelingen und ihre Authentizität selber auf die
Realität dessen verwiesen, wofür sie einstehen. Tatsächlich möchte
man die Stellung der Kunst im Proustschen Werk, sein Vertrauen in
die objektive Macht von dessen Gelingen, mit jenem Gedanken
zusammenbringen, dem letzten, blassen, säkularisierten und
dennoch unauslöschlichen Schatten des ontologischen
Gottesbeweises. Der, an dessen Tod im Werke Prousts einzig die
Hoffnung sich knüpft, ist nicht nur der Zeuge von »Güte und
Gewissenhaftigkeit«, sondern selber ein großer Schriftsteller. Sein
Modell war Anatole France. Erinnerung ans ewige Leben entzündet
sich an dem Voltairianischen Skeptiker: Aufklärung, der Prozeß von
Entmythologisierung soll umschlagend die ihrer selbst
eingedenkende Natur hinausführen über den eigenen
Zusammenhang. Authentisch ist das Proustsche Werk, weil seine
auf Rettung abzielende Intention frei ist von aller Apologie, allem
Versuch, irgendeinem Seienden Recht zu geben, irgend Dauer zu
verheißen. Aus non confundar hofft er in der schutzlosen Preisgabe
an den Zusammenhang von Natur; der Rest ist ihm noch einmal, mit
dem äußersten Hintersinn, Schweigen. Darum wird Zeit, die Macht
von Vergängnis selber, die oberste Wesenheit, zu der Prousts Werk,
in seinen tausend Brechungen auch ein Roman philosophique wie
die Voltaireschen und die Franceschen, aufblickt. Sein Gehalt ist
dem theologischen so viel näher als der der Lehre Bergsons, wie er
ferner sich hält von jeglicher Positivität. Die Idee von
Unsterblichkeit wird nur geduldet an dem, was selber, wie er wohl
wußte, vergänglich ist, den Werken als den letzten Gleichnissen von
Offenbarung in der wahren Sprache. So träumt an einer späteren
Stelle Proust in der Nacht, nachdem sein erstes Feuilleton im Figaro
erschien, von Bergotte, als wäre er noch am Leben – als erhöbe das
gedruckte Wort Einspruch gegen den Tod, bis der erwachende
Dichter der Vergeblichkeit noch dieses Trostes innewird. Jede
Interpretation der Stelle bleibt hinter ihr zurück; nicht, wie das
Cliché es will, weil ihre künstlerische Würde höher stünde als der
Gedanke, sondern weil sie selbst an der Grenze angesiedelt ist, auf
die auch der Gedanke stößt.
 Fußnoten
 
1 Die Seitenangaben beziehen sich auf die siebenbändige, 1953 bis
1957 zuerst erschienene Ausgabe der Übersetzung von Eva
Rechel-Mertens (Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M., und Rascher
Verlag, Zürich).
 
 Wörter aus der Fremde
Für Gertrud von Holzhausen
 
Zum ersten Male seit meiner Jugend haben mich Protestbriefe
wegen des angeblich übertriebenen Gebrauchs von Fremdwörtern
nach der Radiosendung der Kleinen Proust-Kommentare erreicht.
Ich sah das Gesprochene daraufhin durch und fand gar keinen
besonderen Aufwand an Fremdwörtern darin, es sei denn, man hätte
mir einige französische Ausdrücke verübelt, die der französische
Gegenstand nahe genug gelegt hatte. So kann ich mir die empörten
Zuschriften zunächst kaum anders erklären als durch den Gegensatz
zwischen dichterischen Texten und ihrer Auslegung. Angesichts
großer darstellender Prosa nimmt wohl leicht deren Deutung die
Farbe des Fremdworts an. Fremd mochten eher die Sätze klingen als
das Vokabular. Versuche der Formulierung, die, um die gemeinte
Sache genau zu treffen, gegen das übliche Sprachgeplätscher
schwimmen und gar sich bemühen, verzweigtere gedankliche
Zusammenhänge getreu im Gefüge der Syntax aufzufangen, erregen
durch die Anstrengung, die sie zumuten, Wut. Der sprachlich Naive
schreibt das Befremdende daran den Fremdwörtern zu, die er überall
dort verantwortlich macht, wo er etwas nicht versteht; auch wo er
die Wörter ganz gut kennt. Schließlich geht es vielfach um die
Abwehr von Gedanken, die den Wörtern zugeschoben werden: der
Sack wird geschlagen, wo der Esel gemeint ist. In Amerika habe ich
einmal darauf die Probe gemacht, als ich in einer
Emigrantenorganisation, der ich angehörte, einen unbequemen
Vortrag hielt, in dem ich vorsorglich jedes Fremdwort ausgemerzt
hatte. Dennoch begegnete er genau dem gleichen Widerstand, auf
den ich jetzt wieder in Deutschland getroffen bin. Solche Erfahrung
geht bis auf meine Kindheit zurück, als mich in der Trambahn, wo
ich mich auf dem Schulweg mit einem Kameraden harmlos
unterhielt, der alte Dreibus, ein Nachbar aus unserer Straße, wütend
anfuhr: Du verdammter Lausbub, hör auf mit deim Hochdeutsch
und lern erst einmal richtig deutsch sprechen. Der Schreck, den Herr
Dreibus mir zufügte, wurde kaum gemildert, als er nicht lange
danach gänzlich betrunken auf einem Schubkarren nach Hause
gefahren wurde, wohl auch wenig später verstarb. Er hatte mich
zum ersten Male gelehrt, was Rancune sei, eine Sache, für die es
kein rechtes einheimisches Wort gibt, es sei denn, man verwechselte
sie mit dem heute in Deutschland so fatal beliebten Ressentiment,
das doch ebenfalls von Nietzsche nicht erfunden, sondern importiert
wurde. Kurz, der Zorn über die Fremdwörter erklärt sich zunächst
aus dem Seelenzustand der Zornigen, denen irgendwelche Trauben
zu hoch hängen.
Nun will ich mich nicht besser machen, als ich war. Wenn wir,
mein Freund Erich und ich, auf dem Gymnasium mit einiger Freude
Fremdwörter verwandten, so verhielten wir uns dabei schon als
bevorrechtigte Traubenbesitzer. Ob dieses Verhalten der Rancune
vorausging oder umgekehrt, wäre heute nur schwer auszumachen;
beides paßte jedenfalls recht genau ineinander. Zelotentum oder
Paränese anzubringen, war darum so lustvoll, weil wir fühlten, daß
einige der Herren, denen wir zu unserer Erziehung während des
Ersten Krieges überantwortet waren, nicht so recht wußten, was das
sei. Zwar konnten sie uns mit roten Strichen ermahnen, überflüssige
Fremdwörter zu meiden, sonst aber uns so wenig Schlimmes
zufügen wie damals, als Erich in einem Hausaufsatz »Meine
Sommerferien, Brief an einen Freund« die Anrede »Lieber
Habakuk« wählte, während ich, vorsichtiger und gesetzter, aber
ebensowenig willens, den Namen meines wirklichen Freundes dem
Oberlehrer preiszugeben, über meinen Aufsatz zum gleichen Thema
das altkluge »Lieber Freund« setzte. Ich will nicht leugnen, daß ich
zuweilen dem bösen Beispiel einer hochbetagten Großtante folgte,
von der die Familienchronik berichtete, sie habe als Kind in ihrem
französischen Diktionär nachgeschlagen, was die Backmulde auf
französisch heiße, dann ihren armen Hauslehrer eben danach
gefragt, und als er die Antwort schuldig blieb, hämisch
triumphierend geantwortet: ätsch, ätsch, ätsch, la huche. Trotz
dieses finsteren Ahnenerbes jedoch fühlten wir uns als Rächer
Hanno Buddenbrooks und meinten, in unseren aparten
Fremdwörtern den unabkömmlichen Patrioten Pfeile
entgegenzuschleudern aus unserem geheimen Königreich, das weder
vom Westerwald erreicht werden konnte, noch auf andere Art, wie
jene es zu nennen liebten, eingedeutscht. Unser Instinkt war nicht
einmal so schlecht. Die Fremdwörter bildeten winzige Zellen des
Widerstands gegen den Nationalismus im Ersten Krieg. Der Druck
der vorschriftsmäßigen Gesinnung drängte den Widerstand ins
Abseitige und Gefahrlose, aber in großen Zeiten gewinnen oft derlei
an sich gleichgültige Gebärden unverhältnismäßige symbolische
Bedeutung. Daß wir jedoch dabei gerade an die Fremdwörter
gerieten, rührte kaum von politischen Erwägungen her. Sondern
wie, zumindest für den Typus des ausdrucksfähigen Menschen, die
Sprache in ihren Wörtern erotisch besetzt ist, so treibt Liebe zu den
Fremdwörtern. Die Empörung über deren Gebrauch entzündet sich
in Wahrheit an jener Liebe. Der frühe Drang zu den Wörtern aus der
Fremde ähnelt dem zu ausländischen, womöglich exotischen
Mädchen; es lockt eine Art Exogamie der Sprache, die aus dem
Umkreis des Immergleichen, dem Bann dessen, was man ohnehin ist
und kennt, heraus möchte. Fremdwörter ließen damals erröten wie
die Nennung eines verschwiegen geliebten Namens. Diese Regung
ist Volksgemeinschaften, die sich auch in der Sprache das
Eintopfgericht wünschen, verhaßt. Erst in dieser Schicht entspringt
die affektive Spannung, die den Fremdwörtern jenes Fruchtbare und
Gefährliche leiht, von dem ihre Freunde sich verführen lassen und
das ihre Feinde besser ahnen als die Indifferenten.
Diese Spannung scheint aber dem Deutschen eigentümlich zu
sein, wie es denn zu den stereotypen, wenngleich kaum ganz
aufrichtig gemeinten Vorwürfen des deutschen Nationalismus gegen
den deutschen Geist rechnet, daß er vom Ausländischen gar zu
servil sich beeindrucken lasse. Daß Zivilisation als Latinisierung in
Deutschland nur halb gelang, bezeugt auch die Sprache. Im
Französischen, wo das gallische und das römische Element so
frühzeitig und gründlich sich durchdrangen, fehlt das Bewußtsein
von Fremdwörtern wohl ganz; in England, wo die sächsische und
die normannische Sprachschicht sich übereinander schoben, gibt es
zwar eine Tendenz zur sprachlichen Verdopplung, in der die
sächsischen Elemente den altertümlich-konkreten, die lateinischen
den zivilisatorisch-modernen Charakter vertreten, aber die letzteren
sind viel zu ausgebreitet, sind zudem auch viel zu sehr Male eines
historischen Sieges, als daß sie von anderen denn ausgepichten
Romantikern irgend als fremdartig empfunden würden. In
Deutschland dagegen, wo die lateinisch-zivilisatorischen
Bestandteile nicht mit der älteren Volkssprache verschmolzen,
sondern durch Gelehrtenbildung und höfische Sitte eher von jener
abgegrenzt wurden, stechen die Fremdwörter unassimiliert heraus
und bieten dem Schriftsteller, der sie mit Bedacht wählt, so sich dar,
wie Benjamin es beschrieb, als er von der silbernen Rippe eines
Fremdworts sprach, das der Autor in den Sprachleib einsetzt. Dabei
ist freilich, was unorganisch scheint, in Wahrheit selber nur
geschichtliches Zeugnis, das des Mißlingens jener
Vereinheitlichung. Solche Disparatheit bedeutet nicht nur in der
Sprache Leiden zugleich und den von Hebbel so genannten »Riß zur
Schöpfung«, sondern auch in der Wirklichkeit; man mag unter
diesem Aspekt den Nationalsozialismus als den gewalttätigen,
verspäteten und dadurch vergifteten Versuch erblicken, die
versäumte bürgerliche Integration Deutschlands nachträglich zu
erzwingen. Keine Sprache, auch die alte Volkssprache nicht, ist,
wozu restaurative Lehren sie machen möchten, ein Organisches,
Naturhaftes; aber in jedem Sieg eines zivilisatorisch
fortgeschrittenen sprachlichen Elements schlägt etwas vom Unrecht
sich nieder, das dem Älteren und Schwächeren angetan ward. Das
fühlte Karl Kraus, als er einem wegrationalisierten Laut die Elegie
schrieb. Die westlichen Sprachen haben jenes Unrecht gemildert,
etwa wie politisch der englische Imperialismus mit den
unterworfenen Völkern verfuhr. Ausgleich als Schonung des
Unterjochten definiert überhaupt wohl Kultur im prägnanten Sinn;
in Deutschland jedoch ist es zu diesem Ausgleich nicht gekommen,
eben weil das römisch-rationale Prinzip nie unangefochten zur
Herrschaft gelangte. Daran erinnern im Deutschen die Fremdwörter:
daß keine pax romana geschlossen ward, daß das Ungebändigte
überlebte, ebenso wie daran, daß der Humanismus, wo er die Zügel
ergriff, nicht als die Substanz der Menschen selber erfahren wurde,
die er meinte, sondern als ein Unversöhntes und ihnen Auferlegtes.
Insofern ist das Deutsche weniger und mehr als die westlichen
Sprachen; weniger durch jenes Brüchige, Ungehobelte und darum
dem einzelnen Schriftsteller so wenig Sicheres Vorgebende, wie es
in älteren neuhochdeutschen Texten so kraß hervortritt und heute
noch im Verhältnis der Fremdwörter zu ihrer Umgebung; mehr, weil
die Sprache nicht gänzlich vom Netz der Vergesellschaftung und
Kommunikation eingefangen ist. Sie taugt darum zum Ausdruck,
weil sie ihn nicht vorweg garantiert. Zu diesem Sachverhalt stimmt
es, daß in kulturell geschlosseneren Bereichen der deutschen
Sprache, wie dem Wienerischen, wo vorbürgerlichhöfische, elitäre
Züge durch Kirche und Aufklärung mit der Volkssprache vermittelt
sind, die Fremdwörter, von denen dieser Dialekt wimmelt, jenes
exterritorialen und aggressiven Wesens entraten, das ihnen sonst im
Deutschen eignet. Man braucht nur einmal von einem Portier etwas
von einem rekommendierten Brief gehört zu haben, um des
Unterschieds innezuwerden, einer sprachlichen Atmosphäre, in der
das Fremde fremd ist und zugleich vertraut, so wie im Gespräch
jener beiden Grafen über Hofmannsthals Schwierigen, in dem der
eine beanstandet, »er läßt uns doch gar zu viele Worte auf -ieren
sagen«, worauf der andere antwortet: »Ja, da hätt' er sich schon ein
bisserl menagieren können.«
Keine solche Versöhnung ist im Deutschen gelungen, keine
kann durch den individuellen Willen des Schriftstellers
herbeigeführt werden. Dafür jedoch vermag er die Spannung
zwischen Fremdwort und Sprache, indem er sie in die eigene
Reflexion und die eigene Technik einbezieht, sich zunutze zu
machen. Das konformistische Moment der Sprache, den trüben
Strom, in dem die spezifische Absicht des Ausdrucks ertrinkt,
vermag er durchs Fremdwort helfend zu unterbrechen. Seine Härte
und Konturiertheit, eben das, was es aus dem Sprachkontinuum
hinaushebt, taugt dazu, was vorschwebt und was von der schlechten
Allgemeinheit des Sprachgebrauchs zugedeckt wird, genau
hervorzutreiben. Mehr noch. Die Diskrepanz zwischen Fremdwort
und Sprache kann in den Dienst des Ausdrucks der Wahrheit treten.
Sprache hat teil an der Verdinglichung, der Trennung von Sache und
Gedanken. Der übliche Klang des Natürlichen betrügt darüber. Er
erweckt die Illusion, es wäre, was geredet wird, unmittelbar das
Gemeinte. Das Fremdwort mahnt kraß daran, daß alle wirkliche
Sprache etwas von der Spielmarke hat, indem es sich selber als
Spielmarke einbekennt. Es macht sich zum Sündenbock der
Sprache, zum Träger der Dissonanz, die von ihr zu gestalten ist,
nicht zuzuschmücken. Wogegen man sich beim Fremdwort sträubt,
ist nicht zuletzt, daß es an den Tag bringt, wie es um alle Wörter
steht: daß die Sprache die Sprechenden nochmals einsperrt; daß sie
als deren eigenes Medium eigentlich mißlang. Die Probe darauf läßt
sich an gewissen Neologismen machen, deutschen Ausdrücken, die,
der Schimäre des Urtümlichen zuliebe, anstelle von Fremdwörtern
erfunden werden. Stets klingen sie fremder und gewaltsamer als die
ehrlichen Fremdwörter selber. Diesen gegenüber nehmen sie etwas
Verlogenes an, einen Anspruch der Identität von Rede und
Gegenstand, der doch durch das allgemeinbegriffliche Wesen
jeglicher Rede widerlegt wird. An den Fremdwörtern erweist sich
die Unmöglichkeit von Sprachontologie: noch den Begriffen, die
sich geben, als wären sie der Ursprung selber, halten sie ihr
Vermitteltsein vor, das Moment des subjektiv Gemachten, der
Willkür. Terminologie, als Inbegriff der Fremdwörter in den
einzelnen Disziplinen, zumal in der Philosophie, ist nicht nur
dinghafte Verhärtung sondern zugleich auch deren Gegenteil, die
Kritik des Anspruchs der Begriffe, sie seien an sich, während ihnen
durch Sprache selber ein Festgesetztes, das auch anders sein könnte,
einbeschrieben ist. Die Terminologie vernichtet den Schein der
Naturwüchsigkeit in der geschichtlichen Sprache, und darum neigt
die restaurative ontologische Philosophie, die ihre Worte als
absolutes Sein unterschieben möchte, in besonderem Maß dazu, die
Fremdwörter auszumerzen. In jedem Fremdwort steckt der
Sprengstoff von Aufklärung, in seinem kontrollierten Gebrauch das
Wissen, daß Unmittelbares nicht unmittelbar zu sagen, sondern nur
durch alle Reflexion und Vermittlung hindurch noch auszudrücken
sei. Nirgends bewähren die Fremdwörter im Deutschen sich besser
als gegenüber dem Jargon der Eigentlichkeit, jenen Termini vom
Schlag des Auftrags, der Begegnung, der Aussage, des Anliegens,
und wie sie sonst heißen mögen. Sie alle möchten darüber täuschen,
daß sie Termini sind. Sie vibrieren menschlich wie die
Wurlitzer-Orgeln, denen das Vibrato der Stimme technisch
eingelegt ist. Fremdwörter aber demaskieren jene Wörter, indem
erst, was aus dem Jargon der Eigentlichkeit ins Fremdwort
zurückübersetzt wird, das bedeutet, was es bedeutet. An
Fremdwörtern läßt sich lernen, daß die Sprache nicht länger als
Nachahmung der Natur von der Spezialisierung heilen kann,
sondern nur indem sie die Spezialisierung auf sich nimmt. Unter den
deutschen Schriftstellern hat Gottfried Benn wohl als erster dies
Element der Fremdwörter, das szientifische, als literarisches
Kunstmittel gebraucht.
Aber gerade dagegen richtet sich der triftigste Einwand wider
die Fremdwörter. In Wissenschaft als Branche, Spezialisierung,
Arbeitsteilung verschanzt sich das Privileg; in den Fremdwörtern
stets noch das der Bildung. Je weniger deren Begriff heute mehr
substantiell ist, um so mehr nehmen die Fremdwörter, deren viele
einmal zur Moderne gehörten und sie in der Sprache vertraten,
etwas Archaisches, zuweilen Hilfloses an, als wären sie ins Leere
gesprochen. Unverkennbar neigte Brecht, der an der Sprache auf
jenes Moment aus war, durch das sie, als allgemeine, dem Privileg
des Besonderen widersteht, dazu, Fremdwörter zu vermeiden;
freilich nicht ohne ein geheimes Archaisieren, den Willen,
Hochdeutsch wie einen Dialekt zu schreiben. Benjamin hat diese
implizite Feindschaft gegen die Fremdwörter insofern zuweilen sich
zu eigen gemacht, als er die philosophische Terminologie eine
Zuhältersprache nannte. In der Tat ist die offizielle philosophische
Sprache, die irgendwelche terminologischen Erfindungen und
Festsetzungen behandelt, als wären sie reine Beschreibungen von
Sachverhalten, nicht besser als die puristischen Neologismen des
metaphysisch geweihten Neudeutschen, das übrigens unmittelbar
von jener Unsitte der Schule sich herleitet. Vorzuwerfen bleibt den
Fremdwörtern, daß sie solche, die nicht die Möglichkeit hatten, sie
frühzeitig zu lernen, draußen halten; als Bestandstücke einer
Augurensprache ist ihnen bei aller Aufgeklärtheit ein schnarrender
Klang beigesellt; dessen Einheit mit dem von Aufklärung bildet
geradezu ihr Wesen. Die Nationalsozialisten haben denn auch, sei's
im Gedanken ans Militär, sei's, um sich selber als feine Leute
vorzustellen, die Fremdwörter geduldet. Gegen die Sozialkritik an
den Fremdwörtern läßt wenig Überzeugendes sich vorbringen außer
ihrer eigenen Konsequenz. Denn wird die Sprache dem Maß des
»An alle«, der Verständlichkeit schlechthin unterworfen, so sind
unter den Schuldigen Fremdwörter, denen man eben doch meist nur
aufbürdet, was man dem Gedanken verübelt, längst nicht die
einzigen und kaum die wichtigsten. Reinigungsaktionen
volksdemokratischen Stils könnten sich nicht mit den Fremdwörtern
begnügen, sondern müßten den größten Teil der Sprache selbst
umlegen. Folgerecht hat Brecht einmal im Gespräch mich provoziert
mit der These, es solle die kommende Literatur in Pidgin English
abgefaßt werden. An dieser Stelle der Diskussion versagte Benjamin
ihm die Gefolgschaft und ging auf meine Seite über. Der
barbarische Futurismus solcher Proklamationen, die übrigens von
Brecht selber wohl nicht gar zu ernst gemeint waren, bestätigt im
Sprachbereich erschreckend die Tendenz losgelassener
positivistischer Aufklärung zur Regression. Die Wahrheit, die als
bloßes Mittel für Zwecke nur noch eine Wahrheit für Anderes ist,
schrumpft selber ebenso ein wie das basische und das Pidgin
English und schickt sich damit erst recht zu dem, wogegen der
Impuls jenes neuen Typus von Fremdwörterfeindschaft zunächst
sich kehrte, zur Erteilung von Befehlen, wie sie etwa einmal
Europäer ihren Farbigen zukommen ließen, indem sie zum Spott
auch noch so sprachen, wie sie sich wünschten, daß jene sprächen.
Das kommunikative Ideal, zu dessen Gunsten eine sich als
progressiv verkennende Kritik an den Fremdwörtern geübt wird, ist
in Wahrheit eines der Manipulation; das Wort, das darauf berechnet
ist, vernommen zu werden, wird heute durch eben diese Berechnung
zu einem Mittel, die, an die es sich wendet, zum bloßen Objekt von
Behandlung herabzusetzen und für Zwecke einzuspannen, die nicht
ihre eigenen, nicht die objektiv verbindlichen sind. Was einmal
Agitation hieß, läßt sich mittlerweile von der Propaganda nicht mehr
unterscheiden, und deren Name trachtet plump, Reklame durch
Berufung auf höhere, vom Einzelinteresse unabhängige Zwecke zu
verklären. Das universale System der Kommunikation, das
scheinbar die Menschen miteinander verbindet und von dem
behauptet wird, es sei um ihretwillen da, wird ihnen aufgezwungen.
Nur das Wort, das, ohne auf seine Wirkung zu schielen, sich
anstrengt, seine Sache genau zu nennen, hat die Chance, eben
dadurch die Sache der Menschen zu vertreten, um die sie betrogen
werden, solange jede Sache ihnen vorgespiegelt wird, als wäre es
jetzt, hier die ihre. Nicht länger ist es die Funktion der Fremdwörter,
gegen einen Nationalismus zu protestieren, der im Zeitalter der
großen Machtblöcke nicht mehr mit den einzelnen Sprachen der
einzelnen Völker zusammenfällt. Aber als zum zweiten Mal
entfremdete Überbleibsel einer Bildung, die mit der hochliberalen
Gesellschaft zerging, einst aber das Humane im selbstvergessenen
Ausdruck der Sache, nicht im Dienst am Menschen als einem
potentiellen Kunden meinte, können sie helfen, daß etwas von der
unnachgiebigen und weiterdrängenden Erkenntnis überwintere, die
mit der Rückbildung des Bewußtseins und dem Verfall der Bildung
gleichermaßen zu verschwinden droht. Dabei dürfen sie freilich
keiner Naivetät sich schuldig machen; nicht so auftreten, als
vertrauten sie noch darauf, vernommen zu werden. Sondern sie
müssen mit ihrer Sprödigkeit selber die Einsamkeit des
intransigenten Bewußtseins ausdrücken, durch ihre Hartnäckigkeit
schockieren: ohnehin ist der Schock vielleicht die einzige
Möglichkeit, durch Sprache heute die Menschen zu erreichen.
Fremdwörter, richtig und verantwortlich gebraucht, müßten auf
verlorenem Posten wie Griechen im kaiserlichen Rom einer
Biegsamkeit, Eleganz und Geschliffenheit der Formulierung
beistehen, die verlorenging und an die gemahnt zu werden den
Menschen ein Ärgernis ist. Sie müßten ihnen vorhalten, was allen
einmal möglich wäre, wenn es kein Bildungsprivileg mehr gäbe,
auch nicht mehr dessen jüngste Inkarnation, die Nivellierung aller
auf die unterrichtete Halbbildung. Damit könnten die Fremdwörter
etwas von jener Utopie der Sprache, einer Sprache ohne Erde, ohne
Gebundenheit an den Bann des geschichtlich Daseienden bewahren,
die bewußtlos in ihrem kindlichen Gebrauch lebt. Hoffnungslos wie
Totenköpfe warten die Fremdwörter darauf, in einer besseren
Ordnung erweckt zu werden.
Dazu freilich schicken sie sich nicht durch wahllose und
unbesonnene Verwendung; was einmal unmittelbar von ihnen
versprochen schien, ist unwiederbringlich dahin. Ihr Recht gegen
den Positivismus einer allgemein verständlichen und eben damit
ihrem eigenen Gehalt entfremdeten Umgangssprache, der sie
geschichtlich heute unterliegen, weist einzig dort sich aus, wo sie
dem sprachlichen Positivismus nach dessen eigener Spielregel
überlegen sind, der der Genauigkeit. Nur von dem Fremdwort kann
der Funke überspringen, das, in der Konstellation, in der es
eingeführt wird, den Sinn besser, treuer, konzessionsloser gibt als
die deutschen Synonyma, die sich anbieten. Die Arbeit des
Schriftstellers, der frei abwägt, wo ein Fremdwort hin soll und wo
nicht, tut Ehre nicht nur diesem an, sondern sogar noch der roten
Tinte unterm Schulaufsatz. Die abstrakte Verteidigung der
Fremdwörter bliebe hilflos. Sie bedarf, nicht zur Illustration sondern
zur Legitimation, der Analyse von Stellen, an denen Fremdwörter
überlegt eingeführt sind. Die Modelle dafür wähle ich aus einem
eigenen Text, nicht weil ich ihn für exemplarisch hielte, sondern
weil die tragenden Überlegungen mir näher sind, weil ich sie besser
erklären kann als die anderer Autoren. Ich beziehe mich dabei mit
Absicht auf jene kleinen Proust-Kommentare, die mir Vorwürfe
eintrugen.
Ich greife also eine Reihe von Stellen heraus und teile Ihnen die
Erwägungen mit, die mich veranlaßt haben, etwas entlegenere
Fremdwörter zu gebrauchen, oder daran verhindert, einigermaßen
entsprechende deutsche Ausdrücke zu benutzen. Da heißt es etwa
von Proust (S. 205), er habe als Erzähler das Kategoriensystem der
bürgerlichen Gesellschaft »suspendiert«, der er selbst nach
Ursprung, Lebensform und Verhaltensweise zugehörte. Man könnte
anstelle von suspendiert »außer Kraft gesetzt« vorschlagen. Aber
das wäre viel stärker als »suspendiert«, ließe schroffe Kritik dort
vermuten, wo behutsam in der Schwebe gehalten wird. »Außer
Aktion setzen« käme dem schon näher, enthielte aber selbst
ebenfalls ein Fremdwort und führte jenen Gedanken an das
Schwebende, gewissermaßen Aufgehängte nicht ebenso mit sich.
Vor allem aber denkt man bei »suspendiert« an einen Urteilsspruch,
der ausgesetzt, nicht widerrufen ist. Damit wird man in die Sphäre
von Prousts Roman als einer Verhandlung über das Glück geleitet,
die durch unendlich viele Instanzen hindurchgeht – ein Moment, das
von keiner der deutschen Alternativen gefaßt wäre.
Seite 205 ist von der »Disparatheit« zwischen subjektiven
Motiven und objektiv Geschehendem die Rede, und gewiß ist der
Klumpen von Fremdwörtern nicht schön. Ich suchte, das
ungebräuchlichste von ihnen, »Disparatheit«, zu vermeiden, das aus
Latein und Deutsch geklittert und darum besonders anstößig ist.
Aber es bot sich statt dessen nur das »völlige Auseinanderweisen«
an, und die Substantivierung eines verbalen Ausdrucks dünkte mir
nicht bloß häßlicher als der geradeswegs zuständige Ausdruck,
sondern das »Auseinanderweisen« gäbe auch den Gedanken nicht
genau wieder. Denn das Phänomen in Prousts Roman, auf das
aufmerksam gemacht werden sollte, wird als eine Gegebenheit, ein
Zuständliches gedacht, nicht als ein Aktives. Vollends bewog mich
zur Wahl des Wortes die Besinnung auf das Ganze meines Textes,
in dem Bildungen mit »weisen« häufiger sind, als mir lieb war. Ich
mußte solche opfern, die dem Gemeinten am wenigsten
entsprachen.
Weiter: es wird von Proust gesagt, sein Roman bezeuge die
Erfahrung, daß Menschen, mit denen wir im Leben entscheidend zu
tun haben, wie von einem unbekannten Autor »designiert« auftreten
(S. 206). Die wörtliche Übersetzung von »designiert« wäre
»bezeichnet«. Aber sie verfehlt den Sinn. Sie besagte lediglich, es
wären die betreffenden Menschen wie von einem unbekannten
Autor charakterisiert, nicht aber: für uns ausgewählt, gleichsam
planvoll auf unser Leben bezogen; die Illusion einer verborgenen
Absicht hinter dem Zufall, der uns Menschen über den Weg führt,
die für uns wichtig werden, käme dann überhaupt nicht heraus, und
die Stelle würde eigentlich unverständlich. Sagte man aber statt
»designiert« »geplant«, so wäre ein Moment von Rationalität und
Endgültigkeit in die Beschreibung des Phänomens
hineingekommen, die das Vage, Verstellte grob festnagelte, das zu
der Sache gehört. Überdies ist das Wort »geplant« heute in einem
Vorstellungsbereich zuständig, der in den hochliberalen
Proustischen einen ganz falschen Ton brächte, den der verwalteten
Welt.
Ein Satz auf S. 206f. behauptet, daß bei Proust schließlich der
Tod die Hinfälligkeit des Festen der Person »ratifiziere«,
»Bestätigen« wäre dafür zu schwach, bliebe im bloßen
Erkenntnisbereich, dem der Bewahrheitung einer Hypothese.
Ausgedrückt jedoch wollte sein, daß wie ein Urteilsspruch der Tod
den Verfall, der das Leben selber ist, sich zueignet. Zugleich ist das
Moment des Endgültigen, das der Proustschen Desillusionsromantik
erst ihre Schwere leiht, in »ratifiziert« viel deutlicher als in dem
matteren »bestätigen«.
Lehrreich ist der Fall der »imagines« (S. 207). »Bilder« ist ein
viel zu allgemeiner Ausdruck, um jene Transposition aus der
Erfahrungswelt in die intelligible irgend zu treffen, die Prousts Blick
auf die Menschen vollzieht. »Urbilder« aber ließen an Platon
denken, ein Unveränderliches, sich selbst Gleiches, während die
Proustsche Bilderwelt im Vergänglichsten gerade ihre Substanz hat.
Dies Befremdende an der Sache – vielleicht das innerste Geheimnis
Prousts – konnte nicht anders als durch die Fremdheit eines der
Psychoanalyse entlehnten, durch den Zusammenhang aber
umfunktionierten Terminus beschworen werden. Die Wahl des
Wortes »Soireé«, anstelle von »Abendgesellschaft« (S. 208), führt
auf einen Sachverhalt, der in jeglicher Übersetzung wichtig ist, aber
zumindest theoretisch kaum die nötige Aufmerksamkeit fand. Es
geht um das Gewicht der Worte in verschiedenen Sprachen, um
ihren Stellenwert im Zusammenhang, der unabhängig von der
Bedeutung des einzelnen Wortes variiert. Das deutsche »schon«
heißt auf englisch »already«. Aber »already« ist weit schwerer,
belasteter als »schon«. Man wird im allgemeinen, wenn nicht ein
besonderer Akzent auf dem unerwartet frühen Zeitpunkt liegt, »hier
bin ich schon« nicht mit »I am already here« sondern etwa mit
»Here I am« übersetzen; in angelsächsischen Ländern können
Deutsche untereinander sich leicht an dem allzu häufigen already
erkennen. Solche Unterschiede dürfen aber auch bei minder
formalen Ausdrücken, bei Substantiven konkreten Inhalts nicht
überhört werden. »Abendgesellschaft« ist schwerer als »Soireé«,
ermangelt der Selbstverständlichkeit, die das französische Wort im
Französischen hat, so wie im Deutschen gesellschaftliche Formen
überhaupt nicht so selbstverständlich, so sehr zweite Natur sind wie
jenseits der westlichen Grenze. Das Wort »Abendgesellschaft« führt
etwas Gezwungenes, Gekünsteltes mit sich, als wäre es die
Nachahmung einer »Soireé«, nicht diese selbst; darum ist das
Fremdwort vorzuziehen. Wollte man aber einfach »Gesellschaft«
sagen, so wären zwar die Gewichtsverhältnisse ungefähr richtig,
etwas Wesentliches am Sachgehalt des französischen Wortes
jedoch, die Beziehung auf den Abend, verloren; ebenso auch die auf
den einigermaßen offiziellen Charakter der Veranstaltung.
Überall dort ist das Fremdwort besser, wo aus welchem Grunde
auch immer die wörtliche Übersetzung nicht wörtlich ist. »Sexus«,
an einer etwas späteren Stelle (S. 210), heißt »Geschlecht«. Aber
dies deutsche Wort ist erheblich weiteren Umfangs als das
lateinische; schließt mit ein, was im Lateinischen gens heißt, die
Sippe. Und vor allem: es ist viel pathetischer als das Fremdwort,
unsinnlicher, möchte man sagen. Geschlechtliche Liebe ist nicht
identisch mit sexueller, sondern läßt einem erotischen Element
Raum, demgegenüber der Ausdruck »sexuell« einen gewissen
Gegensatz hervorhebt. Wenn Freud, in seinem Versuch, den Begriff
des Sexuellen zu erläutern und von dem allgemeineren und weniger
anstößigen der Liebe zu unterscheiden, auf das »Unanständige«,
Verbotene aufmerksam macht, so wird das im deutschen
»Geschlecht« nicht ohne weiteres mitgedacht; wohl aber im
Fremdwort. Gerade dies Verbotene jedoch ist an der betreffenden
Stelle wesentlich.
Paradox stellt sich das Problem hinter dem Ausdruck
»society-Leute«, den ich für eine maßgebende Gruppe von
Proustschen Romanfiguren wählte (S. 211). Denn im Deutschen wie
im Englischen hat »society« Doppelbedeutung: die der Gesellschaft
als ganzer, wie sie etwa den Gegenstand der Soziologie bildet, und
die der sogenannten guten Gesellschaft, die derer, die akzeptiert
sind, Aristokratie und großes Bürgertum. Das umständliche »Leute
aus der Gesellschaft« wäre zumindest nicht ganz klar gewesen; man
hätte an Leute aus einer gerade versammelten Gesellschaft denken
können. »Gesellschaftsleute« vollends wäre unmöglich. Überdies
hat das deutsche »die Gesellschaft« im Vergleich zu »society« ein
ähnlich Krampfhaftes, Gekünsteltes wie »Abendgesellschaft« im
Vergleich zu »Soireé«: die Überschrift der Spalte einer
Frauenzeitschrift: »Aus der Gesellschaft« liest sich gegenüber der
»society column« wie töricht beflissene Nachahmung. Um die
Nuance hervorzuheben, an der mir lag, mußte ich, der deutschen
Umgangssprache folgend, »society« verwenden. Obwohl der
englische Ausdruck in sich so äquivok ist wie der deutsche, nimmt
er im Deutschen jene Bestimmtheit an, die dem einheimischen Wort
mangelt; zu schweigen von einer Aura, die jeder wahrnimmt, der
versteht, wie Proust seine Odette plappern läßt.
Der Ausdruck »kontingent« dann (a.a.O.), fraglos im Deutschen
nicht eingebürgert und zahlreichen Hörern unverständlich, stammt
aus der Philosophie. Sein Gebrauch reißt das Problem der
Terminologie auf. »Kontingent« heißt »zufällig«; aber nicht das
einzelne Zufällige, nicht einmal die davon abstrahierte allgemeine
Zufälligkeit, sondern Zufälligkeit als wesentlicher Charakter des
Lebens. So kommt denn auch der Ausdruck bei mir vor: »Mit der
Tradition des großen Romans teilt Proust die ... Kategorie des
Kontingenten.« Sagte man statt dessen: die Kategorie des
»Zufälligen«, so wäre das ungenau; man könnte etwa darauf
verfallen, der Roman als ganzer, oder die Weise der Darstellung,
habe etwas Zufälliges. Das Wort »kontingent« jedoch meint kraft
der philosophischen Tradition, die ihm innewohnt, was ich
immerhin erläuternd im nächsten Satz hinzufügte, das
»sinnverlassene, vom Subjekt her nicht als Kosmos zu rundende
Leben«. Daran reicht keine wörtliche Übersetzung heran. Streiten
läßt sich darüber, ob philosophische Termini außerhalb dessen ihr
Recht haben, was unter dem abscheulichen, der Sache selbst
widersprechenden Namen der Fachphilosophie geht. Verwirft man
aber diesen Begriff von Fachphilosophie; denkt man Philosophie als
eine Weise von Bewußtsein, die sich die Grenzen einer besonderen
Wissensdisziplin nicht aufnötigen läßt, dann gewinnt man eben
damit auch die Freiheit, im philosophischen Bereich entsprungene
Ausdrücke dort zu verwenden, wo das Herkommen keine
Philosophie vermutet. Hier freilich nimmt der Gebrauch des
Fremdworts, das, um seiner Herkunft aus einer Fremdsprache
willen, wirklich kaum mehr recht verstanden wird, eben jenen
verzweifelten und provokativen Charakter an, den in Freiheit wollen
muß, wer nicht doch zum naiven Opfer seiner Bildungsbranche
werden will.
Aus der philosophischen Tradition, zumal der Kantischen,
stammt auch das Wort »Spontaneität« (S. 212). So viel ist in es
zusammengedrängt, daß keine Übersetzung leistete, was es leistet,
wenn sie es nicht breit entfaltet hätte; oft aber fordert ein
literarischer Text ein Wort und verbietet die Entfaltung, weil diese
die Gewichtsverteilung störte. Das hat mich zur Wahl veranlaßt.
Mag auch dem nicht philosophisch Geschulten nicht alles
gegenwärtig sein, was der Terminus »Spontaneität« in sich birgt –
ich habe mich doch des Vertrauens nicht ganz entschlagen können,
daß solche Termini eine gewisse Suggestivkraft sich bewahren;
auch für den, dem sie nicht ganz durchsichtig sind, etwas von dem
Reichtum mit sich führen, der objektiv in ihnen sich verbirgt.
»Spontaneität« heißt einerseits, und zunächst, die Fähigkeit zum
Tun, Hervorbringen, Erzeugen; andererseits aber, daß diese
Fähigkeit unwillkürlich, nicht mit dem bewußten Willen des je
Einzelnen identisch sei. Ohne weiteres leuchtet ein, daß diese
Doppelheit im Begriff der »Spontaneität« in keinem deutschen Wort
erscheint. Die Rede ist an der betreffenden Stelle von der Eifersucht,
welche Liebe in ein Besitzverhältnis verwandelt und die Geliebte
damit zum Ding macht: deshalb frevle Eifersucht an der
»Spontaneität« der Liebe. Sagte man statt dessen, sie frevle an der
»Unwillkürlichkeit«, so gäbe das keinen Sinn, und auch
»Unmittelbarkeit«, an sich der Sache schon näher, reichte nicht aus,
weil, wie keiner besser wußte als Proust, alle Liebe mittelbare
Elemente enthält. So mußte es denn bei »Spontaneität« bleiben.
Wird an einem Menschen gerühmt, er habe in einer Situation sich
spontan verhalten, so beschreibt das sein Verhalten drastischer als
alle Umschreibungen, nach denen ich suchte.
Das Bedürfnis nach Verkürzung veranlaßt überhaupt zur Wahl
von Fremdwörtern. Dichte und Gedrängtheit als Ideal der
Darstellung, der Verzicht auf das Selbstverständliche, das
Verschweigen des im Gedanken zwingend bereits Angelegten und
darum nicht verbal zu Wiederholenden, all das ist unvereinbar mit
weitläufigen Worterklärungen oder Umschreibungen, wie sie
vielfach notwendig wären, wo man Fremdwörter vermeiden und
doch von ihrem Sinn nichts opfern möchte. Ich habe im
Zusammenhang mit Proust, und auch sonst zuweilen, von
»Authentizität« gesprochen (S. 214). Nicht nur ist das Wort
ungebräuchlich; die Bedeutung, die es in dem Zusammenhang
annimmt, in den ich es zog, ist keineswegs durchaus sichergestellt.
Es soll der Charakter von Werken sein, der ihnen ein objektiv
Verpflichtendes, über die Zufälligkeit des bloß subjektiven
Ausdrucks Hinausreichendes, zugleich auch gesellschaftlich
Verbürgtes verleiht. Hätte ich einfach »Autorität« gesagt, also ein
wenigstens eingebürgertes Fremdwort, so wäre dadurch zwar die
Gewalt bezeichnet worden, die solche Werke ausüben, nicht aber
das Moment von deren Berechtigung kraft einer Wahrheit, die
schließlich auf den gesellschaftlichen Prozeß zurückverweist. Jener
Unterschied des seinem Gehalt nach Verbürgten von dem
usurpatorisch Gewalttätigen wäre verfehlt worden, auf den es mir
ankam. Nun hätte sich gewiß ein heute in Deutschland sehr beliebtes
Wort angeboten: »Gültigkeit«. Hier jedoch ist zu bedenken, daß
Wörtern nicht nur ein Stellenwert im Zusammenhang, sondern auch
ein geschichtlicher eignet. Das Wort gültig ist durch Figuren wie
»gültige Aussage« heute überaus kompromittiert. An ihm gibt sich
eine gewisse Art des Kernigen, salbungsvoll-schlicht Bejahenden zu
erkennen, die in der gegenwärtigen Ideologie ihre böse Rolle spielt.
Um keinen Preis hätte ich mich damit einlassen dürfen. Man kann
nicht den Jargon der Eigentlichkeit angreifen und selbst von
gültigen Werken reden, in deren Begriff ebenso Vorstellungen vom
unveräußerlichen alten Wahren mitschwingen wie schließlich doch
auch solche vom öffentlichen Anerkanntsein. Gewiß ist nicht zu
erwarten, daß all diese verzweigten Überlegungen und kritischen
Reflexionen, die mitzuteilen einen auf die Sache gerichteten Text
völlig aus dem Gleichgewicht gebracht hätte, in das eine Wort
»Authentizität« zusammengepreßt wären. Aber in der Stockung, die
es bewirkt, flammen all jene Begriffe auf, an die es mahnt und die
dennoch vermieden worden sind. Sie bringt mehr vielleicht herüber
als ein umgänglicherer, dafür aber der gemeinten Sache
unangemessener Ausdruck. Die Hoffnung, daß auf diese Weise die
Intention doch sich durchsetze, ist darum nicht gar zu abwegig, weil
jene »Authentizität« nicht ein isolierter Klecks ist, sondern weil der
Zusammenhang vielfältig gebrochenes Licht auf das Zauberwort
wirft. Bei einigem schriftstellerischen Vermögen und Glück läßt
sich in das fremde Wort hineindrängen, was das anscheinend
weniger ausgefallene nie vermöchte, weil es zu viele eigene
Assoziationen mitschleppt, als daß es vom Ausdruckswillen ganz
ergriffen werden könnte.
Bei meinem Versuch, die Fremdwörter zu rechtfertigen, konnte
ich weder die Kritik unterschlagen, der sie heute sich aussetzen,
noch einen Standpunkt beziehen, der so starr wäre, wie es der der
Gegner zu sein pflegt. Auch der Schriftsteller, der sich einbildet,
rein auf die Sache zu gehen und nicht auf deren Kommunikation,
kann sich nicht blind machen gegen die geschichtlichen
Veränderungen, denen die Sprache selbst durch den
kommunikativen Gebrauch unterliegt. Er muß gleichsam von innen
und von außen her zugleich formulieren. Dieser Widerspruch
betrifft auch sein Verhältnis zu den Fremdwörtern. Noch wo sie ihm
objektiv richtig klingen, muß er spüren, was ihnen in der
gegenwärtigen Gesellschaft widerfährt. Oft mögen sie in ihr zu toten
Hülsen werden, so wie jenes Wort Authentizität, betrachtete man es
rein für sich, eine wäre. Noch das Ansichsein der Sprache ist nicht
unabhängig von ihrem Füranderessein. Die Verblendung dagegen,
deren der Schriftsteller bedarf, dem es mit der Sprache überhaupt
ernst ist, kann in die Dummheit dessen umschlagen, der sich im
Besitz reiner Mittel sicher wähnt, während diese gerade um ihrer
Reinheit willen schon nichts mehr taugen. Das Problem der
Fremdwörter ist wahrhaft eines, ohne Phrase. Was ich am Modell
des Wortes »Authentizität« zeigte, bei dem es mir nicht wohl
zumute ist und auf das ich doch nicht verzichten kann, gilt wohl für
den Gebrauch der Fremdwörter insgesamt: über ihn entscheidet
keine sprachliche Weltanschauung, kein abstraktes Für oder Gegen,
sondern ein Prozeß zahlloser ineinander verflochtener Regungen,
Innervationen und Erwägungen. Wie weit dieser Prozeß gelingt,
darüber hat das beschränkte Bewußtsein des einzelnen
Schriftstellers kaum Macht. Aber er ist unumgänglich: er
wiederholt, sei's auch unzulänglich, jenen Prozeß, den die
Fremdwörter als solche, ja die Sprache selbst gesellschaftlich
insgesamt durchmachen und in den der Schriftsteller verändernd
eingreift nur, indem er ihn zugleich als Objektives erkennt.
 Blochs Spuren
 
Zur neuen erweiterten Ausgabe 1959
Der Titel Spuren mobilisiert primäre Erfahrungen beim Lesen von
Indianergeschichten für die philosophische Theorie. Ein geknickter
Zweig, ein Abdruck drunten im Boden spricht zu dem knabenhaft
kundigen Auge, das sich nicht bei dem bescheidet, was jeder sieht,
sondern spekuliert. Hier steckt etwas, hier ist etwas verborgen,
mitten in der normalen, unauffälligen Alltäglichkeit: »Der Fall hat
es in sich.« (15) 1 Was es ist, weiß keiner so recht, und Bloch
plaudert einmal aus der gnostischen Schule, vielleicht wäre es noch
gar nicht da, werde erst, aber il y a quelque chose qui cloche, und je
unbekannter das, wovon die Spur herrührt, desto nachdrücklicher
will das Gefühl, eben dies sei es. Daran heftet sich die Spekulation.
Wie zum Spott auf die gelassene, wissenschaftlich besonnene
Phänomenologie sucht sie es als begriffslos Erscheinendes und
experimentiert tastend mit der Deutung. Unermüdlich flattert der
philosophische Falter gegen die Scheibe vorm Licht. An den
Rätselfiguren dessen, was Bloch einst die Gestalt der
unkonstruierbaren Frage nannte, soll zusammenschießen, was sie
sekundenweise als ihre eigene Lösung suggerieren. Die Spuren
stammen aus dem Unsäglichen der Kindheit, das einmal alles sagte.
Viel Freunde werden in dem Buch zitiert. Man möchte wetten, es
seien solche aus der Pubertät, Ludwigshafener Verwandte von
Brechts Spezis aus Augsburg, dem George Pflanzelt und dem
Müllereisert. So rauchen Halbwüchsige die erste Pfeife, als wäre es
die des ewigen Friedens: »Wunderbar ist das Heraufkommen des
Abends / und schön sind die Gespräche der Männer unter sich.« Es
sind aber die Männer der Stadt Mahagonny aus Traumamerika, dazu
Old Shatterhand und Winnetou aus Leonhard Franks Würzburger
Räuberbande, ein Geruch, beizender zwischen Buchdeckeln denn je
selbst am fischigen Fluß und in der verräucherten Kneipe. Der
Erwachsene jedoch, der an all das sich erinnert, will die ehmals
ausgespielten Steine zum Sieg führen, ohne doch deren Bild an die
allzu erwachsene Vernunft zu verraten; fast jede Deutung nimmt die
rationalistische erst in sich hinein und rüttelt dann daran. So wenig
esoterisch sind die Erfahrungen wie das, was einst an
Weihnachtsglocken ergriff und was nie ganz sich tilgen läßt: was
jetzt und hier ist, das kann nicht alles sein. Das Versprochene gibt
sich, sei's auch trügend, als verbürgt wie sonst nur in den großen
Kunstwerken, von denen Blochs Buch, ungeduldig mit der Kultur,
nicht viel wissen will. Unterm Zwang ihrer Form ist alles Glück
noch zu wenig, eigentlich ist überhaupt noch kein Glück: »Auch
hier wächst etwas tropischer als es die bekannten Breiten unsres
Subjekts (und der Welt) bereits zulassen; übermäßiger Schreck wie
›grundlose‹ Freude haben ihren Anlaß versteckt. Sie sind im
Menschen versteckt und in der Welt noch nicht heraus; die Freude
ist am wenigsten heraus und wäre doch die Hauptsache.« (169) Ihr
Versprechen möchte Blochs Philosophie, mit den Enterhaken des
literarischen Seeräubers, der Kleinbürgerei, der heimeligen
Geborgenheit entreißen, verwerfend, was es an Ort und Stelle will,
das Nächste auf das Nichtgewesene und Oberste projizierend. Das
zweigeteilte Goethesche Glück, das der nächsten Nähe und der
höchsten Höhe, wird bis zum Brechen zusammengebogen; das der
nächsten Nähe sei nur eines, wenn es das der höchsten Höhe meint,
und nirgendwo sei die höchste Höhe anwesend als in der nächsten
Nähe. Die ausfahrende Geste will über die Schranke hinaus, die ihr
der Ursprung im Nächsten bereitet, in der unmittelbaren
einzelmenschlichen Erfahrung, der psychologischen Zufälligkeit,
dem bloßen subjektiven Gestimmtsein. Hochmut des Eingeweihten
desinteressiert sich daran, was das permanente Staunen über den
Staunenden sagt, und kehrt dem sich zu, was im Staunen sich
anmeldet, gleichgültig, wie das arme und fehlbare Subjekt dazu
kam: »Das Ding an sich ist die objektive Phantasie.« (89) Seine
Fehlbarkeit selber aber wird in die Konstruktion mit
hineingenommen. Die Unzulänglichkeit des endlichen Bewußtseins
macht das Unendliche, an dem es doch teilhaben soll, zum
Ungewissen und Rätselhaften, aber es wird als zwingend und
bestimmt bestätigt, weil seine Ungewißheit nichts sei als jene
subjektive Unzulänglichkeit.
Denken, das Spuren verfolgt, ist erzählend wie das apokryphe
Modell, dessen leuchtendes Abziehbild Bloch herstellen möchte, die
Abenteuergeschichte von der Reise zum utopischen Ende. Zum
Erzählen wird er von seiner Konzeption nicht weniger als von
seinem Naturell bewogen. Nur das Mißverständnis läse die
Blochsche Erzählung einfach als Parabel. Deren Eindeutigkeit
brächte sie um jene Farbe, die nach ihrer Optik so wenig im
Spektrum steht wie das Drommetenrot eines genialen
Spannungsromans von Leo Perutz. Vielmehr möchte sie in
Abenteuer und außerordentlicher Begebenheit jene Wahrheit
konstruieren, die man nicht in der Tasche hat. Selten wird mit
bündigen Interpretationen aufgewartet; als säßen die Zuhörer von
Hauffs Märchen zusammen, um Einen aus jenem süddeutschen
Orient, wo eine Stadt Backnang heißt und eine Sprachgeste ha no,
wird das eine und andere vorgebracht; fortschreitend freilich in einer
Bewegung des Begriffs, die ihren Hegel verschweigt, aber gut intus
hat. Über den Bruch zwischen einem Konkreten, das doch selbst das
Konkrete nur erst vertritt, und einem Gedanken, der dessen
Zufälligkeit und Blindheit übersteigt, dafür aber das Beste vergißt,
schallt der Ton dessen hinweg, der emphatisch etwas Besonderes zu
vermelden hat, das anders wäre als das Immergleiche. Der
erzählende Ton bietet das Paradoxon einer naiven Philosophie;
Kindheit, unverwüstlich durch alle Reflexionen hindurch,
verwandelt noch das Vermittelteste in Unmittelbares, das berichtet
wird. Diese Affinität zum Gegenständlichen, vorab zu
sinnverlassenen Stoffschichten, bringt Blochs Philosophie in
Kontakt mit dem Unteren, von Kultur Ausgeschiedenen, offen
Schäbigen, worin sie, Spätprodukt antimythologischer Aufklärung,
allein noch das Rettende erhofft. Man könnte sie insgesamt als die
des gleich dem armen B.B. in die großen Städte Verschlagenen
lokalisieren, der verspätet dort erzählt, was nie sich erzählen ließ.
Unmöglichkeit des Erzählens selber, wie sie die Nachkömmlinge
der Epik zum Kitsch verdammt, wird zum Ausdruck des
Unmöglichen, das erzählt und als Möglichkeit bestimmt werden
soll. Im Augenblick, da man sich hinsetzt, gibt man dem Erzähler
etwas vor, unwissend, ob er die Erwartung befriedigt. So muß man
solcher Philosophie etwas vorgeben als einer gesprochenen, nicht
geschriebenen. Der vortragende Gestus verwehrt die verantwortliche
Prägung von Texten, und nur wer die Blochschen nicht als Texte
liest, dem werden sie beredt. Der Fluß erzählenden Denkens strömt
mit allem, das er mitführt, menschenfängerisch übers Argument
hinweg, ein Philosophieren, in dem in gewissem Sinn gar nicht
gedacht wird; eminent gescheit, gar nicht scharfsinnig nach
Schulbrauch. Was in der erzählenden Stimme widerhallt, ist ihr kein
Material der Überlegung, sondern wird ihr anverwandelt, auch und
gerade das, was sie nicht stilisierend durchdringt und einschmilzt;
zu fragen, woher die Erzählungen kämen oder was der Erzähler
damit anstelle, wäre läppisch angesichts seiner Intention auf zweite
Anonymität, aufs Verschwinden in der Wahrheit: »Ist diese
Geschichte nichts, sagen die Märchenerzähler in Afrika, so gehört
sie dem, der sie erzählt hat; ist sie etwas, so gehört sie uns allen.«
(158) Kritik daran darf denn auch nicht Fehler bemäkeln, als wären
es die korrigibeln eines Einzelnen, sondern muß die Wunden von
Blochs Philosophie buchstabieren wie der Kafkasche Delinquent die
seinen.
Authentisch ist diese Erzählerstimme aber keineswegs in dem,
was dem Cliché echt heißt. Blochs Gehör, außerordentlich
differenziert noch inmitten seiner tosenden Prosa, verzeichnet
genau, wie wenig das, was anders wäre, in jenem biedern Begriff,
dem purer Identität mit sich selber, sich erschöpfte. »Eine weiche,
gefühlreiche Geschichte im schummrigen Muff des neunzehnten
Jahrhunderts, mit all der romantischen Kolportage, die das Motiv
des Scheidens braucht. Im halb-echten Gefühl färbt sich seine
Schwebung am reinsten; das Scheiden ist selber sentimental. Aber
sentimental mit Tiefe, es ist ein ununterscheidbares Tremolo
zwischen Schein und Tiefe.« (90) Dies Tremolo überlebt in großen
Volkskünstlern einer Epoche, die Volkskunst nicht mehr duldet; so
übertrieb sich die Stimme Alexander Girardis, wehleidig,
unwahrhaftig wie das heulende Elend; Unechtes,
Nichtdomestiziertheit und Echo der eigenen Unmöglichkeit, war ihr
Echtes. Gerade Massen werden, nicht stets zu ihrem Heil, ergriffen
vom exaggerierten Ausdruck, dessen Übertreibung die schlechte
Mitte an das erinnert, worauf es ankäme. So hat ein Dienstmädchen
das Scheffelsche »Das ist im Leben häßlich eingerichtet« variiert in
»entsetzlich eingerichtet«. Wie dieser Trompeter bläst Bloch. Naive
Philosophie wählt das Inkognito des Schwadroneurs, des
Wirtshausspielers mit falschen Bässen, der, arm, verkannt, den
Staunenden, die ihm das Glas Bier bezahlen, weismacht, eigentlich
wäre er der Paderewski. Einer jener geschichtsphilosophischen
Durchblicke, die Blochs Ruhm sind, zündet in diese Atmosphäre:
»Auch der junge Musikant Beethoven, der plötzlich wußte oder
behauptete, ein Genie zu sein, wie es noch kein größeres gab, trieb
Hochstapelei skurrilsten Stils, als er sich Ludwig van Beethoven
gleich fühlte, der er doch noch nicht war. Er gebrauchte diese durch
nichts gedeckte Anmaßung, um Beethoven zu werden, wie denn
ohne die Kühnheit, ja Frechheit solcher Vorwegnahmen nie etwas
Großes zustande gekommen wäre.« (47)
Gleich dem Wirtshausspieler hat Philosophie als Kolportage
bessere Tage gesehen. Seitdem sie damit renommierte, sie besitze
den Stein der Weisen und sei in einem Geheimnis, das den vielen
auf ewig verborgen bleiben müsse, enthält sie ein Element der
Scharlatanerie. Es wird von Bloch entsühnt. Er wetteifert mit dem
Schreier des unvergessenen Jahrmarkts, dröhnt wie ein Orchestrion
aus der noch leeren Gaststätte, die auf die Gäste wartet. Er
verschmäht die arme Klugheit, die all das versteckt, und lädt die ein,
welche hohe idealistische Philosophie aussperrte. Korrektiv bekennt
die orale Übertreibung ein, daß sie selber nicht weiß, was sie sagt;
daß ihre Wahrheit Unwahrheit sei nach dem Maß dessen, was ist.
Untrennbar der auftrumpfende Ton des Erzählers vom Gehalt seiner
Philosophie, der Rettung des Scheins. Im Hohlraum zwischen
diesem und dem bloß Seienden nistet Blochs Utopie. Vielleicht läßt,
was er meint, Erfahrung, die noch von keiner Erfahrung honoriert
ward, überhaupt nur outriert sich ausdenken. Die theoretische
Rettung des Scheins ist zugleich Blochs eigene Verteidigung. In ihr
ähnelt er abgründig der Musik Mahlers.
Von der Totale des deutschen Idealismus ist eine Art von Lärm
übriggeblieben, an dem Bloch, der Musikalische und Wagnerianer,
sich berauscht. Die Worte werden erhitzt, als sollten sie noch einmal
aufglühen in der entzauberten Welt; als wäre die in ihnen
verborgene Verheißung zum Motor des Gedankens geworden.
Zuweilen embrouilliert sich Bloch mit »allem Starken« (39),
schwärmt für »offene und kollektive Schlacht«, die da »zu dem
Unsren zwingen soll«. Das dissoniert zum antimythologischen
Tenor, dem Revisionsprozeß in Sachen Ikarus, den er anstrengt.
Aber sein Impuls wider das Recht der Immergleichheit von
Schicksal und Mythos, wider die Verstricktheit im
Naturzusammenhang, nährt sich von diesem selber, von der Gewalt
eines Triebs, dem selten Philosophen so ungebändigt zu sprechen
erlaubten. Blochs Parole vom Durchbruch der Transzendenz ist
nicht spiritualistisch. Nicht will er Natur vergeistigen, sondern der
Geist der Utopie möchte den Augenblick herbeiziehen, in dem
Natur, als gestillte, selber frei wäre von Herrschaft, ihrer nicht mehr
bedarf und dem Raum schafft, was anders wäre als sie.
In den Spuren, die von der Erfahrung des individuellen
Bewußtseins her sich entfalten, hat die Rettung des Scheins ihr
Zentrum in dem, was das Utopiebuch Selbstbegegnung nannte. Das
Subjekt, der Mensch, sei noch gar nicht er selbst; scheinhaft als
Unwirkliches, aus der Möglichkeit noch nicht Hervorgetretenes,
aber auch als Widerschein dessen, was er sein könnte. Nietzsches
Idee vom Menschen als etwas, das überwunden werden muß, wird
ins Gewaltlose abgewandelt: »denn der Mensch ist etwas, was erst
noch gefunden werden muß« (32). Die meisten Erzählungen des
Bandes sind solche von der Nichtidentität des Menschen mit sich,
mit verständnisinnigem Seitenblick auf fahrende Leute,
Märchenburschen, Hochstapler und all die, welche vom Traum
eines besseren Lebens sich verführen lassen. »Hier ist viel weniger
Eigennutz anzutreffen als Putzsucht, unbeschwichtbares
Selbstgefühl und Narretei. Greift das Selbstgefühl zu
aristokratischen Formen, so nicht, um nach untenhin zu treten wie
der Parvenu oder gar der Diener als Herr; auch wird die Aristokratie
nicht eigentlich bejaht, der selbstsuggerierte Seigneur ist nicht
klassenbewußt.« (44) Vielmehr rüttelt Utopie an den Ketten der
Identität: sie wittert in ihr das Unrecht, gerade dieser zu sein und nur
dieser. Zwei Aspekte solcher Nichtidentität setzt Bloch auf der Stufe
des vor dreißig Jahren geschriebenen Buches
willentlich-unvermittelt nebeneinander. Der eine ist der
materialistische: daß die Menschen in einer universalen
Tauschgesellschaft nicht sie selber sind sondern Agenten des
Wertgesetzes; denn in der bisherigen Geschichte, die Bloch nicht
zögern würde, Vorgeschichte zu nennen, war die Menschheit
Objekt, nicht Subjekt. »Aber keiner ist, was er meint, erst recht
nicht, was er darstellt. Und zwar sind alle nicht zu wenig, sondern
zuviel von Haus aus für das, was sie wurden.« (33) Der andere
Aspekt ist der mystische: daß das empirische Ich, das
psychologische, auch der Charakter nicht das jedem Menschen
gemeinte Selbst, der geheime Name sei, dem allein der Gedanke
von Rettung gilt. Blochs Lieblingsgleichnis fürs mystische Selbst ist
das Haus, in dem man bei sich selbst wäre, drin, nicht länger
entfremdet. Geborgenheit ist nicht zu haben, keine ontologisch
verbrämte Befindlichkeit, in der sich's leben ließe, sondern ein
Notabene dessen, wie es sein sollte und doch nicht ist. Die
Komplizität der Spuren mit dem Glück macht sich nicht fest in
dessen Positivität, sondern hält diese offen auf eine, die sich erst
verspricht; und alles positive Glück bleibt des Wortbruchs
verdächtig. Schutzlos bietet solcher Dualismus dem Einwand sich
preis. Die Unvermitteltheit des Kontrasts zwischen dem
metaphysischen Selbst und dem herzustellenden gesellschaftlichen
schert sich nicht darum, daß alle Bestimmungen jenes absoluten
Selbst dem Umkreis menschlicher Immanenz, dem
gesellschaftlichen entstammen; leicht wäre der Hegelianer Bloch
dessen zu überführen, daß er an zentraler Stelle die Dialektik mit
theologischem Gewaltstreich abschneidet. Aber die eilfertige
Konsequenz glitte darüber hinweg, ob Dialektik überhaupt, ohne an
einem Punkt noch sich selber zu negieren, möglich sei; auch die
Hegelsche hatte ihren eingekapselten »Spruch«, die Identitätsthese.
Jedenfalls befähigt Blochs Gewaltstreich ihn zu einer
Verhaltensweise des Geistes, die sonst im Klima von Dialektik, der
idealistischen wie der materialistischen, nicht zu gedeihen pflegt:
nichts, was ist, wird um seiner Notwendigkeit willen vergötzt,
Spekulation geht gegen Notwendigkeit selber als eine Figur des
Mythos an.
Daß Erzählung und Erörterung in den Spuren um den Schein
kreisen, rührt daher, daß die Grenze zwischen endlich und
unendlich, zwischen Phänomenalem und Noumenalem,
beschränktem Verstand und unverbindlichem Glauben, nicht
respektiert wird. Hinter jedem Wort steht der Wille, den Block zu
durchstoßen, den seit Kant der common sense zwischen Bewußtsein
und Ding an sich schiebt; die Sanktionierung dieser Grenze wird
selbst der Ideologie zugerechnet als Ausdruck des sich Bescheidens
der bürgerlichen Gesellschaft in der von ihr zugerichteten,
verdinglichten Welt, der Welt für sie, der von Waren. Das war die
theoretische Koinzidenz von Bloch und Benjamin. Indem jener aus
purem Freiheitsdrang die Grenzpfähle einreißt, entledigt er sich der
philosophie- und landesüblichen, erstarrten »ontologischen
Differenz« von Wesen und bloßem Dasein. Das Daseiende selber
wird, unter Wiederaufnahme von Motiven des deutschen Idealismus
und schließlich Aristotelischen, zur Kraft, zur Potenz, die aufs
Absolute hintreibt. Blochs Neigung zur Kolportage hat, wenn man
so reden mag, ihre systematische Wurzel im Einverständnis mit dem
Unteren, als dem stofflich Ungeformten ebenso wie als dem, was
gesellschaftlich die Last zu tragen hat. Das Obere jedoch, Kultur,
Form, nach Blochs Sprachgebrauch »polis«, ist ihm hoffnungslos
mit Herrschaft, Unterdrückung, Mythos verfilzt, wahrhaft Überbau:
nur was hinabgestoßen ward, enthält das Potential dessen, was
darüber wäre. Darum fahndet er im Kitsch nach jener Transzendenz,
welche die Immanenz der Kultur versperrt. Sein Denken wirkt als
Korrektiv des zeitgenössischen nicht zuletzt darum, weil es nicht
gegen die Faktizität vornehm tut. Er entzieht sich dem neudeutschen
Brauch, der Philosophie das Sein als Branche zuzuweisen und sie
damit zur Irrelevanz eines auferstandenen Formalismus zu
verdammen. Genauso wenig aber hilft er bei der Degradation des
Gedankens zur bloß nachkonstruierenden Ordnungsinstanz mit. Das
Untere wird weder verflüchtigt noch, wie vom klassifikatorischen
Denken, übersponnen und an Ort und Stelle gelassen, sondern
mitgerissen wie die thematischen Elemente von mancher Musik.
Deren Sphäre beansprucht in seinem Denken so viel Raum wie in
kaum einem zuvor, selbst dem Schopenhauers und Nietzsches nicht.
Sie tönt herein wie in Träumen ein Bahnhofsorchester; für
technischmusikalische Logik hat Blochs Ohr so wenig Geduld wie
für ästhetische Wahl. Auch zwischen der infantilen Lust am
Karussell und dessen metaphysischer Rettung ist kein Übergang,
keine »Vermittlung«: »Vor allem, wenn das Schiff mit Musik
ankommt; dann verbirgt sich in dem Kitsch (dem nicht
kleinbürgerlichen) etwas vom Jubel der (möglichen) Auferstehung
aller Toten.« (165) Noch in solchen verwegenen Extrapolationen ist
stillschweigend Hegels Kant-Kritik vorausgesetzt: daß Grenzen
setzen diese immer bereits überschreitet; daß Vernunft, um sich
selber als endlich einzuschränken, des Unendlichen schon mächtig
sein müsse, in dessen Namen sie einschränkt. Der Hauptstrom der
philosophischen Überlieferung scheidet das Unbedingte vom
Denken, aber wer nicht mitschwimmt, möchte von dessen
Erkenntnis nicht ablassen: um seiner Verwirklichung willen. Er
duckt sich nicht resigniert. Das »Es ist gelungen« der letzten
Faustszene, der Kantische Gedanke vom ewigen Frieden als realer
Möglichkeit überfliegt das kritische Element der Philosophie als
Vertagung und Versagung. Erfüllung stellt dies Denken nach dem
Modell leibhafter hdonh vor, nicht als Aufgabe oder Idee. Insofern
ist es anti-idealistisch und materialistisch. Sein Materialismus
verhindert die bruchlose Hegelsche Konstruktion einer wie immer
auch vermittelten Identität von Subjekt und Objekt, die verlangt, daß
schließlich doch alle Objektivität ins Subjekt hineingenommen, zu
bloßem »Geist« reduziert werde. Während Bloch ketzerisch die
Grenze leugnet, beharrt er indessen, wider Hegels spekulativen
Idealismus, auf dem unversöhnten Unterschied von Immanenz und
Transzendenz, im großen Entwurf so wenig zur Vermittlung geneigt
wie in der Einzelinterpretation. Das Hier wird
historisch-materialistisch bestimmt, das Drüben gebrochen, nach
seinen Spuren, die hier sich fänden. Ohne zu glätten, philosophiert
Bloch utopisch und dualistisch zugleich. Weil er die Utopie nicht in
der metaphysischen Konstruktion des Absoluten, sondern in jener
theologischen Drastik konzipiert, um welche das hungernde
Bewußtsein der Lebendigen durch den Trost der Idee nur betrogen
sich fühlt, kann er sie anders nicht als scheinhaft ergreifen. Weder
ist es wahr noch ist es nicht: »Selbst das offensichtliche Blendwerk
äfft wenigstens nach oder nimmt mit ruchloser Setzung einen Glanz
vorweg, in lügenhafter Weise, der dennoch irgendwie in der
Tendenz des Lebens, in seinen bloßen, aber immerhin noch
vorhandenen ›Möglichkeiten‹ angelegt sein muß; denn an sich
selber ist das Blendwerk unfruchtbar, es gäbe nicht einmal Fata
Morgana ohne Palmen in der zeiträumlichen Ferne.« (240)
Die Ausgangserfahrungen, die Bloch vorträgt, sind plausibel
genug: »Beim Einschlafen drehen sich die meisten der Wand zu,
obwohl sie dadurch dem dunklen, unbekannt werdenden Zimmer
den Rücken zukehren. Es ist, als ob die Wand plötzlich anzöge und
das Zimmer paralysierte, als ob der Schlaf etwas an der Wand
entdeckte, was sonst nur dem besseren Tod zukommt. Es ist, als ob
außer Stören und Fremde auch der Schlaf aufs Sterben einschulte;
dann scheint die Bühne allerdings anders auszusehen, sie eröffnet
den dialektischen Schein von Heimat. In der Tat hat darüber ein
Sterbender, der im letzten Augenblick gerettet wurde, folgende
Aufklärung gegeben: ›Ich legte mich der Wand zu und fühlte, das da
draußen, das im Zimmer ist nichts, geht mich nichts mehr an, aber in
der Wand ist meine Sache zu finden.‹« (163) Aber Bloch selber
nennt das Geheimnis der Wand dialektischen Schein. Er läßt sich
nicht dazu verlocken, jenes Einleuchtende buchstäblich zu nehmen.
Nur ist ihm der Schein nicht, psychologisch, subjektive Illusion
sondern objektiv. Seine Plausibilität soll dafür einstehen, daß,
ähnlich wie bei Benjamin und auch bei Proust, die spezifischesten
Erfahrungen, die ganz ans Besondere sich verlieren, in
Allgemeinheit umschlagen. Den erzählenden Duktus von Blochs
Philosophie inspiriert die Ahnung, daß solcher Umschlag den
dialektischen Vermittlungen entgleite. So sehr ihr Lehrgehalt der
Dialektik sich verpflichtet weiß, so undialektisch ist jener Duktus.
Erzählt wird von Daseiendem, wäre es auch erst zukünftig; die Form
ignoriert das Werden, das der Inhalt verkündet, sucht ihm nur
gleichsam durch ihr Tempo nachzueifern. Aber die Möglichkeit, das
Versprochene herzustellen, bleibt unsicher so wie nur je im
dialektischen Materialismus. Bloch ist Theolog und Sozialist, aber
kein religiöser Sozialist; was in der Immanenz als versprengter Sinn,
als »Funke« des messianischen Endes der Geschichte umgeistert,
wird weder ihr noch selbst ihrer vernunftgemäßen Einrichtung als
Sinn gutgeschrieben; weder soll positiv religiöser Gehalt das bloß
Seiende rechtfertigen noch transzendent herrschen. Mystiker ist
Bloch in der paradoxen Einheit von Theologie und Atheismus. Die
mystischen Meditationen jedoch, in denen die Überlieferung des
Funkens beheimatet ist, setzten dogmatische Lehrgehalte voraus, um
sie durch Deutung zu vernichten: sei es die jüdischen der Thora als
heiligen Textes, sei es die christologischen. Mystik ohne den
Anspruch eines Offenbarungskerns exponiert sich als bloße
Bildungsreminiszenz. Blochs Philosophie des Scheins, der solche
Autorität unwiederbringlich dahin ist, schreckt davor so wenig
zurück wie die mystischen Ausläufer der großen Religionen in deren
aufgeklärter Endphase; er postuliert nicht Religion aus
Religionsphilosophie. Auf das Vertrackte, das damit in die
Spekulation gerät, reflektiert diese selber. Aber lieber nimmt sie es
in den Kauf, lieber bekennt sie sich selber als Schein, als daß sie
zum Positivismus resignierte oder zur Positivität des Glaubens. Die
Verwundbarkeit, die sie geflissentlich hervorkehrt, ist Konsequenz
ihres Gehalts. Wäre dieser rein durchgebildet und dargestellt, so
wäre der Schein eskamotiert, an dem sie ihr eigenes Lebenselement
hat.
Daß von Bedingtem Unbedingtes nicht sich erkennen lasse,
kann ihr bequem vorgerechnet werden: sie ist selber nicht gefeit vor
jenem Apokryphen, das ihre Intention hochzureißen sich vermißt.
Was erzählt wird, verbrennt im Erzählen; die Zündung des nicht
gedachten Gedankens ist der Kurzschluß. Daher, nicht aus
mangelnder Denkkraft, bleiben die Interpretationen des Erzählten
vielfach hinter diesem zurück, eine antinomistische Predigt über den
Text: Sehet, ich will euch Steine statt Brot geben. Je höher sie
hinaus will, um so mehr verstärkt ihr angespannter Wille das Gefühl
der Vergeblichkeit. Die Vermischung der Sphären, dieser
Philosophie nicht weniger eigentümlich als die Sphärendichotomie,
fügt ihr selber ein Getrübtes bei, alle etablierten Ideen eines reinen
An sich, allen Platonismus herausfordernd. Will Bloch, das
Äußerste und das Trivialste sei eins, so klafft es oft genug
auseinander, und das Äußerste wird trivial: »Ists gut? fragte ich.
Dem Kind schmeckt es bei andern am besten. Sie merken nur bald,
was dort auch nicht recht ist. Und wäre es zuhause so schön, dann
gingen sie nicht so gern weg. Sie spüren oft früh, hier wie dort
könnte viel anders sein.« (9) Das ist die gnostische Lehre von der
Insuffizienz der Schöpfung als Binsenwahrheit. Blochs Souveränität
wird nicht gestört von unfreiwilliger Komik: »Es ist jedenfalls nicht
immer das Erwartete, das an die Tür klopft.« (161) Kultur ist dieser
Philosophie zuwenig, aber zuweilen ist sie weniger als jene und
kippt aus den Pantinen. Denn wie es nichts zwischen Himmel und
Erde gibt, was nicht psychoanalytisch als Symbol für Sexuelles
beschlagnahmt werden könnte, so gibt es nichts, was nicht ebenso
zur Symbolintention, zur Blochschen Spur taugte, und dies Alles
grenzt ans Nichts. Am verfänglichsten sind die Spuren dort, wo sie
zum Okkulten tendieren: wird einmal das Ausschweifen in
intelligible Welten zum Prinzip, so ist auch kein Kraut gewachsen
gegen die Träume des Geistersehers. Eine Fülle abergläubischer
Geschichten wird erzählt; das Powere des Hintertreppenklatschs aus
der Geisterwelt schleunigst zwar unterstrichen, aber keine
Distinktion des metaphysisch Intendierten von der aufs Faktum
heruntergebrachten Metaphysik theoretisch vollzogen. Gleichwohl
spricht noch dort etwas für Bloch, wo der Kitsch seinen Retter zu
verschlingen droht. Denn ein anderes ist es, an Gespenster glauben,
ein anderes, Gespenstergeschichten erzählen. Fast möchte man nur
dem das wahre Vergnügen an solchen Geschichten zutrauen, der
nicht an sie glaubt, sondern, indem er auf sie sich einläßt, daran
gerade die Freiheit vom Mythos genießt. Auf sie zielt dessen
Reflexion durch den Bericht und Blochs Philosophie insgesamt. Der
Rest der ungeglaubten Geistergeschichten ist jenes Staunen über das
Zuwenig der unfreien Welt, das zu paraphrasieren er nicht müde
wird. Sie sind Mittel des Ausdrucks: dessen von Verfremdung.
Unterm Primat des Ausdrucks über die Signifikation, nicht
sowohl darauf bedacht, daß die Worte die Begriffe deuten, wie
darauf, daß die Begriffe die Worte nach Hause bringen, ist Blochs
Philosophie die des Expressionismus. Ihn bewahrt sie auf in der
Idee, die verkrustete Oberfläche des Lebens zu durchbrechen.
Unvermittelt will menschliche Unmittelbarkeit laut werden: gleich
dem expressionistischen Subjekt protestiert das philosophische
Blochs gegen die Verdinglichung der Welt. Er darf sich nicht, wie
Kunst, mit der Formung dessen begnügen, was Subjektivität zu
füllen vermag, sondern denkt über diese hinaus und macht deren
Unmittelbarkeit selber als gesellschaftlich vermittelte, entfremdete
transparent. Dabei jedoch löscht er, sein ganzes Werk hindurch,
nicht wie sein Jugendfreund Lukács bei solchem Übergang das
subjektive Moment aus in der Fiktion eines schon erreichten
versöhnten Standes. Das schützt ihn vor Verdinglichung zweiten
Grades. Seine geschichtsphilosophische Innervation hält den
Standpunkt der subjektiven Erfahrung auch dort fest, wo er ihn
theoretisch, im Hegelschen Sinn, überschreitet. Objektiv ist seine
Philosophie intendiert und redet doch unverändert expressionistisch.
Als Gedanke kann sie nicht reiner Laut der Unmittelbarkeit bleiben,
kann aber auch Subjektivität, als Erkenntnisgrund und sprachliches
Organon, nicht durchstreichen, denn keine objektive Ordnung des
Seienden ist gegenwärtig, die substantiell, ohne Widerspruch das
Subjekt in sich einschlösse, und deren Sprache eins wäre mit seiner
eigenen. Blochs Denken erspart sich nicht das Bittere, daß zur
gegenwärtigen Stunde der philosophische Schritt übers Subjekt
hinaus ins Vorsubjektive zurückfällt und einer kollektiven Ordnung
zugute kommt, in der Subjektivität nicht aufgehoben ist, sondern
bloß niedergehalten von heteronomem Druck. Schrill antwortet sein
perennierender Expressionismus darauf, daß Verdinglichung
perenniert und daß ihre Abschaffung dort, wo sie behauptet wird,
zur bloßen Ideologie sich verhärtet hat. Die Brüche in seiner Rede
sind Echo des Stundenschlags, der eine Philosophie des
Subjekt-Objekts dazu verhält, den fortwährenden Bruch von Subjekt
und Objekt einzubekennen.
Ihr innerstes Motiv hat sie mit dem literarischen
Expressionismus gemeinsam. Von Georg Heym existiert der Satz:
»Man könnte vielleicht sagen, daß meine Dichtung der beste Beweis
eines metaphysischen Landes ist, das seine schwarzen Halbinseln
weit hinein in unsere flüchtigen Tage streckt«: des gleichen wohl,
dessen Topographie das Werk Rimbauds entwarf. In Bloch möchte
der Anspruch eines solchen Beweises wörtlich genommen, jenes
Land mit Gedanken eingeholt werden. Dadurch ist seine Philosophie
Metaphysik anders als die traditionelle. Sie wäre nicht auf die
freilich allerorten auch in ihr noch durchklingende Frage nach dem
Sein, nach dem wahren Wesen der Dinge, nach Gott, Freiheit und
Unsterblichkeit zu bringen, sondern möchte den andern Raum
beschreiben oder, nach Schellings Wort, »konstruieren«:
Metaphysik als Phänomenologie des Imaginären. Transzendenz,
eingewandert in Profanität, wird als ein »Raum« vorgestellt. Von
der spiritistischen Kolportage aus der vierten Dimension ist er
darum so schwer abzuheben, weil er, eines jeglichen Moments von
Seiendem ledig, zum Symbol würde, die Blochsche Transzendenz
zur Idee; und damit seine Philosophie zu jenem Idealismus, aus
dessen Gefängnis auszubrechen sie überhaupt gedacht ward.
»Dieser Raum, scheint mir, ist immer um uns, auch wenn wir nur an
seinen Rändern saugen und nicht mehr wissen, wie dunkel die Nacht
ist.« (183) In ihn wollen die Blochschen »Motive des
Verschwindens« geleiten. Sterben wird zum Tor wie in manchen
Augenblicken Bachs. »Selbst das Nichts, das die Ungläubigen
zudiktieren, ist unvorstellbar, ja im Grund noch dunkler als ein
Etwas, das bliebe.« (196) Blochs Obsession mit dem Imaginären als
einem gleichwohl Seienden bedingt jenes merkwürdig Statische
inmitten aller Dynamik, das Paradoxon des Expressionisten als
Epikers; auch den Überschuß an blindem, ungelöstem Stoff.
Gelegentlich liest es sich mehr wie Schelling denn wie Hegel, mehr
wie eine Pseudomorphose an Dialektik denn wie diese selbst.
Dialektik bräche kaum ab vor einer Zweiweltentheorie, die zuweilen
an Schichten-Ontologie mahnt; vor der chiliastischen Antithese
immanenter Utopie und enthüllter Transzendenz. Bloch aber
schreibt zu einer Anekdote von einem jungen Arbeiter, den ein
Wohltäter temporär mit dem schönen Leben beglückt und dann
wieder ins Bergwerk schickt, worauf jener ihn umbringt: »Ist das
Leben, das mit uns spielt, anders als der reiche Mann, der gute?
Zwar er selber ist aufzuheben und der Arbeiter erschoß ihn; das bloß
soziale Schicksal, das die reiche Klasse der armen setzt, ist
aufzuheben. Aber der reiche Mann steht noch wie ein Götze des
andern Schicksals da, unsres naturhaften mit dem Tod am Ende,
dessen Roheit der reiche Teufel ja kopiert und sinnfällig gemacht
hat, bis es sein eignes wurde.« (50f.) Oder variiert: »... im Tod, der
keinem sein eigener Tod ist, per definitionem sein kann (denn unser
Raum ist immer das Leben oder was mehr, aber nicht was weniger
als dieses ist) – auch im Tod ist etwas von jener reichen Katze, die
die Maus erst laufen läßt, bevor sie sie frißt. Kein Mensch könnte es
dem ›Heiligen‹ verübeln, wenn er diesen Gott abschösse wie der
Arbeiter den Millionär.« (51f.) Zwischen der gesellschaftlichen
Unterdrückung und der mythischen Todverfallenheit des Lebens
konstruiert Bloch eine antinomistisch grinsende analogia entis, aber
der Platonische Chorismos klafft doch weiter, und die Herstellung
einer vernünftigen Ordnung auf der Erde wäre ein Tropfen auf den
heißen Stein von Schicksal und Tod. Die hartgesottene Naivetät, die
das nicht sich ausreden läßt, ermuntert zur billigen Belehrung von
beiden Seiten, vom Diamat und vom Sein als Sinn des Seienden.
Wie alles Avancierte immer auch hinter dem zurückbleibt, was es
hinter sich ließ, so sticht Bloch durch einen Erdenrest ab von der
Geschliffenheit der offiziellen Philosophie, durch ein
Dschungelhaftes von der administrativen Blankheit der zonalen.
Damit sabotiert er seine Rezeption als Kulturgut, erleichtert freilich
auch die apokryphe, sektenhafte.
Das allzu architektonische Schema prägt dem Gedanken selber
sich sein. Während Blochs Philosophie überquillt von Materialien
und Farben, entrinnt sie doch nicht dem Abstrakten. Ihr Buntes und
Besonderes dient in weitem Maß als Beispiel des Einen Gedankens
von Utopie und Durchbruch, den sie hegt wie Schopenhauer den
Seinen: »Denn schließlich ist alles, was einem begegnet und auffällt,
dasselbe.« (16) Sie muß Utopie auf den Allgemeinbegriff abziehen,
der jenes Konkrete subsumiert, das allein doch die Utopie wäre. Die
»Gestalt der unkonstruierbaren Frage« wird zum System und läßt
vom Grandiosen sich imponieren, das so schlecht zu Blochs
Aufbegehren gegen Macht und Herrlichkeit paßt. System und
Schein stimmen zusammen. Der Allgemeinbegriff, der die Spur
wegwischt und sie kaum wahrhaft in sich aufzuheben vermag, muß
doch, um seiner eigenen Intention willen, reden, als wäre sie in ihm
gegenwärtig. Er verurteilt sich zur Überforderung auf Lebenszeit.
Das übertäubt der expressionistische Schrei: die Gewalt des Willens,
ohne den keine Spur entdeckt würde, arbeitet dem Gewollten
entgegen. Denn die Spur selbst ist das Unwillkürliche,
Unscheinbare, Intentionslose. Ihre Nivellierung auf Intention frevelt
an ihr, so wie, nach Hegels Einsicht in der Phänomenologie,
Beispiele an der Dialektik freveln. Die Farbe, die Bloch meint, wird
grau als Totale. Hoffnung ist kein Prinzip. Philosophie kann aber
nicht vor der Farbe verstummen. Sie kann nicht im Medium des
Gedankens, der Abstraktion sich bewegen und Askese gegen die
Deutung üben, in der jene Bewegung terminiert. Sonst sind ihre
Ideen Rätselbilder. Dafür hat Benjamin in der in vielem den Spuren
verwandten ›Einbahnstraße‹ sich entschieden. Wie diese
sympathisieren die Spuren, im Titel schon, mit dem Kleinen, aber
im Unterschied zu Benjamin verschenkt Bloch sich nicht daran,
sondern benutzt es, in ausdrücklicher Absicht (vgl. S. 66ff.), als
Kategorie. Noch das Kleine bleibt abstrakt, nach dem eigenen Maß
zu groß. Er weigert sich dem Fragmentarischen. Dynamisch geht er
wie Hegel weiter, hinweg über das, woran seine Erfahrung ihr
Substrat hat; insofern ist er Idealist malgré lui. Seine Spekulation
will, nach einer älteren Formulierung, Luftwurzeln treiben, ultima
philosophia sein und hat doch die Struktur von prima philosophia,
ambitioniert das große Ganze. Sie denkt das Ende als Weltgrund,
der das Seiende bewegt, dem es als telos schon innewohnt. Sie
macht es zum Ersten. Das ist seine innerste, unaufhebbare
Antinomie. Auch sie teilt er mit Schelling.
Die Konzeption des Unterdrückten, von unten Treibenden, das
dem Unwesen ein Ende setzt, ist politisch. Auch davon wird erzählt
wie von einem Vorentschiedenen, die Veränderung der Welt
gleichsam supponiert, unbekümmert darum, was in den dreißig
Jahren seit der Erstausgabe der Spuren aus der Revolution wurde
und was ihrem Begriff und ihrer Möglichkeit unter den veränderten
technologischen und gesellschaftlichen Bedingungen widerfuhr.
Seinem Urteil genügt die Absurdität des Bestehenden; er rechtet
nicht über das, was geschehen soll. »In der rue Blondel lag ein
betrunkenes Weib, der Schutzmann packt an. Je suis pauvre, sagt
das Weib. Deshalb brauchst du doch nicht die Straße zu verkotzen,
brüllt der Schutzmann. Que voulez vous, monsieur, la pauvreté, c'est
déjà à moitié la saleté, sagt das Weib und säuft. So hat sie sich
beschrieben, erklärt und aufgehoben, im selben Zug. Wen oder was
sollte der Schutzmann noch verhaften.« (17) Der Stärke, nicht übers
Vernünftige zu vernünfteln, gesellt sich der Schatten einer
politischen petitio principii, die zuzeiten dort sich ausschlachten
ließ, wo die Weltgeschichte als causa judicata für beendet erklärt
wird. Aber Blochs Zug läßt sich vom Autoritären und Repressiven
nicht bändigen. Er ist einer der ganz wenigen Philosophen, die vorm
Gedanken an eine Welt ohne Herrschaft und Hierarchie nicht
zurückbeben; unvorstellbar, daß er aus approbierter Tiefe die
Abschaffung von Übel, Sünde und Tod verleumdete. Daraus, daß es
bis heute nicht gelang, liest er nicht die perfide Maxime heraus, daß
es nicht gelingen könne und nicht gelingen dürfe. Das verleiht
seinem Versprechen, der Transfiguration des happy end, trotz allem
die Resonanz des nicht Vergeblichen. Unter den Spuren fehlt
gänzlich die von Muff. Häretiker der Dialektik, läßt er auch mit der
materialistischen These nicht sich abspeisen, keine klassenlose
Gesellschaft dürfe ausgemalt werden. Mit unbeirrter Sinnlichkeit
freut er sich an ihrem Bild, ohne es trügerisch breit zu walzen. An
dem Hummer essenden französischen Arbeiter oder dem Volksfest
vom 14. Juli schimmert »ein gewisses Später auf, wo das Geld nicht
mehr um die Güter bellt oder in ihnen wedelt« (19). Er betet auch
nicht das Abrakadabra der unmittelbaren Einheit von Theorie und
Praxis nach. Auf die Frage »Soll man tun oder denken?« antwortet
er: »Keinen Hund, sagt man, lockt die Philosophie hinterm Ofen
hervor. Aber wie Hegel dazu bemerkt, ist das auch nicht ihre
Aufgabe. Und sodann könnte die Philosophie auch ohne diese
Aufgabe bestehen, aber nicht einmal diese Aufgabe ohne
Philosophie. Das Denken schafft selbst erst die Welt, in der
verwandelt werden kann und nicht bloß gestümpert.« (261) Kein
schrofferer Bescheid wäre dem Vulgärmaterialismus zu erteilen von
realer Humanität, die dem Denken das Seine läßt, während es
allerorten zur Ancilla des Tuns herabgedrückt wird. Solche
Humanität erlaubt auch heute noch, was Benjamin einmal von
Bloch sagte: er könne an seinen Gedanken sich wärmen. Sie
gleichen dem mächtigen grünen Kachelofen, der von außen geheizt
wird und für die ganze Wohnung ausreicht, tröstlich stark, ohne
Ofenbank im Zimmer, und ohne daß er es verräucherte. Der
Märchen erzählt, behütet sie vorm Verrat, ihre Zeit habe schon
geschlagen. Die Erwartung, daß es werde, paart sich mit
abgründiger Skepsis. Beides vereint sich im Witz aus einer
jüdischen Legende: einer berichtet ein Wunder und dementiert es im
Augenblick der höchsten Spannung: »›Was tut Gott? die ganze
Geschichte ist nicht wahr.‹« (253) Bloch spart die Deutung aus, fügt
aber hinzu: »Kein übler Satz für einen Lügner, kein schlechtes
Weltmotto, würden es Bessere sagen.« (a.a.O.) Was tut Gott? – in
die saloppe Frage vermummt sich der unbeschwichtigte Zweifel an
seiner Existenz, weil »die ganze Geschichte nicht wahr«, weil,
wider Hegel und alle Dialektik, die Weltgeschichte noch nicht die
der Wahrheit ist. Indem durch den Witz Philosophie sich als Trug
durchschaut, ist auch sie mehr, als sie ist: »Man muß sowohl witzig
wie transzendierend sein.« (a.a.O.) Der Witz reißt die ungeheure
Perspektive der Verse von Karl Kraus auf: »Nichts ist wahr, / Und
möglich, daß sich anderes ereignet«; daß der Schein, den er zerstört,
doch nicht das letzte Wort behält. Was der Philosophie nicht
gelungen ist, braucht sie nicht darum sich abmarkten zu lassen, weil
es den Menschen noch nicht gelang.
 Fußnoten
 
1 Die in Klammern gesetzten Seitenzahlen beziehen sich auf die
Ausgabe Ernst Bloch, Spuren. Neue erweiterte Ausgabe, Berlin,
Frankfurt a.M. 1959.
 
 Erpreßte Versöhnung
Zu Georg Lukács: ›Wider den mißverstandenen Realismus‹
Den Nimbus, der den Namen von Georg Lukács heute noch, auch
außerhalb des sowjetischen Machtbereiches, umgibt, verdankt er
den Schriften seiner Jugend, dem Essay-Band ›Die Seele und die
Formen‹, der ›Theorie des Romans‹, den Studien ›Geschichte und
Klassenbewußtsein‹, in denen er als dialektischer Materialist die
Kategorie der Verdinglichung erstmals auf die philosophische
Problematik prinzipiell anwandte. Ursprünglich etwa von Simmel
und Kassner angeregt, dann in der südwestdeutschen Schule
gebildet, setzte Lukács bald dem psychologischen Subjektivismus
eine objektivistische Geschichtsphilosophie entgegen, die
bedeutenden Einfluß ausübte. Die ›Theorie des Romans‹ zumal hat
durch Tiefe und Elan der Konzeption ebenso wie durch die nach
damaligen Begriffen außerordentliche Dichte und Intensität der
Darstellung einen Maßstab philosophischer Ästhetik aufgerichtet,
der seitdem nicht wieder verloren ward. Als, schon in den frühen
zwanziger Jahren, der Lukácssche Objektivismus sich, nicht ohne
anfängliche Konflikte, der offiziellen kommunistischen Doktrin
beugte, hat Lukács nach östlicher Sitte jene Schriften revoziert; hat
die subalternsten Einwände der Parteihierarchie unter Mißbrauch
Hegelscher Motive sich gegen sich selbst zu eigen gemacht und
jahrzehntelang in Abhandlungen und Büchern sich abgemüht, seine
offenbar unverwüstliche Denkkraft dem trostlosen Niveau der
sowjetischen Denkerei gleichzuschalten, die mittlerweile die
Philosophie, welche sie im Munde führte, zum bloßen Mittel für
Zwecke der Herrschaft degradiert hatte. Nur um der unterdessen
widerrufenen und von seiner Partei mißbilligten Frühwerke willen
aber wurde, was Lukács während der letzten dreißig Jahre
veröffentlichte, auch ein dickes Buch über den jungen Hegel,
überhaupt diesseits des Ostblocks beachtet, obwohl in einzelnen
seiner Arbeiten zum deutschen Realismus des neunzehnten
Jahrhunderts, zu Keller und Raabe, das alte Talent zu spüren war.
Am krassesten wohl manifestierte sich in dem Buch ›Die Zerstörung
der Vernunft‹ die von Lukács' eigener. Höchst undialektisch
rechnete darin der approbierte Dialektiker alle irrationalistischen
Strömungen der neueren Philosophie in einem Aufwaschen der
Reaktion und dem Faschismus zu, ohne sich viel dabei aufzuhalten,
daß in diesen Strömungen, gegenüber dem akademischen
Idealismus, der Gedanke auch gegen eben jene Verdinglichung von
Dasein und Denken sich sträubte, deren Kritik Lukács' eigene Sache
war. Nietzsche und Freud wurden ihm schlicht zu Faschisten, und er
brachte es über sich, im herablassenden Ton eines Wilhelminischen
Provinzialschulrats von Nietzsches »nicht alltäglicher Begabung« zu
reden. Unter der Hülle vorgeblich radikaler Gesellschaftskritik
schmuggelte er die armseligsten Clichés jenes Konformismus
wieder ein, dem die Gesellschaftskritik einmal galt.
Das Buch ›Wider den mißverstandenen Realismus‹ nun, das
1958 im Westen, im Claassen-Verlag herauskam, zeigt Spuren einer
veränderten Haltung des Fünfundsiebzigjährigen. Sie dürfte
zusammenhängen mit dem Konflikt, in den er durch seine
Teilnahme an der Nagy-Regierung geriet. Nicht nur ist von den
Verbrechen der Stalin-Ära die Rede, sondern es wird in früher
undenkbarer Formulierung sogar von einer »allgemeinen
Stellungnahme für die Freiheit des Schrifttums« positiv gesprochen.
Lukács entdeckt posthum Gutes an seinem langjährigen Gegner
Brecht und rühmt dessen Ballade vom toten Soldaten, die den
Pankower Machthabern ein kulturbolschewistisches Greuel sein
muß, als genial. Gleich Brecht möchte er den Begriff des
sozialistischen Realismus, mit dem man seit Jahrzehnten jeden
ungebärdigen Impuls, alles den Apparatschiks Unverständliche und
Verdächtige abwürgte, so ausweiten, daß mehr darin Raum findet
als nur der erbärmlichste Schund. Er wagt schüchterne, vorweg vom
Bewußtsein der eigenen Ohnmacht gelähmte Opposition. Die
Schüchternheit ist keine Taktik. Lukács' Person steht über allem
Zweifel. Aber das begriffliche Gefüge, dem er den Intellekt opferte,
ist so verengt, daß es erstickt, was immer darin freier atmen möchte;
das sacrifizio dell' intelletto läßt diesen selbst nicht unberührt.
Lukács' offenbares Heimweh nach den frühen Schriften gerät
dadurch in einen tristen Aspekt. Aus der ›Theorie des Romans‹
kehrt die »Lebensimmanenz des Sinnes« wieder, aber
heruntergebracht auf den Kernspruch, daß das Leben unterm
sozialistischen Aufbau eben sinnvoll sei – ein Dogma, gerade gut
genug zur philosophisch tönenden Rechtfertigung der rosigen
Positivität, die in den volkssozialistischen Staaten der Kunst
zugemutet wird. Das Buch bietet Halbgefrorenes zwischen dem
sogenannten Tauwetter und erneuter Kälte.
Den subsumierenden, von oben her mit Kennmarken wie
kritischer und sozialistischer Realismus operierenden Gestus teilt
Lukács, trotz aller entgegenlautenden dynamischen Beteuerungen,
nach wie vor mit den Kulturvögten. Die Hegelsche Kritik am
Kantischen Formalismus in der Ästhetik ist versimpelt zu der
Behauptung, daß in der modernen Kunst Stil, Form,
Darstellungsmittel maßlos überschätzt seien (s. insbes. S. 15) – als
ob nicht Lukács wissen müßte, daß durch diese Momente Kunst als
Erkenntnis von der wissenschaftlichen sich unterscheidet; daß
Kunstwerke, die indifferent wären gegen ihr Wie, ihren eigenen
Begriff aufhöben. Was ihm Formalismus dünkt, meint, durch
Konstruktion der Elemente unterm je eigenen Formgesetz, jene
»Immanenz des Sinnes«, der Lukács nachhängt, anstatt, wie er
selber es für unmöglich hält und doch objektiv verficht, den Sinn
von außen dekretorisch ins Gebilde hineinzuzerren. Er mißdeutet
willentlich die formkonstitutiven Momente der neuen Kunst als
Akzidentien, als zufällige Zutaten des aufgeblähten Subjekts, anstatt
ihre objektive Funktion im ästhetischen Gehalt selber zu erkennen.
Jene Objektivität, die er an der modernen Kunst vermißt und die er
vom Stoff und dessen »perspektivischer« Behandlung erwartet, fällt
jenen die bloße Stofflichkeit auflösenden und damit erst sie in
Perspektive rückenden Verfahrungsweisen und Techniken zu, die er
wegwischen möchte. Gleichgültig stellt er sich gegen die
philosophische Frage, ob in der Tat der konkrete Gehalt eines
Kunstwerks eins sei mit der bloßen »Widerspiegelung der
objektiven Wirklichkeit« (S. 108), an deren Idol er mit verbissenem
Vulgärmaterialismus festhält. Sein eigener Text jedenfalls mißachtet
all jene Normen verantwortlich geprägter Darstellung, die er durch
seine Frühschriften zu statuieren geholfen hatte. Kein bärtiger
Geheimrat könnte kunstfremder über Kunst perorieren; im Ton des
Kathedergewohnten, der nicht unterbrochen werden darf, vor keinen
längeren Ausführungen zurückschreckt und offensichtlich jene
Möglichkeiten des Reagierens einbüßte, die er an seinen Opfern als
ästhetizistisch, dekadent und formalistisch abkanzelt, die allein aber
ein Verhältnis zur Kunst überhaupt erst gestatten. Während der
Hegelsche Begriff des Konkreten bei Lukács nach wie vor hoch im
Kurs steht – insbesondere, wenn es darum geht, die Dichtung zur
Abbildung der empirischen Realität zu verhalten –, bleibt die
Argumentation selber weithin abstrakt. Kaum je unterwirft sich der
Text der Disziplin eines spezifischen Kunstwerks und seiner
immanenten Probleme. Statt dessen wird verfügt. Der Pedanterie
des Duktus entspricht Schlamperei im einzelnen. Lukács scheut sich
nicht vor abgetakelten Weisheiten wie: »Eine Rede ist keine
Schreibe«; er verwendet wiederholt den aus der Sphäre des
Kommerzes und Rekords stammenden Ausdruck »Spitzenleistung«
(S. 7); er nennt das Annullieren des Unterschieds von abstrakter und
konkreter Möglichkeit »verheerend« und erinnert daran, wie »eine
solche Diesseitigkeit ... etwa ab Giotto das Allegorisieren der
Anfangsperiode immer entschiedener überwindet« (S. 41). Wir nach
Lukács' Sprache Dekadenten mögen ja Form und Stil arg
überschätzen, aber vor Prägungen wie »ab Giotto« hat uns das
bislang ebenso bewahrt wie davor, Kafka zu loben, weil er
»glänzend beobachte« (S. 47). Auch von der »Reihe der
außerordentlich vielen Affekte, die zusammen zum Aufbau des
menschlichen Innenlebens beitragen« (S. 90), dürften
Avantgardisten nur selten etwas vermeldet haben. Man könnte
angesichts solcher Spitzenleistungen, die sich jagen wie auf einer
Olympiade, fragen, ob jemand, der so schreibt, unkundig des
Metiers der Literatur, mit der er souverän umspringt, überhaupt das
Recht hat, in literarischen Dingen im Ernst mitzureden. Aber man
fühlt bei Lukács, der einmal gut schreiben konnte, in der Mischung
aus Schulmeisterlichkeit und Unverantwortlichkeit die Methode des
Justament, den rancuneerfüllten Willen zum Schlechtschreiben, dem
er die magische Opferkraft zutraut, polemisch zu beweisen, wer es
anders hält und sich anstrengt, sei ein Taugenichts. Stilistische
Gleichgültigkeit ist übrigens stets fast ein Symptom dogmatischer
Verhärtung des Inhalts. Die forcierte Uneitelkeit eines Vortrags, der
sich sachlich glaubt, wofern er nur die Selbstreflexion versäumt,
bemäntelt einzig, daß die Objektivität aus dem dialektischen Prozeß
mit dem Subjekt herausgenommen ward. Der Dialektik wird
Lippendienst gezollt, aber sie ist für solches Denken vorentschieden.
Es wird undialektisch.
Dogmatisch bleibt der Kern der Theorie. Die gesamte moderne
Literatur, soweit auf sie nicht die Formel eines sei's kritischen, sei's
sozialistischen Realismus paßt, ist verworfen, und es wird ihr ohne
Zögern das Odium der Dekadenz angehängt, ein Schimpfwort, das
nicht nur in Rußland alle Scheußlichkeiten von Verfolgung und
Ausmerzung deckt. Der Gebrauch jenes konservativen Ausdrucks
ist inkompatibel mit der Lehre, deren Autorität Lukács durch ihn,
wie seine Vorgesetzten, der Volksgemeinschaft angleichen möchte.
Die Rede von Dekadenz ist vom positiven Gegenbild
kraftstrotzender Natur kaum ablösbar; Naturkategorien werden auf
gesellschaftlich Vermitteltes projiziert. Eben dagegen jedoch geht
der Tenor der Ideologiekritik von Marx und Engels. Selbst
Reminiszenzen an den Feuerbach der gesunden Sinnlichkeit hätten
schwerlich dem sozialdarwinistischen Terminus Einlaß in ihre Texte
verschafft. Noch im Rohentwurf der Grundrisse der Kritik der
politischen Ökonomie von 1857/58, also in der Phase des ›Kapitals‹,
heißt es: »Sosehr nun das Ganze dieser Bewegung als
gesellschaftlicher Prozeß erscheint, und sosehr die einzelnen
Momente dieser Bewegung vom bewußten Willen und besondern
Zwecken der Individuen ausgehn, sosehr erscheint die Totalität des
Prozesses als ein objektiver Zusammenhang, der naturwüchsig
entsteht; zwar aus dem Aufeinanderwirken der bewußten Individuen
hervorgeht, aber weder in ihrem Bewußtsein liegt, noch als Ganzes
unter sie subsumiert wird. Ihr eigenes Aufeinanderstoßen produziert
ihnen eine über ihnen stehende, fremde gesellschaftliche Macht; ihre
Wechselwirkung als von ihnen unabhängigen Prozeß und Gewalt ...
Die gesellschaftliche Beziehung der Individuen aufeinander als
verselbständigte Macht über den Individuen, werde sie nun
vorgestellt als Naturmacht, Zufall oder in sonst beliebiger Form, ist
notwendiges Resultat dessen, daß der Ausgangspunkt nicht das freie
gesellschaftliche Individuum ist.« 1 Solche Kritik hält nicht inne vor
der Sphäre, in der der Schein der Naturwüchsigkeit von
Gesellschaftlichem, affektiv besetzt, am hartnäckigsten sich
behauptet und in der alle Indignation über Entartung beheimatet ist,
der der Geschlechter. Marx hat, etwas früher, die ›Religion des
neuen Weltalters‹ von G.F. Daumer rezensiert und spießt einen
Passus daraus auf: »Natur und Weib sind das wahrhaft Göttliche im
Unterschiede von Mensch und Mann ... Hingebung des
Menschlichen an das Natürliche, des Männlichen an das Weibliche
ist die ächte, die allein wahre Demuth und Selbstentäußerung, die
höchste, ja einzige Tugend und Frömmigkeit, die es gibt.« Dem fügt
Marx den Kommentar hinzu: »Wir sehen hier, wie die seichte
Unwissenheit des spekulierenden Religionsstifters sich in eine sehr
prononcierte Feigheit verwandelt. Herr Daumer flüchtet sich vor der
geschichtlichen Tragödie, die ihm drohend zu nahe rückt, in die
angebliche Natur, d.h. in die blöde Bauernidylle, und predigt den
Kultus des Weibes, um seine eigene weibische Resignation zu
bemänteln.« 2 Wo immer gegen Dekadenz gewettert wird,
wiederholt sich jene Flucht. Lukács wird zu ihr gezwungen durch
einen Zustand, in dem gesellschaftliches Unrecht fortwährt,
während es offiziell für abgeschafft erklärt ist. Die Verantwortung
wird von dem von Menschen verschuldeten Zustand
zurückgeschoben in Natur oder eine nach ihrem Modell konträr
ausgedachte Entartung. Wohl hat Lukács versucht, den Widerspruch
zwischen Marxischer Theorie und approbiertem Marxismus zu
eskamotieren, indem er die Begriffe gesunder und kranker Kunst
krampfhaft in soziale retrovertiert: »Die Beziehungen zwischen den
Menschen sind historisch veränderlich, und es verändern sich
dementsprechend auch die geistigen und emotionalen Bewertungen
dieser Beziehungen. Diese Erkenntnis beinhaltet jedoch keinen
Relativismus. In einer bestimmten Zeit bedeutet eine bestimmte
menschliche Beziehung den Fortschritt, eine andere die Reaktion.
So können wir den Begriff des sozial Gesunden finden, eben und
zugleich als Grundlage aller wirklich großen Kunst, weil dieses
Gesunde zum Bestandteil des historischen Bewußtseins der
Menschheit wird.« 3 Das Unkräftige dieses Versuchs ist offenbar:
wenn es sich schon um historische Verhältnisse handelt, wären
Worte wie gesund und krank überhaupt zu vermeiden. Mit der
Dimension Fortschritt / Reaktion haben sie nichts zu tun, sie werden
mitgeschleppt einzig um ihres demagogischen Appells willen.
Überdies ist die Dichotomie von gesund und krank so undialektisch
wie die vom auf- und absteigenden Bürgertum, die ihre Normen
selbst einem bürgerlichen Bewußtsein entlehnt, das mit der eigenen
Entwicklung nicht mitkam. – Ich verschmähe es, darauf zu
insistieren, daß Lukács unter den Begriffen Dekadenz und
Avantgardismus – beides ist ihm dasselbe – gänzlich Heterogenes
zusammenbringt, nicht nur also Proust, Kafka, Joyce, Beckett,
sondern auch Benn, Jünger, womöglich Heidegger; als Theoretiker
Benjamin und mich selber. Der heute beliebte Hinweis darauf, daß
eine angegriffene Sache gar keine sei, sondern in divergentes
Einzelnes auseinanderfalle, liegt allzu bequem zur Hand, um den
Begriff aufzuweichen und dem eingreifenden Argument mit dem
Gestus: »das bin ich gar nicht« sich zu entziehen. Ich halte mich
also, auf die Gefahr hin, durch den Widerstand gegen die
Simplifizierung selbst zu simplifizieren, an den Nerv der
Lukács'schen Argumentation und differenziere innerhalb dessen,
was er verwirft, nicht viel mehr, als er es tut, außer wo er grob
entstellt.
Sein Versuch, dem sowjetischen Verdikt über die moderne,
nämlich das naiv-realistische Normalbewußtsein schockierende
Literatur das philosophisch gute Gewissen zu machen, hat ein
schmales Instrumentarium, insgesamt Hegelschen Ursprungs. Für
seine Attacke auf die avantgardistische Dichtung als Abweichung
von der Wirklichkeit bemüht er zunächst die Unterscheidung von
»abstrakter« und »realer« Möglichkeit: »Zusammengehörigkeit,
Unterschied und Gegensatz dieser beiden Kategorien ist vor allem
eine Tatsache des Lebens selbst. Möglichkeit ist – abstrakt, bzw.
subjektiv angesehen – immer reicher als die Wirklichkeit; Tausende
und aber Tausende Möglichkeiten scheinen für das menschliche
Subjekt offenzustehen, deren verschwindend geringer Prozentsatz
verwirklicht werden kann. Und der moderne Subjektivismus, der in
diesem Scheinreichtum die echte Fülle der menschlichen Seele zu
erblicken vermeint, empfindet ihr gegenüber eine mit Bewunderung
und Sympathie gemischte Melancholie, während der Wirklichkeit,
die die Erfüllung solcher Möglichkeit versagt, mit einer ebenfalls
melancholischen Verachtung entgegengetreten wird.« (S. 19) Über
diesen Einwand ist, trotz des Prozentsatzes, nicht hinwegzugleiten.
Hat Brecht etwa versucht, durch infantilistische Abkürzung
gleichsam reine Urformen des Faschismus als eines Gangstertums
auszukristallisieren, indem er den aufhaltsamen Diktator Arturo Ui
als Exponenten eines imaginären und apokryphen Karfioltrusts,
nicht als den ökonomisch mächtigster Gruppen entwarf, so schlug
das unrealistische Kunstmittel dem Gebilde nicht zum Segen an. Als
Unternehmen einer gewissermaßen gesellschaftlich exterritorialen
und darum beliebig »aufhaltsamen« Verbrecherbande verliert der
Faschismus sein Grauen, das des großen gesellschaftlichen Zuges.
Dadurch wird die Karikatur kraftlos, nach eigenem Maßstab albern:
der politische Aufstieg des Leichtverbrechers büßt im Stück selbst
die Plausibilität ein. Satire, die ihren Gegenstand nicht adäquat hat,
bleibt auch als solche ohne Salz. Aber die Forderung pragmatischer
Treue kann sich doch nur auf die Grunderfahrung von der Realität
und auf die membra disjecta der stofflichen Motive beziehen, aus
denen der Schriftsteller seine Konstruktion fügt; im Fall Brecht also
auf die Kenntnis des tatsächlichen Zusammenhangs von Wirtschaft
und Politik und darauf, daß die gesellschaftlichen
Ausgangstatsachen sitzen; nicht aber auf das, was daraus im Gebilde
wird. Proust, bei dem genaueste »realistische« Beobachtung mit
dem ästhetischen Formgesetz unwillkürlicher Erinnerung so innig
sich verbindet, bietet das eindringlichste Beispiel der Einheit
pragmatischer Treue und – nach Lukács'schen Kategorien –
unrealistischer Verfahrungsweise. Wird etwas von der Innigkeit
jener Fusion nachgelassen, wird die »konkrete Möglichkeit« im
Sinn eines unreflektierten, in starrer Betrachtung draußen vorm
Gegenstand verharrenden Realismus der Gesamtanschauung
interpretiert und das dem Stoff antithetische Moment einzig in der
»Perspektive«, also einem Durchscheinenlassen des Sinnes
geduldet, ohne daß diese Perspektive bis in die Zentren der
Darstellung, bis in die Realien selber eindränge, so resultiert ein
Mißbrauch der Hegelschen Unterscheidung zugunsten eines
Traditionalismus, dessen ästhetische Rückständigkeit Index seiner
historischen Unwahrheit ist.
Zentral jedoch erhebt Lukács den Vorwurf des Ontologismus,
der am liebsten die ganze avantgardistische Literatur auf die
Existentialien des archaisierenden Heidegger festnageln möchte.
Wohl rennt auch Lukács hinter der Mode her, es käme darauf an zu
fragen: »Was ist der Mensch?« (S. 16), ohne von den Spuren sich
schrecken zu lassen. Aber er modifiziert sie wenigstens durch die
allbekannte Aristotelische Bestimmung des Menschen als eines
gesellschaftlichen Wesens. Aus ihr leitet er die schwerlich
bestreitbare Behauptung ab, »die rein menschliche, die zutiefst
individuelle und typische Eigenart« der Gestalten der großen
Literatur, »ihre künstlerische Sinnfälligkeit« sei »mit ihrem
konkreten Verwurzeltsein in den konkret historischen,
menschlichen, gesellschaftlichen Beziehungen ihres Daseins
untrennbar verknüpft« (a.a.O.). »Völlig entgegengesetzt« jedoch sei,
so fährt er fort, »die ontologische Intention, das menschliche Wesen
ihrer Gestalten zu bestimmen, bei den führenden Schriftstellern der
avantgardeistischen Literatur. Kurz gefaßt: für sie ist ›der‹ Mensch:
das von Ewigkeit her, seinem Wesen nach einsame, aus allen
menschlichen und erst recht aus allen gesellschaftlichen
Beziehungen herausgelöste – ontologisch – von ihnen unabhängig
existierende Individuum.« (a.a.O.) Gestützt wird das auf eine
ziemlich törichte, jedenfalls für das literarisch Gestaltete
unmaßgebliche Äußerung Thomas Wolfes über die Einsamkeit des
Menschen als unausweichliche Tatsache seines Daseins. Aber
gerade Lukács, der beansprucht, radikal historisch zu denken, müßte
sehen, daß jene Einsamkeit selber, in der individualistischen
Gesellschaft, gesellschaftlich vermittelt ist und von wesentlich
geschichtlichem Gehalt. In Baudelaire, auf den schließlich alle
Kategorien wie Dekadenz, Formalismus, Ästhetizismus
zurückdatieren, ging es nicht um das invariante Menschenwesen,
seine Einsamkeit oder Geworfenheit, sondern um das Wesen von
Moderne. Wesen selbst ist in dieser Dichtung kein abstraktes An
sich sondern gesellschaftlich. Die objektiv in seinem Werk waltende
Idee will gerade das historisch Fortgeschrittene, Neueste als das zu
beschwörende Urphänomen; es ist, nach dem Ausdruck Benjamins,
»dialektisches Bild«, kein archaisches. Daher die ›Tableaux
Parisiens‹. Substrat sogar von Joyce ist nicht, wie Lukács ihm
unterschieben möchte, ein zeitloser Mensch schlechthin, sondern der
höchst geschichtliche. Er fingiert, trotz aller irischen Folklore, keine
Mythologie jenseits der von ihm dargestellten Welt, sondern trachtet
deren Wesen oder Unwesen zu beschwören, indem er sie selbst,
kraft des vom heutigen Lukács gering geschätzten
Stilisationsprinzips, gewissermaßen mythisiert. Fast möchte man die
Größe von avantgardistischer Dichtung dem Kriterium unterstellen,
ob darin geschichtliche Momente als solche wesenhaft geworden,
nicht zur Zeitlosigkeit verflacht sind. Lukács fertigte vermutlich die
Verwendung von Begriffen wie Wesen und Bild in der Ästhetik als
idealistisch ab. Aber ihre Stellung im Bereich der Kunst ist
grundverschieden von der in Philosophien des Wesens oder der
Urbilder, von allem aufgewärmten Platonismus. Lukács' Position hat
wohl ihre innerste Schwäche darin, daß er diesen Unterschied nicht
mehr festzuhalten vermag und Kategorien, die sich aufs Verhältnis
des Bewußtseins zur Realität beziehen, so auf die Kunst überträgt,
als hießen sie hier einfach das Gleiche. Kunst findet sich in der
Realität, hat ihre Funktion in ihr, ist auch in sich vielfältig zur
Realität vermittelt. Gleichwohl aber steht sie als Kunst, ihrem
eigenen Begriff nach, antithetisch dem gegenüber, was der Fall ist.
Das hat die Philosophie mit dem Namen des ästhetischen Scheins
bedacht. Auch Lukács wird kaum überspringen können, daß der
Gehalt von Kunstwerken nicht in demselben Sinn wirklich ist wie
die reale Gesellschaft. Wäre dieser Unterschied eliminiert, so
verlöre jegliche Bemühung um Ästhetik ihr Substrat. Daß aber die
Kunst von der unmittelbaren Realität, in der sie einmal als Magie
entsprang, qualitativ sich sonderte, ihr Scheincharakter, ist weder ihr
ideologischer Sündenfall noch ein ihr äußerlich hinzugefügter
Index, so als wiederholte sie bloß die Welt, nur ohne den Anspruch,
selber unmittelbar wirklich zu sein. Eine solche subtraktive
Vorstellung spräche aller Dialektik Hohn. Vielmehr betrifft die
Differenz von empirischem Dasein und Kunst deren innerste
Zusammensetzung. Gibt sie Wesen, »Bilder«, so ist das keine
idealistische Sünde; daß manche Künstler idealistischen
Philosophien anhingen, besagt nichts über den Gehalt ihrer Werke.
Sondern Kunst selber hat gegenüber dem bloß Seienden, wofern sie
es nicht, kunstfremd, bloß verdoppelt, zum Wesen, Wesen und Bild
zu sein. Dadurch erst konstituiert sich das Ästhetische; dadurch,
nicht im Blick auf die bloße Unmittelbarkeit, wird Kunst zu
Erkenntnis, nämlich einer Realität gerecht, die ihr eigenes Wesen
verhängt und was es ausspricht zugunsten einer bloß
klassifikatorischen Ordnung unterdrückt. Nur in der Kristallisation
des eigenen Formgesetzes, nicht in der passiven Hinnahme der
Objekte konvergiert Kunst mit dem Wirklichen. Erkenntnis ist in ihr
durch und durch ästhetisch vermittelt. Selbst der vorgebliche
Solipsismus, Lukács zufolge Rückfall auf die illusionäre
Unmittelbarkeit des Subjekts, bedeutet in der Kunst nicht, wie in
schlechten Erkenntnistheorien, die Verleugnung des Objekts,
sondern intendiert dialektisch die Versöhnung mit ihm. Als Bild
wird es ins Subjekt hineingenommen, anstatt, nach dem Geheiß der
entfremdeten Welt, dinghaft ihm gegenüber zu versteinern. Kraft
des Widerspruchs zwischen diesem im Bild versöhnten, nämlich ins
Subjekt spontan aufgenommenen Objekt und dem real unversöhnten
draußen, kritisiert das Kunstwerk die Realität. Es ist deren negative
Erkenntnis. Nach Analogie zu einer heute geläufigen
philosophischen Redeweise könnte man von der »ästhetischen
Differenz« vom Dasein sprechen: nur vermöge dieser Differenz,
nicht durch deren Verleugnung, wird das Kunstwerk beides,
Kunstwerk und richtiges Bewußtsein. Eine Kunsttheorie, die das
ignoriert, ist banausisch und ideologisch in eins.
Lukács begnügt sich mit Schopenhauers Einsicht, das Prinzip
des Solipsismus lasse sich nur »in der abstraktesten Philosophie mit
völliger Konsequenz durchführen«, und »auch dort nur sophistisch,
rabulistisch« (S. 18). Aber seine Argumentation schlägt sich selber:
wenn der Solipsismus nicht durchzuhalten ist; wenn in diesem sich
reproduziert, was er zunächst, nach phänomenologischer Redeweise,
»ausklammert«, dann braucht man ihn als Stilisierungsprinzip auch
nicht zu fürchten. Die Avantgardisten haben sich denn auch über die
ihnen von Lukács zugeschriebene Position objektiv in ihren Werken
hinausbewegt. Proust dekomponiert die Einheit des Subjekts
vermöge dessen eigener Introspektion: es verwandelt sich
schließlich in einen Schauplatz erscheinender Objektivitäten. Sein
individualistisches Werk wird zum Gegenteil dessen, als was
Lukács es schmäht: wird anti-individualistisch. Der monologue
intérieur, die Weltlosigkeit der neuen Kunst, über die Lukács sich
entrüstet, ist beides, Wahrheit und Schein der losgelösten
Subjektivität. Wahrheit, weil in der allerorten atomistischen
Weltverfassung die Entfremdung über den Menschen waltet und
weil sie – wie man Lukács konzedieren mag – darüber zu Schatten
werden. Schein aber ist das losgelöste Subjekt, weil objektiv die
gesellschaftliche Totalität dem Einzelnen vorgeordnet ist und durch
die Entfremdung hindurch, den gesellschaftlichen Widerspruch,
zusammengeschlossen wird und sich reproduziert. Diesen Schein
der Subjektivität durchschlagen die großen avantgardistischen
Kunstwerke, indem sie der Hinfälligkeit des bloß Einzelnen Relief
verleihen und zugleich in ihm jenes Ganze ergreifen, dessen
Moment das Einzelne ist und von dem es doch nichts wissen kann.
Meint Lukács, es werde bei Joyce Dublin, bei Kafka und Musil die
Habsburger Monarchie als »Atmosphäre des Geschehens«
gleichsam programmwidrig fühlbar, bleibe jedoch bloß sekundäres
Nebenprodukt, so macht er um seines thema probandum willen die
negativ aufsteigende epische Fülle, das Substantielle, zur
Nebensache. Der Begriff der Atmosphäre ist Kafka überhaupt
höchst unangemessen. Er stammt aus einem Impressionismus, den
Kafka gerade durch seine objektive Tendenz, die aufs geschichtliche
Wesen, überholt. Selbst bei Beckett – vielleicht bei ihm am meisten
–, wo scheinbar alle konkreten historischen Bestandstücke
eliminiert, nur primitive Situationen und Verhaltensweisen geduldet
sind, ist die unhistorische Fassade das provokative Gegenteil des
von reaktionärer Philosophie vergötzten Seins schlechthin. Der
Primitivismus, mit dem seine Dichtungen abrupt anheben,
präsentiert sich als Endphase einer Regression, nur allzu deutlich in
›Fin de partie‹, wo wie aus der weiten Ferne des
Selbstverständlichen eine terrestrische Katastrophe vorausgesetzt
wird. Seine Urmenschen sind die letzten. Thematisch ist bei ihm,
was Horkheimer und ich in der ›Dialektik der Aufklärung‹ die
Konvergenz der total von der Kulturindustrie eingefangenen
Gesellschaft mit den Reaktionsweisen der Lurche nannten. Der
substantielle Gehalt eines Kunstwerks kann in der exakten, wortlos
polemischen Darstellung heraufdämmernder Sinnlosigkeit bestehen
und verlorengehen, sobald er, wäre es auch nur indirekt durch
»Perspektive«, wie in der didaktischen Antithese richtigen und
falschen Lebens bei Tolstoi seit der ›Anna Karenina‹, positiv
gesetzt, als daseiend hypostasiert wird. Lukács' alte Lieblingsidee
einer »Immanenz des Sinnes« verweist auf eben jene fragwürdige
Zuständlichkeit, die seiner eigenen Theorie zufolge zu destruieren
wäre. Konzeptionen wie die Becketts jedoch sind
objektiv-polemisch. Lukács fälscht sie zur »einfachen Darstellung
des Pathologischen, der Perversität, des Idiotismus als typischer
Form der ›condition humaine‹« (S. 31), nach dem Usus des
Filmzensors, der das Dargestellte der Darstellung zur Last schreibt.
Vollends die Vermengung mit dem Seinskultus, und gar mit dem
minderen Vitalismus Montherlants (a.a.O.), bezeugt Blindheit gegen
das Phänomen. Sie rührt daher, daß Lukács verstockt sich weigert,
der literarischen Technik ihr zentrales Recht zuzusprechen. Statt
dessen hält er sich unverdrossen ans Erzählte. Aber einzig durch
»Technik« realisiert die Intention des Dargestellten – das, was
Lukács dem selbst anrüchigen Begriff »Perspektive« zumißt – in der
Dichtung sich überhaupt. Wohl möchte man erfahren, was von der
attischen Tragödie übrigbliebe, die Lukács gleich Hegel kanonisiert,
wenn man zu ihrem Kriterium die Fabel erhebt, die auf der Straße
lag. Nicht minder konstituiert den traditionellen, selbst den nach
Lukács' Schema »realistischen« Roman – Flaubert – Komposition
und Stil. Heute, da die bloße empirische Zuverlässigkeit zur
Fassaden-Reportage herabsank, hat die Relevanz jenes Moments
extrem sich gesteigert. Konstruktion kann hoffen, die Zufälligkeit
des bloß Individuellen immanent zu bemeistern, gegen die Lukács
eifert. Er zieht nicht die ganze Konsequenz aus der Einsicht, die im
letzten Kapitel des Buches durchbricht: daß wider die Zufälligkeit
nicht hilft, einen vermeintlich objektiveren Standpunkt entschlossen
zu beziehen. Lukács sollte der Gedanke vom Schlüsselcharakter der
Entfaltung der technischen Produktivkräfte wahrhaft vertraut sein.
Gewiß war er auf die materielle, nicht auf die geistige Produktion
gemünzt. Kann aber Lukács im Ernst sich dagegen sperren, daß
auch die künstlerische Technik nach eigener Logik sich entfaltet,
und sich einreden, die abstrakte Beteuerung, innerhalb einer
veränderten Gesellschaft gälten automatisch und en bloc andere
ästhetische Kriterien, reiche aus, jene Entwicklung der technischen
Produktivkräfte auszulöschen und ältere, nach der immanenten
Logik der Sache überholte, als verbindlich zu restaurieren? Wird
nicht unterm Diktat des sozialistischen Realismus gerade er Anwalt
einer Invariantenlehre, die von der von ihm mit Grund abgelehnten
nur durch größere Grobheit sich unterscheidet?
So rechtmäßig auch Lukács in der Tradition der großen
Philosophie Kunst als Gestalt von Erkenntnis begreift, nicht als
schlechthin Irrationales der Wissenschaft kontrastiert, er verfängt
sich dabei in eben der bloßen Unmittelbarkeit, deren er kurzsichtig
die avantgardistische Produktion zeiht: der der Feststellung. Kunst
erkennt nicht dadurch die Wirklichkeit, daß sie sie, photographisch
oder »perspektivisch«, abbildet, sondern dadurch, daß sie vermöge
ihrer autonomen Konstitution ausspricht, was von der empirischen
Gestalt der Wirklichkeit verschleiert wird. Noch der Gestus der
Unerkennbarkeit der Welt, den Lukács an Autoren wie Eliot oder
Joyce so unverdrossen bemängelt, kann zu einem Moment von
Erkenntnis werden, der des Bruchs zwischen der übermächtigen und
unassimilierbaren Dingwelt und der hilflos von ihr abgleitenden
Erfahrung. Lukács vereinfacht die dialektische Einheit von Kunst
und Wissenschaft zur blanken Identität, so als ob die Kunstwerke
durch Perspektive bloß etwas von dem vorwegnähmen, was dann
die Sozialwissenschaften brav einholen. Das Wesentliche jedoch,
wodurch das Kunstwerk als Erkenntnis sui generis von der
wissenschaftlichen sich unterscheidet, ist eben, daß nichts
Empirisches unverwandelt bleibt, daß die Sachgehalte objektiv
sinnvoll werden erst als mit der subjektiven Intention
verschmolzene. Grenzt Lukács seinen Realismus vom Naturalismus
ab, so versäumt er, Rechenschaft davon zu geben, daß der
Realismus, wenn der Unterschied ernst gemeint ist, mit jenen
subjektiven Intentionen notwendig sich amalgamiert, die er
wiederum aus dem Realismus verscheuchen möchte. Überhaupt ist
der von ihm inquisitorisch zum Richtmaß erhobene Gegensatz
realistischer und »formalistischer« Verfahrungsweisen nicht zu
retten. Erweist sich die ästhetisch objektive Funktion der
Formprinzipien, die Lukács als unrealistisch und idealistisch
anathema sind, so sind umgekehrt die von ihm unbedenklich als
Paradigmen hochgehaltenen Romane des früheren neunzehnten
Jahrhunderts, Dickens und Balzac, gar nicht so realistisch. Dafür
mochten sie Marx und Engels, in der Polemik gegen die zu ihrer
Zeit florierende, marktgängige Romantik halten. Heute sind an
beiden Romanciers nicht nur romantische und
archaistisch-vorbürgerliche Züge hervorgetreten, sondern die
gesamte ›Comédie humaine‹ von Balzac zeigt sich als eine
Rekonstruktion der entfremdeten, nämlich vom Subjekt gar nicht
mehr erfahrenen Realität aus Phantasie 4 . Insofern ist er nicht
durchaus verschieden von den avantgardistischen Opfern der
Lukács'schen Klassenjustiz; nur daß Balzac, der Formgesinnung
seines Werkes nach, seine Monologe für Weltfülle hielt, während
die großen Romanciers des zwanzigsten Jahrhunderts ihre Weltfülle
im Monolog bergen. Danach bricht Lukács' Ansatz zusammen.
Unvermeidlich sinkt seine Idee von »Perspektive« zu dem herab,
wovon er im letzten Kapitel der Schrift so verzweifelt sie zu
differenzieren trachtet, zur aufgepfropften Tendenz oder, in seinen
Worten, zur »Agitation«. Seine Konzeption ist aporetisch. Er kann
des Bewußtseins nicht sich entschlagen, daß ästhetisch die
gesellschaftliche Wahrheit nur in autonom gestalteten Kunstwerken
lebt. Aber diese Autonomie führt im konkreten Kunstwerk heute
notwendig all das mit sich, was er unterm Bann der herrschenden
kommunistischen Lehre nach wie vor nicht toleriert. Die Hoffnung,
rückständige, immanent-ästhetisch unzulängliche Mittel
legitimierten sich, weil sie in einem anderen Gesellschaftssystem
anders stünden, also von außen her, jenseits ihrer immanenten
Logik, ist bloßer Aberglaube. Man darf nicht wie Lukács als
Epiphänomen abtun, sondern muß selber objektiv erklären, daß, was
sich im sozialistischen Realismus als fortgeschrittener Stand des
Bewußtseins deklariert, nur mit den brüchigen und faden Relikten
bürgerlicher Kunstformen aufwartet. Jener Realismus stammt nicht
sowohl, wie es den kommunistischen Klerikern paßte, aus einer
gesellschaftlich heilen und genesenen Welt, als aus der
Zurückgebliebenheit der gesellschaftlichen Produktivkräfte und des
Bewußtseins in ihren Provinzen. Sie benutzen die These vom
qualitativen Bruch zwischen Sozialismus und Bürgertum nur dazu,
jene Zurückgebliebenheit, die längst nicht mehr erwähnt werden
darf, ins Fortgeschrittenere umzufälschen.
Mit dem Vorwurf des Ontologismus verbindet Lukács den des
Individualismus, eines Standpunkts unreflektierter Einsamkeit, nach
dem Modell von Heideggers Theorie der Geworfenheit aus ›Sein
und Zeit‹. Lukács übt am Ausgang des literarischen Gebildes vom
poetischen Subjekt in seiner Zufälligkeit jene Kritik (S. 54), der
stringent genug Hegel einst den Ausgang der Philosophie von der
sinnlichen Gewißheit des je Einzelnen unterworfen hatte. Aber
gerade weil diese Unmittelbarkeit in sich bereits vermittelt ist,
enthält sie, verbindlich im Kunstwerk gestaltet, die Momente, die
Lukács an ihr vermißt, während andererseits dem dichterischen
Subjekt der Ausgang vom ihm Nächsten notwendig ist um der
antezipierten Versöhnung der Gegenständlichkeit mit dem
Bewußtsein willen. Die Denunziation des Individualismus dehnt
Lukács bis auf Dostojewski aus. ›Aus dem Dunkel der Großstadt‹
sei »eine der ersten Darstellungen des dekadent einsamen
Individuums« (S. 68). Durch die Verkopplung von dekadent und
einsam wird aber die im Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft selbst
entspringende Atomisierung zur bloßen Verfallserscheinung
umgewertet. Darüber hinaus suggeriert das Wort »dekadent«
biologische Entartung Einzelner: Parodie dessen, daß jene
Einsamkeit vermutlich weit hinter die bürgerliche Gesellschaft
zurückreicht, denn auch die Herdentiere sind, nach Borchardts Wort,
»einsame Gemeinde«, das zoon politikon ist ein erst
Herzustellendes. Ein historisches Apriori aller neuen Kunst, das sich
selber nur dort transzendiert, wo sie es ungemildert anerkennt,
erscheint als vermeidbarer Fehler oder gar als bürgerliche
Verblendung. Sobald jedoch Lukács auf die jüngste russische
Literatur sich einläßt, entdeckt er, daß jener Strukturwechsel, den er
unterstellt, nicht stattfand. Nur lernt er daraus nicht, auf Begriffe wie
den der dekadenten Einsamkeit zu verzichten. Die Position der von
ihm getadelten Avantgardisten – nach seiner früheren Terminologie:
ihr »transzendentaler Ort« – ist im Streit der Richtungen die
geschichtlich vermittelter Einsamkeit, nicht die ontologische. Die
Ontologen von heutzutage sind nur allzu einig mit Bindungen, die,
dem Sein als solchem zugeschrieben, allen möglichen heteronomen
Autoritäten den Schein des Ewigen erwirken. Darin vertrügen sie
sich mit Lukács gar nicht so schlecht. Daß die Einsamkeit als
Formapriori bloßer Schein, daß sie selbst gesellschaftlich produziert
ist; daß sie über sich hinausgeht, sobald sie sich als solche
reflektiert, ist Lukács zuzugestehen 5 . Aber hier genau wendet die
ästhetische Dialektik sich gegen ihn. Nicht ist an dem einzelnen
Subjekt, durch Wahl und Entschluß, über die kollektiv determinierte
Einsamkeit hinauszugelangen. Wo Lukács mit der
Gesinnungspoesie der standardisierten Sowjetromane abrechnet,
klingt das vernehmlich genug durch. Insgesamt wird man bei der
Lektüre des Buches, vor allem der passionierten Seiten über Kafka
(s. etwa S. 5o f.), den Eindruck nicht los, daß er auf die von ihm als
dekadent verpönte Literatur reagiert wie das legendäre
Droschkenpferd beim Ertönen von Militärmusik, ehe es seinen
Karren weiterzieht. Um ihrer Attraktionskraft sich zu erwehren,
stimmt er in den Kontrollchor ein, der seit dem von ihm selber unter
die Avantgardisten eingereihten Kierkegaard, wenn nicht seit der
Empörung über Friedrich Schlegel und die Frühromantik, auf dem
Interessanten herumhackt. Die Verhandlung darüber wäre zu
revidieren. Daß eine Einsicht oder eine Darstellung den Charakter
des Interessanten trägt, ist nicht blank auf Sensation und geistigen
Markt zu reduzieren, die gewiß jene Kategorie beförderten. Kein
Siegel der Wahrheit, ist sie doch heute zu deren notwendiger
Bedingung geworden; das, was »mea interest«, was das Subjekt
angeht, anstatt daß es mit der übermächtigen Gewalt des
Vorherrschenden, der Waren, abgespeist würde.
Unmöglich könnte Lukács loben, was ihn an Kafka lockt, und
ihn dennoch auf seinen Index setzen, hätte er nicht insgeheim, wie
skeptische Spätscholastiker, eine Lehre von zweierlei Wahrheit
bereit: »Diese Betrachtungen gehen immer wieder von der
historisch bedingten künstlerischen Überlegenheit des
sozialistischen Realismus aus. (Es kann allerdings nicht oft genug
gegen Auslegungen Verwahrung eingelegt werden, die aus dieser
historischen Gegenüberstellung unmittelbare Schlüsse auf die
künstlerische Qualität einzelner Werke – sei es im bejahenden, sei
es im verneinenden Sinn – ziehen wollen.) Die weltanschauliche
Grundlage dieser Überlegenheit liegt in der klaren Einsicht, die die
sozialistische Weltanschauung, die Perspektive des Sozialismus für
die Literatur besitzt: die Möglichkeit, das gesellschaftliche Sein und
Bewußtsein, die Menschen und die menschlichen Beziehungen, die
Problematik des menschlichen Lebens und ihre Lösungen
umfassender und tiefer zu spiegeln und darzustellen, als es der
Literatur auf Grundlage früherer Weltanschauungen gegeben sein
konnte.« (S. 126) Künstlerische Qualität und künstlerische
Überlegenheit des sozialistischen Realismus wären demnach
zweierlei. Getrennt wird das literarisch Gültige an sich von dem
sowjetliterarisch Gültigen, das gewissermaßen durch einen
Gnadenakt des Weltgeistes dans le vrai sein soll. Solche
Doppelschlächtigkeit steht einem Denker, der pathetisch die Einheit
der Vernunft verteidigt, schlecht an. Erklärt er aber einmal die
Unausweichlichkeit jener Einsamkeit – kaum verschweigt er, daß
sie von der gesellschaftlichen Negativität, der universalen
Verdinglichung vorgezeichnet ist – und wird er zugleich Hegelisch
ihres objektiven Scheincharakters inne, so drängte der Schluß sich
auf, daß jene Einsamkeit, zu Ende getrieben, in ihr eigenes Negat
umschlage; daß das einsame Bewußtsein, indem es im Gestalteten
als das verborgene aller sich enthüllt, potentiell sich selbst aufhebe.
Genau das ist an den wahrhaft avantgardistischen Werken evident.
Sie objektivieren sich in rückhaltloser, monadologischer
Versenkung ins je eigene Formgesetz, ästhetisch und vermittelt
dadurch auch ihrem gesellschaftlichen Substrat nach. Das allein
verleiht Kafka, Joyce, Beckett, der großen neuen Musik ihre Gewalt.
In ihren Monologen hallt die Stunde, die der Welt geschlagen hat:
darum erregen sie so viel mehr, als was mitteilsam die Welt
schildert. Daß solcher Übergang zur Objektivität kontemplativ
bleibt, nicht praktisch wird, gründet im Zustand einer Gesellschaft,
in der real allerorten, trotz der Versicherung des Gegenteils, der
monadologische Zustand fortdauert. Überdies dürfte gerade der
klassizistische Lukács von Kunstwerken heute und hier kaum
erwarten, daß sie die Kontemplation durchbrächen. Seine
Proklamation der künstlerischen Qualität ist unvereinbar mit einem
Pragmatismus, der gegenüber der fortgeschrittenen und
verantwortlichen Produktion sich mit dem verhandlungslosen
Urteilsspruch »bürgerlich, bürgerlich, bürgerlich« benügte.
Lukács zitiert, zustimmend, meine Arbeit über das Altern der
neuen Musik, um meine dialektischen Überlegungen, paradox
ähnlich wie Sedlmayr, gegen die neue Kunst und gegen meine
eigene Absicht auszuschlachten. Das wäre ihm zu gönnen: »Wahr
sind nur die Gedanken, die sich selber nicht verstehen« 6 , und kein
Autor hat an ihnen Besitztitel. Aber die Argumentation Lukács'
entreißt diesen mir denn doch wohl nicht. Daß Kunst sich auf der
Spitze des reinen Ausdrucks, die unmittelbar identisch ist mit Angst,
nicht einrichten kann, stand in der ›Philosophie der neuen Musik‹ 7 ,
wenngleich ich nicht den offiziellen Optimismus Lukács' teile,
geschichtlich wäre zu solcher Angst heute weniger Anlaß; die
»dekadente Intelligenz« brauchte sich weniger zu fürchten. Über das
pure Dies der Expression hinausgehen kann jedoch weder
spannungslose, dinghafte Instaurierung eines Stils meinen, wie ich
sie der alternden neuen Musik vorwarf, noch den Sprung in eine im
Hegelschen Sinn nicht substantielle, nicht authentische, nicht vor
aller Reflexion die Form konstituierende Positivität. Die
Konsequenz aus dem Altern der neuen Musik wäre nicht der Rekurs
auf die veraltete, sondern ihre insistente Selbstkritik. Von Anbeginn
jedoch war die ungemilderte Darstellung der Angst zugleich auch
mehr als diese, ein Standhalten durchs Aussprechen, durch die Kraft
des unbeirrten Nennens: Gegenteil alles dessen, was die Hetzparole
»dekadent« an Assoziationen aufstachelt. Lukács hält immerhin der
von ihm gelästerten Kunst zugute, daß sie auf eine negative
Wirklichkeit, die Herrschaft des »Abscheulichen«, negativ antworte.
»Indem jedoch«, fährt er fort, »der Avantgardeismus alldies in
seiner verzerrten Unmittelbarkeit widerspiegelt, indem er Formen
ersinnt, die diese Tendenzen als alleinherrschende Mächte des
Lebens zum Ausdruck bringen, verzerrt er die Verzerrtheit über
deren Phänomenalität in der objektiven Wirklichkeit hinaus, läßt
alle Gegenkräfte und Gegentendenzen, die in ihr real wirksam sind,
als unbeträchtliche, als ontologisch nicht relevante verschwinden.«
(S. 84f.) Der offizielle Optimismus der Gegenkräfte und
Gegentendenzen nötigt Lukács, den Hegelschen Satz zu verdrängen,
die Negation der Negation – »Verzerrung der Verzerrung« – sei die
Position. Dieser erst bringt den fatal irrationalistischen Terminus
»Vielschichtigkeit« in der Kunst zu seiner Wahrheit: daß der
Ausdruck des Leidens und das Glück an der Dissonanz, das Lukács
als »Sensationslüsternheit, die Sehnsucht nach dem Neuen um des
Neuen willen« (S. 113) schmäht, in den authentischen neuen
Kunstwerken unauflöslich sich verschränken. Das wäre
zusammenzudenken mit jener Dialektik von ästhetischem Bereich
und Realität, der Lukács ausweicht. Indem das Kunstwerk nicht
unmittelbar Wirkliches zum Gegenstand hat, sagt es nie, wie
Erkenntnis sonst: das ist so, sondern: so ist es. Seine Logizität ist
nicht die des prädikativen Urteils, sondern der immanenten
Stimmigkeit: nur durch diese hindurch, das Verhältnis, in das es die
Elemente rückt, bezieht es Stellung. Seine Antithese zur
empirischen Realität, die doch in es fällt und in die es selber fällt, ist
gerade, daß es nicht, wie geistige Formen, die unmittelbar auf die
Realität gehen, diese eindeutig als dies oder jenes bestimmt. Es
spricht keine Urteile; Urteil wird es als Ganzes. Das Moment der
Unwahrheit, das nach Hegels Aufweis in jedem einzelnen Urteil
enthalten ist, weil nichts ganz das ist, was es im einzelnen Urteil
sein soll, wird insofern von der Kunst korrigiert, als das Kunstwerk
seine Elemente synthesiert, ohne daß das eine Moment vom anderen
ausgesagt würde: der heute im Schwang befindliche Begriff der
Aussage ist amusisch. Was als urteilslose Synthesis die Kunst an
Bestimmtheit im einzelnen einbüßt, gewinnt sie zurück durch
größere Gerechtigkeit dem gegenüber, was das Urteil sonst
wegschneidet. Zur Erkenntnis wird das Kunstwerk erst als Totalität,
durch alle Vermittlungen hindurch, nicht durch seine
Einzelintentionen. Weder sind solche aus ihm zu isolieren, noch ist
es nach ihnen zu messen. So aber verfährt Lukács prinzipiell, trotz
seines Protestes gegen die vereidigten Romanschreiber, die in ihrer
schriftstellerischen Praxis so verfahren. Während er das Inadäquate
an ihren Standardprodukten sehr wohl bemerkt, kann seine eigene
Kunstphilosophie jener Kurzschlüsse gar nicht sich erwehren, vor
deren Effekt, dem verordneten Schwachsinn, ihm dann schaudert.
Gegenüber der essentiellen Komplexität des Kunstwerks, die
nicht als akzidentieller Einzelfall zu bagatellisieren wäre, sperrt
Lukács krampfhaft die Augen zu. Wo er einmal auf spezifische
Dichtungen eingeht, streicht er rot an, was unmittelbar dasteht, und
verfehlt dadurch den Gehalt. Er lamentiert über ein gewiß recht
bescheidenes Gedicht von Benn, das lautet:
 
O daß wir unsere Ururahnen wären.
Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor.
Leben und Tod, Befruchtung und Gebären
glitte aus unseren stummen Säften vor.
 
Ein Algenblatt oder ein Dünenhügel,
vom Wind geformtes und nach unten schwer.
Schon ein Libellenkopf, ein Mövenflügel
wäre zu weit und litte schon zu sehr.
 
Daraus liest er »die Richtung auf ein jeder Gesellschaftlichkeit starr
gegenübergestelltes Urtümliches«, im Sinn von Heidegger, Klages
und Rosenberg, schließlich eine »Verherrlichung des Abnormalen;
einen Antihumanismus« (S. 32), während doch, selbst wenn man
das Gedicht durchaus mit seinem Inhalt identifizieren wollte, die
letzte Zeile Schopenhauerisch die höhere Stufe der Individuation als
Leiden anklagt und während die Sehnsucht nach der Urzeit bloß
dem unerträglichen Druck des Gegenwärtigen entspricht. Die
moralistische Farbe von Lukács' kritischen Begriffen ist die all
seiner Lamentationen über die subjektivistische »Weltlosigkeit«: als
hätten die Avantgardisten buchstäblich verübt, was in Husserls
Phänomenologie, grotesk genug, methodologische Weltvernichtung
heißt. So wird Musil angeprangert: »Der Held seines großen
Romans, Ulrich, antwortet auf die Frage, was er tun würde, wenn
das Weltregiment in seinen Händen wäre: ›Es würde mir nichts
übrig bleiben, als die Wirklichkeit abzuschaffen.‹ Daß die
abgeschaffte Wirklichkeit von der Seite der Außenwelt ein
Komplement zur subjektiven Existenz ›ohne Eigenschaften‹ ist,
bedarf keiner ausführlichen Erörterung.« (S. 23) Dabei meint der
inkriminierte Satz offensichtlich Verzweiflung, sich
überschlagenden Weltschmerz, Liebe in ihrer Negativität. Lukács
verschweigt das und operiert mit einem wirklich nun
»unmittelbaren«, gänzlich unreflektierten Begriff des Normalen,
und dem zugehörigen der pathologischen Verzerrung. Nur ein von
jedem Rest der Psychoanalyse glücklich gereinigter Geisteszustand
kann den Zusammenhang zwischen jenem Normalen und der
gesellschaftlichen Repression verkennen, welche die Partialtriebe
ächtete. Eine Gesellschaftskritik, die ungeniert von normal und
pervers daherredet, verharrt selbst im Bann dessen, was sie als
überwunden vorspiegelt. Lukács' Hegelianische,
kraftvoll-männliche Brusttöne über den Primat des substantiellen
Allgemeinen vor der scheinhaften, hinfälligen »schlechten
Existenz« bloßer Individuation mahnen an die von Staatsanwälten,
welche die Ausmerzung des Lebensuntüchtigen und der
Abweichung verlangen. Ihr Verständnis von Lyrik ist zu bezweifeln.
Die Zeile »O daß wir unsere Ururahnen wären« hat im Gedicht
einen völlig anderen Stellenwert, als wenn sie einen buchstäblichen
Wunsch ausdrückte. Im Wort »Ururahnen« ist Grinsen
mitkomponiert. Die Regung des poetischen Subjekts gibt sich –
übrigens eher altväterisch denn modern – durch die Stilisierung als
komisch uneigentlich, als schwermütiges Spiel. Gerade das
Abstoßende dessen, wohin der Dichter sich zurückzuwünschen
fingiert und wohin man sich gar nicht zurückwünschen kann,
verleiht dem Protest gegens geschichtlich produzierte Leiden
Nachdruck. All das will ebenso wie der montagehafte
»Verfremdungseffekt« im Gebrauch wissenschaftlicher Worte und
Motive bei Benn mitgefühlt werden. Durch Übertreibung
suspendiert er die Regression, die Lukács geradeswegs ihm
zuschreibt. Wer solche Obertöne überhört, ähnelt jenem subalternen
Schriftsteller sich an, der Thomas Manns Schreibweise beflissen
und geschickt nachahmte, und über den dieser einmal lachend sagte:
»Er schreibt genau wie ich, aber er meint es ernst.«
Simplifizierungen vom Typus des Lukács'schen Benn-Exkurses
verkennen nicht Nuancen, sondern mit diesen das Kunstwerk selber,
das erst durch die Nuancen eines wird. Sie sind symptomatisch für
die Verdummung, die auch den Klügsten widerfährt, sobald sie
Weisungen wie der zum sozialistischen Realismus parieren. Früher
schon hatte Lukács, um die moderne Dichtung des Faschismus zu
zeihen, triumphierend sich ein schlechtes Gedicht von Rilke
ausgesucht, um darin herumzuwüten wie der Elefant in der Wiener
Werkstätte. Offen bleibt, ob die bei Lukács spürbare Rückbildung
eines Bewußtseins, das einmal zum fortgeschrittensten rechnete,
objektiv den Schatten der drohenden Regression des europäischen
Geistes ausdrückt, jenen Schatten, den die unterentwickelten Länder
über die entwickelteren werfen, die bereits beginnen, an jenen sich
auszurichten; oder ob darin etwas über das Schicksal von Theorie
selber sich verrät, die nicht nur ihren anthropologischen
Voraussetzungen, also dem Denkvermögen der theoretischen
Menschen nach verkümmert, sondern deren Substanz auch objektiv
einschrumpft in einer Verfassung des Daseins, in der es mittlerweile
weniger auf die Theorie ankommt als auf Praxis, die unmittelbar
eins wäre mit der Verhinderung der Katastrophe.
Vor Lukács' Neo-Naivetät ist auch der umschmeichelte Thomas
Mann selbst, den er mit einem Pharisäismus gegen Joyce ausspielt,
vor dem es dem Epiker des Verfalls gegraust hätte, nicht gefeit. Die
von Bergson ausgelöste Kontroverse über die Zeit wird wie der
gordische Knoten traktiert. Da Lukács nun einmal ein guter
Objektivist ist, muß die objektive Zeit partout recht behalten und die
subjektive bloße Verzerrung aus Dekadenz sein. Die
Unerträglichkeit jener dinghaft entfremdeten, sinnleeren Zeit, die
der junge Lukács einmal an der Education sentimentale so
eindringlich beschrieb, hatte Bergson zur Theorie der Erlebniszeit
genötigt, nicht etwa, wie der staatsfromme Stumpfsinn jeglicher
Observanz sich das vorstellen mag, der Geist subjektivistischer
Zersetzung. Nun entrichtete aber auch Thomas Mann im Zauberberg
dem Bergsonschen temps durée seinen Tribut. Damit er für Lukács'
These vom kritischen Realismus gerettet wird, erhalten manche
Figuren aus dem Zauberberg eine gute Note, weil sie auch
»subjektiv ein normales, objektives Zeiterleben haben«. Dann heißt
es wörtlich: »Bei Ziemssen ist sogar die Ahnung einer Bewußtheit
vorhanden, daß das moderne Zeiterlebnis einfach eine Folge der
abnormalen, von der Alltagspraxis hermetisch getrennten
Lebensweise des Sanatoriums ist.« (S. 54) Die Ironie, unter der
insgesamt die Figur Ziemssens steht, ist dem Ästhetiker entgangen;
der sozialistische Realismus hat ihn selbst gegen den gepriesenen
kritischen abgestumpft. Der beschränkte Offizier, eine Art
nach-Goethischer Valentin, der als Soldat und brav, wenngleich im
Bett, stirbt, wird ihm unmittelbar zum Sprecher richtigen Lebens,
etwa so wie Tolstois Lewin geplant und mißlungen war. In Wahrheit
hat Thomas Mann ohne alle Reflexion, aber mit höchster
Sensibilität das Verhältnis der beiden Zeitbegriffe so zwiespältig
und doppelbödig dargestellt, wie es seiner Art und seinem
dialektischen Verhältnis zu allem Bürgerlichen gemäß ist: Recht
und Unrecht sind beide geteilt zwischen dem dinghaften
Zeitbewußtsein des Philisters, der vergebens aus dem Sanatorium in
seinen Beruf flüchtet, und der phantasmagorischen Zeit derer, die im
Sanatorium, der Allegorie von Bohème und romantischem
Subjektivismus, verbleiben. Weise hat Mann weder die beiden
Zeiten versöhnt noch für eine gestaltend Partei ergriffen.
Daß Lukács am ästhetischen Gehalt selbst seines Lieblingstextes
drastisch vorbeiphilosophiert, gründet in jenem vorästhetischen parti
pris für Stoff und Mitgeteiltes der Dichtungen, den er mit ihrer
künstlerischen Objektivität verwechselt. Während er sich um
Stilmittel wie jenes keineswegs allzu versteckte der Ironie,
geschweige denn um exponiertere, nicht kümmert, belohnt ihn für
solchen Verzicht kein vom subjektiven Schein gereinigter
Wahrheitsgehalt der Werke, sondern er wird mit ihrer kargen Neige
abgespeist, dem Sachgehalt, dessen sie freilich bedürfen, um den
Wahrheitsgehalt zu erlangen. So gern Lukács auch die Rückbildung
des Romans verhindern möchte, er betet Katechismusartikel nach
wie den sozialistischen Realismus, die weltanschaulich sanktionierte
Abbildtheorie der Erkenntnis und das Dogma von einem
mechanischen, nämlich von der unterdessen abgewürgten
Spontaneität unabhängigen Fortschritt der Menschheit, obwohl der
»Glauben an eine letzthinnige immanente Vernünftigkeit,
Sinnhaftigkeit der Welt, ihre Aufgeschlossenheit, Begreifbarkeit für
den Menschen« (S. 44) angesichts der irrevokabeln Vergangenheit
einiges zumutet. Dadurch nähert er sich zwangshaft doch wieder
jenen infantilen Vorstellungen von der Kunst, die ihm an den
minder versierten Funktionären peinlich sind. Vergebens sucht er
auszubrechen. Wie weit sein eigenes ästhetisches Bewußtsein
bereits beschädigt ist, verrät etwa eine Stelle über die Allegorese in
der byzantinischen Mosaikkunst: Kunstwerke dieses Typus von
ähnlich hohem Rang könnten in der Literatur »nur
Ausnahmeerscheinungen« (S. 42) sein. Als ob es in der Kunst, es sei
denn in der von Akademien und Konservatorien, den Unterschied
von Regel und Ausnahme überhaupt gäbe; als ob nicht alles
Ästhetische, als Individuiertes, dem eigenen Prinzip, der eigenen
Allgemeinheit nach immer Ausnahme wäre, während, was
unmittelbar einer allgemeinen Regelhaftigkeit entspricht, eben
dadurch als Gestaltetes bereits sich disqualifiziert.
Ausnahmeerscheinungen sind demselben Vokabular entlehnt wie
die Spitzenleistungen. Der verstorbene Franz Borkenau sagte nach
seinem Bruch mit der Kommunistischen Partei einmal, er hätte nicht
länger ertragen können, daß man über Stadtverordnetenbeschlüsse
in Kategorien der Hegelschen Logik und über die Hegelschen Logik
im Geist von Stadtverordnetenversammlungen verhandle.
Dergleichen Kontaminationen, die freilich bis auf Hegel selbst
zurückdatieren, ketten Lukács an jenes Niveau, das er so gern mit
seinem eigenen ausgliche. Die Hegelsche Kritik am »unglücklichen
Bewußtsein«, der Impuls der spekulativen Philosophie, das
scheinhafte Ethos der isolierten Subjektivität unter sich zu lassen,
wird ihm unter den Händen zur Ideologie für bornierte
Parteibeamte, die es zum Subjekt noch gar nicht gebracht haben.
Ihre gewalttätige Beschränktheit, Rückstand des Kleinbürgertums
vom neunzehnten Jahrhundert, erhöht er zu einer der Beschränktheit
bloßer Individualität enthobenen Angemessenheit ans Wirkliche.
Aber der dialektische Sprung ist keiner aus der Dialektik heraus, der
auf Kosten der objektiv gesetzten gesellschaftlichen und technischen
Momente der künstlerischen Produktion durch bloße Gesinnung das
unglückliche Bewußtsein in glückliches Einverständnis
verwandelte. Der vermeintlich höhere Standpunkt muß, nach einer
von Lukács kaum wohl bezweifelten Hegelschen Lehre, notwendig
abstrakt bleiben. Der desperate Tiefsinn, den er wider den
Schwachsinn der boy meets tractor-Literatur aufbietet, bewahrt ihn
denn auch nicht vor Deklamationen, abstrakt zugleich und kindisch:
»Je mehr der behandelte Stoff ein gemeinsamer ist, je mehr die
Schriftsteller von verschiedenen Seiten dieselben
Entwicklungsbedingungen und -richtungen derselben Wirklichkeit
erforschen, je stärker sich diese, mit allen geschilderten Trennungen,
in eine überwiegend oder rein sozialistische verwandelt, desto näher
muß der kritische Realismus dem sozialistischen kommen, desto
mehr muß sich seine negative (bloß: nicht ablehnende) Perspektive,
durch viele Übergänge, in eine positive (bejahende), in eine
sozialistische verwandeln.« (S. 125) Der jesuitische Unterschied
zwischen der negativen, nämlich »bloß nicht ablehnenden« und der
positiven, nämlich »bejahenden« Perspektive verlagert die Fragen
der literarischen Qualität genau in jene Sphäre vorschriftsmäßiger
Gesinnung, der Lukács entrinnen möchte.
An seinem Willen dazu freilich ist kein Zweifel. Man wird dem
Buch nur dann gerecht, wenn man sich vergegenwärtigt, daß in
Ländern, wo das Entscheidende nicht beim Namen genannt werden
darf, die Male des Terrors all dem eingebrannt sind, was anstelle
jenes Entscheidenden gesagt wird; daß aber andererseits dadurch
selbst unkräftige, halbe und abgebogene Gedanken in ihrer
Konstellation eine Kraft gewinnen, die sie à la lettre nicht besitzen.
Unter diesem Aspekt muß das gesamte dritte Kapitel gelesen
werden, trotz aller Disproportion des geistigen Aufwands zu den
behandelten Fragen. Zahlreiche Formulierungen brauchte man nur
weiter zu denken, um ins Freie zu kommen. So die folgende: »Eine
bloße Aneignung des Marxismus (gar nicht zu sprechen von einer
bloßen Teilnahme an der sozialistischen Bewegung, von einer
bloßen Parteizugehörigkeit) zählt allein, für sich genommen, so gut
wie nichts. Für die Persönlichkeit des Schriftstellers können die auf
solchen Wegen erworbenen Lebenserfahrungen, die durch sie
erweckten intellektuellen, moralischen etc. Fähigkeiten sehr
wertvoll werden, dazu beitragen, diese Möglichkeit in eine
Wirklichkeit zu verwandeln. Aber man ist in einem
verhängnisvollen Irrtum, wenn man meint, der Prozeß der
Umsetzung eines richtigen Bewußtseins in eine richtige, realistische,
künstlerische Widerspiegelung der Wirklichkeit sei prinzipiell
direkter und einfacher als der eines falschen Bewußtseins.« (S.
101f.) Oder, gegen den sterilen Empirismus des heute überall
gedeihenden Reportageromans: »Es ist ja auffallend, daß auch im
kritischen Realismus das Auftreten eines Ideals der
monographischen Komplettheit, etwa bei Zola, ein Zeichen der
inneren Problematik war, und wir werden später zu zeigen
versuchen, daß das Eindringen solcher Bestrebungen für den
sozialistischen Realismus noch problematischer geworden ist.« (S.
106) Urgiert Lukács in solchem Zusammenhang, mit der
Terminologie seiner Jugend, den Vorrang der intensiven Totalität
vor der extensiven, so brauchte er seine Forderung nur ins Gestaltete
selbst hineinzuverfolgen und würde zu eben dem genötigt, was er,
solange er ex cathedra doziert, den Avantgardisten verübelt; grotesk,
daß er trotzdem immer noch den »Antirealismus der Dekadenz«
»besiegen« will. Er kommt sogar einmal der Einsicht nahe, die
russische Revolution habe keineswegs einen Zustand herbeigeführt,
der eine »positive« Literatur verlange und trage: »Vor allem darf
man die sehr triviale Tatsache nicht vergessen, daß diese
Machtergreifung zwar einen ungeheuren Sprung vorstellt, daß aber
die Menschen in ihrer Mehrheit, also auch die Künstler, dadurch
allein noch keine wesentliche Umwandlung durchmachen.« (S. 112)
Gemildert zwar, als handele es sich um einen bloßen Auswuchs,
plaudert er danach doch aus, was es mit dem sogenannten
sozialistischen Realismus auf sich hat: »Es entsteht dabei eine
ungesunde und minderwertige Variante des bürgerlichen Realismus
oder wenigstens eine äußerst problematische Annäherung an seine
Ausdrucksmittel, wobei naturgemäß gerade dessen größte Tugenden
fehlen müssen.« (S. 127) In dieser Literatur werde der
»Wirklichkeitscharakter der Perspektive« verkannt. Das will sagen,
»daß viele Schriftsteller das, was zwar als eine in die Zukunft
weisende Tendenz, aber nur als eine solche vorhanden ist, die eben
darum, richtig aufgefaßt, den entscheidenden Standpunkt zur
Bewertung der gegenwärtigen Etappe ergeben könnte, einfach mit
der Wirklichkeit selbst identifizieren, die oft nur im Keime
vorhandenen Ansätze als vollentfaltete Realitäten darstellen, mit
einem Wort, daß sie Perspektive und Wirklichkeit einander
mechanisch gleichsetzen« (S. 128). Aus der terminologischen
Verschalung gelöst, heißt das nichts anderes, als daß die Prozeduren
des sozialistischen Realismus und der von Lukács als deren
Komplement erkannten sozialistischen Romantik ideologische
Verklärung eines schlechten Bestehenden sind. Der offizielle
Objektivismus totalitärer Literaturbetrachtung erweist sich für
Lukács als selber bloß subjektiv. Ihm kontrastiert er einen
menschenwürdigeren ästhetischen Objektivitätsbegriff: »Denn die
Formgesetze der Kunst, in allen ihren komplizierten
Wechselbeziehungen von Inhalt und Form, von Weltanschauung
und ästhetischem Wesen etc., sind ebenfalls von objektiver
Wesensart. Ihre Verletzung hat zwar keine derart unmittelbaren
praktischen Konsequenzen wie das Mißachten der Gesetze der
Ökonomie, sie bringt aber ebenso zwangsläufig problematische, ja
einfach mißlungene, minderwertige Werke hervor.« (S. 129) Hier,
wo der Gedanke die Courage zu sich selbst hat, fällt Lukács weit
triftigere Urteile als die banausischen über die moderne Kunst: »Das
Zerreißen der dialektischen Vermittlungen bringt dadurch sowohl in
der Theorie wie in der Praxis eine falsche Polarisation hervor: auf
dem einen Pole erstarrt das Prinzip aus einer ›Anleitung zur Praxis‹
zu einem Dogma, auf der anderen verschwindet das Moment der
Widersprüchlichkeit (oft auch das der Zufälligkeit) aus den
einzelnen Lebenstatsachen.« (S. 130) Er nennt bündig das Zentrale:
»Die literarische Lösung wächst also nicht aus der
widerspruchsvollen Dynamik des gesellschaftlichen Lebens heraus,
sie soll vielmehr zur Illustration einer im Vergleich zu ihr abstrakten
Wahrheit dienen.« (S. 132) Schuld daran sei die »Agitation als
Urform«, als Vorbild von Kunst und Gedanken, die dadurch
erstarren, einschrumpfen, praktizistisch-schematisch werden. »An
Stelle einer neuen Dialektik steht eine schematische Statik vor uns.«
(S. 135) Kein Avantgardist hätte dem etwas hinzuzufügen.
Bei all dem bleibt das Gefühl von einem, der hoffnungslos an
seinen Ketten zerrt und sich einbildet, ihr Klirren sei der Marsch des
Weltgeistes. Ihn verblendet nicht nur die Macht, die, wenn sie
überhaupt den unbotmäßigen Gedanken Lukács' Raum gewährt, sie
kaum kulturpolitisch beherzigen wird. Sondern die Kritik Lukács'
bleibt in dem Wahn befangen, die heutige russische Gesellschaft,
die in Wahrheit unterdrückt und ausgepreßt wird, sei, wie man es in
China ausgeklügelt hat, zwar noch widerspruchsvoll, aber nicht
antagonistisch. All die Symptome, gegen die er protestiert, werden
selber hervorgebracht von dem propagandistischen Bedürfnis der
Diktatoren und ihres Anhangs danach, jene These, die Lukács mit
dem Begriff des sozialistischen Realismus implizit billigt, den
Massen einzuhämmern und aus dem Bewußtsein zu vertreiben, was
immer sie irr machen könnte. Die Herrschaft einer Doktrin, die so
reale Funktionen erfüllt, wird nicht gebrochen, indem man ihre
Unwahrheit dartut. Lukács zitiert einen zynischen Satz von Hegel,
der den sozialen Sinn des Prozesses ausspricht, wie ihn der ältere
bürgerliche Erziehungsroman beschreibt: »›Denn das Ende solcher
Lehrjahre besteht darin, daß sich das Subjekt die Hörner abläuft, mit
seinem Wünschen und Meinen sich in die bestehenden Verhältnisse
und die Vernünftigkeit derselben hineinbildet, in die Verkettung der
Welt eintritt und in ihr sich einen angemessenen Standpunkt
erwirbt.‹« (S. 122) Daran schließt Lukács die Reflexion an: »In
einem bestimmten Sinn widersprechen viele der besten bürgerlichen
Romane dieser Feststellung Hegels, in einem anderen, ebenso
bestimmten Sinn bestätigen sie wiederum seine Aussage. Sie
widersprechen, indem der Abschluß der von ihnen gestalteten
Erziehung keineswegs immer eine derartige Anerkennung der
bürgerlichen Gesellschaft beinhaltet. Der Kampf um eine den
Jugendträumen und Überzeugungen entsprechende Wirklichkeit
wird von der gesellschaftlichen Gewalt abgebrochen, die Rebellen
oft auf die Knie, oft zur Flucht in die Einsamkeit etc. gezwungen,
aber die Hegelsche Versöhnung wird doch nicht von ihnen erpreßt.
Allerdings, indem der Kampf mit Resignation endet, kommt sein
Ergebnis dem Hegelschen doch nahe. Denn einerseits siegt die
objektive soziale Realität dann doch über das bloß Subjektive der
individuellen Bestrebungen, andererseits ist die von Hegel
proklamierte Versöhnung schon bei diesem einer Resignation
keineswegs völlig fremd.« (a.a.O.) Das Postulat einer ohne Bruch
zwischen Subjekt und Objekt darzustellenden und um solcher
Bruchlosigkeit willen, nach Lukács' hartnäckigem Sprachgebrauch,
»widerzuspiegelnden« Wirklichkeit jedoch, das oberste Kriterium
seiner Ästhetik, impliziert, daß jene Versöhnung geleistet, daß die
Gesellschaft richtig ist; daß das Subjekt, wie Lukács in einem
anti-asketischen Exkurs einräumt, zu dem Seinen komme und in
seiner Welt zu Hause sei. Nur dann verschwände aus der Kunst
jenes Moment von Resignation, das Lukács an Hegel gewahrt und
das er erst recht am Urbild seines Begriffs von Realismus, an
Goethe, konstatieren müßte, der Entsagung verkündigte. Aber die
Spaltung, der Antagonismus überdauert, und es ist bloße Lüge, daß
er in den Oststaaten, wie sie das so nennen, überwunden sei. Der
Bann, der Lukács umfängt und ihm die ersehnte Rückkunft zur
Utopie seiner Jugend versperrt, wiederholt die erpreßte Versöhnung,
die er am absoluten Idealismus durchschaut.
 Fußnoten
 
1 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie
(Rohentwurf) 1857–1858, Berlin 1953, S. 111.
 
2 Karl Marx, Rezension der Schrift von G.F. Daumer, Die Religion
des neuen Weltalters, Hamburg 1850; in; Neue Rheinische Zeitung,
Nachdruck Berlin 1955, S. 107.
 
3 Georg Lukács, Gesunde oder kranke Kunst?, in: Georg Lukács
zum siebzigsten Geburtstag, Berlin 1955, S. 243f.
 
4 Vgl. Balzac-Lektüre, oben S. 139f.
 
5 Vgl. Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, 2. Aufl.,
Frankfurt a.M. 1958, S. 49ff. [GS 12, s. S. 51f.]
 
6 Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Frankfurt a.M. 1951, S.
364 [GS 4, s. S. 218].
 
7 Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, a.a.O., S. 51f.
[GS 12, s. S. 52f.].
 
 Versuch, das Endspiel zu verstehen
To S.B. in memory of Paris, Fall 1958
 
Becketts oeuvre hat manches mit dem Pariser Existentialismus
gemeinsam. Reminiszenzen an die Kategorie der Absurdität, der
Situation, der Entscheidung oder deren Gegenteil durchwachsen es
wie mittelalterliche Ruinen Kafkas ungeheures Vorstadthaus;
zuweilen fliegen die Fenster auf und öffnen den Durchblick auf den
schwarzen sternlosen Himmel von etwas wie Anthropologie. Aber
die Form, bei Sartre als eine von Thesenstücken einigermaßen
traditionalistisch, keineswegs waghalsig, sondern auf Wirkung
bedacht, holt bei Beckett das Ausgedrückte ein und verändert es.
Die Impulse werden auf den Stand der avanciertesten künstlerischen
Mittel gebracht, die von Joyce und Kafka. Absurdität ist ihm keine
zur Idee verdünnte und dann bebilderte Befindlichkeit des Daseins
mehr. Das dichterische Verfahren überläßt sich ihr intentionslos. Sie
wird jener Allgemeinheit der Lehre entäußert, die sie im
Existentialismus, der Doktrin von der Unauflöslichkeit des
einzelnen Daseienden, gleichwohl mit dem abendländischen Pathos
des Allgemeinen und Bleibenden verband. Dadurch wird der
existentialistische Konformismus, man solle sein, was man ist,
aufgekündigt samt der Umgänglichkeit der Darstellung. Was
Beckett an Philosophie aufbietet, depraviert er selber zum
Kulturmüll, nicht anders als die ungezählten Anspielungen und
Bildungsfermente, die er im Gefolge der angelsächsischen Tradition
der Avantgarde zumal von Joyce und Eliot verwendet. Ihm wuselt
Kultur wie dem Fortschritt vor ihm das Gekröse von
Jugendstilornamenten, Modernismus als das Veraltete an Moderne.
Die regredierende Sprache demoliert es. Solche Sachlichkeit tilgt
bei Beckett den Sinn, der Kultur war, und dessen Rudimente. So
beginnt sie zu fluoreszieren. Er vollstreckt dabei eine Tendenz des
neueren Romans. Was nach dem Kulturkriterium ästhetischer
Immanenz als abstrakt verfemt war, die Reflexion, wird mit der
reinen Darstellung zusammenmontiert, das Flaubertsche Prinzip der
rein in sich geschlossenen Sache angefressen. Je weniger
Geschehnisse als an sich sinnvoll supponiert werden können, um so
mehr wird die Idee der ästhetischen Gestalt als einer Einheit von
Erscheinendem und Gemeintem zur Illusion. Ihrer entschlägt sich
Beckett, indem er beide Momente als disparate verkoppelt. Der
Gedanke wird ebenso zum Mittel, einen nicht unmittelbar zu
versinnlichenden Sinn des Gebildes herzustellen, wie zum Ausdruck
seiner Absenz. Angewandt aufs Drama ist das Wort Sinn
mehrdeutig. Es deckt gleichermaßen den metaphysischen Gehalt,
der objektiv in der Komplexion des Artefakts sich darstellt; die
Intention des Ganzen als eines Sinnzusammenhangs, den es von sich
aus bedeutet; schließlich den Sinn der Worte und Sätze, welche die
Personen sprechen, und den ihrer Abfolge, den dialogischen. Aber
diese Äquivokationen verweisen auf ein Gemeinsames. Aus ihm
wird in Becketts Endspiel ein Kontinuum. Geschichtsphilosophisch
ist es getragen von einer Veränderung des dramatischen Apriori: daß
kein positiver metaphysischer Sinn derart mehr substantiell ist,
wenn anders er es je war, daß die dramatische Form ihr Gesetz hätte
an ihm und seiner Epiphanie. Das jedoch zerrüttet die Form bis ins
sprachliche Gefüge hinein. Das Drama vermag nicht einfach negativ
Sinn oder die Absenz von ihm als Gehalt zu ergreifen, ohne daß
dabei alles ihm Eigentümliche bis zum Umschlag ins Gegenteil
betroffen würde. Was dem Drama wesentlich ist, war konstituiert
durch jenen Sinn. Wollte es ihn ästhetisch überleben, so geriete es
inadäquat zum Gehalt, würde zur klappernden Maschinerie
weltanschaulicher Demonstration herabgesetzt wie vielfach in den
existentialistischen Stücken. Die Explosion des metaphysischen
Sinnes, der allein die Einheit des ästhetischen Sinnzusammenhangs
garantierte, läßt diesen mit einer Notwendigkeit und Strenge
zerbröckeln, die der des überlieferten dramaturgischen Formkanons
nicht nachsteht. Einstimmiger ästhetischer Sinn, vollends dessen
Subjektivierung in einer handfesten, tangiblen Intention, surrogierte
eben jene transzendente Sinnhaftigkeit, deren Dementi selbst den
Gehalt ausmacht. Die Handlung muß durch die eigene organisierte
Sinnlosigkeit dem sich anbilden, was in dem Wahrheitsgehalt von
Dramatik überhaupt sich zutrug. Solche Konstruktion des Sinnlosen
hält auch nicht inne vor den sprachlichen Molekülen: wären sie, und
ihre Verbindungen, rational sinnhaft, so synthesierten sie im Drama
unabdingbar sich zu jenem Sinnzusammenhang des Ganzen, den das
Ganze verneint. Die Interpretation des Endspiels kann darum nicht
der Schimäre nachjagen, seinen Sinn philosophisch vermittelt
auszusprechen. Es verstehen kann nichts anderes heißen, als seine
Unverständlichkeit verstehen, konkret den Sinnzusammenhang
dessen nachkonstruieren, daß es keinen hat. Abgespalten,
prätendiert der Gedanke darin nicht länger, wie einst die Idee, Sinn
des Gebildes selber zu sein; Transzendenz, die von seiner Immanenz
erzeugt und garantiert würde. Statt dessen verwandelt er sich in eine
Art Stoff zweiten Grades, so wie die Philosopheme, die in Thomas
Manns Zauberberg und Doktor Faustus vorgetragen werden, gleich
Stoffen ihr Schicksal haben, das jene sinnliche Unmittelbarkeit
ersetzt, welche in dem in sich reflektierten Kunstwerk sich
herabmindert. War bislang solche Stofflichkeit des Gedankens
weithin unfreiwillig, die Not von Werken, die sich zwangsläufig mit
der ihnen unerreichbaren Idee verwechselten, so stellt Beckett sich
der Herausforderung und benutzt Gedanken sans phrase als Phrasen,
Teilmaterialien des monologue intérieur, zu denen Geist selber
wurde, dinghafter Rückstand von Bildung. Hat der vor-Beckettsche
Existentialismus, wie wenn er der leibhaftige Schiller wäre,
Philosophie als poetischen Vorwurf ausgeschlachtet, so präsentiert
Beckett, gebildeter als irgendeiner, ihm die Rechnung: Philosophie,
Geist selber deklariert sich als Ladenhüter, traumhafter Abhub der
Erfahrungswelt, und der dichterische Prozeß als Verschleiß. Degout,
seit Baudelaire künstlerische Produktivkraft, ist in Becketts
historisch vermittelten Regungen unersättlich. Was alles nicht mehr
geht, wird zum Kanon, der ein Motiv der Vorgeschichte des
Existentialismus, Husserls universale Weltvernichtung, aus dem
Schattenreich der Methodologie erlöst. Totalitäre wie Lukács, die
gegen den wahrhaft schrecklichen Vereinfacher als dekadent wüten,
sind vom Interesse ihrer Chefs nicht schlecht beraten. Sie hassen an
Beckett, was sie verrieten. Nur die nausea der Übersättigung, das
taedium des Geistes an sich selber will, was ganz anders wäre; die
verordnete Gesundheit jedoch nimmt mit der angebotenen Nahrung
vorlieb, mit Hausmannskost. Becketts Degout läßt sich nicht
nötigen. Auf die Ermunterung mitzuhalten, antwortet er mit Parodie,
der der Philosophie, die seine Dialoge ausspuckt, nicht anders als
der der Formen. Parodiert ist der Existentialismus selber; von seinen
Invarianten nichts übrig als das Existenzminimum. Die Opposition
des Dramas gegen Ontologie als den Entwurf eines wie immer auch
Ersten und Bleibenden wird unmißverständlich an einer
Dialogstelle, die ungewollt dem Wort Goethes vom alten Wahren
eine Fratze schneidet, das zu allbürgerlicher Gesinnung verkam:
HAMM: Erinnerst du dich an deinen Vater?
CLOV (überdrüssig): Dieselbe Replik. (Pause) Du hast mir
diese Frage millionenmal gestellt.
HAMM: Ich liebe die alten Fragen. (Schwungvoll) Ah, die alten
Fragen, die alten Antworten, da geht nichts drüber! 1
Gedanken werden mitgeführt und entstellt wie Tagesreste, homo
homini sapienti sat. Daher das Mißliche dessen, womit sich zu
beschäftigen Beckett ablehnt, seiner Interpretation. Er zuckt die
Achseln über die Möglichkeit von Philosophie heute, von Theorie
überhaupt. Die Irrationalität der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer
Spätphase ist widerspenstig dagegen, sich begreifen zu lassen; das
waren noch gute Zeiten, als eine Kritik der politischen Ökonomie
dieser Gesellschaft geschrieben werden konnte, die sie bei ihrer
eigenen ratio nahm. Denn sie hat diese mittlerweile zum alten Eisen
geworfen und virtuell durch unmittelbare Verfügung ersetzt. Das
deutende Wort bleibt deshalb unvermeidlich hinter Beckett zurück,
während doch seine Dramatik gerade vermöge ihrer Beschränkung
auf abgesprengte Faktizität über diese hinauszuckt, durch ihr
Rätselwesen auf Interpretation verweist. Fast könnte man es zum
Kriterium einer fälligen Philosophie machen, ob sie dem gewachsen
sich zeigt.
Der französische Existentialismus hatte die Geschichte
angepackt. Diese verschlingt bei Beckett den Existentialismus. Im
Endspiel entfaltet sich ein historischer Augenblick, die Erfahrung,
die im Titel des kulturindustriellen Schundbuchs ›Kaputt‹ notiert
war. Nach dem Zweiten Krieg ist alles, auch die auferstandene
Kultur zerstört, ohne es zu wissen; die Menschheit vegetiert
kriechend fort nach Vorgängen, welche eigentlich auch die
Überlebenden nicht überleben können, auf einem Trümmerhaufen,
dem es noch die Selbstbesinnung auf die eigene Zerschlagenheit
verschlagen hat. Das wird dem Markt, als pragmatische
Voraussetzung des Stücks, entrissen:
CLOV (er steigt auf die Leiter und richtet das Fernglas nach
draußen): Mal sehen ... (Er schaut, indem er das Fernglas hin
und her schwenkt.) Nichts ... (er schaut) ... und nichts ... (er
schaut) ... und wieder nichts. (Er läßt das Fernglas sinken und
wendet sich Hamm zu.) Na? Beruhigt?
HAMM: Nichts rührt sich. Alles ist ...
CLOV: Ni ...
HAMM (heftig): Ich rede nicht mit dir! (Normale Stimme.)
Alles ist ... alles ist ... alles ist was? (Heftig) Alles ist was?
CLOV: Was alles ist? In einem Wort? Das ist es, was du wissen
willst? Moment mal. (Er richtet das Fernglas nach draußen,
schaut, läßt das Fernglas sinken und wendet sich Hamm zu.)
Kaputt! 2
Daß alle Menschen tot seien, ist unter der Hand eingeschmuggelt.
Eine frühere Passage motiviert, warum die Katastrophe nicht
erwähnt werden darf. Hamm ist vaguement selber schuld daran:
HAMM: Er ist natürlich tot, der alte Arzt.
CLOV: Er war nicht alt.
HAMM: Aber er ist tot.
CLOV: Natürlich. (Pause) Und DU fragst mich das? 3
Der im Stück gegebene Zustand aber ist kein anderer als der, in dem
es »keine Natur mehr gibt« 4 . Ununterscheidbar die Phase der
vollendeten Verdinglichung der Welt, die nichts mehr übrig läßt,
was nicht von Menschen gemacht wäre, die permanente
Katastrophe, und ein zusätzlich von Menschen eigens bewirkter
Katastrophenvorgang, in dem Natur getilgt ward und nach dem
nichts mehr wächst:
HAMM: Sind deine Körner aufgegangen?
CLOV: Nein.
HAMM: Hast du ein wenig gescharrt, um zu sehen, ob sie
gekeimt haben?
CLOV: Sie haben nicht gekeimt.
HAMM: Es ist vielleicht noch zu früh.
CLOV: Wenn sie keimen müßten, hätten sie gekeimt, sie
werden nie keimen. 5
Die dramatis personae gleichen solchen, die den eigenen Tod
träumen, in einem »Unterschlupf«, in dem es doch »Zeit wird, daß
es endet« 6 . Der Weltuntergang ist diskontiert, als wäre er
selbstverständlich. Jedes vermeintliche Drama des Atomzeitalters
wäre Hohn auf sich selbst, allein schon, weil seine Fabel das
historische Grauen der Anonymität, indem sie es in Charaktere und
Handlungen von Menschen hineinschiebt, tröstlich verfälscht und
womöglich die Prominenten anstaunt, die darüber befinden, ob auf
den Knopf gedrückt wird. Die Gewalt des Unsäglichen wird
nachgeahmt von der Scheu, es zu erwähnen. Beckett hält es nebulos.
Über das aller Erfahrung Inkommensurable läßt nur euphemistisch
sich reden, so wie man in Deutschland von der Ermordung der
Juden spricht. Es ist zum totalen Apriori geworden, so daß das
zerbombte Bewußtsein keinen Ort mehr hat, von dem aus es darauf
sich besinnen könnte. Der desperate Stand der Dinge liefert in
grausiger Ironie ein Stilisationsmittel, das jene pragmatische
Voraussetzung vor der Kontamination mit kindischer Science
Fiction schützt. Hätte wirklich Clov, wie sein mit common sense
nörgelnder Gefährte ihm vorwirft, übertrieben, so änderte das
wenig. Der partielle Weltuntergang, auf den dann die Katastrophe
hinausliefe, wäre ein schlechter Witz; die Natur, von der die
Eingesperrten abgeschieden sind, schon so gut, als wäre sie gar
nicht mehr da; was von ihr übrig ist, verlängert bloß die Qual.
Dies historische Notabene jedoch, die Parodie des
Kierkegaardschen der Berührung von Zeit und Ewigkeit, verhängt
zugleich ein Tabu über die Geschichte. Was nach
existentialistischem Jargon die condition humaine wäre, ist das Bild
des letzten Menschen, das die früheren, Humanität, frißt. Die
Existentialontologie behauptet Allgemeingültiges in einem seiner
selbst unbewußten Prozeß von Abstraktion. Während sie immer
noch, nach der alten phänomenologischen These von der
Wesensschau, sich gebärdet, als ob sie ihrer verpflichtenden
Bestimmungen im Besonderen gewahr würde und dadurch
Apriorität und Konkretheit mit einem Zauberschlag vereinte,
destilliert sie, was ihr überzeitlich dünkt, heraus, indem sie eben
jenes Besondere, in Raum und Zeit Individuierte durchstreicht, als
welches Existenz Existenz ist und nicht deren bloßer Begriff. Sie
wirbt um die, welche des philosophischen Formalismus überdrüssig
sind und doch an das sich klammern, was einzig formal sich haben
läßt. Zu solcher uneingestandenen Abstraktion setzt Beckett die
schneidende Antithese durch eingestandene Subtraktion. Er läßt
nicht das Zeitliche an der Existenz fort, die doch nur zeitlich eine
wäre, sondern zieht von ihr ab, was die Zeit – die geschichtliche
Tendenz – real zu kassieren sich anschickt. Er verlängert die
Fluchtbahn der Liquidation des Subjekts bis zu dem Punkt, wo es in
ein Diesda sich zusammenzieht, dessen Abstraktheit, der Verlust
aller Qualität, die ontologische buchstäblich ad absurdum führt, zu
jenem Absurden, in das bloße Existenz umschlägt, sobald sie in
ihrer nackten sich selbst Gleichheit aufgeht. Kindische Albernheit
tritt als Gehalt der Philosophie hervor, die zur Tautologie, zur
begrifflichen Verdopplung der Existenz degeneriert, welche sie zu
begreifen vorhatte. Lebte die neuere Ontologie von dem unerfüllten
Versprechen der Konkretion ihrer Abstrakta, so wird in Beckett der
Konkretismus der muschelhaft in sich verbackenen, keines
Allgemeinen mehr fähigen, in purer Selbstsetzung sich
erschöpfenden Existenz offenbar als das Gleiche wie der
Abstraktismus, der es zur Erfahrung nicht mehr bringt. Ontologie
kommt nach Hause als Pathogenese des falschen Lebens. Dargestellt
wird es als Stand negativer Ewigkeit. Hat einmal der messianische
Myschkin seine Uhr vergessen, weil ihm keine irdische Zeit gilt, so
ist seinen Antipoden die Zeit verloren, weil sie noch Hoffnung hätte.
Die gähnende Konstatierung Gelangweilter, das Wetter sei »wie
gewöhnlich« 7 , öffnet ihren Höllenschlund:
HAMM: Aber es ist immer so abends, nicht wahr, Clov?
CLOV: Immer.
HAMM: Es ist ein Abend wie jeder andere, nicht wahr, Clov?
CLOV: Es scheint so. 8
Gleich der Zeit ist das Zeitliche versehrt; zu sagen, es gäbe es nicht
mehr, wäre schon zu tröstlich. Es ist und ist nicht, wie für den
Solipsisten der Welt, deren Existenz er bezweifelt, während er sie
mit jedem Satz konzedieren muß. So schwebt eine Dialogstelle:
HAMM: Und der Horizont? Nichts am Horizont?
CLOV (das Fernglas absetzend, sich Hamm zuwendend, voller
Ungeduld): Was soll denn schon am Horizont sein?
Pause.
HAMM: Die Wogen, wie sind die Wogen?
CLOV: Die Wogen? (Er setzt das Fernglas an.) Aus Blei.
HAMM: Und die Sonne?
CLOV (schauend): Keine.
HAMM: Sie müßte eigentlich gerade untergehen. Schau gut
nach.
CLOV (nachdem er nachgeschaut hat): Denkste.
HAMM: Es ist also schon Nacht?
CLOV (schauend): Nein.
HAMM: Was denn?
CLOV (schauend): Es ist grau. (Er setzt das Fernglas ab und
wendet sich Hamm zu. Lauter.) Grau! (Pause. Noch lauter.)
GRAU! 9
Geschichte wird ausgespart, weil sie die Kraft des Bewußtseins
ausgetrocknet hat, Geschichte zu denken, die Kraft zur Erinnerung.
Das Drama verstummt zum Gestus, erstarrt mitten in den Dialogen.
Von Geschichte erscheint bloß noch deren Resultat als Neige. Was
bei den Existentialisten zum Ein für allemal des Daseins sich
aufplusterte, ist geschrumpft zur Spitze des Historischen, die
abbricht. Der Einwand von Lukács, bei Beckett seien die Menschen
auf ihre Tierheit reduziert 10 , sperrt mit offiziellem Optimismus sich
dagegen, daß aus den Residualphilosophien, die nach Abzug des
zeitlich Zufälligen das Wahre und Unvergängliche sich gutschreiben
möchten, das Residuum des Lebens geworden ist, das Fazit der
Beschädigung. So unsinnig freilich wie, mit Lukács, Beckett eine
abstrakt-subjektivistische Ontologie zu unterschieben und dann
diese, um ihrer Weltlosigkeit und Infantilität willen, auf den
ausgekramten Index entarteter Kunst zu setzen, wäre es, ihn als
politischen Kronzeugen aufzurufen. Zum Kampf gegen den
Atomtod ermuntert schwerlich ein Werk, das dessen Potential schon
dem ältesten Kampf anmerkt. Der Simplificateur des Schreckens
weigert sich, anders als Brecht, der Simplifikation. Er ist ihm aber
gar nicht so unähnlich insofern, als seine Differenziertheit zur
Empfindlichkeit gegen subjektive Differenzen wird, die zur
conspicuous consumption derer verkamen, welche Individuation
sich leisten können. Daran ist ein sozial Wahres. Differenziertheit
kann nicht absolut, unbesehen als positiv gebucht werden. Die
Vereinfachung des Sozialprozesses, die sich anbahnt, relegiert sie zu
den faux frais, etwa so, wie die Umständlichkeiten sozialer Formen,
an denen Differenzierungsvermögen sich bildete, verschwinden.
Was die Bedingung von Humanität war, Differenziertheit, gleitet in
die Ideologie. Aber das unsentimentale Bewußtsein davon bildet
nicht selbst sich zurück. Im Akt des Weglassens überlebt das
Weggelassene als Vermiedenes wie in der atonalen Harmonik die
Konsonanz. Der Stumpfsinn des Endspiels wird mit höchster
Differenziertheit protokolliert und ausgehört. Die protestlose
Darstellung allgegenwärtiger Regression protestiert gegen eine
Verfassung der Welt, die so willfährig dem Gesetz von Regression
gehorcht, daß sie eigentlich schon über keinen Gegenbegriff mehr
verfügt, der jener vorzuhalten wäre. Gewacht wird darüber, daß es
nur so und nicht anders sei, ein fein klingelndes Alarmsystem
meldet, was zur Topographie des Stücks stimmt und was nicht.
Beckett verschweigt aus Zartheit das Zarte nicht minder als das
Brutale. Die Eitelkeit des Einzelnen, der die Gesellschaft anklagt,
während sein Recht in die Akkumulation des Unrechts aller
Einzelnen, das Unheil, selbst eingeht, manifestiert sich an peinlichen
Deklamationen wie dem Deutschlandgedicht von Karl Wolfskehl.
Das Zu spät, der versäumte Augenblick verdammt solche aufrufende
Rhetorik zur Phrase. Nichts dergleichen in Beckett. Noch die
Ansicht, er stelle negativ die Negativität des Zeitalters dar, paßte in
jenes Konzept, dem zufolge man in den östlichen Satellitenländern,
wo die Revolution als Verwaltungsakt durchgeführt ward,
frisch-fröhlich nun der Spiegelung eines frischfröhlichen Zeitalters
sich widmen muß. Das aller Spiegelbildlichkeit ledige Spiel mit
Elementen der Realität, das keine Stellung bezieht und in solcher
Freiheit, als der vom verordneten Betrieb, sein Glück findet, enthüllt
mehr, als wenn ein Enthüller Partei nimmt. Schweigend nur ist der
Name des Unheils auszusprechen. Im Grauen des letzten zündet das
des Ganzen; aber einzig darin, nicht im Blick auf Ursprünge. Der
Mensch, dessen allgemeiner Gattungsname schlecht in Becketts
Sprachlandschaft paßt, ist ihm einzig das, was er wurde. Über die
Gattung entscheidet ihr jüngster Tag wie in der Utopie. Aber im
Geist muß noch die Klage darüber sich reflektieren, daß nicht mehr
sich klagen läßt. Kein Weinen schmilzt den Panzer, übrig ist nur das
Gesicht, dem die Tränen versiegten. Das liegt auf dem Grunde eines
künstlerischen Verhaltens, wie es jene als inhuman denunzieren,
deren Menschlichkeit bereits in Reklame fürs Unmenschliche
übergegangen ist, auch wenn sie es noch gar nicht ahnen. Unter den
Motiven von Becketts Reduktion auf den vertierten Menschen ist
das wohl das innerste. Am Absurden seiner Dichtung hat teil, daß
sie ihr Antlitz verhüllt.
Die Katastrophen, die das Endspiel inspirieren, haben jenen
Einzelnen aufgesprengt, dessen Substantialität und Absolutheit das
Gemeinsame zwischen Kierkegaard, Jaspers und der Sartreschen
Version des Existentialismus war. Diese hatte noch dem Opfer der
Konzentrationslager die Freiheit bescheinigt, was an Marter ihm
angetan wird, innerlich anzunehmen oder zu verneinen. Das
Endspiel zerstört derlei Illusionen. Der Einzelne selbst ist als
geschichtliche Kategorie, Resultat des kapitalistischen
Entfremdungsprozesses und trotziger Einspruch dagegen, als ein
wiederum Vergängliches offenbar geworden. Die individualistische
Position gehörte polar zum ontologischen Ansatz eines jeglichen
Existentialismus, auch dessen von ›Sein und Zeit‹. Becketts
Dramatik verläßt sie wie einen altmodischen Bunker. Nirgendwoher
empfing die individuelle Erfahrung in ihrer Enge und Zufälligkeit
die Autorität, sie selbst als Chiffre des Seins auszulegen, es sei
denn, sie behauptete sich selbst als Grundcharakter des Seins.
Gerade das aber ist die Unwahrheit. Die Unmittelbarkeit der
Individuation trog; das, woran einzelmenschliche Erfahrung haftet,
ist vermittelt, bedingt. Das Endspiel unterstellt, daß Autonomie- und
Seinsanspruch des Individuums unglaubwürdig ward. Aber während
das Gefängnis der Individuation als Gefängnis und Schein zugleich
durchschaut wird – das Bühnenbild ist die imago solcher
Selbstbesinnung –, vermag doch Kunst den Bann der abgespaltenen
Subjektivität nicht zu lösen; einzig den Solipsismus zu
versinnlichen. Beckett stößt damit auf ihre gegenwärtige Antinomie.
Die Position des absoluten Subjekts, einmal aufgeknackt als
Erscheinung eines übergreifenden und sie überhaupt erst zeitigenden
Ganzen, ist nicht zu halten: der Expressionismus veraltet. Aber der
Übergang in die verpflichtende Allgemeinheit gegenständlicher
Realität, die dem Schein der Individuation Einhalt geböte, ist der
Kunst verwehrt. Denn anders als die diskursive Erkenntnis des
Wirklichen, von der sie nicht graduell sondern kategorial getrennt
ist, gilt in ihr nur das, was in den Stand von Subjektivität
eingebracht, was dieser kommensurabel ist. Versöhnung, ihre Idee,
vermag sie zu konzipieren einzig als die zwischen dem
Entfremdeten. Fingierte sie den Stand der Versöhnung, indem sie
zur bloßen Dingwelt überliefe, so negierte sie sich selbst. Was als
sozialistischer Realismus ausgeboten wird, ist nicht, wie man
beteuert, über dem Subjektivismus, sondern hinter ihm zurück und
zugleich dessen vorkünstlerisches Komplement; das
expressionistische O Mensch und die ideologisch gewürzte soziale
Reportage fügen lückenlos sich ineinander. Die unversöhnte Realität
duldet in der Kunst keine Versöhnung mit dem Objekt; der
Realismus, der an subjektive Erfahrung gar nicht heranreicht,
geschweige über sie hinaus, mimt sie bloß. Die Dignität von Kunst
heute bemißt sich nicht danach, ob sie mit Glück oder Geschick
jener Antinomie entschlüpft, sondern wie sie sie austrägt. Darin ist
das Endspiel exemplarisch. Es beugt sich ebenso der
Unmöglichkeit, in Kunstwerken noch nach der Sitte des
neunzehnten Jahrhunderts darzustellen, Stoffe zu bearbeiten, wie der
Einsicht, daß die subjektiven Reaktionsweisen, die anstelle von
Abbildlichkeit das Formgesetz vermitteln, selber kein Erstes und
Absolutes sind sondern ein Letztes, objektiv Gesetztes. Aller Gehalt
der notwendig sich selbst hypostasierenden Subjektivität ist Spur
und Schatten der Welt, aus der sie sich zurücknimmt, um nicht dem
Schein und der Anpassung zu dienen, welche die Welt erheischt.
Beckett antwortet darauf mit keinem unverlierbaren Vorrat sondern
dem, was die antagonistischen Tendenzen eben noch, prekär und auf
Widerruf, gestatten. Seine Dramatik ähnelt dem Spaß, den es im
alten Deutschland bereiten mochte, zwischen den Grenzpfählen von
Baden und Bayern sich herumzutreiben, als hegten sie ein Reich der
Freiheit ein. Das Endspiel findet in einer Zone der Indifferenz von
innen und außen statt, neutral zwischen den Stoffen, ohne die keine
Subjektivität sich zu entäußern, keine auch nur zu sein vermöchte,
und einer Beseeltheit, welche die Stoffe verschwimmen läßt, wie
wenn sie das Glas angehaucht hätte, durch das jene erblickt werden.
So karg sind die Stoffe, daß der ästhetische Formalismus gegen
seine Widersacher drüben und hüben, die Stoffhuber des Diamat
und die Dezernenten der echten Aussage, ironisch gerettet wird. Der
Konkretismus der Lemuren, denen im doppelten Sinn der Horizont
abhanden kam, geht unmittelbar in die äußerste Abstraktion über;
die Stoffschicht selber bedingt ein Verfahren, durch das die Stoffe,
indem sie eben noch als vergehende gestreift werden, geometrischen
Formen sich nähern; das Engste wird zum Überhaupt. Die
Lokalisierung des Endspiels in jener Zone äfft den Zuschauer mit
der Suggestion eines Symbolischen, das sie gleich Kafka doch
verweigert. Weil kein Sachverhalt bloß ist, was er ist, erscheint ein
jeder als Zeichen eines Inneren, aber das Innere, dessen Zeichen er
wäre, ist nicht mehr, und nichts anderes meinen die Zeichen. Die
eiserne Ration an Realität und Personen, mit denen das Drama
rechnet und haushält, ist eins mit dem, was von Subjekt, Geist und
Seele im Angesicht der permanenten Katastrophe bleibt: vom Geist,
der in Mimesis entsprang, die lächerliche Imitation; von der sich
inszenierenden Seele die inhumane Sentimentalität; vom Subjekt
seine abstrakteste Bestimmung: da zu sein und allein dadurch schon
zu freveln. Becketts Figuren benehmen sich so
primitiv-behavioristisch, wie es den Umständen nach der
Katastrophe entspräche, und diese hat sie derart verstümmelt, daß
sie anders gar nicht reagieren können; Fliegen, die zucken, nachdem
die Klatsche sie schon halb zerquetscht hat. Das ästhetische
principium stilisationis macht dasselbe aus den Menschen. Die ganz
auf sich zurückgeworfenen Subjekte, Fleisch gewordener
Akosmismus, bestehen in nichts anderem als den armseligen
Realien ihrer zur Notdurft verhutzelten Welt, leere personae, durch
die es wahrhaft bloß noch hindurchtönt. Ihre phonyness ist das
Resultat der Entzauberung des Geistes als Mythologie. Um
Geschichte zu unterbieten und dadurch vielleicht zu überwintern,
besetzt das Endspiel den Nadir dessen, was auf dem Zenith der
Philosophie die Konstruktion des Subjekt-Objekts beschlagnahmte:
reine Identität wird zu der des Vernichteten, zu der von Subjekt und
Objekt im Stand vollendeter Entfremdung. Waren bei Kafka die
Bedeutungen geköpft oder verwirrt, so ruft Beckett der schlechten
Unendlichkeit der Intentionen Halt zu: ihr Sinn sei Sinnlosigkeit.
Das ist objektiv, ohne alle polemische Absicht, sein Bescheid an die
Existentialphilosophie, welche Sinnlosigkeit selber, unterm Namen
von Geworfenheit und später Absurdität, im Schutz der
Äquivokationen des Sinnbegriffs zum Sinn verklärt. Beckett setzt
ihm keine Weltanschauung entgegen, sondern nimmt ihn beim
Wort. Was aus dem Absurden wird, nachdem die Charaktere des
Sinns von Dasein heruntergerissen sind, das ist kein Allgemeines
mehr – dadurch würde das Absurde schon wieder Idee – sondern
trübselige Einzelheiten, die des Begriffs spotten, eine Schicht aus
Utensilien wie in einer Notwohnung, Eisschränken, Lahmheit,
Blindheit und unappetitlichen Körperfunktionen. Alles wartet auf
den Abtransport. Diese Schicht ist nicht symbolisch, sondern die des
nachpsychologischen Standes wie bei alten Leuten und Gefolterten.
Verschleppt aus der Innerlichkeit, sind Heideggers
Befindlichkeiten, die Situationen von Jaspers materialistisch
geworden. Die Hypostasis des Individuums und die der Situation
harmonierten bei jenen. Situation war Zeitdasein schlechthin und die
Totalität eines lebendigen Einzelnen als des primär Gewissen. Sie
setzte Identität der Person voraus. Beckett erweist darin sich als der
Schüler Prousts und der Freund von Joyce, daß er dem Begriff der
Situation zurückgibt, was er sagt und was die Philosophie, die ihn
ausbeutet, eskamotierte, die Dissoziation der Bewußtseinseinheit in
Disparates, die Nichtidentität. Sobald aber das Subjekt nicht mehr
zweifelsfrei mit sich identisch, kein in sich geschlossener
Sinnzusammenhang mehr ist, verfließt auch seine Grenze gegen das
Auswendige, und die Situationen der Innerlichkeit werden zu
solchen der Physis zugleich. Das Gericht über die Individualität,
welche der Existentialismus als idealistisches Kernstück
konservierte, verurteilt den Idealismus. Nichtidentität ist beides, der
geschichtliche Zerfall der Einheit des Subjekts und das Hervortreten
dessen, was nicht selbst Subjekt ist. Das verändert, was mit
Situation gemeint sein kann. Von Jaspers wird sie definiert als »eine
Wirklichkeit für ein an ihr als Dasein interessiertes Subjekt« 11 . Er
ordnet den Situationsbegriff ebenso dem als fest und identisch
vorgestellten Subjekt unter, wie er unterstellt, der Situation wachse
aus der Beziehung auf dies Subjekt Sinn zu; unmittelbar danach
nennt er sie denn auch »eine nicht nur naturgesetzliche, vielmehr
eine sinnbezogene Wirklichkeit«, die übrigens, merkwürdig genug,
bereits bei ihm »weder psychisch noch physisch, sondern beides
zugleich« 12 sein soll. Indem jedoch der Anschauung Becketts die
Situation tatsächlich beides wird, verliert sie ihre
existentialontologischen Konstituentien: personale Identität und
Sinn. Eklatant wird das am Begriff der Grenzsituation. Auch der
stammt von Jaspers: »Situationen wie die, daß ich immer in
Situationen bin, daß ich nicht ohne Kampf und ohne Leid leben
kann, daß ich unvermeidlich Schuld auf mich nehme, daß ich
sterben muß, nenne ich Grenzsituationen. Sie wandeln sich nicht,
sondern nur in ihrer Erscheinung; sie sind, auf unser Dasein
bezogen, endgültig.« 13 Die Konstruktion des Endspiels nimmt das
auf mit einem sardonischen: Wie bitte? Weisheiten wie die, daß »ich
nicht ohne Leid leben kann, daß ich unvermeidlich Schuld auf mich
nehme, daß ich sterben muß«, verlieren ihre Plattheit in dem
Augenblick, in dem sie aus ihrer Apriorität herunter- und in die
Erscheinung zurückgeholt werden; dann zerspringt das Edle und
Affirmative, womit Philosophie die schon nach Hegel faule Existenz
verziert, indem sie das nicht Begriffliche unter einen Begriff
subsumiert, der die hochtrabend ontologisch genannte Differenz
wegzaubert. Beckett stellt die Existentialphilosophie vom Kopf auf
die Füße. Sein Stück reagiert auf Komik und ideologisches
Unwesen von Sätzen wie: »Tapferkeit ist in der Grenzsituation die
Haltung zum Tode als unbestimmte Möglichkeit des Selbstseins« 14
, mag Beckett sie kennen oder nicht. Das Elend der Teilnehmer am
Endspiel ist das der Philosophie.
Die Beckettschen Situationen, aus denen sein Drama sich
komponiert, sind das Negativ sinnbezogener Wirklichkeit. Sie haben
ihr Modell an jenen des empirischen Daseins, die, sobald sie isoliert,
ihres zweckrationalen und psychologischen Zusammenhangs durch
den Verlust personeller Einheit entäußert werden, von sich aus
spezifischen und zwingenden Ausdruck annehmen, den von Grauen.
Sie begegnen schon in der Praxis des Expressionismus. Das
Entsetzen, das Leonhard Franks Volksschullehrer Mager verbreitet,
die Ursache seiner Ermordung, wird evident in der Beschreibung
der umständlichen Art, in der Herr Mager vor der Schulklasse einen
Apfel schält. Das Bedächtige, das so unschuldig aussieht, ist Figur
des Sadismus: das Bild dessen, der sich Zeit nimmt, gleicht dem, der
auf gräßliche Strafe warten läßt. Becketts Behandlung der
Situationen, panisches und artifizielles Derivat der einfältigen
Situationskomik von anno dazumal, verhilft aber einem Sachverhalt
zur Sprache, der schon an Proust bemerkt wurde. Heinrich Rickert,
der in der posthumen Schrift ›Unmittelbarkeit und Sinndeutung‹ die
Möglichkeit einer objektiven Physiognomik des Geistes, der nicht
bloß projektiven »Seele« einer Landschaft oder eines Kunstwerks
erwägt 15 , zitiert eine Stelle von Ernst Robert Curtius.
Dieser hält es »nur für bedingt richtig ..., wenn man in Proust
lediglich oder vorwiegend einen großen Psychologen sieht. Ein
Stendhal ist mit dieser Bezeichnung zutreffend charakterisiert. Er ...
steht damit in der kartesianischen Tradition des französischen
Geistes. Aber Proust erkennt die Trennung zwischen der denkenden
und der ausgedehnten Substanz nicht an. Er zerschneidet die Welt
nicht in Psychisches und Physisches. Man verkennt die Bedeutung
seines Werkes, wenn man es aus der Perspektive des
›psychologischen Romans‹ betrachtet. Die Welt der Sinnendinge
nimmt in Prousts Büchern denselben Raum ein wie die des
Seelischen.« Oder: »Wenn Proust Psychologe ist, so ist er es in
einem ganz neuen Sinne: indem er alles Wirkliche, auch die
sinnliche Anschauung, in ein seelisches Fluidum taucht.« Dafür,
»daß der übliche Begriff des Psychischen hier nicht paßt«, führt
Rickert abermals Curtius an: »Aber damit hat der Begriff des
Psychologischen seinen Gegensatz verloren – und eben darum taugt
er nicht mehr zur Charakterisierung.« 16 Die Physiognomik des
objektiven Ausdrucks behält indessen allemal ein Enigmatisches.
Die Situationen sagen etwas – aber was?; insofern konvergiert
Kunst selber als Inbegriff von Situationen mit jener Physiognomik.
Sie vereint äußerste Bestimmtheit mit deren radikalem Gegenteil.
Bei Beckett wird dieser Widerspruch nach außen gestülpt. Was
sonst hinter kommunikativer Fassade sich verschanzt, ist zum
Erscheinen verurteilt. Proust hängt jener Physiognomik, aus einer
unterirdischen mystischen Tradition, noch affirmativ nach, als
öffnete die unwillkürliche Erinnerung eine Geheimsprache der
Dinge; bei Beckett wird sie zu der des nicht länger Menschlichen.
Seine Situationen sind die Gegenbilder des Unauslöschlichen, das in
denen Prousts beschworen wird, abgerungen der Flut dessen,
wogegen verängstigte Gesundheit mit Mordiogeschrei sich wehrt,
der Schizophrenie. In ihrem Reich bleibt Becketts Drama seiner
selbst mächtig. Es setzt noch sie in Reflexion:
HAMM: Ich habe einen Verrückten gekannt, der glaubte, das
Ende der Welt wäre gekommen. Er malte Bilder. Ich hatte ihn
gern. Ich besuchte ihn oft in der Anstalt. Ich nahm ihn an der
Hand und zog ihn ans Fenster. Sieh doch mal! Da! Die
aufgehende Saat! Und da! Sieh! Die Segel der Sardinenboote.
Wie schön das alles ist! (Pause) Er riß seine Hand los und kehrte
wieder in seine Ecke zurück. Erschüttert. Er hatte nur Asche
gesehen. (Pause) Er allein war verschont geblieben. (Pause)
Vergessen. (Pause) Der Fall ist anscheinend ... der Fall war gar
keine ... keine Seltenheit. 17
Die Wahrnehmung des Verrückten träfe mit der Clovs zusammen,
der auf Geheiß durchs Fenster späht. Mit nichts anderem bewegt das
Endspiel sich weg vom Tiefpunkt, als dadurch, daß es sich wie
einen Schlafwandler anruft: Negation der Negativität. In Becketts
Gedächtnis haftet etwa ein apoplektischer Mann mittleren Alters,
der seinen Mittagsschlaf hält, ein Tuch über die Augen, um sich vor
Licht oder Fliegen zu schützen; es macht ihn unkenntlich. Das
durchschnittliche, kaum nur optisch ungewohnte Bild wird Zeichen
erst dem Blick, der den Identitätsverlust des Gesichts, die
Möglichkeit, seine Verhülltheit sei die eines Toten, das Abstoßende
der physischen Sorge gewahrt, die den Lebendigen, indem sie ihn
auf seinen Körper herunterbringt, schon unter die Leichen einreiht 18
. Beckett stiert auf solche Aspekte, bis der Familienalltag, aus dem
sie stammen, zur Irrelevanz verblaßt; am Anfang ist das Tableau des
mit einem alten Laken verhüllten Hamm, am Ende nähert er seinem
Gesicht das Taschentuch, den letzten Besitz:
HAMM: Altes Linnen! (Pause) Dich behalte ich. 19
Solche von ihrem Zusammenhang und dem Charakter der Person
emanzipierten Situationen werden in einen zweiten, autonomen
Zusammenhang hineinkonstruiert, ähnlich wie Musik die in ihr
untertauchenden Intentionen und Ausdruckscharaktere
zusammenfügt, bis ihre Folge ein Gebilde eigenen Rechtes wird.
Eine Schlüsselstelle des Stücks –
Wenn ich schweigen kann und ruhig bleiben, wird es aus sein
mit jedem Laut und jeder Regung 20 –
verrät das Prinzip, vielleicht als Reminiszenz daran, wie
Shakespeare mit dem seinen in der Schauspielerszene des Hamlet
verfuhr.
HAMM: Dann sprechen, schnell, Wörter, wie das einsame Kind,
das sich in mehrere spaltet, in zwei, drei, um beieinander zu
sein, und mit einander zu sprechen, in der Nacht. (Pause) Ein
Augenblick kommt zum anderen, pluff, pluff, wie die
Hirsekörner des ... (er denkt nach) ... jenes alten Griechen, und
lebenslänglich wartet man darauf, daß ein Leben daraus werde.
21
Im Schauer des keine Eile Habens spielen solche Situationen auf die
Gleichgültigkeit und Überflüssigkeit dessen an, was das Subjekt
überhaupt noch tun kann. Erwägt Hamm, die Deckel der Mülleimer
vernieten zu lassen, in denen seine Eltern hausen, so widerruft er
den Entschluß dazu mit den gleichen Worten wie den zum
Urinieren, der der Quälerei des Katheters bedarf:
HAMM: Es eilt nicht. 22
Der leise Abscheu vor Medizinfläschchen, zurückdatierend auf den
Augenblick, da man der Eltern als physisch hinfällig, sterblich,
auseinanderfallend inneward, scheint wider in der Frage:
HAMM: Muß ich jetzt meine Pillen einnehmen? 23
Miteinander Sprechen ist durchweg zum Strindbergischen Nörgeln
geworden:
HAMM: Fühlst du dich in deinem normalen Zustand?
CLOV (gereizt): Ich sagte doch, daß ich mich nicht beklage 24 ,
und ein anderes Mal:
HAMM: Ich fühle mich etwas zu weit links. (Clov schiebt den
Sessel unmerklich weiter. Pause.) Jetzt fühle ich mich etwas zu
weit rechts. (Dasselbe Spiel.) Jetzt fühle ich mich etwas zu weit
vorn. (Dasselbe Spiel.) Jetzt fühle ich mich etwas zu weit
zurück. (Dasselbe Spiel.) Bleib nicht da! (d.h. hinterm Sessel.)
Du machst mir angst.
Clov kehrt an seinen Platz neben dem Sessel zurück.
CLOV: Wenn ich ihn töten könnte, würde ich zufrieden sterben.
25
Die Neige der Ehe aber ist die Situation, wo man sich kratzt:
NELL: Ich werde dich verlassen.
NAGG: Kannst du mich vorher noch kratzen?
NELL: Nein. (Pause) Wo?
NAGG: Am Rücken.
NELL: Nein. (Pause) Reib dich am Eimerrand.
NAGG: Es ist tiefer. Am Kreuz.
NELL: An welchem Kreuz?
NAGG: Am Kreuz. (Pause) Kannst du nicht? (Pause) Gestern
hast du mich da gekratzt.
NELL (elegisch): Ah, gestern!
NAGG: Kannst du nicht? (Pause) Willst du nicht, daß ich dich
kratze? (Pause) Weinst du schon wieder?
NELL: Ich versuchte es. 26
Nachdem der abgedankte Vater und Präzeptor seiner Eltern den als
metaphysisch berühmten jüdischen Witz von der Hose und der Welt
erzählt hat, bricht er selber in Lachen darüber aus. Die Scham, die
einen ergreift, wenn jemand über die eigenen Worte lacht, wird zum
Existential; Leben ist Inbegriff bloß noch als der alles dessen,
wessen man sich zu schämen hätte. Subjektivität bestürzt als
Herrschaft in der Situation, wo einer pfeift und der andere
herbeikommt 27 . Wogegen aber die Scham sich sträubt, das hat
seinen sozialen Stellenwert: in den Momenten, da Bürger als rechte
Bürger sich benehmen, beflecken sie den Begriff der Humanität, auf
dem ihr eigener Anspruch ruht. Geschichtlich sind Becketts Urbilder
auch darin, daß er als menschlich Typisches einzig die
Deformationen vorzeigt, die den Menschen von der Form ihrer
Gesellschaft angetan werden. Kein Raum bleibt für anderes. Die
Unarten und Ticks des normalen Charakters, die das Endspiel
unausdenkbar steigert, sind jene längst alle Klassen und Individuen
prägende Allgemeinheit eines Ganzen, das bloß durch die schlechte
Partikularität, die antagonistischen Interessen der Subjekte hindurch
sich reproduziert. Weil aber kein anderes Leben war als das falsche,
wird der Katalog seiner Defekte zum Widerspiel der Ontologie.
Die Aufspaltung in Unverbundenes und Unidentisches ist jedoch
an Identität gekettet in einem Theaterstück, das aufs traditionelle
Personenverzeichnis nicht verzichtet. Nur gegen Identität, in ihren
Begriff fallend, ist Dissoziation überhaupt möglich; sonst wäre sie
die pure, unpolemische, unschuldige Vielfalt. Die geschichtliche
Krisis des Individuums hat einstweilen ihre Grenze an dem
biologischen Einzelwesen, ihrem Schauplatz. So endet der ohne
Widerstand der Individuen hingleitende Wechsel der Situationen bei
Beckett an den hartnäckigen Körpern, auf welche sie regredieren.
An solcher Einheit gemessen, sind die schizoiden Situationen
komisch wie Sinnestäuschungen. Daher die prima vista zu
bemerkende Clownerie der Verhaltensweisen und Konstellationen
von Becketts Figuren 28 . Erklärt die Psychoanalyse den
Clownshumor als Regression auf eine überaus frühe ontogenetische
Stufe, dann steigt das Beckettsche Regressionsstück dort hinab.
Aber das Lachen, zu dem es animiert, müßte die Lacher ersticken.
Das wurde aus Humor, nachdem er als ästhetisches Medium veraltet
ist und widerlich, ohne Kanon dessen, worüber zu lachen wäre;
ohne einen Ort von Versöhnung, von dem aus sich lachen ließe;
ohne irgend etwas Harmloses zwischen Himmel und Erde, das
erlaubte, belacht zu werden. Ein intentioniert vertrotteltes double
entendu vom Wetter lautet:
CLOV: Es wird wieder heiter. (Er steigt auf die Leiter und
richtet das Fernglas nach draußen. Es entgleitet seinen Händen
und fällt. Pause.) Ich tat es absichtlich. (Er steigt von der Leiter,
hebt das Fernglas auf, prüft es und richtet es auf den Saal.) Ich
sehe ... eine begeisterte Menge. (Pause) Na so was, dazu kann
man wohl Fernrohr sagen. (Er läßt das Fernglas sinken und
schaut Hamm an.) Na? Keiner lacht? 29
Humor selbst ist albern: lächerlich geworden – wer könnte über
komische Grundtexte wie den Don Quixote oder den Gargantua
noch lachen –, und das Urteil über ihn wird von Beckett exekutiert.
Noch die Witze der Beschädigten sind beschädigt. Sie erreichen
keinen mehr; die Verfallsform, von der freilich aller Witz etwas hat,
der Kalauer, überzieht sie wie Ausschlag. Wird Clov, der mit dem
Fernglas Schauende, nach der Farbe gefragt und erschreckt Hamm
durch das Wort grau, so korrigiert er sich durch die Formulierung
»ein helles Schwarz«. Das verkleckst die Pointe aus Molières
Geizhals, der die angeblich gestohlene Kassette als grau-rot
beschreibt. Wie den Farben ist dem Witz das Mark ausgesogen.
Einmal sinnen die beiden Unhelden, ein Blinder und ein Lahmer –
der stärkere schon beides, der schwächere wird es erst werden – auf
einen »Trick«, einen Ausweg, »irgendeinen Plan« à la
Dreigroschenoper, von dem sie nicht wissen, ob er Leben und Qual
nur verlängern, oder beides mit der absoluten Vernichtung beenden
soll:
CLOV: Ach so. (Er beginnt mit auf den Boden gerichtetem
Blick und den Händen auf dem Rücken hin- und herzugehen. Er
bleibt stehen.) Meine Beine tun mir weh, es ist nicht zu glauben.
Ich werde bald nicht mehr denken können.
HAMM: Du wirst mich nicht verlassen können. (Clov geht
wieder.) Was machst du?
CLOV: Ich plane. (Er geht wieder.) Ah! (Er bleibt stehen.)
HAMM: Was für ein Denker! (Pause) Na und?
CLOV: Warte mal. (Er konzentriert sich. Nicht sehr überzeugt.)
Ja ... (Pause. Überzeugter.) Ja. (Er richtet den Kopf auf.) Ich
hab's. Ich ziehe den Wecker auf. 30
Das ist an den ursprünglich wohl ebenfalls jüdischen Witz des
Zirkus Busch assoziiert, wo der dumme August, der seine Frau mit
dem Freund auf dem Sofa ertappt hat, sich nicht entschließen kann,
die Frau oder den Freund hinauszuwerfen, weil ihm beide zu lieb
sind, und auf den Ausweg verfällt, das Sofa zu verkaufen. Aber
noch die Spur dämlich sophistischer Rationalität wird weggewischt.
Komisch ist nur noch, daß mit dem Sinn der Pointe Komik selber
evaporiert. So zuckt zusammen, wer bereits die oberste Stufe einer
Treppe erklommen hat, weiter steigt und ins Leere tritt. Äußerste
Roheit vollstreckt den Richtspruch übers Lachen, das längst teilhat
an ihrer Schuld. Hamm läßt die Rümpfe der Eltern, die in den
Mülltonnen zu Babies geworden sind, vollends verhungern,
Triumph des Sohns als Vater. Dazu wird geschwatzt:
NAGG: Meinen Brei!
HAMM: Verfluchter Erzeuger!
NAGG: Meinen Brei!
HAMM: Ah! Keine Haltung mehr, die Alten. Fressen, fressen,
sie denken nur ans Fressen. (Er pfeift. Clov kommt herein und
bleibt neben dem Sessel stehen.) Sieh mal an! Ich dachte, du
wolltest mich verlassen.
CLOV: Oh, noch nicht, noch nicht.
NAGG: Meinen Brei!
HAMM: Gib ihm seinen Brei.
CLOV: Es gibt keinen Brei mehr.
HAMM: Es gibt keinen Brei mehr. Du wirst nie wieder Brei
bekommen. 31
Noch dem unwiderruflichen Schaden fügt der Unheld den Spott
hinzu, die Entrüstung über die Alten, die keine Haltung mehr hätten,
so wie diese sonst über die zuchtlose Jugend sich zu entrüsten
pflegen. Was in diesem Ambiente an Humanität fortwest: daß die
beiden Alten den letzten Zwieback miteinander teilen, wird durch
den Kontrast zur transzendentalen Bestialität abstoßend, der
Rückstand der Liebe zur schmatzenden Intimität. Soweit sie noch
Menschen sind, menschelt es:
NELL: Was ist denn, mein Dicker? (Pause) Willst du wieder mit
mir schäkern?
NAGG: Schliefst du?
NELL: Oh nein.
NAGG: Küßchen!
NELL: Geht doch nicht.
NAGG: Mal versuchen.
Die Köpfe nähern sich mühsam einander, ohne sich berühren zu
können, und weichen wieder auseinander. 32
Wie mit dem Humor wird mit den dramatischen Kategorien
insgesamt umgesprungen. Alle sind parodiert. Nicht aber verspottet.
Emphatisch heißt Parodie die Verwendung von Formen im Zeitalter
ihrer Unmöglichkeit. Sie demonstriert diese Unmöglichkeit und
verändert dadurch die Formen. Die drei Aristotelischen Einheiten
werden gewahrt, aber dem Drama selbst geht es ans Leben. Mit der
Subjektivität, deren Nachspiel das Endspiel ist, wird ihm der Held
entzogen; von Freiheit kennt es nur noch den ohnmächtigen und
lächerlichen Reflex nichtiger Entschlüsse 33 . Auch darin beerbt
Becketts Stück die Romane Kafkas, zu dem er ähnlich steht wie die
seriellen Komponisten zu Schönberg: er reflektiert ihn nochmals in
sich und krempelt ihn um durch Totalität seines Prinzips. Becketts
Kritik an dem Älteren, welche die Divergenz zwischen dem
Geschehenden und der gegenständlich reinen, epischen Sprache
unwiderleglich hervorhebt, birgt dieselbe Schwierigkeit wie das
Verhältnis der gegenwärtigen integralen Komposition zu der in sich
antagonistischen Schönbergs: was ist die raison d'être der Formen,
sobald ihre Spannung zu einem ihnen Inhomogenen getilgt ist, ohne
daß doch darum der Fortschritt ästhetischer Materialbeherrschung
zu bremsen wäre? Das Endspiel zieht sich aus der Affäre, indem es
jene Frage sich zu eigen: thematisch macht. Was die Dramatisierung
von Kafkas Romanen verwehrt, wird zum Vorwurf. Die
dramatischen Konstituentien erscheinen nach ihrem Tod.
Exposition, Knoten, Handlung, Peripetie und Katastrophe kehren
einer dramaturgischen Leichenbeschau als Dekomponierte wieder:
für die Katastrophe etwa tritt die Mitteilung ein, daß es keine
Nährpillen mehr gebe 34 . Jene Konstituentien sind gestürzt mit dem
Sinn, zu dem einmal das Drama sich entlud; das Endspiel studiert
wie im Reagenzglas das Drama des Zeitalters, das nichts von dem
mehr duldet, worin es besteht. Zum Exempel: die Tragödie kannte
auf der Höhe der Handlung, als Quintessenz der Antithese, äußerste
Straffung des dramatischen Fadens, die Stichomythie; Dialoge, in
denen ein Trimeter der einen Person auf den der anderen folgt. Die
Form hatte dieses Mittels, als eines durch Stilisierung und
offenbaren Anspruch der säkularen Gesellschaft allzu fernen, sich
begeben. Beckett bedient sich seiner, als hätte die Detonation
freigesetzt, was unterm Drama vergraben ward. Das Endspiel
enthält Dialoge Zug um Zug, einsilbig, wie einst das Frage- und
Antwortspiel zwischen verblendetem König und Schicksalsboten.
Aber worin dort die Kurve sich spannte, darin erschlaffen hier die
Interlokutoren. Kurzatmig bis zum Verstummen bringen sie die
Synthesis sprachlicher Perioden nicht mehr zustande und stammeln
in Protokollsätzen, man weiß nicht ob solchen der Positivisten oder
Expressionisten. Der Grenzwert des Beckettschen Dramas ist jenes
Schweigen, das schon im Shakespeareschen Beginn des neueren
Trauerspiels als Rest definiert war. Daß als eine Art Epilog aufs
Endspiel eine Acte sans paroles folgt, ist dessen eigener terminus ad
quem. Die Worte klingen wie Notbehelfe, weil das Verstummen
noch nicht ganz glückte, wie Begleitstimmen zum Schweigen, das
sie stören.
Was im Endspiel aus der Form wurde, läßt literarhistorisch fast
sich nachzeichnen. In Ibsens Wildente vergißt der verkommene
Photograph Hjalmar Ekdal, potentiell selber schon ein Unheld, der
halbwüchsigen Hedwig, wie er es versprach, eine Delikatesse des
üppigen Diners beim alten Werle mitzubringen, zu dem er,
wohlweislich ohne seine Familie, eingeladen war. Das ist
psychologisch motiviert aus seinem schlampig-egoistischen
Charakter, zugleich aber symbolisch für Hjalmar, für den
Handlungsgang, für den Sinn des Ganzen: das vergebliche Opfer
des Mädchens. Die spätere Freudische Theorie der Fehlhandlung ist
antezipiert, welche diese auslegt durch ihre Beziehung auf
vergangene Erlebnisse der Person ebenso wie auf ihre Wünsche,
also auf ihre Einheit. Freuds Hypothese, daß »all unsere Erlebnisse
einen Sinn haben«, 35 übersetzt die überlieferte dramatische Idee in
einen psychologischen Realismus, aus dem Ibsens Tragikomödie
von der Wildente unvergleichlich noch einmal den Funken der Form
schlug. Emanzipiert sich die Symbolik von ihrer psychologischen
Determination, so verdinglicht sie sich zu einem an sich Seienden,
das Symbol wird symbolistisch wie in Ibsens Spätwerken, etwa dem
von der sogenannten Jugend überfahrenen Buchhalter Foldal im
John Gabriel Borkmann. Der Widerspruch zwischen solchem
konsequenten Symbolismus und dem konservativen Realismus wird
zur Unzulänglichkeit der letzten Stücke. Damit aber zum Gärstoff
des expressionistischen Strindberg. Dessen Symbole reißen sich los
von den empirischen Menschen und werden zu einem Teppich
verwoben, in dem alles symbolisch ist und nichts, weil alles alles
bedeuten kann. Das Drama braucht nur des unausweichlich
Lächerlichen solcher Pansymbolik innezuwerden, die sich selbst
erledigt; es verwertend aufzugreifen, und die Beckettsche Absurdität
ist auch der immanenten Dialektik der Form nach erreicht. Das
nichts Bedeuten wird zur einzigen Bedeutung. Der tödlichste
Schrecken der dramatischen Personen, wenn nicht des parodierten
Dramas selber, ist der verstellt komische darüber, daß sie irgend
etwas bedeuten könnten.
HAMM: Wir sind doch nicht im Begriff, etwas zu ... zu ...
bedeuten?
CLOV: Bedeuten? Wir, etwas bedeuten? (Kurzes Lachen.) Das
ist aber gut! 36
Mit dieser Möglichkeit, die längst von der Übermacht einer
Apparatur erdrückt ward, in der die Einzelnen auswechselbar oder
überflüssig sind, verschwindet auch die Bedeutung der Sprache.
Hamm, den die zum Taprigen verkommene Regung des Lebens im
Gespräch der Eltern in der Mülltonne aufbringt und der nervös wird,
weil »es also kein Ende nimmt«, fragt: »Worüber können sie denn
reden, worüber kann man noch reden?« 37 Dahinter bleibt das Stück
nicht zurück. Es ist errichtet auf dem Grunde eines Sprachverbots
und spricht es durch sein eigenes Gefüge aus. Dabei weicht es der
Aporie des expressionistischen Dramas nicht aus: daß Sprache,
selbst wo sie tendenziell zum Laut sich verkürzt, ihr semantisches
Element nicht abschütteln, nicht rein mimetisch 38 oder gestisch
werden kann, etwa wie die von der Gegenständlichkeit
emanzipierten Formen der Malerei die Ähnlichkeit mit
Gegenständlichem nicht ganz loswerden. Die mimetischen Valeurs,
einmal von den signifikativen endgültig gesondert, geraten an
Willkür und Zufall und schließlich eine zweite Konvention. Wie das
Endspiel damit sich abfindet, unterscheidet es von Finnegans Wake.
Anstatt zu trachten, das diskursive Element der Sprache durch den
reinen Laut zu liquidieren, schafft Beckett es um ins Instrument der
eigenen Absurdität, nach dem Ritual der Clowns, deren Geplapper
zu Unsinn wird, indem er als Sinn sich vorträgt. Der objektive
Sprachzerfall, das zugleich stereotype und fehlerhafte Gewäsch der
Selbstentfremdung, zu dem den Menschen Wort und Satz im
eigenen Munde verquollen sind, dringt ein ins ästhetische Arcanum;
die zweite Sprache der Verstummenden, ein Agglomerat aus
schnodderigen Phrasen, scheinlogischen Verbindungen,
galvanisierten Wörtern als Warenzeichen, das wüste Echo der
Reklamewelt, ist umfunktioniert zur Sprache der Dichtung, die
Sprache negiert 39 . Darin berührt Beckett sich mit der Dramatik
Eugène Ionescos. Ordnet ein späteres Stück von ihm sich um die
imago des Tonbands, dann ähnelt die Sprache des Endspiels der aus
dem abscheulichen Gesellschaftsspiel geläufigen, daß man den
Unsinn, der während einer party geredet wird, insgeheim auf Band
aufnimmt und dann den Gästen zur Demütigung vorspielt.
Auskomponiert wird der Schock, über welchen bei solcher
Gelegenheit das blöde Gekicher hinweghüpft. Wie die wache
Erfahrung nach intensiver Lektüre Kafkas allerorten Situationen aus
seinen Romanen zu beobachten meint, so bewirkt Becketts Sprache
eine heilsame Erkrankung des Erkrankten: wer sich selbst zuhört,
bangt, ob er nicht ebenso redet. Längst schon schien dem, der das
Kino verläßt, in den zufälligen Vorgängen auf der Straße die
geplante Zufälligkeit des Films sich fortzusetzen. Zwischen den
montierten Phrasen der Alltagssprache gähnt das Loch. Fragt einer
der beiden mit der eingeschliffenen Gebärde des Abgebrühten, der
der unverbrüchlichen Langeweile des Daseins sicher ist, »Was soll
denn schon am Horizont sein?« 40 , so wird das sprachgewordene
Achselzucken apokalyptisch, erst recht durch seine Allvertrautheit.
Der glatten und aggressiven Regung des gesunden
Menschenverstands, »Was soll denn schon sein?«, wird das
Eingeständnis des eigenen Nihilismus abgepreßt. Etwas später
befiehlt Hamm, der Herr, dem soi-disant Diener Clov, zu einem
Zirkuszweck, dem vergeblichen Versuch, einen Sessel hin- und
herzuschieben, »den Bootshaken« zu holen. Dem folgt ein kleiner
Dialog:
CLOV: Tu dies, tu das, und ich tu's. Ich weigere mich nie.
Warum?
HAMM: Du kannst es nicht.
CLOV: Bald werde ich es nicht mehr tun.
HAMM: Du wirst es nicht mehr können. (Clov geht hinaus.) Ah,
die Leute, die Leute, man muß ihnen alles erklären. 41
Daß man »den Leuten alles erklären muß«, bläuen jeden Tag
Millionen von Vorgesetzten Millionen von Untergebenen ein. Durch
den Nonsens, den es an der Stelle begründen soll – Hamms
Erklärung dementiert seinen eigenen Befehl –, wird aber nicht nur
der von der Gewohnheit zugedeckte Aberwitz des Clichés grell
beleuchtet, sondern zugleich der Trug des miteinander Sprechens
ausgedrückt; daß die voneinander ohne Hoffnung Entfernten, indem
sie konversieren, so wenig sich erreichen wie die beiden alten
Krüppel in den Mülltonnen. Kommunikation, das universale Gesetz
der Clichés, bekundet, daß keine Kommunikation mehr sei. Die
Absurdität allen Sprechens ist nicht unvermittelt gegen den
Realismus, sondern aus diesem entwickelt. Denn die
kommunikative Sprache postuliert durch ihre bloße syntaktische
Form schon, durch Logizität, Schlußverhältnisse, festgehaltene
Begriffe, den Satz vom zureichenden Grunde. Dieser Forderung
jedoch wird kaum mehr genügt: die Menschen, so wie sie
miteinander reden, werden teils von ihrer Psychologie, dem
prälogischen Unbewußten motiviert, teils verfolgen sie Zwecke, die,
als solche ihrer bloßen Selbsterhaltung, von jener Objektivität
abweichen, welche die logische Form vorspiegelt. Jedenfalls heute
kann man ihnen das mit ihren Tonbändern beweisen. Im
Freudischen wie im Paretoschen Verstande ist die ratio der verbalen
Kommunikation immer auch Rationalisierung. Ratio entsprang aber
selber im selbsterhaltenden Interesse, und deshalb wird sie von den
zwangsläufigen Rationalisierungen ihrer eigenen Irrationalität
überführt. Der Widerspruch zwischen rationaler Fassade und
unabdingbar Irrationalem ist selber bereits das Absurde. Beckett
braucht ihn nur zu markieren, als Auswahlprinzip zu handhaben,
und der Realismus, des Scheins rationaler Stringenz entkleidet,
kommt zu sich selbst.
Sogar die syntaktische Form von Frage und Antwort ist
unterminiert. Sie setzt eine Offenheit des zu Sagenden voraus, die,
wie es schon Huxley nicht sich hat entgehen lassen, nicht mehr
existiert. Der Frage ist die vorgezeichnete Antwort anzuhören, und
das verdammt das Spiel von Frage und Antwort zum nichtig
Wahnhaften des untauglichen Versuchs, durch den Sprachgestus der
Freiheit die Unfreiheit der informativen Sprache zu verschleiern.
Beckett reißt ihr den Schleier herunter, auch den philosophischen.
Was sich da dem Nichts gegenüber alles radikal in Frage stellt,
verhindert durch das der Theologie entwendete Pathos vorweg die
erschrecklichen Folgen, auf deren Möglichkeit es pocht, und
infiltriert durch die Gestalt der Frage die Antwort mit eben dem
Sinn, den jene bezweifelt; nicht umsonst konnten im Faschismus
und Vorfaschismus solche Destrukteure den destruktiven Intellekt
so wacker schmälen. Beckett jedoch entziffert die Lüge des
Fragezeichens: die Frage ist zur rhetorischen geworden. Gleicht die
existentialphilosophische Hölle einem Tunnel, in dessen Mitte von
der anderen Seite schon wieder das Licht hineinscheint, so reißt
Becketts Dialog die Schienen des Gesprächs auf; der Zug gelangt
nicht mehr dorthin, wo es hell wird. Die alte Wedekindsche Technik
des Mißverständnisses wird total. Der Verlauf der Dialoge selbst
nähert dem Zufallsprinzip des literarischen Produktionsprozesses
sich an. Er klingt, als wäre das Gesetz seines Fortgangs nicht die
Vernunft von Rede und Gegenrede, nicht einmal deren
psychologisches Ineinandergehaktsein, sondern ein Aushören,
verwandt dem von Musik, die von den vorgegebenen Typen sich
emanzipiert. Das Drama lauscht, was nach einem Satz wohl für ein
anderer kommt. Von der eingängigen Unwillkürlichkeit solcher
Fragen hebt die inhaltliche Absurdität erst recht sich ab. Auch das
hat sein infantiles Modell an denen, die im zoologischen Garten
darauf warten, was nun wohl im nächsten Augenblick das Nilpferd
oder der Schimpanse anstellen werden.
Im Stande ihrer Zersetzung polarisiert sich die Sprache. Hier
wird sie zum Basic English, oder Französisch, oder Deutsch
einzelner Wörter, archaisch herausgestoßener Befehle im Jargon
universaler Nichtachtung, der Zutraulichkeit unversöhnlicher
Kontrahenten; dort zum Ensemble ihrer Leerformen, einer
Grammatik, die aller Beziehung auf ihren Inhalt und damit ihrer
synthetischen Funktion sich begeben hat. Den Interjektionen
gesellen sich Übungssätze, Gott weiß wofür. Auch das hängt
Beckett an die große Glocke: es ist eine der Spielregeln des
Endspiels, daß die asozialen Partner, und mit ihnen die Zuschauer,
sich immerzu in die Karten sehen. Hamm fühlt sich als Künstler. Er
hat sich das Neronische qualis artifex pereo zur Maxime seines
Lebens erkoren. Aber seine projektierten Erzählungen stranden an
der Syntax:
HAMM: Wo war ich stehengeblieben? (Pause. Trübsinnig.) Es
ist zerbrochen, wir sind zerbrochen. (Pause) Es wird zerbrechen.
42
Zwischen den Paradigmata taumelt die Logik. Hamm und Clov
unterhalten sich auf ihre autoritäre, gegenseitig sich abschneidende
Weise:
HAMM: Öffne das Fenster.
CLOV: Wozu?
HAMM: Ich will das Meer hören.
CLOV: Du wirst es nicht hören.
HAMM: Selbst nicht, wenn du das Fenster öffnest?
CLOV: Nein.
HAMM: Es lohnt sich also nicht, es zu öffnen?
CLOV: Nein.
HAMM (heftig): Öffne es also! (Clov steigt auf die Leiter und
öffnet das Fenster. Pause.) Hast du es geöffnet?
CLOV: Ja. 43
Wenig fehlt, und man möchte in dem letzten »Also« Hamms den
Schlüssel des Stücks suchen. Weil es sich nicht lohnt, das Fenster zu
öffnen, weil Hamm das Meer nicht hören kann – vielleicht ist es
ausgetrocknet, vielleicht bewegt es sich nicht mehr –, beharrt er
darauf, daß Clov es öffne: der Unfug einer Handlung wird zum
Grund, sie zu begehen, nachträgliche Legitimation von Fichtes
freier Tathandlung um ihrer selbst willen. So sehen die zeitgemäßen
Aktionen aus und wecken den Verdacht, daß es nie viel anders war.
Die logische Figur des Absurden, die den kontradiktorischen
Gegensatz des Stringenten als stringent vorträgt, verneint jeglichen
Sinnzusammenhang, wie ihn die Logik zu gewähren scheint, um
diese der eigenen Absurdität zu überführen: daß sie mit Subjekt,
Prädikat und Kopula das Nichtidentische so zurichtet, als ob es
identisch wäre, in den Formen aufginge. Nicht als Weltanschauung
löst das Absurde die rationale ab; jene kommt in diesem zu sich
selbst.
Die prästabilierte Harmonie von Verzweiflung herrscht
zwischen den Formen und dem residualen Inhalt des Stücks. Das
zusammengeschmolzene Ensemble zählt nur vier Köpfe. Zwei
davon sind übermäßig rot, als wäre ihre Vitalität eine
Hautkrankheit; die beiden Alten dafür übermäßig weiß wie schon
keimende Kartoffeln im Keller. Recht funktionierende Körper haben
sie alle nicht mehr, die Alten bestehen nur noch aus Rümpfen, die
Beine haben sie übrigens nicht bei der Katastrophe sondern offenbar
bei einem privaten Unfall mit dem Tandem in den Ardennen, »am
Ausgang von Sedan« 44 verloren, wo regelmäßig eine Armee die
andere zu vernichten pflegt; man soll sich nicht einbilden, gar so
viel hätte sich geändert. Noch die Erinnerung an ihr bestimmtes
Unglück jedoch wird beneidenswert angesichts der Unbestimmtheit
des allgemeinen, sie lachen dabei. Im Unterschied zu den
expressionistischen Vätern und Söhnen haben zwar alle
Eigennamen, alle vier jedoch sind einsilbig, four letter words gleich
den obszönen. Die praktischen und familiären Abkürzungen, die in
angelsächsischen Ländern beliebt sind, werden als Stümpfe von
Namen entblößt. Einigermaßen gebräuchlich, wenn auch obsolet, ist
nur der der alten Mutter, Nell; Dickens verwendet ihn für das
rührende Kind der Old Curiosity Shop. Die drei anderen Namen
sind erfunden wie für Litfaßsäulen. Der Alte heißt Nagg, nach
Assoziation von nagging, vielleicht auch einer deutschen: das traute
Paar ist es durchs Nagen. Sie diskutieren darüber, ob man das
Sägemehl in ihren Mülleimern erneuert hat; es ist aber kein
Sägemehl mehr sondern Sand. Nagg konstatiert, früher sei es
Sägemehl gewesen, und Nell antwortet überdrüssig: »Früher« 45 ,
wie eine Frau eingefroren wiederholte Aussagen ihres Gatten
hämisch preisgibt. So mesquin der Streit über Sägemehl oder Sand,
so entscheidend ist der Unterschied in der Residualhandlung,
Übergang vom Minimum zum Nichts. Was Benjamin an Baudelaire
rühmte, die Fähigkeit, mit äußerster Diskretion ein Äußerstes zu
sagen 46 , kann Beckett reklamieren; der Allerweltstrost, es könne
immer noch schlimmer kommen, wird zum Verdammungsurteil. In
dem Reich zwischen Leben und Tod, wo nicht einmal mehr leiden
sich läßt, ist der Unterschied von Sägemehl und Sand der ums
Ganze; Sägemehl, kümmerliches Nebenprodukt der Dingwelt, wird
Mangelware und sein Entzug Verschärfung der lebenslänglichen
Todesstrafe. Daß die beiden in Mülleimern logieren – ein analoges
Motiv kommt übrigens in Camino Real von Tennessee Williams
vor, sicherlich ohne daß eines der Stücke vom anderen abhängig
wäre –, nimmt wie Kafka die Konversationsphrase buchstäblich.
»Heute werden die Alten in den Mülleimer geworfen«, und es
geschieht. Das Endspiel ist die wahre Gerontologie. Die Alten sind
nach dem Maß der gesellschaftlich nützlichen Arbeit, die sie nicht
mehr leisten, überflüssig und wären wegzuwerfen. Das wird dem
wissenschaftlichen Brimborium einer Fürsorge entrissen, die
unterstreicht, was sie negiert. Das Endspiel schult für einen Zustand,
wo alle Beteiligten, wenn sie von der nächsten der großen
Mülltonnen den Deckel abheben, erwarten, die eigenen Eltern darin
zu finden. Der natürliche Zusammenhang des Lebendigen ist zum
organischen Abfall geworden. Unwiderruflich haben die
Nationalsozialisten das Tabu des Greisenalters umgestoßen.
Becketts Mülleimer sind Embleme der nach Auschwitz
wiederaufgebauten Kultur. Die Nebenhandlung aber geht weiter als
zu weit, zum Untergang der beiden Alten. Verweigert wird ihnen
die Kinderspeise, ihr Brei, ersetzt durch einen Zwieback, den die
Zahnlosen nicht mehr kauen können, und sie ersticken, weil der
letzte Mensch zu sensibel ist, um den vorletzten ihr Leben zu
gönnen. Verklammert ist das mit der Haupthandlung dadurch, daß
das Verenden der beiden Alten vorwärts treibt zu jenem Ausgang
des Lebens, dessen Möglichkeit das Spannungsmoment bildet.
Hamlet wird variiert: Krepieren oder Krepieren, das ist hier die
Frage.
Den Namen des Shakespeareschen Helden kürzt grimmig der
des Beckettschen ab, der des liquidierten dramatischen Subjekts den
des ersten. Assoziiert wird dabei auch einer der Söhne Noahs und
damit die Sintflut: der Stammherr der Schwarzen, der in einer
Freudischen Negation die weiße Herrenrasse substituiert. Endlich
bedeutet ham actor auf Englisch den Schmierenkomödianten.
Becketts Hamm, Schlüsselgewaltiger und ohnmächtig in eins, spielt,
was er nicht mehr ist, als hätte er jene jüngste soziologische
Literatur gelesen, die das zoon politikon als Rolle definiert.
Persönlichkeit war, wer mit Geschick so sich aufspielte wie nun der
hilflose Hamm. Sie mag bereits im Ursprung Rolle gewesen sein,
Natur, die sich als Übernatur geriert. Der Wechsel der Situationen
des Stücks veranlaßt eine von Hamms Rollen; drastisch empfiehlt
ihm gelegentlich eine Regiebemerkung, er solle »mit der Stimme
des vernunftbegabten Wesens« reden; in seiner umständlichen
Erzählung posiert er den »Erzählerton«. Erinnerung ans
Unwiederbringliche wird zum Schwindel. Retrospektiv verdammt
der Zerfall die Kontinuität des Lebens, durch die es Leben allein
ward, als selber fiktiv. Die Differenz des Tonfalls von Menschen,
die erzählen, und solchen, die unmittelbar reden, hält Gericht übers
Identitätsprinzip. Beides alterniert in Hamms großer Rede, einer Art
eingeschobener Arie ohne Musik. Bei den Bruchstellen pausiert er,
mit den Kunstpausen des ausgedienten Heldendarstellers. Zur Norm
der Existentialphilosophie, die Menschen sollten, weil sie schon gar
nichts anderes mehr sein können, sie selber sein, setzt das Endspiel
die Antithese, daß genau dies Selbst nicht das Selbst sondern die
äffische Nachahmung eines nicht Existenten sei. Hamms
Verlogenheit bringt die Lüge an den Tag, die darin steckt, daß man
Ich sagt und damit jene Substantialität sich zuschreibt, deren
Gegenteil der Inhalt dessen ist, was vom Ich zusammengefaßt wird.
Bleibendes ist als Inbegriff des Ephemeren dessen Ideologie. Von
dem aber, was der Wahrheitsgehalt des Subjekts war, vom Denken,
wird nur noch die gestische Hülse konserviert. Die beiden tun, als
ob sie sich etwas überlegten, ohne daß sie überlegen:
HAMM: Das ist alles drollig, in der Tat. Sollten wir uns mal
halb tot lachen?
CLOV (nachdem er überlegt hat): Ich könnte mich heute nicht
mehr halb tot lachen.
HAMM (nachdem er überlegt hat): Ich auch nicht. 47
Hamms Gegenspieler ist schon dem Namen nach, was er ist, der
nochmals lädierte Clown, dem man den Endbuchstaben
abgeschnitten hat. Gleich klingt ein wohl veralteter Ausdruck für
den Pferdefuß des Teufels, ähnlich das kurrente Wort für
Handschuh. Er ist der Teufel seines Meisters, den er mit dem
Schlimmsten bedroht: ihn zu verlassen, und gleichzeitig dessen
Handschuh, mit dem jener die Dingwelt berührt, zu der er nicht
unmittelbar mehr gelangt. Aus solchen Assoziationen ist nicht nur
Clovs Gestalt, sondern ihr Zusammenhang mit der anderen
konstruiert. Auf der alten Klavierausgabe von Strawinskys Ragtime
für elf Instrumente, einem der bedeutendsten Stücke aus dessen
surrealistischer Phase, stand eine Picassozeichnung, die, angeregt
wohl vom Titel »Rag«, zwei verlumpte Figuren zeigt, Vorfahren der
Vagabunden Wladimir und Estragon, die auf Herrn Godot warten.
Die virtuose Graphik ist in einer einzigen Linie verschlungen. Von
ihrem Geist ist der Doppel-Sketch des Endspiels, ebenso wie die
ramponierten Wiederholungen, die Becketts gesamtes Werk
unwiderstehlich herbeizieht. In ihnen ist Geschichte storniert.
Wiederholungszwang ist der regressiven Verhaltensweise des
Eingesperrten abgesehen, der es immer wieder versucht. Beckett
trifft sich mit jüngsten Tendenzen der Musik nicht zuletzt darin, daß
er, der Westliche, Züge aus Strawinskys radikaler Vergangenheit,
die beklemmende Statik der zerfällten Kontinuität, mit avancierten
expressiven und konstruktiven Mitteln aus der Schönbergschule
amalgamiert. Auch die Umrisse von Hamm und Clov sind die einer
einzigen Linie; die Individuation zur säuberlich selbständigen
Monade wird ihnen versagt. Sie können nicht ohne einander leben.
Die Macht Hamms über Clov scheint darauf zu beruhen, daß nur er
weiß, wie der Speiseschrank aufgeht, etwa wie nur ein Prinzipal die
Kombination kennt, auf die das Schloß eines Kassenschranks
eingestellt ist. Er wäre bereit, ihm das Geheimnis zu verraten, wenn
Clov schwüre, ihn – oder »uns« – »zu erledigen«. In einer fürs
Gewebe des Stücks überaus charakteristischen Wendung antwortet
Clov: »Ich könnte dich nicht erledigen«, und als mokierte das Stück
sich über den Mann, der Vernunft annimmt, sagt Hamm: »Dann
wirst du mich nicht erledigen.« 48 Auf Clov ist er angewiesen, weil
dieser allein noch verrichten kann, was beide am Leben erhält. Das
aber ist von fraglichem Wert, weil beide wie der Kapitän des
Gespensterschiffs fürchten müssen, nicht sterben zu können. Das
bißchen, das zugleich alles ist, wäre, daß daran doch vielleicht etwas
sich ändert. Diese Bewegung, oder ihr Ausbleiben, ist die Handlung.
Sie wird freilich nicht viel expliziter als das motivisch wiederholte
»Irgend etwas geht seinen Gang« 49 , so abstrakt wie die reine Form
der Zeit. Eher wird die Hegelsche Dialektik von Herr und Knecht,
an die Günther Anders schon bei Gelegenheit von Godot erinnerte,
verlacht, als daß sie, nach den Sitten der traditionellen Ästhetik,
gestaltet wäre. Der Knecht kann nicht mehr die Zügel ergreifen, um
Herrschaft abzuschaffen. Der Verstümmelte wäre dazu kaum fähig,
und für die spontane Aktion ist es, nach der
geschichtsphilosophischen Sonnenuhr des Stückes, sowieso zu spät.
Clov bleibt nichts übrig, als auszuwandern in die für die
Abgeschiedenen nicht vorhandene Welt, mit einigen Chancen, dabei
zu sterben. Selbst auf die Freiheit zum Tode darf er sich nicht
verlassen. Zwar bringt er den Entschluß zu gehen auf, kommt auch
wie zum Abschied herein: »Panama, Tweedrock, hellgelbe
Handschuhe, Regenmantel überm Arm, Schirm und Koffer« 50 , mit
einer musikalisch starken Schlußwirkung. Aber man sieht nicht
seinen Abgang, sondern er bleibt »regungslos und teilnahmslos mit
auf Hamm gerichtetem Blick bis zum Ende stehen« 51 . Das ist eine
Allegorie, aus der die Intention verpuffte. Von Unterschieden
abgesehen, die entscheiden mögen oder ganz gleichgültig sein, ist
sie identisch mit dem Anfang. Kein Zuschauer und kein Philosoph
wüßte zu sagen, ob es nicht wieder von vorn beginnt. Dialektik
pendelt aus.
Musikhaft ist die Handlung des Stücks insgesamt komponiert,
über zwei Themen wie vormals Doppelfugen. Das erste Thema ist,
daß es zu Ende gehen soll, die unscheinbar gewordene
Schopenhauersche Verneinung des Willens zum Leben. Hamm
stimmt es an; die Personen, die keine mehr sind, werden zu
Instrumenten ihrer Situation, als hätten sie Kammermusik zu
spielen. »Hamm, der im Endspiel blind und unbeweglich im
Rollstuhl sitzt, ist von allen bizarren Instrumenten Becketts das mit
den meisten Tönen, dem überraschendsten Klang.« 52 Hamms
Unidentität mit sich selbst motiviert den Verlauf. Während er das
Ende will, als das der Qual schlecht unendlicher Existenz, ist er
besorgt um sein Leben wie ein Herr in den ominösen besten Jahren.
Überwertig sind ihm die minderen Paraphernalien von Gesundheit.
Er fürchtet aber nicht den Tod, sondern daß er mißlingen könnte;
das Kafkasche Motiv des Jägers Grachus hallt nach 53 . So wichtig
wie die eigene Notdurft ist ihm, daß der zum Schauen bestellte Clov
kein Segel, keine Rauchfahne erspäht; daß keine Ratte und kein
Insekt mehr sich regt, mit denen das Unheil von vorn anheben
könne; auch nicht das vielleicht überlebende Kind, das doch die
Hoffnung wäre und auf das er lauert wie Herodes der Metzger auf
den agnus dei. Das Insektenvertilgungsmittel, das vom Anbeginn
auf die Vernichtungslager hinauswollte, wird zum Endprodukt der
Naturbeherrschung, die sich selbst erledigt. Inhalt des Lebens ist nur
noch: daß nichts Lebendiges sei. Alles was ist, soll einem Leben
gleichgemacht werden, das selber der Tod ist, die abstrakte
Herrschaft. – Das zweite Thema ist Clov zugeordnet, dem Diener.
Nach einer freilich sehr verdunkelten Geschichte lief er Schutz
suchend Hamm zu; aber er hat auch manches vom Sohn des wütend
impotenten Patriarchen. Dem Ohnmächtigen den Gehorsam
kündigen, ist das Allerschwerste, unwiderstehlich sträubt sich das
Geringfügige, Überholte gegen die Abschaffung. Kontrapunktiert
sind die beiden Handlungen dadurch, daß der Todeswille Hamms
eins ist mit seinem Lebensprinzip, während der Lebenswille Clovs
den Tod beider herbeiführen dürfte; Clov sagt: »Draußen ist der
Tod.« 54 Die Antithese der Helden ist denn auch nicht fixiert,
sondern ihre Regungen vermischen sich; gerade Clov redet zuerst
vom Ende. Schema des Verlaufs ist das Endspiel des Schachs, eine
typische, einigermaßen normierte Situation, durch Zäsur vom
Mittelspiel und seinen Kombinationen getrennt; diese fehlen auch
im Stück. Intrige und plot werden stillschweigend suspendiert. Nur
Kunstfehler oder Unglücksfälle wie der, daß irgendwo noch
Lebendiges wächst, könnten Unvorhergesehenes stiften, nicht der
findige Geist. Fast leer ist das Feld, und was zuvor geschah, ist
kümmerlich nur aus den Stellungen der paar Figuren abzulesen.
Hamm ist der König, um den alles sich dreht und der selber nichts
vermag. Das Mißverhältnis zwischen dem Schach als Zeitvertreib
und der unmäßigen Anstrengung, die es involviert, wird auf der
Bühne zu dem zwischen athletisch sich Gebärdenden und dem
Gummigewicht dessen, was sie tun. Ob die Partie mit einem Patt
oder einem ewigen Schach ausgeht, oder ob Clov siegt, wird, als
wäre die Gewißheit darüber schon zuviel Sinn, nicht eindeutig;
übrigens ist es wohl auch gar nicht so wichtig, im Patt käme alles
zur Ruhe wie im Matt. Sonst entragt dem Kreis einzig das flüchtige
Bild jenes Kindes 55 , hinfälligste Reminiszenz an Fortinbras oder
den Kinderkönig. Es könnte gar Clovs eigenes, verlassenes Kind
sein. Aber das schräge Licht, das von dorther in den Raum fällt, ist
so schwach wie die hilflos helfenden Arme, die am Ende von
Kafkas Prozeß zum Fenster sich hinausstrecken.
Thematisch wird die Endgeschichte des Subjekts in einem
Intermezzo, das seine Symbolik sich gestatten kann, weil es die
eigene Hinfälligkeit, und damit die seines Sinnes, vor Augen stellt.
Die Hybris des Idealismus, die Inthronisation des Menschen als
Schöpfers im Zentrum der Schöpfung, hat sich in dem »Innenraum
ohne Möbel« verschanzt wie ein Tyrann in seinen letzten Tagen.
Dort wiederholt er mit winzig verkleinerter Imagination, was einmal
der Mensch gewesen sein wollte; was ihm der gesellschaftliche Zug
nicht anders als die neue Kosmologie entwand, und wovon er doch
nicht loskommt. Clov ist seine male nurse. Von ihm läßt Hamm im
Rollsessel in die Mitte jenes Interieurs sich schieben, zu dem die
Welt wurde und zugleich der Innenraum seiner eigenen
Subjektivität:
HAMM: Laß mich eine kleine Runde machen. (Clov stellt sich
hinter den Sessel und schiebt ihn ein Stück voran.) Nicht zu
schnell. (Clov schiebt den Sessel weiter.) Eine kleine Runde um
die Welt. (Clov schiebt den Sessel weiter.) Scharf an der Wand
entlang. Dann wieder zurück in die Mitte. (Clov schiebt den
Sessel weiter.) Ich stand doch genau in der Mitte, nicht wahr? 56
Der Verlust der Mitte, den das parodiert, weil jene Mitte selbst
schon Lüge war, wird zum armseligen Gegenstand nörgelnder und
kraftloser Pedanterie:
CLOV: Wir haben die Runde noch nicht beendet.
HAMM: Zurück an meinen Platz. (Clov schiebt den Sessel
wieder an seinen Platz und hält ihn an.) Ist das hier mein Platz?
CLOV: Ja, dein Platz ist hier?
HAMM: Stehe ich genau in der Mitte?
CLOV: Ich werde nachmessen.
HAMM: Ungefähr! Ungefähr!
CLOV: Da.
HAMM: Stehe ich ungefähr in der Mitte?
CLOV: Es scheint mir so.
HAMM: Es scheint dir so! Stell mich genau in die Mitte!
CLOV: Ich hole den Zollstock.
HAMM: Ach was! So in etwa. So in etwa. (Clov schiebt den
Sessel unmerklich weiter.) Genau in die Mitte! 57
Was aber in dem blöden Ritual vergolten wird, ist nichts, was das
Subjekt erst verübt hätte. Subjektivität selbst ist die Schuld; daß man
überhaupt ist. Ketzerisch fusioniert sich die Erbsünde mit der
Schöpfung. Sein, das Existentialphilosophie als Sinn von Sein
ausposaunt, wird zu dessen Antithesis. Panische Angst vor
Reflexbewegungen des Lebendigen peitscht nicht nur zu
unermüdlicher Naturbeherrschung an: sie heftet sich ans Leben
selbst als den Grund des Unheils, zu dem Leben wurde:
HAMM: Alle, denen ich hätte helfen können. (Pause) Helfen!
(Pause) Die ich hätte retten können. (Pause) Retten! (Pause) Sie
krochen aus allen Ecken. (Pause. Heftig.) Überlegen Sie doch,
überlegen Sie! Sie sind auf der Erde, dagegen ist kein Kraut
gewachsen! 58
Daraus zieht er das Fazit: »Das Ende ist am Anfang, und doch
macht man weiter.« 59 Das autonome Sittengesetz schlägt
antinomistisch um, reine Herrschaft über Natur in Pflicht zum
Ausrotten, die stets schon dahinter lauerte:
HAMM: Schon wieder Komplikationen! (Clov steigt von der
Leiter.) Wenn es nur nicht wieder losgeht!
Clov rückt die Leiter näher ans Fenster, steigt hinauf und setzt
das Fernglas an. Pause.
CLOV: Oh je, oh je, oh je, oh je!
HAMM: Ein Blatt? Eine Blume? Eine Toma ... (er gähnt) ... te?
CLOV (schauend): Du kriegst gleich Tomaten! Jemand! Da ist
jemand!
HAMM (hört auf zu gähnen): Na ja, geh ihn ausrotten. (Clov
steigt von der Leiter. Leise.) Jemand! (Mit bebender Stimme.)
Tu deine Pflicht! 60
Über den Idealismus, dem solcher totale Pflichtbegriff entstammt,
urteilt eine Frage des verhinderten Rebellen Clov an seinen
verhinderten Herrn:
CLOV: Gibt es Sektoren, die dich besonders interessieren?
(Pause) Oder bloß alles? 61
Das klingt wie die Probe auf Benjamins Einsicht, eine angeschaute
Zelle Wirklichkeit wiege den Rest der ganzen übrigen Welt auf. Das
Totale, reine Setzung des Subjekts, ist das Nichts. Kein Satz klingt
absurder als dieser vernünftigste, der das Alles zum Nur kontrahiert,
dem Trugbild der anthropozentrisch beherrschbaren Welt. So
vernünftig jedoch dies Absurdeste, so wenig läßt der absurde Aspekt
von Becketts Stück sich wegdisputieren, nur weil seiner die
eilfertige Apologetik und die Begierde des Abstempelns sich
bemächtigte. Ratio, vollends instrumentell geworden, bar der
Selbstbesinnung und der auf das von ihr Entqualifizierte, muß nach
dem Sinn fragen, den sie selber tilgte. In dem Stand aber, der zu
dieser Frage nötigt, bleibt keine Antwort als das Nichts, das sie als
reine Form bereits ist. Die geschichtliche Unausweichlichkeit dieser
Absurdität läßt sie ontologisch erscheinen: das ist der
Verblendungszusammenhang der Geschichte selbst. Becketts Drama
durchschlägt ihn. Der immanente Widerspruch des Absurden, der
Unsinn, in dem Vernunft terminiert, öffnet emphatisch die
Möglichkeit eines Wahren, das nicht einmal mehr gedacht werden
kann. Er untergräbt den absoluten Anspruch dessen, was nun einmal
so ist. Die negative Ontologie ist die Negation von Ontologie:
Geschichte allein hat gezeitigt, was die mythische Gewalt des
Zeitlosen sich aneignete. Die geschichtliche Fiber von Situation und
Sprache bei Beckett konkretisiert nicht more philosophico ein
Ungeschichtliches – eben dieser Usus der existentialistischen
Dramatiker ist so kunstfremd wie philosophisch rückständig.
Sondern das Ein für allemal Becketts ist die unendliche Katastrophe;
erst »daß die Erde erloschen ist, obgleich ich sie nie brennen sah« 62
begründet Clovs Antwort auf Hamms Frage: »Meinst du nicht, daß
es lange genug gedauert hat?«: »Seit jeher schon.« 63 Vorgeschichte
dauert fort, das Phantasma von Ewigkeit ist selber nur deren Fluch.
Nachdem Clov dem ganz Gelähmten über das berichtete, was er von
der Erde sieht, nach der zu schauen jener ihm gebot 64 , vertraut
Hamm ihm als sein Geheimnis an:
CLOV (vertieft): Hmm.
HAMM: Weißt du was?
CLOV (dergleichen): Hmm.
HAMM: Ich bin nie dagewesen. 65
Die Erde ward noch nie betreten; das Subjekt ist noch keines.
Bestimmte Negation wird dramaturgisch durch konsequente
Verkehrung. Die beiden Sozialpartner qualifizieren ihre Einsicht, es
gebe keine Natur mehr, mit dem bürgerlichen »Du übertreibst« 66 .
Besonnenheit ist das probate Mittel, Besinnung zu sabotieren. Sie
veranlaßt zur melancholischen Reflexion:
CLOV (traurig): Niemand auf der Welt hat je so verdreht
gedacht wie wir. 67
Wo sie der Wahrheit am nächsten kommen, fühlen sie in
gedoppelter Komik ihr Bewußtsein als falsches; so spiegelt sich der
Zustand, an den Reflexion nicht mehr heranreicht. Mit der Technik
von Verkehrung ist aber das ganze Stück gewoben. Sie transfiguriert
die empirische Welt in das, als was sie desultorisch schon beim
späten Strindberg und im Expressionismus benannt war. »Das ganze
Haus stinkt nach Kadaver ... Das ganze Universum.« 68 Hamm, der
danach auf »das Universum pfeift«, ist ebenso der Urenkel Fichtes,
der die Welt verachtet, weil sie nichts als Rohmaterial und Produkt
ist, wie der, welcher keine Hoffnung weiß denn die kosmische
Nacht, die er mit Poesiezitaten erfleht. Zur Hölle wird die Welt als
absolute: nichts anderes ist als sie. Graphisch hebt Beckett den Satz
Hamms hervor: »Jenseits ist ... die ANDERE Hölle.« 69 Er läßt eine
vertrackte Metaphysik des Diesseits durchscheinen, mit
Brechtischem Kommentar:
CLOV: Glaubst du an das zukünftige Leben?
HAMM: Meines ist es immer gewesen. (Clov geht und schlägt
die Tür hinter sich zu.) Peng! Das saß! 70
In seiner Konzeption kommt Benjamins Idee einer Dialektik im
Stillstand nach Hause:
HAMM: Es wird das Ende sein, und ich werde mich fragen,
durch was es wohl herbeigeführt wurde, und ich werde mich
fragen, durch was es wohl ... (Er zögert.) ... warum es so spät
kommt. (Pause) Ich werde da sein, in dem alten Unterschlupf,
allein gegen die Stille und ... (Er zögert.) ... die Starre. Wenn ich
schweigen kann und ruhig bleiben, wird es aus sein mit jedem
Laut und jeder Regung. 71
Jene Starre ist die Ordnung, die Clov angeblich liebt und die er als
Zweck seiner Verrichtungen definiert:
CLOV: Eine Welt, in der alles still und starr wäre und jedes
Ding seinen letzten Platz hätte, unterm letzten Staub. 72
Wohl wird das alttestamentarische Zu Staub sollst du werden
übersetzt in: Dreck. Zur Substanz des Lebens, das der Tod ist,
werden dem Stück die Exkretionen. Aber das bilderlose Bild des
Todes ist eines von Indifferenz. In ihm verschwindet der
Unterschied zwischen der absoluten Herrschaft, der Hölle, in der
Zeit gänzlich in den Raum gebannt ist, in der schlechterdings nichts
mehr sich ändert, – und dem messianischen Zustand, in dem alles an
seiner rechten Stelle wäre. Das letzte Absurde ist, daß die Ruhe des
Nichts und die von Versöhnung nicht auseinander sich kennen
lassen. Hoffnung kriecht aus der Welt, in der sie so wenig mehr
aufbewahrt wird wie Brei und Praliné, dorthin zurück, woher sie
ihren Ausgang nahm, in den Tod. Aus ihm zieht das Stück seinen
einzigen Trost, den stoischen:
CLOV: Es gibt so viele schreckliche Dinge.
HAMM: Nein, nein, es gibt gar nicht mehr so viele. 73
Bewußtsein schickt sich an, dem eigenen Untergang ins Auge zu
sehen, als wollte es ihn überleben wie die beiden ihren
Weltuntergang. Proust, über den Beckett in seiner Jugend einen
Essay schrieb, soll versucht haben, den eigenen Todeskampf in
Notizen zu protokollieren, die der Beschreibung von Bergottes Tod
hätten eingefügt werden sollen. Das Endspiel führt diese Absicht
aus wie das Mandat aus einem Testament.
 Fußnoten
 
1 Samuel Beckett, Endspiel und Alle die da fallen, übertr. von
Elmar Tophoven, Frankfurt a.M. 1957, S. 33.
 
2 a.a.O., S. 27.
 
3 a.a.O., S. 23f.
 
4 a.a.O., S. 14.
 
5 a.a.O., S. 15f.
 
6 a.a.O., S. 9.
 
7 a.a.O., S. 25.
 
8 a.a.O., S. 16.
 
9 a.a.O., S. 28.
 
10 Vgl. Erpreßte Versöhnung, oben S. 263, und Georg Lukács,
Wider den mißverstandenen Realismus, Hamburg 1958, S. 31.
 
11 Karl Jaspers, Philosophie. Bd. 2: Existenzerhellung. 3. Aufl.,
Berlin, Göttingen, Heidelberg 1956, S. 201f.
 
12 a.a.O., S. 202.
 
13 a.a.O., S. 203.
 
14 a.a.O., S. 225.
 
15 Vgl. Heinrich Rickert, Unmittelbarkeit und Sinndeutung,
Tübingen 1939, S. 133f.
 
16 Ernst Robert Curtius, Französischer Geist im neuen Europa,
1925, S. 74ff.; zitiert bei Heinrich Rickert, a.a.O., S. 133ff.,
Fußnote.
 
17 Beckett, a.a.O., S. 37.
 
18 Vgl. Max Horkheimer und Th. W. Adorno, Dialektik der
Aufklärung, Amsterdam 1947, S. 279 [GS 3, s. S. 267f.].
 
19 Beckett, a.a.O., S. 67.
 
20 a.a.O., S. 55.
 
21 a.a.O.
 
22 a.a.O., S. 23.
 
23 a.a.O., S. 11.
 
24 a.a.O., S. 10.
 
25 a.a.O., S. 25.
 
26 a.a.O., S. 20.
 
27 Vgl. a.a.O., S. 44.
 
28 Vgl. etwa Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen,
München 1956, S. 217.
 
29 Beckett, a.a.O., S. 26f.
 
30 30 a.a.O., S. 39.
 
31 a.a.O., S. 13.
 
32 a.a.O., S. 16f.
 
33 Vgl. Th. W. Adorno, Prismen, Berlin, Frankfurt a.M. 1955, S.
329, Fußnote (Aufzeichnungen zu Kafka) [GS 10.1, s. S. 276].
 
34 Vgl. Beckett, a.a.O., S. 56.
 
35 Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Bd. 11: Vorlesungen zur
Einführung in die Psychoanalyse, London 1940, S. 33.
 
36 Beckett, a.a.O., S. 29.
 
37 a.a.O., S. 22.
 
38 Vgl. Th. W. Adorno, Voraussetzungen, in: Akzente 8 (1961), S.
463ff. [GS 11, s. S. 431ff.] und dazu Max Horkheimer und Th. W.
Adorno, Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 37ff. [GS 3, s. S. 41ff.]
 
39 Vgl. Th. W. Adorno, Dissonanzen, 2. Aufl., Göttingen 1958, S.
34 und 44 [GS 14, s. S. 39f. und S. 49f.].
 
40 Beckett, a.a.O., S. 28.
 
41 a.a.O., S. 36.
 
42 a.a.O., S. 41.
 
43 a.a.O., S. 51f.
 
44 a.a.O., S. 18.
 
45 a.a.O.
 
46 Vgl. Walter Benjamin, Schriften, Frankfurt a.M. 1955, Bd. 1, S.
457.
 
47 Beckett, a.a.O., S. 48.
 
48 a.a.O., S. 33.
 
49 a.a.O., S. 16; vgl. S. 29.
 
50 a.a.O., S. 66.
 
51 a.a.O., S. 66.
 
52 Marie Luise Kaschnitz, Zwischen Immer und Nie. Gestalten und
Themen der Dichtung, Frankfurt a.M. 1971, S. 207.
 
53 Vgl. Th. W. Adorno, Prismen, a.a.O., S. 341.
 
54 Beckett, a.a.O., S. 13.
 
55 Vgl. a.a.O., S. 62.
 
56 a.a.O., S. 24.
 
57 a.a.O., S. 25.
 
58 a.a.O., S. 54.
 
59 a.a.O.
 
60 a.a.O., S. 61.
 
61 a.a.O., S. 57.
 
62 a.a.O., S. 65.
 
63 a.a.O., S. 38.
 
64 Vgl. a.a.O., S. 56.
 
65 a.a.O., S. 58.
 
66 a.a.O., S. 14.
 
67 a.a.O.
 
68 a.a.O., S. 39.
 
69 a.a.O., S. 24.
 
70 a.a.O., S. 41.
 
71 71 a.a.O., S. 54f.
 
72 72 a.a.O., S. 46.
 
73 73 a.a.O., S. 38.
 
 Noten zur Literatur III
 Titel
Paraphrasen zu Lessing
Für Marie Luise Kaschnitz
 
» ›Nanine?‹ fragten sogenannte Kunstrichter, als dieses Lustspiel im
Jahre 1747 zuerst erschien. Was ist das für ein Titel? Was denkt
man dabei? – Nicht mehr und nicht weniger, als man bei einem Titel
denken soll. Ein Titel muß kein Küchenzettel sein. Je weniger er
von dem Inhalt verrät, desto besser ist er.« 1 So Lessing, der
Titelfragen häufig erörtert, im einundzwanzigsten Stück der
Hamburgischen Dramaturgie. Seine Abneigung gegen Titel, die
etwas bedeuten, war die gegen den Barock; der Theoretiker des
bürgerlichen deutschen Dramas will durch nichts mehr an die
Allegorie erinnert werden, obwohl der Autor der Minna die
Alternative ›Oder das Soldatenglück‹ nicht verschmäht. Tatsächlich
hat der Stumpfsinn begrifflicher Titel später, im deutschen
Klassizismus, ihm recht gegeben; der, unter dem die Louise Millerin
seitdem gespielt wird, geht nicht Schiller zu Lasten. Aber wollte
man Stücke, oder Romane, heute noch, wie Lessing vorschlug, nach
Hauptfiguren nennen, man wäre schwerlich besser daran. Nicht nur
ist bei den eingreifenden Produkten der Epoche fraglich, ob sie so
etwas wie Hauptfiguren noch haben, oder ob diese mit den Helden
hinab mußten. Darüber hinaus unterstreicht die Zufälligkeit eines
Eigennamens über einem Text die Urfiktion, daß es um einen
Lebendigen ginge, bis zum Unerträglichen. Konkrete Namenstitel
klingen bereits ein wenig wie die Namen in Witzen, »Bei Pachulkes
ist ein Kleines angekommen«. Der Held wird herabgewürdigt,
indem man ihm einen Namen gibt, wie wenn er noch eine leibhafte
Person wäre; weil er den Anspruch nicht erfüllen kann, wird der
Name lächerlich, wofern es nicht, bei prätentiösen Namen,
unverschämt ist, sie überhaupt zu tragen. Was aber sollen vollends
bei Abstraktionen von der empirischen Realität Titel, die so tun, als
ob sie aus dieser geradenwegs entlehnt wären. Stoffe von der
Dignität des Namens gibt es erst recht nicht mehr. Die abstrakten
jedoch sind nicht besser als in der zweiten Hälfte des achtzehnten
Jahrhunderts, da Lessing sie ins Archiv der gelehrten Poesie
hinabstieß. Regelmäßig reden sie sich auf ihre jeweils verwendete
Technik heraus, latente Gattungsbezeichnungen zu einer Stunde des
Geistes, in der keine Gattung so verbürgt ist, daß man bei ihr
Unterschlupf suchen dürfte, während doch ›Konstruktion 22‹ oder
›Texturen‹ so sich gebärden, als eignete ihnen samt der
hermetischen Kühnheit die Verbindlichkeit von Universalia ante
rem. Verfahrungsweisen sind Mittel, nicht Zweck. Dieser jedoch,
das Gedichtete, dürfte um keinen Preis, bei der Strafe sofortigen
Untergangs des Gebildes, im Munde geführt werden, selbst wenn je
ein Dichter es vermöchte. Titel müssen wie Namen es treffen, nicht
es sagen. So wenig das aber der abdestillierte Gedanke leistet, so
wenig leistet es auch das bloße Diesda. Die Aufgabe eines jeden
Titels ist paradox; sie entzieht sich ebenso der rationalen
Allgemeinheit wie der in sich verschlossenen Besonderung. Das
wird als Unmöglichkeit der Titel heute offenbar. Eigentlich
wiederholt sich im Titel die Paradoxie des Kunstwerks, drängt sich
zusammen. Der Titel ist der Mikrokosmos des Werkes, Schauplatz
der Aporie von Dichtung selbst. Können Dichtungen, die nicht mehr
heißen können, noch sein? Einer von Beckett, ›L'innommable‹, ist
nicht bloß der Sache gemäß sondern auch die Wahrheit über die
Namenlosigkeit gegenwärtiger Dichtung. Kein Wort mehr taugt
darin, das nicht das Unsägliche sagte, daß es nicht sich sagen läßt.
 
Sicherlich ist Unwillkürlichkeit nur ein Moment an den Dichtungen.
Zu verlangen aber wäre sie von den Titeln. Diese müssen entweder
der Konzeption so tief eingesenkt sein, daß das eine nicht ohne das
andere gedacht werden kann, oder sie müssen einem einfallen. Nach
Titeln suchen ist so hoffnungslos, wie wenn man sich auf ein
vergessenes Wort besinnt, von dem man zu wissen glaubt, alles
hänge daran, daß man seiner sich erinnere. Denn jedes Werk, wenn
nicht jeder fruchtbare Gedanke, ist sich verborgen; nie sich selbst
durchsichtig. Der gesuchte Titel aber will immer das Verborgene
hervorzerren. Das verweigert das Werk zu seinem Schutz. Die guten
Titel sind so nahe an der Sache, daß sie deren Verborgenheit achten;
daran freveln die intentionierten. Deshalb ist es soviel leichter, Titel
für die Arbeiten anderer zu finden als für die eigenen. Der fremde
Leser weiß nie die Intention des Autors so gut wie dieser; dafür
kristallisiert sich ihm leichter das Gelesene zur Figur wie ein
Vexierbild, und mit dem Titel antwortet er auf die Rätselfrage. Den
wahren Titel aber weiß das Werk selbst so wenig wie der Zadik
seinen mystischen Namen.
 
Peter Suhrkamp hatte für Titel eine unvergleichliche Begabung. Sie
war vielleicht das Siegel der verlegerischen. Als Verlegertugend
wäre die Fähigkeit zu definieren, dem Text seinen Titel zu
entlocken. Er entscheidet über die Publikation danach, ob aus dem
Text einer hervorspringt. Eine von Suhrkamps Idiosynkrasien
richtete sich gegen Titel mit Und. Ein solcher war wohl schon das
Verhängnis von Kabale und Liebe. Wie in der Allegorese erlaubt
das Und alles mit allem zu verbinden und ist darum ohnmächtig
zum Meisterschuß. Aber wie alle ästhetischen Präskripte ist auch
das Tabu übers Und nur eine Stufe zur eigenen Aufhebung. In
manchen Titeln, und am Ende den höchsten, saugt das blasse Und
begriffslos die Bedeutung in sich hinein, die als begriffene
zerstäubte. In Romeo und Julia ist das Und das Ganze, dessen
Moment es ist. In ›Sittlichkeit und Kriminalität‹ von Kraus wirkt das
Und als verschluckte Pointe. Arglistig banal werden die beiden
antithetischen Worte miteinander verkoppelt, als handelte es sich
einfach um ihre Differenz. Durch die Beziehung auf den Inhalt des
Buches jedoch schlägt ein jedes ins Gegenteil um. Der Titel Tristan
und Isolde aber, gotisch gedruckt, gleicht der wehenden schwarzen
Flagge vom Bug eines Segelschiffs.
 
Das Buch ›Prismen‹ war ursprünglich ›Kulturkritik und
Gesellschaft‹ genannt. Suhrkamp hatte das wegen des Und
beanstandet, es ist zum Untertitel relegiert worden. Da der
ursprüngliche von Anbeginn, mit dem Aufbau des Ganzen,
feststand, bereitete es die größte Mühe, einen anderen zu finden. In
einem täuschte Lessing sich gewiß, der rhetorischen Frage »Was ist
leichter zu ändern als ein Titel?« 2 ›Prismen‹ war ein Kompromiß.
Dafür läßt sich anführen, daß das Wort wenigstens in handfestem
Sinn das Gemeinsame der Teile richtig charakterisiert. Die meisten
der Essays außer dem quasi-einleitenden handeln von bereits
vorgeformten geistigen Phänomenen. Nirgends aber bildet, wie es
sonst der Essayform wohl gemäß wäre, deren Dechiffrierung die
Aufgabe, sondern durch jeden Text, jeden Autor hindurch soll etwas
von der Gesellschaft schärfer erkannt werden; die behandelten
Werke sind Prismen, durch die man auf Wirkliches hindurchblickt.
Trotzdem bin ich mit dem Titel unzufrieden. Denn das, wofür er
begrifflich steht, ist nicht abzutrennen von einem Unbegrifflichen,
dem geschichtlichen Stellenwert des Wortes Prismen, seinem
Verhältnis zur zeitgenössischen Sprache. Allzu willig läßt das Wort
von deren Strom sich treiben, wie Zeitschriften, die modernistisch
aufgemacht sind, damit man auf dem Markt sie bemerkt. Das Wort
ist einverstanden durchs Aparte, das nichts kostet; schon am ersten
Tag hört man ihm an, wie rasch es veraltet. Solche Affichen
benutzen Leute, die den Jazz für moderne Musik halten. Der Titel ist
Denkmal einer Niederlage im permanenten Prozeß zwischen
Gebilde und Autor. Ich spreche das aus, hoffend, dem Titel dadurch
einen Giftstoff beizumengen, der ihm mumienhafte Dauer verleiht,
so daß er dem Buch nicht gar zuviel schadet.
 
Auch den ›Noten zur Literatur‹ war es nicht an der Wiege gesungen,
daß sie das wurden. Ich hatte sie, nach der Überschrift einer
Aphorismenfolge, die ich vor der Zeit des Hitler in der Frankfurter
Zeitung veröffentlichte, ›Worte ohne Lieder‹ getauft. Mir gefiel das,
und ich hing daran; Suhrkamp fand es zu feuilletonistisch und zu
billig. Er grübelte und stellte eine Liste zusammen, aus der ich
nichts annehmen wollte, bis er verschmitzt als letzten Vorschlag
›Noten zur Literatur‹ anmeldete. Das war unvergleichlich viel besser
als mein etwas dümmliches Bonmot. Was mich aber daran
entzückte, war, daß Suhrkamp, indem er meine Idee kritisierte, sie
festhielt. Die Konstellation von Musik und Wort ist ebenso gerettet
wie das leise Altmodische einer Form, deren Glanzperiode der
Jugendstil war. Mein Titel zitierte Mendelssohn, der Suhrkampsche,
einige Etagen höher, die Goetheschen Noten zum Diwan. An der
Kontroverse habe ich gelernt, daß anständige Titel solche sind, in
welche die Gedanken einwanderten, um darin unkenntlich zu
verschwinden. Mit ›Klangfiguren‹ ging es nicht viel anders.
Suhrkamp beanstandete, womit ich an den Anfang der ›Prismen‹
anknüpfen wollte: ›Mit den Ohren gedacht‹. Dazu assoziiere man
»mit dem Schwanz gewackelt«. Zu ›Klangfiguren‹ gelangte ich,
nach Schönbergs Wort, durch entwickelnde Variation. Sollte ›Mit
den Ohren gedacht‹ die sinnliche Wahrnehmung von Kunst als
zugleich geistige bestimmen, so sind Klangfiguren Spuren, welche
das Sinnliche, die Schallwellen in einem anderen Medium, dem
reflektierenden Bewußtsein, hinterlassen. Ist einem einmal ein Titel
eingefallen, so läßt er sich auch verbessern; was besser an ihm wird,
ist ein Stück eingesickerter Geschichte.
 
Zwei Titel von Kafkas Romanen, Prozeß und Schloß, stammen,
soviel mir bekannt, nicht von ihm; schlecht hätte zu ihm gepaßt,
dem wesentlich Fragmentarischen einen Namen zu geben. Dennoch
halte ich die Titel, wie die Kafkaschen durchweg, für gut. Brod
zufolge waren es die Worte, mit denen er im Gespräch die Werke
erwähnte. Titel solchen Typus verschmelzen mit den Werken selber;
die Scheu, diese zu überschreiben, wird zum Ferment ihres Namens.
Was heute, auf dem Kulturmarkt, als »Arbeitstitel« läuft, ist der
Verschleiß dieser genuinen Form. – Bewunderung hege ich für den
Titel von Kafkas berühmtestem Prosastück. Er ist nicht das Wort,
um das es sich ordnet, Odradek, sondern einem zumindest scheinbar
peripheren Motiv abgewonnen. Zur Affinität zwischen Kafka und
Lessing stimmt nicht schlecht, daß dieser an Plautus rühmt, er habe
»seine ganz eigene Manier in Benennung seiner Stücke« gehabt;
»und meistenteil nahm er sie von dem allerunerheblichsten
Umstande her« 3 . ›Die Sorge des Hausvaters‹ entspricht streng der
schrägen Perspektive, die allein es dem Dichter gestattete, das
Ungeheure zu behandeln, das, hätte er ihm ins Angesicht geschaut,
seine Prosa mit Stummheit oder Wahnsinn hätte schlagen müssen.
Man weiß, daß Klee von Zeit zu Zeit Bildertaufen veranstaltete.
Einer solchen könnte der Kafkasche Titel sein Dasein verdanken.
Wo die neue Kunst Dinge herstellt, deren Geheimnis daran haftet,
daß sie ihren Namen verloren haben, wird die Erfindung des
Namens zur Staatsaktion.
 
Für den Amerika-Roman wäre der Titel ›Der Verschollene‹ den
Kafka im Tagebuch benutzte, besser gewesen als der, unter dem das
Buch in die Geschichte einging. Schön ist auch dieser: weil das
Werk soviel mit Amerika zu tun hat wie die prähistorische
Photographie ›Im Hafen von New York‹, die als loses Blatt in
meiner Ausgabe des Heizer-Fragments von 1913 liegt. Der Roman
spielt in einem verwackelten Amerika, demselben und doch nicht
demselben wie das, an dem nach langer, öder Überfahrt das Auge
des Emigranten Halt sucht. – Dazu aber paßte nichts besser als ›Der
Verschollene‹ Leerstelle eines unauffindbaren Namens. Diesem
participium perfecti passivi kam sein Verb abhanden wie dem
Andenken der Familie der Ausgewanderte, der gestorben und
verdorben ist. Der Ausdruck des Wortes verschollen, weit über seine
Bedeutung hinaus, ist der des Romans selber.
 
Die Forderung von Karl Kraus an den Polemiker, er müsse fähig
sein, ein Werk in einem Satz zu vernichten, wäre auf die Titel
auszudehnen. Ich kenne solche, die nicht nur die Lektüre dessen
ersparen, was sie dem Leser aufschwatzen, ohne ihm nur Zeit zu
lassen, die Sache zu erfahren, sondern in denen das Schlechte sich
zusammendrängt wie in den guten Titeln das Gute. Dabei braucht
man gar nicht in die Unterwelt hinabzusteigen, in der die Wiscottens
schmoren oder der Heideschulmeister Uwe Karsten. Mir genügt
schon ›Opfergang‹. Das Wort tritt ohne nähere Bestimmung auf wie
»Sein« am Anfang der Hegelschen Logik, jenseits aller Syntax, als
wäre es jenseits der Welt. Aber der Prozeß seiner Bestimmung
findet nicht statt wie bei Hegel, es bleibt absolut. Darum dünstet es
jene Atmosphäre aus, die Benjamin als Verfallsform der Aura
entzauberte. Weiter suggeriert das Wort Opfergang, durch die
Verbindung seiner beiden Bestandstücke, die Vorstellung edler
Freiwilligkeit des Opfers. Der Zwang, unter dem ein jegliches steht,
wird dadurch vertuscht, daß das Opfer, dem ohnehin nichts anderes
übrig bleibt, mit seinem Schicksal sich identifiziert und sich opfert.
Indem der Artikel weggelassen wird, erscheint dies Ritual als mehr
denn das Unheil, das dem Besonderen widerfährt; vaguement als ein
Höheres, der Ordnung des Seins Zugehöriges, ein Existential oder
Gott weiß was sonst. Der bloße Titel bejaht das Opfer um des
Opfers willen. Die Schale mit der Flamme, die er nachahmt,
Buchschmuck aus dem Jugendstil, überredet dazu, das Opfer selbst
sei dessen Sinn, auch wenn es gar keinen anderen habe, wie dann
Bindings nationalsozialistische Gesinnungsfreunde nicht müde
wurden zu beteuern. Die Lüge des Titels ist die der ganzen Sphäre:
er macht vergessen, daß Humanität der Stand einer Menschheit
wäre, die aus der Konstellation von Schicksal und Opfer sich befreit
hat. Der Titel war schon jener Mythos des zwanzigsten
Jahrhunderts, den in den Mund zu nehmen die Gepflegten ihre
Kultur verhinderte, die sie doch mit demselben Mythos
sympathisieren ließ. Wer aber des Gewimmels in einem solchen
Titel gewahr wird, der weiß auch, was geschah, als jener George zu
einem Titel wie ›Der Stern des Bundes‹ sich herabließ, der von der
angebeteten Luft unserer großen Städte geschrieben hatte, solange
sein Traum von der Moderne noch dem Babylon glich, nach dem
eine Station der Pariser Metro heißt.
 
Wie fatal es heute um die konkreten Titel steht, lehrt die
zeitgenössische amerikanische Literatur, zumal die dramatische, die
auf solche Titel geradezu versessen ist. Dort sind sie nicht länger,
was sie sein sollten, die blinden Flecken der Sache. Sie haben sich
dem Primat der Kommunikation angepaßt, der wie in der
Wissenschaft von den geistigen Gebilden so in diesen selbst die
Sache zu ersetzen beginnt. Die konkreten Titel werden durch ihre
Inkommensurabilität zum Mittel, sich Konsumenten einzuprägen
und damit kommensurabel, tauschbar durch Unvertauschbarkeit. Sie
schlagen zurück ins Abstrakte, geschützte Warenmarken: Die Katze
auf dem heißen Blechdach, Die Stimme der Schildkröte. Vorbild
solcher Praxis der anspruchsvollen Literatur ist unten jene Klasse
von Schlagern, die als nonsense oder novelty songs rangiert. Ihre
Überschriften und Schlagzeilen entziehen sich der begrifflichen
Allgemeinheit, jede ein Unikum, Reklame für das Ding, dem der
Stempel aufgedrückt ward. Nach der gleichen Vernunft kann man in
Hollywood verkaufskräftige Filmtitel patentieren lassen. Diese
Übung aber hat beängstigend rückwirkende Kraft. Nachträglich
erregt sie den Verdacht, es sei die ästhetische Konkretion in der
traditionellen Dichtung, auch wo sie einmal bessere Tage sah, von
der Ideologie verschluckt worden. Was aus jenen Titeln grinst,
widerfuhr insgeheim all dem, was vertrauensselige Liebe als
gegenständliche Fülle und körnig Angeschautes verehrt, und was die
Einverstandenen nicht sich nehmen lassen wollen. Es ist gut genug
nur noch dazu, vergessen zu machen, daß die erscheinende Welt
selber so abstrakt zu werden sich anschickt wie längst das Prinzip,
das sie im Innersten zusammenhält. Das dürfte helfen zu erklären,
warum Kunst in all ihren Gattungen heute sein muß, worauf die
Philister mit dem Schreckensruf »abstrakt« reagieren: um des
Fluchs sich zu entschlagen, der unter der Herrschaft des abstrakten
Tauschwerts das Konkrete ereilt hat, das ihn verbirgt.
 
In der Hamburgischen Dramaturgie meint Lessing, mit einem Satz
so spezifischen Tons, wie ein Titel ihn haben müßte: »ich möchte
doch lieber eine gute Komödie mit einem schlechten Titel« 4 . Er
war also doch schon auf die Schwierigkeit gestoßen, die heute
offenbar ist. Der Grund aber, den er angibt, lautet: »Wenn man
nachfragt, was für Charaktere bereits bearbeitet worden so wird
kaum einer zu erdenken sein, nach welchem besonders die
Franzosen nicht schon ein Stück genannt hätten. Der ist längst
dagewesen, ruft man. Der auch schon! Dieser würde vom Molière,
jener vom Destouches entlehnet sein! Entlehnet? Das kömmt aus
den schönen Titeln. Was für ein Eigentumsrecht erhält ein Dichter
auf einen gewissen Charakter dadurch, daß er seinen Titel davon
hergenommen?« 5 Es ist also der Zwang zur Wiederholung, welcher
es verwehrt, gute Titel auszudenken, wofern sie nicht reine Namen
sind. Lessing, Kind seines Jahrhunderts, hat das daraus abgeleitet,
»daß die Sprache für die unendlichen Varietäten des menschlichen
Gemüts nicht auch unendliche Benennungen hat« 6 . Aber was er
entdeckte, ist in Wahrheit bedingt von der literarischen
Warenproduktion. Wie die gesamte Ontologie der Kulturindustrie
auf das frühe achtzehnte Jahrhundert zurückdatiert, so auch die
Gepflogenheit, Titel zu wiederholen; die Neigung, an einem
vorausgehenden parasitär sich festzusaugen, die schließlich als
Krankheit alles Nennen überzieht. Wie heutzutage ein jeder Film,
der viel Geld einträgt, ein Rudel anderer hinter sich herschleift, die
davon noch profitieren möchten, so ergeht es auch den Titeln; was
hat nicht alles die Reminiszenz an ›Endstation Sehnsucht‹
ausgebeutet, wieviele Philosophen haben nicht an ›Sein und Zeit‹
sich angehängt. Darin reflektiert sich, im Geist, jener Zwang der
materiellen Produktion, daß Neuerungen, die irgendwo eingeführt
wurden, so oder so über das Ganze sich ausbreiten, wofern sie
gestatten, die Ware billiger herzustellen. Sobald dieser Zwang aber
auf die Namen übergreift, vernichtet er sie unaufhaltsam.
Wiederholung bringt den faulen Zauber der Konkretion zutage.
 
In einer Stadt des äußersten Süddeutschland wollte ich, als
Geschenk, ›A l'ombre des jeunes filles en fleurs‹ kaufen. Nach der
neuen deutschen Übersetzung heißt das ›Im Schatten junger
Mädchenblüte‹. Ich bedaure, das haben wir leider nicht vorrätig,
sagte die junge Verkäuferin, aber wenn Ihnen mit ›Mädchen im
Mai‹ gedient ist –
 
Abergläubisch hüte ich mich, den Titel über eine Arbeit zu setzen,
ehe diese wenigstens im Entwurf fertig ist; auch wenn der Titel von
vornherein feststeht. Die Verwandtschaft dieses Aberglaubens mit
dem trivialen, man solle nichts berufen, aus Angst vorm neidischen
Schicksal nichts als vollendet hinstellen, bis es soweit ist, will ich
nicht verleugnen. Aber kaum erschöpft meine Vorsicht sich darin.
Der zu früh geschriebene Titel wirft sich dem Abschluß in den Weg,
als hätte er die Kraft dazu absorbiert; der verschwiegene wird zum
Motor zu vollbringen, was er verheißt. Die Belohnung des Autors ist
der Augenblick, da er ihn schreiben darf. Titel über ungeschriebene
Arbeiten sind vom Schlage des Ausdrucks »Sämtliche Werke«, nach
dem vor hundertundfünfzig Jahren der Ehrgeiz eines Schriftstellers
gieren mochte, während ein jeder heute ihn fürchtet, als würde er
dadurch zum Theodor Körner, Brecht allenfalls ausgenommen, der
ja auch die Rede vom Klassiker pervers goutierte. Oder zögert die
Hand, den Titel zu schreiben, weil es überhaupt verboten ist; weil
ihn erst die Geschichte schreiben könnte wie den, unter welchem
Dantes Gedicht kanonisiert ward? Die Alten, die den Neid der
Götter fürchteten, hielten die Titel, die sie ihren Stücken selbst
beilegten, nach Lessings Bemerkung für »ganz unerheblich« 7 . Der
Titel ist der Ruhm des Werkes; daß die Werke ihn sich selber
verleihen müssen, ist ihr ohnmächtigvermessenes Aufbegehren
gegen das, was allem Ruhm widerfuhr und ihn wohl von je
entstellte. Das haucht dem Lessingschen Satz sein geheimes und
schwermütiges Pathos ein: »Der Titel ist eine wahre Kleinigkeit.« 8
 Fußnoten
 
1 Lessings Werke, Bd. 4, Leipzig und Wien o.J., S. 435f.
 
2 a.a.O., S. 417.
 
3 a.a.O., S. 380.
 
4 a.a.O., S. 437.
 
5 a.a.O.
 
6 a.a.O.
 
7 a.a.O., S. 416.
 
8 a.a.O.
 
 Zu einem Porträt Thomas Manns
Hermann Hesse zum 2. Juli 1962
in herzlicher Verehrung
 
Der Anlaß einer dokumentarischen Ausstellung, in der nur sehr
mittelbar, und nur dem, der ihn bereits kennt, etwas vom Geist des
Gefeierten erscheinen kann, rechtfertigt vielleicht, daß ich ein paar
private Worte über ihn sage und nicht von dem Werk rede, dessen
Instrument sein Leben war. Aber ich möchte nicht, wie manche
wohl erwarten, Erinnerungen an Thomas Mann vortragen. Selbst
wenn ich die Scheu überwinde, aus dem Glück des persönlichen
Umgangs ein Eigentum zu machen und, sei's auch unfreiwillig, ein
Quentchen seines Prestiges dem eigenen zuzuleiten, wäre es
sicherlich noch zu früh, solche Erinnerungen zu formulieren. Ich
beschränke mich also darauf, aus meiner Erfahrung einigen
Vorurteilen entgegenzuarbeiten, die hartnäckig die Person des
Dichters belästigen. Sie sind nicht gleichgültig gegenüber der
Gestalt des Werkes, auf das sie automatisch fast sich übertragen: sie
verdunkeln es, indem sie helfen, es auf Formeln abzuziehen. Ich
nenne die verbreiteteste, die vom Konflikt des Bürgers mit dem
Künstler in Thomas Mann, der offenkundigen Erbschaft der
Nietzscheschen Antithese von Leben und Geist. Mann hat,
ausdrücklich und unausdrücklich, die eigene Existenz dazu benutzt,
jenen Gegensatz zu demonstrieren. Viel von dem, was an seinem
Werk Intention ist, von Tonio Kröger, Tristan und dem Tod in
Venedig bis zu dem Musiker Leverkühn, der nicht lieben darf, um
sein Werk zu vollbringen, richtet sich nach jenem Modell. Damit
aber auch nach einem Cliché von der Privatperson, die zu verstehen
gibt, daß sie so es wollte und selber dem glich, was sie an Idee und
Konflikt in den Romanen und Erzählungen austrug. So streng auch
das oeuvre Thomas Manns, durch seine Sprachgestalt, des
Ursprungs im Individuum sich entäußerte, beamtete und nicht
beamtete Oberlehrer tun sich daran gütlich, weil es sie ermuntert, als
Gehalt herauszuholen, was zuvor die Person hineinsteckte. Dies
Verfahren ist zwar wenig produktiv, aber keiner hat dabei groß zu
denken, und es versetzt noch den Stumpfsinn auf philologisch
sicheren Boden, denn, wie es im Figaro heißt, der ist der Vater, er
sagt es ja selbst. Statt dessen jedoch, meine ich, beginnt der Gehalt
eines Kunstwerks genau dort, wo die Intention des Autors aufhört;
sie erlischt im Gehalt. Die Beschreibung der kalten
Funkenschwärme der Münchener Trambahn, oder des Stotterns von
Kretzschmar – »so etwas können wir«, wehrte einmal der Dichter
ein Kompliment ab, das ich ihm deswegen machte – dürfte alle
offizielle Künstlermetaphysik seiner Texte, alle Verneinung des
Willens zum Leben darin, selbst den in fetten Lettern gedruckten
Satz aus dem Schneekapitel des Zauberbergs aufwiegen. Das
Verständnis Thomas Manns: die wahre Entfaltung seines Werkes
wird erst anfangen, sobald man um das sich kümmert, was nicht im
Baedeker steht. Nicht daß ich wähnte, verhindern zu können, daß
unermüdlich weiter Dissertationen über den Einfluß von
Schopenhauer und Nietzsche, über die Rolle der Musik, oder über
das den Fakultäten unterbreitet werden, was man wohl im Seminar
als Problem des Todes behandelt. Aber ich möchte doch einiges
Unbehagen an all dem erregen. Besser, dreimal das Gedichtete sich
anzuschauen als immer mal wieder das Symbolisierte. Dazu soll der
Hinweis helfen, wie sehr der Dichter abwich von dem Selbstporträt,
das seine Prosa suggeriert.
Denn daß sie es suggeriert, daran ist kein Zweifel. Um so
begründeter aber der, ob er auch so war; ob nicht gerade diese
Suggestion einer Strategie entsprang, die er an der Goetheschen
eingeübt haben mochte, übers eigene Nachleben zu gebieten. Nur
kam es ihm vermutlich weniger aufs Nachleben an als darauf, wie er
den Zeitgenossen erschien. Der Autor des Joseph war nicht so
mythisch, hatte auch zuviel von skeptischer Humanität, als daß er
der Zukunft seine imago hätte aufzwingen wollen: gelassen, stolz
zugleich und unprätentiös, hätte er sich ihr anheimgegeben; und von
der Weltgeschichte als Weltgericht wäre der nicht so überzeugt
gewesen, der im ›Erwählten‹ über die Haupt- und Nebenfiguren
historischer Staatsaktionen Worte fand, wie sie nicht schlecht
zwischen zwei Buchdeckeln von Anatole France stünden. Wohl aber
hat er sich als public figure, also vor den Zeitgenossen, verstellt, und
erst einmal wäre die Verstellung zu begreifen. Die Mannsche Ironie
diente sicherlich nicht zuletzt dazu, Verstellung zugleich zu
praktizieren und durchs sprachliche Einbekenntnis wiederum
aufzuheben. Kaum waren ihre Motive bloß privat, und an einem
Menschen, an dem man sehr hängt, mag man nicht seinen
psychologischen Scharfsinn billig wetzen. Gewiß jedoch verlohnte
es sich, einmal die Masken des Genius in der neuen Literatur zu
beschreiben und dem nachzugehen, warum die Autoren sie anlegten.
Dabei stieße man wohl darauf, daß die Haltung des Genialischen,
die gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts spontan aufkam, rasch
gesellschaftlich honoriert und damit allmählich zu einem Muster
wurde, dessen Stereotypie die Spontaneität Lügen strafte, die es
unterstreichen sollte. Im hohen neunzehnten Jahrhundert trug man
das Genie als Kostüm. Rembrandtkopf, Samt und Barett, kurz der
Archetyp des Künstlers verwandelten sich in ein verinnerlichtes
Stück von dessen Mobiliar. Das wird Thomas Mann an Wagner
nicht übersehen haben, den er liebte mit empfindlicher Liebe.
Scham über die Selbstsetzung des Künstlers, des Genies, als das er
sich drapiert, nötigt den Künstler, der eines Rests von Draperie nie
ganz ledig wird, so gut es geht sich zu verstecken. Weil der Genius
zur Maske geworden ist, muß der Genius sich maskieren. Er darf um
nichts in der Welt als solcher auftrumpfen und tun, als wäre er, der
Meister, jenes metaphysischen Sinnes mächtig, der in der Substanz
der Zeit nicht gegenwärtig ist. Deshalb hat Marcel Proust, gegen den
Thomas Mann eher sich sträubte, den Operettendandy mit Zylinder
und Spazierstock gespielt und Kafka den mittleren
Versicherungsangestellten, dem nichts so wichtig ist wie das
Wohlwollen des Vorgesetzten. Dieser Impuls lebte auch in Thomas
Mann: als einer zum Unauffälligen. Er, wie sein Bruder Heinrich,
war Schüler der großen französischen Desillusionsromane; das
Geheimnis seiner Verstellung war Sachlichkeit.
Masken sind auswechselbar, und der Vielfältige hatte mehr als
eine. Die bekannteste ist die des Hanseaten, des kühlen und
distanzierten Lübecker Senatorensohns. Ist schon die Vorstellung
vom Bürger der drei freien Reichsstädte selber abermals ein Cliché,
dem wenige dort Geborene sich fügen dürften, dann hat Thomas
Mann zwar mit Einzelschilderungen aus den Buddenbrooks ihm
willfahrt und ist bei öffentlichen Anlässen gesetzt aufgetreten. Die
Privatperson jedoch habe ich keine Sekunde lang steif gesehen, es
sei denn, man verwechselte seine Begabung zum druckfertigen
Sprechen und seine Freude daran, die er mit Benjamin teilte, mit
würdigem Gehabe. Nach deutscher Sitte, im Bann des Aberglaubens
an die pure Unmittelbarkeit, hat man seinen Sinn für Formen, der
mit dem künstlerischen Wesen eins ist, als Kälte und mangelnde
Ergriffenheit ihm angekreidet. Im Verhalten war er eher lässig, ohne
alle Würde der Respektsperson, durchaus das, was er war und was
er in seiner Reife verteidigte, ein Literat, beweglich, Eindrücken
aufgeschlossen und begierig danach, gesprächig und gesellig. Zur
Exklusivität neigte er weit weniger, als bei dem Berühmten und
Umdrängten, der seine Arbeitskraft zu verteidigen hatte, zu erwarten
gewesen wäre. Er begnügte sich mit einer Zeitordnung, die dem
Primat des Schreibens unterstand und lange Nachmittagsruhe
gewährte, war aber sonst weder schwer zu haben noch zimperlich
im Umgang. Für gesellschaftliche Hierarchie, für Nuancen des
Mondänen fehlte ihm jeder Sinn. Nicht bloß war er, sei's als
Arrivierter, sei's aus frühkindlicher Sicherheit, darüber erhaben,
sondern der Interessenrichtung nach indifferent dagegen, als wäre
die Erfahrung von all dem gar nicht in ihn eingedrungen. Ihm und
Frau Katja bereiteten etwa die Kapriolen Rudolf Borchardts, welche
dieser für weltmännisch hielt, selbst die aristokratischen Neigungen
Hofmannsthals ungetrübtes Vergnügen. Saß etwas tief bei ihm, dann
das Bewußtsein davon, daß die Rangordnung des Geistes, falls so
etwas existiert, unvereinbar ist mit der des äußeren Lebens. Nicht
einmal mit Schriftstellern indessen nahm er es gar zu genau. In der
Emigration jedenfalls duldete er solche um sich, die ihm kaum mehr
boten als ihren guten Willen, auch Kleinintellektuelle, ohne daß
diese je hätten fühlen müssen, daß sie es waren. Der Grund solcher
Gleichgültigkeit unterschied ihn sehr von anderen zeitgenössischen
Romanciers. Er war überhaupt kein Erzähler von breiter
bürgerlicher Welterfahrung, sondern zurückgezogen auf den eigenen
Umkreis. Sehr deutsch schöpfte er die gegenständliche Fülle aus
derselben Phantasie wie die Namen seiner Figuren; wenig kümmerte
ihn, was man angelsächsisch the ways of the world nennt. Damit
mag zusammenhängen, daß von einem gewissen Zeitpunkt an – die
Zäsur ist der Tod in Venedig – Ideen und ihre Schicksale in seinen
Romanen mit zweiter Sinnlichkeit den Platz empirischer Menschen
okkupieren; das hat dann wiederum der Clichébildung Vorschub
geleistet. Wie wenig eine solche Komplexion der des Handelsherrn
gleicht, leuchtet ein.
Präsentiert er trotzdem vielen sich so, als wäre der Bürger
zumindest die eine Seele in seiner Brust gewesen, so stellte er wohl
ein Element seines Wesens, das seinem Willen widerstand, in den
Dienst der Illusion, die er koboldhaft zu erwecken trachtete. Das
war der Geist der Schwere, verschwistert der Melancholie, ein
Brütendes, sich Versenkendes. Er hatte keine rechte Lust, im Leben
so ganz mitzutun. Entscheidungen waren ihm wenig sympathisch,
der Praxis mißtraute er nicht nur als Politik sondern als jeglichem
Engagement; nichts an ihm paßte zu dem, was kernige Banausen
sich unter einem existentiellen Menschen vorstellen. Bei aller Stärke
seines Ichs hatte dessen Identität nicht das letzte Wort: nicht
umsonst schrieb er zwei voneinander höchst abweichende
Handschriften, die freilich dann doch wieder eine waren. Der
Artistengestus des sich draußen Haltens, die Schonung, die er sich
als seinem Instrument angedeihen ließ, ist eilfertig der obligaten
Reserviertheit des Großkaufmanns zugeschlagen worden.
Manchmal mochte ihn, in Gesellschaften, die ihn keineswegs
langweilten, der Geist der Schwere bis zur Schicht wachen
Schlafens geleiten. Dann konnte er glasig wirken; er selbst hat
einmal, in der ›Königlichen Hoheit‹, von den Absencen einer Figur
gesprochen. Aber gerade solche Viertelstunden bereiteten vor, daß
er die Maske wegwarf. Hätte ich zu sagen, was mir an ihm das
Charakteristischeste dünkte, ich müßte wohl den Gestus des jäh
überraschenden Auffahrens zitieren, der dann von ihm zu
gewärtigen war. Seine Augen waren blau oder graublau, in den
Momenten aber, in denen er seiner selbst innewurde, blitzten sie
schwarz und brasilianisch, als hätte in der Versunkenheit vorher
geschwelt, was darauf wartete, zu entflammen; als hätte in der
Schwere ein Stoffliches sich gesammelt, das er nun ergriff, um
daran seine Kraft zu messen. Unbürgerlich war der Rhythmus seines
Lebensgefühls: nicht Kontinuität sondern der Wechsel von
Extremen, von Starre und Illumination. Freunde von mittlerer
Wärme, von alter oder neuer Geborgenheit mochte das irritieren.
Denn in diesem Rhythmus, dessen einer Zustand den anderen
verneinte, kam die Doppelbödigkeit seines Naturells zutage. Kaum
kann ich mich auf eine Äußerung von ihm besinnen, der dies
Doppelbödige nicht gesellt gewesen wäre. Alles, was er sagte,
klang, wie wenn es einen geheimen Hintersinn mit sich führte, den
zu erraten er dem anderen mit einiger Teufelei überließ, weit über
den Habitus von Ironie hinaus.
Daß einen Mann dieser Art der Mythos der Eitelkeit verfolgte,
ist zwar für seine Mitwelt beschämend, aber begreiflich: die
Reaktion solcher, die nichts sein wollen, als was sie nun einmal
sind. Man mag mir glauben, daß er so uneitel gewesen ist, wie er der
Würde entbehrte. Vielleicht kann man es am einfachsten so
ausdrücken, daß er im Umgang nie daran dachte, Thomas Mann zu
sein; was den Verkehr mit Zelebritäten erschwert, ist meist ja nichts
anderes, als daß sie ihre vergegenständlichte öffentliche Geltung auf
sich selbst, ihr unmittelbares Dasein zurückprojizieren. Bei ihm aber
überwog das Interesse an der Sache so sehr die Person, daß es diese
gänzlich freiließ. Jene Projektion hat nicht er vollzogen, sondern die
öffentliche Meinung, die falsch vom Werk auf den Autor schloß.
Wahrhaft falsch. Denn was sie am Werk als Spur von Eitelkeit
lesen, ist das untilgbare Mal der Anstrengung zu seiner
Vollkommenheit. Zu verteidigen ist er wider die abscheuliche
deutsche Bereitschaft, die Passion für das Gebilde und seine integre
Gestalt dem Geltungsdrang gleichzusetzen; wider das Ethos der
Kunstfremdheit, das gegen die Zumutung einer stimmig
durchgebildeten Sache als unmenschliches l'art pour l'art aufmuckt.
Weil die Sache die eines Autors ist, soll es dessen Eitelkeit sein,
wenn er sie möglichst gut machen will; nur anachronistisch biedere
Handwerker mit ledernen Schürzen und großer Weltchronik sind
vor solchem Verdacht gefeit. Als ob das Werk, das gelingt, noch das
seines Autors wäre; als ob nicht sein Gelingen darin bestünde, daß
es von ihm sich löst, daß durch ihn hindurch ein Objektives sich
realisiert, daß er darin verschwindet. Da ich nun einmal Thomas
Mann bei der Arbeit kannte, darf ich bezeugen, daß nicht die leiseste
narzißtische Regung zwischen ihn und seine Sache sich drängte. Mit
keinem hätte die Arbeit einfacher, freier von allen Komplikationen
und Konflikten sein können; es bedurfte keiner Vorsicht, keiner
Taktik, keines tastenden Rituals. Niemals hat der Nobelpreisträger
sei's auch noch so diskret auf seinen Ruhm gepocht oder mich die
Differenz des öffentlichen Ansehens fühlen lassen. Wahrscheinlich
war es nicht einmal Takt oder humane Rücksicht; es kam gar nicht
erst zum Gedanken an die Privatpersonen. Die Fiktion von Adrian
Leverkühns Musik, die Aufgabe, sie zu beschreiben, als wäre sie
wirklich vorhanden, gewährte dem, was jemand einmal die
psychologische Pest nannte, keinerlei Nahrung. Dabei hätte seine
Eitelkeit Anlaß und Gelegenheit genug gehabt, sich zu zeigen, wenn
sie existiert hätte. Der Schriftsteller müßte noch geboren werden,
der nicht Formulierungen, an denen er weiß Gott wie lange
geschliffen hat, libidinös besetzte und Angriffe darauf primär als
gegen ihn gerichtet abwehrte. Ich aber war selber viel zu vertiert in
der Sache, hatte mir Leverkühns Kompositionen viel zu genau
ausgedacht, als daß ich in der Diskussion viel Rücksicht genommen
hätte. Nachdem es mir gelungen war, dem Dichter abzuhandeln, daß
wenigstens Leverkühn, wenn er schon wahnsinnig wird, das
Faust-Oratorium zu Ende schreiben darf – bei Mann war es
ursprünglich als Fragment geplant –, stellte sich die Frage nach dem
Schluß, dem instrumentalen Nachspiel, in das unmerklich der
Chorsatz übergeht. Wir hatten sie lange erwogen; eines schönen
Nachmittags las mir der Dichter den Text vor. Ich rebellierte wohl
ein wenig ungebührlich. Gegenüber der Gesamtanlage von Doktor
Fausti Weheklag nicht nur sondern des ganzen Romans fand ich die
höchst belasteten Seiten zu positiv, zu ungebrochen theologisch.
Ihnen schien abzugehen, was in der entscheidenden Passage
gefordert war, die Gewalt bestimmter Negation als der einzig
erlaubten Chiffre des Anderen. Thomas Mann war nicht verstimmt,
aber doch etwas traurig, und ich hatte Reue. Am übernächsten Tag
rief Frau Katja an und bat uns zum Nachtmahl. Danach schleppte
der Dichter uns in seine Höhle und las, offensichtlich gespannt, den
neuen Schluß vor, den er unterdessen geschrieben hatte. Wir
konnten unsere Ergriffenheit nicht verbergen, und ich glaube, sie hat
ihn gefreut. Den Affekten der Freude und des Schmerzes war er fast
schutzlos ausgeliefert, ungepanzert, wie nie ein Eitler es wäre.
Allergisch war zumal sein Verhältnis zu Deutschland. Er konnte es
sich über alles Maß zu Herzen nehmen, wenn einer ihn einen
Nihilisten schalt; seine Sensibilität erstreckte sich bis ins
Moralische; sein Gewissen in geistigen Dingen reagierte so fein, daß
noch der plumpeste und törichteste Angriff ihn zu erschüttern
vermochte.
Die Rede von Thomas Manns Eitelkeit mißdeutet gänzlich das
Phänomen, auf das sie sich stürzt. Unnuancierte Wahrnehmung
verbindet sie mit unnuanciertem sprachlichen Ausdruck. So uneitel
er war, so kokett war er dafür. Das Tabu, das über dieser
Eigenschaft bei Männern liegt, hat wohl verhindert, sie und ihr
Hinreißendes an ihm zu erkennen. Es war, als hätte die Sehnsucht
nach Applaus, die selbst vom vergeistigten Kunstwerk nicht ganz
weggedacht werden kann, die Person affiziert, die so sehr zum Werk
sich entäußert hatte, daß sie mit sich spielte wie der Prosateur mit
seinen Sätzen. Etwas in der Anmut der Form auch des spirituellen
Kunstwerks ist der verwandt, mit der der Schauspieler sich
verbeugt. Er wollte reizen und gefallen. Es ergötzte ihn, gewisse
zeitgenössische Komponisten gemäßigten Genres, von denen er
wußte, daß ich sie nicht eben hoch schätzte, und von denen auch er
im Ernst kaum viel hielt, mit Mordent zu bewundern, die
Irrationalität seines eigenen Verhaltens zu pointieren; auch die
offiziellen Dirigenten Toscanini und Walter, die schwerlich
Leverkühn aufgeführt hätten, wurden da herangezogen. Selten tat er
des Josephromans Erwähnung, ohne hinzuzufügen: »den Sie ja, wie
ich weiß, nicht gelesen haben, Herr Adorno«. Welche Frau hätte
noch, unentstellt von Ziererei oder Nüchternheit, die Koketterie, die
der bald Siebzigjährige, höchst Disziplinierte sich hinüberrettete,
wenn er vom Schreibtisch aufstand. In seinem Arbeitszimmer hing
eine entzückende Jugendphotographie seiner Tochter Erika, die ihm
physiognomisch ähnelt, im Pierrotkostüm. Im Nachbild der
Erinnerung gewinnt sein eigenes Gesicht etwas Pierrothaftes. Seine
Koketterie war wohl nichts anderes als ein Stück unverstümmelten
und unbezwinglichen mimetischen Vermögens.
Aber man darf ihn danach beileibe nicht als Pierrot Lunaire, als
Figur aus dem fin de siècle sich ausmalen. Das Cliché des
Dekadenten ist komplementär zu dem des Bürgers, so wie es ja, wie
bekannt, Bohème nur so lange gab wie solides Bürgertum. Vom
Jugendstil hatte er so wenig wie vom Ehrengreis; der Tristan der
Novelle ist komisch. »Laß den Tag dem Tode weichen« war ihm
kein Imperativ. Nach dem Tod noch griff sein unbändiger Spieltrieb,
der von nichts sich einschüchtern ließ. In dem letzten Brief, den ich
von ihm erhielt, in Sils-Maria, wenige Tage ehe er starb, hat er wie
mit seinem Leiden mit dem Tod selbst, über dessen Möglichkeit er
sich kaum täuschte, in Rastellischer Freiheit jongliert. Wenn seine
Schriften ihre Mitte im Tod zu haben scheinen, so ist daran kaum
die Todessehnsucht schuld, kaum auch nur besondere Affinität zum
Verfall, sondern insgeheim List und Aberglaube: das stets
Angerufene und Beredete eben dadurch fortzuhalten und zu bannen.
Dem Tod, dem blinden Naturzusammenhang hat sein Ingenium
widerstanden wie sein Körper. Die Manen des Dichters mögen es
mir verzeihen, aber er war kerngesund. Ich weiß nicht, ob er in
jungen Jahren jemals krank war, aber nur eine eiserne Physis konnte
die Operation überdauern, deren euphemistische Chronik der
Roman eines Romans enthält. Noch die Arteriosklerose, der er
erlag, ließ seinen Geist unberührt, als hätte sie keine Macht über ihn.
Was sein Werk veranlaßte, die Komplizität mit dem Tod zu
betonen, die man ihm gar zu gern geglaubt hat, war am Ende wohl
etwas von der Ahnung der Schuld darin, daß man überhaupt ist,
gleichsam ein Anderes, Mögliches um die eigene Wirklichkeit
bringt, indem man seinen Platz einnimmt; er brauchte nicht erst
Schopenhauer, um das zu erfahren. Wollte er den Tod überlisten, so
hielt er zugleich Kompanie mit ihm aus dem Gefühl, daß es keine
Versöhnung des Lebendigen gibt als Ergebung: nicht Resignation.
In der Welt des selbstherrlichen und sich in sich selbst
befestigenden Menschen wäre das Bessere allein, die Klammer der
Identität zu lockern und nicht sich zu verhärten. Was man Thomas
Mann als Dekadenz vorhält, war ihr Gegenteil, die Kraft der Natur
zum Eingedenken ihrer selbst als hinfälliger. Nichts anderes aber
heißt Humanität.
 Bibliographische Grillen
 
Für Rudolf Hirsch
 
Beim Besuch einer Buchmesse ergriff mich eine sonderbare
Beklemmung. Als ich suchte zu verstehen, was sie mir anmelden
wollte, ward ich dessen inne, daß die Bücher nicht mehr aussehen
wie Bücher. Die Anpassung an das, was man zu Recht oder Unrecht
für die Bedürfnisse der Konsumenten hält, hat ihre Erscheinung
verändert. Bucheinbände sind, international, zur Reklame für das
Buch geworden. Jene Würde des in sich Gehaltenen, Dauernden,
Hermetischen, das den Leser in sich hineinnimmt, gleichsam über
ihm den Deckel schließt wie die Buchdeckel über dem Text – das ist
als unzeitgemäß beseitigt. Das Buch macht sich an den Leser heran;
es tritt nicht länger auf als ein für sich Seiendes, sondern als ein für
anderes, und eben darum fühlt sich der Leser ums Beste gebracht.
Selbstverständlich gibt es, bei literarisch strengen Verlagen, noch
Ausnahmen; es fehlt auch nicht an solchen, denen es selber
unbehaglich ist, und die das gleiche Buch in doppelter Ausstattung
herausbringen, einer stolz unscheinbaren und einer, die mit
Männchen und Bildchen den Leser anspringt. Deren bedarf es nicht
einmal stets. Manchmal genügt Übertreibung der Formate,
auftrumpfend wie disproportional breite Autos, oder die
Plakatwirkung allzu intensiver und auffälliger Farben, oder was
auch immer; ein Unwägbares, dem Begriff sich Entziehendes, eine
Gestaltqualität, durch welche die Bücher, indem sie sich als up to
date, als Dienst am Kunden empfehlen, ihr Büchtertum wie etwas
Rückständiges und Altmodisches abzuschütteln suchen. Keineswegs
muß kraß dem Reklame-Effekt nachgejagt oder der Geschmack
verletzt werden; der Ausdruck des Konsumguts, gleichgültig, woran
er nun haftet, setzt das Buch in einen für solche, die mit der
Buchtechnik nicht genau vertraut sind, schwer zu benennenden, aber
eben um seiner Tiefe willen um so enervierenderen Widerspruch zur
Form des Buches als einer materiellen und geistigen zugleich.
Mitunter hat die Liquidation des Buches sogar das ästhetische Recht
auf ihrer Seite, als Empfindlichkeit gegen Ornamente, Allegorien,
heruntergekommenen Zierat aus dem neunzehnten Jahrhundert. All
das muß weg, gewiß, aber zuweilen will es doch bedünken, als
hätten Musikalien, welche die Engel, Musen und Lyren
ausradierten, deren Linien einst auf den Titeln der Edition Peters
oder der Universal Edition prangten, damit auch etwas von dem
Glück getilgt, das dieser Kitsch einmal versprach: er verklärte sich,
wenn die Musik kein Kitsch war, der die Lyra präludierte.
Insgesamt drängt sich auf, daß die Bücher sich dessen schämen, daß
sie überhaupt noch welche sind und nicht Trickfilme oder von
Neonlicht beschienene Schaufenster; daß sie die Spuren
handwerklicher Produktion auslöschen wollen, um nur ja nicht
anachronistisch auszusehen, sondern mit einer Zeit mitzurennen,
von der sie insgeheim befürchten, daß sie für sie selber keine Zeit
mehr hat.
 
Das schädigt die Bücher auch als Geistiges. Ihre Form meint
Absonderung, Konzentration, Kontinuität; anthropologische
Eigenschaften, die absterben. Die Komposition eines Buches als
Band ist unvereinbar mit seiner Verwandlung in momentan
ausgestellte Reizwerte. Indem das Buch, durch seine Erscheinung,
die letzte Erinnerung an die Idee des Textes abwirft, in dem
Wahrheit sich darstellt, und sich dem Primat ephemerer
Reaktionsweisen beugt, wendet solche Erscheinung sich gegen das
Wesen, das es vor jeder inhaltlichen Bestimmung anmeldet. Durch
streamlining werden die neuesten Bücher als bereits Vergangenes
verdächtig. Sie trauen sich selber nicht mehr, sind sich selber nicht
gut, kein Segen kann daran sein. Wer noch welche schreibt, den
erfaßt, an ganz unerwarteter Stelle, ein Schrecken, der ihm sonst
freilich aus der kritischen Selbstreflexion nur allzu vertraut ist, der
vor der Vergeblichkeit seines Tuns. Ihm schwankt der Boden unter
den Fußen, während er noch so sich verhält, als wäre ihm gegeben,
wo er steht oder sitzt. Die Autonomie des Gebildes, an die der
Schriftsteller all seine Energie wenden muß, wird von der
physischen Gestalt des Gebildes desavouiert. Hat das Buch nicht
mehr die Courage zu seiner eigenen Form, dann ist auch in ihm
selbst die Kraft angegriffen, die jene Form zu rechtfertigen
vermöchte.
 
Was es mit der auswendigen Form von Gedrucktem als einer
eigenen Macht für eine Bewandtnis hat, dafür ist ein Indiz, daß
Autoren größter Erfahrung wie Balzac und Karl Kraus sich gedrängt
fühlten, in den Fahnen, bis zur Umbruchskorrektur, eingreifend zu
ändern, wohl gar das bereits Gesetzte ganz umzuschreiben. Schuld
daran ist weder Flüchtigkeit bei der vorhergehenden Niederschrift
noch kleinlicher Perfektionismus. Sondern erst in den gedruckten
Lettern nehmen die Texte, wirklich oder zum Schein, jene
Objektivität an, in der sie von ihren Autoren endgültig sich ablösen,
und das wiederum erlaubt diesen, sie mit fremden Augen anzusehen
und Mängel aufzufinden, die sich ihnen verbargen, solange sie noch
in ihrer Sache waren und sich als darüber Verfügende empfanden,
anstatt zu erkennen, wie sehr die Qualität eines Textes gerade daran
hervortritt, daß er über den Autor verfügt. So etwa sind
Proportionen zwischen den Längen einzelner Stücke, einer Vorrede
zu dem, was auf sie folgt, nicht früher als am Gesetzten recht
kontrollierbar; die Schreibmaschinenmanuskripte, die mehr Seiten
konsumieren, betrügen den Autor, indem sie ihm als weit
voneinander entfernt vorgaukeln, was so dicht zusammenwohnt, daß
es sich kraß wiederholt; sie tendieren überhaupt dazu,
Maßverhältnisse zugunsten der Bequemlichkeit des Autors zu
verschieben. Einem, welcher der Selbstbesinnung fähig ist, wird der
Druck zur Kritik an der Schrift: bahnt einen Weg vom Auswendigen
ins Innere. Verlegern wäre darum Konzilianz gegenüber
Autorkorrekturen anzuraten.
 
Häufig habe ich beobachtet, daß wer eine Sache in einer Zeitschrift
oder gar im Maschinenmanuskript schon gelesen hat, sie
geringschätzt, wenn sie ihm wiederbegegnet im Buch. »Das kenn'
ich ja schon« – was kann es da schon wert sein. Leise
Selbstverachtung wird aufs Gelesene projiziert, der Autor zum Geiz
mit seinen Produkten erzogen. Jene Reaktionsweise ist aber die
Kehrseite der Autorität des Gedruckten. Wer dazu neigt, Gedrucktes
zunächst für ein Ansichseiendes, objektiv Wahres zu halten – und
ohne diese Illusion formierte sich kaum der Ernst literarischen
Gebilden gegenüber, der die Voraussetzung von Kritik und damit
ihres Nachlebens ist –, der rächt sich für den Zwang, den der Druck
als solcher ausübt, indem er aggressiv wird, sobald er das Prekäre
jener Objektivität durchschaut und bemerkt, daß ihr die Eierschalen
des Produktionsprozesses oder der privaten Kommunikation
anhaften. Diese Ambivalenz reicht hinein bis in die Gereiztheit jener
Kritiker, die einem Autor vorrechnen, er wiederhole sich, wofern er
etwas, was er in ein Buch aufnahm und was womöglich von
Anbeginn dafür konzipiert war, vorher schon, weniger verbindlich,
veröffentlichte. Autoren, die sich vor Wiederholungen
idiosynkratisch hüten, scheinen solche Rancune besonders
herauszufordern.
 
Die Veränderung der Buchgestalt ist kein Fassadenprozeß, der etwa
dadurch aufzuhalten wäre, daß die Bücher unbeirrt sich auf ihr
Wesen besinnen und nach einer Form haschen, die diesem
entspräche. Versuche gar, der auswendigen Entwicklung von innen
her standzuhalten durch Auflockerung des literarischen Gefüges,
haben etwas vom hilflosen Bestreben, sich anzubiedern, ohne sich
etwas zu vergeben. Für die Formen, die solcher Auflockerung zum
Modell dienen könnten, wie das Flugblatt und das Manifest, fehlen
heute die objektiven Voraussetzungen. Wer sie mimt, plustert nur
als geheimer Machtanbeter die eigene Ohnmacht auf. Nicht bloß
sind die Verleger unwiderleglich, wenn sie allenfalls renitente
Autoren, die ja auch leben wollen, darauf aufmerksam machen, daß
ihre Bücher auf dem Markt um so geringere Chancen haben, je
weniger sie jenem Zug sich einfügen. Sondern die Rettungsversuche
sind durchschaubar als das, was sie schon in den Theorien von
Ruskin und Morris waren, die gegen die Verschandelung der Welt
durch den Industrialismus sich wehrten, indem sie
Massenproduziertes so präsentieren wollten, als wäre es Handwerk.
Bücher, die sich weigern, nach den Regeln der
Massenkommunikation mitzuspielen, trifft der Fluch des
Kunstgewerbes. Was geschieht, beängstigt wegen seiner
unausweichlichen Logik; tausend Argumente können dem
Widerstrebenden beweisen, daß es so und nicht anders sein müsse
und daß er hoffnungslos reaktionär sei. Ist es schon die Idee des
Buches selber? Dennoch ist keine andere sprachliche Darstellung
des Geistes sichtbar, die möglich wäre ohne Verrat an der Wahrheit.
 
Gegen die Haltung des Sammlers mag eingewendet werden, ihm sei
Bücher zu besitzen wichtiger als ihre Lektüre. Soviel indessen
bekundet er, daß die Bücher etwas sagen, ohne daß man sie liest,
und daß es zuweilen nicht das Unwichtigste ist. So haben private
Bibliotheken, in denen die Gesamtausgaben überwiegen, leicht
etwas Banausisches. Das Bedürfnis nach Vollständigkeit, wahrhaft
legitim gegenüber jenen Ausgaben, in denen ein Philologe sich
anmaßt zu entscheiden, was von einem Autor daure und was nicht,
verbindet sich allzu leicht mit dem Besitzinstinkt, dem Drang,
Bücher zu horten, der sie der Erfahrung entfremdet, die einzelnen
Bänden, und zwar kraft ihrer Zerstörung, sich einprägt. Solche
Reihen von Gesamtausgaben protzen nicht nur, sondern ihre glatte
Harmonie verleugnet unbillig das Schicksal, welches das lateinische
Sprichwort den Büchern zuspricht und das allein von allem Toten
sie mit Lebendigem gemein haben. Die einheitlichen und meist allzu
geschonten Blöcke wirken, als wären sie alle auf ein Mal,
geschichtslos oder, wie das zuständige deutsche Wort lautet,
schlagartig erstanden worden, ein wenig schon wie jene
Potemkinsche Bibliothek, die ich in der als Dépendance einem
Hotel angegliederten Villa einer alten amerikanischen Familie in
Maine fand. Sie kehrte mir alle erdenklichen Titel zu; als ich der
Lockung folgte und hineingriff, brach die ganze Pracht leise
klatschend zusammen, alles Attrappen. Beschädigte, angestoßene
Bücher, die leiden mußten, sind die rechten. Hoffentlich entdecken
Vandalen nicht auch das und behandeln ihre nagelneuen Vorräte,
wie abgefeimte Restaurateure Flaschen, die algerisch verfälschter
Rotwein füllt, mit einer synthetischen Staubschicht überziehen.
Bücher, die einen das Leben lang begleiten, weigern sich überhaupt
der Ordnung systematischer Plätze und insistieren auf denen, die sie
selber sich suchen; wer ihnen die Unordnung gönnt, muß nicht
lieblos zu ihnen sein, sondern nur ihren Launen gehorsam. Dafür
wird er dann häufig bestraft, denn diese Bücher sind es, die am
liebsten sich davon machen.
 
Die Emigration, das beschädigte Leben, hat übers Maß hinaus meine
Bücher verunstaltet, die nach London, New York, Los Angeles und
nach Deutschland zurück mich begleiteten oder, wenn man will,
verschleppt wurden. Aus ihren friedlichen Regalen gescheucht,
gerüttelt, eingesperrt in Kisten, provisorisch behaust, sind viele von
ihnen aus dem Leim gegangen. Die Einbände lösten sich, rissen oft
Bündel Text mit sich. Sie waren wohl immer schon schlecht
hergestellt; die deutsche Qualitätsarbeit ist längst so dubios, wie im
Zeitalter der Hochkonjunktur der Weltmarkt sie einzuschätzen
beginnt. So lauerte im deutschen Liberalismus sinnbildlich dessen
Auflösung: ein Stoß, und er zerfiel. Aber ich komme von den
verwüsteten Büchern nicht los, immer wieder werden sie repariert.
Manche der zerschlissenen Bände von einst finden zweite Jugend
als Broschüren. Ihnen droht weniger: sie sind kein gar so festes
Eigentum. Nun sind die Hinfälligen Dokumente der Einheit des
Lebens, das an sie sich klammert, und seiner Brüche zugleich, mit
aller Zufälligkeit der Rettung und auch der Spur einer ungreifbaren
Vorsehung darin, daß dies erhalten blieb, anderes verschollen ist.
Nichts von Kafka, was er selber noch herausgab, kam heil mit mir
zurück.
 
Das Leben der Bücher ist nicht identisch mit dem Subjekt, das
wähnt, es gebiete darüber. Was an Verliehenem abhanden kommt,
an Geborgtem sich ansiedelte, beweist das drastisch. Aber quer steht
jenes Leben auch zur Verinnerlichung, zu dem, was der Eigentümer
an der Kenntnis von Disposition oder sogenanntem Gedankengang
zu besitzen wähnt. Immer wieder äfft es ihn in seinen Irrtümern.
Zitate, die nicht am Text überprüft sind, stimmen selten. Das
richtige Verhältnis zu den Büchern wäre darum eines von
Unwillkürlichkeit, die dem sich anheimgibt, was das zweite und
apokryphe Leben der Bücher will, anstatt auf dem ersten zu
beharren, meist nur der willkürlichen Veranstaltung des Lesers. Wer
solcher Unwillkürlichkeit im Verhältnis zu Büchern fähig ist, dem
schenken sie manchmal das Gesuchte unerwartet her. Die
glücklichsten Belege pflegen die zu sein, die der Suche sich
entziehen und aus Gnade sich gewähren. Jedes Buch, das etwas
taugt, spielt mit seinem Leser. Gute Lektüre wäre die, welche die
Spielregeln errät, die es dabei befolgt, und ohne Gewalt ihnen sich
anbequemt.
 
Vergleichbar ist das Eigenleben der Bücher mit dem, das ein unter
Frauen verbreiteter und affektbesetzter Glaube den Katzen
zuschreibt. Sie sind undomestizierte Haustiere. Aufgestellt als
Besitz, sichtbar und disponibel, entziehen sie sich gern. Verschmäht
der Herr ihre Organisation zur Bibliothek – und wer den rechten
Kontakt mit Büchern hat, der fühlt schwerlich in Bibliotheken sich
wohl, kaum recht in der eigenen –, so werden immer wieder die
Bücher, deren er am dringendsten bedarf, sich seiner Souveränität
verweigern, verstecken, bloß mit dem Zufall wiederkehren; manche
verschwinden wie die Spirits, meist in Augenblicken, in denen sie
Besonderes bedeuten. Schlimmer noch der Widerstand, den sie
bereiten, sobald man etwas in ihnen sucht: als wollten sie sich
rächen für den lexikalischen Blick, der sie nach einzelnen Stellen
abtastet und dadurch ihrem eigenen Zug Gewalt antut, der niemand
zu willen sein möchte. Manchen Schriftsteller definiert geradezu die
Sprödigkeit gegen den, welcher daraus zitieren möchte; so vor allem
Marx, in dem man nur nach einem Passus zu stöbern braucht, der
einem vor anderen sich einprägte, um an die Nadel im Heuhaufen
gemahnt zu werden. Offenbar hat seine höchst spontane
Produktionsweise – vielfach lesen sich seine Texte, als wären sie
mit fliegender Hast an den Rand der Werke geschrieben, die er
durchstudierte, und in den Mehrwerttheorien ist daraus beinahe eine
literarische Form geworden – dagegen sich gesträubt, die Gedanken
säuberlich dort vorzubringen, wo sie hingehören; Ausdruck des
antisystematischen Zugs eines Autors, dessen System nichts ist als
die Kritik des bestehenden; am Ende übte er dabei gar eine ihrer
selbst unbewußte konspirative Technik. Daß, trotz aller
Kanonisierung, kein Marxlexikon verfügbar ist, paßt dazu; der
Autor, von dem eine zählbare Reihe von Sätzen hergeleiert wird wie
Bibelsprüche, verteidigt sich gegen das, was man mit ihm anstellt,
indem er cachiert, was nicht in jenen Vorrat fällt. Aber auch manche
Autoren, zu denen fleißige Lexika existieren wie die Rudolf Eislers
zu Kant und Hermann Glockners zu Hegel, benehmen sich nicht viel
umgänglicher: unschätzbar die Erleichterung, welche die Lexika
bieten; häufig jedoch schlüpfen die wichtigsten Formulierungen
durch die Maschen, weil sie unter kein Stichwort passen oder das,
welches ihnen etwa gebührte, so vereinzelt ist, daß es aufzuführen
nach lexikalischer Vernunft nicht sich lohnt. Im Hegellexikon fehlt
»Fortschritt«. Die Bücher, die des Zitierens würdig sind, erheben
permanenten Einspruch gegen das Zitat, dessen doch nicht entraten
kann, wer über Bücher schreibt. Denn jedes solche Buch ist paradox
in sich selber, Vergegenständlichung des schlechthin nicht
Gegenständlichen, das vom Zitat aufgespießt wird. Die gleiche
Paradoxie äußert sich darin, daß der schlechteste Autor mit Grund
gegen seinen Kritiker einwenden kann, die literarischen corpora
delicti seien aus dem Zusammenhang gerissen, während doch ohne
solchen Gewaltakt Polemik gar nicht möglich ist. Noch die
dümmste Replik besteht erfolgreich auf dem Zusammenhang, jenem
Hegelschen Ganzen, das die Wahrheit sei, als wären deren Momente
die Kalauer. Derselbe Autor würde freilich, wenn man gegen ihn
schriebe, ohne es zu belegen, mit dem gleichen Eifer erklären, so
etwas habe er niemals gesagt. Philologie ist verschworen mit dem
Mythos: sie versperrt den Ausweg.
 
Vermutlich macht es die Technik des Buchbinders, daß manche
Bücher stets wieder an derselben Stelle sich aufblättern. Anatole
France, über dessen Voltaireschem Anstand, den man ihm nicht
verzeiht, sein metaphysisches Ingenium vergessen ward, hat daraus
in der Histoire contemporaine bedeutende Wirkung gezogen.
Monsieur Bergeret findet in seiner Provinzstadt Unterschlupf in der
Buchhandlung des Herrn Paillot. Bei jedem Besuch des Ladens
greift er, ohne alles Interesse, nach der ›Geschichte der
Entdeckungsreisen‹. Hartnäckig präsentiert ihm der Band die Sätze:
»... eine Durchfahrt im Norden. Gerade diesem Mißgeschick, sagt
er, war es zu verdanken, daß wir noch einmal zu den
Sandwichinseln zurückkehren konnten, und unsere Reise wurde
dadurch um eine Entdeckung bereichert, die, obgleich die letzte,
dennoch in mancher Hinsicht die wichtigste zu sein scheint, welche
die Europäer überhaupt im Stillen Ozean bisher gemacht haben ...«
Verflochten ist das mit Assoziationen aus dem monologue intérieur
des milden Inhumanisten. Man wird bei der Lektüre der
gleichgültigen, außer aller Oberflächenbeziehung zum Roman
stehenden Passage, durchs Kompositionsprinzip, das Gefühl nicht
los, sie wäre der Schlüssel des Ganzen, wenn man sie nur zu deuten
verstünde. Die schäbige Insistenz des Buches darauf dünkt inmitten
der Öde und Gottverlassenheit provinzieller Existenz das letzte
Überbleibsel eines Sinnes, der verregnet ward und bloß noch
ohnmächtige Winke erteilt gleich dem Wetter, dem unsagbaren
Gefühl eines Tages der Kindheit, dies sei es, darauf komme es an,
und dem mit einem Guß sich verdunkelt, was eben sich erhellte. Die
Schwermut solcher buchbinderischen Wiederholung ist so
abgründig, weil die permanente Versagung, die sie bewirkt, so nahe
ist an der Einlösung eines Versprochenen. Daß Bücher sich von
selbst immer wieder an der gleichen Stelle öffnen, ist ihre
rudimentäre Ähnlichkeit mit den Sibyllinischen und dem Buch des
Lebens selber, das nur noch als triste, steinerne Allegorie auf
Gräbern des neunzehnten Jahrhunderts aufgeschlagen daliegt. Wer
diese Monumente recht läse, entzifferte wahrscheinlich »eine
Durchfahrt im Norden« aus der ›Allgemeinen Geschichte der
Entdeckungsreisen‹. Nur im gebrauchten Exemplar wird etwas aus
den Hölderlinschen Kolonien vermeldet, die keiner je betrat.
 
Alte Abneigung gegen Bücher, deren Titel auf dem Rücken längs
gedruckt sind. Auf menschenwürdigen sollte er quer stehen. Die
Begründung, man müsse, wenn ein Band aufgestellt ist, bei der
Längsschrift den Kopf verdrehen, um zu merken, was es sei, ist
wohl bloße Rationalisierung. In Wahrheit verleiht die Querschrift
auf dem Rücken den Büchern einen Ausdruck von Beständigkeit:
solid ruhen sie auf ihren Füßen, und der lesbare Titel oben ist ihr
Gesicht. Die mit der Längsschrift aber sind nur dazu da,
herumzuliegen, heruntergefegt zu werden, weggeworfen; schon
ihrer physischen Gestalt nach darauf eingerichtet, daß sie keine
Bleibe haben. Was broschiert ist vollends, kennt kaum je die
Querschrift. Wo diese noch geduldet wird, ist sie nicht mehr
aufgedruckt oder gar geprägt, sondern ein Schildchen wird
aufgeklebt, bloß noch Fiktion. – Nur an einigen der Bücher, die ich
verfaßte, hat sich der Wunsch nach der Querschrift erfüllt; wann
immer aber der Längsdruck durchgesetzt ward, ließ nichts Triftiges
dagegen sich einwenden. Schuld hatte wohl gar mein eigenes
Widerstreben gegen dicke Bände.
 
Unter den Symptomen des Verfalls der Bücher ist nicht das
harmloseste, daß neuerdings Erscheinungsjahr und -ort auf der
Titelseite verschwiegen werden, allenfalls verschämt beim
Copyright vermerkt. Vermutlich wird dadurch nicht im Ernst
erschwert, Bücher in öffentlichen Bibliotheken oder antiquarisch
aufzutreiben. Wohl aber wird ihnen, mit Raum und Zeit, das
principium individuationis entzogen. Sie sind bloß noch Exemplare
einer Gattung, schon so austauschbar wie ein Bestseller gegen den
anderen. Was dem Anschein nach sie dem Ephemeren und
Zufälligen ihres empirischen Hervortretens entreißt, hilft ihnen nicht
sowohl zum Überleben, als daß es sie zum Wesenlosen verdammt.
Auferstehen könnte nur, was sterblich war. Motiviert ist der
abscheuliche Brauch vom materiellen Interesse, das die
Bestimmung der Sache selbst verbieten: man soll dem Ding nicht
ansehen, wann es herauskam, damit nicht der Leser, für den nur das
Frischeste gut genug ist, den Verdacht schöpfe, es handle sich um
einen Ladenhüter, also um etwas, was jene Dauer sucht, die in der
Form des Buches selbst, als eines Gedruckten und womöglich
Gebundenen, versprochen wird. Trauert man aber dem nach, daß sie
auch den Ort des Verlags unterschlagen – um so prätentiöser prangt
dafür der Verlegername –, so klärt einen der Sachverständige
sogleich darüber auf, daß die provinzialen Zentren der
Buchproduktion durch den Konzentrationsprozeß des
Verlagswesens immer gleichgültiger werden und daß an sie zu
erinnern selber provinziell sei. Was soll es schon nutzen, unter einen
Buchtitel zu drucken: New York 1950? Nein, es nutzt nichts.
 
Photographische Neu-Editionen von Originalausgaben Fichtes oder
Schellings gleichen den Neudrucken alter Briefmarken aus der
Epoche vor 1870. Das physisch Intakte daran warnt vor Fälschung,
ist aber auch sinnliches Zeichen eines geistig Vergeblichen, der
Wiederbelebung von Vergangenem, das bloß durch Distanz, als
Vergangenes, bewahrt werden könnte. Renaissancen sind
Totgeburten. Indessen kommt man bei der zunehmenden
Schwierigkeit, die Originale sich zu beschaffen, ohne die peinlichen
Doubletten kaum aus und empfindet für sie die Baudelairesche
Liebe zur Lüge. So war das Kind glücklich, das im
Briefmarkenalbum das für die kostbare Dreißiger Orange von Thurn
und Taxis reservierte Feld mit einer allzu leuchtenden Marke
ausfüllen durfte, wissend, daß es hinters Licht geführt werde.
 
Kantische Erstausgaben stehen dem Apriori des Inhalts bei,
dauerhaft für die bürgerliche Ewigkeit. Der Buchbinder hat sie als
ihr transzendentales Subjekt erzeugt. – Bücher, deren Rücken wie
Literatur, deren fleckige Karton-Einbände wie für den
Schulgebrauch aussehen. Schiller, mit Recht. – Baudelaireausgabe,
angeschmutztes Weiß, blauer Rücken, wie die Pariser Metro noch
vor dem Krieg, erster Klasse, antike Moderne. – Auf
zeitgenössischen Illustrationen zu Märchen von Oscar Wilde sind
die Prinzen schon wie die boys abkonterfeit, nach denen der Autor
begehrte, während er doch die unschuldigen Märchen als Alibi
schrieb. – Revolutionäre Flugschriften und ihnen verwandte: wie
von Katastrophen ereilt, selbst wenn sie nicht älter sind als 1918.
Man sieht ihnen an, daß, was sie wollten, nicht sich verwirklichte.
Daher ihre Schönheit, dieselbe, welche in Kafkas Prozeß die
Angeklagten gewinnen, deren Hinrichtung vom ersten Tag an
feststeht.
 
Ohne die schwermütige Erfahrung der Bücher von außen wäre keine
Beziehung zu ihnen, kein Sammeln, schon gar nicht die Anlage
einer Bibliothek möglich. Wie wenig liest, wer mehr besitzt, als auf
einem Spind sich zusammenpressen läßt, von dem, woran er hängt.
Jene Erfahrung ist physiognomisch, so gesättigt mit Sympathie und
Antipathie, auch so irrlichterhaft und ungerecht wie die
physiognomische an Menschen. Das Schicksal der Bücher hat
seinen Grund darin, daß sie Gesichter haben, und die Trauer vor den
heute erscheinenden den, daß ihr Antlitz beginnt, ihnen abhanden zu
kommen. Die physiognomische Haltung zum Auswendigen der
Bücher jedoch ist das Gegenteil der bibliophilen. Sie spricht an aufs
geschichtliche Moment. Bibliophiles Ideal dagegen sind Bücher, die
der Geschichte enthoben wären, ergattert an ihrem ersten Tag, den
sie vermessen konservieren. Schönheit erhofft sich der Bibliophile
von Büchern ohne Leid; sie sollen neu auch als alte sein. Ihren Wert
soll das Unbeschädigte garantieren; insofern ist die bibliophile
Stellung zum Buch outriert bürgerlich. Das Beste entgeht ihr. Leid
ist die wahre Schönheit an den Büchern; ohne es wird sie zur bloßen
Veranstaltung korrumpiert. Dauer, Unsterblichkeit, die sich selbst
setzt, hebt sich auf. Wer das spürt, hat eine Aversion gegen
unaufgeschnittene Bücher; die jungfräulichen gewähren keine Lust.
 
Vag ist, was die Bücher von außen sagen, als Versprechen: das ihrer
Ähnlichkeit mit dem, was sie enthalten. Die Musik hat, in einer der
Schichten ihrer Notation, dies Moment realisiert; Noten sind nicht
nur Zeichen, sondern in ihren Linien, Tonköpfen, Bögen und
ungezählten graphischen Momenten immer auch Bilder des
Erklingenden. Sie bannen, was in der Zeit geschieht und mit ihr
enteilt, in die Fläche, freilich um den Preis von Zeit selbst, der
leibhaften Entwicklung. Die ist aber der Sprache ebenso wesentlich,
und deshalb erwartet man von den Büchern dasselbe. Nur ward in
ihr, gemäß dem Vorrang des begrifflich-signifikativen Aspekts, vom
Druck das mimetische Moment gegenüber dem Zeichensystem
unvergleichlich viel weiter zurückgedrängt als in der Musik. Weil
jedoch das Ingenium der Sprache immer noch darauf besteht,
während sie es verweigert und verstreut, enttäuscht die
Auswendigkeit der Bücher, verwandt der der Embleme, deren
Ähnlichkeit mit ihrer Sache vieldeutig ist. Unter denen der
Melancholie figuriert das Buch schon seit Jahrhunderten, noch am
Anfang von Poes Raven und bei Baudelaire fehlt es nicht: etwas
Emblematisches eignet der imago aller Bücher, wartend, daß der
tiefe Blick ins Äußere dessen Sprache erwecke, eine andere als die
inwendige, gedruckte. Einzig in exzentrischen Zügen des zu
Lesenden überlebt jene Ähnlichkeit, wie in der hartnäckigen und
abgründigen Leidenschaft Prousts, ohne Abschnitte zu schreiben. Er
ärgerte sich an der Forderung bequemen Lesens, die das graphische
Bild nötigt, kleine Brocken zu servieren, welche der begierige
Kunde leichter verschlucken kann, auf Kosten der Kontinuität der
Sache. Durch die Polemik gegen den Leser bildet der Satzspiegel
jener sich an, literarische Autonomie führt zurück auf die
mimetische Verhaltensweise der Schrift. Sie schafft Prousts Bücher
um in Noten des inneren Monologs, den seine Prosa gleichzeitig
spielt und begleitet. Überall jedoch sucht das Auge, das der
Fluchtbahn des Drucks folgt, solche Ähnlichkeiten. Weil keine
zwingend ist, vermag ein jedes graphische Element, eine jede
Beschaffenheit von Band, Papier und Druck zu ihrem Träger zu
werden; wo immer nämlich der Lesende im Buch selber mimetische
Impulse innerviert. Gleichwohl sind solche Ähnlichkeiten keine
bloßen subjektiven Projektionen, sondern haben ihre objektive
Legitimation in den Unebenheiten, Rissen, Löchern und Griffen,
welche Geschichte in die glatten Wände des graphischen
Zeichensystems, der materiellen Komponenten und Akzidentien der
Bücher geschlagen hat. In solcher Geschichte enthüllt sich das
gleiche wie in der des Inhalts: jener Baudelaireband, der aussieht
wie eine klassizistische Untergrundbahn, konvergiert mit dem, was
als Gehalt der Dichtungen historisch hervortritt, die er verschließt.
Die Gewalt der Geschichte über die Erscheinung des Einbands und
sein Schicksal ebenso wie über das Gedichtete ist aber soviel größer
selbst als jede Differenz von Innen und Außen, Geist und Stoff, daß
sie die Spiritualität der Werke zu überflügeln droht. Das ist das
innerste Geheimnis der Trauer älterer Bücher, auch die Anweisung,
wie man mit ihnen und, nach ihrem Muster, mit Büchern überhaupt
umzugehen habe. Der, in dem mimetischer und musikalischer Sinn
tief genug sich durchdringen, wird allen Ernstes fähig sein, nach
dem Notenbild ein Werk zu beurteilen, schon ehe er es in die
Vorstellung des Gehörs voll umgesetzt hat. Bücher sind dagegen
spröde. Aber der ideale Leser, den sie nicht dulden, wüßte doch,
indem er den Einband in der Hand fühlt, die Figur des Titelblatts
wahrnimmt und die Gestaltqualität der Seiten, etwas von dem, was
darin steht, und ahnte, was es taugt, ohne daß er es erst zu lesen
brauchte.
 Rede über ein imaginäres Feuilleton
 
Für Z.
 
Der kurze Text, den ich ausgewählt habe, um einige der Gründe zu
nennen, mit denen ich mir zurechtlege, warum ich ihn liebe, ist ein
selbständiges Prosastück und ist es doch nicht. Er findet sich in den
Verlorenen Illusionen. So heißt der erste der beiden langen Romane
Balzacs, die, rauschend wie das gleichzeitig aufkommende große
Orchester, Erhebung und Sturz des Jünglings Lucien Chardon
schildern, der später den Namen de Rubempré trägt. Das Prosastück
ist ein inmitten der Erzählung wiedergegebenes Feuilleton Luciens,
nach Balzacs Worten sein erster Artikel. Er schreibt ihn nach der
Première eines Boulevardstücks, die ihm Kontakt verschafft mit
dem Journalismus und eine Liebschaft mit der Hauptdarstellerin. So
reizvoll wird diese beschrieben, daß die Heldin des zweiten
Lucien-Romans, Glanz und Elend der Kurtisanen, die von
Hofmannsthal märchenhaft genannte Esther, es schwer hat, das
lockende Bild zu überbieten. Die Souper-Gesellschaft, von der
Lucien sich absondert, um jenes Feuilleton zu schreiben, entscheidet
über sein Leben. Sie schwemmt ihn weg aus dem strengen,
liberalfortschrittlichen Kreis von Intellektuellen, der um den Dichter
d'Arthez – das Selbstporträt Balzacs – sich gruppiert. Lucien taumelt
in den Verrat an seinen Idealen, und bald, obzwar unwillentlich,
auch an seinen früheren Freunden. Aber die Verführung selbst ist so
plausibel, so phantasmagorisch die nach dem Willen Balzacs
korrupte Welt, die dem Jüngling sich öffnet, daß darüber der Begriff
des Verrats zerrinnt wie oftmals die großen sittlichen Begriffe in
den unendlich gleitenden Begebenheiten des Lebens. Sei's auch
gegen die ausdrückliche Intention Balzacs, gewinnt Lucien soviel
Recht, wie es der ungeschmälerten sinnlichen Erfüllung vor dem
Geist zukommt. Denn dieser führt stets etwas Aufschiebendes und
Vertröstendes mit sich, wo die Menschen in der widervernünftigen
Gegenwart einen Anspruch aufs Glück haben, ohne den alle
Vernunft nur Unvernunft wäre: dies Moment spricht für Lucien. Die
Verflechtung seines Schicksals in die Gesellschaft, der er sich fremd
weiß, sein eigener Glanz und sein eigenes Elend, all das sammelt
sich wie in einem Brennspiegel in dem Feuilleton, das Balzac ihm
so in die Feder diktiert, als teilte er den Wunsch des jungen
Literaten, »vor so bemerkenswerten Personen seine Probe
abzulegen«. In dem Mikrokosmos des Aufsatzes wird der
Herzschlag des Romans und seines Helden von Sekunde zu Sekunde
mitgezählt.
Von geringeren Romanciers unterscheidet Balzac sich allein
schon dadurch, daß er nicht über das Feuilleton schwatzt, sondern es
hinstellt. Andere hätten mit der Versicherung sich begnügt, Lucien
sei ein talentierter Journalist gewesen, und etwa mit Phrasen sich
beholfen wie der, daß geistreiche Einfälle, Witzworte bei ihm
einander folgten wie glitzernde Bälle. Solche Beteuerungen überläßt
Balzac den Journalisten aus Luciens Milieu; an ihrer Statt beweist er
die geistige Begabung konkret an ihrem Produkt. Er ist nicht, was
Kierkegaard Prämissenschriftsteller nennt. Nie zehrt er von dem,
was er seinen Figuren zuspricht, was sie angeblich sind, ohne es in
der Sache selbst zu realisieren. Er hat im höchsten Maß jene
Anständigkeit, welche die Moral bedeutender Kunstwerke
ausmacht. Wie ein Komponist mit dem ersten Takt einen Vertrag
unterzeichnet, den er durch Konsequenz einlöst, so honoriert Balzac
den epischen Vertrag: nichts sagen, was nicht berichtet wäre. Selbst
der Geist wird Erzählung. Zwar vermeldet Balzac, Luciens
Feuilleton hätte im Journalismus durch seine neue, originale Art
Revolution gemacht, aber er erfüllt dabei selbst den Anspruch der
Neuheit und Originalität. Und zwar auf eine Weise, die wiederum
dem ästhetischen Kompositionsprinzip des Romans Ehre antut.
Nirgends nämlich erfährt man den Inhalt des Stücks, um das es geht;
weder bei der Beschreibung des Theaterabends noch dann aus dem
Feuilleton. Vielmehr wird die hispanische Komödie als vorhanden
fingiert und dann die Fiktion in Luciens Bericht über die Wirkung
auf ihn nochmals gespiegelt. In dieser Brechung treten die privaten
Bezüge hervor, Luciens Absicht, dem Stück zu nützen und seiner
Geliebten. Das Feile, Unsachliche des archaischen Journalismus,
den der gesamte Roman verklagt, wird nicht beschönigt. Aber
Luciens Unsachlichkeit ist zugleich Befreiung vom Zwang der
Sache, die Entfaltung eines selbständigen Spiels der
Einbildungskraft. Noch was der illegitimen Reklame dient, hat seine
Wahrheit. Balzac weiß, daß, im Gegensatz zur offiziellen Ästhetik,
die künstlerische Erfahrung nicht rein ist; daß sie es kaum sein kann,
wenn sie Erfahrung werden soll. Keiner verstünde ganz, was eine
Oper ist, wer nicht als Junge während der Aufführung auch in die
Koloratursopranistin sich verliebt hätte; in dem Zwischenreich von
Eros und interesselos betrachtetem Werk kristallisieren sich die
Bilder, deren Inbegriff die Kunst ist. Lucien ist noch der große
Junge, der in diesem Zwischenreich schwärmt. Daher, und nicht
bloß aus schlauer Absicht, unterschiebt er seine private Reaktion auf
das ästhetische Phänomen anstelle von dessen abwägender Analyse.
Was immer später unter dem Namen impressionistische Kritik ging,
wird von Balzac in dem Artikel, der gar keiner ist, mit einer Frische
und Leichtigkeit, die nie zu überbieten war, im frühen neunzehnten
Jahrhundert antezipiert. Man erlebt die Geburt des Feuilletons, als
wäre es die der goldenen Aphrodite. Und das Zum-ersten-Mal
verleiht der nichtswürdigen Form versöhnende Anmut. Sie gerät
desto hinreißender, weil sie vor der Folie all des Verfalls entworfen
ist, der dem Feuilleton schon am ersten Tag als Potential
innewohnte und in den sechzig oder siebzig Jahren danach sichtbar
zutage trat. Beschworen wird das Gedächtnis an Karl Kraus, der den
Journalismus verdammte, ohne doch je ein abschätziges Wort zu
sagen über die gleißend todgeweihte Welt der Lulu, deren Tragik in
den beiden männlichen Hauptfiguren, Schön und Alwa, den
zynischsten Journalismus voraussetzt.
Vielleicht ist es gerade das Schamlose, um moralische
Rationalisierung gänzlich Unbekümmerte in Luciens Aufsatz, das
ihn rehabilitiert. Mit einem wahren Geniestreich hat Balzac dafür
Sorge getragen, daß er entsühnt werde, ohne ihn zu entschuldigen.
In dem Satz, wo Lucien schreibt, was man nicht alles beim Anblick
der unwiderstehlichen Coralie ihr anzutragen bereit wäre, stehen,
nach dem Herzen und der Rente von dreißigtausend Livres, auch die
Worte »und seine Feder«. Er bekennt die eigene Korruption und
widerruft sie damit, ein Falschspieler, der die Karten auf den Tisch
legt –; und erklärt sie zugleich. Indem Lucien dem verlogenen
Zwang, nach einem bunten Theaterabend mit geläutertem
Geschmack Stellung zu nehmen und besonnen zu richten, ein
Schnippchen schlägt, wird das Feuilleton frei für seine spontanen
Regungen, zumal seine Verliebtheit in die, mit der er auf der
gleichen Soirée, wo er das Feuilleton verfaßt, sich benimmt »wie ein
fünfzehnjähriges Pärchen«. Die Welt, die eine Sekunde lang ihm zu
Füßen liegt, behandelt sein Exhibitionismus, als wäre es nicht die
Welt, sondern frei. Dadurch erprobt sich Lucien noch in der
anrüchigen Zweideutigkeit als der höher Geartete. Coralie erwähnt
er im Feuilleton nur desultorisch, in eingesprengten Sätzen,
flimmernden Glanzlichtern. Mehr als von ihr selbst ist von ihren
Füßen und von ihren schönen Beinen die Rede. Balzacs Genius
beweist nicht zuletzt sich darin, daß seine individuelle Innervation
kollektiven Reaktionsweisen entspricht, die erst in einer Zeit sich
ausbreiteten, der er bereits historisch war; er hat, übrigens nicht nur
in jenem Feuilleton, den Reiz von Beinen wohl überhaupt für die
Literatur entdeckt.
Lucien ist verblendet, aber nicht blind. Seine affektierte
Gleichgültigkeit gegen Handlung, Sprache, dichterische Qualität des
Stücks läßt Kritik durchschimmern. Der Schmarren ist ihm nicht der
Mühe wert, darauf einzugehen, er attestiert ihm kaum mehr als die
vis comica der Wirkung: daß man darüber lachen muß. Aber das
Feuilleton hat zugleich auch unverkennbar das Schlechte seiner
Gattung, die unverschämte Verachtung des Objekts und der
Wahrheit; die Bereitschaft, durch Stimmung, Wortkunst,
jonglierende und variierende Wiederholung, den Geist zu
verschachern, der doch wiederum in all dem sich manifestiert. So
doppeldeutig steht aber auch das Feuilleton im Gefüge des Romans.
Während es Lucien emporträgt und für ein paar Monate der Misere
entreißt, die damals wie heute der künstlerischen Integrität droht,
macht es ihm bereits den Freund, der ihn bei den Journalisten und
Schauspielerinnen einführt, zum Neider und geheimen Feind. Der
Erfolg, den man ihm auf Widerruf zubilligt, wird durch eine
beiläufige Konversation zum Beginn der ersten Katastrophe seines
Lebens, die Coralie vernichtet und aus der ihn kein anderer rettet als
ein Schwerverbrecher.
Sein Feuilleton ist entzückend in eins und abscheulich. Es
gestaltet, worauf sonst Autoren bloß Vorschußlorbeeren
einkassieren; es begründet den Abfall des Helden, begründet das
Verdikt über ihn und entlastet ihn, alles mit ein paar Sätzen, die so
unabsichtlich gefügt sind, wie nur ein wirklich Hochtalentierter so
etwas hätte improvisieren können. Die im wahren Sinn
unerschöpfliche Fülle der Bezüge entfaltet sich ohne jeden Zwang,
ohne die Spur von Willkür. Die Motive des Feuilletons strömen ihm
aus dem Stoff des Romans zu; nicht ein Satz verdankt sich der
Absicht des Dichters, alles dem Sachgehalt, dem Naturell des
Helden und seiner Situation; so wie einzig in den großen
Kunstwerken noch das scheinbar Zufällige und Bedeutungslose
symbolisch wird, ohne irgend zu symbolisieren. Aber nicht einmal
diese Meriten umschreiben ganz den Rang der paar Seiten. Er
bestimmt sich durch ihre kompositorische Funktion. Das strikt
durchgeführte Kunstwerk im Kunstwerk schlägt, inmitten der
atemlos steigenden und sinkenden Handlung, die Augen auf. Es ist
die Selbstbesinnung des Kunstwerks. Dieses wird seiner selbst als
des Scheines inne, der auch die illusionäre Journalistenwelt bleibt,
in welcher Lucien seine Illusionen verliert. Dadurch wird der Schein
über sich erhoben. Ehe nur literarhistorisch der reflexionslos
naturalistische Roman sich recht konsolidierte, hat Balzac, den man
unter die Realisten einreiht und der nach vieler Hinsicht auch einer
war, die geschlossene Immanenz des Romans durch das
eingelassene Feuilleton bereits gesprengt. Seine Erben im Roman
des zwanzigsten Jahrhunderts waren Gide und Proust. Sie haben die
scheinhafte Grenze zwischen Schein und Realität verflüssigt und der
verpönten Reflexion Raum geschaffen, indem sie es verschmähen,
deren Antithese zur vorgeblich reinen Anschauung verbissen
durchzuhalten. In diesem Zug ist jenes Balzacsche Stück ein
exemplarisches Programm der Moderne. Es mahnt – auch das ist in
der Comédie humaine nicht vereinzelt – schon an Thomas Manns
Leverkühn, dessen nichtexistente Musik bis ins einzelne
beschrieben wird, als lägen die Partituren vor. Das Kunstmittel
schält bruchstückhaft und doch einheitlich die Bedeutungen heraus
und konkretisiert sie zugleich. Anders wären sie bloße
Weltanschauung, bloß äußerlich gesetzt. Solche Selbstbesinnung
und Suspension aber ist wohl die Signatur großer Epik. Sie wird,
was sie ist, dadurch, daß sie mehr ist, als sie ist, so wie einst die
Homerischen Epen Kunstwerke wurden, indem sie von einem Stoff
erzählten, der in der ästhetischen Form nicht aufgeht.
Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, klar genug zu sagen,
warum ich jene Seiten liebe. Ergänzen möchte ich es, indem ich auf
eine eigene Impression mich beziehe. Bei der Lektüre des
Feuilletons und der Romanteile, die es umgeben, fällt mir eine
Musik von Alban Berg ein, und zwar gerade eine zu Wedekinds
Lulu: die Variationen, die dem Salon des Marquis Casti-Piani
gelten, wo alles gewonnen wird und alles verspielt, und aus dem die
Schönste dem Netz von Polizei und Mädchenhändlern entrinnt ins
Finstere. Etwas von dieser Schwärze und von diesem Leuchten hat
Balzacs Roman.
Die Seiten der Verlorenen Illusionen, welche die Mitte des
Romans bilden und in denen er sich verschlüsselt, lauten in der
Übersetzung Otto Flakes aus der Gesamtausgabe des
Rowohlt-Verlages:
»Lucien mußte lachen und betrachtete Coralie. Die reizende
Schauspielerin gehörte zu jenem Typus, der nach Belieben die
Männer faszinierte. Sie vereinigte alle Vorzüge der jüdischen Rasse
in sich, mit ihrem ovalen Gesicht von der Farbe blonden Elfenbeins,
dem granatroten Mund und dem Kinn, das fein wie ein Kelchrand
war. Unter Lidern, die das Feuer hüteten, unter aufgebogenen
Wimpern drang ein Blick hervor, schmachtend oder brennend, wie
die Glut der Wüste. Die Augen, um die ein Kreis in den Tönen der
Oliven spielte, wurden von geschwungenen, starken Brauen
überwölbt. Die nachtschwarzen Flechten, die dieselben Lichter wie
Lack trugen, umschlossen eine braune Stirn, auf der so erhabene
Gedanken ruhten, daß man an ein Genie dachte. Aber wie viele
Schauspielerinnen besaß Coralie keinen Geist trotz ihrer
Kulissenironie und keine Bildung trotz ihrer Boudoirerfahrung; sie
hatte den Geist der Sinne und die Güte der Frauen, die der Liebe
ergeben sind. Im übrigen hielt man sich nicht lange bei der Moral
auf angesichts ihrer runden, glatten Arme, der wie Spindeln
auslaufenden Finger, der goldgetönten Schultern, der vom Hohen
Lied besungenen Brust, dem geschmeidigen Hals und den Beinen,
die von einer bewunderungswürdigen Eleganz waren und durch
Strümpfe von roter Seide schimmerten. Die orientalische Poesie
dieser Schönheiten wurden noch durch das herkömmliche spanische
Kostüm unsrer Theater hervorgehoben. Der ganze Saal hing an
ihren Hüften, die der kurze Rock fest umschloß, und an ihrer
andalusischen Kruppe, die sich herausfordernd wölbte ...
Lucien, den der Wunsch trieb, vor so bemerkenswerten
Personen seine Probe abzulegen, schrieb an dem runden Tisch im
Boudoir Florines beim Licht der rosa Kerzen, die Matifat angesteckt
hatte, seinen ersten Artikel:
 
Der Alkade in Verlegenheit
Erstaufführung im Panorama Dramatique
Eine neue Schauspielerin: Fräulein Florine
Fräulein Coralie
Bouffé
 
›Man kommt, man geht, man spricht, man sucht etwas und findet es
nicht, alles ist in Bewegung. Der Alkade hat seine Tochter verloren
und findet seine Mütze, aber die Mütze paßt ihm nicht, es muß die
Mütze eines Diebes sein. Wo ist der Dieb? Man kommt, man geht,
man spricht, man sucht von neuem. Der Alkade findet zu guterletzt
einen Mann ohne seine Tochter und seine Tochter ohne einen Mann,
was dem Beamten genügt, aber nicht dem Publikum. Die Ruhe kehrt
wieder, der Alkade will den Mann ausforschen. Der alte Alkade
setzt sich in einen großen Alkadensessel und zupft seine
Alkadenärmel zurecht. Spanien ist das einzige Land, wo Alkaden an
so große Ärmel geknüpft sind, wo man um den Hals der Alkaden
jene Krausen sieht, die auf den Theatern von Paris schon den halben
Mann bedeuten. Dieser Alkade, dieser kleine trippelnde Greis, ist
Bouffé, Bouffé, der Nachfolger Potiers, ein junger Schauspieler, der
die ältesten Greise so gut spielt, daß er die ältesten Männer zum
Lachen brachte. Seine kahle Stirn, seine meckernde Stimme, die
schlotternden Spitzen auf dem schmächtigen Leib, das war die
Quintessenz von hundert Greisen. Er ist so alt, der junge
Schauspieler, daß er erschreckt, man hat Furcht, sein Alter möchte
sich wie eine ansteckende Krankheit verbreiten. Und was für ein
prächtiger Alkade, so dumm und so wichtig, so dumm und so
würdig! Wie salomonisch als Richter, wie sehr weiß er, daß alles,
was wahr ist, gleich darauf falsch sein kann! Er hatte ganz das Zeug,
der Minister eines verfassungsmäßigen Königs zu sein! ...
Die Tochter des Alkaden wurde von einer echten Andalusierin
gespielt, spanisch ihre Blicke, spanisch ihr Teint, spanisch die Taille
und der Gang, kurzum, eine Spanierin von Kopf zu Fuß, im
Strumpfband der Dolch, im Herz die Liebe und auf der Brust das
Kreuz am Band. Beim Aktschluß fragte mich jemand nach dem
Gang des Stückes. Ich gab zur Antwort: sie trägt rote Strümpfe mit
grünen Zwickeln, sie hat ein Füßchen, so groß, in Schuhen von Lack
und das schönste Bein von Andalusien! Weiß Gott, daß jedem beim
Anblick dieser Alkadentochter das Wasser im Mund zusammenlief,
man war nahe daran, auf die Bühne zu springen und ihr seine Hütte
und sein Herz oder dreißigtausend Livres Rente und seine Feder
anzutragen. Diese Andalusierin ist die schönste Schauspielerin von
Paris. Coralie, da ich ihren Namen nennen muß, ist die Frau, um
Gräfin oder Grisette zu werden. Was ihr besser stände, weiß man
nicht. Sie wird, was sie werden will, sie ist geboren, um alles zu tun,
Besseres kann man von einer Schauspielerin am Boulevard nicht
sagen.
Im zweiten Akt traf eine Spanierin aus Paris ein, ein
Kameengesicht mit mörderischen Augen, ich habe meinerseits
gefragt, woher sie kam, man hat mir geantwortet, daß sie aus der
Kulisse stammt und Fräulein Florine heißt; aber meiner Treu, ich
konnte es nicht glauben, soviel Feuer war in ihren Bewegungen,
soviel Glut in ihrer Liebe. Florine hatte zwar keine roten Strümpfe
mit grünen Zwickeln, noch trug sie Schuhe von Lack, sie trug eine
Mantille und einen Schleier und trug sie wunderbar, ganz die große
Dame. Sie führte uns das vor, wie die Tigerin die Krallen einzieht
und zum Kätzchen wird. An den scharfen Worten, die die beiden
Spanierinnen sich zuwarfen, habe ich erraten, daß es sich um
irgendein Eifersuchtsdrama handelt. Als alles in Ordnung kommen
wollte, hat die Dummheit des Alkaden alles wieder
durcheinandergeworfen. Diese ganze Welt von Fackelträgern,
Dienern, Figaros, Herrn, Alkaden, Mädchen und Frauen begann
abermals zu kommen, zu gehn, zu suchen. Die Intrige schürzte sich
von neuem, und ich ließ sie sich entschürzen, denn die eifersüchtige
Florine und die glückliche Coralie verwickelten mich von neuem in
die Falten, die ihr Röckchen warf, zogen mich von neuem in den
Kreis, den ihre Mantille beschrieb, und wenn ich etwas sah, so
waren es die Spitzen ihrer kleinen Füße.
Ich erlebte auch den dritten Akt, ohne ein Unglück anzurichten,
ohne nach dem Polizeikommissar zu rufen, ohne den
Zuschauerraum in Aufruhr zu bringen, und ich glaube seither an die
Macht der öffentlichen Moral und den Einfluß der Religion, womit
man sich in der Kammer der Abgeordneten soviel beschäftigt,
derzufolge es keine Moral in Frankreich mehr gibt. Es wurde mir
klar, daß es sich um einen Mann handelt, der zwei Frauen liebt,
ohne von ihnen geliebt zu werden, oder einen Mann, der von ihnen
geliebt wird, ohne sie zu lieben, oder einen Mann, der die Alkaden
nicht liebt, es sei denn, daß die Alkaden ihn nicht lieben, aber gewiß
ist er ein braver Mann, der jemand liebt, entweder sich selbst oder in
Gottes Namen den lieben Gott, denn er wird Mönch. Wenn Sie mehr
wissen wollen, müssen Sie schon ins Panorama Dramatique gehn.
Das müssen Sie überhaupt tun, das erstemal, um Ihr kaltes Blut an
den rotgrünen Seidenstrümpfen, an den Füßchen der Verführung, an
den Glutaugen zu erwärmen und Zeuge zu sein, wie eine reizende
Pariserin als Andalusierin und eine Andalusierin als Pariserin
aussieht. Und dann ein zweites Mal, um das Stück zu genießen, in
dem man dank jenem Greis und jenem verliebten Herrn bis zu
Tränen lacht. Unter beiden Gesichtspunkten hat das Stück Erfolg
gehabt.‹«
 Sittlichkeit und Kriminalität
 
Zum elften Band der Werke von Karl Kraus
Für Lotte von Tobisch
 
Der Herausgeber der neuen Edition von ›Sittlichkeit und
Kriminalität‹, Heinrich Fischer, sagt im Nachwort, kein Buch von
Karl Kraus sei aktueller als dies vor bald sechzig Jahren publizierte.
Das ist die pure Wahrheit. Trotz allem Geschwätz vom Gegenteil
hat in der Grundschicht der bürgerlichen Gesellschaft nichts sich
geändert. Böse hat sie sich vermauert, als wäre sie so
naturgesetzlich-ewig, wie sie es ehedem in ihrer Ideologie positiv
behauptete. Sie läßt die Verhärtung des Herzens, ohne welche die
Nationalsozialisten nicht unbehelligt Millionen hätten morden
können, so wenig sich abmarkten wie die Herrschaft des
Tauschprinzips über die Menschen, den Grund jener subjektiven
Verhärtung. Flagrant wird das Bedürfnis, zu bestrafen, was nicht zu
bestrafen wäre. Die Judikatur maßt, nach der Diagnose von Kraus,
mit der Verstocktheit des gesunden Volksempfindens das Recht zur
Verteidigung nicht-existenter Rechtsgüter sich an, selbst wo
nachgerade sogar die offizielle Wissenschaft in der Majorität ihrer
Vertreter nicht länger zu dem sich hergibt, wogegen in den ersten
Jahren des Jahrhunderts nur wenige, damals von Kraus gerühmte
Psychologen wie Freud und William Stern anzugehen wagten. Je
geschickter das fortdauernde soziale Unrecht unter der unfreien
Gleichheit der Zwangskonsumenten sich versteckt, desto lieber zeigt
es im Bereich nicht-sanktionierter Sexualität seine Zähne und
bedeutet den erfolgreich Nivellierten, daß die Ordnung im Ernst
nicht mit sich spaßen läßt. Geduldetes Freiluftvergnügen und ein
paar Wochen mit einteiligem Bikini haben womöglich nur eine Wut
gesteigert, die, hemmungsloser als je die von ihr verfolgten
sogenannten Laster, sich zum Selbstzweck wird, seitdem sie auf die
theologischen Rechtfertigungen verzichten muß, die zuzeiten auch
für Selbstbesinnung, und Duldung, Raum gewährten.
Der Titel ›Sittlichkeit und Kriminalität‹ wollte ursprünglich
nichts, als zwei Zonen auseinanderhalten, von denen Kraus wußte,
daß sie nicht bruchlos ineinander aufgehen; die der privaten Ethik,
in der kein Mensch über einen anderen richten dürfe, und die der
Legalität, welche Eigentum, Freiheit, Unmündigkeit zu schützen
habe. »Wir können uns nicht daran gewöhnen, Sittlichkeit und
Kriminalität, die wir so lange für siamesische Begriffszwillinge
hielten, von einander getrennt zu sehen.« 1 Denn: »die schönste
Entfaltung meiner persönlichen Ethik kann das materielle, leibliche,
moralische Wohl meines Nebenmenschen, kann ein Rechtsgut
gefährden. Das Strafgesetz ist eine soziale Schutzvorrichtung. Je
kulturvoller der Staat ist, umso mehr werden sich seine Gesetze der
Kontrolle sozialer Güter nähern, umso weiter werden sie sich aber
auch von der Kontrolle individuellen Gemütslebens entfernen.« 2
Diesem Gegensatz genügt jedoch nicht einfach die Trennung
verschiedener Gebiete. Er drückt den Antagonismus eines Ganzen
aus, welches nach wie vor die Versöhnung des Allgemeinen und des
Besonderen beiden verweigert. Zur Dialektik wird Kraus allmählich
von der Gewalt der Sache gedrängt, und ihr Fortgang schafft die
innere Form des Buches. Sittlichkeit, die herrschende, jetzt und hier
geltende, produziere Kriminalität, werde kriminell. Berühmt wurde
der Satz: »Ein Sittlichkeitsprozeß ist die zielbewußte Entwicklung
einer individuellen zur allgemeinen Unsittlichkeit, von deren
düsterem Grunde sich die erwiesene Schuld des Angeklagten
leuchtend abhebt.« 3
Die Befreiung des Sexus von seiner juristischen Bevormundung
möchte tilgen, wozu ihn der soziale Druck macht, der in der Psyche
der Menschen als Hämischkeit, Zote, grinsendes Behagen und
schmierige Lüsternheit sich fortsetzt. Die Libertinage des
Amüsierbetriebes, die Anführungszeichen, in die ein
Gerichtsreporter das Wort Dame setzt, wenn er ihr Privatleben
betasten will, und die offizielle Entrüstung sind von gleichem Blute.
Kraus wußte alles über die Rolle des Sexualneids, der Verdrängung
und der Projektion in den Tabus. Mag er darin bloß für sich
wiederentdeckt haben, was nachsichtige Skepsis von je vorbrachte –
und der Parodist Kraus ist einer der wenigen in der Geschichte, der
nicht, als Freund alter Sitten, ins Gezeter über Verderbnis
einstimmte; quo usque tandem abutere, Cato, patientia nostra?,
fragte er –: der antipsychologische Psychologe verfügt auch über
Einsichten recentester Art wie die in die Gereiztheit des Glaubens,
sobald er seiner selbst nicht mehr sicher ist: »Man muß die leichte
Reizbarkeit des katholischen Gefühls kennen. Es gerät immer in
Wallung, wenn der Andere es nicht hat. Die Heiligkeit einer
religiösen Handlung hält den Religiösen nicht so ganz gefangen, daß
er nicht die Geistesgegenwart hätte, zu kontrollieren, ob sie den
Andern gefangen hält, und die von wachsamen Kooperatoren
geführte Menge hat sich daran gewöhnt, die eigentliche Andacht
nicht so sehr im Abnehmen des Hutes wie im Herunterschlagen des
Hutes zu betätigen.« 4 Das verdichtet er zur Sentenz:
»Gewissensbisse sind die sadistischen Regungen des Christentums.
So hatte Er's nicht gemeint.« 5 Nicht nur den Zusammenhang der
Tabus mit einem in sich selbst unsicheren religiösen Eifer hat er
gewahrt, sondern auch jenen mit völkischer Ideologie, den die
Sozialpsychologen erst ein Menschenalter später erhärten konnten.
Wo er gleichwohl gegen die Wissenschaft, zumal die Psychologie,
seine Pointen kehrt, bekämpft er nicht die Humanität von
Aufklärung sondern ihre Inhumanität, das Einverständnis mit dem
herrschenden Vorurteil, den Hang zum Schnüffeln, zum Einbruch in
die Privatsphäre, die zumindest in ihren Anfängen die
Psychoanalyse vor gesellschaftlicher Zensur retten wollte.
Wissenschaft so wenig wie irgendeine isolierte Kategorie ist ihm als
solche gut oder schlecht. Das Bewußtsein von der unseligen
Verkettung des Ganzen hebt die Position von Kraus scharf von der
einer Toleranz im schmählichen Ganzen ab, die auch es toleriert und
ihrerseits, geschäftlichen Interessen hörig, den Puritanismus als
dessen Reversbild ergänzt. Kraus hütet sich, gegen das herrschende
Unwesen Freiheit frisch-fröhlich zu entwerfen. Der für Philosophie,
trotz des unvergleichlichen Gedichts über Kant, schwerlich allzuviel
Neigung hegte, hat auf eigene Faust das Prinzip der immanenten
Kritik entdeckt, Hegel zufolge der allein fruchtbaren. Er akzeptiert
es im Programm einer »rein dogmatische[n] Analyse eines
strafrechtlichen Begriffes, die die bestehende Rechtsordnung nicht
negiert, sondern interpretiert« 6 . Immanente Kritik ist bei Kraus
mehr als Methode. Sie bedingt die Wahl des Gegenstands seiner
Fehde mit dem bürgerlichen Kommerzialismus. Nicht bloß um der
glanzvollen Antithese willen verhöhnt er die Käuflichkeit der Presse
und verteidigt die der Prostitution: »So hoch das Freimädchen
moralisch über dem Mitarbeiter des volkswirtschaftlichen Teiles
steht, so hoch steht die Gelegenheitsmacherin über dem
Herausgeber. Sie hat nie gleich diesem vorgeschützt, die Ideale
hochzuhalten, aber der von der geistigen Prostitution seiner
Angestellten lebende Meinungsvermittler pfuscht oft genug der
Kupplerin auf ihrem eigensten Gebiet ins Handwerk. Nicht in
puritanischem Entsetzen habe ich hin und wieder auf die
Sexualinserate der Wiener Tagespresse hingewiesen. Unsittlich sind
sie bloß im Zusammenhang mit der vorgeblich ethischen Mission
der Presse, geradeso wie Inserate einer Sittlichkeitsliga in Blättern,
die für die Sexualfreiheit kämpfen, in höchstem Grade anstößig
wären. Und wie die moralistische Anwandlung einer Kupplerin auch
nicht an und für sich, sondern nur im Zusammenhang mit ihrer
Mission unsittlich ist.« 7
Der Haß von Kraus gegen die Presse ist gezeitigt von seiner
Besessenheit von der Forderung nach Diskretion. Auch in dieser
manifestiert sich der bürgerliche Antagonismus. Der Begriff des
Privaten, den Kraus ohne Kritik ehrt, wird vom Bürgertum
fetischisiert zum My home is my castle. Andererseits ist nichts, das
Heiligste nicht und nicht das Privateste, sicher vorm Tausch. Nie
zögert die Gesellschaft, die Geheimnisse, in deren Irrationalität ihre
eigene sich verschanzt, auf dem Markt auszubieten, sobald
verdrückte Lust am Verbotenen dem Kapital in der Sphäre der
Publizität neue Investitionschancen gewährt. Erspart blieb Kraus
noch der Schwindel, der heute mit dem Wort Kommunikation
getrieben wird; das wissenschaftlich wertneutrale air für das, was
einer dem anderen mitteilt, um zu verschleiern, daß zentrale Stellen,
die zusammengeballte wirtschaftliche Macht und ihre
administrativen Handlanger, die Masse durch Anpassung an sie
dupieren. Das Wort Kommunikation täuscht vor, das quid pro quo
wäre die natürliche Folge der elektrischen Erfindungen, die es bloß
für den direkten oder indirekten Profit mißbraucht. In den
Kommunikationen ist zum Gesetz des Geistes geworden, was Kraus
als dessen Auswuchs vor einem Menschenalter wegschneiden
wollte. Verhaßt ist ihm nicht der Kommerzialismus als solcher – das
wäre nur einer Gesellschaftskritik möglich, deren Kraus sich enthielt
– sondern der Kommerzialismus, der sich nicht einbekennt. Er ist
Kritiker der Ideologie im genauen Sinn: er konfrontiert das
Bewußtsein, und die Gestalt seines Ausdrucks, mit der Realität, die
es verzerrt. Bis zu den großen Polemiken der reifen Zeit gegen
Erpresserfiguren benutzte er die Prämisse, die Herrschaften sollten
treiben, was sie mochten; nur sollten sie es zugeben. Ihn leitete die
tiefe, wie immer auch unbewußte Einsicht, das Böse und
Zerstörende höre, sobald es sich nicht mehr rationalisiert, auf, ganz
böse zu sein, und möchte durch Selbsterkenntnis etwas wie zweite
Unschuld gewinnen. Die Moralität von Kraus ist Rechthaberei,
gesteigert bis zu dem Punkt, wo sie umschlägt in den Angriff aufs
Recht selber; advokatorischer Gestus, der den Advokaten das Wort
in der Kehle erstickt. Juristisches Denken nimmt er bis in die
Kasuistik hinein so streng, daß das Unrecht des Rechts darüber
sichtbar wird; dazu hat sich bei ihm das Erbteil des verfolgten und
plädierenden Juden vergeistigt, und durch diese Vergeistigung hat
zugleich das Rechthaben seine Mauern durchstoßen. Kraus ist der
Shylock, der das eigene Herzblut hergibt, wo der Shakespearesche
das Herz des Bürgen herausschneiden möchte. Er verbarg nicht, was
er von der Jurisdiktion hielt: »›Der Richter verurteilte die
Angeklagte zu einer Woche strengen Arrests.‹ Den Richter hat
man.« 8 Mit desto größerem Bedacht fügte er in das Buch den
Exkurs über den Begriff der Erpressung 9 ein, dem schwerlich
Fachleute die Kompetenz juristischen Denkens bestritten. Der
Verächter der offiziellen Wissenschaft qualifiziert sich als
Wissenschaftler. Die Spur des Juridischen reicht tief bis in die
Kraus'sche Sprachtheorie und -praxis hinein: er führt Prozesse in
Sachen der Sprache gegen die Sprechenden, mit dem Pathos der
Wahrheit wider die subjektive Vernunft. Archaisch die Kräfte, die
dabei ihm zuwachsen. Sind alle Kategorien der Erkenntnis, einer
wissenssoziologischen Hypothese zufolge, aus solchen der
Rechtsfindung entsprungen, so desavouiert Kraus die Intelligenz,
Verfallsform von Erkenntnis, ihrer Dummheit wegen, indem er sie
zurückübersetzt in jene Rechtsverhältnisse, welche sie, zum
formalen Prinzip ausgeartet, verleugnet. Dieser Prozeß reißt das
geltende Recht in sich hinein. Kraus konstatiert: »Das
Charakteristische der österreichischen Strafrechtspflege ist, daß sie
Zweifel schafft, ob man mehr die richtige oder die falsche
Anwendung des Gesetzes beklagen soll.« 10 Schließlich zog er die
extreme Konsequenz, als er wahrhaft das Recht in die eigene Hand
nahm und 1925 in einer Vorlesung, die keiner vergessen wird, der
zugegen war, den Herrn der ›Stunde‹, Imre Bekessy, mit den
Worten »hinaus mit dem Schuft aus Wien« von der Stätte seines
Wirkens endgültig vertrieb. Seit Kierkegaards Kampf gegen die
Christenheit hat kein Einzelner so eingreifend das Interesse des
Ganzen gegen das Ganze wahrgenommen.
Titel und fabula docet des Shakespeareschen ›Maß für Maß‹, das
vor dem einleitenden Aufsatz ausführlich zitiert wird, sind für den
immanenten Kritiker kanonisch. Als Künstler nährt ihn die
Goethesche Tradition, daß eine Sache, die selber redet,
unvergleichlich viel mehr Gewalt hat als hinzugefügte Meinung und
Reflexion. Die Sensibilität des »Bilde Künstler, rede nicht« ist
verfeinert bis zum Unbehagen am Bilden herkömmlichen Sinnes.
Kraus argwöhnt noch in der sublimen ästhetischen Fiktion das
schlechte Ornament. Gegenüber dem Schrecken der nackten, ohne
Zusatz hingestellten Sache erniedrigt selbst das dichterische Wort
sich zur Beschönigung. Für Kraus wird die ungestalte Sache zum
Ziel der Gestaltung, Kunst so geschärft, daß sie sich kaum mehr
erträgt. Dadurch assimiliert seine Prosa, die sich primär als
ästhetisch empfand, sich der Erkenntnis. Wie diese darf sie keinen
richtigen Zustand ausmalen, der notwendig die Schmach des
falschen mitschleppte, aus dem er extrapoliert ward. Lieber
überantwortet verzweifelte Sehnsucht sich einer Vergangenheit,
deren eigenes Grauen durch Vergängnis versöhnt erscheint, als daß
Kraus für den »Einbruch einer traditionslosen Horde« einträte: mit
Grund hat er »zuweilen selbst die gute Sache aus Abscheu gegen
ihre Verfechter im Stich gelassen« 11 . Halbe und ängstliche
Apologie der Freiheit ist ihm womöglich noch verhaßter als die
plane Reaktion. Eine Schauspielerin hat »vor Gericht ihr Verhalten
mit den freieren Sitten der Theatermenschheit entschuldigt«. Kraus
sagt gegen sie: »Ihre Unwahrhaftigkeit lag darin, daß sie zu ihrer
Rechtfertigung sich erst auf eine Konvention, auf die Konvention
der Freiheit, berufen zu müssen glaubte.« 12 So frei war Kraus auch
der Freiheit gegenüber, daß er über dieselbe Frau von Hervay, die er
vor den Leobener Richtern beschützt hatte, einen vernichtenden
Aufsatz schrieb, als sie ihre Memoiren veröffentlichte. Nicht nur
deshalb, weil sie darin eine bündige Zusicherung brach: die
Unselige hatte zu schreiben begonnen, und vor Gedrucktem hörte
die Solidarität von Kraus mit der verfolgten Schuld jäh auf. Die
ethischen Deklamationen der Skribentin decouvrierten sie als
artverwandt mit ihren Peinigern. Wenige Erfahrungen müssen für
Kraus so bitter gewesen sein wie die, daß die Frauen, die
permanenten Opfer patriarchalischer Barbarei, diese sich einverleibt
haben und sie proklamieren, noch wo sie sich zur Wehr setzen:
»Aber sogar die Protokolle der Mädchen – man sehe, wie lebensecht
Protokolle sind – enthielten in allen erdenklichen Variationen die
Erklärung: ›Ich habe keinen Schandlohn bekommen.‹« 13 Man kann
erraten, wie danach die Frauenrechtlerinnen abschneiden, nämlich
wie bei Frank Wedekind, mit dem Kraus befreundet war: »Und die
Frauenrechtlerinnen? Anstatt für die Naturrechte des Weibes zu
kämpfen, erhitzen sie sich für die Verpflichtung des Weibes zur
Unnatur.« 14 Die wahrhaft emanzipierte Intelligenz von Kraus hebt
einen Konflikt ins Bewußtsein, der seit der beruflichen
Emanzipation der Frauen sich formierte, welche sie nur desto
gründlicher als Geschlechtswesen unterdrückte. Unter den
Saint-Simonisten, zwischen Bazard und Enfantin, wurde mit der
Naivetät stur behaupteter Standpunkte ausgefochten, worüber erst
Kraus sich erhob, indem er es als Antinomie bestimmte. Solche
Zweideutigkeit des Fortschritts ist universal. Sie veranlaßt ihn dazu,
manchmal nicht Milderung sondern Verschärfung von Strafgesetzen
zu fordern. Die Sachverhalte, die das motivierten, begegnen
stereotyp dem wieder, der mit jenem bösen Blick, in dem heute wie
damals Güte sich zusammenzieht, die Gerichtsspalten der Zeitungen
liest: »Vor einem galizischen Schwurgericht wird eine Frau, die ihr
Kind totgeprügelt hat, von der Anklage des Mordes,
beziehungsweise Totschlags freigesprochen und wegen
›Überschreitung des häuslichen Züchtigungsrechtes‹ zur Strafe des
Verweises verurteilt. ›Sie Angeklagte, Sie haben Ihr Kind getötet.
Daß mir so etwas nicht wieder vorkommt!‹ ... Und man erfährt nicht
einmal, ob die Angeklagte für den Beweis ihrer Besserungsfähigkeit
ein zweites Kind vorrätig hat.« 15 Das sind die wahren
anthropologischen Invarianten, kein ewiges Menschenbild. Auch
›Volltrunkenheit‹ ist nach wie vor als mildernder Umstand bei
denen beliebt, die sonst gar zu gern Exempel statuieren; Kraus
mußte das erleben, nachdem er von einem antisemitischen Rüpel der
Unterhaltungsbranche mißhandelt worden war 16 .
Des Antisemitismus zeiht man ihn, den Juden, selbst. Verlogen
trachtet die restaurative deutsche Nachkriegsgesellschaft den
intransigenten Kritiker unter Berufung darauf loszuwerden. Das
drastische Gegenteil steht in ›Sittlichkeit und Kriminalität‹: »Und ist
nicht auch der Kretinismus, der die Parteinahme für eine
Mißhandelte der ›jüdischen Solidarität‹ zuschreibt, seines
Lacherfolges sicher? Ich allein könnte mit Leichtigkeit hundert
›Arier‹ – ohne Anführungszeichen sollte das dumme Wort gar nicht
mehr gebraucht werden – aufzählen, die in und nach den
Prozeßtagen ihrem Entsetzen über jeden Satz, der in Leoben
gesprochen wurde, beinahe ekstatischen Ausdruck gegeben haben.«
17 Vielfach trifft das Buch jüdische Richter, Anwälte und Experten;
aber nicht darum, weil sie Juden sind, sondern weil die von Kraus
Inkriminierten aus assimilatorischem Eifer der Gesinnung jener sich
gleichgeschaltet haben, für die im Deutschen der Sammelbegriff
Pachulke existiert, während der Österreicher Kraus sie Kasmader
taufte. Polemik, die zwischen ihren Objekten auswählte, Christen
angriffe und Juden schonte, eignete damit bereits das antisemitische
Kriterium eines wesenhaften Unterschieds beider Gruppen sich zu.
Was Kraus den Juden nicht verzieh, gegen die er schrieb, war, daß
sie den Geist an die Sphäre des zirkulierenden Kapitals zedierten;
den Verrat, den sie begingen, indem sie, auf denen das Odium lastet
und die insgeheim als Opfer auserkoren sind, nach dem Prinzip
handelten, das als allgemeines das Unrecht gegen sie meint und auf
ihre Vernichtung hinauslief. Wer diesen Aspekt des Abscheus von
Kraus vor der liberalen Presse verschweigt, verfälscht ihn, damit das
Bestehende, dessen Physiognomiker er war wie keiner sonst,
ungestört weiter sein Geschäft verrichte. Denen, die gleichzeitig die
Todesstrafe wieder einführen und die Folterknechte von Auschwitz
freisprechen möchten, wäre es nur allzu willkommen, wenn sie,
Antisemiten im Herzen, Kraus als einen solchen unschädlich
machen könnten. In ›Sittlichkeit und Kriminalität‹ duldet er keinen
Zweifel daran, warum er die Wiener jüdische Presse vor der
nationalistischen und völkischen anprangert: »Das muß gegenüber
dem Toben einer antisemitischen Presse ausgesprochen werden, die
sonst schärferer Kontrolle nicht bedarf, weil sie – neben der
jüdischen – einen geringeren Grad von Gefährlichkeit dem höheren
Grad von Talentlosigkeit dankt.« 18 Nichts anderes wäre gegen ihn
einzuwenden, als daß er über die Grade von Gefährlichkeit sich
täuschte wie vermutlich die meisten Intellektuellen seiner Epoche.
Er konnte nicht voraussehen, daß gerade das Moment des
unterkitschig Apokryphen, das nicht weniger als den Streicherschen
›Stürmer‹ ein Wort wie ›Völkischer Beobachter‹ auszeichnet, am
Ende der Ubiquität einer Wirkung half, deren Provinzialismus Kraus
mit räumlicher Begrenzung gleichsetzte. Der Geist von Kraus, der
einen Bann um sich legt, war auch seinerseits gebannt: auf Geist
verhext. Nur als Bannender vermochte er inmitten des Verstrickten
von dessen Bann zu lösen. Der Preis dafür war seine eigene
Verstricktheit. Alles antezipierte er, ahndete jede Schandtat, die
durch den Geist hindurch geschieht. Nicht jedoch konnte er den
Begriff einer Welt fassen, in der der Geist schlechthin entmächtigt
ist zugunsten jener Macht, an die er zuvor wenigstens sich
verkaufen durfte. Das ist die Wahrheit des Wortes aus den letzten
Lebensjahren von Kraus, ihm falle zu Hitler nichts ein.
 
Die bürgerliche Gesellschaft lehrt den Unterschied des öffentlichen
und beruflichen Lebens vom privaten und verspricht dem
Individuum, als der Keimzelle ihrer Wirtschaftsweise, Schutz. Die
Methode von Kraus fragt, ironisch bescheiden, eigentlich nicht
mehr, als wie weit die Gesellschaft, in der Praxis ihrer
Strafgerichtsbarkeit, dies Prinzip anwende, dem Individuum den
versprochenen Schutz gewähre und nicht vielmehr, im Namen
fadenscheiniger Ideale, auf dem Sprung stehe, auf es sich zu stürzen,
sobald es wirklich von der verheißenen Freiheit Gebrauch macht.
Mit Scheuklappen als Brille insistiert Kraus auf dieser einen Frage.
Darüber wird der gesellschaftliche Zustand insgesamt verdächtig.
Die Verteidigung der privaten Freiheit des Einzelnen gewinnt
paradoxen Vorrang vor der einer politischen, die er wegen ihrer
Unfähigkeit, privat sich zu realisieren, als in weitem Maße
ideologisch verachtet. Weil es ihm um die ganze Freiheit geht, nicht
um die partikulare, nimmt er sich der partikularen der verlassensten
Einzelnen an. Eingeschworenen Progressiven war er kein
zuverlässiger Bundesgenosse. Bei Gelegenheit der Affäre der
Prinzessin Coburg schrieb er: »Was wiegt – selbst dem
Dreyfusgläubigen – das von einem Weltlamento beweinte Unrecht
der ›Affäre‹ neben dem Fall Mattassich? Das Opfer des
Staatsinteresses neben dem Staatsmartyrium privater Rache! Die
scheinheilige Niedertracht, die aus jeder ›Maßnahme‹ gegen das
unbequeme Liebespaar in die Nasen anständiger Menschen drang,
hat dem Begriff ›Funktionär‹ für alle Zeiten eine penetrante
Bedeutung verschafft, die unabänderlicher ist als das Gutachten
einer psychiatrischen Kommission und als das Urteil eines
Militärgerichts.« 19 Am Ende hielt er es eher noch mit Dollfuss, von
dem er glaubte, daß er den Hitler hätte aufhalten können, als mit den
Sozialdemokraten, denen er es nicht zutraute. Schlechthin
unerträglich war ihm die Perspektive einer Ordnung, in der man ein
schönes Mädchen mit kahlgeschorenem Kopf wegen Rassenschande
durch die Straßen hetzt. Der Polemiker bezieht den Standpunkt des
ritterlichen Feudalen, gehorsam der einfachsten und darum
vergessenen Selbstverständlichkeit, daß einer, der in glücklicher
Kindheit gut erzogen ward, die Normen guter Erziehung in der Welt
respektiert, auf die jene vorbereiten soll und mit deren Normen sie
doch zwangsläufig zusammenprallt. Das reifte in Kraus zur
schrankenlosen männlichen Dankbarkeit für das Glück, das die Frau
gewährt, das sinnliche, das den Geist in seiner Verlassenheit und
Bedürftigkeit tröstet. Unausgesprochen wird das davon motiviert,
daß die Freigabe des Glücks Bedingung richtigen Lebens ist; die
intelligible Sphäre geht auf an der sinnlichen Erfüllung, nicht an
Versagung. Solche Dankbarkeit steigert die idiosynkratische
Diskretion von Kraus zum moralischen Prinzip. »Es ist ein Gefühl,
an einer unaussprechlichen Schmach teilzuhaben, wenn man Tag für
Tag Möglichkeiten und Chancen, Art und Intensität eines
Liebesverhältnisses mit der Sachlichkeit einer politischen
Diskussion erörtert sieht.« 20 Für ihn ist die schwerste Schuld, »mit
der ein Mann und Arzt sein Gewissen belasten kann: die Verletzung
der Verschwiegenheitspflicht gegen eine Frau« 21 . Als Gentleman
möchte er im bürgerlichen Zeitalter wiedergutmachen, was die
patriarchale Ordnung, gleichgültig fast welchen politischen
Systems, an den Frauen frevelt. Mag ihm den Widerspruch
zwischen Freiheitsbewußtsein und aristokratischer Sympathie
vorrechnen, wer Teilhabe am Allerweltsgeblök mit autonomem
Urteil verwechselt und es sich nicht beikommen läßt, daß ein
Feudaler immer noch eher die Freiheit der eigenen Lebensführung
als allgemeine Maxime wünschen kann denn ein dem Tauschprinzip
verschriebener Bürger, der keinem anderen den Genuß gönnt, weil
er ihn sich selbst nicht gönnt. Kraus überführt die Männer der
Bestialität, die dort am abscheulichsten ist, wo sie im Namen jener
Ehre agieren, die sie selber für die Frauen ersonnen haben und in der
nur deren Unterdrückung ideologisch sich fortsetzt. Den Geist, der
als naturbeherrschendes Prinzip an der Frau sich verging, will Kraus
zur Integrität restituieren. Möchte er aber das Privatleben einer Frau
vor der Öffentlichkeit beschützen, auch wenn sie es ihrerseits um
der Öffentlichkeit willen führt, so ahnt er das Einverständnis von
kochender Volksseele und Gewaltherrschaft, von plebiszitärem und
totalitärem Prinzip. Der, dem die Richter Henker waren, zittert vor
dem Schrecken, den der ›Unfug »Volksjustiz«‹ noch deren
liberalstem Verteidiger einflößen müsse 22 .
Er hält der Gesellschaft nicht die Moral entgegen; bloß ihre
eigene. Das Medium aber, in dem sie sich überführt, ist die
Dummheit. Zu deren empirischem Nachweis wird bei Kraus Kants
reine praktische Vernunft, jener Sokratischen Lehre gemäß, welche
Tugend und Einsicht als identisch ansieht und kulminiert im
Theorem, das Sittengesetz, der kategorische Imperativ sei nichts
anderes als die ihrer heteronomen Schranken ledige Vernunft an
sich. An Dummheit erweist Kraus, wie wenig die Gesellschaft es
vermochte, in ihren Mitgliedern den Begriff des autonomen und
mündigen Individuums zu verwirklichen, den sie voraussetzt. Die
Kritik des in den Entstehungsjahren des Buches noch konservativen
Kraus am Liberalismus war eine an dessen Borniertheit. Dies
Stichwort fällt in den großartigen Entwürfen zum ›Kapital‹, die
Marx in der endgültigen Fassung, wohl als allzu philosophisch,
zugunsten der strikt ökonomischen Beweisführung ausschied. Das
falsche Bewußtsein des Kapitalismus verschandle die ihm mögliche
Erkenntnis; freie Konkurrenz sei »eben nur die freie Entwicklung
auf einer bornierten Grundlage – der Grundlage der Herrschaft des
Kapitals« 23 . Kraus, der jene Notiz kaum kannte, hat von
Borniertheit dort geredet, wo es wehtut: angesichts des konkreten
bürgerlichen Bewußtseins, das sich wunder wie aufgeklärt dünkt. Er
spießt die unreflektierte, mit dem Zustand einige Intelligenz auf. Sie
widerspricht ihrem eigenen Anspruch auf Urteilsfähigkeit und
Erfahrung von der Welt. Konformistisch fügt sie sich einer
Gesamtverfassung, vor deren Convenus sie innehält und die sie
unverdrossen wiederkäut. Hofmannsthal, dem Kraus zürnte,
vermerkt im ›Buch der Freunde‹, wohl als eigenen Einfall: »Die
gefährlichste Sorte von Dummheit ist ein scharfer Verstand.« 24 Das
ist nicht plump wörtlich zu nehmen; logische Denkkraft und
Subtilität sind unentbehrliche Momente des Geistes, und es
mangelte Kraus wahrhaft nicht daran. Gleichwohl enthält das
Aperçu mehr als bloß irrationalistische Rancune. Dummheit ist
keine von außen zugefügte Beschädigung der Intelligenz zumal
jenes Wienerischen Typus, an dem Hofmannsthal wie sein
Widersacher sich ärgerten. In sie geht die verselbständigte
instrumentelle Vernunft aus eigener Konsequenz über, formales
Denken, das die eigene Allgemeinheit, und damit seine
Verwendbarkeit für beliebige Zwecke, der Absage an die inhaltliche
Bestimmung durch seine Gegenstände verdankt. Der törichte
Scharfsinn verfügt über die Allgemeinheit der logischen Apparatur
als einsatzbereite Spezialität. Der Fortschritt jener Intelligenz hat die
Triumphe der positiven Wissenschaft, vermutlich auch die
rationalen Rechtssysteme erst ermöglicht; die Scharfsinnigen
besorgen nicht nur ihre Selbsterhaltung durch aggressives
Rechtbehalten, sondern leisten überdies, was Marx, mit höchster
Ironie, gesellschaftlich nützliche Arbeit nannte. Aber indem sie die
Qualitäten subsumierend ausschalten, verkümmern ihnen die
Organe von Erfahrung. Je ungestörter von Unterbrechungen ihr
Denkmechanismus sich dem zu Denkenden gegenüber etabliert,
desto mehr entfernt er zugleich sich von der Sache und substituiert
sie naiv durch die abgespaltene fetischisierte Methode. Die an ihr
bis in ihre Reaktionsweisen hinein sich orientieren, tun es ihr
allmählich gleich. Sie kommen zu sich selbst als das gescheite
Rindvieh, dem das Wie, der Modus, etwas herauszufinden und nach
vorgegebenen Klassen der Begriffsbildung zu organisieren,
jegliches Interesse an der sei's auch subjektiv vermittelten Sache
verdrängt. Ihre Urteile und Ordnungen werden schließlich so
irrelevant wie die angehäuften Fakten, die mit Methode gut sich
vertragen. Die Beziehungslosigkeit zur Sache neutralisiert diese.
Nichts geht ihr mehr auf; aus nichts vermöchte der sich selbst
genügende Scharfsinn mehr zu lesen, daß, was ist, anders sein sollte.
Der geistige Defekt wird zum moralischen unmittelbar; die
herrschende Gemeinheit, der Gedanke und Sprache sich
anbequemen, frißt deren Gehalt an, sie wirken bewußtlos mit am
Geflecht des totalen Unrechts. Vom Moralisieren ist Kraus
entbunden. Er kann darauf deuten, wie jegliche Perfidie als
Schwachsinn anständiger, auch intelligenter Leute sich durchsetzt,
Index seiner eigenen Unwahrheit. Darum die Witze; sie
konfrontieren den herrschenden Geist mit seiner Dummheit so
unversehens, daß ihm das Argumentieren vergeht, und er geständig
wird als das, was er ist. Der Witz hält Gericht jenseits möglicher
Diskussion. Verführte je einer, wie Kierkegaard, der Schutzpatron
von Kraus, es wollte, zur Wahrheit, dann Kraus durch die Witze.
Die großartigsten sind verstreut über den Aufsatz ›Die
Kinderfreundes‹, ein Zentralstück des Buchs, geschrieben nach
einem Prozeß, in dem ein Wiener Universitätsprofessor beschuldigt
worden war, »in seinem photographischen Atelier zwei Knaben,
Söhne zweier Advokaten, über geschlechtliche Dinge aufgeklärt, zur
Onanie aufgefordert und ›unzüchtig berührt‹ zu haben« 25 . Der
Essay verteidigt nicht den Angeklagten, sondern klagt die Ankläger,
Nebenkläger und Experten an. Über den Kronzeugen, den einen
jener Knaben, äußert sich Kraus: »Dies Kind – kein Engel ist so
rein, aber auch keiner so ahnungsvoll – spricht von den Gefahren,
die seiner Jugend drohen, etwa so, wie jener Possenfriedrich von
dem siebenjährigen Krieg, in den er zu ziehen beschließt. Um im
perversen Milieu des Prozesses zu bleiben: Diese kleinen Historiker
sind wirklich rückwärts gekehrte Propheten ...« 26
Das stärkste Mittel jedoch, mit dem Kraus die Richter richtet, ist
das strafende Zitat, nicht zu vergleichen landläufigen Belegen für
irgendwelche Vorwürfe. Das Kapitel ›Ein österreichischer
Mordprozeß‹ reiht auf vier Seiten wörtlich, kommentarlos Stellen
aus der Verhandlung gegen eine wegen Totschlags Bezichtigte
aneinander. Sie übertreffen jede Invektive. Sein Sensorium muß so
früh wie 1906 vorausgefühlt haben, daß vorm Massiv der
unmenschlichen Welt das subjektive Zeugnis wider sie versagt;
nicht minder aber auch der Glaube, die Tatsachen sprächen rein
gegen sich in einer Gesamtverfassung, der die Organe lebendiger
Erfahrung abstarben. Kraus ist mit dem Dilemma genial fertig
geworden. Seine Sprachtechnik hat einen Raum geschaffen, in dem
er, ohne etwas hinzuzutun, Blindes, Intentionsloses und Chaotisches
strukturiert wie ein Magnet eisernen Abfall, der in seine Nähe gerät.
Ganz konnte diese Fähigkeit von Kraus, für die es kaum ein anderes
Wort gibt als das peinliche ›dämonisch‹ 27 , nur ermessen, wer noch
die originalen roten Hefte der Fackel las. Doch ist im Buch etwas
davon übriggeblieben. Wenn heute die Scham des Wortes vor einem
Entsetzen, das alles überbietet, was Kraus aus trivialen
Sprachfiguren prophezeite, in literarischer Darstellung zum
Verfahren der Montage sich gedrängt sieht, anstatt Unsagbares
vergebens zu erzählen, so tastet das nach der Konsequenz dessen,
was Kraus bereits gelang. Er ist vom Schlimmeren nicht überholt,
weil er im Mäßigen das Schlimmste erkannte, und indem er es
spiegelte, es enthüllte. Unterdessen hat sich das Mäßige als das
Schlimmste deklariert, der Spießer als Eichmann, der Erzieher,
welcher die Jugend anhärtet, als Boger. Was alle die befremdet,
welche Kraus von sich abwehren möchten, nicht weil er unaktuell,
sondern weil er aktuell ist, hängt mit seiner Unwiderstehlichkeit
zusammen. Gleich Kafka macht er potentiell den Leser zum
Schuldigen: nämlich wenn er nicht jedes Wort von Kraus gelesen
hat. Denn nur die Totalität seiner Worte erzeugt den Raum, in dem
er durch Schweigen redet. Wer jedoch nicht den Mut hat, in den
Höllenkreis sich hineinzustürzen, der verfällt ohne Gnade dem
Bann, den jener um sich verbreitet; Freiheit von Kraus kann nur der
erlangen, der gewaltlos seiner Gewalt sich ausliefert. Was das
ethische Mittelmaß ihm als Mitleidlosigkeit vorwirft, ist die
Mitleidlosigkeit der Gesellschaft, die heute wie damals auf
menschliches Verständnis dort sich herausredet, wo Menschlichkeit
gebietet, daß das Verständnis aufhört.
Das Moment mythischer Unwiderstehlichkeit zeitigt die
Widerstände gegen Kraus so heftig wie vor dreißig Jahren, als er
noch lebte; ungenierter, weil er starb. Wer mit schnöseliger
Superiorität ihn kritisiert, braucht nicht mehr zu fürchten, sich in der
Fackel zu lesen. Die Widerstände haben, wie stets, ihre
Angriffspunkte im oeuvre. Wiederholungen beeinträchtigen
›Sittlichkeit und Kriminalität‹. Mythos und Wiederholung stehen in
Konstellation, der des Zwanges von Immergleichem im
Naturzusammenhang, aus dem nichts herausführt 28 . Soweit Kraus
die Gesellschaft als Fortsetzung der verruchten Naturgeschichte
diagnostiziert, werden ihm die Wiederholungen vom schuldhaften
Gegenstand abverlangt, den unansprechbar stereotypen Situationen.
Kraus hat sich darüber nicht getäuscht; er wiederholt auch das
Motiv, man müsse wiederholen, solange das kritische Wort nicht
abschafft, was doch das Wort allein nicht abzuschaffen vermag: »Es
ist immer wieder, als ob man's zum erstenmal sagte: Die
Zudringlichkeit einer Justiz, die den Verkehr der Geschlechter
reglementieren möchte, hat stets noch die ärgste Unmoral gezeitigt;
kriminelle Belastung des Sexualtriebs ist staatliche
Vorschubleistung zu Verbrechen.« 29 Trotzdem nimmt es wunder,
daß ein Schriftsteller, der in der sprachlichen Kraft der
Einzelformulierung, der Prägnanz der Details, auch dem Reichtum
an syntaktischen Formen von keinem seiner deutschen und
österreichischen Zeitgenossen übertroffen ward, einigermaßen
gleichgültig sich zu dem verhielt, was man, mit musikalischer
Analogie, als die große Form der Prosa bezeichnen könnte. Zu
erklären ist das allenfalls aus der Methode der immanenten Kritik
und dem juridischen Habitus. Sein Ingenium entzündet sich überall
dort, wo die Sprache feste Regeln kennt, die der Schmock verletzt,
dem dann ganze Völkerschaften nachplappern. Noch jene
Erhebungen seiner Prosa, die umschlagend bedeutenden, aber nach
dem Schulverstand mit den Regeln unvereinbaren Werken
beistehen, erreicht Kraus in Fühlung mit den Regeln. Dialektik ist
der Äther, in dem, wie eine Galaxis geheimer Gegenbeispiele, die
autonome Sprachkunst von Kraus gedieh. Große Prosaformen
indessen verfügen über keinen Kanon, der mit den Normen der
Formenlehre, der Grammatik und der Syntax irgend vergleichbar
wäre; die Entscheidung über richtig und falsch im Bau
umfangreicher Prosastücke oder gar Bücher vollzieht sich allein in
den Gesetzen, die jeweils das Werk, aus immanenter Notwendigkeit,
sich selbst auferlegt. Diesem Sachverhalt gegenüber hatte Kraus
seinen blinden Fleck, den gleichen wie in seiner freilich erbittlichen
Aversion gegen den Expressionismus, vielleicht auch in seinem
Verhältnis zu Musik von emphatischem Anspruch. Wiederholt er
gar, wider allen billigen Rat, Witze, so vollstreckt sich an ihm ein
Verhängnis wie jenes, daß wir, Proust zufolge, nicht Taktlosigkeiten
begehen, sondern daß diese darauf warten, begangen zu werden. So
zudringlich sind, auf Kosten der eigenen Wirkung, Witze; Freud,
der diesen wie den Fehlleistungen seine Aufmerksamkeit widmete,
wäre um die Theorie nicht verlegen gewesen. In ihnen kristallisiert
sich jäh die Sprache wider ihre Intention. Stets sind sie in der
Sprache schon angelegt, und der Witzige ihr Exekutor. Er ruft die
Sprache gegen die Intention zum Zeugen auf. Prästabilisiert, ist die
Mannigfaltigkeit der Wortwitze zählbar. Darum verdoppeln sie sich
so gern; verschiedenen Autoren fallen, ohne daß sie voneinander
wüßten, dieselben ein. Die Zimperlichkeit, die an den Kraus'schen
Wiederholungen leidet, mag sich entschädigen an der
unerschöpflichen Fülle des Neuen, das ihm dazwischen einfällt.
Diese Qualität – in der Musik heißt sie Gestaltenreichtum – teilt
sich der großen Prosaform mit als Kunst der Verknüpfung. Am
Ende eines Absatzes aus den ›Kinderfreunden‹ schreibt Kraus in
Anführungszeichen: »›Eine Verurteilung zweier erwachsener
Personen wegen homosexuellen Verkehrs ist zu bedauern; ein
Mensch, der Knaben mißbraucht hat, die noch nicht das gesetzliche
Alter erreicht haben, soll verurteilt werden.‹« Der nächste Absatz
beginnt: »Aber die Väter sollen ihn nicht anzeigen.« 30 Die
komische Kraft, Äquivalent eines Witzes, ist kaum rein auf die
Gedankenführung zu bringen, die in der Anwendung des zuvor
ausgesprochenen allgemeinen Grundsatzes auf den besonderen Fall
die Allgemeinheit des Grundsatzes zum Wackeln bringt und
verhöhnt. Vielmehr ist der Ort der vis comica der Hiatus. Er
erweckt, mit unbewegtem Gesicht, den Schein bedächtigen
Neubeginnens, während durch seine Gewalt das Vorausgegangene
zusammenstürzt. Die pure Form des Hiatus ist die Pointe: eine des
Vortrags. Die Anmut des Sprechers Kraus, zärtlich zu seinen
Monstren, steckte in solchen Augenblicken mit Lachen an. Es waren
die der Geburt der Operette aus dem Geist der Prosa; so müßten
Operetten sein, so Musik in ihnen triumphieren wie seine Witze
dort, wo er auf den Witz verzichtet. Insgesamt wirft das Buch Licht
auf seine Beziehung zur Operette; Stücke wie das über Ankläger
und Opfer im Falle Beer, oder das über den Prozeß gegen die
Bordellwirtin Riehl sind fast schon Textbücher Wienerischer
Offenbachiaden, denen in Wien der Budapester Import die
Möglichkeit, geschrieben und aufgeführt zu werden, gestohlen hatte.
Kraus errettete die abgetriebene Operette. In ihrem Unsinn, den er
liebte, verklärt sich überweltlich der Unsinn der Welt, den der
Unnachsichtige innerweltlich anprangerte. Ein Paradigma dessen,
wie eine Operette auszusehen hätte, um der Gattung
zurückzuerstatten, was der rationalisierte Betrieb des Schwachsinns
ihr entzog, wäre etwa: »Ein Gericht also wird künftig die Frage zu
entscheiden haben, ob ein Mädchen ›das Schandgewerbe‹ ergreifen
darf! Freuen wir uns, daß die öffentliche Vertrottelung in sexuellen
Dingen bis zu dieser Kristallform gediehen ist, in der sie auch der
Trottel erkennt. Und daß der ›Beweis der völligen sittlichen
Verkommenheit‹ erbracht werden muß. Szene in einem
Kommissariat: ›Ja, was wollns denn?‹ ›Ich möchte das
Schandgewerbe anmelden!‹ ›Ja, könnens denn (hochdeutsch) den
Beweis der völligen sittlichen Verkommenheit erbringen?‹
(Verlegen:) ›Nein.‹ ›Nacher schauns, daß S'weiter kommen! – So a
Schlampen!‹ Ein humaner Kommissär, der mit sich reden läßt, wird
der Partei den Rat geben, vorerst ein wenig verbotene Prostitution
zu treiben. Aber die ist doch gerade verboten? Natürlich ist sie
verboten! Aber sie muß bewiesen sein, um das Recht auf ihre
›Ausübung‹ zu gewährleisten. Protektion hilft natürlich auch da, und
der Beweis völliger sittlicher Verkommenheit wird manchmal als
erbracht angesehen werden, wenn einer Petentin sogar
nachgewiesen werden könnte, daß an ihr noch etwas zu verderben
sei. Dagegen wird streng darauf gesehen werden, daß kein Fall von
›clandestiner Prostitution‹ der behördlichen Kenntnis entzogen
bleibe, auch wenn er als Befähigungsnachweis für die Ausübung des
Schandgewerbes gar nicht in Betracht kommen sollte. Die Erteilung
des Büchls aber ist eine Art Prämie auf die Selbstanzeige wegen
geheimer Prostitution.« 31
Die Stimme des lebendigen Kraus hat sich in der Prosa
verewigt: sie verleiht dieser die mimische Qualität. Seine
schriftstellerische Gewalt ist nah an der des Schauspielers. Das und
der juridische Aspekt seines Werkes verbindet sich im forensischen.
Das ungehemmte Pathos der gesprochenen Rede, jener ältere
Burgtheaterstil, den Kraus gegen das sprachfremde, sinnlich
anschauliche Theater der Regisseure der neuromantischen Ära
verteidigte, verschwand von der Bühne nicht bloß, wie er dachte,
weil es an sprachlicher Kultur gebrach, sondern auch, weil die
tönende Stimme des Mimen nicht mehr trägt. Die verurteilte fand
Unterschlupf im Geschriebenen, in eben jener objektivierten und
durchkonstruierten Sprache, die ihrerseits das mimetische Moment
beschämte und, bis zu Kraus, dessen Feind war. Vor der
Deklamation jedoch bewahrte er das Pathos, indem er es
herausbrach aus einem ästhetischen Schein, der zur unpathetischen
Realität kontrastierte, und es der Realität zuwendete, die schon vor
gar nichts mehr sich scheut und darum nur vom Pathos mit Namen
gerufen werden kann, über das sie sich mokiert. Die aufsteigende
Kurve des Buches fällt zusammen mit dem Fortschritt seines Pathos.
Im Archaismus der rollenden Perioden und weitgebauten Hypotaxen
von Kraus hallen die des Schauspielers nach. – Die Sympathie, die
Kraus manchen Dialektdichtern und Komödianten vor der
sogenannten hohen Literatur, und als Einspruch gegen diese, zollte,
wird beseelt vom Einverständnis mit dem undomestizierten
mimetischen Moment. Es ist auch die Wurzel der Kraus'schen
Witze: in ihnen macht Sprache die Gesten von Sprache nach wie die
Grimassen des Komikers das Gesicht des Parodierten. Die
konstruktive Durchbildung der Sprache von Kraus ist, bei all ihrer
Rationalität und Kraft, ihre Rückübersetzung in Gestik, in ein
Medium, das älter ist als das des Urteils. Ihm gegenüber wird
Argumentation leicht zur hilflosen Ausrede. Daraus wächst Kraus
zu, wogegen die blökenden Weltfreunde vergebens aufmucken mit
der Beteuerung, es sei altmodisch. Immanente Kritik ist bei ihm
stets die Rache des Alten an dem, was daraus wurde, stellvertretend
für ein Besseres, das noch nicht ist. Deswegen sind die Passagen, in
denen seine Stimme donnert, so frisch wie am ersten Tag. In dem
Aufsatz ›Ein Unhold‹, über Johann Feigl, Hofrat und
Vizepräsidenten des Wiener Landesgerichts, schließt ein Absatz:
»Wenn Herr Feigl einst sein tatenreiches Leben endet, das etwa
zehntausend Jahre, die andere im Kerker verbrachten, umfaßt hat, so
mag sich ihm in schwerer Stunde, vor der Entscheidung einer
höhern Instanz, die Beichte seiner schwersten Sünde entringen: ›Ich
habe mein ganzes Leben hindurch das österreichische Strafgesetz
angewendet!‹« 32
 
Von umständlichen Beweisführungen für die Aktualität von
›Sittlichkeit und Kriminalität‹ dispensieren die Schlußabsätze eines
Artikels »Alle jagen ›gute Onkels‹«, die 1964 im Lokalblatt einer
großen Tageszeitung standen. In ihnen kehren, gewiß ohne daß der
Reporter im Verdacht stünde, Kraus gelesen und plagiiert zu haben,
wörtlich und bar aller Ironie Motive wieder, welche dieser in den
Operettenpartien des Aufsatzes über die Kinderfreunde polemisch
erfand: »Wie beschlagen die Kinder geworden sind, hat vor kurzem
ein zwölfjähriger Junge bewiesen. Nachdem er mit Freunden das
Jugendkino im Zoo besucht hatte, schlenderte er noch durch den
Tierpark. In einer Ecke des Affenhauses entblößte sich vor ihm
plötzlich ein Mann, der sich dem Kind schon vorher genähert hatte.
Als der Fremde den Zwölfjährigen zu unsittlichen Handlungen
bewegen wollte, antwortete ihm der Bub: ›Sie sind wohl ein
Sittlichkeitsverbrecher!‹ Daraufhin suchte der Unhold eilig das
Weite. Die Eltern des Jungen informierten die Kriminalpolizei; auf
einer Karte des Verbrecheralbums im Polizeipräsidium erkannte das
Kind den Täter wieder, der einschlägig vorbestraft ist. Er wurde
noch am gleichen Tag an seinem Arbeitsplatz festgenommen und
legte ein Geständnis ab. – In diesen Tagen ist ein 35 Jahre alter
Schriftsetzer im Hauptbahnhof in eine Falle gegangen, die ihm ein
erst zwölf Jahre alter Schüler gestellt hatte. Der Homosexuelle hatte
sich im Aktualitätenkino neben den Jungen gesetzt und ihm ein Eis
gegeben. Aus Furcht vor dem Fremden nahm das Kind das
Geschenk an, warf es aber gleich unauffällig unter seinen Sitz.
Später vereinbarte der Schüler auf Drängen des Mannes für den
nächsten Morgen einen Treffpunkt. Dort nahmen ihn Kriminalisten
in Empfang.« Angesichts der Gefahr, zu der sich ihre präsumtiven
Opfer ausgewachsen haben, wird für die, welche die Sprache des
nach-Hitlerschen Deutschland, fortgeschritten über die von Kraus
gegeißelte, zu Sittenstrolchen erklärte, nichts übrigbleiben, als sich
zu organisieren und die Gefahr für ihre Opfer wiederum zu
vermehren, eine Schraube ohne Ende. Über die unfreiwillig
nachgedichteten Zitate von Zitaten der Fackel hinaus sind nicht
wenige Sätze des Buches auf Ereignisse der jüngsten Deutschland
anzuwenden. 1905 hat Kraus den Fall Vera Brühne resümiert: »Und
siehe, der Mangel an Beweisen dafür, daß Frau Klein gemordet hat,
ward reichlich wettgemacht durch den Überfluß an Beweisen für
ihren unsittlichen Lebenswandel.« 33 Unterdessen sind allerdings die
Fachmenschen weitsichtiger geworden. Sind sie schon vom
menschlichen Recht der Paragraphen nicht mehr durchdrungen, so
haben sie es desto besser gelernt, die von den aufs Privatleben
gemünzten Paragraphen Anbetroffenen aus dem öffentlichen
auszuschalten; im Syndrom jener totalen Lust des verwalteten
Deutschland, durch formalrechtliche Reflexionen und
Geschäftsordnungsdenken alles dem Inhalt nach Bessere
fernzuhalten, ohne dabei mit den abstrakten Spielregeln der
Demokratie in Konflikte zu geraten, die ihrerseits juristisch zu
greifen wären. »Ob das neue Strafgesetz solche Siege unmöglich
machen wird?« 34
 Fußnoten
 
1 Karl Kraus, Sittlichkeit und Kriminalität, München, Wien o.J.
[1963] (Elfter Band der Werke), S. 66.
 
2 a.a.O.
 
3 a.a.O., S. 173.
 
4 a.a.O., S. 223f.
 
5 a.a.O., S. 249.
 
6 a.a.O., S. 52, Fußnote.
 
7 a.a.O., S. 33.
 
8 a.a.O., S. 337.
 
9 Vgl. a.a.O., S. 52ff.
 
10 a.a.O., S. 71.
 
11 a.a.O., S. 12.
 
12 a.a.O., S. 157.
 
13 a.a.O., S. 241.
 
14 a.a.O., S. 252.
 
15 a.a.O., S. 328f.
 
16 Vgl. a.a.O., S. 211ff.
 
17 a.a.O., S. 118.
 
18 a.a.O., S. 116f.
 
19 a.a.O., S. 86f.
 
20 a. a, O., S. 140.
 
21 a.a.O., S.173.
 
22 Vgl. a.a.O., S. 41.
 
23 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie
(Rohentwurf), 1857–1858, Berlin 1953, S. 545.
 
24 Hugo von Hofmannsthal, Aufzeichnungen, Frankfurt a.M. 1959,
S. 44.
 
25 Kraus, a.a.O., S. 164, Fußnote.
 
26 a.a.O., S. 178.
 
27 Vgl. dazu Walter Benjamin, Schriften, Frankfurt a.M. 1955, Bd.
2, S. 159ff. Das zweite Kapitel der Kraus-Arbeit ist ›Dämon‹
betitelt.
 
28 Vgl. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der
Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947, S. 23 [GS
3, s. S. 28f.].
 
29 Kraus, a.a.O., S. 180.
 
30 a.a.O., S. 183.
 
31 a.a.O., S. 262f.
 
32 a.a.O., S. 45.
 
33 a.a.O., S. 160.
 
34 a.a.O., S. 315.
 
 Der wunderliche Realist
Über Siegfried Kracauer
In den letzten Jahren wurden in Deutschland eine Reihe von
Schriften Siegfried Kracauers wieder zugänglich. Aber das Bild des
Autors ist der deutschen Öffentlichkeit aus ihnen, den
vielverzweigten, bislang nicht so deutlich geworden, wie es
gebührte. Einen Anfang zu machen und einiges zur Figur Kracauers
zu entwerfen, mag ich qualifiziert sein aus dem einfachsten Grunde:
wir sind seit meiner Jugend miteinander befreundet. Ich war
Sekundaner, als ich ihn gegen Ende des ersten Weltkrieges
kennenlernte. Eine Freundin meiner Eltern, Rosie Stern, hatte uns
zusammen eingeladen, Studienrätin am Philanthropin, zu dessen
Lehrkörper Kracauers Onkel gehörte, der Historiograph der
Frankfurter Juden. Wie es wohl die Absicht unserer Gastgeberin
war, stellte zwischen uns intensiver Kontakt sich her. Aus der
Erinnerung an jene Zeit, im Bewußtsein der Mängel einer solchen
Erkenntnisquelle, möchte ich etwas wie die objektive Idee von
Kracauers geistigem Wesen zu skizzieren suchen, geleitet von seiner
Möglichkeit eher als dem in handfester Leistung Verwirklichten:
Kracauer selbst pointierte sich, vor Dezennien, gegen den Typus,
welchen er den des werkhaften Menschen nannte.
Über Jahre hindurch las er mit mir, regelmäßig Samstag
nachmittags, die Kritik der reinen Vernunft. Nicht im leisesten
übertreibe ich, wenn ich sage, daß ich dieser Lektüre mehr verdanke
als meinen akademischen Lehrern. Pädagogisch ausnehmend
begabt, hat er mir Kant zum Sprechen gebracht. Von Anbeginn
erfuhr ich, unter seiner Anleitung, das Werk nicht als eine bloße
Erkenntnistheorie, als Analyse der Bedingungen wissenschaftlich
gültiger Urteile, sondern als eine Art chiffrierter Schrift, aus der der
geschichtliche Stand des Geistes herauszulesen war, mit der vagen
Erwartung, daß dabei etwas von der Wahrheit selber zu gewinnen
sei. Ließ ich später, im Verhältnis zu den überlieferten
philosophischen Texten, weniger von deren Einheit und
systematischer Einstimmigkeit mir imponieren, als daß ich mich um
das Spiel der unter der Oberfläche jeder geschlossenen
Lehrmeinung aneinander sich abarbeitenden Kräfte bemühte, die
kodifizierten Philosophien jeweils als Kraftfelder betrachtete, so hat
dazu gewiß Kracauer mich angeregt. Er vergegenwärtigte mir die
Vernunftkritik nicht einfach als System des transzendentalen
Idealismus. Vielmehr zeigte er mir, wie objektiv-ontologische und
subjektiv-idealistische Momente darin streiten; wie die beredtesten
Stellen des Werkes die Wunden sind, welche der Konflikt in der
Lehre hinterließ. Unter einem gewissen Aspekt sind die Brüche
einer Philosophie wesentlicher denn die Kontinuität des
Sinnzusammenhangs, welchen die meisten von sich aus betonen.
Dies Interesse, an dem Kracauer um 1920 partizipierte, ging unter
der Parole Ontologie gegen den erkenntniskritischen, systemwütigen
Subjektivismus; zwischen eigentlich Ontologischem und Spuren
von naivem Realismus bei Kant wurde dabei noch nicht recht
unterschieden. Ohne daß ich mir davon hätte volle Rechenschaft
geben können, gewahrte ich durch Kracauer erstmals das
Ausdrucksmoment der Philosophie: sagen, was einem aufgeht. Das
diesem Moment konträre der Stringenz, des objektiven Zwangs im
Gedanken, trat dahinter zurück. Wie ich erst im philosophischen
Betrieb der Universität darauf stieß, so dünkte es mir lange genug
akademisch, bis ich herausfand, daß unter den Spannungen, an
denen Philosophie ihr Leben hat, die zwischen Ausdruck und
Verbindlichkeit vielleicht die zentrale ist. Kracauer bezeichnete sich
gern als alogischen Menschen. Ich weiß noch, wie sehr mich solche
Paradoxie an einem Philosophierenden, mit Begriff, Urteil und
Schluß Operierenden beeindruckte. Was aber bei ihm philosophisch
zum Ausdruck drängte, war fast unbegrenzte Leidensfähigkeit:
Ausdruck und Leiden sind miteinander verschwistert. Sein
Verhältnis zur Wahrheit war, daß Leiden unverstellt, ungemildert in
den Gedanken einging, der es sonst verflüchtigt; auch in den
Gedanken der Überlieferung entdeckte Leiden sich wieder. Das
Wort Leiden drang bis in den Titel einer der ersten von Kracauers
Abhandlungen. Mir schien er, obschon keineswegs sentimental, ein
Mensch ohne Haut; so wie wenn alles Auswendige sein schutzloses
Inneres ereilte; wie wenn er dessen nicht anders sich erwehrt hätte,
als indem er seinem Preisgegebensein zum Wort verhalf. Er hatte es,
aus mehr als einem Grund, in seiner Kindheit schwer gehabt; dem
Schüler der Klinger-Oberrealschule wurde, recht ungewöhnlich in
der Handelsstadt Frankfurt, auch antisemitisches Unrecht zugefügt,
und über seinem eigenen Milieu lagerte, trotz human gelehrter
Tradition, etwas wie Unfreude; sein späterer Widerwille gegen den
Brotberuf des Architekten, den er hatte ergreifen müssen, stammte
wohl daher. Im Rückblick will es mir scheinen, als wäre in
Kracauers häuslicher Atmosphäre, bei aller Freundlichkeit, die man
mir bewies, längst das Unheil antezipiert worden, das seiner Mutter
und deren Schwester, die auf ihn Einfluß auszuüben schien, noch im
höchsten Alter widerfuhr. Genügen mag, daß er, seiner eigenen
Erzählung zufolge, in trostloser Parodie der roten Büchlein, in
welche die Lehrer gern Zensuren eintrugen, eines führte, das Noten
über seine Mitschüler enthielt, danach, wie sie sich zu ihm
benahmen. Vieles bei ihm war reaktiv; Philosophie nicht zuletzt ein
Medium der Selbstbehauptung.
Verbindungslinien laufen von da zum antisystematischen Zug
seines Denkens und zu seiner Aversion gegen Idealismus im
weitesten Verstande, die ihn sein Leben lang nicht losließ.
Idealismus war ihm verklärendes Denken, dem Diktum Georg
Simmels gemäß, es sei erstaunlich, wie wenig man der Philosophie
der Menschheit ihre Leiden anmerke. Dem, der an der Universität
nicht Philosophie als Hauptfach studiert hatte, blieb die Gewalt ihrer
großen Konstruktionen, die so gern in Lobpreisung ausarten, fremd,
Hegel vor allem. Kracauers Arbeit wurde dadurch so weit geprägt,
daß Benjamin ihn einmal, um 1923, einen Feind der Philosophie
nannte. Etwas von liebhaberhaftem Nachdenken auf eigene Faust
hat sein oeuvre begleitet, ebenso wie eine gewisse Lässigkeit die
Selbstkritik dämpfte zugunsten verspielten Vergnügens am
hübschen Einfall. Freilich, Gedanken, welche vor der Gefahr des
Irrtums sich allzu sehr absichern, sind ohnehin verloren, und die
Risiken, die Kracauer lief, entbehren darum nicht der verschlagenen
Vorsicht; einmal hat er einem Traktat als Motto einen Satz
Nietzsches vorangestellt des Inhalts, ein Gedanke, der nicht
gefährlich ist, sei nicht wert, gedacht zu werden; nur wird das Opfer
solcher Gefahren häufiger der Gedanke selbst als dessen Objekt.
Andererseits verlieh Kracauers Autodidaktentum ihm einige
Unabhängigkeit von der eingeschliffenen Methode. Erspart blieb
ihm das Verhängnis professioneller Philosophie, als Branche, als
Spezialwissenschaft jenseits der Spezialwissenschaften sich zu
etablieren; so hat er von der Demarkationslinie zwischen
Philosophie und Soziologie nie sich erschrecken lassen. Das
Medium seines Denkens war Erfahrung. Nicht die der
empiristischen und positivistischen Schulen, welche Erfahrung
selbst auf ihre allgemeinen Prinzipien abdestillieren, Methode
daraus machen. Er folgte geistiger Erfahrung als einem
Individuellen, entschlossen, nur das zu denken, was er zu füllen
vermochte, was ihm selber an Menschen und Dingen sich
konkretisiert hatte. Die Tendenz zur Verinhaltlichung des Denkens
gegenüber dem in seiner Jugend noch unerschütterten neukantischen
Formalismus war dadurch gesetzt. Er knüpfte an Georg Simmel und
Max Scheler an, welche als erste, wider die offizielle Arbeitsteilung,
das philosophische mit einem gesellschaftlichen Interesse
verbanden, das seit Hegels Tod zumindest in der approbierten
Philosophie in Mißkredit geraten war. Beide hat er auch privat gut
gekannt. Simmel, über den er eine Studie verfaßte, riet ihm, ganz
zur Philosophie überzugehen. Nicht nur schulte er an ihm die
Fähigkeit, spezifische, sachhaltige Phänomene auf das zu
interpretieren, was, nach jener Konzeption, an allgemeinen
Strukturen in ihnen erscheint. Er war ihm darüber hinaus in einer
Attitude von Denken und Darstellung verpflichtet, welche mit
verweilender Sorgfalt ein Glied ans andere fügt, selbst dort, wo die
Bewegung des Gedankens vieler solcher Zwischenglieder eintraten,
wo das Tempo sich straffen könnte: Denken mit dem Bleistift in der
Hand. Dies Moment von Bedächtigkeit hat Kracauer später,
während seiner Tätigkeit als Redakteur, vorm Journalismus
geschützt; schwer fiel ihm, das Umständliche dessen loszuwerden,
der stets wieder alles, auch das Bekannte, für sich finden muß, als
wäre es frisch entdeckt. Die Wirkung Simmels auf ihn war wohl
eher die des Denkgestus als Wahlverwandtschaft mit der
irrationalistischen Lebensphilosophie. In Scheler dann begegnete
ihm die Phänomenologie, früher als die Husserlsche. Sein Buch
›Soziologie als Wissenschaft‹ (1922) bemüht sich deutlich, das
materialsoziologische Interesse mit erkenntnistheoretischen
Reflexionen zu verbinden, die auf der phänomenologischen
Methode basieren. Diese kam seiner spezifischen Begabung
entgegen. So wenig der Reifende mit seinem Metier, der
Architektur, zu tun haben mochte, der Primat des Optischen, den
diese verlangt, blieb, vergeistigt, ihm erhalten. Seine Art
Intellektualität hat nichts vom hochtrabenden Intuitionismus, viel
vom nüchternen Sehen. Er denkt mit dem fast hilflos erstaunten, jäh
dann aufleuchtenden Auge. Mit solchem Blick mögen wohl
Unterdrückte ihres Leidens Herr werden. In einem nur schwer zu
treffenden Sinn war sein Denken eigentlich immer mehr
Anschauung als Denken, eigensinnig bestrebt, nichts von dem durch
Erklärung sich abmarkten zu lassen, was die harten Dinge im
Aufprall ihm eingeprägt hatten. Sein Verdacht gegen die
Spekulation nährte sich nicht zuletzt an seinem Naturell, das um so
spröder war gegen die Illusion, weil es diese mit soviel Mühe sich
abgewöhnt hatte. Das Programm der Wesensschau, zumal die
sogenannte Bildchen-Phänomenologie, schien dem schmerzlich
ausdauernden Blick, der sich nicht abweisen läßt, angemessen, wie
wenig auch im übrigen Kracauers skeptischer Zug den Schelerschen
Anspruch billigen mochte, ein schlechthin und objektiv Gültiges
unmittelbar, reflexionslos zu ergreifen. Die Phänomenologie jener
Zeit enthielt noch ganz andere Potentiale als die, welche nach
Scheler dominierend aus ihr hervortraten. Sie war gleichsam einem
neu heraufkommenden Intellektuellentypus und seinen Nöten auf
den Leib geschrieben. Das Stichwort Wesensschau bot sich als
Heilmittel dar für die anwachsende Unfähigkeit des erfahrenden
Bewußtseins, die komplexe und ideologisch immer dichter
übersponnene gesellschaftliche Realität zu verstehen und zu
durchdringen. Deren Physiognomik okkupierte den Platz der in
Mißkredit geratenen Theorie. Keineswegs war sie einzig Surrogat
für diese; sie lehrte das Bewußtsein, das sich zu assimilieren, was
dem, der von oben her denkt, leicht entschlüpft, und doch nicht mit
stumpfen Tatsachen sich abspeisen zu lassen. Phänomenologie
taugte für solche, die weder von Ideologien verblendet werden
mochten, noch von der Fassade dessen, was bloß konstatierbar ist.
Derlei Innervationen sind in Kracauer so fruchtbar geworden wie
nur in wenigen anderen.
Sein zentrales und darum als solches bei ihm kaum je
thematisches Thema ist die Inkommensurabilität, wie sie die
Philosophie als Verhältnis von Idee und Existenz perennierend
beschäftigt. In dem Soziologiebuch meldet es sich darin, daß von
den obersten abstrakten Bestimmungen, zu denen jene Disziplin sich
erhebt, nicht bruchlos, kontinuierlich zur Empirie zurückzukehren
sei, nachdem einmal das bestimmte Seiende ausgeschieden ward. In
all seinen Arbeiten erinnert Kracauer daran, daß Denken,
rückblickend, das nicht vergessen dürfe, wessen es sich, um
Gedanke zu werden, notwendig entledigt habe. Dies Motiv ist
materialistisch; es führte Kracauer, fast gegen seinen Willen, zur
Kritik der Gesellschaft, deren Geist solches Vergessen
angelegentlich besorgt. Zugleich indessen fährt der Widerwille
gegen den rückhaltlosen Gedanken auch der materialistischen
Konsequenz in die Parade. Allemal trägt das rechte Maß seine Strafe
in sich, den Moderantismus. In den politischen Berliner Jahren hat
Kracauer sich einmal über sich als Derrièregarde der Avantgarde
mokiert. Zum Bruch mit dieser kam es so wenig wie zum
Einverständnis. Ich erinnere mich an ein etwas früheres Gespräch
von großer Tragweite zwischen uns, in dem Kracauer, wider mich,
den Begriff der Solidarität nicht hoch stellen wollte. Aber die pure
Individualität, in der er sich zu verstocken schien, durchschaute
virtuell sich in ihrer Selbstreflexion. Der Philosophie ausweichend,
wird das Existentielle sich zur Clownerie, gar nicht soviel anders als
Brechts Exzentrikvers: In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht
bauen. Wie Kracauers Selbstverständnis des Individuellen aussah,
projizierte er auf Chaplin: er sei ein Loch. Was da die Stelle von
Existenz eroberte, war der Privatmann als imago, der Sokratische
Sonderling als Ideenträger, ein Ärgernis nach den Kriterien des
herrschend Allgemeinen. Seinen parti pris fürs Unauflösliche –
Konstante inmitten einer höchst wechselvollen Entwicklung –
definierte Kracauer gelegentlich als Abneigung gegen das
Hundertprozentige. Das ist aber keine andere als die gegen
emphatische Theorie: diese muß, in der Interpretation ihrer
Gegenstände, bis zum Äußersten gehen, wenn sie nicht ihrer
eigenen Idee widerstreiten will. Zäh beharrte Kracauer
demgegenüber auf einem Moment, das dem deutschen Geist, fast
gleichgültig welcher Richtung, stets wieder im Begriff verdampft.
Freilich hat er damit der Aufgabe sich versagt, an die sein
Bewußtsein von der Nichtidentität der Sache mit ihrem Begriff dicht
ihn heranführte: den Gedanken aus dem ihm Widerspenstigen zu
extrapolieren, das Allgemeine aus dem Extrem der Besonderung.
Dialektisches Denken war seinem Naturell nie gemäß. Er beschied
sich bei genauer Fixierung des Besonderen zugunsten seines
Gebrauchs als Exempel für allgemeine Sachverhalte. Das Bedürfnis
nach strikter Vermittlung in der Sache selbst, nach dem Aufweis des
Wesenhaften inmitten der innersten Zelle von Besonderung, war
kaum das seine. Er hielt sich darin konservativ an die
Umfangslogik. Die Idee geistiger Atomzertrümmerung, den
unwiderruflichen Bruch mit der Erscheinung, wiese er wohl als
spekulativ von sich, schlüge eigensinnig sich auf die Seite Sancho
Pansas. Im Zeichen ihrer Undurchdringlichkeit läßt sein Gedanke
die Realität, an die er erinnert und die er durchdringen sollte, stehen.
Von da bietet sich ein Übergang zu ihrer Rechtfertigung als der des
Unabänderlichen an. Dem entspricht, daß die Inthronisation einer
sei's noch so queren individuellen Erfahrung, die bei sich selber zu
Hause ist, gesellschaftlich akzeptabel bleibt. Das principium
individuationis, wie sehr es sich auch in Opposition zur Gesellschaft
fühlt, ist deren eigenes. Der Gedanke, der zögert, über seine
idiosynkratische Reaktionsform hinauszuschießen, bindet damit sich
auch an ein Zufälliges und verklärt es, um nur ja nicht das große
Allgemeine zu verklären. Die spontane Reaktion des Individuums
ist aber kein Letztes und darum auch nicht der Garant verbindlicher
Erkenntnis. Sogar vermeintlich extrem individuelle
Reaktionsweisen sind vermittelt durch die Objektivität, auf die sie
ansprechen, und müßten dieser Vermittlung um ihres eigenen
Wahrheitsgehalts willen innewerden. So motiviert das
Desinteressement an allem bloß Gelernten ist, als das an der
Äußerlichkeit des Wissenschaftsbetriebes, so sehr bedarf umgekehrt
der Gedanke der Entäußerung dem Erfahrungsumkreis gegenüber,
in dem er sich bildet. Kracauers soupçon gegen die Theorie als
gegen den Übermut einer Vernunft, welche der eigenen
Naturwüchsigkeit vergißt, hat Grund genug. Nicht der
geringfügigste ist, wie sehr Theorie in ihrer Reinheit zum
Herrschaftsmittel wurde. Der schlechte Bann, den Gedanken
ausüben – auch ihr Erfolg auf dem Markt –, wird von ihrer
konsequenzlogischen, systematischen Artikulation mitbewirkt. Der
Gedanke jedoch, der als Antwort darauf der theoretischen
Verbindlichkeit sich entzieht, die doch jeder Gedanke an sich
anmeldet, wird nicht nur in der Realität ohnmächtig; das allein wäre
kein Einwand. Aber er büßt auch in sich an Kraft und Evidenz ein.
Der Widerstreit von Erfahrung und Theorie ist nicht nach der einen
oder anderen Seite bündig zu entscheiden, sondern wahrhaft eine
Antinomie, so auszutragen, daß die konträren Elemente
wechselseitig sich durchdringen.
Auf die Phänomenologie ließ Kracauer so wenig, sich
vereidigen wie auf irgendeine andere geistige Position; Simmel am
treuesten in einer Art philosophischer Treulosigkeit, der überwachen
Angst gleichsam vor intellektuellen Verpflichtungen, als wären es
Schulden. Die reaktive Verhaltensweise Kracauers sprang gern ab,
wo er sich gebunden fühlte. Die vielen Kritiken, die er in seinem
Leben schrieb und unter denen es an schneidenden nicht fehlt, sagen
fast alle von Momenten seines Eigenen sich los, oder wenigstens
von Eindrücken, die ihn überwältigten. Mit einer Hegelschen
Wendung wäre deshalb wohl gegen ihn einzuwenden, es mangele
ihm, bei aller Aufgeschlossenheit und gerade um deren
Hartnäckigkeit willen, an Freiheit zum Objekt. In dem Blick, der an
die Sache sich festsaugt, ist bei Kracauer, anstelle der Theorie,
immer schon er selber da. Das Ausdrucksmoment gewinnt
Übergewicht über die Sache, der die Erfahrung gilt. Während dies
Denken vorm Denken scheut, gelangt es selten zur
Selbstvergessenheit. Das Subjekt, das seine primäre Erfahrung als
Eigentum hütet, wird leicht mit dem Spruch anch' io sono pittore
vors Erfahrene sich stellen. Immer wieder warf er gegen andere
Widerhaken aus; auch gegen Scheler, über den er trotz der nahen
persönlichen Beziehung einen Aufsatz in der Frankfurter Zeitung
publizierte, der die Willkür der von Scheler lancierten
Ewigkeitswerte, und damit ihr Ideologisches, brüsk und aufrichtig
beim Namen nannte. Nicht etwa predigt Kracauer das Individuum
als Norm oder Endzweck; dazu reagiert er zu gesellschaftlich. Aber
sein Denken beißt darin sich fest, daß nicht gedacht werden könne,
was zu denken wäre; erkürt dies Negative als Substanz. Das, nicht
eigentlich theologisches Bedürfnis, fesselte ihn an Kierkegaard und
die Existenzphilosophie, der er in Abhandlungen wie der
ungedruckten über den Detektivroman – das erste Kapitel daraus
steht jetzt im ›Ornament der Masse‹ – sich näherte. Längst vor
Heidegger und Jaspers hat er ein existentialistisches Werk
entworfen, so wenig jedoch es vollendet, wie einige Jahre darauf
eines über den Begriff des Menschen bei Marx. Kein Bonmot ist es,
sondern simple Feststellung, es rechne zu Kracauers erheblichsten
Leistungen, daß er jene anspruchsvollen Manuskripte liegen ließ,
obwohl seine Kraft ihnen gewachsen gewesen wäre. Seine insistente
Scheu, der Theorie anderer oder der eigenen botmäßig zu werden,
wendete er produktiv. Der vom Inkommensurablen Besessene fand
sich nicht bereit, gegen sein eigenes Motiv zu freveln, indem er
Inkommensurabilität zur Philosophie ausgewalzt hätte. Scharfsinnig
erkannte er, daß die Marxische Idee des Menschen, mag immer sie
dessen Doktrin gespeist haben, zu einem Statischen herabgewürdigt,
der Tenor seiner Dialektik verfehlt werde, wenn man sie positiv im
Menschenwesen fundiert, anstatt sie kritisch an den von Menschen
verschandelten und durch Menschen zu ändernden Verhältnissen
aufgehen zu lassen. Daß Kracauer seine existentialistischen
Erwägungen so wenig wie die gesellschaftlichen als solche
exponierte, sondern nur indirekt, am liebsten in der Darstellung von
apokryphen Phänomenen, die ihm zu geschichtsphilosophischen
Allegorien wurden wie der Detektivroman, war mehr als literarische
Laune. Seinem material gerichteten Denken mochte unbewußt von
Anbeginn vorschweben, daß die sogenannten großen geistigen
Gehalte, Ideen und ontologischen Strukturen nicht für sich, jenseits
der Stoffschichten und unabhängig von ihnen sind, sondern
unablöslich mit diesen verwachsen; das hat ihn dann zur Rezeption
Walter Benjamins befähigt. Gegen Martin Buber, in dem ihm der
Existentialismus leibhaftig entgegentrat, richtete er eine ebenfalls im
›Ornament‹ neu aufgelegte, höchst lesenswerte Polemik, in der er
das restaurative Wesen der Bibelübersetzung identifizierte, eines
Prototyps für den Jargon der Eigentlichkeit von heutzutage. Die
Polemik wird getragen von der Einsicht, daß Theologie nicht sich
wiederherstellen läßt aus dem bloßen Willen, weil es gut wäre, eine
zu haben; das kettete Theologie selber an das Innermenschliche,
jenseits dessen sie sich behauptet.
Nach dem Tenor solcher Kritik war die energische Wendung
Kracauers zur Soziologie kein Bruch mit seiner philosophischen
Absicht sondern deren Konsequenz. Je blinder er an die Stoffe sich
verlor, welche seine Erfahrung ihm zutrug, desto fruchtbarer das
Ergebnis. So hat er den Film als soziale Tatsache recht eigentlich
entdeckt. Nicht fragte er unmittelbar den Wirkungen nach; sein flair
mochte ihn davor warnen, diese Wirkungen dingfest zu machen. Sie
sind kaum auf einzelne Kinobesuche, vielleicht nicht einmal auf
eine Vielfalt zu reduzieren, sondern nur auf die Totalität der Reize,
welche im Film, jedenfalls vor dem Fernsehen, am prononciertesten
waren. Kracauer hat den Film selber als Ideologie dechiffriert. Die
unausgesprochene Hypothese wäre nach den Regeln der
mittlerweile technisch hochentwickelten empirischen
Sozialforschung anstößig, behielt aber bis heute ihre volle
Plausibilität: daß nämlich, wenn ein von Massen begehrtes und
konsumiertes Medium eine in sich einstimmige, fest
zusammengebackene Ideologie übermittelt, diese Ideologie
vermutlich ebenso den Bedürfnissen der Kunden sich anpaßt, wie
sie diese umgekehrt zunehmend modelt. Die Entblätterung der
Filmideologie war ihm soviel wie die Phänomenologie einer neu
sich bildenden Stufe des objektiven Geistes. Die Suite ›Die kleinen
Ladenmädchen gehen ins Kino‹, die in der Frankfurter Zeitung
großes Aufsehen erregte, hat diese Verfahrungsweise erstmals
demonstriert. Dabei war das Interesse Kracauers an der
Massenpsychologie des Films niemals bloß kritisch. Er hat in sich
selbst etwas von der naiven Sehlust des Kinobesuchers; noch in den
kleinen Ladenmädchen, die ihn belustigen, trifft er ein Stück seiner
eigenen Reaktionsform. Nicht zuletzt darum wurde sein Verhältnis
zu den Massenmedien nie so schroff, wie es seine Reflexion auf
deren Wirkung hätte erwarten lassen. Seine Hinneigung zum
Unteren, von der hohen Kultur Ausgeschlossenen, in der er sich mit
Ernst Bloch verstand, ließ ihn dort noch über Jahrmarkt und
Drehorgel sich freuen, wo längst industrielle Großplanung jene
verschluckt hatte. Im Caligaribuch werden Filmhandlungen seriös,
ohne Wimperzucken referiert; jüngst in der Filmtheorie von Greueln
wie der sichtbaren Genese eines Musikstücks im Komponisten, dem
Helden, erzählt, als waltete dabei so etwas wie die technische
Vernunft des Mediums. Der kommerzielle Film, dem Kracauer
zuleibe rückte, profitiert unversehens von seiner Toleranz; vorm
Intoleranten – dem experimentellen Film – zeigt jene zuweilen
Grenzen.
Meldet der strikte soziologische Empirismus gegen die
asystematische Erfahrung, die Kracauers Soziologie aufbietet, an,
der Zusammenhang zwischen jenem angeblich objektiven Geist und
dem tatsächlichen Bewußtsein der Massen, das in ihm sich
niederschlagen solle, sei nicht bewiesen, so ist dem Einwand etwas
zu konzedieren. So verhökert die sogenannte Boulevardpresse in
den meisten Ländern der Erde neben ihren Sensationen
rechtsextreme politische Konterbande, ohne daß das in den
angelsächsischen Ländern die Millionen von Lesern gar zu sehr
beeinflußt hätte. Indessen sind solche Einwände durchweg fast
verschworen mit dem Film als Ware, und insgesamt dem, was sich
durch die Kennmarke Massenmedien salviert. Diese werden
dadurch entlastet, daß man nicht streng beweisen könne, was für
Unheil sie anrichten. Die Analyse des Gebotenen selbst ergibt
zumindest, daß sie anderes als Unheil schwer anrichten könnten.
Ratsamer wäre der Versuch, eben die Analyse der Reize, die
Kracauer inaugurierte und für die heute der Name content analysis
sich eingebürgert hat, über die ursprüngliche These von der
ideologischen Wunscherfüllung hinaus zu verfeinern, als einem
Studium von Wirkungen nachzuhängen, das nur allzu leicht den
konkreten Inhalt des Einwirkenden, das Verhältnis zur dargebotenen
Ideologie versäumt. Kracauer steht zum soziologischen Empirismus
ambivalent. Einerseits sympathisiert er mit ihm, im Sinne seines
Reservats gegen soziale Theorie; andererseits hat er, nach dem Maß
seiner Vorstellung von Erfahrung, gegen die festnagelnde,
quantifizierende Methode nachdrückliche Vorbehalte. Als er schon
lange Jahre in Amerika gelebt hatte, exponierte er sich durch eine
scharfsinnige theoretische Verteidigung der qualitativen Analyse.
Sie gewinnt ihren rechten Stellenwert erst, wenn man weiß, wie sehr
sie den fast universalen Usus der institutionellen Soziologie drüben
herausfordert. Kracauers erfahrendes Verhalten blieb das des
Fremden, in den Geist transponiert. Er denkt, als hätte er das
Kindheitstrauma problematischer Zugehörigkeit umgewandelt in
eine Sehweise, der alles sich darstellt wie auf der Reise, auch das
grau Gewohnte als buntes Objekt des Staunens. Solche
Unabhängigkeit von der konventionellen Schale wurde durch den
Brechtschen Terminus Verfremdung mittlerweile selber
konventionalisiert; bei Kracauer war sie originär. Er kostümiert sich
geistig gleichwie mit Sportanzug und Kappe. Im Untertitel des
Angestelltenbuchs, ›Aus dem neuesten Deutschland‹, klingt das an.
Gemeint ist Humanität nicht durch Identifikation, sondern durch
deren Abwesenheit; sich Draußenhalten als Medium der Erkenntnis.
Kracauer emanzipierte sich als Soziologe ganz in jenem
Angestelltenbuch. Die Methode teilt manches mit dem, was man in
den Vereinigten Staaten als Verfahren des participant observer
bezeichnet, etwa dem der Lynds in Middletown; ihr Werk war 1930
Kracauer gewiß unbekannt. In den ›Angestellten‹ benutzte er
weithin Interviews, jedoch keine standardisierten
Befragungsschemata; flexibel schmiegte er sich der
Gesprächssituation an. Wird die angebliche Strenge und Objektivität
von Erhebungen vielfach bezahlt mit einem Mangel an Konkretion
und wesentlicher Einsicht, so hat Kracauer sein Leben lang
versucht, auf jene planvoll-unsystematische Weise die Forderung
nach Empirie auszugleichen mit der, daß etwas Sinnvolles
resultiere. Darin liegen die besonderen Meriten des Buches, das neu
zugänglich gemacht zu haben dem mit dem Allensbacher Institut
verbundenen Verlag für Demoskopie zu danken ist. Gewitzigter als
die gleichzeitigen Veröffentlichungen der akademischen
Wissenschaft hat er diagnostiziert, was er Angestelltenkultur taufte.
Er beschrieb sie etwa am Berliner Haus Vaterland, dem Urbild des
synthetisch hergestellten Bewußtseins jenes neuen Mittelstands, der
keiner war. Der Stil hat unterdessen über die Gesamtgesellschaft der
hochindustriellen Länder sich ausgedehnt. Wörter wie nivellierte
Mittelstands- und Konsumgesellschaft neutralisieren sein Unwahres.
In seinen wesentlichen Ingredienzien gleicht er nach wie vor dem,
was Kracauer an den Angestellten von 1930 beobachtete.
Ökonomisch proletarisiert, der Ideologie nach krampfhaft
bürgerlich, stellten sie ein erhebliches Kontingent zur Massenbasis
des Faschismus bei. Das Angestelltenbuch gibt wie unter
Laboratoriumsbedingungen eine vorausschauende Ontologie jenes
erst in der jüngsten Phase dem Gesamtsystem fugenlos integrierten
Bewußtseins. Beeinträchtigt wird es allenfalls durch den Ton von
Ironie, in dem es sich gefällt. Nach dem Grauen, das jenes
Bewußtsein ausbrüten half, klingt er harmlos zugleich und ein
wenig hochmütig, als Preis für Kracauers Feindseligkeit gegen eine
Theorie, der, würde sie unbeirrt verfolgt, das Lachen im Hals
erstickte. Selbstverständlich wußte er, daß der Geist, auf den er mit
Fingern deutete, in dessen Trägern erweckt, angestachelt und
planvoll reproduziert, nicht ihr spontan eigener war und ist. Aber
indem er, warum auch immer, das ausspart, lieber auf die
unmittelbare Fühlung mit den von der Massenkultur Manipulierten
als auf das Gesamtsystem sich bezieht, scheint er es doch
gelegentlich ihnen zur Last zu legen. Selbst diese Verschiebung hat
ihr Legitimes: die Empörung darüber, daß Ungezählte, die es besser
wissen müßten, zutiefst auch es besser wissen, gleichwohl dem
falschen Bewußtsein mit Passion sich überantworteten. Wie weit
Kracauer im Angestelltenbuch sich vorwagte, zeigt am besten seine
Kritik an der Rationalität der technologischen Rationalisierung,
welche die Angestellten zur Arbeitslosigkeit verurteilte: »Er – der
Kapitalismus – rationalisiert nicht zu viel, sondern zu wenig. Das
von ihm getragene Denken widerstrebt der Vollendung zur
Vernunft, die aus dem Grunde des Menschen redet.« 1 Kracauers
Rede von dem mittlerweile anrüchigen »Grunde des Menschen«
wird entschuldigt dadurch, daß er damit eben die Vernunft meint,
welche solche Rede sonst diffamiert. Sein dégôut aber heftet sich an
die Signatur des Gesamtzeitalters: daß die Menschen nicht einfach
von der Ideologie betrogen werden, sondern daß sie vollends dem
lateinischen Spruch gehorchen, betrogen werden wollen, und zwar
desto verbissener, je leidvoller es wäre, dem Zustand ins Auge zu
sehen. Kracauer hat im übrigen seine Ideologiekritik keineswegs auf
die Massensphäre beschränkt. Er übte sie auch dort, wo gehobenere
Ansprüche des Kulturbürgertums fortwesten, aber unvermerkt zu
einem Schund verkamen, der sich fürs Gegenteil hält. Die sinistren
Implikationen der Biographienmode förderte er als erster zutage.
Für Kracauers bedeutendste Leistung halte ich ein Gebilde, das,
paradox genug, selbst im Niemandsland zwischen Roman und
Biographie angesiedelt ist, den zuerst 1928 erschienenen ›Ginster‹.
Der Titel, nach einer Pflanze, die, wie er einmal gleich Ringelnatz
sagte, an Bahndämmen blüht, ersetzte den Autorennamen; »von ihm
selbst geschrieben« sollte es sein, anonym, nicht pseudonym. Das
ästhetische Subjekt wird nicht schroff von der empirischen Person
abgehoben. Noch die erzählende Gestalt gerät, der Form und der
Bestimmung nach, ins Feld der Kracauerschen Ironie. Der Ginster
ist kein blindes, autarkisches Kunstwerk, sondern das Atheoretische
daran theoretisch. Dargestellt wird jenes Unauflösliche, das
Kracauer, wenn man so sagen will, lehrt; auf eine in Deutschland
höchst seltene Weise, für die es hierzulande kaum ein Vorbild gibt
als Lichtenberg, erneute Manifestation einer ehrwürdig
aufklärerischen Gattung, des roman philosophique. Kracauer hat den
Ginster einen intellektuellen Schwejk genannt. Produktiv wurde das
Buch, dem die Jahre wenig anhaben konnten, indem es nicht den
Knoten der Individualität als Substantielles affirmativ hinstellt.
Vermöge der ästhetischen Reflexion wird das tragende Ich selbst
relativiert. Raffinierte Läppischkeit, die sich stellt, als verstünde sie
nicht, während sie tatsächlich nicht versteht, ist das Reversbild
absoluter Individuation. Schlau bändigt Ginster die Realität, in der
er haust, nicht weniger als vor ihm die stolz in die Brust sich
werfenden Persönlichkeiten schrumpfen. Naivetät, die sich selbst als
Lebenstechnik durchschaut und beschreibt, ist es nicht länger. Sie
transzendiert zu jener Theorie, der sie eine Nase dreht. Die
Möglichkeit des menschlich Unmittelbaren wird demonstriert und
negiert in eins. Gründlich bewährt der Ginster, daß Freiheit,
Positivität überhaupt heute nicht als solche sich setzen ließe; sonst
würde das idiosynkratische Moment in Kracauer unweigerlich zur
Manie. Weise hat er in der Neuausgabe auf das letzte Kapitel des
Originals verzichtet, das mit solcher Positivität kokettierte.
Ebenbürtig der Konzeption ist die Sprache. Mit ihrer unzähmbaren
Lust, Metaphern wörtlich zu nehmen, eulenspiegelhaft zu
verselbständigen, aus ihnen eine Arabeskenrealität zweiten Grades
zu stricheln, treibt sie Luftwurzeln weit in die Moderne hinein.
Bitterschade, daß Kracauer unterm Zwang, englisch zu schreiben,
wohl auch aus Empörung über das Geschehene, in seinen reifsten
Jahren der eigenen Sprachkunst gegenüber, die unablösbar ist vom
Deutschen, Askese übte.
Die sozialkritische Phase Kracauers, zu der der Ginster schon
zählt, datiert hinter seine Berliner Tätigkeit für die Frankfurter
Zeitung zurück. Doch empfing er, in den letzten Jahren vor dem
Faschismus, von der scharfen Luft jenes Berlin Impulse. Gleichwohl
behielt seine Gesellschaftskritik, auch nachdem er mit Marx sich
beschäftigt hatte, das Einzelgängerische. Noch angesichts des
äußersten Konflikts war er nicht aus der Position des vertrackten
Individualisten herauszumanövrieren, so genau ihm auch die
Einwände dagegen vor Augen standen. Er entschädigte sich an dem,
was durch die Maschen der großen Theorie fiel. Humanität suchte er
im Besonderen, genau dem, was den Totalitären unerträglich war.
Mit Brecht geriet er aneinander, erfand gegen ihn den Witz von der
Augsburger Konfusion und erklärte, als Brecht auf den Jasager den
Neinsager folgen ließ, er, Kracauer, gedächte, den Vielleichtsager
zu schreiben; kein übles Programm dessen, der einmal die Haltung
des Wartenden als die seine entwickelte; zugleich auch Formel
kritischer Selbstreflexion.
 
Schon vor den Berliner Jahren allerdings begann an Kracauer ein
schwer Präzisierbares, aber Essentielles sich zu ändern; so als ob er
mit einem Entschluß, wie Hans Sachs vorm Gang auf die Festwiese
befiehlt, die Läden gut zu schließen, seine Leidensfähigkeit sich
verboten, gelobt hätte, glücklich zu sein. Bereits Ginster entfährt,
nach der Szene mit einem Offizier, die freilich noch ironische
Maxime, man müsse feuerfest werden. Der keine Haut hatte, ließ
sich einen Panzer wachsen. Und von dem Tag an, da er nicht mehr
der Welt schutzlos ausgeliefert sein wollte, sondern sich in sich
zurücklehnte, hat er mit der Welt besser kommuniziert. Der Gestus
des So- und nicht anders Seins harmoniert recht wohl mit
erfolgreicherer Anpassung, denn die Welt ist ihrerseits so und nicht
anders, nach dem Prinzip unerhellt expansiver Selbsterhaltung. Ihm
fehlte bei Kracauer nie die Clownerie. Einer ihrer Aspekte war stets
planvolle Vogel Strauß-Politik. So hat er noch, als wir uns während
der Emigration zum erstenmal, in Paris, wiedersahen, in dem
bescheidenen Hotel mich empfangen wie Stauffacher auf dem
Seinigen. Er empfand, auf seine hintersinnige Weise, das Frankreich
vorm Zweiten Krieg, das schon in den Fugen knackte, ebenso als
ihm gemäß wie, nach gelungener Flucht, Amerika, wo er tatsächlich
überraschend reussierte. Er hat auch diesen Aspekt seines Schicksals
und Charakters noch reflektiert in einem unveröffentlichten Roman,
dessen Held in seinen Bedürfnissen und Neigungen quer
übereinstimmt mit den wechselnden Lagen, in die er gerät, bis er
schließlich doch wegen linker politischer Ansichten seine Stellung
verliert. Kracauers Strategie der Anpassung hatte immer etwas von
List, vom Willen, mit dem Feindseligen und Übermächtigen fertig
zu werden, indem er es im eigenen Bewußtsein womöglich überbot
und dadurch, inmitten zwangsläufiger Identifikation, sich
distanzierte. In der Filmtheorie hat er, bei Gelegenheit der David
und Goliath-Thematik, ein Programm für sich selbst
eingeschmuggelt: »Obwohl sich alle diese Figuren den bestehenden
Gewalten zu unterwerfen scheinen, gelingt es ihnen doch, sie zu
überdauern.« 2
Um seiner Produktion nach 1933 – gleich der mancher anderer
Vertriebener – Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ist, ohne daß die
Dankbarkeit fürs Asyl verletzt würde, von der Lage der emigrierten
Intellektuellen ungeschminkter zu reden als sonst in Deutschland
üblich. Devisenbestimmungen und Sondersteuern zwangen die
Intellektuellen, buchstäblich als Bettler auszuwandern. Die
Kalkulation der Nationalsozialisten, deshalb würden die ihnen
Verhaßten auch dort, wo sie Zuflucht fänden, nicht zu gern gesehen,
war nicht durchaus abwegig. Daß manche Staaten nur solche
aufnahmen, die über nützliche praktische Fertigkeiten verfügten,
wirft Licht selbst auf Länder, die auf derlei Stacheldrahtzäune
verzichteten. Überall fühlte der Intellektuelle, soweit er nicht
innerhalb des etablierten Wissenschaftsbetriebs sich durch
sogenannte positive Leistungen qualifiziert hatte oder wenigstens
aus der Universitätshierarchie kam, sich als überflüssig.
Wahrscheinlich war der Zwang, sich einzugliedern, ärger als bei
früheren Emigrationen. In den wichtigsten Zufluchtsländern war das
soziale Netz allzu dicht gesponnen, die thought control allzu rigoros.
Drohende Arbeitslosigkeit machte potentielle Konkurrenten
unerwünscht. Emigranten, die keine Freunde hatten, welche
solidarisch zu ihnen standen, mußten kapitulieren, um zu leben. Im
wirtschaftlichen Bereich geht, nach der bürgerlichen Spielregel von
Angebot und Nachfrage, alles mit rechten Dingen zu. Daß sie auf
den Geist übergreift; daß er schließlich vom
Funktionszusammenhang absorbiert wird, liegt in der
unverrückbaren Konsequenz des Systems, widerspricht aber
zugleich unversöhnlich dem Prinzip des Geistes selbst, der in der
Reproduktion des Lebens nicht aufgehen soll und, indem er das
Bestehende bewußt macht, ein mögliches Anderes im Negativ
umreißt. Geist, der, nach einer Logik, die nur im glücklichen
Ausnahmefall suspendiert wird, willfahrt, streicht eben dadurch sich
selbst aus; drastischer noch als sonstwo wird für ihn der Primat der
Produktionsverhältnisse zur Fessel der Produktivkraft.
Unvergeßlich, wie in den ersten Emigrationsmonaten ein seitdem
verstorbener, sehr berühmter deutscher Soziologe, als ich in einer
Diskussion Englisch radebrechte, scherzend mich ermunterte: ich
dürfe in angelsächsischen Ländern nie versuchen, mehr
auszudrücken als das, was ich gestammelt hatte. Während ich mich
an den Rat nicht hielt, hat er mich immerhin davor bewahrt, über die
anderen mich erhaben zu fühlen. Zur Entrüstung ist um so weniger
Anlaß, als, was so leicht solche als Charakterlosigkeit beanstanden,
denen die Probe erspart blieb, seinerseits ein Moment bürgerlichen
Anstands enthält, den Willen, nicht von Almosen zu leben, sondern
die Existenz aus Eigenem zu erwerben. Zum Zynismus jedoch, zu
einer doppelschlächtigen Produktion, in der man geistige Integrität
bewahrt und mit der linken Hand verkäufliche Bücher schreibt,
bedürfte es einer Kraft, die offenbar so wenig irgendeinem vergönnt
ward, wie etwa ein Musiker bis heute nebeneinander
avantgardistisch komponieren und mit Schlagern Geld verdienen
konnte. Brechts Bitte um Nachsicht wäre auf diesen Komplex
auszudehnen.
Die amerikanische Regierung war der vieler europäischer
Länder der Hitlerzeit insofern überlegen, als sie allen Emigranten
die Möglichkeit zu arbeiten gewährte, keinen auf den dauernden
Status des Unterstützungsempfängers herabdrückte. Dafür war die
Last des Konformismus, welche auch die Einheimischen beugt,
besonders hart. Ihre begeisterten Fürsprecher waren bereits
erfolgreiche intellektuelle Einwanderer. Anpassung wurde nochmals
zu der Norm, die sie ohnehin in der frühen Entwicklung der meisten
gewesen war, verinnerlicht von all denen, die schwerlich anders
ihren äußeren und inneren Schwierigkeiten gewachsen gewesen
wären, als indem sie dem von Anna Freud Identifikation mit dem
Angreifer genannten psychologischen Mechanismus gehorchten.
Für das Unselige hat einmal ein Angepaßter triumphierend den Satz
gebraucht, es gäbe keinen geistigen Transfer. Ein Korrektiv wäre
gewesen, nach dem Sturz des Hitler gerade diejenigen Emigranten,
deren Qualität in dem nicht umstandslos Tauschbaren und
Verwertbaren bestand, zurückzuholen. Das taten zwar einzelne
Universitäten, wie die Frankfurter, und jüngst, so dezidiert wie
keiner zuvor, Adolf Arndt als Berliner Kultursenator. Nicht aber
geschah es generell. Daß diese Art Wiedergutmachung, die an dem
beschädigten geistigen Leben selber, versäumt ward, ist
unverantwortlich nicht nur den Opfern sondern erst recht dem
gegenüber, was sonst mit Vorliebe als deutsches Interesse sich
vorträgt. Was ein Mann wie Kracauer an maßgeblicher Stelle, etwa
als Kulturpolitiker einer großen Zeitung, Gutes hätte tun können,
läßt sich nicht überschätzen. Erinnert sei bloß an seine Definition
der Sprache Heideggers durchs Sprichwort: die Eifersucht ist eine
Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft. Kracauers
hartnäckige Weigerung, sich blauen Dunst vormachen zu lassen,
wäre eine heilsame Droge gegen das synthetische Klima der
auferstandenen Kultur geworden. Er widerstand Brecht und
Heidegger gleichermaßen, immun gegen jene
Beherrschungstechniken, die man in Deutschland so prompt der
Größe gleichsetzt, und die den Begriff der Größe selbst fatal
gemacht haben. An dem Scheinhaften, schlecht Affirmativen des
gegenwärtigen objektiven Geistes trägt keine geringe Schuld das
Vakuum, welches die Abwesenheit der emigrierten intelligentsia
schuf. Verstärkt wird die Schuld durch jene, welche am liebsten die
Vertriebenen verantwortlich machen möchten für den Niedergang
der Weimarer Republik, weil sie ihn erkannten. Das Verhängnis der
faschistischen Diktatur reicht hinaus über das Schicksal der
Ermordeten, obwohl es die Besinnung über andere Folgen
verschlägt. Mit Variation eines kabbalistischen Wortes wäre wohl
zu fragen, ob nicht das Land, das seine Juden vertrieb, ebensoviel
verlor wie diese.
Keiner sollte Kracauers ›Offenbach‹, der in Deutschland neu
unter dem Titel ›Pariser Leben‹ herauskam, oder ›Von Caligari zu
Hitler‹ lesen, ohne das zu erwägen, und kein Gran des Gönnerhaften
dürfte beigemischt sein. Der ›Offenbach‹ zählt, mit Kracauerschem
Augenblinzeln, zu jener Romanbiographik, deren rücksichtsloses
Röntgenbild er präsentiert hatte; zugleich möchte er über die
Pseudo-Individualisierung von derlei Produkten sich erheben durch
die Idee einer »Gesellschaftsbiographie«. Die soziale Problematik
des Zweiten Kaiserreichs sollte durchscheinen, auf welche die große
Operette reagierte. Seine Grenzen hat das Buch auch an der
Abstinenz der Musik gegenüber, deren sein Autor sich befleißigen
mußte. – Der ›Caligari‹, reich an technischen Einzelanalysen,
entwickelt, einleuchtend genug, die Geschichte des deutschen Films
nach dem Ersten Krieg als die zur fortschreitenden Ideologie
totalitärer Gewalt. Allerdings war jene Tendenz keineswegs auf den
deutschen Film beschränkt; sie dürfte kulminiert haben im
amerikanischen ›King Kong‹, wahrhaft einer Allegorie des
unmäßigen und regressiven Monstrums, zu welchem das öffentliche
Wesen sich auswuchs; zu schweigen von der Ehrenrettung Iwans
des Schrecklichen und anderer Scheusäler im Stalinistischen
Rußland. Doch läßt gerade aus dem an der Oberfläche Anfechtbaren
der Kracauerschen These ein Wahres sich lernen: daß die Dynamik,
die im Entsetzen des Dritten Reichs explodierte, hinabreichte bis in
die Förderschächte der Gesellschaft insgesamt, und darum in der
Ideologie auch solcher Länder sich spiegelte, denen die politische
Katastrophe erspart ward. Gern wird ein gesellschaftlich
Allgemeines als allein dort zuständig verkannt, wo man es erfuhr;
schon Hölderlins Invektive gegen die Deutschen war in Wahrheit
eine gegen die Deformation der Menschen durch die bürgerliche
Gestalt der Arbeitsteilung überall. – Allmählich kehrte Kracauer zu
dem zurück, was ihn ursprünglich bewegte, dem Film etwa, dessen
Konstituentien er theoretisch zu destillieren sich anschickte, und
schließlich, in einem groß intendierten Projekt, zur
Geschichtsphilosophie.
 
Riskiert man etwas wie eine Deutung von Kracauers Figur, die
dagegen widerborstig ist, so muß man für jenen Realismus
besonderer Farbe das Wort suchen, der mit dem vertrauten Bild
eines Realisten so wenig zu tun hat wie mit verklärendem Pathos
oder der unentwegten Überzeugung von der Vormacht des Begriffs.
Den Geist aus Geist vor seiner Selbstvergötzung zu behüten, war
wohl Kracauers primäre Nötigung, gezeitigt vom Leiden dessen,
dem man früh einbrannte, wie wenig der Geist vermag gegenüber
der Brutalität des bloß Seienden. Aber die Rechnung seines
Realismus geht nicht auf. Wie dieser reaktiv war, so kann er nicht
bei der Desillusion sich beruhigen. Auch wo Kracauer defaitistisch
gegen die Utopie eiferte, attackiert er eigentlich, gleichwie aus
Angst, etwas, was ihn selbst beseelte. Der utopische Zug, der sich
fürchtet vorm eigenen Namen und Begriff, verkriecht sich in die
Gestalt des nicht recht Hineinpassenden. So leuchten die Augen
eines schlecht behandelten und unterdrückten Kindes in Momenten,
da es, plötzlich verstehend, sich verstanden fühlt und daraus
Hoffnung schöpft. Das Bild Kracauers ist das des Menschen, der am
Furchtbarsten gerade vorbeikam, und wie die Hoffnung der
Menschheit sich verkapselt hat in die Chance, daß sie die
Katastrophe vermeidet, so fällt der Widerschein solcher Hoffnung
auf das Individuum, das diesen Vorgang gleichsam vorwegnimmt.
»Denn nichts als nur Verzweiflung kann uns retten«, lautet ein Satz
Grabbes. Deckbild der Hoffnung wird für Kracauer die bis zur
Unansprechbarkeit sich in sich verschließende Individualität, die auf
Hoffnung undurchlässig ist. Sie bekundet die Sehnsucht, einmal
ohne Angst so unabgeschliffen sein zu dürfen, wie die Angst den
Abweichenden prägte. Aus seiner Kindheit erzählte er einmal, er sei
von Indianergeschichten derart besessen gewesen, daß sie die
Grenze zur Realität überspülten. Eines Nachts erwachte er aus dem
Traum schockhaft mit den Worten: »Ein fremder Stamm hat mich
geraubt.« Darin ist sein Rebus aufgezeichnet, das Grauen, das in den
Deportationen buchstäblich ward, samt der Sehnsucht nach der
ungestraften und unschuldigeren Barbarei der beneideten Rothäute.
Freuds Lehre, daß die Entscheidungen der individuellen Genese in
der Kindheit fallen, gilt erst recht für den intelligiblen Charakter.
Die Kinderimago lebt noch in dem vergeblichen und
kompensatorischen Willen, auch ein rechter Erwachsener zu
werden. Denn das Erwachsene gerade ist das Infantile. Desto
begründeter die Trauer, die aus der Mimik klagt, je angestrengter
Lächeln versichert, alles sei in bester Ordnung. Kind bleiben ist
diesem Naturell soviel wie: einen Stand des Wesens festhalten, in
dem einem weniger passierte; die sei's noch so oft enttäuschte
Erwartung, solches unausrottbare Vertrauen werde belohnt. Wie
ungewiß es darum bestellt ist, drückt Kracauers geistiges Dasein
selbst noch aus. Die Fixierung an die Kindheit, als eine ans Spiel,
hat bei ihm die Gestalt von einer an die Gutartigkeit der Dinge;
vermutlich ist der Vorrang des Optischen bei ihm gar nicht das
erste, sondern die Folge dieses Verhältnisses zur Dingwelt. Im
Motivschatz seiner Gedanken dürfte man Aufbegehren wider die
Verdinglichung vergebens suchen. Einem Bewußtsein, das
argwöhnt, es sei von den Menschen verlassen, sind die Dinge das
Bessere. An ihnen macht der Gedanke wieder gut, was die
Menschen dem Lebendigen angetan haben. Der Stand der Unschuld
wäre der der bedürftigen Dinge, der schäbigen, verachteten, ihrem
Zweck entfremdeten; sie allein verkörpern dem Bewußtsein
Kracauers, was anders wäre als der universale
Funktionszusammenhang, und ihnen ihr unkenntliches Leben zu
entlocken, wäre seine Idee von Philosophie. Das lateinische Wort
für Ding heißt res. Davon ist Realismus abgeleitet. Kracauer hat
seiner Filmtheorie den Untertitel ›The Redemption of Physical
Reality‹ verliehen. Wahrhaft zu übersetzen wäre das: Die Rettung
der physischen Realität. So wunderlich ist sein Realismus.
 Fußnoten
 
1 Siegfried Kracauer, Das Ornament der Masse, Frankfurt a.M.
1963, S. 57
 
2 Siegfried Kracauer, Theorie des Films, Frankfurt a.M. 1964, S.
366.
 
 Engagement
Seit Sartres Essay ›Qu'est-ce que la littérature?‹ wird theoretisch
weniger über engagierte und autonome Literatur gestritten. Aber die
Kontroverse bleibt so dringlich, wie heute nur etwas sein kann, das
den Geist betrifft und nicht das Überleben der Menschen
unmittelbar. Sartre wurde zu seinem Manifest bewogen, weil er,
gewiß nicht als erster, die Kunstwerke in einem Pantheon
unverbindlicher Bildung nebeneinander aufgebahrt, zu Kulturgütern
verwest sah. Durch ihre Koexistenz freveln sie aneinander. Will ein
jegliches, ohne daß der Autor es wollen müßte, das Äußerste, so
duldet eigentlich keines das nächste neben sich. Solche heilsame
Intoleranz gilt aber nicht nur für die einzelnen Gebilde sondern auch
für Typen wie jene bei den Verhaltensweisen der Kunst, auf welche
die halbvergessene Kontroverse sich bezog. Es sind zwei
»Stellungen zur Objektivität«; sie befehden sich, auch wenn das
Geistesleben sie in falschem Frieden ausstellt. Das engagierte
Kunstwerk entzaubert jenes, das nichts will denn da sein, als
Fetisch, als müßige Spielerei solcher, welche die drohende Sintflut
gern verschliefen; gar als höchst politisches Apolitisches. Es lenke
ab vom Kampf der realen Interessen. Keinen mehr schone der
Konflikt der beiden großen Blöcke. Von ihm hänge die Möglichkeit
von Geist selber so sehr ab, daß nur Verblendung auf ein Recht
poche, das morgen zerschlagen werden kann. Den autonomen
Werken aber sind solche Erwägungen, und die Konzeption von
Kunst, die sie trägt, selber schon die Katastrophe, vor der die
engagierten den Geist warnen. Verzichte er auf Pflicht und Freiheit
seiner reinen Objektivation, so habe er abgedankt. Was dann noch
an Werken sich formiert, mache geschäftig jenem bloßen Dasein
sich gleich, gegen das es eifert, so ephemer, wie umgekehrt den
Engagierten das autonome Werk dünkt, das schon am ersten Tag in
die Seminare gehöre, in denen es unvermeidlich ende. Die drohende
Spitze der Antithese mahnt daran, wie fragwürdig es um Kunst
heute bestellt ist. Jede der beiden Alternativen negiert mit der
anderen auch sich selbst: engagierte Kunst, weil sie, als Kunst
notwendig von der Realität abgesetzt, die Differenz von dieser
durchstreicht; die des l'art pour l'art, weil sie durch ihre
Verabsolutierung auch jene unauslöschliche Beziehung auf die
Realität leugnet, die in der Verselbständigung von Kunst gegen das
Reale als ihr polemisches Apriori enthalten ist. Zwischen den beiden
Polen zergeht die Spannung, an der Kunst bis zum jüngsten Zeitalter
ihr Leben hatte.
Zweifel an der Allmacht der Alternative indessen weckt die
zeitgenössische Literatur selbst. Noch ist diese nicht so gänzlich
vom Weltlauf unterjocht, als daß sie zur Frontenbildung sich
schickte. Die Sartreschen Böcke, die Valéryschen Schafe lassen
nicht sich scheiden. Engagement als solches, sei's auch politisch
gemeint, bleibt politisch vieldeutig, solange es nicht auf eine
Propaganda sich reduziert, deren willfährige Gestalt alles
Engagement des Subjekts verhöhnt. Das Gegenteil aber, das im
sowjetischen Lasterkatalog Formalismus lautet, wird nicht nur von
den dortigen Amtswaltern und auch nicht nur vom libertären
Existentialismus befochten: Mangel an Ärgernis, an
gesellschaftlicher Aggressivität wird selbst von Avancierten den
sogenannten abstrakten Texten leicht vorgeworfen. Umgekehrt hat
Sartre für das Guernica-Bild das höchste Lob; in Musik und Malerei
könnte er unschwer formalistischer Sympathien bezichtigt werden.
Seinen Begriff des Engagements reserviert er der Literatur, ihres
begrifflichen Wesens wegen: »Der Schriftsteller ... hat es mit
Bedeutungen zu tun.« 1 Sicherlich, aber nicht nur. Entledigt kein
Wort, das in eine Dichtung eingeht, sich ganz der Bedeutungen, die
es in der kommunikativen Rede besitzt, so bleibt doch in keiner,
selbst im traditionellen Roman nicht, diese Bedeutung unverwandelt
die gleiche, welche das Wort draußen hatte. Bereits das simple
»war« in einem Bericht von etwas, das nicht war, gewinnt eine neue
Gestaltqualität dadurch, daß es nicht war. Das setzt sich fort in den
höheren Bedeutungsschichten einer Dichtung, bis hin zu dem, was
einmal als ihre Idee galt. Die Sonderstellung, die Sartre der Literatur
einräumt, muß auch der anzweifeln, welcher die Gattungen der
Kunst nicht umstandslos unter deren allgemeinen Oberbegriff
subsumiert. Die Rudimente der Bedeutungen von draußen in den
Dichtungen sind das unabdingbar Nichtkünstlerische an der Kunst.
Nicht aus ihnen ist ihr Formgesetz herauszulesen sondern aus der
Dialektik beider Momente. Es waltet in dem, worein die
Bedeutungen sich verwandeln. Die Unterscheidung von Dichter und
Literat ist schal, aber der Gegenstand einer Philosophie der Kunst,
wie auch Sartre sie visiert, ist nicht deren publizistischer Aspekt.
Weniger noch das, wofür man im Deutschen den Terminus Aussage
herbetet. Unleidlich vibriert er zwischen dem, was ein Künstler von
seinem Produkt will, und dem Gebot eines objektiv sich
aussagenden, metaphysischen Sinns. Im allgemeinen ist das
hierzulande das ungemein praktikable Sein. Die soziale Funktion
der Rede vom Engagement hat sich einigermaßen verwirrt. Wer
kulturkonservativen Geistes vom Kunstwerk verlangt, daß es etwas
sage, alliiert sich wider das zweckferne, hermetische Kunstwerk mit
der politischen Gegenposition. Lobredner von Bindungen werden
eher Sartres ›Huis clos‹ tief finden, als mit Geduld einen Text sich
anhören, in dem die Sprache an der Bedeutung rüttelt und durch ihre
Sinnferne vorweg gegen die positive Unterstellung von Sinn
rebelliert, während für den Atheisten Sartre der begriffliche Sinn
von Dichtung die Voraussetzung von Engagement bleibt. Werke,
gegen die im Osten der Büttel einschreitet, werden zuweilen von
den Hütern der echten Aussage demagogisch angeprangert, weil sie
angeblich aussagen, was sie gar nicht aussagen. Der Haß gegen den
von den Nationalsozialisten schon während der Weimarer Republik
so genannten Kulturbolschewismus hat die Zeit des Hitler überlebt,
in der er institutionalisiert wurde. Er entflammt heute noch wie vor
vierzig Jahren an Gebilden des gleichen Wesens, darunter auch
solchen, die mittlerweile ihrer Entstehung nach weit zurückliegen
und deren Zusammenhang mit traditionalen Momenten
unverkennbar ist. In rechtsradikalen Zeitungen und Zeitschriften
wird wie eh und je Entrüstung angedreht über das, was unnatürlich,
überintellektuell, ungesund, dekadent sei; sie wissen, für wen sie
schreiben. Das deckt sich mit den Einsichten der Sozialpsychologie
in den autoritätsgebundenen Charakter. Zu dessen Existentialien
rechnet Konventionalismus, Respekt für die versteinerte Fassade
von Meinung und Gesellschaft, Abwehr von Regungen, die daran
irremachen oder im Unbewußten des Autoritätsgebundenen etwas
ihm Eigenes treffen, das er um keinen Preis sich zugesteht. Mit
dieser allem Fremden und Befremdenden feindlichen Haltung ist
literarischer Realismus jeglicher Provenienz, nennte er sich auch
kritisch oder sozialistisch, viel vereinbarer als Gebilde, die, ohne auf
politische Parolen sich vereidigen zu lassen, durch ihren bloßen
Ansatz das starre Koordinatensystem der Autoritätsgebundenen
außer Aktion setzen, an das jene um so verbissener sich klammern,
je weniger sie zu lebendiger Erfahrung eines nicht schon
Approbierten fähig sind. Das Begehren, Brecht vom Spielplan
abzusetzen, rechnet einer verhältnismäßig äußerlichen Schicht des
politischen Bewußtseins zu; war wohl auch gar nicht sehr heftig,
sonst hätte es nach dem 13. August weit krasser sich manifestiert.
Wo dagegen der Gesellschaftsvertrag mit der Realität gekündigt
wird, indem literarische Gebilde nicht länger reden, als meldeten sie
von einem Wirklichen, sträuben sich die Haare. Es ist keine von den
geringsten Schwächen der Debatte übers Engagement, daß sie nicht
auch über die Wirkung reflektiert, welche von solchen Werken
ausgeübt wird, deren eigenes Formgesetz auf
Wirkungszusammenhänge keine Rücksicht nimmt. Solange man
nicht versteht, was im Schock des Unverständlichen sich mitteilt,
ähnelt der ganze Streit einem Schattenkampf. Konfusionen in der
Beurteilung der Sache ändern zwar nichts an dieser, nötigen aber
dazu, die Alternative zu durchdenken.
Theoretisch wären Engagement und Tendenz zu unterscheiden.
Engagierte Kunst im prägnanten Sinn will nicht Maßnahmen,
gesetzgeberische Akte, praktische Veranstaltungen herbeiführen wie
ältere Tendenzstücke gegen die Syphilis, das Duell, den
Abtreibungsparagraphen oder die Zwangserziehungsheime, sondern
auf eine Haltung hinarbeiten: Sartre etwa auf die der Entscheidung
als der Möglichkeit, überhaupt zu existieren, gegenüber
zuschauerhafter Neutralität. Was aber das Engagement künstlerisch
vorm tendenziösen Spruchband voraus hat, macht den Inhalt
mehrdeutig, für den der Dichter sich engagiert. Die ursprünglich
Kierkegaardsche Kategorie der Entscheidung übernimmt bei Sartre
die Erbschaft des christlichen Wer nicht für mich ist, der ist wider
mich, aber ohne den konkreten theologischen Inhalt. Übrig davon ist
nur die abstrakte Autorität anbefohlener Wahl, gleichgültig dagegen,
daß deren eigene Möglichkeit abhängt von dem zu Wählenden. Die
vorgezeichnete Form der Alternative, in der Sartre die
Unverlierbarkeit von Freiheit beweisen will, hebt diese auf.
Innerhalb des real Prädeterminierten mißrät sie zur leeren
Behauptung: Herbert Marcuse hat den Nonsens des Philosophems
beim Namen genannt, daß man noch die Marter innerlich annehmen
oder ablehnen könne. Eben das aber soll aus Sartres dramatischen
Situationen herausspringen. Sie taugen darum so schlecht als
Modelle seines eigenen Existentialismus, weil sie in sich, der
Wahrheit zu Ehren, die ganze verwaltete Welt enthalten, die jener
ignoriert; lernen läßt sich an ihnen die Unfreiheit. Sein Ideentheater
sabotiert, wofür er die Kategorien erdachte. Das aber ist keine
individuelle Unzulänglichkeit seiner Stücke. Kunst heißt nicht:
Alternativen pointieren, sondern, durch nichts anderes als ihre
Gestalt, dem Weltlauf widerstehen, der den Menschen immerzu die
Pistole auf die Brust setzt. Sobald jedoch die engagierten
Kunstwerke Entscheidungen veranstalten und zu ihrem Maß
erheben, geraten diese auswechselbar. Sartre hat, als Konsequenz
jener Vieldeutigkeit, mit großer Offenheit ausgesprochen, daß er
keine reale Veränderung der Welt durch die Literatur erwarte; seine
Skepsis bezeugt geschichtliche Veränderungen der Gesellschaft wie
der praktischen Funktion von Literatur seit Voltaire. Das
Engagement rutscht in die Gesinnung des Schriftstellers, dem
extremen Subjektivismus von Sartres Philosophie gemäß, in der
trotz aller materialistischen Untertöne die deutsche Spekulation
nachhallt. Ihm wird das Kunstwerk zum Aufruf von Subjekten, weil
es nichts ist als Kundgabe des Subjekts, seiner Entscheidung oder
Nichtentscheidung. Er will nicht Wort haben, daß jedes Kunstwerk
durch seinen puren Ansatz den Schreibenden, sei er noch so frei,
auch mit objektiven Anforderungen konfrontiert, wie es zu fügen
sei. Ihnen gegenüber sinkt seine Intention zum bloßen Moment
herab. Sartres Frage »Warum schreiben?«, und ihre Zurückführung
auf eine »tiefere Wahl«, ist darum untriftig, weil fürs Geschriebene,
das literarische Produkt, die Motivationen des Autors irrelevant
sind. Dem ist Sartre nicht so fern, soweit er erwägt, daß der Rang
der Werke, wie schon Hegel wußte, steigt, je weniger sie in der
empirischen Person verhaftet bleiben, die sie hervorbringt. Nennt er,
in der Sprache Durkheims, das literarische Werk ein fait social, so
zitiert er damit ungewollt den Gedanken an dessen von der bloßen
subjektiven Intention des Verfassers undurchdringliche, zuinnerst
kollektive Objektivität. Darum möchte er das Engagement nicht an
jene Intention des Schriftstellers binden sondern an sein Menschsein
2 . Diese Bestimmung aber ist so generell, daß das Engagement
jegliche Differenz von irgendwelchen menschlichen Werken und
Verhaltensweisen einbüßt. Es handelt sich darum, daß der
Schriftsteller sich in der Gegenwart, dans le présent, engagiere; dem
aber kann er ohnehin nicht entrinnen, und darum ist kein Programm
herauszulesen. Die Verpflichtung, die der Schriftsteller eingeht, ist
weit präziser: keine des Entschlusses sondern eine der Sache.
Während Sartre von Dialektik redet, registriert sein Subjektivismus
so wenig das bestimmte Andere, zu dem das Subjekt sich entäußerte
und durch das es überhaupt erst zum Subjekt wird, daß ihm jegliche
literarische Objektivation als Erstarrung verdächtig ist. Weil aber
die reine Unmittelbarkeit und Spontaneität, die er zu erretten hofft,
an keinem ihr Entgegengesetzten sich bestimmt, verkommt sie zu
einer zweiten Verdinglichung. Um Drama und Roman über die
bloße Kundgabe – ihr Urbild wäre bei ihm der Schrei des
Gefolterten – hinauszubringen, muß er Sukkurs suchen bei einer
planen, der Dialektik von Gebilde und Ausdruck entzogenen
Objektivität, der Mitteilung seiner eigenen Philosophie. Sie wirft
sich zum Gehalt der Dichtung auf wie nur bei Schiller; nach dem
Maß des Gedichteten aber ist das Mitgeteilte, und wäre es noch so
sublim, kaum mehr als ein Stoff. Sartres Stücke sind Vehikel
dessen, was der Autor sagen will, zurückgeblieben hinter der
Evolution der ästhetischen Formen. Sie operieren mit traditioneller
Intrige und überhöhen diese mit ungebrochenem Gottvertrauen in
Bedeutungen, die von der Kunst auf die Realität zu übertragen
wären. Die bebilderten oder womöglich ausgesprochenen Thesen
jedoch mißbrauchen die Regung, deren Ausdruck Sartres eigene
Dramatik motiviert, als Beispiel, und desavouieren damit sich selbst.
Fällt am Schluß eines seiner berühmtesten Stücke der Satz: »die
Hölle, das sind die anderen« 3 , so klingt das wie ein Zitat aus ›L'être
et le néant‹; übrigens könnte es ebensogut: »Die Hölle, das sind wir
selbst« heißen. Die Komplexion von handfestem plot und ebenso
handfester, destillierbarer Idee trug Sartre den großen Erfolg zu und
machte ihn, ganz gewiß gegen seinen integren Willen, der
Kulturindustrie akzeptabel. Die hohe Abstraktionsebene des
Thesenstücks verleitete ihn dazu, einige seiner besten Arbeiten, den
Film ›Les jeux sont fait‹ oder das Drama ›Les mains sales‹, in der
politischen Prominenz spielen zu lassen und nicht nur unter den
Opfern im Dunkeln: ganz ähnlich jedoch verwechselt die gängige,
Sartre verhaßte Ideologie Taten und Leiden der
Führer-Schnittmuster mit dem objektiven Zug der Geschichte.
Mitgewoben wird an dem Schleier der Personalisierung, daß
verfügende Menschen entscheiden, nicht die anonyme Maschinerie,
und daß auf den sozialen Kommandohöhen noch Leben sei;
Becketts Krepierende erteilen darauf den Bescheid. Sartres Ansatz
verhindert ihn daran, die Hölle zu erkennen, gegen die er revoltiert.
Manche seiner Parolen könnten von seinen Todfeinden
nachgeplappert werden. Daß es um Entscheidung an sich gehe,
würde sogar das nationalsozialistische »Nur das Opfer macht uns
frei« decken; im faschistischen Italien hat Gentiles absoluter
Dynamismus auch philosophisch Verwandtes verkündet. Die
Schwäche in der Konzeption des Engagements befällt, wofür Sartre
sich engagiert.
Auch Brecht, der in manchen Stücken, wie der Dramatisierung
von Gorkis ›Mutter‹ oder der ›Maßnahme‹, unmittelbar die Partei
verherrlicht, wollte zuzeiten, mindestens den theoretischen Schriften
nach, vorab zu einer Haltung erziehen, der distanzierten, denkenden,
experimentierenden, dem Widerpart der illusionären von Einfühlung
und Identifikation. Im Hang zur Abstraktheit übertrumpft seine
Dramatik seit der ›Johanna‹ Sartre beträchtlich. Nur hat er sie,
konsequenter als dieser und der größere Künstler, selber zum
Formgesetz erhoben, zu dem einer didaktischen Poesie, die den
traditionellen Begriff der dramatischen Person ausschaltet. Er sah
ein, daß die Oberfläche gesellschaftlichen Lebens, die
Konsumsphäre, zu der auch die psychologisch motivierten Aktionen
der Individuen hinzurechnen, das Wesen der Gesellschaft verhüllt.
Als Tauschgesetz ist es selber abstrakt. Brecht mißtraut der
ästhetischen Individuation als einer Ideologie. Darum will er das
gesellschaftliche Unwesen zur theatralischen Erscheinung verhalten,
indem er es kahl nach außen zerrt. Die Menschen auf der Bühne
schrumpfen sichtbar zusammen zu jenen Agenten sozialer Prozesse
und Funktionen, die sie mittelbar, ohne es zu ahnen, in der Empirie
sind. Brecht postuliert nicht länger, wie Sartre, Identität zwischen
den lebendigen Individuen und dem gesellschaftlichen Wesen, oder
gar die absolute Souveränität des Subjekts. Aber der ästhetische
Reduktionsprozeß, den er der politischen Wahrheit zuliebe anstellt,
fährt dieser in die Parade. Sie bedarf ungezählter Vermittlungen, die
er verschmäht. Was artistisch als verfremdender Infantilismus sich
legitimiert – die ersten Stücke Brechts hielten Kompanie mit Dada
–, wird zur Infantilität, sobald es theoretischgesellschaftliche
Gültigkeit beansprucht. Brecht wollte im Bild das Ansichsein des
Kapitalismus treffen; seine Absicht war insofern tatsächlich, als was
er gegen den Stalinistischen Terror sie tarnte, realistisch. Abgelehnt
hätte er, jenes Wesen, gleichsam bilderlos und blind, bedeutungsfern
durch seine Manifestation im beschädigten Leben zu zitieren. Das
bürdete ihm aber die Verpflichtung zur theoretischen Richtigkeit des
eindeutig Intendierten auf, wofern seine Kunst das quid pro quo
verschmäht, sie, die sich als Lehre vorträgt, sei gleichzeitig um ihrer
ästhetischen Gestalt willen von der Verbindlichkeit dessen
dispensiert, was sie lehrt. Kritik an ihm kann nicht verschweigen,
daß er – aus objektiven Gründen jenseits der Zulänglichkeit des von
ihm Gestalteten – die Norm nicht erfüllte, die er, als wäre sie ein
Rettendes, über sich aufgerichtet hatte. ›Die heilige Johanna der
Schlachthöfe‹ war die zentrale Konzeption seines dialektischen
Theaters; noch ›Der gute Mensch von Sezuan‹ variierte sie durch
die Umkehrung, daß, wie Johanna durch die Unmittelbarkeit der
Güte dem Bösen hilft, so, wer das Gute will, sich böse machen muß.
Das Stück spielt in einem Chicago, das die Mitte hält zwischen dem
Wild-West-Märchen des Kapitalismus aus Mahagonny und
ökonomischer Information. Je näher Brecht indessen mit dieser sich
einläßt, je weniger er auf eine imagerie es abgesehen hat, desto
weiter verfehlt er das kapitalistische Wesen, dem die Parabel gilt.
Vorgänge in der Sphäre der Zirkulation, in der Konkurrenten sich
gegenseitig die Hälse abschneiden, treten anstelle der Appropriation
des Mehrwerts in der Produktionssphäre, der gegenüber die
Raufereien der Großviehhändler um ihren Anteil an der Beute
Epiphänomene sind, die unmöglich von sich aus die große Krise
verursachen könnten; und die ökonomischen Vorgänge, welche als
Machinationen raffgieriger Händler erscheinen, sind nicht nur, wie
Brecht es wohl möchte, kindisch, sondern auch nach jeglicher sei's
noch so primitiven wirtschaftlichen Logik unverständlich. Dem
entspricht auf der Gegenseite eine politische Naivetät, welche den
von Brecht Bekämpften nur zu dem Grinsen verhülfe, von so
törichten Feinden hätten sie nichts zu fürchten; sie könnten mit
Brecht ebenso zufrieden sein, wie sie es in seinem Stück mit der
sterbenden Johanna in der höchst eindrucksvollen Schlußszene sind.
Daß eine Streikleitung, hinter der die Partei steht, eine nicht zur
Organisation Gehörige mit einer entscheidenden Aufgabe betraut,
ist, auch bei größter Weitherzigkeit in der Interpretation des
poetisch Glaubwürdigen, ebenso undenkbar wie, daß durch das
Versagen jener Einzelnen der gesamte Streik scheitert. – Die
Komödie vom aufhaltsamen Aufstieg des großen Diktators Arturo
Ui rückt das subjektiv Nichtige und Scheinhafte des faschistischen
Führers grell und richtig ins Licht. Die Demontage der Führer
jedoch, wie durchweg bei Brecht die des Individuums, wird
verlängert in die Konstruktion der gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen Zusammenhänge hinein, in denen der Diktator
agiert. Anstelle der Konspiration hochmögender Verfügender tritt
eine läppische Gangsterorganisation, der Karfioltrust. Das wahre
Grauen des Faschismus wird eskamotiert; er ist nicht länger
ausgebrütet von der Konzentration gesellschaftlicher Macht,
sondern zufällig wie Unglücksfälle und Verbrechen. So verordnet es
der agitatorische Zweck; der Gegner muß verkleinert werden, und
das fördert die falsche Politik, wie in der Literatur so auch in der
Praxis vor 1933. Die Lächerlichkeit, der Ui überantwortet wird,
bricht wider alle Dialektik dem Faschismus die Zähne aus, den
Dezennien vorher Jack London exakt vorausgesagt hatte. Der
antiideologische Dichter bereitet die Degradation der eigenen Lehre
zur Ideologie vor. Die stillschweigend akzeptierte Beteuerung, daß
auf ihrer einen Seite die Welt nicht länger antagonistisch sei, wird
ergänzt vom Spaß über alles, was die Theodizee des gegenwärtigen
Zustands Lügen straft. Nicht daß, aus Respekt vor welthistorischer
Größe, das Lachen über den Anstreicher verboten wäre, obwohl das
Wort Anstreicher gegen Hitler aufs bürgerliche Klassenbewußtsein
peinlich spekuliert. Und das Gremium, welches die
Machtübernahme inszenierte, war gewiß eine Bande. Aber solche
Wahlverwandtschaft ist nicht exterritorial, sondern wurzelt in der
Sozietät selbst. Daher ist der Spaß des Faschismus, den auch
Chaplins Film registrierte, unmittelbar zugleich das äußerste
Entsetzen. Wird das unterschlagen, wird über die armseligen
Ausbeuter von Gemüsehändlern gespottet, wo es um wirtschaftliche
Schlüsselpositionen geht, so verpufft der Angriff. Auch der ›Große
Diktator‹ verliert die satirische Kraft und frevelt in der Szene, wo
ein jüdisches Mädchen SA-Männern der Reihe nach eine Pfanne auf
den Kopf haut, ohne daß es in Stücke zerrissen würde. Dem
politischen Engagement zuliebe wird die politische Realität zu leicht
gewogen: das mindert auch die politische Wirkung. Sartres
freimütiger Zweifel, ob das Guernica-Bild »einen einzigen für die
spanische Sache gewonnen« habe, gilt sicherlich auch für das
Brechtische Lehrstück. Das herausoperierte fabula docet – daß es in
der Welt ungerecht zugeht – brauchte man kaum irgend jemand zu
lehren; die dialektische Theorie, zu der Brecht summarisch sich
bekannte, hat darin wenig Spuren hinterlassen. Der Habitus des
Lehrstücks mahnt an die amerikanische Redewendung preaching to
the saved, denen predigen, deren Seelen ohnehin gerettet sind. In
Wahrheit wird der von Brecht gemeinte Primat der Lehre über die
reine Form zu deren eigenem Moment. Indem sie suspendiert wird,
wendet sie sich wider ihren Scheincharakter. Ihre Selbstkritik ist
verwandt der Sachlichkeit im Bereich der angewandten visuellen
Kunst. Die heteronom bedingte Berichtigung der Form, die Tilgung
des Ornamentalen der Zweckmäßigkeit zuliebe, wächst ihrer
Autonomie zu. Das ist die Substanz von Brechts Dichterschaft: das
Lehrstück als artistisches Prinzip. Sein Medium, die Verfremdung
unmittelbar erscheinender Vorgänge, ist denn auch eher eines der
Formkonstitution, als daß es zur praktischen Wirkung beitrüge.
Zwar sprach Brecht von dieser nicht so skeptisch wie Sartre. Aber
der Kluge und Welterfahrene war schwerlich von ihr ganz
überzeugt; souverän schrieb er einmal, wenn er sich nichts
vormache, sei ihm schließlich doch das Theater wichtiger als jene
Veränderung der Welt, der es bei ihm dienen soll. Durchs artistische
Prinzip der Simplifikation aber wird nicht bloß, wie es ihm
vorschwebte, die reale Politik von den Scheindifferenzierungen im
subjektiven Reflex des gesellschaftlich Objektiven gereinigt,
sondern eben jenes Objektive verfälscht, um dessen Destillation das
Lehrstück sich bemüht. Nimmt man Brecht beim Wort; macht man
die Politik zum Kriterium seines engagierten Theaters, so erweist es
an dieser sich als unwahr. Hegels Logik hat gelehrt, daß das Wesen
erscheinen muß. Dann ist aber eine Darstellung des Wesens, welche
dessen Verhältnis zur Erscheinung ignoriert, auch an sich so falsch,
wie die Substitution der Hintermänner des Faschismus durchs
Lumpenproletariat. Brechts Technik der Reduktion hätte ihr Recht
einzig im Bereich jenes l'art pour l'art, welches seine Version des
Engagements verurteilt wie er den Lukullus.
Im gegenwärtigen literarischen Deutschland trennt man gern den
Dichter Brecht vom Politiker. Man will die bedeutende Figur für
den Westen retten, womöglich ihn aufs Postament eines
gesamtdeutschen Dichters stellen und dadurch, au-dessus de la
mêlée, ihn neutralisieren. Sicherlich ist soviel richtig, daß Brechts
dichterische Kraft ebenso wie seine listige und unbezähmbare
Intelligenz übers offizielle Credo und über die verordnete Ästhetik
der Volksdemokratien hinausschossen. Gleichwohl wäre Brecht
gegen solche Verteidigung zu verteidigen. Sein Werk hätte, mit
seinen offen zutage liegenden Schwächen, nicht solche Gewalt,
wäre es nicht mit Politik durchtränkt. Das erzeugt noch in den
fragwürdigsten Produkten, wie der ›Maßnahme‹, das Bewußtsein, es
gehe ums Ernsteste. Soweit hat er seinem Anspruch, durchs Theater
zum Denken zu veranlassen, genügt. Vergeblich, die vorhandenen
oder fiktiven Schönheiten seines Werkes von der politischen
Intention abzuheben. Wohl aber müßte immanente Kritik, die allein
dialektische, die Frage nach der Stichhaltigkeit der Gebilde mit der
nach seiner Politik synthesieren. In Sartres Kapitel ›Warum
schreiben?‹ heißt es mit großem Recht: »Niemand aber sollte auch
nur einen Moment glauben, man könnte einen guten Roman zum
Lobe des Antisemitismus schreiben.« 4 Aber auch keinen zum Lob
der Moskauer Prozesse, selbst wenn es früher gespendet ward, als
Stalin Sinowjew und Bucharin ermorden ließ. Die politische
Unwahrheit befleckt die ästhetische Gestalt. Wo, dem thema
probandum zuliebe, die gesellschaftliche Problematik
zurechtgebogen wird, die Brecht auf dem epischen Theater
diskutiert, zerbröckelt das Drama in seinem eigenen
Begründungszusammenhang. Die ›Mutter Courage‹ ist eine
Bilderfibel, welche den Montecuculischen Satz ad absurdum führen
will, daß der Krieg den Krieg ernähre. Die Marketenderin, die den
Krieg benutzt, um ihre Kinder durchzubringen, soll eben dadurch
deren Untergang verschulden. Aber diese Schuld folgt in dem Stück
weder zwingend aus der Kriegssituation noch aus dem Verhalten der
kleinen Unternehmerin; wäre sie nur nicht gerade im kritischen
Augenblick abwesend, so geschähe das Unheil nicht, und daß sie
abwesend sein muß, um etwas zu verdienen, bleibt gegenüber dem,
was sich abspielt, ganz allgemein. Die Bilderbogentechnik, welche
Brecht für die Sinnfälligkeit der These benötigt, verhindert deren
Beweis. Eine politisch-soziale Analyse, wie Marx und Engels sie
gegen das Sickingen-Drama von Lassalle entwarfen, ergäbe, daß
durch die simplistische Gleichsetzung des Dreißigjährigen Krieges
mit einem modernen durchstrichen würde, was tatsächlich über
Verhalten und Schicksal der Mutter Courage in der
Grimmelshausenschen Vorlage entscheidet. Weil die Gesellschaft
des Dreißigjährigen Krieges nicht die funktionale des modernen ist,
kann dort auch poetisch kein geschlossener
Funktionszusammenhang stipuliert werden, in dem Leben und Tod
der privaten Individuen ohne weiteres durchsichtig würden aufs
ökonomische Gesetz. Gleichwohl bedarf Brecht der altertümlich
wilden Zeiten als Gleichnis für die gegenwärtigen, denn gerade er
gab sich genaue Rechenschaft darüber, daß die Gesellschaft seines
eigenen Zeitalters nicht länger an Menschen und Sachen unmittelbar
greifbar ist. So verleitet die Konstruktion der Gesellschaft erst zur
gesellschaftlichen Fehlkonstruktion und dann zum dramatisch
Unmotivierten. Politisch Schlechtes wird ein künstlerisch Schlechtes
und umgekehrt. Je weniger aber die Werke etwas verkünden
müssen, was sie nicht ganz sich glauben können, um so stimmiger
werden sie auch selber; desto weniger brauchen sie ein Surplus
dessen, was sie sagen, über das, was sie sind. Übrigens dürften die
wahren Interessenten in allen Lagern auch heute noch die Kriege
ganz gut überstehen.
Derlei Aporien reproduzieren sich bis in die dichterische Fiber
hinein, den Brechtischen Ton. So wenig Zweifel ist an diesem und
seinem Unverwechselbaren – Qualitäten, auf die der reife Brecht
wenig Wert gelegt haben mag –, er wird vergiftet von der
Unwahrheit seiner Politik. Weil, wofür er wirbt, nicht, wie er lange
wohl glaubte, bloß ein unvollkommener Sozialismus ist, sondern
eine Gewaltherrschaft, in der die blinde Irrationalität des
gesellschaftlichen Kräftespiels wiederkehrt, der Brecht als
Lobredner von Einverständnis an sich beisprang, muß die lyrische
Stimme Kreide schlucken, damit sie dich besser fressen kann, und
sie knirscht. Schon die pubertär sich überschlagende Männlichkeit
des jungen Brecht verrät gekauften Mut des Intellektuellen, der aus
Verzweiflung an der Gewalt kurzschlüssig zu der gewaltsamen
Praxis überläuft, vor der sich zu fürchten er allen Anlaß hat. Das
wilde Gebrüll der ›Maßnahme‹ überschreit das Unheil, das der
Sache widerfuhr und das er krampfhaft als Heil ausgeben möchte.
Noch Brechts bester Teil wird vom Trügerischen seines
Engagements angesteckt. Die Sprache bezeugt, wie weit das
tragende poetische Subjekt und das von ihm Verkündete
auseinanderklaffen. Um über den Bruch hinwegzukommen,
affektiert sie die der Unterdrückten. Aber die Doktrin, für die sie
wirbt, verlangt die des Intellektuellen. Ihre Schlichtheit und
Simplizität ist Fiktion. Sie verrät sich ebenso durch Male von
Übertreibung wie durch stilisierenden Rückgriff auf veraltete oder
provinzielle Ausdruckscharaktere. Nicht selten biedert sie sich an;
Ohren, welche sich nicht die eigene Differenziertheit austreiben
lassen, müssen hören, daß man ihnen etwas aufschwatzen will.
Usurpation und wie Hohn auf die Opfer ist es, zu reden wie diese,
als ob man selber eines wäre. Alles ist erlaubt zu spielen, nur nicht
den Proletarier. Am schwersten fällt wider das Engagement ins
Gewicht, daß selbst die richtige Absicht verstimmt, wenn man sie
merkt, und mehr noch, wenn sie eben darum sich maskiert. Etwas
davon reicht beim späteren Brecht in den sprachlichen Gestus von
Weisheit, die Fiktion des von epischer Erfahrung gesättigten alten
Bauern als poetischen Subjekts. Kein Mensch in keinem Staat der
Welt ist solcher körnigen Erfahrung süddeutscher Muschiks mehr
mächtig; der bedächtige Klang wird zum Propagandamittel, das
vortäuschen soll, dort sei das Leben das richtige, wo die Rote Armee
einmal die Verwaltung übernahm. Weil es wahrhaft nichts gibt,
woran jene Humanität sich halten kann, die doch als verwirklichte
erschlichen wird, macht Brechts Ton sich zum Echo archaischer
gesellschaftlicher Verhältnisse, die unwiederbringlich dahin sind.
Der späte Brecht war von offizieller Humanität gar nicht so entfernt;
den ›Kaukasischen Kreidekreis‹ könnte ein journalistischer
Abendländer recht wohl als Hohelied der Mütterlichkeit preisen,
und wem ginge nicht das Herz auf, wenn die prächtige Magd der
von Migräne geplagten Dame als Exempel vorgehalten wird.
Baudelaire, der sein Werk dem widmete, der die Formel l'art pour
l'art prägte, wäre zu solcher Katharsis weniger geeignet. Selbst so
groß geplante und virtuose Gedichte wie die ›Legende von der
Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die
Emigration‹ werden getrübt von der Theatralik vollkommener
Schlichtheit. Was seine Klassiker noch als Idiotie des Landlebens
denunzierten, das verstümmelte Bewußtsein Darbender und
Unterdrückter, wird ihm wie einem Existentialontologen zum alten
Wahren. Sein gesamtes oeuvre ist eine Sisyphusanstrengung, seinen
hochgezüchteten und differenzierten Geschmack mit den tölpelhaft
heteronomen Anforderungen irgend auszugleichen, die er desperat
sich zumutete.
Den Satz, nach Auschwitz noch Lyrik zu schreiben, sei
barbarisch, möchte ich nicht mildern; negativ ist darin der Impuls
ausgesprochen, der die engagierte Dichtung beseelt. Die Frage einer
Person aus ›Morts sans sépulture‹: »Hat es einen Sinn zu leben,
wenn es Menschen gibt, die schlagen, bis die Knochen im Leib
zerbrechen?« ist auch die, ob Kunst überhaupt noch sein dürfe; ob
nicht geistige Regression im Begriff engagierter Literatur
anbefohlen wird von der Regression der Gesellschaft selber. Aber
wahr bleibt auch Enzensbergers Entgegnung, die Dichtung müsse
eben diesem Verdikt standhalten, so also sein, daß sie nicht durch
ihre bloße Existenz nach Auschwitz dem Zynismus sich
überantworte. Ihre eigene Situation ist paradox, nicht erst, wie man
zu ihr sich verhält. Das Übermaß an realem Leiden duldet kein
Vergessen; Pascals theologisches Wort »On ne doit plus dormir« ist
zu säkularisieren. Aber jenes Leiden, nach Hegels Wort das
Bewußtsein von Nöten, erheischt auch die Fortdauer von Kunst, die
es verbietet; kaum wo anders findet das Leiden noch seine eigene
Stimme, den Trost, der es nicht sogleich verriete. Die bedeutendsten
Künstler der Epoche sind dem gefolgt. Der kompromißlose
Radikalismus ihrer Werke, gerade die als formalistisch verfemten
Momente, verleiht ihnen die schreckhafte Kraft, welche hilflosen
Gedichten auf die Opfer abgeht. Aber selbst der ݆berlebende von
Warschau‹ bleibt in der Aporie gefangen, der er, autonome
Gestaltung der zur Hölle gesteigerten Heteronomie, rückhaltlos sich
ausliefert. Ein Peinliches gesellt sich der Komposition Schönbergs.
Keineswegs das, woran man in Deutschland sich ärgert, weil es
nicht zu verdrängen erlaubt, was man um jeden Preis verdrängen
möchte. Aber indem es, trotz aller Härte und Unversöhnlichkeit,
zum Bild gemacht wird, ist es doch, als ob die Scham vor den
Opfern verletzt wäre. Aus diesen wird etwas bereitet, Kunstwerke,
der Welt zum Fraß vorgeworfen, die sie umbrachte. Die sogenannte
künstlerische Gestaltung des nackten körperlichen Schmerzes der
mit Gewehrkolben Niedergeknüppelten enthält, sei's noch so
entfernt, das Potential, Genuß herauszupressen. Die Moral, die der
Kunst gebietet, es keine Sekunde zu vergessen, schliddert in den
Abgrund ihres Gegenteils. Durchs ästhetische Stilisationsprinzip,
und gar das feierliche Gebet des Chors, erscheint das
unausdenkliche Schicksal doch, als hätte es irgend Sinn gehabt; es
wird verklärt, etwas von dem Grauen weggenommen; damit allein
schon widerfährt den Opfern Unrecht, während doch vor der
Gerechtigkeit keine Kunst standhielte, die ihnen ausweicht. Noch
der Laut der Verzweiflung entrichtet seinen Zoll an die verruchte
Affirmation. Werke geringeren Ranges als jene obersten werden
denn auch bereitwillig geschluckt, ein Stück Aufarbeitung der
Vergangenheit. Indem noch der Völkermord in engagierter Literatur
zum Kulturbesitz wird, fällt es leichter, weiter mitzuspielen in der
Kultur, die den Mord gebar. Untrüglich fast ist ein Kennzeichen
solcher Literatur: daß sie, absichtlich oder nicht, durchblicken läßt,
selbst in den sogenannten extremen Situationen, und gerade in
ihnen, blühe das Menschliche; zuweilen wird daraus eine trübe
Metaphysik, welche das zur Grenzsituation zurechtgestutzte Grauen
womöglich insofern bejaht, als die Eigentlichkeit des Menschen dort
erscheine. Im anheimelnden existentiellen Klima verschwimmt der
Unterschied von Henkern und Opfern, weil beide doch
gleichermaßen in die Möglichkeit des Nichts hinausgehalten seien,
die freilich im allgemeinen den Henkern bekömmlicher ist.
Die Anhänger jener Metaphysik, die unterdessen zum bloßen
Gesinnungspaß verkam, wettern wie vor 1933 gegen die
Verhäßlichung, Entstellung, künstlerische Perversion des Lebens,
als hätten die Autoren schuld an dem, wogegen sie sich aufbäumen,
indem, was sie schreiben, jenem Äußersten sich gleichmacht. Der
unter den deutschen Stillen im Land immer noch grassierenden
Denkgewohnheit erteilt den besten Bescheid eine Geschichte über
Picasso. Als ihn ein deutscher Besatzungsoffizier in seinem Atelier
besuchte und vorm Guernica-Bild fragte: »Haben Sie das
gemacht?«, soll er geantwortet haben: »Nein, Sie.« Auch autonome
Kunstwerke wie dies Bild negieren bestimmt die empirische
Realität, zerstören die zerstörende, das, was bloß ist, und als bloßes
Dasein die Schuld endlos wiederholt. Kein anderer als Sartre hat den
Zusammenhang zwischen der Autonomie des Werkes und einem
Wollen erkannt, das nicht dem Werk eingelegt ist, sondern sein
eigener Gestus der Wirklichkeit gegenüber. »Das Kunstwerk«,
schreibt er, »hat keinen Zweck, darin stimmen wir mit Kant überein.
Es ist aber ein Zweck. Kants Formulierung läßt den Appell außer
acht, der aus jedem Bild, aus jeder Statue, aus jedem Buch spricht.«
5 Dem wäre nur hinzuzufügen, daß dieser Appell in keinem
ungebrochenen Verhältnis steht zum thematischen Engagement der
Dichtung. Die rücksichtslose Autonomie der Werke, die der
Anpassung an den Markt und dem Verschleiß sich entzieht, wird
unwillkürlich zum Angriff. Der ist aber nicht abstrakt, keine
invariante Verhaltensweise aller Kunstwerke zu der Welt, die es
ihnen nicht verzeiht, daß sie ihr nicht gänzlich sich fügen. Sondern
die Distanzierung der Werke von der empirischen Realität ist
zugleich in sich selbst durch diese vermittelt. Die Phantasie des
Künstlers ist keine creatio ex nihilo; nur Dilettanten und Feinsinnige
stellen sie so sich vor. Indem die Kunstwerke der Empirie sich
entgegensetzen, gehorchen sie deren Kräften, die gleichsam das
geistige Gebilde abstoßen, es auf sich selbst zurückwerfen. Kein
Sachgehalt, keine Formkategorie einer Dichtung, die nicht, wie
immer auch unkenntlich abgewandelt und sich selbst verborgen, aus
der empirischen Realität stammte, der es sich entringt. Dadurch, wie
durch die Umgruppierung der Momente kraft ihres Formgesetzes,
verhält sich die Dichtung zur Realität. Noch die avantgardistische
Abstraktheit, über die der Spießbürger sich entrüstet und die nichts
gemein hat mit der von Begriffen und Gedanken, ist der Reflex auf
die Abstraktheit des Gesetzes, das objektiv in der Gesellschaft
waltet. Das wäre an den Dichtungen Becketts zu zeigen. Sie
genießen den heute einzig menschenwürdigen Ruhm: alle schaudern
davor zurück, und doch kann keiner sich ausreden, daß die
exzentrischen Stücke und Romane von dem handeln, was alle
wissen und keiner Wort haben will. Philosophischen Apologeten
mag sein oeuvre als anthropologischer Entwurf behagen. Aber es
gilt höchst konkreten geschichtlichen Sachverhalten: der
Abdankung des Subjekts. Becketts Ecce homo ist, was aus den
Menschen wurde. Gleichwie mit Augen, denen die Tränen versiegt
sind, stumm blicken sie aus seinen Sätzen. Der Bann, den sie
verbreiten und unter dem sie stehen, löst sich, indem er in ihnen sich
spiegelt. Das minimale Glücksversprechen darin freilich, das an
keinen Trost sich verschachert, war um keinen geringeren Preis zu
erlangen als den der vollkommenen Durchartikulation bis zur
Weltlosigkeit. Jedes Engagement für die Welt muß gekündigt sein,
damit der Idee eines engagierten Kunstwerks genügt werde, der
polemischen Verfremdung, die der Theoretiker Brecht dachte und
die er um so weniger praktizierte, je geselliger er dem Menschlichen
sich verschrieb. Dies Paradoxon, das den Einwand des Erklügelten
provoziert, stützt sich, ohne viel Philosophie, auf die einfachste
Erfahrung: Kafkas Prosa, Becketts Stücke oder der wahrhaft
ungeheuerliche Roman ›Der Namenlose‹ üben eine Wirkung aus,
der gegenüber die offiziell engagierten Dichtungen wie Kinderspiel
sich ausnehmen; sie erregen die Angst, welche der Existentialismus
nur beredet. Als Demontagen des Scheins sprengen sie die Kunst
von innen her, welche das proklamierte Engagement von außen, und
darum nur zum Schein, unterjocht. Ihr Unausweichliches nötigt zu
jener Änderung der Verhaltensweise, welche die engagierten Werke
bloß verlangen. Wen einmal Kafkas Räder überfuhren, dem ist der
Friede mit der Welt ebenso verloren wie die Möglichkeit, bei dem
Urteil sich zu bescheiden, der Weltlauf sei schlecht: das
bestätigende Moment ist weggeätzt, das der resignierten
Feststellung von der Übermacht des Bösen innewohnt. Je größer
allerdings der Anspruch, desto größer die Chance des Absinkens
und Mißlingens. Was in Malerei und Musik an den von
gegenständlicher Abbildlichkeit und faßlichem Sinnzusammenhang
sich entfernenden Gebilden als Spannungsverlust beobachtet wurde,
teilt vielfach auch der nach abscheulichem Sprachgebrauch Texte
genannten Literatur sich mit. Sie gerät an den Rand von
Gleichgültigkeit, degeneriert unvermerkt zur Bastelei, zum in
anderen Kunstgattungen durchschauten Wiederholungsspiel mit
Formeln, zum Tapetenmuster. Das leiht oft der groben Forderung
nach dem Engagement ihr Recht. Gebilde, welche die verlogene
Positivität von Sinn herausfordern, münden leicht in Sinnleere
anderer Art, die positivistische Veranstaltung, das eitle
Herumwürfeln mit Elementen. Dadurch verfallen sie der Sphäre,
von der sie sich abstoßen; Grenzfall ist eine Literatur, die
undialektisch mit Wissenschaft sich verwechselt und vergebens der
Kybernetik gleichschaltet. Die Extreme berühren sich: was die letzte
Kommunikation durchschneidet, wird zur Beute der
Kommunikationstheorie. Kein festes Kriterium zieht die Grenze
zwischen der bestimmten Negation des Sinnes und der schlechten
Positivität des Sinnlosen als eines beflissenen Weitermachens um
seiner selbst willen. Am letzten wäre eine solche Grenze die
Anrufung des Menschlichen und der Fluch gegen die
Mechanisierung. Die Kunstwerke, welche durch ihre Existenz die
Partei der Opfer naturbeherrschender Rationalität ergreifen, waren
im Protest stets auch der eigenen Beschaffenheit nach in den
Rationalisierungsprozeß verflochten. Wollten sie ihn verleugnen, so
wären sie ästhetisch und sozial gleich unkräftig: höhere Scholle. Das
organisierende, Einheit stiftende Prinzip eines jeden Kunstwerks ist
eben der Rationalität entlehnt, deren Totalitätsanspruch es Einhalt
tun möchte.
In der Geschichte des französischen und deutschen Bewußtseins
stellt die Frage nach dem Engagement verschieden sich dar. In
Frankreich herrscht ästhetisch, offen oder verhüllt, das Prinzip l'art
pour l'art, und ist mit akademischen und reaktionären Richtungen
verschworen. Das erklärt die Revolte dagegen 6 . Selbst extrem
avantgardistische Werke haben in Frankreich einen touch des
dekorativ Angenehmen. Darum klang dort die Berufung auf
Existenz und Engagement revolutionär. Umgekehrt in Deutschland.
Einer Tradition, die tief in den deutschen Idealismus hineinreicht –
ihr erstes berühmtes, von der Geistesgeschichte der Oberlehrer
rezipiertes Dokument ist Schillers Abhandlung über das Theater als
moralische Anstalt –, war die Zweckfreiheit der Kunst, die doch
theoretisch zuerst von einem Deutschen rein und unbestechlich zum
Moment des Geschmacksurteils erhoben wurde, suspekt. Weniger
jedoch wegen der damit verkoppelten Verabsolutierung des Geistes;
gerade die hat in der deutschen Philosophie bis zur Hybris sich
ausgetobt. Sondern wegen der Seite, die das zweckfreie Kunstwerk
der Gesellschaft zukehrt. Sie erinnert an jenen sinnlichen Genuß, an
dem sublimiert und durch Negation noch die äußerste Dissonanz,
und diese gerade, teilhat. Gewahrte die deutsche spekulative
Philosophie das im Kunstwerk selbst gelegene Moment seiner
Transzendenz: daß sein eigener Inbegriff immer mehr ist, als es ist,
so hat man daraus ein Sittenzeugnis abgeleitet. Das Kunstwerk soll,
jener latenten Tradition zufolge, nichts für sich sein, weil es sonst,
wie schon der Platonische Entwurf des Staatssozialismus es
brandmarkte, verweichliche und von der Tat um der Tat willen, der
deutschen Erbsünde, abhalte. Glücksfeindschaft, Asketentum, jene
Sorte Ethos, die immerfort Namen wie Luther und Bismarck im
Munde führt, wollen keine ästhetische Autonomie; ohnehin
grundiert ein Unterstrom des knechtisch Heteronomen das Pathos
des kategorischen Imperativs, der zwar einerseits die Vernunft
selbst, andererseits aber ein schlechthin Gegebenes und blind zu
Achtendes sein soll. Vor fünfzig Jahren ging es noch gegen George
und seine Schule als gegen den Ästhetizismus von Französlingen.
Heute hat der Muff, den keine Bomben explodieren ließen, mit der
Wut auf die vorgebliche Unverständlichkeit der neuen Kunst sich
verbündet. Als Motiv wäre der Kleinbürgerhaß auf den Sexus zu
entdecken; darin berühren sich die abendländischen Ethiker mit den
Ideologen des sozialistischen Realismus. Kein moralischer Terror
hat Macht darüber, daß die Seite, welche das Kunstwerk seinem
Betrachter zuwendet, diesem, und wäre es bloß durch die formale
Tatsache temporärer Befreiung vom Zwang der praktischen
Zwecke, auch Vergnügen bereitet. Thomas Mann hat das mit dem
Wort vom höheren Jux ausgedrückt, das den Ethosbesitzern
unerträglich ist. Selbst Brecht, der nicht frei war von asketischen
Zügen – verwandelt kehren sie in der Sprödigkeit großer autonomer
Kunst gegen den Konsum wieder –, hat zwar, mit Grund, das
kulinarische Kunstwerk angeprangert, war aber viel zu gescheit, um
nicht zu wissen, daß bei Wirkungszusammenhängen vom Moment
des Genusses gar nicht ganz abgesehen werden kann, sogar im
Angesicht der unerbittlichen Gebilde. Durch den Primat des
ästhetischen Objekts als eines rein Durchgebildeten ist aber nicht
doch wieder der Konsum, und damit das schlechte Einverständnis,
auf einem Umweg eingeschmuggelt. Denn während jenes Moment,
wäre es auch aus der Wirkung exstirpiert, stets in ihr wiederkehrt, ist
der Wirkungszusammenhang nicht das Prinzip, dem die autonomen
Werke unterstehen, sondern ihr Gefüge bei sich selbst. Sie sind
Erkenntnis als begriffsloser Gegenstand. Darin beruht ihre Würde.
Nicht haben sie die Menschen zu ihr zu überreden, weil sie in ihre
Hand gegeben sei. Darum ist es heute in Deutschland eher an der
Zeit, fürs autonome Werk zu sprechen als fürs engagierte. Allzu
leicht rechnete dieses sich selbst alle edlen Werte zu, um mit ihnen
umzuspringen. Auch unterm Faschismus wurde keine Untat verübt,
die nicht moralisch sich herausgeputzt hätte. Die heute noch auf ihr
Ethos und die Menschlichkeit pochen, lauern nur darauf, die zu
verfolgen, die nach ihren Spielregeln verurteilt werden, und in der
Praxis die gleiche Unmenschlichkeit zu betreiben, die sie theoretisch
der neuen Kunst vorwerfen. In Deutschland läuft vielfach das
Engagement auf Geblök hinaus, auf das, was alle sagen, oder
wenigstens latent alle gern hören möchten. Im Begriff des
»message«, der Botschaft von Kunst selbst, auch der politisch
radikalen, steckt schon das weltfreundliche Moment; im Gestus des
Anredens heimliches Einverständnis mit den Angeredeten, die doch
allein dadurch noch aus der Verblendung zu reißen wären, daß man
dies Einverständnis aufsagt.
Literatur, die wie die engagierte, aber auch wie die ethischen
Philister es wollen, für den Menschen da ist, verrät ihn, indem sie
die Sache verrät, die ihm helfen könnte nur, wenn sie nicht sich
gebärdet, als ob sie ihm hülfe. Was aber daraus die Konsequenz
zöge, absolut sich selbst zu setzen, nur um seiner selbst willen da zu
sein, verkäme ebenso zur Ideologie. Über den Schatten von
Irrationalität: daß Kunst, die noch in ihrem Gegensatz zur
Gesellschaft ein Moment von ihr bildet, dagegen Augen und Ohren
verschließen muß, kann sie nicht springen. Aber wenn sie selbst
darauf sich beruft, willkürlich den Gedanken an ihre Bedingtheit
bremst, und daraus ihre raison d'être folgert, so fälscht sie den Fluch
über ihr um in ihre Theodizee. Noch im sublimiertesten Kunstwerk
birgt sich ein Es soll anders sein; wo es nur noch sich selbst gliche,
wie bei seiner reinen verwissenschaftlichten Durchkonstruktion,
wäre es schon wieder im Schlechten, buchstäblich
Vorkünstlerischen. Vermittelt aber ist das Moment des Wollens
durch nichts anderes als durch die Gestalt des Werkes, dessen
Kristallisation sich zum Gleichnis eines Anderen macht, das sein
soll. Als rein gemachte, hergestellte, sind Kunstwerke, auch
literarische, Anweisungen auf die Praxis, deren sie sich enthalten:
die Herstellung richtigen Lebens. Solche Vermittlung ist kein
Mittleres zwischen Engagement und Autonomie, keine Mixtur etwa
von avancierten Formelementen und einem auf wirklich oder
vermeintlich progressive Politik abzielenden geistigen Gehalt; der
Gehalt der Werke ist überhaupt nicht, was an Geist in sie gepumpt
ward, eher dessen Gegenteil. Der Akzent auf dem autonomen Werk
jedoch ist selber gesellschaftlich-politischen Wesens. Die
Verstelltheit wahrer Politik hier und heute, die Erstarrung der
Verhältnisse, die nirgendwo zu tauen sich anschicken, nötigt den
Geist dorthin, wo er sich nicht zu encanaillieren braucht. Während
gegenwärtig alles Kulturelle, auch die integren Gebilde, zu ersticken
droht im Kulturgewäsch, ist doch, zur gleichen Stunde, den
Kunstwerken aufgebürdet, wortlos festzuhalten, was der Politik
versperrt ist. Sartre selbst hat das an einer Stelle, die seiner
Lauterkeit Ehre antut, ausgesprochen 7 . An der Zeit sind nicht die
politischen Kunstwerke, aber in die autonomen ist die Politik
eingewandert, und dort am weitesten, wo sie politisch tot sich
stellen, so wie Kafkas Gleichnis von den Kindergewehren, in dem
die Idee der Gewaltlosigkeit mit dem dämmernden Bewußtsein von
der heraufziehenden Lähmung der Politik fusioniert ist. Paul Klee,
der in die Diskussion über engagierte und autonome Kunst
hineingehört, weil sein Werk, écriture par excellence, seine
literarischen Wurzeln hatte und ebensowenig wäre, wenn es diese
nicht gäbe, wie wenn es sie nicht aufgezehrt hätte – Paul Klee hat
im ersten Weltkrieg oder kurz danach Karikaturen gegen den Kaiser
Wilhelm als unmenschlichen Eisenfresser gezeichnet. Aus diesen ist
dann – es wäre wohl genau nachzuweisen – im Jahr 1920 der
Angelus novus geworden, der Maschinenengel, der von Karikatur
und Engagement kein offenes Emblem mehr trägt, aber beides weit
überflügelt. Mit rätselhaften Augen zwingt der Maschinenengel den
Betrachter zur Frage, ob er das vollendete Unheil verkünde oder die
darin verkappte Rettung. Er ist aber, nach dem Wort Walter
Benjamins, der das Blatt besaß, der Engel, der nicht gibt sondern
nimmt.
 Fußnoten
 
1 Jean-Paul Sartre, Was ist Literatur? Ein Essay, übertr. von Hans
Georg Brenner, Hamburg 1958, S. 10.
 
2 parce qu'il est homme, Situations, II, Paris 1948, p. 51.
 
3 Jean-Paul Sartre, Bei geschlossenen Türen, in: Dramen, Hamburg
1960, S. 97.
 
4 Sartre, Was ist Literatur?, a.a.O., S. 41.
 
5 a.a.O., S. 31.
 
6 »Man weiß genau, daß reine Kunst und leere Kunst ein und
dasselbe sind und daß der ästhetische Purismus im letzten
Jahrhundert nur ein brillantes Defensivmanöver der Bürger war, die
sich lieber als Philister angeprangert sahen denn als Ausbeuter.«
(a.a.O., S. 20)
 
7 Vgl. Jean-Paul Sartre, L'existentialisme est un humanisme, Paris
1946, p. 105.
 
 Voraussetzungen
Aus Anlaß einer Lesung von Hans G. Helms
Mein Anspruch kann nicht sein, durch Interpretation das
Verständnis des Textes FA: M'AHNIESGWOW zu erleichtern. Zu
einer solchen Interpretation, die langer Versenkung bedürfte, wären
andere, aus dem Kölner Freundeskreis von Helms, weit legitimierter
als ich; eine Einleitung aus engster Fühlung mit dem Werk hat
Gottfried Michael König verfaßt. Zudem ist der Begriff des
Verstehens auf einen hermetischen Text nicht frischfröhlich
anzuwenden. Ihm wesentlich ist der Schock, mit dem er die
Kommunikation heftig unterbricht. Das grelle Licht des
Unverständlichen, das solche Gebilde dem Leser zukehren,
verdächtigt die übliche Verständlichkeit als schal, eingeschliffen,
dinghaft – als vorkünstlerisch. Das fremd Erscheinende qualitativ
moderner Werke in geläufige Begriffe und Zusammenhänge zu
übersetzen, hat etwas vom Verrat an der Sache. Je objektiver diese,
je rücksichtsloser gegen das, was die Subjekte von ihr erwarten,
oder auch was das ästhetische Subjekt in sie hineinlegt, um so
problematischer die Verständlichkeit; je weniger die Sache den
sedimentierten subjektiven Reaktionsformen sich anpaßt, um so
schutzloser exponiert sie sich dem Allerweltseinwand subjektiver
Willkür. Verstehen setzt einen geschlossenen Sinnzusammenhang
voraus, der etwa durch Einfühlung vom Rezipierenden kann
mitvollzogen werden. Unter den Motiven aber, die zu
Konsequenzen wie FA: M'AHNIESGWOW führen, ist nicht das
schwächste, die Fiktion eines solchen Sinnzusammenhangs
wegzuräumen. Sobald die Reflexion der Kunstwerke jenen positiven
metaphysischen Sinn bezweifelt, der im Werk sich kristallisiere und
entlade, muß sie auch die Mittel, die sprachlichen zumal, verwerfen,
die implizit von der Idee eines solchen Sinnes zehren, der einen
integralen und dadurch beredten Zusammenhang stifte. Wieweit,
was im Innern des Gebildes sich zuträgt, dem Nachvollzug durch
den Betrachter offen ist und wieweit ein solcher Nachvollzug getreu
es trifft, wird ungewiß. Hegels Ästhetik hat vor bald anderthalb
Jahrhunderten den noch von Kant unbefragt unterstellten Ausgang
der Theorie der Kunst von deren Wirkung auf den anschauenden
Betrachter um deren Zufälligkeit willen kritisiert und, im Geist
dialektischer Philosophie, verlangt, daß statt dessen der Gedanke in
die Disziplin der Sache selbst eintrete. Diese Hegelsche Forderung
hat mittlerweile auch subjektivistische Ansichten zerstört, die für
Hegel noch unerschüttert waren und in seiner eigenen Methode naiv
walten, wie die von der prinzipiellen Verständlichkeit des
ästhetischen Gegenstandes. Durchschaute er es als zufällig, welche
Wirkung welches Kunstwerk auf welchen Betrachter ausübt, so
mußte seitdem der Glaube hinab, daß a priori ein unmittelbares
Verhältnis zwischen Werk und Betrachter bestehe; daß ein objektiv
wahres Gebilde auch seine Apperzeption garantiere. Ich möchte
darum nicht versuchen, Helms verständlich zu machen, auch nicht
mit zustimmenden oder kritischen Urteilen aufwarten, sondern
lediglich einige Voraussetzungen erörtern.
Ich bin mir dessen bewußt, daß ich damit seine Produktion, und
meine eigene Stellung zu ihr, dem triumphalen Hohn all der
Wohldenkenden aussetze, die schon mit dem Vorsatz gewappnet
anrücken, sich darüber zu ereifern, daß dies denn doch auch
fortschrittlichen und aufgeschlossenen Leuten zuviel zumute. Ich
kann mir vorstellen, mit welcher Befriedigung manche meinen
Worten entnehmen, ich verstünde es also auch nicht. Aber ich
möchte vor diesem bequemen Triumph warnen. In Kunst – und, so
möchte ich denken, in ihr nicht allein – hat Geschichte
rückwirkende Kraft. Die Krisis der Verständlichkeit, heute weit
akuter als vor fünfzig Jahren, reißt auch ältere Werke in sich hinein.
Insistierte man darauf, was Verständlichkeit von Kunst überhaupt
bedeutet, so müßte man die Entdeckung wiederholen, daß sie
wesentlich abweicht vom Verstehen als der rationalen Auffassung
eines wie immer auch Gemeinten. Kunstwerke versteht man nicht
wie eine fremde Sprache, oder wie Begriffe, Urteile, Schlüsse der
eigenen. All das kann zwar in Kunstwerken als das signifikative
Moment ihrer Sprache, oder als das ihrer Handlung, oder eines auf
dem Bild Dargestellten, auch unterlaufen, spielt aber doch eher
beiher und ist schwerlich das, worauf der ästhetische
Verstehensbegriff zielt. Soll dieser etwas Adäquates, Sachgerechtes
anzeigen, so wäre das heute eher als eine Art von Nachfahren
vorzustellen; als der Mitvollzug der im Kunstwerk sedimentierten
Spannungen, der in ihm zur Objektivität geronnenen Prozesse. Man
versteht ein Kunstwerk nicht, wenn man es in Begriffe übersetzt –
tut man einfach das, so ist es vorweg mißverstanden –, sondern
sobald man in seiner immanenten Bewegung darin ist; fast möchte
man sagen, sobald es vom Ohr seiner je eigenen Logik nach
nochmals komponiert, vom Auge gemalt, vom sprachlichen
Sensorium mitgesprochen wird. Verstehen im spezifisch
begrifflichen Verstande des Wortes, wofern das Werk nicht
rationalistisch verschandelt werden soll, stellt erst auf höchst
vermittelte Weise sich her; indem nämlich der im Vollzug von
Erfahrung ergriffene Gehalt, in seiner Beziehung zur
Formensprache und den Stoffen des Gebildes, reflektiert und
benannt wird. Derart verstanden werden Kunstwerke allein durch
die Philosophie der Kunst, die freilich ihrer Anschauung nichts
Äußerliches ist, sondern von jener immer schon erheischt, und in
der Anschauung terminiert. Fraglos ist die Anstrengung zu solchem
emphatischen Verstehen auch traditioneller Kunstwerke nicht
geringer als die, welche ein avancierter Text seinem
mitvollziehenden Leser auferlegt.
Daß Kunst dem rationalen Verstehen als einer primären
Verhaltensweise sich entzieht, ist vom vulgären ästhetischen
Irrationalismus ausgebeutet worden. Gefühl sei alles. Die Einsicht
wird aber dringlich erst recht, sobald künstlerische Erfahrung zur
schlechten, passiven Irrationalität des Konsums wird, und aufs
Gefühl kein Verlaß mehr ist. Anstelle des spezifischen Mitvollzugs,
den die Kunstwerke verlangen, ist das bloße Mitplätschern mit dem
Strom von Sprache, mit dem tonalen Gefälle, mit der
gegenständlichen Komplexion der Bilder getreten. Die Passivität
jener Reaktionsweise verwechselt sich mit löblicher
Unmittelbarkeit. Die Werke werden fertig bezogenen Schemata
subsumiert, nicht selber mehr erkannt. Dagegen müssen, nicht heute
erst, die Kunstwerke sich schützen und einen Mitvollzug erzwingen,
der dem konventionellen Verstehen abschwört, das nur ein seiner
selbst nicht bewußtes Nichtverstehen wäre. Das in aller Kunst
konstitutiv enthaltene, aber bislang weithin von Konventionellem
überdeckte Moment des Absurden muß hervortreten, sich selbst
aussprechen. Die sogenannte Unverständlichkeit gerade der
legitimen zeitgenössischen Kunst ist die Konsequenz aus einem der
Kunst an sich Eigentümlichen. Die Provokation vollstreckt zugleich
das historische Urteil über die zum Mißverständnis degenerierte
Verständlichkeit.
Dahin kam es freilich nicht so sehr durch die Polemik des
Kunstwerks gegen das, was außer ihm ist, gegen sein
gesellschaftliches Schicksal, als durch Notwendigkeit in seinem
Innern. In der Dichtung ist deren Schauplatz der Doppelcharakter
der Sprache als eines diskursiven, signifikativen Mittels – primär
der Kommunikation – und als Ausdruck. Insofern berührt die
immanente Notwendigkeit radikaler sprachlicher Veranstaltungen
sich doch wiederum mit der Kritik der Umwelt, an die Sprache das
Kunstwerk zu zedieren neigt. Unbestechlich hat Karl Kraus, der
dem Expressionismus feind war und damit der umstandslosen
Vormacht des Ausdrucks über das Zeichen in der Sprache, dennoch
nichts von der Differenz der dichterischen Sprache von der
mitteilenden nachgelassen. Ausdauernd strengt sein oeuvre sich an,
künstlerische Autonomie der Sprache herzustellen, ohne ihrem
anderen Aspekt, dem mitteilenden, der von der Überlieferung nicht
zu trennen ist, Gewalt anzutun. Die Expressionisten aber trachteten,
über den Schatten zu springen. Sie haben rücksichtslos den Primat
des Ausdrucks verfochten. Ihnen schwebte vor, die Worte rein als
Ausdrucksvaleurs wie Farben- oder Tonrelationen in Malerei und
Musik zu verwenden. Der expressionistischen Idee leistete die
Sprache so zähen Widerstand, daß sie außer bei den Dadaisten kaum
je ganz sich realisierte. Kraus behielt insofern recht, als er, gerade
vermöge seiner schrankenlosen Hingabe an das, was die Sprache als
objektiver Geist jenseits der Kommunikation will, dessen
innewurde, daß sie ihres signifikativen Moments, der Begriffe und
Bedeutungen, nicht ganz sich entledigen kann. Der Dadaismus
wollte denn auch nicht Kunst, sondern Attentate auf diese.
Vielleicht ist keine optische Konfiguration vorzustellen, die nicht
durch sei's auch noch so entfernte Ähnlichkeit mit der Dingwelt an
diese gefesselt bliebe. Analog trägt alles Sprachliche, selbst bei
äußerster Reduktion auf den Ausdruckswert, die Spur des
Begrifflichen. Angesichts jenes untilgbaren Rests von starrer,
objektiv diktierter Eindeutigkeit hat das Expressive seinen Zoll an
Willkür und Beliebigkeit zu entrichten. Je eifriger Dichtung ihrer
dem Formgesetz fremden, von seiner inneren Organisation her nie
ganz zu bestimmenden Verwandtschaft mit der empirischen Welt zu
entrinnen sucht, desto mehr exponiert sie sich dem, was den
literarischen Expressionismus zum Veralten verurteilte, ehe er nur
recht seinen Augenblick hatte. Um reiner Ausdruck, ja um
überhaupt ein rein dem eigenen Impuls Gehorchendes zu werden,
muß solche Dichtung sich mühen, ihr begriffliches Element
abzuschütteln. Darum Mallarmés berühmter Einwand gegen den
großen Maler Degas, als dieser ihm sagte, er habe einige gute Ideen
für Sonette: aber Gedichte macht man doch nicht aus Gedanken
sondern aus Worten. In der vorigen Generation haben Antipoden
wie Karl Kraus und Stefan George gleichermaßen den Roman
verworfen, aus Aversion gegen das Amusische des
gegenständlichen Überschusses in der Dichtung, den doch eigentlich
die Begriffe bereits in die Lyrik hineinschleppen. Der Begriff selber,
die Merkmaleinheit alles jeweils unter ihm Befaßten, das der
Empirie angehört und nicht in den Bann des Werkes fällt, hat vor
aller Erzählung von der Welt etwas Kunstfeindliches. Nicht umsonst
entstammt das Wort Sprachkunstwerk erst einer überaus späten
Phase, und sensible Ohren werden ein leise Ungemäßes darin nicht
überhören. Dennoch sind die Begriffe der Sprache unabdingbar.
Noch der stammelnde Laut, soweit er Wort ist und nicht Ton, behält
seinen begrifflichen Umfang, und vollends der Zusammenhang
sprachlicher Gebilde, durch den allein sie zu einem künstlerischen
Einen sich organisieren, kann des begrifflichen Elements kaum
entraten.
Nachträglich nehmen unter diesem Aspekt selbst die
authentischesten Werke etwas Vorkünstlerisches, gewissermaßen
Informatorisches an. Dichtung tastet danach, ohne
expressionistische Don Quixoterie mit dem begrifflichen Moment
sich abzufinden, nicht aber ihm sich zu überantworten.
Rückblickend wäre einzuräumen, eben das habe große Dichtung von
je getan, ja sie danke ihre Größe gerade der Spannung zu jenem ihr
heterogenen Moment. Sie werde zum Kunstwerk in der Reibung am
Außerkünstlerischen; sie transzendiere es, und sich selber, indem sie
es achtet. Aber durch die unaufhaltsame Reflexion der Geschichte
wird diese Spannung, und die Aufgabe sie auszutragen, thematisch.
Wer noch blind dem Doppelcharakter von Sprache als Zeichen und
Ausdruck sich anvertraute, als wäre er gottgewollt, der würde auf
dem gegenwärtigen Stand der Sprache selbst Opfer der bloßen
Mitteilung. Die Grenzscheide sind die beiden Epopöen von James
Joyce. Er verschmilzt die Intention auf eine streng im Innenraum
des Kunstwerks organisierte Sprache – und dieser Innenraum, nicht
der psychologische, war die legitime Idee des monologue intérieur –
mit der großen Epik, mit dem Drang, jenen der Kunst gegenüber
transzendenten Gehalt, durch den sie erst zur Kunst wird, inmitten
ihres dicht verschlossenen Immanenzzusammenhangs festzuhalten.
Wie Joyce beides zum Einstand bringt, macht seinen
außerordentlichen Rang aus, die erhobene Mitte zwischen zwei
Unmöglichkeiten, der des Romans heute und der von Dichtung als
reinem Laut. Sein prüfender Blick hat einen Riß im Gefüge der
signifikativen Sprache erspäht, wo sie dem Ausdruck
kommensurabel würde, ohne daß der Dichter den Kopf in den Sand
zu stecken brauchte und sich zu benehmen, als wäre Sprache Musik
unmittelbar. Ihm zeigte sich diese Lücke im Licht der
fortgeschrittenen Psychologie, der Freudischen. Die radikale
Konstitution des ästhetischen Innenraums ist durch die Beziehung
auf den des Subjekts vermittelt, in dem sie sich doch nicht erschöpft.
Im Bereich der abgespaltenen Subjektivität befreit das Werk sich
von dem, was ihm selber äußerlich ist, was seinem Kraftfeld sich
entzieht. Erst durch Subjektivierung wird die Objektivation des
Kunstwerks, als einer in sich durchgeformten Monade, recht
möglich. Subjektivität macht sich zu dem, was sie rudimentär stets
war, seit Kunstwerke eigenen Gesetzes existieren, zu deren Medium
oder zu deren Schauplatz. Im Prozeß der ästhetischen Objektivation
dann jedoch sinkt Subjektivität, der Inbegriff beredter Erfahrungen,
selber herab zum Rohmaterial, einer zweiten Auswendigkeit, die
von dem Kunstwerk aufgezehrt wird. Durch Subjektivierung
hindurch konstituiert es sich als eine Realität sui generis, in der das
Wesen der Realität draußen widerscheint. Das ist ebenso die
geschichtliche Bahn der Moderne wie der zentrale Vorgang in
jedem einzelnen Werk. Die Kräfte, welche die Objektivation
bewirken, sind die gleichen, durch welche das Werk der Empirie
gegenüber, von der es nichts unverwandelt in sich duldet, Stellung
bezieht und zu ihr sich verhält. Im übrigen sind deren Elemente in
den vermeintlich bloß subjektiven Materialien, an welchen der
Prozeß sich ereignet, zerstreut enthalten.
Entäußert der sprachliche Ausdruck nicht gänzlich sich der
Begriffe, so gleichen umgekehrt diese nicht, wie die positivistische
Wissenschaft es propagiert, den Definitionen ihrer Bedeutungen.
Die Definitionen sind selber Resultate einer Verdinglichung, eines
Vergessens; nie das, was sie am eifrigsten sein möchten: dem voll
adäquat, worauf die Begriffe gehen. Die fixierten Bedeutungen sind
herausgebrochen aus dem Leben der Sprache. Dessen Rudimente
aber sind die in den begrifflichen Bedeutungen nicht aufgehenden,
gleichwohl mit zarter Notwendigkeit an die Worte sich
anschließenden Assoziationen. Gelingt es der Dichtung, in ihren
Begriffen die Assoziationen zu erwecken und mit ihnen das
signifikative Moment zu korrigieren, so beginnen die Begriffe, jener
Konzeption zufolge, sich zu bewegen. Ihre Bewegung soll zur
immanenten des Kunstwerks werden. Den Assoziationen ist mit so
feinen Ohren nachzugehen, daß sie den Worten selbst sich
anschmiegen und nicht bloß dem zufälligen Individuum, das sie
hantiert. Der subkutane Zusammenhang, der aus ihnen sich bildet,
hat den Vorrang vor der Oberfläche des diskursiven Inhalts von
Dichtung, ihrer kruden Stoffschicht, ohne daß diese doch ganz
verschwände. In Joyce verbindet sich die Idee einer objektiven
Physiognomik der Worte kraft der ihnen innewohnenden
Assoziationen mit einem Atem des Ganzen, der in diese
Assoziationen umgesetzt, tendenziell nicht von außen anbefohlen
wird. Seine Position hat zugleich jener Unerreichbarkeit der
gegenständlichen Welt fürs ästhetische Subjekt Rechnung getragen,
die weder durch reumütig realistische Gesinnung rückgängig zu
machen noch, in verblendetem Solipsismus, absolut zu setzen ist.
Indem Dichtung als Ausdruck sich zu dem der für sie zerfallenen
Realität macht, drückt sie deren Negativität aus.
Die autonome Durchformung des literarischen Produkts stellt,
monadologisch, Gesellschaftliches vor, ohne darauf hinzuschielen;
vieles spricht dafür, daß das aktuelle Kunstwerk die Gesellschaft um
so genauer trifft, je weniger es von ihr handelt oder gar auf
unmittelbare gesellschaftliche Wirkung, sei es die des Erfolgs, sei es
die praktisch eingreifende, hofft. Zersetzt bei Joyce, und eigentlich
schon in Prousts Roman, sich das empirische Zeitkontinuum, weil
die biographische Einheit von Lebensläufen dem Formgesetz
äußerlich und der subjektiven Erfahrung, an der es sich schult,
unangemessen ist, so konvergiert eine solche literarische
Verfahrungsweise, also genau das, was nach östlicher Redeweise
formalistisch hieße, mit der Zersetzung des Zeitkontinuums in der
Realität, dem Absterben von Erfahrung, das schließlich zurückgeht
auf den zeitfremd technifizierten Prozeß der Produktion materieller
Güter. Derlei Konvergenzen erweisen den Formalismus als den
wahren Realismus, während Prozeduren, die anordnungsgemäß das
Reale spiegeln, dadurch eine nichtexistente Versöhntheit der
Realität mit dem Subjekt vortäuschen. Realismus in der Kunst ist
Ideologie geworden, so wie die Gesinnung sogenannter realistischer
Menschen, die nach den nun einmal bestehenden Institutionen, ihren
Desideraten und Angeboten sich richten, dadurch nicht, wie sie es
sich einbilden, von Illusionen frei werden, sondern einzig an dem
Schleier mitweben, den der Zwang der Verhältnisse, als Schein ihrer
Naturgegebenheit, um jene legt.
Proust hatte das mildere Mittel der unwillkürlichen Erinnerung
benutzt, die ja mit den Freudischen Assoziationen manches teilt.
Joyce macht diese für die Spannung zwischen Ausdruck und
Bedeutung fruchtbar, indem die Assoziation sich an die Bedeutung
von freilich meist aus ihrem Urteilskontext isolierten Worten heftet,
ihren Gehalt aber vom Ausdruck – zunächst dem des Unbewußten –
empfängt. An der Lösung jedoch ist auf die Dauer ein
Unzulängliches nicht zu verkennen. Bei Proust kommt es daran
zutage, daß, entgegen dem Vorsatz, im ausgeführten Gewebe der
Recherche die authentischen unwillkürlichen Erinnerungen
gegenüber weit handfesteren Elementen von Psychologie und
Romantechnik sehr zurücktreten. Proust selbst, und vollends seine
Ausleger, haben den Geschmack der in Tee getauchten Madeleine
so sehr überanstrengt, weil jene Erinnerungsspur als eine der
wenigen im Werk dem aus Bergson herausgelesenen Programm
genügt. Joyce, der Jüngere, verfährt weniger behutsam mit der
empirischen Realität. Er spinnt die Assoziationen so weit aus, bis sie
vom diskursiven Sinn sich emanzipieren. Dafür hat er zu zahlen:
nicht stets wird die Assoziation als notwendig evident, oft bleibt sie
zufällig wie ihr Substrat, das psychologische Individuum. Das
Hegelsche Philosophem, es sei das Besondere das Allgemeine, das
seiner Spekulation durch zahllose Vermittlungen als Frucht zufällt,
wird zum Risiko, wenn das literarische Gebilde es buchstäblich
nimmt. Manchmal glückt es, manchmal nicht. Proust wie Joyce
lassen auf dies Risiko in heroischer Anstrengung sich ein. Ihre
Selbstreflexion kontrolliert den Verlauf des Unwillkürlichen im
Text, um nur solches Zufällige zu tolerieren, dessen Notwendigkeit
zugleich einleuchtet. Nicht anders hat in der neuen Musik, auf der
Höhe der freien Atonalität, der Schönberg der ›Erwartung‹ dem
Triebleben der Klänge nachgehört und es dadurch vor dem behütet,
womit die spätere Kunst sich selbst kompromittierte, als die Parole
des Automatischen beliebt ward. Das Gehör, das jene Klänge und
ihre Folge mitvollzieht, wird zu der Instanz, die über ihre konkrete
Logik entscheidet. In keinem ästhetischen Medium hat auf diesem
Indifferenzpunkt zwischen äußerster Passivität und äußerster
Anspannung sich beharren lassen. Der Grund ist wahrscheinlich
nicht einmal, daß die darin liegende Zumutung die Fähigkeit des
produktiven Ingeniums überschritte. Gewiß hat der Philister unrecht,
der tönt, nach dem extremen Pendelschlag von ungebundenem
Subjektivismus sei Besinnung auf eine mittlere Objektivität an der
Zeit, die eben als mittlere in Wahrheit bereits sich selbst richtet.
Vielmehr wird wohl alle avancierte Kunst nach dem zweiten
Weltkrieg bewogen, jene Position zu verlassen, weil die
Notwendigkeit, bei der das Subjekt ganz dabei ist, die eins wäre mit
seiner lebendigen Spontaneität, ein Moment des Trugs enthält.
Gerade wo die Freiheit des künstlerischen Subjekts sich geborgen
dünkt, sind seine Reaktionsweisen determiniert durch die Macht, die
eingeschliffene Formen der ästhetischen Verfahrungsweise über es
ausüben. Was das Subjekt als seine autonome Leistung, die der
Objektivation fühlt, enthüllt sich im Rückblick auf mehr denn
dreißig Jahre als durchsetzt mit historischen Rückständen. Sie sind
aber mit der immanenten Tendenz des Materials selbst, des
sprachlichen nicht anders als des musikalischen oder malerischen,
nicht länger vereinbar. Was einst Logik verbürgen wollte, wird als
obsolet zum Flecken, zum Falschen; Hypothek des Traditionalismus
in einer Kunst, die von der traditionellen am drastischesten dadurch
sich unterscheidet, daß sie gegen Rudimente des Traditionellen
empfindlich geworden ist, wie die traditionelle gegen die Dissonanz
es war. Bereits die Konzeption der Zwölftontechnik in der Musik
wollte die traditionalistische Last des subjektiven Gehörs, etwa die
Gravitation von Leitton und Kadenz, abschütteln. Was folgte, hat
registriert, daß man nun wiederum einen Rückfall in überholte und
ungemäße Formen in den Kategorien der Objektivation witterte, die
der spätere Schönberg aufrichtete. Man wird das wohl, ohne auf
geistesgeschichtliche Gemeinplätze sich zu verirren, auf die
Literatur übertragen dürfen.
Helmsens Experiment – und das diffamierende Wort
Experiment ist positiv zu wenden; nur als experimentierende, nicht
als geborgene hat Kunst überhaupt noch ihre Chance – basiert
technisch auf derlei Erfahrungen und Erwägungen. Er nimmt Joyce
gegenüber ein ähnliches Interesse wahr wie die serielle Musik und
Theorie, der er nahe steht, gegenüber freier Atonalität und
Zwölftontechnik. Daß FA: M'AHNIESGWOW von Finnegans
Wake herstammt, liegt auf der Hand. Helms versteckt das nicht im
mindesten, wie denn Tradition heute ihren Ort nur in der avancierten
Produktion hat. Wesentlicher sind die Differenzen. Er macht
literarisch denselben Schritt wie die jüngste Musik und bietet
dasselbe Ärgernis. Während seine Strukturen Raum und Material
äußerster Subjektivierung verdanken, erkennen sie den Primat des
Subjekts, das Kriterium seines lebendigen Mitvollzugs nicht mehr
an. Vollends weigern sie sich dem Cliché des Schöpferischen, das
ohnehin vor menschlichem Werk nur Hohn ist. Notwendigkeit
inmitten des subjektiv konstituierten Bereichs wird tendenziell vom
Subjekt losgesprengt, ihm entgegengesetzt. Die Konstruktion
versteht sich nicht mehr als Leistung der spontanen Subjektivität,
ohne die sie freilich gar nicht zu denken wäre, sondern will aus dem
durchs Subjekt je schon vermittelten Material herausgelesen
werden. Benutzt bereits Joyce in verschiedenen Teilen verschiedene
Sprachkonfigurationen, -schichten, Grade der Diskursivität, die
gegeneinander abgewogen sind, so werden solche zuvor erst
desultorischen Strukturelemente bei Helms beherrschend. Das
Ganze ist in Strukturen komponiert, jeweils aus einer Reihe von
Dimensionen, oder, nach der Terminologie der seriellen Musik,
Parametern gefügt, die selbständig oder kombiniert oder nach Stufen
geordnet auftreten. Die Affinität dieses Verfahrens zum seriellen der
Musik mag ein Modell erläutern. Die Krise des
Sinnzusammenhangs als eines phänomenal, in der Tuchfühlung
seiner Teile wahrnehmbaren Ganzen hat die seriellen Komponisten
nicht dazu verführt, den Sinn einfach zu liquidieren. Stockhausen
hält ihn, den unmittelbar apperzipierbaren Zusammenhang, als einen
Grenzwert fest. Von ihm führte ein Kontinuum bis zu solchen
Strukturen, die der gewohnten Weise des Sinn Hörens, also der
Illusion der Notwendigkeit von Klang zu Klang, sich versagen. Sie
lassen nur noch etwa so sich auffassen, wie das Auge die Fläche
eines Bildes als ganze überschaut. Analog steht die Konzeption von
Helms zum diskursiven Sinn. Sein Kontinuum reicht von quasi
erzählenden, an der Oberfläche verständlichen Teilen bis zu
solchen, in denen die phonetischen Valeurs, die reinen
Ausdrucksqualitäten, die semantischen, die Bedeutungen ganz
überwiegen. Der Konflikt von Ausdruck und Bedeutung in der
Sprache wird nicht, wie von den Dadaisten, schlicht zugunsten des
Ausdrucks entschieden. Er wird als Antinomie respektiert. Aber das
literarische Gebilde findet sich mit ihm nicht als mit einem
ungebrochenen Ineinander ab. Es polarisiert ihn zwischen Extremen,
deren Folge selber Struktur ist, also das Gebilde formt.
Auch das Moment des Zufälligen, das der von Helms ererbten
Assoziationstechnik des Sprachgefüges bei Joyce innewohnt, fällt
nicht der Konstruktion zum Opfer. Diese sucht zu leisten, was die
Assoziation allein nicht leisten konnte, und wofür früher in der
Dichtung, tant bien que mal, die diskursive Sprache zu sorgen
schien. Die Strukturierung sowohl der einzelnen Komplexe wie
ihres Verhältnisses zueinander möchte immanent jene
Gesetzlichkeit des literarischen Gebildes garantieren, die ihm weder
die ihm entfremdete Empirie noch das unverbindliche
Assoziationsspiel gewährt. Aber das Gebilde ist frei von der
Naivetät, darum den Zufall als beseitigt einzuschätzen. Er überlebt
ebenso in der Wahl der Strukturen wie im Mikrobereich der
einzelnen sprachlichen Konfigurationen. Deshalb wird Zufälligkeit
selbst – wiederum analog zur seriellen Komposition – zu einem der
Parameter des Werkes gemacht, dem am anderen Extrem der
vollkommener Durchorganisation entspräche. Aus der Zufälligkeit,
zu der im Stande des konsequenten ästhetischen Nominalismus die
Universalia herabgesunken sind, soll ein Kunstmittel werden.
Jenes Moment der sich selbst hervorhebenden Zufälligkeit, als
des nicht gänzlichen Dabeiseins des Subjekts im Werk, ist das
eigentlich Schockierende an den jüngsten Entwicklungen, im
Tachismus nicht anders als in der Musik und literarisch. Wie meist
Schocks, zeugt auch dieser von einer alten Wunde. Denn die
Versöhntheit von Subjekt und Objekt, eben das vollkommene
Dabeisein des Subjekts im Kunstwerk, war immer auch Schein, und
wenig fehlt, daß man diesen Schein dem ästhetischen schlechthin
gleichsetzen möchte. Zufällig waren im Kunstwerk, unter dem
Aspekt seines Formgesetzes, nicht nur die ihm selbst transzendenten
Gegenstände, die es, nach der barbarischen Redeweise, behandelte.
Auch die Notwendigkeiten seiner eigenen Logik hatten etwas
Fiktives. Ein Stück Täuschung steckte darin, daß notwendig sei, was
es doch als Spiel nicht ganz ist; nie gehorchen Kunstwerke in sich
derselben Kausalität wie Natur und Gesellschaft. Zufällig aber ist
schließlich die konstitutive Subjektivität selbst, die dabei sein will,
und auf die das Kunstwerk notwendig sich zurücknimmt. Die
Notwendigkeit, die das Subjekt anbefiehlt, um in der Sache
gegenwärtig zu sein, wird erkauft mit den Schranken einer
Individuation, von der das Moment der Beliebigkeit nicht sich
wegdenken läßt. Das Ich, als das Unmittelbare, Nächste der
Erfahrung, ist nicht deren wesentlicher Gehalt; von Erfahrung wird
es entblättert als ein Abgeleitetes. Während die traditionelle Kunst
solche subjektive Zufälligkeit im Werk, und selbst seinem eigenen
Gesetz gegenüber, sei es abschaffen, sei es wenigstens vertuschen
wollte, stellt die neue sich der Unmöglichkeit des einen und der
Lüge des anderen. Anstatt daß Zufälligkeit über den Kopf des
Werkes hinweg triumphierte, gesteht sie sich als unabdingbares
Moment ein und hofft, damit etwas von der eigenen Fehlbarkeit
loszuwerden. Auch kraft solcher hineingenommenen Zufälligkeit
arbeitet hermetische Kunst, welche die Realisten verdammen, ihrem
Scheincharakter entgegen und nähert der Realität sich an. Von je
war die Bereitschaft von Werken, der Zufälligkeit des Lebens sich
zu öffnen, anstatt sie durch die Dichte ihres Sinnzusammenhangs
auszutreiben, das Ferment dessen, was bis zur Schwelle der
Moderne als Realismus figurierte. Das Zufallsprinzip ist das
Bewußtsein des Realismus von sich selbst im Augenblick seiner
Lossage von der empirischen Realität. Ihm kommt zustatten, daß
ästhetisch alles in sich ganz Konsequente, wäre es auch die strikte
Negation von Sinn durch den Zufall als Prinzip, etwas wie einen
Sinnzusammenhang zweiter Potenz stiftet. Das erlaubt es, ihn mit
anderen ästhetischen Elementen in ein Kontinuum einzubringen.
Was nicht länger beansprucht, dem Formgesetzt untertan zu sein,
stimmt, nach der Arbeitshypothese solcher Produktion, mit diesem
zusammen.
Sie widerstrebt einer sehr verbreiteten Ansicht über die neue
Kunst: daß die konstruktiven Richtungen – in der Malerei der
Kubismus und was an ihn anschloß – und die subjektiv-expressiven
– also Expressionismus und Surrealismus – bloße Gegensätze, zwei
divergente Möglichkeiten des Verfahrens wären. Beide Momente
sind nicht durch äußerliche Synthese verkoppelt, sondern gehen in
sich ineinander über: das eine wäre nicht ohne das andere.
Reduktion auf den reinen Ausdruck allein schafft Raum für eine
autonome Konstruktion, die keiner der Sache äußerlichen Schemata
mehr sich bedient, und bedarf der Konstruktion zugleich, um den
reinen Ausdruck gegen seine Kontingenz zu festigen. Konstruktion
aber wird zur künstlerischen – im Gegensatz zur
buchstäblich-mathematischen von Zweckformen – nur dadurch, daß
sie an Heterogenem, ihr gegenüber Irrationalem, gleichsam
Stofflichem sich sättigt; sonst bliebe sie zum Leerlauf verurteilt.
Nach der Sprache der Psychoanalyse gehörten im emanzipierten
Werk Ausdruck und Konstruktion so zusammen wie Es und Ich.
Was Es ist, soll Ich werden, sagt die neue Kunst mit Freud. Aber das
Ich ist von seiner Kardinalsünde, der blinden, sich selbst
verzehrenden und das Naturverhältnis ewig wiederholenden
Herrschaft über die Natur nicht zu heilen, indem es auch die
inwendige Natur, das Es sich unterwirft, sondern indem es mit dem
Es sich versöhnt, wissend und aus Freiheit es dorthin begleitet,
wohin es will. Wie der richtige Mensch nicht der wäre, welcher den
Trieb unterdrückt, sondern einer, der ihm ins Auge sieht und ihn
erfüllt, ohne ihm Gewalt anzutun und ihm als einer Gewalt sich zu
beugen, so müßte das richtige Kunstwerk heute zu Freiheit und
Notwendigkeit modellhaft sich verhalten. Das mochte dem
Komponisten Ligeti vorschweben, als er auf den dialektischen
Umschlag totaler Determiniertheit und totaler Zufälligkeit in der
Musik aufmerksam machte. Nicht weitab davon dürfte die Intention
von Helms sein. Sie zielt, wenn einmal literarhistorisch zu reden
gestattet ist, auf etwas wie einen zu sich selbst gekommenen, seiner
selbst bewußten, in sich folgerechten und durchorganisierten Joyce.
Sicherlich wäre Helms der letzte, zu prätendieren, er habe diesen
überholt oder, wie das beliebt-abscheuliche Wort lautet,
überwunden. Die Geschichte der Kunst ist kein Boxkampf, in dem
das Jüngere das Ältere zu Boden schlägt; auch in der avancierten, in
der ein Werk das andere zu kritisieren scheint, geht es nicht so
agonal her. Nicht weniger töricht, als einer seriellen Komposition
nachzurühmen, sie sei besser als die mehr als fünfzig Jahre alte
›Erwartung‹ von Schönberg, wären derlei Fanfaren in der Literatur.
Größere Konsequenz ist nicht identisch mit höherer Qualität. Die
triftige Frage jedoch, ob der Fortschritt der Materialbeherrschung
nicht allzu teuer bezahlt werde; ob nicht die Authentizität von
Schönberg oder Joyce gerade von der Spannung ihres nicht vollends
eingeschmolzenen Gehalts zu Material und Verfahrungsweise
herrührt, vermag nicht die künstlerische Praxis zu retardieren. Diese
hat keine Wahl, als folgerecht, unbestechlich, ohne nach rückwärts
zu blicken, Bedürfnisse einzulösen, die in den älteren Werken
unerfüllt blieben. Sie kann nur hoffen, durch ihre eigene
Konsequenz etwas von deren Fluch zu tilgen, so wie es im
Verhältnis von Konstruktion und Zufall sich anmelden mag. Sie
kann aber nicht im Gedanken an die Kraft des noch nicht ganz
Konsequenten auf eine geschichtlich vergangene Position sich
zurückbegeben. Eher müßte sie Qualitätsverlust in den Kauf
nehmen; ohnehin herrscht nie prästabilierte Harmonie zwischen der
Intention und der Qualität. Spannung zu einem ihnen Heteronomen
ist das Eine, was die Kunstwerke von sich aus nicht wollen können
und wovon alles abhängt. Zu ihr ist geworden, was einmal das
Begnadete der Werke hieß, der Wahrheitsgehalt, über den sie selber
keine Macht haben.
Technisch entfernt Helms sich vom Joyceschen Verfahren,
indem er die psychologischen Wortassoziationen, die nicht
vermieden werden, einem Kanon unterwirft. Er stammt aus dem
Vorrat des objektiven Geistes, den Beziehungen und
Querverbindungen von Worten und ihren Assoziationsfeldern in
verschiedenen Sprachen. Sie spielten schon in Finnegans Wake
herein, gehorchen aber nun dem Konstruktionsplan. Ein
philologisch gelenkter Assoziationszusammenhang, und damit
tendenziell ein aus dem Material der Sprache geschöpfter, möchte
anstelle des Typus der Assoziation treten, der aus der
psychoanalytischen Methode vertraut ist, wenn sie die Worte als
Schlüssel zum Unbewußten verwendet. Ähnliche Funktion gewinnt
die Philologie auch bei Beckett. Helms aber ambitioniert dabei nicht
weniger, als aus dem monologue intérieur auszubrechen, dessen
Struktur das Urbild des Ganzen ist, der aber nun selbst nicht länger
das Gesetz des literarischen Gebildes abgibt, sondern Material. Die
eigentlich exzentrischen Züge des Experiments von Helms, an
denen, wie stets in der Kunst, die differentia specifica seines
Ansatzes von anderen sich erkennen läßt, resultieren daraus. Er ist
etwas wie eine Parodie des poeta doctus aus dem siebzehnten
Jahrhundert, die polemische Antithese zu der mittlerweile zum
Schwindel verkommenen imago des Dichters als dessen, der den
Ursprüngen lauscht. Er erwartet die Kenntnis der von ihm benutzten
und verschlüsselten Sprachbestandteile und Realien. Haben von
jeher Dichtungen im Kommentar sich entfaltet, so ist diese auf den
Kommentar angelegt wie jene deutschen Barockdramen, denen die
gelehrten Schlesier ihre Scholien hinzufügten. Auch das steigert
bestürzend eine Qualität, die in der Moderne längst präformiert war;
außer bei Joyce selbst, dessen Finnegan seines Bedürfnisses nach
Erläuterungen nicht sich schämt, schon bei Eliot und Pound.
Provoziert wird der Einwand der Übersetzbarkeit. Die Handlung,
die aus FA: M'AHNIESGWOW diskursiv herauszuschälen ist, die
erotischen Situationen zwischen Michael und Helène, sind
keineswegs so unkonventionell, daß sie primär derart schwierige
Veranstaltungen erheischten. König schon hat angedeutet, daß der
Parameter Inhalt mit dem technischen noch nicht Schritt hält: er
erklärt das mit der Jugend des Autors. Warum aber verschlüsseln,
was nach dem Herkommen sich erzählen ließe? Der Einwand
entspringt einer um den Begriff des Symbols geordneten Ästhetik.
Er attackiert den Überschuß von Bedeutungen über das nach den
Normen jener Ästhetik anschaulich Gestaltete. Gerade auch der
hermetische Anspruch werde dadurch desavouiert, daß das Werk,
um sich selber in sich zu entfalten, verwiesen bleibe auf das, was es
von sich aus nicht leistet. Soviel jedenfalls darf dem entgegnet
werden, daß jenes nicht Aufgehen in der Sache, verwandt dem Geist
der Allegorie, dieser Sache wesentlich sei. Wie die Konzeption des
Kunstwerks als eines in sich einstimmigen Sinnzusammenhangs
wird auch die Fiktion der Einstimmigkeit seiner Gestalt, seiner
reinen immanenten Geschlossenheit herausgefordert, die keinen
anderen Rechtsgrund hätte denn jenen Sinnzusammenhang. Die
unmittelbare Identität von Anschaulichkeit und Intention, die in der
traditionellen Kunst prätendiert, aber, mit Grund, nie realisiert ward,
ist mit Grund drangegeben. Durch den Abbruch der
Kommunikation, durch seine eigene Geschlossenheit kündigt das
hermetische Kunstwerk Geschlossenheit, die den früheren Werken
das verlieh, was sie darstellten, ohne es selber ganz zu sein. Das
hermetische Werk jedoch formt in sich den Bruch aus, der der ist
zwischen der Welt und dem Werk. Das brüchige Medium, das
Ausdruck und Bedeutung nicht verschmilzt, nicht das eine dem
anderen opfernd integriert, sondern beide zur unversöhnlichen
Differenz treibt, wird zum Träger des Gehalts, des Brüchigen,
Sinnfernen. Der Bruch, den das Gebilde nicht überbrückt, sondern
liebend und hoffend zum Agens seiner Form macht, ist übrig als
Figur des ihm transzendenten Gehalts. Sinn drückt es aus durch
Askese gegen den Sinn.
 Parataxis
 
Zur späten Lyrik Hölderlins
Peter Szondi gewidmet
 
Seitdem die Georgeschule die Ansicht von Hölderlin als einem
stillen und feinen Nebenpoeten mit rührender vita zerstört hat,
wuchs fraglos wie der Ruhm auch das Verständnis sehr an. Grenzen,
welche die Erkrankung des Dichters dem hymnischen Spätwerk
gegenüber zu setzen schien, wurden weit hinausgerückt. Die
Rezeption Hölderlins in der neueren Lyrik seit Trakl trug von sich
aus dazu bei, das Fremde, bestimmend in ihr selbst, im Urbild
vertraut zu machen. Der Prozeß war keiner bloßer Bildung. Aber der
Anteil der philologischen Wissenschaft daran läßt nicht sich
verkennen. Muschg hat in seinem Angriff auf die tagesüblichen
metaphysischen Interpretationen dies Verdienst, unter Nennung von
Friedrich Beissner, Kurt May, Emil Staiger, mit Recht
hervorgehoben und der Beliebigkeit des marktgängigen Tiefsinns
entgegengehalten. Rügt er freilich an den philosophischen
Interpreten, sie wollten es besser wissen als der Gedeutete: – »sie
sprechen aus, was er nach ihrer Meinung nicht zu sagen wagte oder
zu sagen vermochte« 1 –, so bringt er damit ein Axiom ins Spiel, das
die philologische Methode gegenüber dem Wahrheitsgehalt
beschränkt und das nur allzu gut harmoniert mit der Warnung, über
die »schwierigsten Texte«, den »geisteskranke[n] Hölderlin, Rilke,
Kafka, Trakl« 2 sich herzumachen. Die Schwierigkeit dieser
ungleichnamigen Autoren verbietet nicht sowohl die Interpretation,
als daß sie sie erheischt. Jenem Axiom zufolge bestünde die
Erkenntnis von Dichtungen in der Rekonstruktion des jeweils vom
Autor Intendierten. Der feste Boden, den die philologische
Wissenschaft daran zu besitzen meint, schwankt indessen. Die
subjektive Intention ist, soweit sie nicht sich objektivierte, kaum
wiederherstellbar; allenfalls soweit, wie Entwürfe und angrenzende
Texte sie beleuchten. Gerade dort jedoch, wo es gilt: wo die
Intention verdunkelt ist und der philologischen Konjektur bedarf,
werden im allgemeinen die fraglichen Stellen von den durch
Parallelen zu belegenden mit Grund abweichen, und Konjekturen
versprechen wenig, wofern sie nicht selber schon an einem ihnen
Vorgängigen, Philosophischen, Halt haben; zwischen beidem
herrscht Wechselwirkung. Vor allem aber erschöpft der
künstlerische Prozeß, der von jenem Axiom, wie wenn insgeheim
stets noch der Bann der Diltheyschen Methode waltete, als
Königsweg in die Sache betrachtet wird, keineswegs derart sich in
der subjektiven Intention, wie das Axiom stillschweigend
supponiert. Die Intention ist darin ein Moment: sie verwandelt sich
zum Gebilde nur, indem sie an anderen Momenten sich abarbeitet,
dem Sachgehalt, dem immanenten Gesetz des Gebildes und – zumal
bei Hölderlin – der objektiven Sprachgestalt. Zur Kunstfremdheit
des Feinsinns rechnet es, dem Künstler alles zuzutrauen; die
Künstler selbst indessen werden durch ihre Erfahrung darüber
belehrt, wie wenig ihr Eigenes ihnen gehört, in welchem Maß sie
dem Zwang des Gebildes gehorchen. Es wird desto vollkommener
gelingen, je spurloser die Intention in dem Gestalteten aufgehoben
ist. »Dem Begriff des Ideals gemäß«, lehrt Hegel, könne man »von
Seiten der subjektiven Äußerung die wahre Objektivität dahin
feststellen, daß von dem ächten Gehalt des Gegenstandes, der den
Künstler begeistert, nichts in dem subjektiven Inneren
zurückbehalten, sondern Alles vollständig und zwar in einer Weise
entfaltet werden muß, in welcher die allgemeine Seele und Substanz
des erwählten Gehalts ebenso sehr hervorgehoben als die
individuelle Gestaltung desselben in sich vollendet abgerundet, und
der ganzen Darstellung nach von jener Seele und Substanz
durchdrungen erscheint. Denn das Höchste und Vortrefflichste ist
nicht etwa das Unaussprechbare, so daß der Dichter in sich noch
von größerer Tiefe wäre, als das Werk darthut, sondern seine Werke
sind das Beste des Künstlers, und das Wahre, was er ist, das ist er,
was aber nur im Innern bleibt, das ist er nicht.« 3 Fordert Beissner,
unter legitimer Anspielung auf theoretische Sätze Hölderlins, man
solle das Gedicht beurteilen »nach seinem gesetzlichen Kalkul und
sonstiger Verfahrungsart, wodurch das Schöne hervorgebracht
wird« 4 , so ruft er damit, wie Hegel und dessen Freund, eine Instanz
an, welche über des Dichters Sinn, die Intention, notwendig
hinausweist. Die Kraft dieser Instanz steigt in der Geschichte an.
Was in den Werken sich entfaltet und sichtbar wird; wodurch sie an
Autorität gewinnen, ist nichts anderes als die objektiv in ihnen
erscheinende Wahrheit, welche die subjektive Intention als
gleichgültig unter sich läßt und sie verzehrt. Hölderlin, dessen
eigener subjektiver Ansatz bereits gegen den herkömmlichen
Begriff subjektiver Ausdruckslyrik sich auflehnt, hat solche
Entfaltung beinahe vorgedacht. Die Verfahrungsweise seiner
Interpretation dürfte selbst nach philologischem Maß so wenig in
der approbiert philologischen aufgehen wie die späten Hymnen in
der Erlebnislyrik.
Beissner hat etwa dem ›Winkel von Hardt‹, keinem der
schwierigsten Gedichte, eine kurze Erläuterung beigefügt. Am Stoff
klärt sie das Dunkle auf. Der jäh genannte Name Ulrich ist der des
verfolgten Herzogs von Württemberg. Zwei Felsplatten bilden den
»Winkel«, den Spalt, in dem jener sich versteckte. Das Ereignis, das
der Sage nach dort sich zutrug, soll aus der Natur sprechen, die
darum »nicht gar unmündig« genannt wird. Nachlebende Natur wird
zur Allegorie des Schicksals, das an der Stelle einmal stattfand:
einleuchtend Beissners Erklärung der Rede vom »übrigen« als dem
übrig gebliebenen Ort. Die Idee einer allegorischen Naturgeschichte
jedoch, die hier aufblitzt und das gesamte Spätwerk Hölderlins
durchherrscht, bedürfte selbst, als philosophische, ihrer
philosophischen Herstellung. Vor ihr verstummt die philologische
Wissenschaft. Das ist aber nicht gleichgültig fürs künstlerische
Phänomen. Während die Kenntnis der von Beissner angezogenen
stofflichen Elemente den Schein des Wirren auflöst, der einst jene
Verse umgab, behält gleichwohl das Gebilde selbst, als Ausdruck,
den Charakter von Verstörtheit. Verstehen wird es, wer nicht nur
des pragmatischen Gehalts rational sich versichert, der außerhalb
des im Gedicht und seiner Sprache Manifesten seinen Ort hat,
sondern wer stets noch den Schock des unvermuteten Namens
Ulrich fühlt; wer sich ärgert an dem »nicht gar unmündig«, das
überhaupt erst aus der naturgeschichtlichen Konstruktion Sinn
empfängt, und ähnlich an dem Gefüge »Ein groß Schicksal / Bereit,
an übrigem Orte« 5 . Was die philologische Erklärung wegzuräumen
gehalten ist, verschwindet dennoch nicht aus dem, was Benjamin
zuerst und später Heidegger das Gedichtete nannte. Dies der
Philologie sich entziehende Moment verlangt von sich aus
Interpretation. Das Dunkle an den Dichtungen, nicht, was in ihnen
gedacht wird, nötigt zur Philosophie. Es ist aber der Intention, »des
Dichters Sinn« inkommensurabel, auf den noch Beissner sich beruft,
freilich um mit ihm die »Frage nach dem Kunstcharakter des
Gedichtes« 6 zu sanktionieren. Pure Willkür wäre es, Hölderlin, wie
immer auch verklausuliert, die Fremdheit jener Verse als Absicht
zuzuschreiben. Sie rührt von einem Objektiven her, dem Untergang
der tragenden Sachgehalte im Ausdruck, der Beredtheit eines
Sprachlosen. Ohne das Verschweigen des Sachgehalts wäre das
Gedichtete so wenig wie ohne den verschwiegenen. So komplex ist,
wofür heute der Begriff immanente Analyse sich eingebürgert hat,
der in der gleichen dialektischen Philosophie entsprang, an deren
formativen Jahren Hölderlin Anteil hatte. In der
Literaturwissenschaft bereitete die Wiederentdeckung jenes Prinzips
ein genuines Verhältnis zum ästhetischen Gegenstand überhaupt erst
vor, wider eine genetische Methode, welche die Angabe der
Bedingungen, unter denen Dichtungen entstanden, der
biographischen, der Vorbilder und sogenannten Einflüsse, mit der
Erkenntnis der Sache selbst verwechselte. Wie jedoch das
Hegelsche Modell der immanenten Analyse nicht bei sich selbst
verbleibt, sondern mit der eigenen Kraft des Gegenstandes diesen
durchbricht; über die monadologische Geschlossenheit des
Einzelbegriffs hinaustreibt, indem es diesen achtet, so dürfte es auch
um die immanente Analyse von Dichtungen stehen. Worauf diese
zielen und worauf Philosophie zielt, ist das Gleiche, der
Wahrheitsgehalt. Zu ihm geleitet der Widerspruch, daß jegliches
Werk rein aus sich verstanden werden will, aber keines rein aus sich
verstanden werden kann. So wenig wie der ›Winkel von Hardt‹ wird
irgendein anderes ganz von der Stoffschicht expliziert, deren die
Stufe des Sinnverständnisses bedarf, während die höheren den Sinn
erschüttern. Die Bahn von dessen bestimmter Negation dann ist die
zum Wahrheitsgehalt. Soll er emphatisch wahr, mehr als das bloß
Gemeinte sein, so läßt er den Immanenzzusammenhang unter sich,
indem er sich konstituiert. Die Wahrheit eines Gedichts ist nicht
ohne dessen Gefüge, die Totalität seiner Momente; ist aber zugleich,
was dies Gefüge, als eines von ästhetischem Schein, übersteigt:
nicht von außen her, durch gesagten philosophischen Inhalt, sondern
vermöge der Konfiguration der Momente, die,
zusammengenommen, mehr bedeuten, als das Gefüge meint. Wie
mächtig die Sprache, dichterisch gebraucht, über die bloß subjektive
Intention des Dichters hinausschießt, läßt in der ›Friedensfeier‹ an
einem zentralen Wort sich erkennen: Schicksal. Hölderlins Intention
ist einverstanden mit diesem Wort, soweit er Partei ergreift für den
Mythos; soweit sein Werk Mythisches bedeutet. Unleugbar
affirmativ die Stelle: »Schicksalgesetz ist dies, daß Alle sich
erfahren, / Daß, wenn die Stille kehrt, auch eine Sprache sei.« 7
Verhandelt aber ward übers Schicksal zwei Strophen früher: »Denn
schonend rührt des Maßes allzeit kundig / Nur einen Augenblick die
Wohnungen der Menschen / Ein Gott an, unversehn, und keiner
weiß es, wenn? / Auch darf alsdann das Freche drüber gehn, / Und
kommen muß zum heilgen Ort das Wilde / Von Enden fern, übt
rauhbetastend den Wahn, / Und trifft daran ein Schicksal, aber
Dank, / Nie folgt der gleich hernach dem gottgegebnen Geschenke.«
8 Dadurch, daß am Ende dieser Zeilen, vermittelt durch ein Aber,
auf Schicksal das Stichwort Dank folgt, wird eine Zäsur gesetzt, die
sprachliche Konfiguration bestimmt den Dank als Antithesis zum
Schicksal oder, in Hegelscher Sprache, als den qualitativen Sprung,
der aus Schicksal, auf es antwortend, herausführt. Dem Gehalt nach
ist Dank antimythologisch schlechthin, das, was laut wird im
Augenblick der Suspension des Immergleichen. Lobt der Dichter
das Schicksal, so setzt diesem die Dichtung den Dank entgegen, aus
dem eigenen Momentum, ohne daß er es gemeint haben muß.
Während indessen die Hölderlinsche Dichtung, gleich jeder
nachdrücklichen, der Philosophie als des Mediums bedarf, das ihren
Wahrheitsgehalt zutage fördert, taugt dazu ebensowenig der Rekurs
auf eine wie immer auch ihn beschlagnahmende. Die Arbeitsteilung,
welche nach dem Verfall des deutschen Idealismus Philosophie und
Geisteswissenschaften verhängnisvoll trennte, hat die letzteren, des
eigenen Mangels bewußten ebenso dazu veranlaßt, sich nach Hilfe
dort umzusehen, wo sie innehalten wollen oder müssen, wie sie
umgekehrt die Geisteswissenschaften um das kritische Vermögen
brachte, das allein ihr den Übergang in Philosophie gestattet hätte.
Heteronom hängte darum die Hölderlin-Interpretation in weitem
Maß an die unbefragte Autorität eines Denkens sich an, das von sich
aus mit Hölderlin fraternisierte. Die Maxime, die Heidegger seinen
Erläuterungen voranstellt, lautet: »Um des Gedichteten willen muß
die Erläuterung des Gedichtes danach trachten, sich selbst
überflüssig zu machen« 9 , also ebenso im Wahrheitsgehalt zu
verschwinden wie die Realien. Während er aber den Begriff des
Gedichteten dergestalt akzentuiert, ja dem Dichter selbst die
äußerste metaphysische Dignität zumißt, zeigen seine Erläuterungen
im einzelnen sich höchst gleichgültig gegen das spezifisch
Dichterische. Er verherrlicht den Dichter, überästhetisch, als Stifter,
ohne das Agens der Form konkret zu reflektieren. Erstaunlich, daß
keiner am Zug des Amusischen in jenen Erläuterungen sich geärgert
hat, an mangelnder Affinität. Phrasen aus dem Jargon der
Eigentlichkeit wie die, daß Hölderlin »in die Entscheidung« 10 stelle
– man fragt vergebens, in welche, und es ist vermutlich keine andere
als die klappernd obligate zwischen Sein und Seiendem –;
unmittelbar danach die ominösen »Leitworte«; »das echte Sagen« 11
; Clichés aus der minderen Heimatkunst wie »versonnen« 12 ;
hochtrabende Kalauer wie: »Die Sprache ist ein Gut in einem
ursprünglicheren Sinne. Sie steht dafür gut, das heißt: sie leistet
Gewähr, daß der Mensch als geschichtlicher sein kann« 13 ;
professorale Wendungen wie »aber sogleich erhebt sich die Frage«
14 ; die Benennung des Dichters als des »Hinausgeworfenen« 15 , die
ein humorlos unfreiwilliger Witz bleibt, auch wenn sie eine
Belegstelle aus Hölderlin für sich anführen kann: all das treibt in
den Erläuterungen ungestört sein Unwesen. Nicht, daß er kein
Dichter sei, ist gegen den Philosophen einzuwenden, aber die
Afterpoesie zeugt gegen seine Philosophie der Dichtung. Das
ästhetisch Schlechte entspringt im schlecht Ästhetischen, der
Verwechslung des Dichters, bei dem der Wahrheitsgehalt vermittelt
ist durch den Schein, mit dem Stifter, der ins Sein selbst eingriffe,
gar nicht so verschieden von der einst in der Georgeschule geübten
Heroisierung der Dichter: »Die Ursprache aber ist die Dichtung als
Stiftung des Seins.« 16 Der Scheincharakter der Kunst affiziert
unmittelbar deren Verhältnis zum Gedanken. Was wahr und
möglich ist als Dichtung, kann es nicht buchstäblich und
ungebrochen als Philosophie sein; daher die ganze Schmach des
altmodisch-modischen Wortes »Aussage«. Jede Interpretation von
Dichtungen, welche sie auf die Aussage bringt, vergeht sich an ihrer
Weise von Wahrheit, indem sie an ihrem Scheincharakter sich
vergeht. Was als Sage vom Ursprung den eigenen Gedanken und
Dichtung, die nicht Gedanke ist, unterschiedslos auslegt, fälscht
beides im gespensterhaft wiederkehrenden Geist des Jugendstils, am
Ende im ideologischen Glauben, es lasse von der Kunst her die als
schlecht und erniedrigend erfahrene Realität sich wenden, nachdem
die reale Änderung verbaut ist. Die ins Maßlose gesteigerte
Ehrfurcht vor Hölderlin betrügt über ihn im Einfachsten. Sie
suggeriert, was der Dichter sagt, wäre so, unmittelbar, buchstäblich;
das dürfte die Vernachlässigung des gleichzeitig verherrlichten
Gedichteten erklären. Die schlagartige Entästhetisierung des Gehalts
unterschiebt das unabdingbar Ästhetische als Reales, ohne
Rücksicht auf die dialektische Brechung zwischen Form und
Wahrheitsgehalt. Dadurch wird die genuine Beziehung Hölderlins
zur Realität, die kritische und utopische, weggeschnitten. Er soll als
Sein zelebriert haben, was in seinem Werk keinen anderen Ort hat
als die bestimmte Negation des Seienden. Die allzu früh behauptete
Wirklichkeit des Dichterischen unterschlägt die Spannung von
Hölderlins Dichtung zur Wirklichkeit und neutralisiert sein Werk
zum Einverständnis mit dem Schicksal.
Heidegger hebt an mit dem manifest von Hölderlin Gedachten,
anstatt dessen Stellenwert im Gedichteten auszumachen. Er siedelt
ihn, ohne davon Rechenschaft zu geben, zurück in die Gattung
Gedankendichtung Schillerscher Provenienz, von der man ihn dank
der neueren Arbeit an den Texten befreit glaubte. Die Beteuerungen
des Dichterischen fallen gegenüber dem von Heidegger tatsächlich
Geübten wenig ins Gewicht. Es hat seine Stütze an den gnomischen
Elementen in Hölderlin selbst. Sententiöse Prägungen sind auch in
die späten Hymnen eingelassen. Stets ragen Sentenzen aus den
Dichtungen heraus, als wären sie Urteile über Reales. Was aus
Mangel an ästhetischem Organ unterhalb des Kunstwerks verharrt,
benutzt die Sentenzen, um sich in eine Position über dem Kunstwerk
zu manövrieren. Mit Kurzschluß, in recht gewalttätiger Paraphrase
einer Empedokles-Stelle, verkündet Heidegger die Wirklichkeit des
Gedichteten: »Dichtung erweckt den Schein des Unwirklichen und
des Traumes gegenüber der greifbaren und lauten Wirklichkeit, in
der wir uns heimisch glauben. Und doch ist umgekehrt das, was der
Dichter sagt und zu sein übernimmt, das Wirkliche.« 17 Das
Wirkliche der Dichtungen, ihr Wahrheitsgehalt, vermischt sich
solcher Erläuterung trüb mit dem unmittelbar Gesagten. Das verhilft
zur billigen Heroisierung des Dichters als des politischen Stifters,
der die Winke, die er empfängt, »weiter [winkt] in sein Volk« 18 :
»indem Hölderlin das Wesen der Dichtung neu stiftet, bestimmt er
erst eine neue Zeit« 19 . Das ästhetische Medium des
Wahrheitsgehalts wird eskamotiert; Hölderlin auf den von
Heidegger zu autoritärem Behuf ausgewählten angeblichen
Leitworten aufgespießt. Dem Gedichteten jedoch gehören die
Gnomen bloß vermittelt an, in ihrem Verhältnis zur Textur, aus der
sie, selber Kunstmittel, herausstechen. Daß, was der Dichter sagt,
das Wirkliche sei, mag zutreffen auf den Gehalt des Gedichteten;
nie auf Thesen. Treue, die Tugend des Dichters, ist die zum
Verlorenen. Sie setzt Distanz zur Möglichkeit, es sei jetzt und hier
zu ergreifen. Soviel steht bei Hölderlin selbst. Die »Starken« von
»Asia«, urteilt der Hymnus ›Am Quell der Donau‹, »Die furchtlos
vor den Zeichen der Welt, /Und den Himmel auf Schultern und alles
Schicksal, /Taglang auf Bergen gewurzelt, / Zuerst es verstanden, /
Allein zu reden / Zu Gott. Die ruhn nun.« 20 An sie heftet sich
Treue: »Nicht uns, auch Eures bewahrt sie, / Und bei den
Heiligtümern, den Waffen des Worts, /Die scheidend ihr den
Ungeschickteren uns, / Ihr Schicksalssöhne, zurückgelassen / ... Da
staunen wir.« 21 Die »Waffen des Worts«, die dem Dichter bleiben,
sind überschattete Erinnerungsspuren, keine Heideggersche
»Stiftung«. Von den archaischen Worten, in welchen dessen
Deutung terminiert, heißt es bei Hölderlin ausdrücklich: »wir ...
wissens nicht zu deuten« 22 . – Wohl schicken manche Verse
Hölderlins sich zu Heideggers Erläuterungen, Produkte schließlich
der gleichen philhellenisch-philosophischen Tradition. Wie jeglicher
genuinen Entmythologisierung wohnt dem Gehalt Hölderlins eine
mythische Schicht inne. Der Vorwurf der Willkür reicht gegen
Heidegger nicht aus. Da die Deutung von Dichtung dem gilt, was
nicht gesagt ward, so kann nicht gegen sie gehalten werden, daß es
in jener nicht gesagt sei. Erweislich aber ist, daß, was Hölderlin
verschweigt, nicht ist, was Heidegger extrapoliert. Liest dieser die
Worte: »Schwer verläßt, / Was nahe dem Ursprung wohnet, den
Ort« 23 , so mag er ebenso über das Pathos des Ursprungs frohlocken
wie über das Lob von Immobilität. Jedoch die ungeheure Zeile »Ich
aber will dem Kaukasos zu!« 24 , die bei Hölderlin im Geist von
Dialektik – und dem der Beethovenschen Eroica – fortissimo
dazwischenfährt, ist mit solcher Gestimmtheit nicht mehr zu
vereinen. Als hätte Hölderlins Dichtung vorausgesehen, wofür sie
einmal die deutsche Ideologie einspannt, richtet die späteste Fassung
von ›Brot und Wein‹ eine Tafel auf wider den irrationalistischen
Dogmatismus und den Ursprungskult in einem: »Glaube, wer es
geprüft! nämlich zu Haus ist der Geist / Nicht im Anfang, nicht an
der Quell.« 25 Die Paränese hat ihren Ort unmittelbar vor der von
Heidegger reklamierten Zeile: »Kolonie liebt, und tapfer Vergessen
der Geist.« 26 Kaum anderswo dürfte Hölderlin seinen
nachgeborenen Protektor schroffer Lügen strafen als im Verhältnis
zum Fremden. Das Hölderlins ist für Heidegger eine einzige
Irritation. Die Liebe zur Fremde bedarf bei diesem der Apologie. Sie
sei »jene, die zugleich an die Heimat denken läßt« 27 . In diesem
Kontext gibt er dem Hölderlinschen Ausdruck Kolonie eine
erstaunliche Wendung; kleinkrämerische Wörtlichkeit wird zum
Mittel nationalistischer Rabulistik. »Die Kolonie ist das auf das
Mutterland zurückweisende Tochterland. Indem der Geist Land
solchen Wesens liebt, liebt er mittelbar und verborgen doch nur die
Mutter.« 28 Das endogamische Ideal Heideggers überwiegt selbst
sein Bedürfnis nach einer Ahnentafel der Seinslehre. Hölderlin wird
über Stock und über Stein für eine Vorstellung von Liebe
eingespannt, die in dem kreist, was man ohnehin ist, narzißtisch
fixiert ans eigene Volk; Heidegger verrät die Utopie an
Gefangenschaft in der Selbstheit. Das Hölderlinsche »und tapfer
Vergessen [liebt] der Geist« muß Heidegger umfrisieren in die
»verborgene Liebe, die den Ursprung liebt« 29 . Am Ende des
Exkurses ereignet sich bei Heidegger der Satz: »Das tapfer
Vergessen ist der wissende Mut zum Erfahren des Fremden um der
künftigen Aneignung des Eigenen willen.« 30 Aus dem exilierten
Hölderlin, der im selben Brief an Böhlendorf sich fortwünscht nach
Otaheiti 31 , wird ein zuverlässiger Auslandsdeutscher. Ungewiß, ob
die Heidegger-Apologetik noch dessen Verkoppelung von Kolonie
und Aneignung dem Soziologismus solcher zur Last legt, die sie
bemerken.
Vom selben Schlag sind Betrachtungen, die Heidegger, mit
sichtbarem Unbehagen, an die Verse über die braunen Frauen von
Bourdeaux im ›Andenken‹ anschließt. »Die Frauen – Dieser Name
hat hier noch den frühen Klang, der die Herrin und Hüterin meint.
Jetzt aber wird er in dem einzigen Bezug auf die Wesensgeburt des
Dichters genannt. In einem Gedicht, das kurz vor der Hymnenzeit
und im Übergang zu ihr entstanden ist, hat Hölderlin alles gesagt,
was zu wissen ist (›Gesang des Deutschen‹, Elfte Strophe. IV 130):
Den deutschen Frauen danket! sie haben uns
Der Götterbilder freundlichen Geist bewahrt,
Die dem Dichter selbst noch verhüllte dichterische Wahrheit dieser
Verse bringt dann die Hymne ›Germanien‹ zum Leuchten. Die
deutschen Frauen retten das Erscheinen der Götter, damit es das
Ereignis der Geschichte bleibt, dessen Weile sich den Fängen der
Zeitrechnung entzieht, die, wenn es hochkommt, ›historische
Situationen‹ feststellen kann. Die deutschen Frauen retten die
Ankunft der Götter in die Milde eines freundlichen Lichtes. Sie
nehmen diesem Ereignis die Furchtbarkeit, deren Schrecken zum
Maßlosen verführt, sei es in der Versinnlichung des Götterwesens
und seiner Stätten, sei es im Begreifen ihres Wesens. Die
Bewahrung dieser Ankunft ist das stete Mitbereiten des Festes. Im
Gruß des ›Andenkens‹ sind jedoch nicht die deutschen Frauen
genannt, sondern ›die braunen Frauen daselbst‹.« 32 Die keineswegs
erhärtete Behauptung, das Wort Frauen habe hier noch den frühen –
man möchte ergänzen: Schillerschen – Klang, »der die Herrin und
Hüterin meint«, während Hölderlins Verse eher von der erotischen
imago der Südländerin entzückt sind, gestattet Heidegger
unvermerkt den Übergang zu den deutschen Frauen und ihrem Lob,
von denen im ausgelegten Gedicht schlechterdings nicht die Rede
ist. Sie werden an den Haaren herbeigeschleift. Offenbar mußte der
philosophische Kommentator, als er 1943 mit dem ›Andenken‹ sich
beschäftigte, bereits die Erscheinung französischer Frauen als
subversiv fürchten; er hat aber auch später an dem putzigen Exkurs
nichts geändert. Zum pragmatischen Gehalt des Gedichts lenkt er
vorsichtig und verschämt zurück durchs Zugeständnis, es seien nicht
die deutschen, sondern die »braunen Frauen daselbst« genannt. –
Beissner hat, gestützt auf Äußerungen Hölderlins und auch auf
Gedichttitel, die späten Hymnen ›Die vaterländischen Gesänge‹
genannt. Vorbehalte gegen sein Verfahren sind nicht Zweifel an
dessen philologischer Rechtfertigung. Das Wort Vaterland selbst
jedoch hat in den hundertfünfzig Jahren seit der Niederschrift jener
Gedichte zum Schlimmen sich verändert, die Unschuld verloren, die
es noch in den Kellerschen Versen »Ich weiß in meinem Vaterland /
Noch manchen Berg, o Liebe« mit sich führte. Liebe zum Nahen,
Sehnsucht nach der Wärme der Kindheit hat zum Ausschließenden,
zum Haß gegen das Andere sich entfaltet, und das ist an dem Wort
nicht auszulöschen. Es durchtränkte sich mit einem Nationalismus,
von dem bei Hölderlin jede Spur fehlt. Der Hölderlin-Kultus der
deutschen Rechten hat entstellend den Hölderlinschen Begriff des
Vaterländischen so verwandt, als ob er ihren Idolen gälte und nicht
dem glücklichen Einstand von Totalem und Partikularem. Hölderlin
selbst bereits registrierte, was später an dem Wort offenbar wurde:
»Verbotene Frucht, wie der Lorbeer, aber ist / Am meisten das
Vaterland.« 33 Die Fortsetzung »Die aber kost / Ein jeder zuletzt« 34
dürfte weniger dem Dichter einen Zeitplan vorschreiben als die
Utopie visieren, in der die Liebe zum Nahen befreit wäre von aller
Feindschaft.
Gleich dem Vaterland steht bei Hölderlin, dem Meister
intermittierender Sprachgesten, zentral auch nicht die Kategorie der
Einheit: gleich dem Vaterland will sie totale Identität. Sie aber
imputiert ihm Heidegger. »Wo ein Gespräch sein soll, muß das
wesentliche Wort auf das Eine und Selbe bezogen bleiben. Ohne
diesen Bezug ist auch und gerade ein Streitgespräch unmöglich. Das
Eine und Selbe aber kann nur offenbar sein im Lichte eines
Bleibenden und Ständigen. Beständigkeit und Bleiben kommen
jedoch dann zum Vorschein, wenn Beharren und Gegenwart
aufleuchten.« 35 So wenig für die in sich selber prozessuale,
geschichtshafte Hymnik Hölderlins das »Bleibende und Ständige«
entscheidet, so wenig auch Einheit und Selbigkeit. Aus der
Homburger Zeit stammt das Epigramm ›Wurzel alles Übels‹: »Einig
zu sein, ist göttlich und gut; woher ist die Sucht denn / Unter den
Menschen, daß nur Einer und Eines nur sei?« 36 Heidegger zitiert es
nicht. Seit Parmenides sind das Eine und das Sein verkoppelt.
Heidegger nötigt es Hölderlin auf, der die Substantivierung jenes
Begriffs meidet. Er reduziert sich dem Heidegger der Erläuterungen
zur handfesten Antithese: »Das Sein ist niemals ein Seiendes.« 37
Dadurch wird es, wie im von Heidegger sonst verpönten Idealismus,
dem er insgeheim zurechnet, zu einem frei Gesetzten. Das erlaubt
die ontologische Hypostase der dichterischen Stiftung. Deren
berühmte Invokation bei Hölderlin ist von Hybris rein; das »Was
bleibet« aus dem ›Andenken‹ deutet, der puren grammatischen
Form nach, auf Seiendes und das Gedächtnis daran, wie das der
Propheten; keineswegs auf ein Sein, das nicht sowohl in der Zeit
bliebe, als Zeitlichem transzendent wäre. Was jedoch in einem Vers
Hölderlins als Gefahr der Sprache angezeigt ist: an ihr
kommunikatives Element sich zu verlieren und ihren
Wahrheitsgehalt zu verhökern, wird ihr von Heidegger als »eigenste
Seinsmöglichkeit« zugeschrieben und von Geschichte abgespalten:
»Gefahr ist Bedrohung des Seins durch Seiendes.« 38 Hölderlin
stehen die reale Geschichte und ihr Rhythmus vor Augen. Bedroht
ist ihm viel mehr das ungeschieden Einige, im Hegelschen Sinn
Substantielle, denn ein behütetes Arcanum von Sein. Heidegger
jedoch folgt der obsoleten Abneigung des Idealismus gegen das
Seiende als solches; im gleichen Stil, in dem Fichte mit dem Realen,
der Empirie verfährt, die zwar vom absoluten Subjekt gesetzt,
zugleich aber als bloßer Anstoß zur Tathandlung, wie schon bei
Kant das Heteronome, verachtet wird. Jesuitisch findet Heidegger
mit Hölderlins Stellung zu den Realien sich ab, indem er die Frage
nach der Relevanz der geschichtsphilosophischen Tradition, aus der
Hölderlin hervorging, scheinbar unbeantwortet läßt, jedoch
suggeriert, der Zusammenhang mit ihr sei fürs Gedichtete
unerheblich: »Inwieweit das in diesen Versen gedichtete Gesetz der
Geschichtlichkeit sich aus dem Prinzip der unbedingten
Subjektivität der deutschen absoluten Metaphysik Schellings und
Hegels herleiten läßt, nach deren Lehre das Bei-sich-selbst-sein des
Geistes erst die Rückkehr zu sich selbst und diese wiederum das
Außer-sich-sein vorausfordert, inwieweit ein solcher Hinweis auf
die Metaphysik, selbst wenn er ›historisch richtige‹ Beziehungen
ausfindig macht, das dichterische Gesetz aufhellt oder nicht eher
verdunkelt, sei dem Nachdenken nur vorgelegt.« 39 Sowenig
Hölderlin in sogenannte geistesgeschichtliche Zusammenhänge
aufzulösen, sowenig gar der Gehalt seiner Dichtung auf
Philosopheme arglos abzuziehen ist, sowenig läßt er doch
andererseits aus den kollektiven Zusammenhängen sich entfernen,
in denen sein Werk sich bildete und mit denen es bis in die
sprachlichen Zellen hinein kommuniziert. Weder die
Gesamtbewegung des deutschen Idealismus noch irgendeine
nachdrücklich philosophische ist ein Phänomen abgezirkelter
Begrifflichkeit, sondern repräsentiert eine »Stellung des
Bewußtseins zur Objektivität«: tragende Erfahrungen wollen im
Medium des Denkens sich ausdrücken. Jene, nicht bloß
Begriffsapparaturen und Termini, hat Hölderlin mit seinen Freunden
gemeinsam. Das reicht bis in die Form. Auch die Hegelsche befolgt
keineswegs stets die Norm des Diskursiven, welche in Philosophie
für so fraglos angesehen wird wie in Dichtung die Art
Anschaulichkeit, der die Verfahrungsweise des späteren Hölderlin
opponierte. Texte Hegels, die etwa um die gleiche Zeit geschrieben
wurden, scheuen nicht Passagen, welche die ältere Literaturhistorie
leicht Hölderlins Wahnsinn hätte zurechnen können; so eine aus der
1801 erschienenen Schrift über die Differenz des Fichteschen und
Schellingschen Systems: »Je weiter die Bildung gedeiht, je
mannigfaltiger die Entwicklung der Äußerungen des Lebens wird, in
welche die Entzweiung sich verschlingen kann, desto größer wird
die Macht der Entzweiung, desto fester ihre klimatische Heiligkeit,
desto fremder dem Ganzen der Bildung und bedeutungsloser die
Bestrebungen des Lebens, sich zur Harmonie wieder zu gebären.« 40
Kaum weniger klingt das an Hölderlin an als einige Zeilen später die
diskursive Formulierung von der »tieferen ernsten Beziehung
lebendiger Kunst« 41 . Heideggers Anstrengung, Hölderlin durch
Erhöhung von den Genossen metaphysisch abzusplittern, ist Echo
eines heroisierenden Individualismus, ohne Organ für die kollektive
Kraft, welche geistige Individuation überhaupt erst hervorbringt.
Hinter Heideggers Sätzen birgt sich der Wille, den Wahrheitsgehalt
von Dichtungen und Philosophie, allen Perorationen über die
Geschichtlichkeit zum Trotz, zu entzeitlichen, Geschichtliches in
Invarianz zu versetzen, ohne Rücksicht auf den geschichtlichen
Kern des Wahrheitsgehaltes selbst. Aus Komplizität mit dem
Mythos preßt Heidegger Hölderlin zum Zeugen für jenen und
präjudiziert durch die Methode das Ergebnis. Beissner unterstreicht
in seinem Kommentar zum ›Quell der Donau‹ den Ausdruck
»wohlgeschieden« 42 in Versen, welche gerade die Erinnerung, das
aneinander Denken anstelle mythologischer Epiphanie hervorheben:
»Trotz der möglichen geistigen Versenkung sind die Wirklichkeiten
des Griechentums und der götterlosen Zeit doch wohlgeschieden.
Diesen Gedanken betonen deutlicher die beiden Anfangsstrophen
des Gesangs Germanien.« 43 Der einfache Wortlaut enthüllt
Heideggers ontologische Transposition der Geschichte in ein im
reinen Sein sich Ereignendes als Erschleichung. Nicht Einflüsse
oder Geistesverwandtschaften stehen in Rede sondern die
Komplexion des dichterischen Gehalts. Wie in der Hegelschen
Spekulation wird unterm Blick des Hölderlinschen Gedichts das
geschichtlich Endliche zur Erscheinung des Absoluten als dessen
eigenes notwendiges Moment, derart, daß Zeitliches dem Absoluten
selbst innewohnt. Nicht aus der Welt zu schaffen sind identische
Konzeptionen Hegels und Hölderlins wie die von der Wanderung
des Weltgeistes von einem Volk zum anderen 44 , vom Christentum
als einer vergänglichen Epoche 45 , vom »Abend der Zeit« 46 , der
Innerlichkeit des unglücklichen Bewußtseins als einer
Durchgangsphase. Bis in explizite Theoreme waren sie einig, etwa
in der Kritik des Fichteschen absoluten Ichs als eines Objektlosen
und darum Nichtigen, die für den Übergang des späten Hölderlin zu
den Realien kanonisch muß gewesen sein. Heidegger, für dessen
Philosophie ja das Verhältnis von Zeitlichem und Wesenhaftem,
unter anderem Titel, thematisch ist, spürte fraglos die Tiefe der
Kommunikation Hölderlins mit Hegel. Darum entwertet er sie so
eifrig. Durch den allzu prompten Gebrauch des Wortes Sein
verdunkelt er, was er selber sah. In Hölderlin deutet sich an, das
Geschichtliche sei urgeschichtlich und zwar desto eindringlicher, je
geschichtlicher es ist. Kraft dieser Erfahrung erlangt in dem von ihm
Gedichteten das bestimmte Seiende ein Gewicht, das der
Heideggerschen Interpretation a fortiori durchs Netz schlüpft. Wie
Hölderlins Wahlverwandtem Shelley die Hölle eine Stadt ist, much
like London; wie nachmals für Baudelaire die Moderne von Paris
ein Archetyp, so erblickt Hölderlin allerorten Korrespondenzen
zwischen dem namentlichen Seienden und den Ideen. Das nach der
Sprache jener Jahre Endliche soll, was die Seinsmetaphysik
vergebens sich erhofft: die Namen, die dem Absoluten fehlen und in
denen allein das Absolute wäre, über den Begriff führen. Etwas
davon schwingt auch in Hegel mit, dem das Absolute nicht der
Oberbegriff seiner Momente, sondern deren Konstellation ist,
Prozeß so gut wie Resultat. Daher andererseits die Gleichgültigkeit
der Hölderlinschen Hymnen gegen die dergestalt zur flüchtigen
Erscheinung des Weltgeists herabgesetzten Lebendigen, die mehr
als alles andere der Verbreitung seines Werkes im Wege war. Wann
immer das Hölderlinsche Pathos der Namen von Seiendem, von
Orten zumal, sich bemächtigt, wird den Lebenden durch den
dichterischen Gestus, wie von Hegels Philosophie, bedeutet, sie
seien bloße Zeichen. Das möchten sie nicht, es ist ihnen Todesurteil.
Nicht um ein Geringeres jedoch konnte Hölderlin über die
Ausdruckslyrik sich erheben, zu einem Opfer bereit, auf das dann
die Ideologie des zwanzigsten Jahrhunderts begierig ansprach.
Entscheidend allerdings divergiert seine Dichtung von der
Philosophie, weil diese zur Negation des Seienden affirmativ
Stellung bezieht, während Hölderlins Dichtung, kraft der Distanz
ihres Formgesetzes von der empirischen Wirklichkeit, übers Opfer
klagt, das sie erheischt. Die Differenz zwischen den Namen und
dem Absoluten, die er nicht verdeckt und die als allegorische
Brechung sein Werk durchfurcht, ist das Medium der Kritik an dem
falschen Leben, wo der Seele ihr göttlich Recht nicht ward. Durch
solche Distanz der Dichtung, ihr gesteigert idealisches Pathos,
entragt Hölderlin dem idealistischen Bannkreis. Sie drückt mehr aus
als je Gnomen, und als Hegel je gebilligt hätte; daß das Leben nicht
die Idee, daß des Inbegriff des Seienden nicht das Wesen sei.
Die Attraktion, die Hölderlins Hymnik auf die Seinsphilosophie
ausübt, hat viel zu tun mit der Stellung der Abstrakta darin. Vorweg
ähneln sie einladend dem Medium der Philosophie, die freilich,
wenn sie ihre Idee des Gedichteten verbindlich faßte, gerade vor der
Kontamination mit gedanklichem Material in der Dichtung
zurückschrecken müßte. Andererseits heben die Hölderlinschen
Abstrakta von den Begriffen kurrenten Wesens sich ab auf eine
Weise, die leicht zu verwechseln ist mit jener, welche Sein
unermüdlich über die Begriffe zu erhöhen trachtet. Aber die
Hölderlinschen Abstrakta sind so wenig wie Leitworte Evokationen
von Sein unmittelbar. Ihr Gebrauch wird determiniert von der
Brechung der Namen. In diesen bleibt stets ein Überschuß dessen,
was sie wollen und nicht erreichen. Kahl, in tödlicher Blässe
verselbständigt er sich gegen sie. Die Dichtung des späten Hölderlin
polarisiert sich in die Namen und Korrespondenzen hier, dort die
Begriffe. Ihre allgemeinen Substantive sind Resultanten: sie
bezeugen die Differenz des Namens und des beschworenen Sinnes.
Ihre Fremdheit, die wiederum erst der Dichtung sie einverleibt,
empfangen sie dadurch, daß sie von ihrem Widerpart, den Namen,
gleichsam ausgehöhlt wurden. Sie sind Relikte, capita mortua
dessen an der Idee, was nicht sich vergegenwärtigen läßt: noch in
ihrer anscheinend zeitfernen Allgemeinheit Male eines Prozesses.
Als solche aber so wenig ontologisch wie das Allgemeine in der
Hegelschen Philosophie. Eher haben sie, nach deren Tenor, ihr
eigenes Leben, und zwar kraft ihrer Entäußerung von der
Unmittelbarkeit. Hölderlins Dichtung will die Abstrakta zu einer
Konkretion zweiter Potenz zitieren. »Nun ist erstaunlich, wie an
dieser Stelle, da doch das Volk auf das höchste abstrakt bezeichnet
ist, aus dem Innern dieser Zeile eine fast Neugestalt des
konkretesten Lebens sich erhebt.« 47 Das provoziert, vor allem
anderen, den Mißbrauch Hölderlins für die von Günther Anders so
genannte Pseudokonkretion der neu-ontologischen Worte. Modelle
solcher Bewegung der Abstrakta, oder genauer: allgemeinster Worte
für Seiendes, schwebend zwischen diesem und der Abstraktion wie
Hölderlins Lieblingswort Äther, sind häufig in den späten Hymnen.
Im ›Quell der Donau‹: »Wenn aber / Herabgeführt, in spielenden
Lüften, / Das heilige Licht, und mit dem kühleren Strahl / Der
freudige Geist kommt zu / Der seligen Erde, dann erliegt es,
ungewohnt / Des Schönsten, und schlummert wachenden Schlaf, /
Noch ehe Gestirn naht. So auch wir« 48 ; in ›Germanien‹: »Vom
Aether aber fällt / Das treue Bild und Göttersprüche regnen /
Unzählbare von ihm, und es tönt im innersten Haine« 49 ; auch die
See am Ende des ›Andenkens‹ ist solchen Wesens. Es ist der
Gedankenlyrik so inkommensurabel wie der Erlebnisdichtung, und
Hölderlins Eigentümlichstes; erzeugt, im Gegensatz zum
begriffsfeindlichen Begriff der neuen Ontologie, aus der Sehnsucht
nach dem fehlenden Namen wie aus der nach einer guten
Allgemeinheit des Lebendigen, die Hölderlin als verhindert durch
den Weltlauf, den arbeitsteiligen Betrieb erfährt. Noch seine
Reminiszenzen an die halballegorischen Götternamen haben diesen
Ton, nicht den des achtzehnten Jahrhunderts. In seinem
dichterischen Gebrauch bekennen sie sich als geschichtlich, anstatt
ein Jenseits der Geschichte zu verbildlichen. So Verse aus der
achten Elegie von ›Brot und Wein‹:
 
Brot ist der Erde Frucht, doch ists vom Lichte gesegnet,
Und vom donnernden Gott kommet die Freude des Weins.
Darum denken wir auch dabei der Himmlischen, die sonst
Da gewesen und die kehren in richtiger Zeit,
Darum singen sie auch mit Ernst, die Sänger, den Weingott
Und nicht eitel erdacht tönet dem Alten das Lob. 50
 
Brot und Wein sind von den Himmlischen zurückgelassen als
Zeichen eines samt ihnen Verlorenen und Erhofften. Der Verlust ist
in den Begriff eingewandert und entreißt ihn dem schalen Ideal des
allgemein Menschlichen. Die Himmlischen selbst sind kein
unsterbliches An sich wie die Platonische Idee, sondern nur darum
singen die Sänger von ihnen »mit Ernst«, ohne die eingespielte
Glätte der Symbolik, weil sie »sonst« – also vor Zeiten – dagewesen
sein sollen. Geschichte durchschneidet das Band, welches nach
klassizistischer Ästhetik Idee und Anschauung im sogenannten
Symbol verknüpft. Nur daß die Abstrakta die Illusion ihrer
Versöhnlichkeit mit dem puren Diesda aufkündigen, schenkt ihnen
jenes zweite Leben.
Es hat, unter den Kategorien des Gestaltlosen und vag sich
Entziehenden, die Weimarer Klassizisten zu einer Wut gereizt,
deren Folgen für Hölderlins Schicksal unabsehbar waren. Sie haben
in Hölderlin nicht bloß die Antipathie gegen die ästhetische
Harmonie des Endlichen und Unendlichen gewittert, die sie sich
selbst nie ganz glauben konnten, weil sie mit Entsagung zu bezahlen
war, sondern auch die Absage an die mittlere Ordnung des realen
Lebens in den falschen Formen des Bestehenden. Indem Hölderlins
Stilisationsprinzip gegen Erlebnis und Gelegenheit, gegen die
vorkünstlerischen und vom Gebrauch der Welt verschandelten
Elemente der Kunst sich zuspitzte, verging er sich gegen das
mächtigste Tabu der idealistischen Kunstlehre. Er hat die
Abstraktheit, die von deren Anschaulichkeit übertüncht ist, sichtbar
werden lassen. Weil er den Schein entfernt, der sie schon bei ihnen
war, macht er sich den Idealisten zum Narren, der im Wesenlosen
sich umtreibt. War den klassizistischen Dichtern, auch Jean Paul,
das einzelne Anschauliche Balsam für die Wunden, welche nach
herrschender Ansicht die Reflexion schlägt, so ist dem Autor des
Empedokles, gar nicht soviel anders als für Schopenhauer,
umgekehrt das principium individuationis wesentlich negativ,
Leiden. Auch Hegel hat es, darin einiger mit Schopenhauer, als
beide ahnten, relegiert zum Knoten im Leben des Begriffs, der sich
verwirklicht nur vermöge des Untergangs des Individuierten. Die
Sphäre des unbildlich Allgemeinen war für Hölderlin wesentlich das
Leidenlose; damit hat er es seiner Erfahrung eingebracht: »Ich
verstand die Stille des Aethers, / Der Menschen Worte verstand ich
nie.« 51 Der Ekel vor der Kommunikation, den diese Zeilen aus der
Kindheit überliefern, zeitigt in den späten Hymnen, als Konstituens
der Form, den Vorrang der Abstrakta. Sie sind beseelt, weil sie
eingetaucht waren ins Medium des Lebendigen, aus dem sie
entführen sollen; ihr Tödliches, worüber der bürgerliche Geist
sentimental sonst klagt, wird ins Rettende transfiguriert. Daraus
ziehen sie den Ausdruck, der vom Einzelnen, nach Hölderlins
Innervation, nur noch vorgetäuscht wird. Das schützt Hölderlin
zugleich vorm Fluch der Idealisierung. Diese vergoldet stets das
Einzelne. Sein Ideal jedoch wagt in der Gestalt der Sprache sich vor
bis zur Absage ans schuldhafte, gespaltene, in sich antagonistische
Leben, unversöhnlich allem Seienden. Bei Hölderlin ist das Ideal
unvergleichlich viel weniger kontaminiert als bei den Idealisten.
Kraft seiner individuellen Erfahrung von der Hinfälligkeit des
Individuellen und der Vormacht des Allgemeinen emanzipieren sich
die Begriffe von jener Erfahrung, anstatt sie bloß zu subsumieren.
So werden sie beredt; daher der Hölderlinsche Primat von Sprache.
Wie der Hegelsche Antinominalismus, das »Leben des Begriffs« ist
auch der Hölderlins ein entsprungener, zum Nominalismus selber
vermittelt und dadurch der Seinslehre entgegen. Die karg
reduzierten Realien seiner späten Dichtung, die frugalen Sitten auf
der armen Insel Patmos werden nicht verherrlicht wie in Heideggers
Satz: »Nahe ist der sachte Bann der allbekannten Dinge und ihrer
einfachen Verhältnisse.« 52 Diese sind dem Seinsphilosophen das
alte Wahre, als wäre der historisch unter maßloser Not und Mühe
gewonnene Ackerbau ein Aspekt des Seins an diesem selbst; für
Hölderlin sind sie, wie einst für Vergil und die Bukoliker, Abglanz
eines Unwiederbringlichen. Hölderlins Askese, sein Verzicht auf
den falschen romantischen Reichtum disponibler Bildung, weigert
in der Farbe des Farblosen sich der Propaganda für die restaurative
»Pracht des Schlichten« 53 . Seine fernen Phantasmata des Nahen
lassen nicht in der Schatzkammer von Heimatkunst sich horten. Ihm
bleibt das Einfache und Allgemeine übrig nach dem Hinscheiden
des Nahen, wörtlich von Vater und Mutter, durchtränkt von Trauer:
»So bindet und scheidet / Manches die Zeit. Ich dünk ihnen
gestorben, sie mir. / Und so bin ich allein. Du aber, über den
Wolken, / Vater des Vaterlands! mächtiger Aether! und du / Erd und
Licht! ihr einigen drei, die walten und lieben, / Ewige Götter! mit
euch brechen die Bande mir nie.« 54 Dem Realen jedoch widerfährt
Ehre, indem Hölderlin es verschweigt, nicht bloß als Antipoetisches,
sondern weil das dichterische Wort Scham ergreift vor der
unversöhnten Gestalt dessen, was ist. Wie dem Idealismus weigert
er sich dem dichterischen Realismus. Dieser ist, was dessen östliche
Ideologen heute krampfhaft vertuschen, bürgerlich schlechthin,
befleckt von jenem »Gebrauch«, jener Zurichtung von allem für
alles, gegen die Hölderlin angeht. Das realistische Prinzip der
Dichtung verdoppelt die Unfreiheit der Menschen, ihre
Unterwerfung unter die Maschinerie und deren latentes Gesetz, die
Warenform. Wer daran klebt, bezeugt nur, wie sehr mißlang, was er
der Menschheit als bereits Gelungenes einreden will. Hölderlin hat
nicht mitgespielt. Daß er die symbolische Einheit des Kunstwerks
zerschmetterte, mahnt an das Unwahre der Versöhnung von
Allgemeinem und Besonderem inmitten des Unversöhnten: die
klassizistische Gegenständlichkeit, welche auch die des objektiven
Hegelschen Idealismus war, klammert sich vergebens an die
leibhafte Nähe des Entfremdeten. Im Hang zum Gestaltlosen wird
das formgebende, losgelöste, im doppelten Sinn absolute Subjekt
seiner selber als Negativität inne, einer Vereinzelung, die doch keine
Fiktion positiver Gemeinschaft tilgt. Kraft solcher dem puren
Gedichteten innewohnenden Negativität wird diese im Geist ihres
Bannes ledig, befestigt sich nicht länger in sich; das ist an der bei
Hölderlin zentralen Idee des Opfers unvereinbar mit jenem
Repressiven, das sonst an Opfern nicht sich genug tun kann:
 
Denn selbstvergessen, allzubereit, den Wunsch
Der Götter zu erfüllen, ergreift zu gern,
Was sterblich ist und einmal offnen
Auges auf eigenem Pfade wandelt,
 
Ins All zurück die kürzeste Bahn, so stürzt
Der Strom hinab, er suchet die Ruh, es reißt,
Es ziehet wider Willen ihn von
Klippe zu Klippe, den Steuerlosen,
Das wunderbare Sehnen dem Abgrund zu. 55
 
Derlei Perspektiven verwehren es, Koinzidenz und Spannung
zwischen Hölderlin und der spekulativen Philosophie gegenüber
einem mythisierten Dichterischen als Epiphänomen, als
»Außenwerk der ›historischen‹ Erscheinungen« 56 abzutun. Sie
reichen hinab bis dorthin, wo Heidegger Mythisches gewahrt und,
indem er es herausklaubt und fixiert, dessen Konstellation mit dem
Wahrheitsgehalt entstellt.
 
Der Heideggerschen Methode wäre keine andere abstrakt zu
kontrastieren. Falsch ist jene, insofern sie als Methode von der
Sache sich losreißt; dem, was an Hölderlins Dichtung philosophisch
bedürftig ist, von außen Philosophie infiltriert. Das Korrektiv wäre
dort zu suchen, wo Heidegger, dem thema probandum zuliebe,
abbricht, beim Verhältnis des Inhalts, auch des gedanklichen, zur
Form. Nur in diesem Verhältnis konstituiert sich, was Philosophie
an Dichtung hoffen darf, ohne Gewalt zu ergreifen. Gegenüber der
schulmäßig rohen Trennung von Inhalt und Form hat die neuere
Poetologie auf ihrer Einheit insistiert. Daß aber auch die Beteuerung
unartikulierter Einheit von Form und Inhalt nicht länger zureicht,
zeigt kaum an einem ästhetischen Gegenstand sich eindringlicher als
an Hölderlin. Nur als gespannte zwischen ihren Momenten ist
solche Einheit zu denken; sie sind zu unterscheiden, wenn sie im
Gehalt zusammenstimmen sollen, schlechthin Getrenntes weder
noch indifferent Identisches. Bei Hölderlin sind die gesetzten Inhalte
überaus schwer zu nehmen und die Form nicht zu mißbrauchen als
Ausrede für ihre Unverbindlichkeit. Anstatt auf Form vag sich zu
berufen, ist zu fragen, was sie selber, als sedimentierter Inhalt,
leistet. Dabei wird man zuerst darauf stoßen, daß die Sprache
fernrückt. Bereits am Anfang von ›Brot und Wein‹ wird die
stillschweigend vorausgesetzte epische Gegenständlichkeit von den
sprachlichen Konfigurationen so tingiert, als wäre sie weit weg,
bloßes Gedächtnis wie das Saitenspiel des Einsamen, der ferner
Freunde gedenkt und der Jugendzeit. Die Sprache bekundet
Abgeschiedenheit, die Trennung von Subjekt und Objekt für den
Staunenden. Solcher Ausdruck ist unvereinbar mit der Reintegration
des Getrennten im Ursprung. Vor dem Allbekannten reiben
Hölderlins Verse sich gleichsam die Augen, als wäre es ein erstes
Mal; Bekanntes wird durch den Vortrag unbekannt, sein
Bekanntsein zum Schein wie in einem Distichon aus der
›Heimkunft‹: »Alles scheinet vertraut, der vorübereilende Gruß auch
/ Scheint von Freunden, es scheint jegliche Miene verwandt.« 57 So
weit weg dann fragt das ›Andenken‹: »Wo aber sind die Freunde?
Bellarmin / Mit dem Gefährten? Mancher / Trägt Scheue, an die
Quelle zu gehn; / Es beginnet nämlich der Reichtum / Im Meere.« 58
Während der Sinn dieser Verse getragen wird von der
geschichtsphilosophischen Konstruktion, daß nur durch Ferne,
Entäußerung hindurch der Geist zu sich selber gelange, wird die
Fremdheit, als Gehalt, von der Sprachform ausgedrückt durch den
Aufprall der Frage des gleichsam blind Einsamen nach den
Freunden, in Versen, welche unmittelbar mit jener Frage in keinem
Sinnzusammenhang stehen, sondern einzig in dem des
Ausgesparten. Durch den Hiatus erst, die Form, wird der Inhalt zum
Gehalt. In der ›Mnemosyne‹ ist einmal selbst auf jene Stütze des
Sinnes noch verzichtet und der ausdrückende Hiatus rein in die
Sprache verlegt, indem die ausmalende Antwort auf die Frage »Wie
aber Liebes?« – wie nämlich Liebes gleich dem Wahren sich
ereignen solle – ausgetilgt wird mit der zweiten und zerrütteten
Frage »aber was ist dies?« 59 Man wird aus dem Prinzip solcher
Wirkungen den anhaltenden Gebrauch teils streng befolgter, teils
abgewandelter antiker Strophen besser ableiten können als
literarhistorisch aus dem Klopstockschen Modell. Diesem hat
Hölderlin gewiß, wider die Gelegenheitsdichtung und den
dinghaften Reim, das Ideal des hohen Stils abgelernt. Er war
allergisch gegen das je zu Erwartende, vorweg schon Eingefangene
und Tauschbare des sprachlichen Convenus. Erniedrigung war ihm
gerade das billige Air von Poesie, und ihm weigern sich die
Odenstrophen. Sie nähern aber als reimlose in ihrer Strenge paradox
sich der Prosa und werden dadurch der Erfahrung des Subjekts
kommensurabler als die offiziell-subjektiven Reimstrophen. Ihre
Rigidität wird beredter denn das scheinbar Flexiblere. Mit dem
Übergang zu den freien Bildungen der späten Hymnen hat Hölderlin
diese Tendenz explizit gemacht. Die reine Sprache, deren Idee sie
konfigurieren, wäre Prosa wie die heiligen Texte. Schon die
Strophen der noch unverstörten langen Elegien sind ihrer Fiber nach
weniger solche und weniger willkürlich, als daß sie, ohne wie
Liedertexte im mindesten nach musikhaften Wirkungen zu schielen,
den Gliederungen der musikalischen Sonatenformen aus der
gleichen Periode sich annähern, der nach Sätzen, diskret abgesetzten
Einheiten im Einen. Unter der tektonischen Form, der er
absichtsvoll sich beugte, bildet bei Hölderlin sich eine subkutane,
unmetaphorisch komponierte. Eines von Hölderlins größten
Gedichten, ›Patmos‹, kennt etwas wie eine Reprise, in welche die
Strophe »Doch furchtbar ist, wie da und dort / Unendlich hin
zerstreut das Lebende Gott« 60 unmerklich übergeht: der Anklang
der Zeile: »Und fernhin über die Berge zu gehn« 61 an die erste
Strophe läßt sich nicht überhören.
Große Musik ist begriffslose Synthesis; diese das Urbild von
Hölderlins später Dichtung, wie denn Hölderlins Idee des Gesangs
streng für die Musik gilt, freigelassene, verströmende Natur, die,
nicht länger im Bann von Naturbeherrschung, eben dadurch sich
transzendiert. Aber die Sprache ist, vermöge ihres signifikativen
Elements, des Gegenpols zum mimetisch-ausdruckhaften, an die
Form von Urteil und Satz und damit an die synthetische Funktion
des Begriffs gekettet. Anders als in Musik, kehrt in der Dichtung die
begriffslose Synthesis sich wider das Medium: sie wird zur
konstitutiven Dissoziation. Die traditionelle Logik der Synthesis
wird darum von Hölderlin zart nur suspendiert. Benjamin hat
deskriptiv mit dem Begriff der Reihe diesen Sachverhalt erreicht:
»So daß hier, um die Mitte des Gedichts, Menschen, Himmlische
und Fürsten, gleichsam abstürzend aus ihren alten Ordnungen,
zueinander gereiht sind.« 62 Was von Benjamin auf die
Hölderlinsche Metaphysik als Ausgleich der Sphären der
Lebendigen und der Himmlischen bezogen wird, nennt zugleich die
sprachliche Verfahrungsweise. Während, wie Staiger mit Recht
hervorhob, die Hölderlinsche, an der griechischen gestählte kühn
durchgebildeter hypotaktischer Konstruktionen nicht enträt, fallen
als kunstvolle Störungen Parataxen auf, welche der logischen
Hierarchie subordinierender Syntax ausweichen. Unwiderstehlich
zieht es Hölderlin zu solchen Bildungen. Musikhaft ist die
Verwandlung der Sprache in eine Reihung, deren Elemente anders
sich verknüpfen als im Urteil. Exemplarisch eine Strophe aus der
zweiten Fassung des ›Einzigen‹. Von Christus wird gesagt:
 
Es entbrennet aber sein Zorn; daß nämlich
Das Zeichen die Erde berührt, allmählich
Aus Augen gekommen, als an einer Leiter.
Diesmal. Eigenwillig sonst, unmäßig
Grenzlos, daß der Menschen Hand
 
Anficht das Lebende, mehr auch, als sich schicket
Für einen Halbgott, Heiliggesetztes übergeht
Der Entwurf. Seit nämlich böser Geist sich
Bemächtiget des glücklichen Altertums, unendlich,
Langher währt Eines, gesangsfeind, klanglos, das
In Maßen vergeht, des Sinnes Gewaltsames. 63
 
Die Anklage gegen die Gewalttat des sich zum Unendlichen
gewordenen und sich vergottenden Geistes sucht nach einer
Sprachform, welche dem Diktat von dessen eigenem
synthesierenden Prinzip entronnen wäre. Daher das abgesprengte
»Diesmal«; die rondohaft assoziative Verbindung der Sätze; die
zweimal verwendete, vom späten Hölderlin überhaupt begünstigte
Partikel »nämlich«. Sie rückt folgerungslose Explikation anstelle
eines sogenannten gedanklichen Fortgangs. Das verschafft der Form
ihren Vorrang über den Inhalt, auch den gedanklichen. Er wird ins
Gedichtete transportiert, indem die Form ihm sich anbildet und das
Gewicht des spezifischen Moments von Denken, der synthetischen
Einheit, herabmindert. Derlei von der Fessel wegstrebende Gefüge
finden sich an Hölderlins erhobensten Stellen, und zwar bereits in
Gedichten aus der Zeit vor der Krise. So bei der Zäsur von ›Brot
und Wein‹: »Warum schweigen auch sie, die alten heilgen Theater?
/ Warum freuet sich denn nicht der geweihete Tanz? / Warum
zeichnet, wie sonst, die Stirne des Mannes ein Gott nicht, /Drückt
den Stempel, wie sonst, nicht dem Getroffenen auf? / Oder er kam
auch selbst und nahm des Menschen Gestalt an / Und vollendet' und
schloß tröstend das himmlische Fest.« 64 Der
geschichtsphilosophische Rhythmus, der den Sturz der Antike und
das Erscheinen Christi zusammenfügt, wird unterbrechend markiert
durch das Wort »Oder«; dort, wo das Bestimmteste genannt ist, die
Katastrophe, wird diese Bestimmung als vorkünstlerisch, als bloß
gedanklicher Inhalt, nicht in fester Urteilsform behauptet, sondern
gleich einer Möglichkeit vorgeschlagen. Der Verzicht auf
prädikative Behauptung nähert ebenso den Rhythmus einem
musikalischen Verlauf an, wie er den Identitätsanspruch der
Spekulation mildert, die sich anheischig macht, Geschichte in ihre
Identität mit dem Geist aufzulösen. Die Form reflektiert nochmals
den Gedanken, als wäre es bereits Hybris, das Verhältnis von
Christentum und Antike thetisch zu fixieren. Unter Parataxe sind
aber nicht nur, eng, die mikrologischen Gestalten reihenden
Übergangs zu denken. Wie in Musik ergreift die Tendenz größere
Strukturen. Hölderlin kennt Formen, die, in erweitertem Sinn,
insgesamt parataktisch heißen dürften 65 . Die bekannteste unter
ihnen ist ›Hälfte des Lebens‹. Auf eine an Hegel mahnende Weise
sind Vermittlungen des vulgären Typus, ein Mittleres außerhalb der
Momente, die es verbinden soll, als äußerlich und unwesentlich
eliminiert, wie vielfach in Beethovens Spätstil; nicht zuletzt das
verleiht Hölderlins später Dichtung ihr Antiklassizistisches, gegen
Harmonie sich Sträubendes. Das Gereihte ist als Unverbundenes
schroff nicht weniger denn gleitend. Vermittlung wird ins
Vermittelte selbst gelegt anstatt zu überbrücken. Jede der beiden
Strophen der ›Hälfte des Lebens‹ bedarf, wie Beissner und
neuerdings Szondi betont haben, in sich ihres Gegenteils. Auch
darin erweist Inhalt und Form bestimmbar sich als eines; die
inhaltliche Antithese von sinnhafter Liebe und Geschlagensein
bricht, um Ausdruck zu werden, ebenso die Strophen auseinander,
wie umgekehrt die parataktische Form den Schnitt zwischen den
Hälften des Lebens selbst erst vollzieht.
Die parataktische Tendenz Hölderlins hat ihre Vorgeschichte.
Vermutlich spielt die Beschäftigung mit Pindar ihre Rolle 66 . Gern
knüpft dieser an die Namen der verherrlichten Sieger, ihrer Fürsten
oder der Orte, von denen sie stammen, Berichte über mythische
Ahnen oder Ereignisse an. Jüngst ist diese Eigentümlichkeit als
zugleich formales Moment betont worden von Gerhard Wirths
Pindar-Einleitung in der Rowohlt-Anthologie griechischer Lyrik:
»Dabei stehen die einzelnen Teile dieser oft weit ausholenden
Ausdeutungen in losem Zusammenhang, werden kaum verknüpft
oder auseinander entwickelt.« 67 Analoges wurde auch an anderen
Chorlyrikern wie Bakchylides und Alkman beobachtet 68 . Das
erzählende Moment der Sprache entzieht von sich aus sich der
Subsumtion unter den Gedanken; je treuer episch die Darstellung,
desto mehr lockert sich die Synthesis angesichts der Pragmata, die
sie nicht ungeschmälert beherrscht. Das Eigenleben der
Pindarischen Metaphern gegenüber dem mit ihnen Bedeuteten, das
gegenwärtig in der klassischen Philologie diskutiert wird; die
Formation eines strömenden Kontinuums von Bildern, dürfte dem
nächstverwandt sein. Was am Gedicht zur Erzählung tendiert,
möchte hinab ins prälogische Medium, sich treiben lassen mit der
Zeit. Der Logos hatte diesem Entgleitenden des Berichts um dessen
Objektivation willen entgegengewirkt; die späte dichterische
Selbstreflexion Hölderlins ruft es herauf. Auch darin konvergiert sie
aufs erstaunlichste mit der Textur von Hegels Prosa, die, im
paradoxen Widerspruch zur systematischen Absicht, ihrer Gestalt
nach den Klammern der Konstruktion desto mehr sich entwindet, je
vorbehaltloser sie sich, dem Programm der Einleitung der
Phänomenologie gemäß, dem »reinen Zusehen« überläßt, und Logik
ihr zur Geschichte wird 69 . Nicht zu überhören ist das Pindarische
Modell in der Patmos-Hymne, der großartigsten parataktischen
Struktur aus Hölderlins Hand; etwa dort, wo die Beschreibung der
armen und gastfreundlich tröstenden Insel, auf welcher der Dichter
Zuflucht sucht, assoziativ die Erzählung von Johannes auslöst, der
dort weilte: »... und liebend tönt / Es wider von den Klagen des
Manns. So pflegte / Sie einst des gottgeliebten, / Des Sehers, der in
seliger Jugend war / Gegangen mit / Dem Sohne des Höchsten,
unzertrennlich, denn / Es liebte der Gewittertragende die Einfalt /
Des Jüngers.« 70
Aber Hölderlins reihende Technik ist schwerlich aus Pindar
abzuleiten, sondern hat ihre Bedingung in einer eingewurzelten
Verhaltensweise seines Geistes. Es ist die Fügsamkeit. Ältere
Kommentatoren 71 , philosophisch arglos und noch ungewarnt vor
Psychologie, haben auf den Unterschied des Hölderlinschen
Entwicklungsgangs vom typischen der Dichter aufmerksam
gemacht. Die Härte seines Schicksals sei nicht von Rebellion
gezeitigt worden, sondern von allzu großer Abhängigkeit von den
Mächten seiner Herkunft, zumal der Familie. Tatsächlich führt das
recht weit. Hölderlin hat die Ideale, die man ihn lehrte, geglaubt, als
autoritätsfrommer Protestant zur Maxime verinnerlicht. Danach
mußte er erfahren, daß die Welt anders ist als die Normen, die sie
ihm einpflanzte. Der Gehorsam gegen diese trieb ihn in den
Konflikt, machte ihn zum Anhänger Rousseaus und der
Französischen Revolution, am Ende zum nichtkonformierenden
Opfer, stellvertretend für die Dialektik der Verinnerlichung im
bürgerlichen Zeitalter. Die Sublimierung primärer Fügsamkeit aber
zur Autonomie ist jene oberste Passivität, die ihr formales Korrelat
in der Technik des Reihens fand. Die Instanz, der Hölderlin nun sich
fügt, ist die Sprache. Losgelassen, freigesetzt, erscheint sie nach
dem Maß subjektiver Intention parataktisch zerrüttet. Der
Schlüsselcharakter des Parataktischen liegt in Benjamins
Bestimmung der »Blödigkeit« als der Haltung des Dichters: »In die
Mitte des Lebens versetzt, bleibt ihm nichts als das reglose Dasein,
die völlige Passivität, die das Wesen des Mutigen« 72 sei. Bei
Hölderlin selbst findet sich eine Reflexion, welche über die
poetische Funktion des parataktischen Verfahrens das vollste Licht
verbreitet: »Man hat Inversionen der Worte in der Periode. Größer
und wirksamer muß aber dann auch die Inversion der Perioden
selbst sein. Die logische Stellung der Perioden, wo dem Grunde (der
Grundperiode) das Werden, dem Werden das Ziel, dem Ziele der
Zweck folgt, und die Nebensätze immer nur hinten angehängt sind
an die Hauptsätze, worauf sie sich zunächst beziehen, – ist dem
Dichter gewiß nur höchst selten brauchbar.« 73 Hölderlin verwirft
damit die syntaktische Periodizität Ciceronischen Wesens als
unbrauchbar für die Dichtung. Primär mochte ihn die Pedanterie
abstoßen. Sie ist unvereinbar mit der Begeisterung, von welcher die
folgenden Aphorismen handeln, dem heiligen Wahn des Phaidros.
Motiviert aber wird Hölderlins Überlegung von mehr als der
poetischen Aversion gegen das Prosaische. Das Stichwort lautet
»Zweck«. Es nennt die Komplizität der Logik ordnenden und
verfügenden Bewußtseins mit jenem Praktischen, das, als
»Brauchbares«, nach Hölderlins Vers, mit dem Heiligen, dessen
Rang er der Dichtung unmetaphorisch zumißt, von nun an nicht
mehr versöhnbar sei. Der Logik dicht geschlossener und notwendig
ins Nächste mündender Perioden eignet eben jenes Zwangshafte,
Gewalttätige, von dem die Dichtung heilen soll und das von der
Hölderlinschen unmißverständlich negiert wird. Sprachliche
Synthesis widerspricht dem, was er zum Sprechen bringen will. Der
Rousseau verehrte, befolgt darum als Dichter nicht länger den
contrat social. Er hat, nach dem Wortlaut jener Reflexion, zunächst
im Geist von Dialektik gegen die Syntax syntaktisch sich gewandt,
mit einem ehrwürdig traditionellen Kunstmittel, der Inversion der
Periode. So hat Hegel kraft der Logik, und ihr immanent, gegen sie
protestiert. Die parataktische Auflehnung wider die Synthesis hat
ihre Grenze an der synthetischen Funktion von Sprache überhaupt.
Visiert ist Synthesis von anderem Typus, deren sprachkritische
Selbstreflexion, während die Sprache Synthesis doch festhält. Deren
Einheit zu brechen, wäre dieselbe Gewalttat, welche die Einheit
verübt; aber die Gestalt der Einheit wird von Hölderlin so
abgewandelt, daß nicht bloß das Mannigfaltige in ihr widerscheint –
das ist in der herkömmlichen synthetischen Sprache ebenfalls
möglich –, sondern daß die Einheit selber anzeigt, sie wisse sich als
nicht abschlußhaft. Ohne Einheit wäre in der Sprache nichts als
diffuse Natur; absolute Einheit war der Reflex darauf.
Demgegenüber zeichnet bei Hölderlin sich ab, was erst Kultur wäre:
empfangene Natur. Nur ein anderer Aspekt desselben Sachverhalts
ist es, daß Hölderlins parataktische Sprache unters Formapriori fällt:
Stilmittel. An der rhetorischen Technik mußte der Künstler, ohne
daß wohl seine Reflexionen dazu überliefert wären, beobachten, wie
sehr sie verkleidet, wie wenig sie ändert an dem logischen Zwang,
welcher dem Ausdruck der Sache widerfährt; ja daß die Inversion,
Favorit gelehrter Dichtung, die Gewalt wider die Sprache verstärkt.
Das veranlaßte, sei's in Hölderlins Absicht, sei's lediglich aus der
Sache heraus, das Opfer der Periode bis zu einem Äußersten. Es
vertritt dichterisch das des gesetzgebenden Subjekts selbst. Mit ihm
erschüttert in Hölderlin die dichterische Bewegung erstmals die
Kategorie des Sinnes. Denn dieser konstituiert sich durch den
sprachlichen Ausdruck synthetischer Einheit. Mit dem
gesetzgebenden Subjekt wird dessen Intention, der Primat des
Sinnes, an die Sprache zediert. Ihr Doppelcharakter enthüllt sich in
Hölderlins Dichtung. Als begriffliche und prädikative steht Sprache
dem subjektiven Ausdruck entgegen, nivelliert das Auszudrückende
auf ein je schon Vorgegebenes und Bekanntes vermöge ihrer
Allgemeinheit. Dagegen begehren die Dichter auf. Ohne Unterlaß
möchten sie der Sprache, bis zu deren Untergang hin, das Subjekt
und seinen Ausdruck einverleiben. Etwas davon hat fraglos auch
Hölderlin inspiriert, insofern er dem sprachlichen Convenu
widerstand. Aber das verschmilzt in ihm mit der Antithesis zum
expressiven Ideal. Seine dialektische Erfahrung weiß von der
Sprache nicht bloß als von einem Äußerlichen und Repressiven,
sondern kennt ebensowohl ihre Wahrheit. Ohne zur Sprache sich zu
entäußern, wäre die subjektive Intention überhaupt nicht. Das
Subjekt wird es erst durch Sprache. Hölderlins Sprachkritik bewegt
sich darum in der Gegenrichtung zum Subjektivierungsprozeß,
ähnlich wie man sagen könnte, daß Beethovens Musik, in welcher
das kompositorische Subjekt sich emanzipiert, zugleich ihr
geschichtlich prästabiliertes Medium, die Tonalität, selber zum
Sprechen bringt, anstatt sie vom Ausdruck her einzig zu negieren.
Vorm Konformismus, dem »Gebrauch«, hat Hölderlin die Sprache
zu erretten getrachtet, indem er aus subjektiver Freiheit sie selbst
über das Subjekt erhob. Damit zergeht der Schein, die Sprache wäre
schon dem Subjekt angemessen, oder es wäre die sprachlich
erscheinende Wahrheit identisch mit der erscheinenden
Subjektivität. Die sprachliche Verfahrungsweise findet sich mit dem
Antisubjektivismus des Gehalts zusammen. Sie revidiert die
trügende mittlere Synthesis vom Extrem, von der Sprache selbst her;
korrigiert den Vorrang des Subjekts als des Organons solcher
Synthesis. Hölderlins Vorgehen legt Rechenschaft davon ab, daß
das Subjekt, das sich als Unmittelbares und Letztes verkennt,
durchaus ein Vermitteltes sei. Diese unabsehbar folgenreiche
Änderung des sprachlichen Gestus ist jedoch polemisch zu
verstehen, nicht ontologisch; nicht so, als ob die im Opfer der
subjektiven Intention bekräftigte Sprache an sich, schlechterdings
jenseits des Subjekts wäre. Indem die Sprache die Fäden zum
Subjekt durchschneidet, redet sie für das Subjekt, das von sich aus –
Hölderlin war wohl der erste, dessen Kunst das ahnte – nicht mehr
reden kann. Freilich ist in der dichterischen Sprache, die ja ihrer
Beziehung auf die empirische nicht vollends sich entledigen kann,
ein solches An sich aus reiner subjektiver Velleität nicht
herzustellen. Daher einerseits die Abhängigkeit des Hölderlinschen
Unterfangens von griechischer Bildung überall, wo bei ihm Sprache
Natur werden will; andererseits das Moment des Zerfallenden,
worin die Unerreichbarkeit des sprachlichen Ideals sich offenbart.
Romantisch ist Hölderlins Aktion, Sprache selbst zum Sprechen zu
bringen, sein Objektivismus. Dieser prägt das Gedichtete zum
Ästhetischen und schließt dessen Interpretation als die eines
Unmittelbaren, als der vorgeblichen Sage, kategorisch aus.
Hölderlins intentionslose Sprache, deren »nackter Fels ... schon
überall an Tag tritt« 74 , ist ein Ideal, das der geoffenbarten. Nur als
zum Ideal verhält seine Dichtung sich zur Theologie, surrogiert sie
nicht. Die Distanz von ihr ist das eminent Moderne an ihm. Der
idealische Hölderlin inauguriert jenen Prozeß, der in die sinnleeren
Protokollsätze Becketts mündet. Das wohl gestattet, Hölderlin heute
so unvergleichlich viel weiter zu begreifen als ehedem.
Im tiefsten Verhältnis zum parataktischen Verfahren stehen die
Hölderlinschen Korrespondenzen, jene plötzlichen Beziehungen
antiker und moderner Schauplätze und Figuren. Auch Beissner ist
auf Hölderlins Neigung aufmerksam geworden, Zeiten
durcheinander zu schütteln, Entlegenes und Unverbundenes zu
verbinden; das dem Diskursiven entgegengesetzte Prinzip solcher
Assoziation mahnt an die Reihung grammatischer Glieder. Beides
hat Dichtung der Zone des Wahnsinns abgezwungen, in der die
Gedankenflucht ebenso gedeiht wie die Bereitschaft mancher
Schizophrener, ein jegliches Reales als Zeichen eines Verborgenen
zu sehen, mit Bedeutung zu laden. Dazu treibt der objektive Gehalt
ohne Rücksicht auf Klinisches: unterm Hölderlinschen Blick werden
geschichtliche Namen zu Allegorien des Absoluten, das doch in
keinem sich erschöpft; wohl dort schon, wo ihm der Friede von
Lunéville Manifestation eines dessen geschichtliche Bedingtheiten
Überschreitenden ward. Ebenso nähert dem Wahn sich Hölderlins
reife Sprache als eine Folge von Störungsaktionen, die sie an der
gesprochenen ebenso wie am hohen Stil des deutschen Klassizismus
verübt, der, bis auf die mächtigsten Gebilde des alten Goethe, mit
dem kommunikativen Wort Kameradschaft hielt. Auch in der Form
hat die Hölderlinsche Utopie ihren Zoll zu entrichten. Trifft die
These Beissners von der durchweg triadischen Struktur der späten
Hymnen zu – die sogenannte strophische Gliederung der
vorhergehenden großen Elegien spricht für Formprinzipien eines
solchen Typus –, dann hatte Hölderlin es bereits mit der höchst
modernen Schwierigkeit artikulierter Konstruktion unter Verzicht
auf vorgegebene Schemata zu tun. Das triadische
Konstruktionsprinzip jedoch wäre dem Verlauf der Dichtung,
unvereinbar mit ihrem Gehalt, von obenher aufgepfropft. Es hätte
auch dem Versgefüge widersprochen. Bereits den Artisten Hölderlin
träfe Rudolf Borchardts Kritik an den aus Blankversen gebildeten,
aber regelmäßig gebauten Strophen in Georges Siebentem Ring:
»Der reimlose Vers ist behandelt, als stäufte und dämmte ihn der
heilige Reimzwang nach rückwärts auf. Die Strophe schließt so
unweigerlich nach acht Zeilen, als hätte ein Umlauf der Form sich
erfüllt, der nicht da ist; was da ist, mindestens mehr oder weniger,
ist ein Umlauf des Gedankens, aber es ist Sache des künstlerischen
Gefühls, zu entscheiden, ob er imstande ist, für sich Strophe zu
konstituieren oder ob nicht gerade hier das feine Ungefähr eintreten
müßte, das auf Ähnlichkeit, nicht Gleichheit dringt.« 75 Die
Reflexion auf diesen Mangel könnte recht wohl den
fragmentarischen Charakter der großen Hymnen erklären helfen: sie
wären konstitutiv unvollendbar. Hölderlins Verfahren kann
Antinomien nicht entrinnen, so wie es, als Attentat aufs
harmonische Werk, von dessen antinomischem Wesen selber
ausgeht 76 . Kritik an Hölderlin, als eine am Wahrheitsgehalt der
Hymnen, müßte deren geschichtsphilosophische Möglichkeit
untersuchen und damit die der von Hölderlin visierten Theologie.
Solche Kritik wäre der Dichtung nicht transzendent. Die
ästhetischen Handstreiche, von der quasi-quantitativen
Strophenteilung der großen Elegien bis hinauf zu den triadischen
Konstruktionen, sind Zeugnisse einer Unmöglichkeit im Innersten.
Weil die Hölderlinsche Utopie nicht im Hegelschen Sinn
substantiell, nicht im objektiven Geist der Epoche konkretes
Potential der Wirklichkeit ist, muß Hölderlin durchs
Stilisationsprinzip sie oktroyieren. Dessen Widerspruch zur
dichterischen Gestalt selber wird zu deren Mangel. Prototypisch
widerfuhr der Hymnik, was hundert Jahre später dem Jugendstil als
Kunstreligion zum offenbaren Verhängnis wurde. Je nachhaltiger
aber der lyrische Objektivitätsanspruch Hölderlins; je weiter er sich
von der subjektiven Ausdruckslyrik um ihrer Hinfälligkeit willen
entfernt, desto schmerzlicher wird sein Werk vom Widerspruch zu
seiner Möglichkeit geschlagen, dem zwischen der Objektivität,
welche es von der Sprache erhofft, und der Weigerung der
dichterischen Fiber, sie voll zu gewähren. – Was jedoch in der
Abkehr vom Subjekt Hölderlins Sprache an Intentionen einbüßt,
kehrt wieder im Sinn der Korrespondenzen. Ihr Pathos, das der
Objektivation des Namens, ist maßlos: »Wie Morgenluft sind
nämlich die Namen / Seit Christus. Werden Träume.« 77 Das
griechisch-deutsche quid pro quo, das übrigens im Helena-Akt ein
gewisses Analogon hat, entreißt das kanonische Griechenland der
Ideenwelt, wider die idealistische Ästhetik. Danach muß das
gesamte Zeitalter begehrt haben, das am griechischen
Freiheitskampf sich begeisterte; er schien zum letzten Mal den
hindämmernden Hölderlin aus der Lethargie zu holen. Ein Atlas von
Hölderlins allegorischer Geographie Griechenlands, samt den
süddeutschen Gegenpunkten, wäre anzulegen. In den rationaler
Kontrolle entrückten Korrespondenzen hat Hölderlin das Rettende
sich erhofft. Der Name allein hat bei ihm Macht übers Amorphe, das
er fürchtet; insofern sind seine Parataxen und Korrespondenzen
Widerpart der Regressionen, mit denen sie so sehr übereinkommen.
Der Begriff selber wird ihm zum Namen; in ›Patmos‹ wird beides
nicht unterschieden, sondern synonym verwendet: »Denn begrifflos
ist das Zürnen der Welt, namlos.« 78 Die Verselbständigung der
Abstrakta, nicht unähnlich der Hegelschen Lehre von der
Wiederherstellung der Unmittelbarkeit auf jeder Stufe dialektischer
Vermittlung, läßt die nach Benjamins Wort wie trigonometrische
Signale 79 aufgerichteten Begriffe mit den Namen konvergieren; die
Dissoziation in diese ist die innerste Tendenz der Hölderlinschen
Parataxis.
Wie mit den Korrespondenzen, ist das parataktische
Formprinzip, ein Antiprinzip, insgesamt kommensurabel mit dem
faßlichen Inhalt von Hölderlins später Lyrik. Es umschreibt die
Sphäre der Koinzidenz von Inhalt und Form, deren bestimmte
Einheit im Gehalt. Dem Inhalt nach ist Synthesis oder Identität
soviel wie Naturbeherrschung. Erhebt alle Dichtung, mit ihren
eigenen Mitteln, Einspruch wider jene, so erwacht der Einspruch bei
Hölderlin zum Selbstbewußtsein. Schon in der Ode ›Natur und
Kunst‹ wird Partei ergriffen für die gestürzte Natur gegen den
herrschaftlichen Logos. Zeus ist angeredet:
 
Doch in den Abgrund, sagen die Sänger sich,
Habst du den heilgen Vater, den eignen, einst
Verwiesen und es jammre drunten,
Da, wo die Wilden vor dir mit Recht sind,
 
Schuldlos der Gott der goldenen Zeit schon längst:
Einst mühelos, und größer, wie du, wenn schon
Er kein Gebot aussprach und ihn der
Sterblichen keiner mit Namen nannte.
 
Herab denn! oder schäme des Danks dich nicht!
Und willst du bleiben, diene dem Älteren,
Und gönn es ihm, daß ihn vor allen,
Göttern und Menschen, der Sänger nenne! 80
 
In diesen Strophen, die ihrer Abkunft von der Schillerschen
Gedankenlyrik keineswegs sich schämen, bleibt bei aller Sympathie
fürs Mühelose der goldenen Zeit die Grenze gegen matriarchale
Romantik aufklärerisch geachtet. Nicht wird die Herrschaft des
Logos abstrakt negiert, sondern in ihrer Beziehung auf das von ihr
Gestürzte erkannt; Naturbeherrschung selber als ein Stück Natur,
mit dem Blick auf Humanität, die anders nicht als durch Gewalt
dem Amorphen, »Wilden« sich entrang, während in der Gewalt das
Amorphe sich forterbt:
 
Denn, wie aus dem Gewölke dein Blitz, so kömmt
Von ihm, was dein ist, siehe! so zeugt von ihm,
Was du gebeutst, und aus Saturnus
Frieden ist jegliche Macht erwachsen. 81
 
Philosophisch ist die Anamnesis der unterdrückten Natur, in der
Hölderlin bereits das Wilde vom Friedlichen sondern möchte, das
Bewußtsein von Nichtidentität, das den Identitätszwang des Logos
überflügelt. Die dritte Fassung von ›Versöhnender, der du nimmer
geglaubt ...‹ bringt die Verse: »Denn nur auf menschliche Weise,
nimmermehr / Sind jene mit uns, die fremden Kräfte, vertraut / Und
es lehret das Gestirn dich, das / Vor Augen dir ist, denn nimmer
kannst du ihm gleichen.« 82 Unterm »ungebundnen Boden« der
›Patmos‹-Entwürfe 83 ist schwerlich etwas anderes vorzustellen als
die nicht unterdrückte Natur, in welche die Johanneische Milde
auswandert. Naturbeherrschung selbst nähert in der Hölderlinschen
Bilderwelt sich der Erbsünde; das ist das Maß seines
Einverständnisses mit dem Christentum. Der Anfang der dritten
Fassung der ›Mnemosyne‹, vielleicht des wichtigsten Textes zu
Hölderlins philosophischer Dechiffrierung, reiht die Sätze: »Aber
bös sind / Die Pfade. Nämlich unrecht, / Wie Rosse, gehn die
gefangenen /Element und alten / Gesetze der Erd. Und immer / Ins
Ungebundene gehet eine Sehnsucht.« 84 Das anschließende »Vieles
aber ist / Zu behalten«, die Legitimation des Dichters als des
Eingedenkenden, gilt danach wohl ebenso dem Unterdrückten, dem
die Treue zu bewahren sei. Die Strophe endet mit den Zeilen:
»Vorwärts aber und rückwärts wollen wir / Nicht sehn. Uns wiegen
lassen, wie / Auf schwankem Kahne der See.« 85 Vorwärts nicht:
unter dem Gesetz des Gegenwärtigen, bei Hölderlin dem der
Dichtung, mit einem Tabu gegen die abstrakte Utopie, in dem das
theologische Bilderverbot nachlebt und das Hölderlin teilt mit Hegel
und Marx. Rückwärts nicht: um der Unwiederbringlichkeit des
einmal Gestürzten willen, des Angelpunktes zwischen Dichtung,
Geschichte und Ideal. Der als Anakoluth und in wunderlicher
Verkehrung ausgedrückte Entschluß endlich »Uns wiegen lassen,
wie / Auf schwankem Kahne der See« ist wie ein Vorsatz, der
Synthesis sich zu entschlagen, der reinen Passivität sich
anzuvertrauen, um Gegenwart ganz zu erfüllen. Denn alle Synthesis
– keiner wußte das besser als Kant – geschieht wider die reine
Gegenwart, als Beziehung aufs Vergangene und Künftige, jenes
Rückwärts und Vorwärts, das von Hölderlins Tabu ereilt wird.
Die Parole, nicht nach rückwärts zu sehen, richtet sich gegen die
Schimäre des Ursprungs, den Rekurs auf Elemente. Benjamin hat in
seiner Jugend, obgleich ihm damals noch Philosophie als System
möglich dünkte 86 , das gestreift. Das Programm einer Methode der
»Darstellung des Gedichteten«, doch wohl von der Einsicht in
Hölderlin inspiriert, sagt von jener: »Ihr kann es nicht um den
Nachweis sogenannter letzter Elemente zu tun sein.« 87 Er ist damit
unwillkürlich auf die dialektische Komplexion des Gehalts von
Hölderlins Dichtung gestoßen. Die Hölderlinsche Kritik am Ersten,
den Nachdruck auf Vermittlung, den dessen Abkehr vom
naturbeherrschenden Prinzip einschließt, übersetzt er in die Methode
ästhetischer Interpretation. Daß, wie in Hegels Logik, Identität nur
als eine des Nichtidentischen, als »Durchdringung« vorzustellen sei,
kommt mit Hölderlins später Dichtung insofern überein, als diese
nicht dem herrschaftlichen Prinzip, in abstrakter Negation, das
Beherrschte, an sich Chaotische als Heiles entgegensetzt. Einen
Stand von Freiheit erwartet Hölderlin nur durchs synthetische
Prinzip hindurch, von dessen Selbstreflexion. Im selben Geist hatte
bereits das Kantische Antinomienkapitel, wo erstmals Freiheit in
ihrer Opposition zur universalen Regelhaftigkeit erörtert wird,
gelehrt, sie, die Unabhängigkeit von den Gesetzen der Natur sei
»zwar eine Befreiung vom Zwange, aber auch vom Leitfaden aller
Regeln« 88 , also ein fragwürdiger Segen. Er erklärt das in der
Antithesis der dritten Antinomie als »Blendwerk« designierte
Prinzip solcher Freiheit für ebenso blind wie die bloß von außen
aufgelegten Ordnungen. Von der Doppelstellung zur Natur ist die
Ära unmittelbar nach Kant nicht abgegangen. Zur Eindeutigkeit ließ
die Spekulation sich nicht verleiten, weder zur absoluten
Rechtfertigung der Natur noch der des Geistes; beides ist ihr gleich
verdächtig als abschlußhaftes Prinzip. Die Spannung beider
Momente, keine These, ist das Lebenselement auch des
Hölderlinschen Werks. Selbst wo er zur Lehre tendiert, hütet er sich
vor dem, was Hegel noch Fichte vorwarf, dem bloßen »Spruch«.
Die von philologischen Kommentatoren wie Beissner 89 bemerkte,
mit Heideggers Erläuterungen unvereinbare dialektische Struktur
der Hymnen ist weder bloß poetisches Formprinzip noch Anpassung
an die philosophische Doktrin. Sie ist eine von Form wie von Inhalt.
Die immanente Dialektik des späten Hölderlin ist, gleich der des zur
Phänomenologie reifenden Hegel, Kritik am Subjekt nicht weniger
als an der verhärteten Welt, nicht umsonst pointiert gegen jenen
Typus subjektiver Lyrik, der seit dem jungen Goethe zur Norm
geworden und mittlerweile selber verdinglicht war. Subjektive
Reflexion negiert auch die Fehlbarkeit und Endlichkeit des
Einzelwesens, die das poetische Ich mitschleppt. Den späten
Hymnen ist Subjektivität das Absolute nicht und nicht das Letzte.
Jene frevle, wo sie als solches sich aufwirft, während sie doch
immanent zur Selbstsetzung genötigt ist. Das ist die Konstruktion
der Hybris bei Hölderlin. Sie entstammt dem mythischen
Vorstellungskreis, dem der Gleichheit von Verbrechen und Buße,
will aber auf Entmythologisierung hinaus, indem sie den Mythos in
der Selbstvergottung des Menschen wiederfindet. Verse aus dem
›Quell der Donau‹, welche vielleicht die berühmten des Sophokles
variieren, beziehen sich darauf: »Denn vieles vermag / Und die Flut
und den Fels und Feuersgewalt auch / Bezwingt mit Kunst der
Mensch / Und achtet, der Hochgesinnte, das Schwert / Nicht, aber es
steht /Vor Göttlichem der Starke niedergeschlagen, / Und gleichet
dem Wild fast.« 90 Gewiß drückt »Wild« zunächst die Ohnmacht des
Einzelwesens gegenüber dem durch seinen Untergang hindurch sich
realisierenden Absoluten aus; die Assoziation mit Wildheit aber, die
es dichterisch mit sich führt, ist ebenso Prädikat der Gewalt jenes
»Hochgesinnten«, welcher Natur mit Kunst bezwingt und das
»Schwert nicht achtet«: doch wohl als selbst kriegerischer Held. Der
fragmentarische Schluß von ›Wie wenn am Feiertage‹ mag fürs
Gleiche konzipiert gewesen sein. Der Dichter, genaht, die
Himmlischen zu schauen, wird darum zum »falschen Priester«,
seine absolute Wahrheit zum Unwahren schlechthin, und er wird ins
Dunkel geworfen, sein Lied in die Warnung der »Gelehrigen«,
deren Kunst Natur beherrscht, umgewendet 91 , Anamnesis des
Einspruchs von Kunst wider die Rationalität. Die Strafe für die
Hybris ist der Widerruf der Synthesis aus der Bewegung des Geistes
selber. Hölderlin verurteilt das Opfer als geschichtlich überholt und
verurteilt dennoch zum Opfer den Geist, der immerzu opfert, was
ihm nicht gleicht.
Synthesis war die Losung des Idealismus. Zu diesem rückt die
herrschende Ansicht Hölderlin in einfachen Gegensatz unter
Berufung auf die mythische Schicht seines Werkes. Wodurch jedoch
Hölderlin dem Idealismus absagt, die Kritik an der Synthesis, das
entfernt ihn auch vom mythischen Bereich. Wohl versteigt die
Strophe vom Abendmahl in ›Patmos‹ sich zur verzweifelten
Affirmation des Todes Christi als des Halbgotts: »Denn alles ist gut.
Drauf starb er. Vieles wäre / Zu sagen davon.« 92 Die kahl
zusammenfassende Beteuerung »Denn alles ist gut« ist die durch
solche Reduktion trostlose Quintessenz des Idealismus. Er hofft, die
inkommensurabel fremde Gestalt verstrickten bloßen Daseins, das
»Zürnen der Welt«, zu bannen, indem er deren Totalität – »alles« –
dem Geiste gleichsetzt, dem sie inkommensurabel bleibt. Die Lehre,
es sei der Inbegriff der Verstrickung deren eigener Sinn, kulminiert
im Opfer. Die Symbiose des Christlichen und Griechischen in
Hölderlins später Lyrik steht unter dessen Zeichen; säkularisierte
Hegel das Christentum zur Idee, so siedelte Hölderlin es zurück in
die mythische Opferreligion. Die letzte ›Patmos‹-Strophe macht sich
zu deren Orakel: »Denn Opfer will der Himmlischen jedes, /Wenn
aber eines versäumt ward, / Nie hat es Gutes gebracht.« 93 Daran
jedoch heften sich Verse, die, kaum zufällig, Schellings Lehre von
den Weltaltern nicht nur, sondern Bachofen zu antezipieren
scheinen: »Wir haben gedienet der Mutter Erd / Und haben jüngst
dem Sonnenlichte gedient, / Unwissend.« 94 Diese Verse sind der
Schauplatz dialektischen Umschlags. Denn Entmythologisierung ist
selber nichts anderes als die Selbstreflexion des solaren Logos, die
der unterdrückten Natur zur Rückkunft verhilft, während sie in den
Mythen eins war mit der unterdrückenden. Vom Mythos befreit
einzig, was ihm das Seine gibt. Die Genesung dessen, woran nach
romantisch-mythologisierender These Reflexion die Schuld trug,
soll nach deren Hölderlinscher Antithesis gelingen durch Reflexion
im strengsten Sinn, dadurch, daß das Unterdrückte ins Bewußtsein
aufgenommen, erinnert werde. Die folgenden ›Patmos‹-Zeilen
dürften die philosophische Interpretation Hölderlins bündig
legitimieren: »... der Vater aber liebt, / Der über allen waltet, / Am
meisten, daß gepfleget werde / Der feste Buchstab, und Bestehendes
gut / Gedeutet« 95 . Nach Sätzen aus ›Wie wenn am Feiertage‹ ist
das Opfer abgelöst: »Und daher trinken himmlisches Feuer jetzt
/Die Erdensöhne ohne Gefahr.« 96 Der Abschied des metaphysischen
Gehalts Hölderlins vom Mythos vollzieht sich in objektivem
Einverständnis mit Aufklärung: »Die Dichter müssen auch / Die
geistigen weltlich sein.« 97 Das ist die volle endliche Konsequenz
aus dem jäh intermittierenden »Das geht aber /Nicht« 98 . Die
Erfahrung von der Unrestituierbarkeit jenes Verlorenen, das erst als
Verlorenes mit der Aura absoluten Sinnes sich bekleidet, wird zur
alleinigen Anweisung auf das Wahre, Versöhnte, den Frieden als
den Zustand, über den der Mythos, das alte Unwahre, seine Gewalt
verloren hat. Dafür steht bei Hölderlin Christus: »Darum, o
Göttlicher! sei gegenwärtig, / Und schöner, wie sonst, o sei, /
Versöhnender, nun versöhnt, daß wir des Abends / Mit den
Freunden dich nennen, und singen / Von den Hohen, und neben dir
noch andere sei'n.« 99 Das ruft nicht nur mit dem »schöner, wie
sonst« das allzeit trügende Gesicht der Vorwelt an. Indem der
eingeborene Sohn des Gottes der Theologen kein absolutes Prinzip
sein soll, sondern »neben dir noch andere sei'n«, wird mythische
Herrschaft über die Mythen, die idealistische des Einen über das
Viele, verlassen. Versöhnung ist die des Einen mit dem Vielen. Das
ist der Friede: »Und so auch du / Und gönnest uns, den Söhnen der
liebenden Erde, / Daß wir, so viel herangewachsen / Der Feste sind,
sie alle feiern und nicht / Die Götter zählen, Einer ist immer für
alle.« 100 Versöhnt werden nicht Christentum und Antike; das
Christentum ist geschichtlich verurteilt wie diese, als bloß
Inwendiges und Ohnmächtiges. Vielmehr soll Versöhnung die reale
von Innen und Außen sein oder, ein letztes Mal in idealistischer
Sprache ausgedrückt, die von Genius und Natur.
Genius aber ist Geist, sofern er durch Selbstreflexion sich selbst
als Natur bestimmt; das versöhnende Moment am Geist, das nicht in
Naturbeherrschung sich erschöpft, sondern ausatmet, nachdem der
Bann der Naturbeherrschung abgeschüttelt ward, der auch den
Herrschenden versteinen macht. Er wäre das Bewußtsein des
nichtidentischen Objekts. Die Welt des Genius ist, mit Hölderlins
Lieblingswort, das Offene und als solches das Vertraute, nicht
länger Zugerüstete und dadurch Entfremdete: »So komm! daß wir
das Offene schauen, / Daß ein Eigenes wir suchen, so weit es auch
ist.« 101 In jenem »Eigenen« birgt sich das Hegelsche Dabeisein des
Subjekts, des Erhellenden; es ist keine urtümliche Heimat.
Angerufen wird der Genius in der dritten Fassung des
›Dichtermuts‹, ›Blödigkeit‹: »Drum, mein Genius! tritt nur / Bar ins
Leben, und sorge nicht.« 102 Daß aber der Genius die Reflexion sei,
macht die vorhergehende zweite Fassung unmißverständlich. Er ist
der Geist des Gesangs, zum Unterschied von dem der Herrschaft;
Geist selber sich öffnend als Natur, anstatt diese zu fesseln, darum
»friedenatmend«. Offen, gleich dem Erfahrenen, ist auch der
Genius: »Denn, seitdem der Gesang sterblichen Lippen sich /
Friedenatmend entwand, frommend in Leid und Glück / Unsre
Weise der Menschen / Herz erfreute, so waren auch / Wir, die
Sänger des Volks, gerne bei Lebenden, / Wo sich vieles gesellt,
freudig und jedem hold, / Jedem offen.« 103 Die Schwelle Hölderlins
gegen Mythik und Romantik gleichermaßen ist Reflexion. Der, noch
im Einklang mit dem Geist seiner Zeit, ihr die Schuld der Trennung
aufbürdete, hat ihrem Organon, dem Wort, sich anvertraut. In
Hölderlin kehrt die Geschichtsphilosophie sich um, welche
Ursprung und Versöhnung in einfachem Gegensatz dachte zur
Reflexion als dem Stand der vollendeten Sündhaftigkeit: »So ist der
Mensch; wenn da ist das Gut, und es sorget mit Gaben / Selber ein
Gott für ihn, kennet und siehet er es nicht. / Tragen muß er, zuvor;
nun aber nennt er sein Liebstes, / Nun, nun müssen dafür Worte, wie
Blumen, entstehn.« 104 Nie ist erhabener dem Obskurantismus sein
Bescheid geworden. Heißt aber der Genius in ›Blödigkeit‹ »bar«, so
ist das jenes Nackte und Ungerüstete, das ihn vom herrschenden
Geist unterscheidet. Es ist die Hölderlinsche Signatur des Dichters:
»Drum, so wandle nur wehrlos / Fort durchs Leben, und fürchte
nichts!« 105 Hat Benjamin an Hölderlin Passivität als das
»orientalische, mystische, die Grenzen überwindende Prinzip« 106 im
Gegensatz zum »griechischen gestaltenden Prinzip« 107 erkannt –
und Hölderlins imago vom Griechentum ist schon im Archipelagus
östlicher Farbe, antiklassizistisch bunt, berauscht von Worten wie
Asia, Jonien, Inselwelt –, so tendiert dies mystische Prinzip zur
Gewaltlosigkeit. Sie erst führt, wie es am Schluß der Benjaminschen
Abhandlung heißt, »nicht auf den Mythos, sondern – in den größten
Schöpfungen – nur auf die mythischen Verbundenheiten, die im
Kunstwerk zu einziger unmythologischer und unmythischer ...
Gestalt geformt sind« 108 . Daß die mystisch-utopische Tendenz dem
späten Hölderlin nicht imputiert ist, bestätigt die erst 1954
wiedergefundene Endfassung der ›Friedensfeier‹, an deren
Vorformen bereits die antimythologische Deutung, und auch die
correspondance mit Hegel, ihre Stütze hat. Die Hymne versammelt
zu den mystischen Motiven das zentrale; das messianische, die
Parusie dessen, der »nicht unverkündet« ist. Er wird erwartet, gehört
der Zukunft an, denn der Mythos ist was war als das Immergleiche,
und dem entringen sich die »Tage der Unschuld«. Die mythische
Schicht erscheint in einer Symbolik des Donners. »Das ist, sie hören
das Werk, / Längst vorbereitend, von Morgen nach Abend, jetzt erst,
/ Denn unermeßlich braust, in der Tiefe verhallend, / Des Donnerers
Echo, das tausendjährige Wetter, / Zu schlafen, übertönt von
Friedenslauten, hinunter. / Ihr aber, teuergewordne, o ihr Tage der
Unschuld, / Ihr bringt auch heute das Fest, ihr Lieben!« 109 In
ungeheurem Bogen wird das solare Zeitalter des Zeus, als
naturbefangene Herrschaft über Natur, dem Mythos gleichgesetzt
und sein Verhallen in der Tiefe prophezeit, »übertönt von
Friedenslauten«. Was anders wäre, heißt Friede, die Versöhnung,
welche den Äon der Gewalt nicht wiederum ausrottet, sondern als
vergehenden, in der Anamnesis des Widerhalls, errettet. Denn
Versöhnung, an der Naturverfallenheit ihr Ende erreicht, ist nicht
über Natur als ein schlechthin Anderes, das vermöge seiner
Andersheit abermals nur Herrschaft über Natur sein könnte und
durch Unterdrückung an ihrem Fluch teilhätte. Was dem Naturstand
Einhalt gebietet, ist zu diesem vermittelt, nicht durch ein Drittes
zwischen beidem sondern in der Natur selbst. Der Genius, welcher
den Kreislauf von Herrschaft und Natur ablöst, ist dieser nicht ganz
unähnlich, sondern hat zu ihr jene Affinität, ohne welche, wie Platon
wußte, Erfahrung des Anderen nicht möglich ist. Diese Dialektik hat
sich sedimentiert in der ›Friedensfeier‹, wo sie genannt und zugleich
von der Hybris der naturbeherrschenden Vernunft abgehoben wird,
die mit ihrem Gegenstand sich identifiziert und dadurch diesen sich
unterwirft. »Des Göttlichen aber empfingen wir / Doch viel. Es
ward die Flamme uns / In die Hände gegeben, und Ufer und
Meersflut. /Viel mehr, denn menschlicher Weise / Sind jene mit uns,
die fremden Kräfte, vertrauet. / Und es lehret Gestirn dich, das / Vor
Augen dir ist, doch nimmer kannst du ihm gleichen.« 110 Zum
Zeichen der Versöhnung des Genius jedoch steht ein, daß ihm, dem
nicht länger in sich verhärteten, gegen die mythische schlechte
Unendlichkeit Sterblichkeit zugesprochen wird: »So vergehe denn
auch, wenn es die Zeit einst ist / Und dem Geiste sein Recht nirgend
gebricht, so sterb / Einst im Ernste des Lebens / Unsre Freude, doch
schönen Tod!« 111 Genius ist selber auch Natur. Sein Tod »im Ernste
des Lebens« – das wäre das Erlöschen der Reflexion, und der Kunst
mit ihr, im Augenblick, da die Versöhnung aus dem Medium des
bloß Geistigen übergeht in die Wirklichkeit. Die metaphysische
Passivität als Gehalt der Hölderlinschen Dichtung verschränkt sich
wider den Mythos mit der Hoffnung auf eine Realität, in welcher die
Menschheit jenes Bannes der eigenen Naturbefangenheit ledig wäre,
der in ihrer Vorstellung vom absoluten Geiste sich spiegelte: »Denn
nicht vermögen / Die Himmlischen alles. Nämlich es reichen / Die
Sterblichen eh an den Abgrund. Also wendet es sich, das Echo, / Mit
diesen.« 112
 Fußnoten
 
1 Walter Muschg, Die Zerstörung der deutschen Literatur, München
o.J., S. 182.
 
2 a.a.O.
 
3 Hegel, Sämtliche Werke, hrsg. von Hermann Glockner, Bd. 12:
Vorlesungen über die Ästhetik, 1. Bd., Stuttgart 1937, S. 390.
 
4 Hölderlin, Sämtliche Werke, hrsg. von Friedrich Beissner, Bd. 2,
Stuttgart 1953, S. 507. – Zitiert wird nach der sogenannten Kleinen
Stuttgarter Ausgabe.
 
5 a.a.O., S. 120.
 
6 a.a.O., S. 507.
 
7 Hölderlin, WW 3, Stuttgart 1958, S. 430.
 
8 a.a.O., S. 428f.
 
9 Martin Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung,
Frankfurt a.M. 1951, S. 7f.
 
10 a.a.O., S. 32
 
11 a.a.O., S. 35.
 
12 a.a.O., S. 32.
 
13 a.a.O., S. 35.
 
14 a.a.O., S. 38.
 
15 a.a.O., S. 43.
 
16 a.a.O., S. 40.
 
17 a.a.O., S. 42.
 
18 a.a.O.
 
19 a.a.O., S. 44.
 
20 Hölderlin, WW 2, a.a.O., S. 132.
 
21 a.a.O., S. 133.
 
22 a.a.O.
 
23 a.a.O., S. 144.
 
24 a.a.O., S. 145.
 
25 a.a.O., S. 413.
 
26 a.a.O.
 
27 Heidegger, a.a.O., S. 88.
 
28 a.a.O.
 
29 a.a.O., S. 89.
 
30 a.a.O. Im ersten Brief an Böhlendorf rühmt Hölderlin die
Fähigkeit Homers, »das Fremde sich anzueignen«, keineswegs die,
das Eigene und bloß um dessentwillen das Fremde zu erfahren. Der
Tenor jenes Briefs, an den Heidegger gedacht haben mag, ist das
Gegenteil dessen, wofür jener ihn reklamiert: »Aber ich behaupt' es
noch einmal und stelle es Deiner Prüfung und Deinem Gebrauche
frei: das eigentlich Nationelle wird im Fortschritt der Bildung immer
der geringere Vorzug werden.« (Friedrich Hölderlins Gesammelte
Briefe, Inselausgabe, o.J., S. 389.)
 
31 Vgl. Hölderlins Gesammelte Briefe, a.a.O., S. 391.
 
32 Heidegger, a.a.O., S. 101f.
 
33 Hölderlin, WW 2, a.a.O., S. 196.
 
34 a.a.O.
 
35 Heidegger, a.a.O., S. 37.
 
36 Hölderlin, WW 1, Stuttgart 1944, S. 302.
 
37 Heidegger, a.a.O., S. 38.
 
38 a.a.O., S. 34.
 
39 a.a.O., S. 85f., Fußnote.
 
40 Hegel, WW 1, Aufsätze aus dem kritischen Journal der
Philosophie, Stuttgart 1958, S. 47.
 
41 a.a.O.
 
42 Hölderlin, WW 2, a.a.O., S. 132.
 
43 a.a.O., S. 429.
 
44 Vgl. a.a.O., S. 4.
 
45 Vgl. a.a.O., S. 134ff.
 
46 a.a.O., S. 142.
 
47 Walter Benjamin, Schriften, hrsg. von Theodor W. Adorno und
Gretel Adorno unter Mitwirkung von Friedrich Podszus, Frankfurt
a.M. 1955, Bd. 2, S. 388.
 
48 Hölderlin, WW 2, a.a.O., S. 131.
 
49 a.a.O., S. 158.
 
50 a.a.O., S. 99.
 
51 Hölderlin, WW 1, a.a.O., S. 262.
 
52 Heidegger, a.a.O., S. 16.
 
53 Vgl. Theodor W. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit. Zur
deutschen Ideologie, Frankfurt a.M. 1964, S. 45 [GS 6, s. S. 446].
 
54 Hölderlin, WW 2, a.a.O., S. 87.
 
55 a.a.O., S. 50.
 
56 Heidegger, a.a.O., S. 86, Fußnote.
 
57 Hölderlin, WW 2, a.a.O., S. 102.
 
58 a.a.O., S. 197.
 
59 a.a.O., S. 204f.
 
60 a.a.O., S. 177.
 
61 a.a.O.
 
62 Benjamin, a.a.O., S. 385.
 
63 Hölderlin, WW 2, a.a.O., S. 167.
 
64 a.a.O., S. 97.
 
65 Die Konkretion des Gedichteten, deren Desiderat auch für
Hölderlin verbindlich war – sein gesamtes reifes Werk fragt stumm,
wie es der Dichtung, die des Trugs von Nähe sich entschlagen hat,
gleichwohl möglich sei, konkret zu werden –, geschieht einzig durch
die Sprache. Ihre Funktion bei Hölderlin überwiegt qualitativ die
übliche der poetischen. Kann seine Dichtung weder dem dichterisch
gewählten Wort noch der lebendigen Erfahrung naiv mehr
vertrauen, so erhofft sie sich leibhafte Gegenwart von der
Konstellation der Worte und zwar eben einer, die nicht ihr Genügen
hat an der Urteilsform. Diese nivelliert, als Einheit, die in den
Worten liegende Vielfalt; Hölderlin ist auf Verbindung aus, welche
die zur Abstraktion verurteilten Worte gleichwie ein zweites Mal
zum Klingen bringt. Paradigmatisch dafür, und von
außerordentlicher Wirkung, jene erste Elegie aus ›Brot und Wein‹.
Nicht restituiert sie die einfachen und allgemeinen Worte, mit denen
sie haushält, sondern fügt sie aneinander auf eine Weise, welche
ihre eigene Fremdheit, ihr Einfaches als bereits Abstraktes,
umschafft zum Ausdruck von Entfremdung. Solche Konstellationen
spielen ins Parataktische hinüber, auch wo es, der grammatischen
Form oder der Konstruktion der Gedichte nach, noch nicht
ungeschmälert sich hervorwagt.
 
66 Nach Peter Szondis Mitteilung hat Hellingrath in der Dissertation
›Pindarübertragungen Hölderlins‹ (1910) als erster dessen späte
Sprache mit dem Terminus der antiken Rhetorik »harte Fügung«
beschrieben. Eines ihrer Mittel wäre wohl auch der Hiatus.
 
67 Griechische Lyrik. Von den Anfängen bis zu Pindar, Rowohlt
1963, S. 163.
 
68 Vgl. a.a.O., S. 243.
 
69 Vgl. Theodor W. Adorno, Drei Studien zu Hegel, Frankfurt a.M.
1963, S. 159f. [GS 5, s. S. 370f.].
 
70 Hölderlin, WW 2, a.a.O., S. 175.
 
71 Vgl. Marie Joachimi-Dege, Lebensbild, in: Hölderlins Werke,
Berlin, Leipzig, usw., o.J. (Bong), insbes. S. XLII f.
 
72 Benjamin, a.a.O., S. 399.
 
73 Hölderlin, Sämtliche Werke, Leipzig o.J. (Insel), S. 761.
 
74 Walter Benjamin, Deutsche Menschen. Eine Folge von Briefen,
Frankfurt a.M. 1962, S. 41.
 
75 Rudolf Borchardts Schriften, Prosa I, Berlin 1920, S. 143.
 
76 Wie sehr Hölderlins Verfahrungsweise aus einem objektiven
Konflikt resultiert, dafür ist symptomatisch etwa, daß er immer
wieder, verlockt von der gestischen Fülle der griechischen Partikeln,
mit pseudologischen Formen arbeitet. Als wäre einer erlernten
Pflicht zu genügen, bereiten sie den Schein von Synthesis dort, wo
die Reihung Logik verneint: so der Gebrauch des Wortes »denn« in
der Elegie ›Täglich geh ich heraus‹. Der Formenreichtum, den
Hölderlin der Antike ablernte und der in den parataktischen Gefügen
überlebt, ist zur Parataxis die Gegeninstanz; den Psychiatern ein
Restitutionsphänomen. Aus den Gedichten der eigentlichen
Wahnsinnszeit ist sie verschwunden. Wer Hölderlins Wahnsinn aus
seiner Kunst ableiten wollte, wie Groddeck Beethovens Taubheit
aus dessen Musik, mag ätiologisch irren, jedoch mehr vom Gehalt
öffnen als die subalterne klinische Richtigkeit.
 
77 Hölderlin, WW 2, a.a.O., S. 190.
 
78 a.a.O., S. 195.
 
79 Vgl. Benjamin, Deutsche Menschen, a.a.O., S. 41.
 
80 Hölderlin, WW 2, a.a.O., S. 38.
 
81 a.a.O.
 
82 a.a.O., S. 142.
 
83 a.a.O., S. 189.
 
84 a.a.O., S. 206.
 
85 a.a.O.
 
86 Vgl. Walter Benjamin, Über das Programm der kommenden
Philosophie, in: Zeugnisse, hrsg. von Max Horkheimer, Frankfurt
a.M. 1963, S. 33ff.
 
87 Benjamin, Schriften, a.a.O., Bd. 2, S. 378.
 
88 Kant, Kritik der reinen Vernunft, ed. Valentiner, Leipzig 1913, S.
405.
 
89 Vgl. Hölderlin, WW 2, S. 439.
 
90 a.a.O., S. 131.
 
91 Vgl. a.a.O., S. 124.
 
92 a.a.O., S. 176.
 
93 a.a.O., S. 180.
 
94 a.a.O.
 
95 a.a.O.
 
96 a.a.O., S. 124.
 
97 a.a.O., S. 164.
 
98 a.a.O., S. 190.
 
99 a.a.O., S. 136.
 
100 a.a.O., S. 136f.
 
101 a.a.O., S. 95.
 
102 a.a.O., S. 70.
 
103 a.a.O., S. 68.
 
104 a.a.O., S. 97.
 
105 a.a.O., S. 68.
 
106 Benjamin, Schriften, a.a.O., Bd. 2, S. 398.
 
107 a.a.O.
 
108 a.a.O., S. 400.
 
109 Hölderlin, WW 3, a.a.O., S. 428.
 
110 a.a.O., S. 429.
 
111 Hölderlin, WW 2, a.a.O., S. 69.
 
112 a.a.O., S. 204.
 
 Noten zur Literatur IV
 Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie
Die stets noch herrschende Ansicht bringt Goethes Entwicklung
unters Cliché eines Reifeprozesses. Nach Sturm und Drang habe der
Dichter sich zu zähmen gewußt. Seine Erfahrung von der Antike
habe ihm geholfen, sich abzuklären und den sogenannten
Standpunkt des schlackenlos reinen Kunstwerks einzunehmen,
gemäß den Zeilen aus dem Faust: »Wenn sich der Most auch ganz
absurd gebärdet, / Es gibt zuletzt doch noch 'nen Wein.«
Geflissentlich trug Goethe zu jener Ansicht von seinem
Klassizismus bei: sie bereitete dann seiner Etablierung als Klassiker
den Weg. Nicht nur ihre Trivialität macht die Konstruktion
verdächtig; nicht nur, daß sie ein Stilisationsprinzip, sollte es denn
darum sich gehandelt haben, mit der Authentizität des ästhetisch
Verwirklichten verwechselt, die vom Begriff des Klassischen
gemeint wird, wofern er mehr ausdrücken soll als akkumulierten
Erfolg. Darüber hinaus tut das Schema von der Abklärung Goethe
Unrecht, indem es den Anschein erweckt, sein Werk habe die
Erfahrung des Dunklen, die Kraft der Negativität verleugnet und
eine Harmonie fingiert, die im Zeitalter der emanzipierten, jeglicher
vorgegebenen gesellschaftlichen Ordnung sich entgegensetzenden
Subjektivität geschichtlich unmöglich war. Unter den Verdiensten
der Arbeit über die verteufelt humane Iphigenie von Artur Henkel
ist nicht das kleinste, daß er jene Konvention zertrümmerte und die
Gewalt des Mythischen gerade an dem Stück hervorhob, das, vor
Tasso und der Natürlichen Tochter, den Typus des Goetheschen
Klassizismus am eindringlichsten geprägt hat. Von Mythos redet er
dabei nicht, wie der schlampige Sprachgebrauch, im Sinn von
Gleichnissen für Überzeitliches oder Transzendentes, sondern
ähnlich wie Benjamin in dem Traktat über die
Wahlverwandtschaften, als vom Schuldzusammenhang des
Lebendigen, dem Schicksal. Solcher Mythos, gegenwärtige
Vorwelt, ist im gesamten Goetheschen Werk vorhanden. Leicht
dürfte man es als einen einzigen Prozeß mit der mythischen Schicht
auffassen. Sie ist bei ihm kein Symbol für Ideen, sondern leibhaftige
Verstricktheit in Natur. Blinde, naturwüchsige Verhältnisse
überdauern auch in der Gesellschaft des aufgeklärten Zeitalters. In
solcher Gestalt dringen sie ein in Goethes Werk. Es empfängt seine
Dignität von dem Gewicht, das es dem mythischen Moment
zuerkennt; allein im dialektischen Verhältnis zu ihm, nicht als
freischwebend Verkündetes wird sein Wahrheitsgehalt als humaner
bestimmbar. Dadurch unterscheidet er sich nicht nur vom
Klassizismus Schillers, der die Kantische Ideenwelt zelebriert,
sondern auch von der Gipssphäre der bildenden Kunst, gegen die
Goethes Geschmack keineswegs immun sich zeigte. Noch bei
Künstlern des höchsten Ranges ist die Nähe oder Ferne zu den
Materialien zu berücksichtigen, in denen sie und über die sie sich
äußerten. Keineswegs ist Goethes Beziehung zur bildenden Kunst
über allem Zweifel. Dieser überträgt sich auf die fable convenue,
der Dichter sei gewesen, was sie einen Augenmenschen nennen. Die
Gewalt seiner Sprache überflutet derart das Sichtbare, daß sie, trotz
der gerühmten visuellen Genauigkeit, in Musik hinüberspielt. Sein
Vorbehalt gegen diese entspricht eher dem Gestus bannender
Abwehr der mythischen Schicht, zu welchem deren drohende
Übermacht ihn veranlaßte, als der dichterischen Fiber. Wer als Kind
bei einer klassizistischen Aufführung der Iphigenie, mit Hedwig
Bleibtreu, zugegen war, wird sich daran erinnern, wie unsichtbar
gleichsam das Ganze eilends vorüberzog, wie weit ab von aller
gegenständlichen Sinnlichkeit, so daß der Sinn darüber entglitt.
Kaum ein stärkeres Argument gegen die Bestimmung des
mittleren Goethe als Klassizisten ließe sich denken.
Inkommensurabel ragt das Schauspiel Iphigenie über die
Bildungssphäre, in der das Wort Klassizismus seine Nische hat; die
Griechen und Skythen darin sind nicht Repräsentanten eines
invarianten und der Empirie entrückten Menschlichen, sondern
gehören deutlich historisch bestimmten Stufen der Menschheit an.
Daß dabei seelische Konflikte entfalteter Personen anstelle jenes
Innen und Außen überwölbenden Kosmos getreten sind, den die
klassizistische Konzeption des Griechentums, auch die Hegels,
supponiert, ist vielfach, jüngst von Henkel, bemerkt worden. Er läßt
keinen Zweifel daran, daß die Anverwandlung des mythischen
Stoffes bei Goethe untrennbar sei von sedimentiertem Christentum.
Unbeirrt jedoch erhalten Torheiten sich am Leben wie die des
Kommentators der Jubiläumsausgabe, der allen Ernstes fragt, »ob
wir in der Iphigenie mehr eine deutsche, mehr eine griechische
Tragödie besitzen«, und auf dem gleichen Niveau verkündet, es sei
aus der Prosadichtung, während und nach der italienischen Reise,
»das ewige Kunstwerk geworden«. Daß es lebt, hat es eben den
Momenten zu verdanken, die bei seinem Transport ins Pantheon
unterschlagen werden. Der geschichts-philosophische Akzent auf
dem Prozeß zwischen Subjekt und Mythos verleiht dem Text sein
unverwelkt Modernes, wofern man ihm sich zuwendet, ohne von der
Autorität der gängigen Literaturhistorie sich imponieren oder
irritieren zu lassen.
Was an geschichtlicher Bewegung der Iphigenie sich mitteilte,
datiert zurück auf den Protest des jungen Goethe und seiner Freunde
gegen den schuldhaften Aspekt von Zivilisation, auf den unterm
endenden Absolutismus grelles Licht fiel. Natur sollte sich befreien
vom usurpatorisch Gesetzten, die unverstümmelte Regung nicht
länger verschnitten sein; was damals Genie hieß, auch die
willentliche, übrigens vom jungen Goethe sogleich gemäßigte
Roheit, hatte das zum kritischen Angriffspunkt nicht weniger als die
am französischen grand siècle gebildete und in Deutschland steif
nachgeahmte Form. Das zivilisatorische Moment jedoch ist eines
von Kunst selber als eines Gemachten, aus dem Naturzustand
Heraustretenden. Die Parole, Kunst solle wieder Natur werden, die
bis in den deutschen Idealismus hinein widerhallt, hat soviel
Wahrheit wie Unwahrheit. Wahrheit, weil sie die Kunst daran
mahnt, für das von Herrschaft jeglicher Art, auch der rationalen,
Unterdrückte zu sprechen; Unwahrheit, weil solche Sprache anders
denn als ihrerseits rationale, durch die Totalität von Kultur
vermittelte nicht kann vorgestellt werden. Indem Kunst den Mythos
seiner Buchstäblichkeit entäußert, in ihre Bilderwelt transponiert, ist
sie in Aufklärung verflochten, Stufe von Zivilisation und deren
Korrektiv in eins, wie Rousseaus Philosophie. Soweit in der damals
neuen Kunst die Stimme des mündigen Bürgertums laut wurde,
hatte sie an dem antimythologischen Moment ihre historische
Aktualität, feind illegitimer Legitimität, rechtlosem Recht. Nicht
länger als für eine polemische Sekunde jedoch war Kunst als reiner
Widerpart zur Zivilisation denkbar; ihr pures Dasein desavouiert das
Auftrumpfende, Barbarische, Provinzielle von Tiraden wie der
Schillerschen vom tintenklecksenden Säkulum. Vollends in
Deutschland, wo der antizivilisatorische Impuls der Kunst mit
ökonomischer Zurückgebliebenheit hinter der bürgerlichen
Zivilisation des Westens sich verfilzte, mußte der Geist an dieser
sich abarbeiten, wenn er weder sich den Boden abgraben, noch
leeren Triumphen nachjagen wollte. Der Weimarer Goethe, der an
die große Gesellschaft und damit an den internationalen Stand des
Bewußtseins Anschluß gesucht hatte, wirkte als Agens der
Entprovinzialisierung des deutschen Geistes. Rühmte hundert Jahre
später Nietzsche an ihm, er sei als letzter Deutscher ein europäisches
Ereignis gewesen, so hat er jenen Sachverhalt gestreift. Während
solche Entprovinzialisierung der Bewegung seiner
Generationsgenossen die revolutionären Fangzähne ausbrach;
während er einlenkte und radikale Neuerungen der Form sistierte,
die am Ende doch, über Goethe hinweg, nicht aufzuhalten waren,
verhielt er andererseits, an der Zivilisation sich messend und unter
Verzicht auf angedrehte Genietöne, sich moderner als die
Hainbündler, Stürmer und Dränger und frühen Romantiker. Er sah,
daß, wer überhaupt den Vertrag honoriert, den jedes Kunstwerk ihm
unterbreitet, dessen immanenter Gesetzlichkeit, der Objektivation
sich verpflichtet. Gebärdet er sich, als wäre er über diese hinaus,
erweist er in der eigenen Produktion meist sich als ohnmächtig.
Nicht mangelndem Talent so groß angelegter Autoren wie Lenz war
zuzuschreiben, was den Sturm und Drang-Dichtungen an Kraft
abging. Goethe mußte darin die Vergeblichkeit des Gestus von
Unmittelbarkeit im Stand universaler Vermittlung erkennen. Sein
Klassizismus archaisiert nicht. Das spezifisch Antikische der
Iphigenie, das rückblickend der alternde Goethe überschätzen
mochte, bringt eher ein Potential seines dichterischen Ingeniums
zutage, als daß er, wie Schiller, in den Fundus gegriffen hätte.
Fürchtete man nicht die Paradoxie, so ließe wohl sich verteidigen,
das eigentlich Antike des klassizistischen Goethe, das mythische
Element, sei kein anderes als das chaotische seiner Jugend.
Vermöge seiner Objektivation wird es gleichsam in die Vorwelt
zurückgesiedelt, nicht zur Fassade ewiger Gegenwart aufgeputzt.
Eben weil Goethe nicht archaisiert, fällt seiner Dichtung ein
Archaisches zu. Umsonst nicht verlegt er sein griechisches Drama,
anstatt in attisch-klassische Verhältnisse, in ältere, exterritoriale. Die
pragmatische Voraussetzung der Iphigenie ist Barbarei. Sie stimmt
zum mythischen Schicksal als Zone des Unheils. Nach Iphigeniens
Rede zu Beginn faßt »ein fremder Fluch mich an« (84). Die Welt, in
der sie Zuflucht fand und aus der sie entweichen möchte, ist in
jedem Wort, mehr noch im Melos der Worte zwangvoll in sich
verklammert. Will man von Goethes Klassizismus mehr verstehen,
als daß er die Aristotelischen Einheiten restaurierte und der Jamben
– welcher ungeheuren Jamben! – sich bediente, so wird man davon
auszugehen haben, daß die Zivilisation, aus der Dichtung nicht
ausbrechen kann und die sie doch durchbrechen will, in der
Dichtung thematisch wird. Iphigenie und Tasso sind
Zivilisationsdramen. Sie reflektieren die bestimmende Macht der
Realität, vor welcher der Sturm und Drang sich die Augen verband.
Insofern sind sie realistischer als dieser, im
geschichtsphilosophischen Bewußtsein adäquater.
Das scheidet den Goetheschen Klassizismus nachdrücklich von
jedem formalistischen, von der Glätte der Thorwaldsen und Canova.
Wider die geltende Auffassung und wider den unbedachten
Gebrauch des Wortes Form wäre der Goethesche Klassizismus aus
dem Inhalt abzuleiten. Man pflegt diesen, unter Berufung auf
Goethes eigene Worte und gleichzeitige Schillers, Humanität oder
das Humane zu nennen, gemäß der unverkennbaren Intention, die
Achtung vor menschlicher Freiheit, vor der Selbstbestimmung eines
jeglichen Einzelnen über partikulare Sitte und nationelle
Beschränktheit ins Allgemeine zu erheben. So eindeutig indessen
die Iphigenie fürs Humane optiert, so wenig erschöpft sich ihr
Gehalt im Plädoyer; eher ist Humanität der Inhalt des Stücks als der
Gehalt. Schrieb Nietzsche einmal, der Unterschied zwischen
Schiller und Shakespeare sei, daß dessen Sentenzen wirkliche
Gedanken enthielten, die Schillerschen Gemeinplätze, so wäre, nach
dem gleichen Kriterium, der Goethe der Iphigenie auf Shakespeares
Seite zu ziehen, obwohl es dem Schauspiel an Zitaten keineswegs
mangelt. Diese Differenz ist aber die zwischen dem gepredigten
Ideal und der Gestaltung der ihm immanenten, geschichtlichen
Spannung. Humanität wird in der Iphigenie verhandelt aus der
Erfahrung ihrer Antinomie heraus. Das Subjekt, das im
zivilisatorischen Prozeß nicht sowohl sich emanzipierte, als daß es
in ihm entsprang, gerät als einmal emanzipiertes mit der Zivilisation
und ihren Satzungen in Streit. Was am Klassizismus mit Fug
Stilisierung heißen mag, heteronom in dem greulichen Sinn, daß den
Figuren der Stil als Faltenwurf umgelegt werde, ist, anstatt
klassisch, Ausdruck jener Inadäquanz, ein Überhang nicht
eingeschmolzener Objektivität, unversöhnt mit dem Subjekt, in
Widerspruch zum zivilisatorischen Anspruch. Vermöge jenes
Widerspruchs ist Goethes geschichtlicher Standort nicht weniger als
seine Verfahrungsweise dem ihm nach philosophischer Schablone
so ungleichen Hegel überaus nahe. Paul Tillich hat vor mehr als
dreißig Jahren auf die Beziehung aufmerksam gemacht. Der
Konflikt des zivilisierten, an Zivilisation erstarkten und durch sie
geschwächten Subjekts mit der Zivilisation ist der des Tasso. Sein
tragisches Ende – Goethe vermied weise das Wort und redete
abermals von Schauspiel – entschleiert, daß das befreite Subjekt frei
nicht zu leben vermag in der bürgerlichen Gesellschaft, die Freiheit
ihm vorgaukelt. Einzig im Untergang wird sein Recht bekräftigt.
Die Antinomie in der Iphigenie ist noch nicht ebenso manifest. Sie
verlagert sich auf den Zusammenprall zweier Völker aus zwei
Weltaltern. Zivilisation, die Phase des mündigen Subjekts,
überflügelt die mythischer Unmündigkeit, um dadurch schuldig an
dieser zu werden und in den mythischen Schuldzusammenhang
hineinzugeraten. Zu sich selbst, und zur Versöhnung, gelangt sie
nur, indem sie sich negiert, durchs Geständnis, das die kluge
Griechin dem humanen Barbarenkönig ablegt. Es gibt den
selbsterhaltenden Geist ihrer Zivilisationsgenossen preis. Auch um
solcher Dialektik willen ist die Humanität der Iphigenie verteufelt;
human wird sie erst in dem Augenblick, in dem Humanität nicht
länger auf sich und ihrem höheren Recht beharrt.
In jener Dialektik rückt Form ins Zentrum: als Konstruktion von
Ganzem und Teilen sowohl wie in einer der deutschen Dichtung
gänzlich neuen sprachlichen Höhe. Der Stil des Werkes ist der alles
durchdringende Äther seiner Sprache. Solcher Vorrang der Form
trägt das zivilisatorische Moment, den stofflichen Vorwurf, ins
Gedichtete hinein. Die Milderung des Rohen, schließlich dessen
Verschwinden sind nicht bloß die Absicht der Heldin. Die Gestalt
eines jeden Satzes vollzieht sich mit bedachter, errungener mesoths
der Formulierung. Wunderlich vermählt sie sich mit warmem,
umfangendem Strömen. Auch extreme und erschreckende
Sachverhalte haben daran teil, ohne daß sie abgeschwächt würden.
Schweigt antithetisch der Skythenkönig oder redet er karg, so
scheint diese Kargheit nicht länger die eines des Ausdrucks nicht
recht Mächtigen; sein Schweigen ist seinerseits zivilisatorisch, dem
wütenden Ausbruch abgedungen. Der verborgenen Fülle danken die
lakonischen Interjektionen des Thoas in den letzten Versen, der
Übergang von dem pragmatischen »So geht« (2151) zu dem
berühmten »Lebt wohl« (2174), dessen Konventionalität im Kontext
beispiellose Schwere des Gehalts aufspeichert, ihr
Unwiderstehliches. Grundverschieden ist die Verselbständigung der
Form in der Iphigenie vom französischen Klassizismus, wo die
Sprache, vor allem dichterischen Prozeß, das zivilisatorische
Element beistellt. Goethes Sprache muß mit dem Gehalt sich
erzeugen; das verleiht ihr die Frische von Wald und Höhle. Er hatte
es mit der Schwierigkeit einer auf subjektive Erfahrung
zurückgeworfenen Dichtung aufzunehmen: sich zu objektivieren
ohne Teilhabe an irgend sie tragender Objektivität. Die Möglichkeit
des Ausgleichs fand er in der Sprache, als wäre sie, trotz allem, im
subjektivistischen Zeitalter dem Subjekt irgend noch vorgeordnet,
fähig, jede subjektive Regung in sich zu empfangen und nach ihr
sich zu wandeln. Mit der Iphigenie hebt eine Entwicklung der
Sprache zum objektivierenden Moment an, die in Flaubert und
Baudelaire kulminierte. Die Versöhnung des Subjekts mit dem ihm
Entgleitenden freilich, die ihr aufgebürdet wird, die Substitution von
Form für einen ihr antagonistischen Inhalt, ist schon in der Iphigenie
aufs äußerste exponiert. Glücken konnte sie, weil in dem im
prägnanten Sinn Ästhetischen, der Autonomie der Form, die
inhaltliche Spannung sich niederschlägt. Sprache wird zum
Stellvertreter von Ordnung und produziert gleichzeitig Ordnung aus
Freiheit, aus Subjektivität, gar nicht soviel anders, als es der
idealistischen Philosophie vorschwebte, die Goethe nicht leiden
mochte. Was trotzdem antikische Pseudomorphose, Stilisierung
blieb, ist gezeitigt von der Unversöhnlichkeit dessen, was doch vom
Genius versöhnt werden will. Klassizistische Gesinnung oder
Weltanschauung sind demgegenüber gleichgültig; in seiner
Brüchigkeit bewährt sich der Goethesche Klassizismus als richtiges
Bewußtsein, als Chiffre des Unschlichtbaren, das zu schlichten seine
Idee ist.
Sein Klassizismus ist nicht die entschlossene Gegenbewegung
eines geläuterten Menschen gegen sein frühes Werk sondern dessen
dialektische Konsequenz. Dabei ist auf den künstlerischen
Nominalismus zu rekurrieren, die Suprematie des Besonderen und
Einzelnen übers Allgemeine und den Begriff. Er bildet die
stillschweigende Voraussetzung von Goethes Produktion. Vom parti
pris des späten und schon des mittleren Goethe fürs Allgemeine
wird der Nominalismus nicht sowohl außer Aktion gesetzt als
gebannt. Er ist urbürgerlich; Goethe nicht und kein bürgerlicher
Künstler konnte ihm sich entziehen. Er verbietet, dem Kunstwerk
von oben her Sinn einzuflößen. Der Verzicht auf geschürzte
Handlung, die Konzeption eines offenen, induktiv aus der Erfahrung
gespeisten Dramas, seine Versetzung mit dem epischen Element seit
der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts waren nachdrückliche
Spuren des Nominalismus. Er trieb auch den jungen Goethe.
Unvereinbar damit war sein Pathos und das der anderen Stürmer
und Dränger. Es hatte im Zeichen Shakespeares sich formiert,
Revolte des Subjekts und seine verblendete Hoffnung, von sich aus,
durch die pure Bekundung seiner ursprünglichen Kraft, dem
Kunstwerk jene Sinnhaftigkeit einzuhauchen, die es mit dem
unwiderruflichen Verlust von Ontologie eingebüßt hatte. Die
Antinomie, die in jenem Momentanen auf einer Spitze zu halten
war, die den Klassizismus weit genauer charakterisiert als die Idee
eines zeitlos Bleibenden, Unangreifbaren – sie ist die des
Nominalismus, der in der Kunst wie im Gedanken, gemäß dem
Prozeß der Verbürgerlichung, zwangvoll fortschreitet. Er nötigt zum
Verzicht auf jegliche Einheit, die vor den Teilen etabliert wäre und
sie bände; sie soll aus dem Einzelnen zusammenschießen. Damit
aber verlieren die Einzelheiten gleichzeitig das Wozu, das jene
Kristallisation ihnen erlaubte: nicht erst die Gewißheit ihres Sinnes
im Ganzen sondern bereits die Richtungskonstante, durch die sie
fortgehen, über ihr partikulares Dasein sich erheben. Klassizismus
ist die fragile Antwort darauf; sein prekär Mittleres, von den
Extremen sich Entfernendes konkretisiert sich dadurch, daß er die
aprioristische Konstruktion und ihren Widerhall in der pathetischen
Rede ebenso meidet wie das begriffslose Detail, das droht, aus dem
ästhetischen Kontinuum in vorästhetische Empirie abzusinken.
Fragil aber ist die klassizistische Lösung darum, weil sie von der
Antinomie eigentlich verwehrt wird, ausgleicht, wo keine
Versöhnung ist. Sie wird zur Leistung des Takts. Durch den Schein
von Natürlichkeit verbirgt er die regieführende, sinngebende Hand;
durch behutsames Polieren schleift er die Ungebärdigkeit der nicht
länger eingefaßten Details ab. Daß in jenem Akt des Verbergens,
der Veranstaltung, doch das Formapriori sich erhält, das der
Nominalismus demontiert, ohne daß es ihm wiche, leiht dem
Klassizismus seine Unbeständigkeit. Sie wiederum strahlt als Glanz
des Ephemeren auf ihn zurück, prädestiniert ihn jedoch zur
Ideologie, zur heimlichen Bewahrung dessen, was nicht mehr ist.
Die sprachliche Sensibilität des Lyrikers Goethe, die ihresgleichen
nicht hat, brachte ihm die Erfahrung ein, daß nominalistisches
Pathos hohl sei. Das Kunstwerk, ohne Reservat der Vermittlung
durchs Subjekt überantwortet, kann nicht in unmittelbarer
subjektiver Selbstbekundung erlangen, wogegen die
Selbstbekundung auftrumpft. Das Auftrumpfende straft die
Verbindlichkeit des Gehalts Lügen. Er muß sich übertreiben; anders
vermöchte er sich selbst nicht zu glauben.
Die Auskunft, zu der Goethe von der künstlerischen Arbeit
gedrängt wurde, war die natürlicher Rede. Natürlichkeit hatte die
Generation seiner Jugend und ihn selbst verlockt, war indessen,
abstrakte Negation von Unnatur, so unnatürlich geworden wie die
»Ha's«, von denen nicht nur die Räuber widerhallen. Natürliche
Rede wird kraft ihres eigenen Begriffs zur gemäßigten, gewaltlosen.
So konvergiert sie mit Humanität als dem gewaltlosen Stand. Sie
verbreitet sich über den Kosmos des Gebildes. Was Goethe an der
Antike muß fasziniert haben, weil es dem Bedürfnis seiner Stunde
entsprach, war solche Natürlichkeit. Auf sie, nicht auf Stilisierung
hatte der Stil der Iphigenie es abgesehen; Stilisierung ist ihr
Wundmal. Erstmals in der deutschen Literatur ist beim mittleren
Goethe das dichterische Ideal das vollkommener désinvolture. Der
naturbeherrschende Gestus, der Krampf des Wortes löst sich.
Sprache findet ihre Autonomie nicht länger durch Selbstbehauptung
sondern durch Entäußerung an die Sache, der sie innig sich
anschmiegt. Die Naturlyrik des jungen Goethe war dafür das
höchste Modell; nicht gering ist andererseits, was er im Übergang
der deutschen Kunstsprache zum zivilisiert Natürlichen Wieland
verdankt.
Seine désinvolture hatte aber, als eine nicht nur des
dichterischen Subjekts sondern des Zueinander dramatischer
Personen, ihren gesellschaftlichen Index. Ertrug Goethe das
Auftrumpfende nicht mehr, so spielte Kritik des bürgerlichen
Geistes hinein, an dem er doch selbst bis ins Innerste partizipierte.
Ihn ekelte vor dem Bürger, der als Heros sich aufspielt; er ahnte
etwas vom finsteren Geheimnis einer Revolution und eines
vermeintlich befreiten Bewußtseins, das, wie dann in Frankreich um
1789, sich deklamieren muß, weil es nicht ganz wahr ist, weil in ihm
Humanität in Repression umschlägt und ungeschmälerte
Menschlichkeit verhindert. Deren Aspekt war, im Deutschland jenes
Zeitalters, real noch zugehängt. Deshalb desertierte Goethe zur
aristokratischen Gesellschaft: er fürchtete im Bürger den Barbaren
und erhoffte Humanität sich dort, wogegen der bürgerliche Geist
seine Rancune kehrte. Gute Manieren, Rücksicht, Verzicht auf die
Aggression der angeblich ungeschminkten Wahrheit sind
Ingredienzien des humanen Bedürfnisses. Daß es nach rückwärts
gestaut wird, bezeugt weniger Sympathie mit einer Romantik, von
der Goethe Abstand hielt, als die Not eines Zustandes, in dem
Humanität aufging und der im gleichen Augenblick sie abschnitt. So
wird man wohl, vom Werk her, die Übersiedlung nach Weimar zu
interpretieren haben. Mit einer Lauterkeit, die dem künstlerischen
Vermögen gleichkam, hat Goethe dann im Tasso noch das
illusionäre Moment jener gesellschaftlichen Wendung bis zur
Selbstvernichtung in effigie aufgedeckt. Aber seine désinvolture
bedurfte der Distanz, die die Humanität der Iphigenie in jedem Satz
leise wahrt. Aus Mangel an Distanz geht Tasso zugrunde. Sie ist das
principium stilisationis, ohne das von nun an kein großes Kunstwerk
mehr gelang; doch sie schränkt, als soziales Privileg, die Humanität
ein, um deretwillen der Künstler sich distanziert.
Von daher wird das Moment der Geselligkeit verständlicher, das
als eines inmitten von Goethes Dichtung so leicht als Konzession an
äußere Lebensumstände erscheint, unvereinbar mit dem
distanzierenden Stilisationsprinzip. In der Iphigenie, vollends im
Tasso sorgt es für die Kommunikation Einsamer. Zwischen ihnen
waltet die Konvenienz von Bildung: die Darstellung gebildeter
dramatischer Personen als gebildeter ist ihrerseits ein Stück
Realismus, Novum in der Goetheschen Dichtung. Das gesellige
Moment wird zur Umgangssprache. Tiefen Aufschluß über die
Iphigenie, und über die Zerbrechlichkeit ihres Stils, erteilen jene
Passagen, wo unmerklich fast die Umgangssprache, ohne Prätention
und Pose gesprochen, aus dem distanzierenden Stil kippt. Dann
redet gleichsam der Bürger, dessen Rede nicht ganz die des
Edelmanns sein kann. Verse des Pylades lauten: »So haben die, die
dich erhielten, / Für mich gesorgt: denn was ich worden wäre, /
Wenn du nicht lebtest, kann ich mir nicht denken« (638–640); die
Ellipse »worden« für geworden gehört eher in den Sprachraum
Gretchens als den von Mykene, wie denn überhaupt der
Sprachgestus »was aus mir geworden wäre« seinen
Voraussetzungen nach nicht der eines durch den familialen
Zusammenhang geregelten Lebens ist. Er klingt bürgerlich. Goethe
läßt den Pylades, vielleicht um des Kontrasts zum Heros willen,
überhaupt bürgerlicher sprechen als den Vetter, mit dem er doch
erzogen ward. Ein Beleg ist die antoniohafte Wendung: »Ich halte
nichts von dem, der von sich denkt, / Wie ihn das Volk vielleicht
erheben möchte.« (697/698). Die vernünftige und individualistisch
pointierte Unterscheidung zwischen dem, wofür einer sich hält und
wie andere ihn sehen, auf die dann Schopenhauer so viel Wert legte,
rechnet einer Gesellschaft zu, in der menschliche Bestimmung und
Funktion unterm Tauschgesetz auseinanderklaffen, und »von
jemand etwas halten« impliziert liberale Meinungsfreiheit, mit dem
Oberton des Menschen nach ihrer Verwertbarkeit Überblickenden.
Solche Sprachfiguren hat Goethe in der Iphigenie den zweiten
Violinen vorbehalten; auch der Königsbote Arkas streift das
Prosaische mit dem Satz: »O wiederholtest du in deiner Seele, / Wie
edel er sich gegen dich betrug / Von deiner Ankunft an bis diesen
Tag!« (1500–1502) Modern ist Betragen das Wort für ein Verhalten,
das nicht mehr fraglos ist, wie es für die altertümlichen
Feudalherren sein müßte, welche die Bühne der Iphigenie
bevölkern. Es involviert Anpassung an ein von außen Gesetztes, und
wäre es das Ideal, selbst wenn das Wort Betragen vor zweihundert
Jahren noch nicht so depraviert gewesen sein sollte wie neuerdings.
Daß derlei Stellen leise zum Tenor des Ganzen dissonieren, hat den
Grund, daß diesem der gesellige Ton einverleibt sein soll, sich aber
nicht der kommunikativen, von der Objektivität der Sprachgestalt
das mindeste nachlassenden Rede nähern darf. Die Objektivität von
Sprache an sich erhält sich in der Iphigenie nicht ungetrübt, weil sie
eben jenes a priori sinnstiftende Wesen postuliert, das nach dem
Maß von Natürlichkeit nicht zu postulieren wäre. An den
Wundstellen des Klassizismus gleitet die rein ausdrückende in die
mitteilende Sprache ab. Kunstvolle Arrangements reichen nicht hin
zur Bändigung des Divergenten.
Die antinomische Struktur erstreckt sich jedoch auch auf
Humanität als Intention des Dramas. Der gesellschaftliche
Koeffizient der Sprache, der einer gebildeten Oberschicht, ist Index
des Partikularen, Ausschließenden jener Humanität. Dies Moment
eignet all ihren Repräsentanten aus der Epoche des deutschen
Klassizismus und Idealismus, Kant und Schiller nicht
ausgenommen. Die Wendung des reifen Goethe von der verteufelt
humanen Iphigenie, die der Abhandlung Henkels den Namen gibt,
aus einem Brief an Schiller von 1802, mag als Selbstbewußtsein
davon gedeutet werden. In ihr protestiert Treue zu Goethes Jugend
gegen den Preis seines Fortschritts. Wie die Humanität des
Ausdrucks, schweigend der Roheit von Untersprache entgegen,
etwas Bannendes hat, vom Schlage eben des Mythos, dem das
Schauspiel abschwört, so basiert der Inhalt jener Humanität auf dem
Privileg. Mit klassenbewußter Parteinahme ist das nicht zulänglich
begriffen; ihre Annahme wäre anachronistisch. Goethe steht, im
gesellschaftlich Ganzen, unter einer Fatalität, der das dichterische
Wort nicht sich entwinden kann, will es nicht die Last der
Sachgehalte bequem abschütteln, deren der Wahrheitsgehalt bedarf.
Die Opfer des zivilisatorischen Prozesses, die, welche er
herabdrückt und welche die Zeche der Zivilisation zu bezahlen
haben, sind um deren Früchte geprellt worden, gefangen im
vorzivilisatorischen Stande. Zivilisation, die historisch über
Barbarei hinausführt, hat diese bis zum gegenwärtigen Tag vermöge
der Repression, die ihr Prinzip, das naturbeherrschende, ausübt,
auch befördert. Das nötigte die Sprecher von Humanität, solange der
dialektische Zusammenhang noch nicht zu durchschauen war, dazu,
ihr Zivilisatorisches mit Ungerechtigkeit zu kohibieren. Sie, der
barbarische Rest im Widerstand gegen die Barbarei, ist das Surrogat
für die Versöhnung mit Natur, welche der blanken Antimythologie
mißlang. Das Unrecht widerfährt in der Iphigenie jenen, die dem
griechischen Gebrauch wörtlich die Barbaren heißen. Das
barbarische Wesen der Nichtgriechen wird durch den von Iphigenie
vertagten, nicht abgeschafften Brauch, Fremde der Göttin zu opfern,
kraß genug versinnlicht. Goethe, der das selbst in seinem
Duodezstaat sichtbar werdende Klassenverhältnis durch humane
Maßnahmen der Regierung zu meistern hoffte, verlagert dessen
sprengend antagonistisches Wesen ins Exotische, analog zu Hegels
Rechtsphilosophie: »Durch diese ihre Dialektik wird die bürgerliche
Gesellschaft über sich hinausgetrieben, zunächst diese bestimmte
Gesellschaft, um außer ihr in anderen Völkern, die ihr an den
Mitteln, woran sie Überfluß hat, oder überhaupt an Kunstfleiß usf.
nachstehen, Konsumenten und damit die nötigen Subsistenzmittel
zu suchen.« 1 Vag ist, zumal von Thoas, der Imperialismus des
späteren neunzehnten Jahrhunderts antezipiert, der bis zum jüngsten
Gegensatz hochindustrialisierter und nichtentwickelter Völker den
Klassenkampf in einen von Nationen oder Blöcken versetzte und
unsichtbar machte. Die unbefangene Reaktion auf die Iphigenie, mit
Thoas werde häßlich umgesprungen, ist von keinem Gegenbeweis
ganz zu beschwichtigen. Wohl läßt rationalistisch sich
argumentieren, bliebe etwa Iphigenie aus Freiheit bei dem alternden
König, der sie zur Ehe begehrt, weil er sich einen Erben wünscht, so
würde ihre eigene Autonomie, ihr Kantisches Recht gegen sich
selbst, und damit Humanität verletzt. Was indessen zu tragen
peinlich bleibt, ist es nach den Normen der Bürgerlichkeit, welche
die Humanität der Iphigenie in Zügen wie der Insistenz auf Freiheit
und Gleichheit als verbindlich akzeptiert. Die Ungerechtigkeit der
Iphigenie bestimmt sich durch immanente Kritik. Freiheit ist,
woraus Iphigenie handelt und was sie will. Ihre Unvereinbarkeit mit
dem nationellen Privileg wird im ersten Dialog der Heldin mit
Thoas aus dem fünften Akt thematisch. Auf ihr »Verdirb uns –
wenn du darfst«, antwortet der König: »Du glaubst, es höre /Der
rohe Skythe, der Barbar, die Stimme / Der Wahrheit und der
Menschlichkeit, die Atreus, / Der Grieche, nicht vernahm?« Sie
entgegnet ernsthaft auf seine Ironie: »Es hört sie jeder, / Geboren
unter jedem Himmel, dem / Des Lebens Quelle durch den Busen
rein /Und ungehindert fließt.« (1936–1942) Wohl erheischt
Humanität, daß dem Zug um Zug, Gleich um Gleich ein Ende
bereitet werde; daß der verruchte Tausch von Äquivalenten aufhöre,
in dem der uralte Mythos in der rationalen Ökonomie sich
wiederholt. Der Prozeß hat jedoch seinen dialektischen Knoten
daran, daß, was über dem Tausch ist, nicht hinter diesen zurückfalle;
daß nicht dessen Suspension abermals Menschen als die Objekte
von Ordnung um den vollen Ertrag ihrer Arbeit bringe. Die
Abschaffung des Äquivalententauschs wäre dessen Erfüllung;
solange Gleichheit als Gesetz herrscht, wird der Einzelne um
Gleichheit betrogen. Das Stilisationsprinzip der Iphigenie verwehrt,
dem gerühmten Goetheschen Realismus zum Trotz, derlei
handfesten Kategorien den Eintritt ins Kunstwerk. Trotz aller
Sublimierung indessen fällt ihr Widerschein in ein Gefüge, das als
eines reiner Menschlichkeit sich weiß und verkennt in einem
geschichtlichen Augenblick, in dem jene durch den zur Totalität
sich ausbreitenden Funktionszusammenhang der Gesellschaft schon
verdrängt wird. Das Gefühl einer Ungerechtigkeit, die darum dem
Schauspiel zum Schaden gereicht, weil es objektiv, der Idee nach
beansprucht, mit Humanität realisiere sich Gerechtigkeit, rührt
daher, daß Thoas, der Barbar, mehr gibt als die Griechen, die ihm,
mit Einverständnis der Dichtung, human überlegen sich dünken.
Goethe, der das zur Zeit der endgültigen Niederschrift muß
innerviert haben, hat all seine Kunst daran gewendet, das Stück vor
dem Einwand zu behüten; der Verlauf der Iphigenie in ihren
späteren Akten ist die Apologie von Humanität gegen ihr immanent
Inhumanes. Um solcher Verteidigung willen wagt Goethe ein
Äußerstes. Iphigenie, gehorsam dem kategorischen Imperativ der
damals noch ungeschriebenen Kritik der praktischen Vernunft,
desavouiert aus Freiheit, aus Autonomie ihr eigenes Interesse, das
des Betrugs bedarf und damit den mythischen
Schuldzusammenhang wiederholt. Wie die Helden der Zauberflöte
achtet sie das Gebot von Wahrheit und verrät wie sich selbst die
Ihren, die einzig dank der Humanität des Barbaren gerettet werden.
Die große Schlußszene mit Thoas dann trachtet, durch einen Takt,
der dem gesellschaftlichen abgelernt ist, durchs Ritual von
Gastfreundschaft, bis zur Unkenntlichkeit abzuschwächen, was
geschieht: daß der Skythenkönig, der real weit edler sich verhält als
seine edlen Gäste, allein, verlassen übrig ist. Der Einladung wird er
schwerlich folgen. Er darf, eine Sprachfigur Goethes anzuwenden,
an der höchsten Humanität nicht teilhaben, verurteilt, deren Objekt
zu bleiben, während er als ihr Subjekt handelte. Das Unzulängliche
der Beschwichtigung, die Versöhnung nur erschleicht, manifestiert
sich ästhetisch. Die verzweifelte Anstrengung des Dichters ist
überwertig, ihre Drähte werden sichtbar und verletzen die Regel der
Natürlichkeit, die das Stück sich stellte. Man merkt die Absicht und
man wird verstimmt. Das Meisterwerk knirscht in den Scharnieren:
damit verklagt es den Begriff des Meisterwerks. Goethes
Empfindlichkeit dagegen verstummte in der Iphigenie angesichts
dessen, was Benjamin hellsichtig die Grenzen und Möglichkeiten
der Humanität nannte. Sie strahlt im Augenblick der bürgerlichen
Revolution weit über das partikulare Interesse der Klasse hinaus und
wird im selben Augenblick vom partikularen Interesse verstümmelt;
auf jenem Stand des Geistes war ihr versagt, ihre Schranken zu
überschreiten.
Aber sie wurde jener Schranken inne: im Zentralstück der
Iphigenie, dem Wahnsinnsmonolog des Orest. Er entbindet das Bild
ungeschmälerter Versöhnung, jenseits der Konstruktion von
Humanität als eines Mittleren zwischen dem Unbedingten und der
blinden Naturverfallenheit. Hier wahrhaft läßt Goethe den
Klassizismus so tief unter sich wie das Metron die Jamben, Reprise
der freien Verse seiner Frühzeit. »Wir sind hier alle der Feindschaft
los.« (1288) Die Befriedung des Mythos in der Unterwelt, Orests
Vision, transzendiert, was irgend griechisch vorstellbar war. Die
Tantaliden, Urfeinde, sind versöhnt, Atreus und Thyestes,
Agamemnon und Klytemnästra, auch diese und Orest, mit der
christlichen Anspielung »Sieh deinen Sohn« (1294), in der
Humanismus zur blasphemischen Mystik sich steigert. Was an
Chiliastischem hier die Pforten der Antike sprengt, ist dem
offiziellen westlichen Christentum so fremd wie der mittleren
Humanität; anklingt die Lehre von der Apokatastasis: der Erlösung
selbst des radikal Bösen, der vollendeten Sündhaftigkeit. Paradox
genug, und sicherlich ohne Goethes Wissen, wird dem in russisches
Gebiet verschlagenen Griechen die zentrale religiöse Konzeption
der Russen in den Mund gelegt, die in deren eigener Literatur erst
viel später ihr Wort fand. Es ist aber diese Vision, die das Gehege
der Kultur niederreißt, das sonst der Humanität der Iphigenie
zuliebe aufgebaut wird. An jener avanciertesten Stelle seines Stücks
dient Goethe der ganzen Humanität, indem er die Tabus der halben,
domestizierten verletzt, die auf ewige Höllenstrafen nicht verzichten
mag. In der Totalität des Stücks freilich behalten jene die Oberhand.
Dem die Dichtung, wie Henkel erkannte, die Stimme von Utopie
anvertraute, den schwärzt sie zugleich als Wahnsinnigen an. Utopie
wird ihrer Unmöglichkeit geziehen, wo sie sich regt; wer sie
erblickt, muß verwirrten Geistes sein. Und mehr: sogar in die Utopie
eines Standes frei von Recht und Unrecht ist das Gesetz der
Unabdingbarkeit von Rache eingesenkt, das Schrankenlose
widerrufen. Über Tantalus, dem Göttergenossen, der buchstäblich
zum Absoluten sich erhob, waltet weiter der Fluch. Die befragten
Schatten wenden auf Orests Frage nach dem Ahnherrn sich ab und
verdammen damit den Visionär wiederum zur Verzweiflung. Der
Mythos schlingt den Monolog, der dessen Immergleiches zum
Anderen, Neuen abwandelt, in sich hinein. Metaphysische Kritik der
Iphigenie hätte daran ihren Vorwurf.
Orest selbst, der im Sturz der Visionsszene aufs mythische
Gestein aufprallt und zu zerschellen scheint, ist von
antimythologischer Haltung, schroffer sowohl wie reflektierter als
seine Schwester. Seine Haltung ist die der Dichtung. Schon zu
Beginn des zweiten Akts wird sie, theoretisch fast, von Pylades auf
ihren Kern gebracht, die Differenz rationaler Eindeutigkeit vom
amorph Vieldeutigen: »Der Götter Worte sind nicht doppelsinnig, /
Wie der Gedrückte sie im Unmut wähnt.« (613/614) Orests
Einspruch gegen den Mythos schärft sich, vielleicht in Erinnerung
an den Euripides, zur Anklage gegen die olympischen Gottheiten:
»Mich haben sie zum Schlächter auserkoren, / Zum Mörder meiner
doch verehrten Mutter, / Und, eine Schandtat schändlich rächend,
mich / Durch ihren Wink zu Grund gerichtet. Glaube, / Sie haben es
auf Tantals Haus gerichtet, / Und ich, der letzte, soll nicht schuldlos,
soll / Nicht ehrenvoll vergehn.« (707–713) Das provoziert die
Gegenrede des Pylades, der die Götter vom Mythos scheidet: »Die
Götter rächen / Der Väter Missetat nicht an dem Sohn; / Ein
jeglicher, gut oder böse, nimmt / Sich seinen Lohn mit seiner Tat
hinweg. / Es erbt der Eltern Segen, nicht ihr Fluch.« (713–717) Das
beschreibt die geschichtsphilosophische Position, die Goethe
tatsächlich dem Orest zuweist. Sind, nach Freuds Einsicht, die
Mythen Urbilder der Neurosen, so verinnerlicht der Dichter des
bürgerlichen Zeitalters den mythischen Fluch zum neurotischen
Konflikt. Er entführt den Orest ins Weltalter nach dem Mythos,
gemäß einem Topos aller Aufklärung, der Kritik an Projektion, den
Iphigenie ausdrücklich zitiert: »Der mißversteht die Himmlischen,
der sie / Blutgierig wähnt: er dichtet ihnen nur / Die eignen
grausamen Begierden an« (523–525); Goethe mochte Voltaire, den
er übersetzte, nicht so abhold sein, wie seinen Kommentatoren
beliebt. Der mythische Held ist stumm und findet, Benjamins
Barockbuch zufolge, die Sprache auf der tragischen Bühne; Orest,
wie die anderen Griechen des Stücks, betritt sie als Mündiger. Wo er
sich unterm Bann fühlt, kurz vor dem großen Ausbruch, reflektiert
er denn auch auf die eigene Verschlossenheit, virtuell sie aufhebend:
»Wie Herkules will ich Unwürd'ger / Den Tod voll Schmach, in
mich verschlossen, sterben.« (1178/1179) Sein Verhältnis zum
Mythos ist nicht das zugehörige antiker Heroen, sondern das einer
erzwungenen Rückkunft, die dann in der Wahnsinnsszene Sprache
wird. Zur Schwester sagt er: »Und laß dir raten, habe / Die Sonne
nicht zu lieb und nicht die Sterne: / Komm, folge mir ins dunkle
Reich hinab!« (1232–1234) – Verse, die genügten, allen trivialen
Anschauungen vom Goetheschen Klassizismus ein für allemal den
Boden zu entziehen. Mit ihnen gelangt ein romantisches Element in
das Schauspiel, dessen Dialektik es negiert und konserviert. Die
inwendige Bewegung des pathisch Schwermütigen wird von
Goethe, mit einer Erfahrenheit, die ihresgleichen sucht, als eine von
Regression dargestellt. Der tiefe dialektische Zusammenhang des
Stücks aber dürfte darin aufzusuchen sein, daß Orest vermöge
seiner schroffen Antithese zum Mythos diesem anheimzufallen droht.
Die Dichtung prophezeit den Umschlag von Aufklärung in
Mythologie. Dadurch, daß Orest den Mythos als ein von ihm
Entfernter, wenn nicht vor ihm Geflohener verurteilt, identifiziert er
sich mit jenem herrschaftlichen Prinzip, in dem, durch Aufklärung
hindurch, das mythische Verhängnis sich verlängert. Aufklärung,
die sich selbst entläuft; die den Naturzusammenhang, von dem sie
durch Freiheit sich scheidet, nicht in Selbstreflexion bewahrt, wird
zur Schuld an der Natur, einem Stück mythischen
Naturzusammenhangs. An einer sehr versteckten Stelle der
Dichtung blitzt das auf. Thoas, der Übervorteilte, mit dem das
Gedicht insgeheim sympathisiert, verfügt gegen die Zivilisierten
über das Argument von den Wilden, die doch bessere Menschen
seien. Im letzten Auftritt sagt er: »Der Grieche wendet oft sein
lüstern Auge / Den fernen Schätzen der Barbaren zu, / Dem goldnen
Felle, Pferden, schönen Töchtern; / Doch führte sie Gewalt und List
nicht immer / Mit den erlangten Gütern glücklich heim.«
(2102–2106) Die imago der schönen Töchter der Barbaren, beneidet
von den Damen des römischen Imperiums, erinnert an das Unrecht
der Humanität als der Suprematie des Menschen über jenes
Tierhafte, das, wie eine viel spätere Phase der Erfahrung, die
Baudelaires, gewahrte, Ferment des Schönen selbst ist. Humanität
war es erst, wo sie über ihre eigene Idee hinaus, die des Menschen,
sich öffnete. Versöhnung ist nicht die blanke Antithese zum Mythos,
sondern umfaßt die Gerechtigkeit gegen diesen. Die Iphigenie
duldet nur das undeutliche Echo solcher Gerechtigkeit über dem
Recht, das von den mündigen Subjekten des Stücks seines Unrechts
überführt wird.
Worin die Humanität der Iphigenie dem Mythos sich entwindet,
das sagen weniger ihre Parolen als Ansätze einer Deutung der
Geschichte. Im Monolog des vierten Aktes sinnt die Heldin der
Hoffnung nach, der Fluch möchte nicht ewig gelten: »Soll / Nie dies
Geschlecht mit einem neuen Segen / Sich wieder heben? – Nimmt
doch alles ab! / Das beste Glück, des Lebens schönste Kraft /
Ermattet endlich: warum nicht der Fluch?« (1694–1698) Man
könnte die Worte als episodisch und peripher betrachten, hätte nicht
Goethe zwanzig Jahre später das in der Jugend erfundene Märchen
von der neuen Melusine geschrieben, die für die Zeit, in der sie
ihrem drangvoll ungestümen, gleichsam barbarischen Geliebten sich
entzieht, im Reich des Kästchens verschwindet. Es ist eine
Phantasmagorie des beseligt Kleinen, in der es der Geliebte,
freundlich aufgenommen, nicht erträgt und die er gewalttätig
zerstörend verläßt, damit die Erde ihn wieder hat. Das Kästchen der
Melusinedichtung, eines der rätselvollsten aus Goethes Hand, ist die
Gegeninstanz zum Mythos, die diesen nicht schlägt, sondern durch
Gewaltlosigkeit unterbietet. Danach wäre es die Hoffnung, eines der
orphischen Urworte und eine Losung der Iphigenie, daß das
Gewaltsame des Fortschritts verblaßt, in welchem die Aufklärung
Mimikry an den Mythos treibt: daß er kleiner wird oder, nach dem
Wortlaut der Iphigenieverse, »ermattet«. Hoffnung ist das
Entronnensein des Humanen aus dem Bann, die Sänftigung der
Natur, nicht deren sture Beherrschung, die Schicksal perpetuiert. In
der Iphigenie erscheint Hoffnung, wie an entscheidender Stelle der
Wahlverwandtschaften, nicht als menschliches Gefühl sondern als
Gestirn, das der Menschheit aufgeht: »Nur stille, liebes Herz, /Und
laß dem Stern der Hoffnung, der uns blinkt, / Mit frohem Mut uns
klug entgegensteuern.« (923–925) Hoffnung gebietet dem Machen,
Herstellen Einhalt, ohne das sie doch nicht ist. So wird sie in der
Dichtung desultorisch nur angerufen. In der Kunst der Epoche hat
sie ihre Stätte in der großen Musik, in Beethovens Leonorenarie und
in Augenblicken mancher Adagiosätze wie dem des ersten
Rasumoffsky-Quartetts, beredt über alle Worte hinaus. Jenseits des
Mythos ist nicht der optische, gegegenständliche Goethe, bis zum
Ende des Faust Komplize der Herrschaft über Natur; wohl aber ein
passivischer, nicht länger willig zu jener Tat, die da am Anfang soll
gewesen sein, Erstes, nicht das Letzte. Dieser Goethe erst verkörpert
den Einspruch gegen den Klassizismus, der, als sollte es nicht sein,
schließlich doch die Partei des Mythos ergreift. Auf seiner obersten
Erhebung erreicht das Goethesche Werk den Indifferenzpunkt von
Aufklärung mit einer heterodoxen Theologie, in der Aufklärung sich
auf sich selbst besinnt, und die errettet wird, indem sie in
Aufklärung verschwindet. Das Gleichnis der Iphigenie vom
Ermatten ist der Natur abgesehen. Es gilt einer Gebärde, die sich
ergibt, anstatt auf sich zu pochen; aber auch ohne zu entsagen. Das
Schauspiel wurde im selben Jahr abgeschlossen wie der Figaro, und
Goethe hat den Text der Zauberflöte fortgesetzt. In der gegenstands-
und begriffslosen Sprache Mozarts verbindet sichtbar vollendet
aufgeklärte Luzidität sich mit einem vollendet säkularisierten
Sakralen, das sich im Rauschen der gegenständlichen und
begrifflichen Sprache Goethes versteckt.
 Fußnoten
 
1 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsg. von J.
Hoffmeister, 4. Aufl., Hamburg 1955, S. 202 (§ 246).
 
 Rede über den ›Raritätenladen‹ von Charles
Dickens
Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen heute weder ein neues
Buch vorstellen noch Sie an ein vergessenes erinnern, sondern von
einem reden, dessen Titel allgemein geläufig ist und das heute noch,
zumal von Kindern, häufig gelesen werden mag. Aber in den
neunzig Jahren, die vergangen sind, seit der ›Raritätenladen‹ von
Dickens, in ein anderes Romanwerk eingeschaltet, erschien, ist
einiges von den Geheimnissen kenntlich geworden, die dem Werk,
vielleicht ohne deutliches Wissen des Dichters, eingesenkt waren.
Das Werk hat sich in der Zeit verändert, und ich möchte versuchen,
Ihnen anzudeuten, was es heute durchsichtig beschließt. Nach der
landläufigen Vorstellung rechnet Dickens zu den Begründern des
realistischen und sozialen Romans. Das gilt historisch; bedarf aber
einiger Einschränkung, wofern man der Gestalt seiner Dichtung
selber nachfragt. Denn dies Romanwerk, darin Armut, Verzweiflung
und Tod als Frucht einer bürgerlichen Welt deutlich bereits erkannt
sind, mit der allein noch die Spuren menschlicher Wärme und Güte
versöhnen, wie sie zwischen den einzelnen Menschen sich vorfinden
– dies Romanwerk enthält zugleich den Umriß einer völlig anders
gearteten Weltansicht in sich. Sie mögen diese Weltansicht
vorbürgerlich nennen; in ihr ist das einzelmenschliche Individuum
noch nicht zur vollen Selbständigkeit, darum auch nicht zur vollen
Einsamkeit gediehen, sondern stellt sich dar als Träger objektiver
Wesenheiten, dunklen, verhängten Schicksals und gestirnhaften
Trostes, die wohl den Einzelnen erreichen und sein Leben
durchdringen, niemals aber aus dem Gesetz des Einzelnen – wie
etwa die Schicksale in Flauberts Romanen – folgen. Die Romane
von Dickens bergen ein Stück von jenem versprengten Barock, das
sonderbar im neunzehnten Jahrhundert umgeistert; wie Sie es aus
den Stücken von Raimund, selbst Nestroy kennen; wie es aber auch,
verborgener, die scheinbar so individualistische Philosophie
Kierkegaards enthält. Für die Romanform von Dickens heißt das,
bestimmter: daß sie keine Psychologie kennt; vielmehr, daß sie
deren Ansätze je und je in die objektiven Bedeutungen aufnimmt,
die die Romane abbilden. Nicht umsonst sind diese Romane
illustriert erschienen; selber Illustrationen der objektiven
Bedeutungen durch Menschenfiguren eher als freie Darstellungen
von Menschen. In dieser illustrierenden, objektive Wesenheiten
beschreibenden, unpsychologischen Art von Dickens dürften Sie,
außer dem Vorbürgerlichen, auch eine Intention erkennen, die über
die bürgerliche Kunstübung hinausgreift: indem sie darauf
verzichtet, an deren höchster Norm, dem Individuum und seiner
Psychologie, ihr eigenes Maß zu suchen, und damit beiträgt, die
objektive Struktur eines Lebensraums zu enthüllen, der von sich aus
alle Objektivität in Subjektivität auflösen möchte. Die
vorbürgerliche Form der Romane von Dickens wird zu einem Mittel
der Auflösung eben der bürgerlichen Welt, die sie darstellen.
An keinem seiner Romane ist das deutlicher als am
›Raritätenladen‹. Gesellschaftliche Kritik und Darstellung objektiver
Wesenheiten treffen hier zusammen. Sie vermögen das grob an den
Schauplätzen zu erkennen. Barock-allegorisch ist das Inventar des
Romans zunächst; ein Arrangement von Figuren. Der alte
Raritätenladen, das Marionettentheater der Herren Short und Codlin,
ein Wachsfigurenkabinett, ein Kirchhof sind der Raum der
Haupthandlung; ein Geisterraum wie vielleicht der des Theaters in
Wilhelm Meister, der noch in der Prosa von Gottfried Keller und
Theodor Storm den bürgerlichen Raum schneidet. An seinem
allegorischen Charakter bleibt kein Zweifel angesichts einer Formel
wie der Dickens'schen: »Bei dieser Gelegenheit sei übrigens
bemerkt, daß Polichinell mit der Spitze seiner Mütze auf eine
ungemein pathetische Grabschrift zu deuten und darüber aus dem
Grunde seines Herzens zu lachen schien.« Es ist eine
Yorick-Szenerie, die Dickens entwirft. Alle diese Bilder aber sind,
als um ihren Schwerpunkt, angeordnet um die Darstellung einer
frühen Industriestadt, die wie ein Höllenraum unter dem der
allegorischen Bilder liegt; wo in Wahrheit das stumme Opfer der
Heldin sich vollzieht.
Die Heldin, ein Kind, die kleine Nell, Opfer der mythischen
Mächte bürgerlichen Schicksals, und der schmale Lichtstrahl
zugleich, der flüchtig die bürgerliche Welt erhellt, ist selbst Figur
durchaus. »So aber schien es mir, als lebte sie in einer Art
Allegorie«, sagt der Erzähler von ihr, der, gleichsam ein
Puppenspieler, in den ersten Kapiteln die Personen vorstellt, um
dann ausdrücklich zurückzutreten hinter denjenigen, »denen
wichtige und bedeutende Rollen anvertraut sind«. Der
Figurcharakter der kleinen Nell kommt zumal daran zutage, daß sie
in einer Gruppe eingeführt ist, aus der sie nichts löst als erst der
Tod. Es ist die Gruppe des alten Titelholzschnittes: Nell und ihr
Großvater. Beide aus gleichem Stoff gefertigt, bleiben sie
untrennbar; keiner vermöchte je als selbständiger Mensch sich zu
regen; das Kind so wenig wie der schwachsinnige Greis. Der
Gedanke an Goethe, an Mignon und den Harfner liegt abermals
nahe. Nell und der Großvater sind durch die Gewalt eines Schicksals
aneinandergebunden, das im naturalen Zusammenhang der Enkelin
die Schuld des Großvaters, die blinde und sinnlose Passion des
Spiels, aufbürdet und sie als Sühneopfer, schuldlos selber, fallen
läßt. Nichts anderes ist der Roman als die Geschichte ihres Opfers.
Die Bahn des Opfers ist zugleich die von einem allegorischen
Schauplatz zum anderen und die eines Ausbruches aus der
bürgerlichen Gesellschaft, die hier überall mit den mythischen
Gewalten verschworen erscheint; so tief doppelsinnig ist ihr Weg
wie der jener Postkutsche, die Dickens einmal einen
»Landstraßenkometen« nennt. Ebenso doppeldeutig ist ihre
bürgerliche Umwelt; unvermittelte soziale Wirklichkeit, deren
Zwang sie untersteht, und mythische Gewalt, anschaubar als
Wohnung und Stadt, und gedeutet im Augenblick der Flucht Nells
und des Großvaters, da vom »Labyrinth der Menschenwohnungen«
gesprochen wird, wo »Verderben und Selbstmord auf jeder Straße
lauerten«. Dem ist Nell unterworfen zwar, doch bereits auch
entrückt; besser als in manchen sentimentalen Wendungen in
kleinen Zügen der Darstellung: wenn Nells dämonischer
Gegenspieler, der Zwerg Quilp, sie fragt: »Kannst du sagen, ich will
auf der Stelle sterben, wenn ich es weiß«, lehnt sie den Eid, als ein
Mythisches, ab durch die bloße Rede: »In der Tat, ich weiß es
nicht.« Ähnlich symbolisch mag Nells Waschung im Weiher sein,
die sie auf der Flucht vornimmt; während Quilp, der in den Kleidern
schläft, niemals sich zu waschen scheint – dafür schließlich im
Wasser untergeht. In Wunschbild und Phantasie ist mit der Figur
Nells gesetzt, was in ihrem eigenen Schicksal sich nicht zu
behaupten vermag; Dickens spricht von ihren »Träumen, in welchen
sie durch lichte und sonnige Orte streifte, durch die aber stets
irgendein unbestimmtes, ihr unerreichbares Ziel huschte«; dies Ziel,
das jenseits der Bahn des Romans liegt, meint wohl die Mutter des
Kindes Kit, das Nell liebt. Nach Nells Flucht vermutet sie, der
Großvater und das Mädchen seien ins Ausland gegangen, und mit
unbegreiflich realen Worten, wie sie erst die Figuren Franz Kafkas
wieder sprechen, verrät sie die Art dieses Auslands: »Alle Nachbarn
sind derselben Meinung, und einige wollen sogar wissen, daß man
sie an Bord eines Schiffes gesehen hat; sie nennen sogar den Namen
des Ortes, den sie aufsuchten, er ist aber so schwer auszusprechen,
daß ich ihn nicht behalten konnte, mein Lieber.«
Quilp, von Dickens der Zwerg geheißen und ihr in einer
Begierde zugetan, deren Schauer um so fühlbarer werden, je
sorglicher Dickens sie zu verdecken wünscht, ist Mensch so wenig
wie Nell. Aber er ist nicht, wie die Holzschnittmanier seiner
Darstellung könnte glauben machen, Teufel; sondern Kobold; und
als Kobold zugleich die Figur des profitgierigen Bürgers. So scharf
hat bloß noch Daumier die bürgerliche Geisterwelt verbildlicht, und
der Hinweis auf den »Humor«, mit dem solche Figuren gestaltet
seien, könnte ihre Erkenntnis allein um den Ernst bringen. Das Licht
des Humors, das über Quilp zu liegen scheint, ist das Zwielicht, in
dem hier die dämonische Schicksalsgebundene Natur sich darstellt.
Vom Satanischen unterscheidet ihn die Unfreiheit. Er hat nicht die
Freiheit des Teufels, sondern ist gebunden; wie an sein Schicksal, so
an einzelne Figuren; insgeheim an Nell, offen an seinen Gehilfen,
wiederum ein Kind, da heißt es: »Wir müssen hier bemerken, daß
zwischen diesem Knaben und dem Zwerg eine sonderbare Art von
gegenseitiger Zuneigung stattfand; wie sie übrigens entstanden war
oder wie sie auf der einen Seite durch Drohungen und Schläge, auf
der anderen durch Trotz und Widerspruch genährt wurde, gehört
nicht zur Sache.« Keine Analyse könnte den Gehalt der Figur
schärfer von aller Psychologie abheben, als mit solchen Worten
Dickens selber. Aus der gleichen Naturtiefe wie Quilps hörige
Sympathie, ungeschiedenes Ineinander von Liebe und
Vernichtungsdrang, entspringt Quilps Sadismus; der ebenso das
Gefüge der bürgerlichen Gefühle sprengt wie der Glanz von
Versöhnung über Nell und darum, als unziemlich, immer wieder
von Dickens versteckt, aber doch verraten wird: etwa in der Szene,
da Quilp seine Frau und deren Gesellschaft, während sie ihn für tot
halten, belauscht und plötzlich inmitten der Wohnung unter ihnen
ist. Das mythische Bild des Sadismus, das der Figur Quilps
zugrunde liegt, ist das des Menschenfressers; vom Menschenfresser
spricht denn auch Quilp mehr als einmal. Schlafend ist er als
Menschenfresser gedeutet; auf der Flucht aus dem Hause, das Quilp
in Besitz genommen, gelangen Nell und der Großvater »in den Flur
des Erdgeschosses, wo das Schnarchen des Herrn Quilp und seines
Rechtsfreundes weit schrecklicher ist, als das Gebrüll von Löwen in
ihre Ohren« klingt.
Die Flucht ist eine Flucht vor Quilp; vor Quilp, der sie verfolgt,
aber nicht erreichen kann, weil die Bahn seiner Dämonie so sicher
vorgezeichnet ist wie die von Nells Opferung. Darüber hinaus aber
enthält die Flucht tiefen dialektischen Doppelsinn in sich. Sie ist
zunächst der Ausbruch jener Gruppe aus der bürgerlichen Welt, die
sich dämonisch wider sie verschworen hat; ein Ausbruch, der um
den Preis des Todes gelingt. Dies Motiv des Ausbruchs, der bei
Dickens stets im Reiche der Kinder sich vollzieht, weil er den
Erwachsenen real wie literarisch versperrt ist, hat Stefan Zweig in
seinem Dickens-Essay richtig erkannt. Dickens verkündigt es: »Und
dann faltete der alte Mann seine Hände über dem Haupte der
Kleinen und sagte in kurzen, abgebrochenen Worten, daß sie von
nun an in der Welt umherwandern und nie mehr einander verlassen
wollten, bis der Tod sie trennte.« Ein wenig romantisch wird der
Ausbruch belichtet in den Sätzen: »Wir wollen zu Fuß durch Felder
und Wälder ziehen, an den Ufern der Flüsse hinwandern und uns in
Gottes Obhut geben an den Orten, wo er wohnt. Es ist weit besser,
des Nachts sich unter jenem freien Himmel niederzulegen und seine
Pracht zu bewundern, als in diesen engen Räumen zu ruhen, die
stets voll von Sorge und bedrückenden Träumen sind. Du und ich,
Nell, wir können beide noch froh und glücklich sein und diese Zeit
vergessen lernen, als wäre sie nie gewesen.« Und ähnlich,
polemisch: »Du und ich, wir beide haben uns jetzt losgemacht, Nell.
Sie sollen uns nicht mehr zurücklocken.« Unvergleichlich viel
größer aber ist die Gewalt des Ausbruchs in der konkreten
Darstellung, wie die Gruppe die Stadt verläßt, und wie in der Frühe,
der heiligen Frühe ihres Beginns, das Bild der Stadt schreckhaft sich
enthüllt: »Die beiden Pilger drückten einander oft die Hände,
wechselten ein Lächeln oder warfen einander einen freundlichen
Blick zu und setzten schweigend ihren Weg fort. So hell und heiter
der Tag war, so lag doch etwas Feierliches in den langen, verödeten
Straßen, aus denen, wie aus seelenlosen Körpern, der gewohnte
Ausdruck und Charakter gewichen war, ohne etwas anderes
zurückzulassen als jene tote, einförmige Ruhe, die alles ausgleicht.
Es war überall so still um diese frühe Stunde, daß die wenigen
blassen Leute, denen sie begegneten, ebensowenig in die Szene zu
passen schienen als die dahinsiechenden Lampen, die hin und
wieder noch brannten und kraftlos und fahl im Sonnenlicht waren.«
Der dämonische Charakter der Welt, die sie verlassen, offenbart sich
an deren Zeitlosigkeit; wie die Lampe in den Morgen hinein brennt,
so kennt dieser Raum in Wahrheit keine Geschichte, bis er
gesprengt wird, und verharrt in negativer Ewigkeit. Von der
Industriestadt, deren Dämpfe Nell die tödliche Krankheit bringen,
heißt es: »Dann kamen sie durch eine schmutzige Gasse in eine
gedrängt volle Straße und blieben dort inmitten des Lärmes und
Tumultes im strömenden Regen stehen, so fremd, so betroffen und
verwirrt, als hätten sie vor tausend Jahren gelebt und wären durch
ein Wunder vom Tode erweckt und an diesen Ort gebracht worden.«
Hier mag sich der tiefste Zusammenhang der Marionettenwelt mit
der bürgerlichen erweisen, als deren Gleichnis sie einsteht; wird
doch auch von den Wachsfiguren gesagt: »... stets dasselbe, mit der
unbeweglichen Miene von Kaltblütigkeit und Anstand, und so
lebensgetreu, daß du, wenn die Wachsfiguren sprächen und
umhergingen, kaum einen Unterschied merktest«. So sind
Stadtwohnung und Wachsfigurenkabinett einander verschwistert.
Die Bahn des Kindes, die dazwischen verläuft, vermag darum dem
schicksalhaften Zwang nicht zu entrinnen: der Ausbruch aus der
bürgerlichen Umwelt ist der Gang zum Tode. Als Todessymbole
stehen die Marionetten ebensowohl und besser ein als der Friedhof,
dessen Symbolcharakter allzusehr an die Oberfläche der Handlung
gerückt erscheint. Im Bilde der Industriestadt treten die beiden
Intentionen des Romans, die geschichtlich-soziale und die
mythologische, zur unvermittelten Einheit zusammen; die ersten
Bilder der Industriestadt gleichen mythischen Bildern selbst. Die
mythische Todessymbolik erfüllt sich in Nells Begegnung mit der
Industriestadt als dem Höllenraum der bürgerlichen Welt. Dickens
beschreibt: »Auf jeder Seite und so weit das Auge durch die dicke
Luft schauen konnte, drängten sich hohe Schornsteine aneinander,
zeigten jene endlose Wiederholung der gleichen, langweiligen,
häßlichen Formen, die der Schrecken schwerer Träume sind, und
strömten ihren giftigen Rauch aus, der das Licht verdunkelte und die
trübe Luft verpestete. Auf den am Wege liegenden Aschenhaufen,
die nur durch ein paar rauhe Bretter oder verfaulte Wetterdächer
geschützt waren, reckten und krümmten sich seltsame Maschinen
gleich gemarterten Wesen, klirrten mit ihren eisernen Ketten,
kreischten von Zeit zu Zeit unter den wirbelnden Drehungen, als
könnten sie ihre Qualen nicht länger ertragen, und ließen die Erde
von ihren Schmerzen erzittern.« Die Krise dieser Industriewelt – als
Arbeitslosigkeit von Dickens identifiziert – wird zur Entscheidung
über Nells Leben: sie stirbt als Opfer des mythischen
Lebenszusammenhangs, in dem sie steht, und zur Sühne für das
Unrecht, das hier sich ereignet: »Gegen Mittag beklagte sich ihr
Großvater bitterlich über Hunger. Sie näherte sich einer jener
armseligen Hütten am Wege und klopfte an die Tür. ›Was willst du
hier?‹ fragte ein hagerer, elend aussehender Mann, der die Tür
öffnete. ›Erbarmen. Einen Bissen Brot.‹ – ›Siehst du dies?‹
entgegnete der Mann mit heiserer Stimme, indem er auf eine Art
Bündel zeigte, das auf dem Boden lag. ›Das ist ein totes Kind. Dies
ist mein drittes totes Kind und mein letztes. Glaubst du, ich könnte
Erbarmen gewähren oder ich hätte einen Bissen Brot übrig?‹«
Danach verliert Nell die Hoffnung. Die Zusammenbrechende rettet
der Schulmeister in ein Dorf, das nicht mehr wirklich ist; dessen
Landschaft nur noch den Tod in sich begreift und die Versöhnung
der Sterbenden: »Zu stiller Stunde, als ihr Großvater bereits
friedlich in seinem Bette schlief und jeder Laut erstorben war, saß
das Kind noch vor der verglimmenden Asche und dachte über ihr
vergangenes bewegtes Leben nach, als wäre alles nur ein Traum
gewesen, aus dem sie eben jetzt erst erwachte.«
Dennoch erscheint Hoffnung über Nell, wie sie selber Hoffnung
darstellt: »Sie erhob die Augen zu den glänzenden Sternen, die so
mild aus der weiten, luftigen Weltenferne niederschauten, und
während sie so hinsah, fand sie, daß immer neue Sterne vor ihren
Blicken auftauchten, immer mehr und mehr, bis das ganze
unermeßliche Firmament von glänzenden Sphären funkelte, die sich
immer höher und höher in den unermeßlichen Raum erhoben,
unendlich an Zahl, wie ewig in ihrem wandellosen und reinen
Dasein. Sie beugte sich über den ruhigen Strom und sah sie in
derselben majestätischen Ordnung schimmern, wie sie damals durch
die angeschwellten Wasser leuchtend der Taube Noahs erschienen
sein mochten, als die Spitzen der Berge und das tote
Menschengeschlecht Millionen Klafter unter ihr lagen.« Warum
gleichwohl Nell untergehen muß, dafür hat Dickens allein einen
flüchtigen und versteckten Hinweis gegeben. Bei der Flucht scheidet
Nell unversöhnt von ihren Dingen – sie vermag es nicht, aus dem
bürgerlichen Raume etwas mitzunehmen; ihr gelingt, modern
gesprochen, nicht der dialektische Übergang, sondern die Flucht
allein, der keine Macht gegeben ist über die Welt, daraus sie flieht,
und die jener Welt verfallen bleibt. Nells Tod ist beschlossen in dem
Satz: »Es waren noch einige Kleinigkeiten dort, arme, wertlose
Dinge, die sie wohl gerne hätte mitnehmen mögen –, aber es war
unmöglich.« Weil sie die Dingwelt des bürgerlichen Raums nicht zu
ergreifen vermag, darum ergreift die Dingwelt sie selbst, und ihr
Opfer wird vollzogen. Daß aber dieser Dingwelt, der verworfenen,
verlorenen, die Möglichkeit des Übergangs und der dialektischen
Rettung selbst innewohnt, hat Dickens erkannt und besser
ausgesprochen, als es der romantischen Naturgläubigkeit jemals
möglich wäre, in jener gewaltigen Allegorie des Geldes, welche die
Darstellung der Industriestadt beschließt: »... es waren zwei alte,
abgeschliffene, rauchbraune Pennystücke. Wer weiß, ob sie nicht
herrlicher leuchten in den Augen der Engel als die goldenen
Buchstaben, die auf Grabsteinen eingemeißelt sind?«
 George
 
Habe ich über schwierige und komplexe Gegenstände kurz zu reden,
so pflege ich einen eingeschränkten Aspekt auszuwählen, getreu
dem philosophischen Motiv, der Totalität abzusagen und Einsicht
ins Ganze eher vom Fragment sich zu erhoffen als von jenem
unmittelbar. Ich fingiere also das freilich Undenkbare, ich hätte eine
Auswahl der Werke Stefan Georges herzustellen und zu
verantworten, nach welchen Gesichtspunkten ich dabei verfahre.
Fern ist dem die Anmaßung, richterlich über das zu entscheiden,
was von George bleibt oder nicht. Der sogenannte historische
Abstand ermächtigt dazu um so weniger, als in den Jahrzehnten seit
Georges Tod vollends das Vertrauen auf eine historische Kontinuität
sich zerrüttete, die von sich aus den Wahrheitsgehalt eines oeuvre
enthülle. Teile ich nun einiges von den Regeln mit, nach denen ich
etwa bei der imaginären Auswahl mich richtete, so fällt vielleicht
Licht auch auf die historische Veränderung des Werkes in sich.
George gegenüber stünde es nicht an, mit geschichtsphilosophischer
Geste das Konkrete wegzuwischen und jener widerwärtigen
Gewohnheit sich zu beugen, die er selbst in dem Gedicht ›Die
Schwelle‹ anprangerte: anstatt vor dem Bestimmten und seinem
Augenblick zu verweilen, es nur als Vorstufe zu etwas anderem zu
sehen. Die pompöse Frage: Wie geht das weiter, wohin führt es, die
sich gut mit der Lobrede auf abgelebte Zeiten verträgt, gereicht der
Kunst nur zum Unheil.
Nicht länger schreckt die offizielle Kanonisierung, welche
George vor dreißig Jahren und mehr widerfuhr und die kritische
Freiheit zum Objekt unterband. Unterdessen wurde das Werk nicht
nur aus dem öffentlichen Bewußtsein sondern aus dem literarischen
in weitestem Maß verdrängt. Bedeutende Repräsentanten der
jüngeren Generation empfinden so heftigen Widerwillen dagegen,
daß sie es gar nicht erst an sich heranlassen, während sein Genosse
und Gegner Hofmannsthal für viele an Nimbus gewonnen hat. Das
entspricht der Autorität, die George einmal ausübte vermöge jener
Herrschaftstechnik, die Rudolf Borchardt mit »bedeutendem
Weltverstand« euphemistisch umschrieb. Auf die Gewalt, mit der er
den Zeitgenossen sein Bild eingraben wollte, antwortet eine nicht
geringere des Vergessens: als triebe der mythische Wille seines
Werkes, zu überleben, mythisch zu dessen eigenem Untergang.
Allem Mythischen gebührt Widerstand, dem von Georges Naturell
nicht weniger als dem seines geistigen Schicksals. Sein
Herrschaftswille verbindet ihn einer beträchtlichen deutschen
Tradition, der sowohl Richard Wagner angehört wie Heidegger oder
Brecht; mit Hitler schlug sie grauenhaft in Politik um.
Auszuscheiden wäre, was mit der Sphäre des Unheils etwas gemein
hat. Georges bündische Liturgien paßten trotz oder wegen des
Pathos der Distanz zu den Sonnwendfeiern und Lagerfeuern
jugendbewegter Horden und ihrer furchtbaren Nachfolger. Das
angedrehte Wir der hier beheimateten Gedichte ist so fiktiv, und
darum so verderblich wie die Art von Volk, die den Völkischen vor
Augen stand. Wo George zum Preis von Führertum sich erniedrigt,
ist er in Schuld verstrickt und nicht wiederzuerwecken. Allerdings –
und das deutet auf das Abgründige in seinem Werk – wurde gerade
dies künstlerisch Fragwürdigste, Ideologische real in gewissem Sinn
entsühnt. Dem Grafen Klaus Stauffenberg, der den Tyrannenmord
wagte und sich opferte, mochte jenes Georgesche Gedicht vom
Täter gegenwärtig sein, das dessen Bild im Augenblick vor einer
solchen Aktion festhält, allerdings sie unpolitisch vorstellt oder als
eine innerhalb herrschender Cliquen.
 
Der Täter
 
Ich lasse mich hin vorm vergessenen fenster: nun tu
Die flügel wie immer mir auf und hülle hienieden
Du stets mir ersehnte du segnende dämmrung mich zu
Heut will ich noch ganz mich ergeben dem lindernden frieden.
 
Denn morgen beim schrägen der strahlen ist es geschehn
Was unentrinnbar in hemmenden stunden mich peinigt
Dann werden verfolger als schatten hinter mir stehn
Und suchen wird mich die wahllose menge die steinigt.
 
Wer niemals am bruder den fleck für den dolchstoss bemass
Wie leicht ist sein leben und wie dünn das gedachte
Dem der von des schierlings betäubenden körnern nicht ass!
O wüsstet ihr wie ich euch alle ein wenig verachte!
 
Denn auch ihr freunde redet morgen: so schwand
Ein ganzes leben voll hoffnung und ehre hienieden..
Wie wiegt mich heute so mild das entschlummernde land
Wie fühl ich sanft um mich des abends frieden! 1
 
Naiv jedoch wäre eine Ansicht, welche Georges ideologische
Exkursionen vom eigentlich dichterischen Werk scharf abheben
wollte. Der gewalttätige Wille reicht bis in die rein lyrisch
intendierten Gebilde hinein. Das Mißverhältnis zwischen dem
wollenden Eingriff und dem Schein des gelösten, unwillkürlichen
Worts ist so allgegenwärtig, daß Borchardts Verdacht sich bestätigt,
es gebe kaum ein Gedicht von George, in dem nicht Gewalt
selbstzerstörerisch sich bekunde. Der mit einem in Deutschland vor
ihm ungekannten Nachdruck Vollendung des Gedichts forderte,
durch rigorose Kritik des nach dem Zerfall der deutschen
sprachlichen Tradition lyrisch noch tragfähigen sprachlichen
Materials wie kein anderer dafür wirkte, hat selbst kaum ein
schlackenloses Gedicht hinterlassen, damit wohl auch die Frage
aufgeworfen, wem das überhaupt in der deutschen Lyrik gelang.
Noch die berühmten Strophen »Es lacht in dem steigenden jahr dir«,
aus den Traurigen Tänzen des Jahres der Seele, für die der junge
Lukács die schöne Prägung fand, dies Lied spiele seine eigene
Begleitung mit, wüten am Ende durch die Worte: »Geloben wir
glücklich zu sein« 2 , das schlechterdings Unwillentliche dem Willen
unterwerfend, in dem, was vorherging.
Wohl hat George, auf wechselnde Weise, den Gestus des
Esoterischen praktiziert: erst den eines ästhetischen Anspruchs, der
ausschloß, wer nicht, nach Georges Worten, fähig oder willens war,
ein Dichtwerk als Gebilde zu begreifen; später den eines lose um
seine Figur gruppierten, angeblich ein geheimes Deutschland
verkörpernden, kulturell-politischen Erneuerungsbundes. Trotzdem
hat er quantitativ erheblichen Gruppen des reaktionären deutschen
Bürgertums vor Hitler aus der Seele gesprochen. Gerade der
esoterische Ton, jenes narzißtisch sich abdichtende Wesen, das nach
Freuds Theorie den politischen Führerfiguren ihre
massenpsychologische Wirkung verleiht, trug dazu bei. Peinlich ein
sich selbst setzender, aus dem Stilwillen geborener Aristokratismus,
dem es ersichtlich an Tradition, Sicherheit und Geschmack gebricht.
Roh und vulgär bekundet er sich schon in jenen Versen des frühen
Buchs Algabal, darin der spätrömische Kaiser, der auf der
Marmortreppe die Leiche eines auf sein Geheiß Enthaupteten
erblickt, leise nur die Purpurschleppe rafft. 3 So philiströs die
hemdsärmelige Entrüstung über Georges Pose, sie registriert doch
das Angemaßte von Würde, die einer sich selbst verleiht wie eine
Phantasieuniform. Das Englische kennt dafür den unübersetzbaren
und unübertrefflichen Ausdruck self-styled. Unter diesem Aspekt
wird man die einst schockierende Neigung Georges, auf große
Buchstaben und auf Satzzeichen zu verzichten, als
Tarnungsmaßnahme des Klugen interpretieren dürfen; ferngerückt
durch die kleine Schrift, wird hartnäckige Banalität dem Zugriff
entzogen. Bereits Theodor Haecker entdeckte, daß es bei George
nicht an Versen fehlt, die, wären sie gewöhnlich gedruckt, solchen
aus Stammbüchern fatal ähnelten; noch das höchst belastete letzte
Gedicht aus dem Neuen Reich ist von solcher Art.
 
Du schlank und rein wie eine flamme
Du wie der morgen zart und licht
Du blühend reis vom edlen stamme
Du wie ein quell geheim und schlicht
 
Begleitest mich auf sonnigen matten
Umschauerst mich im abendrauch
Erleuchtest meinen weg im schatten
Du kühler wind du heisser hauch
 
Du bist mein wunsch und mein gedanke
Ich atme dich mit jeder luft
Ich schlürfe dich mit jedem tranke
Ich küsse dich mit jedem duft
 
Du blühend reis vom edlen stamme
Du wie ein quell geheim und schlicht
Du schlank und rein wie eine flamme
Du wie der morgen zart und licht. 4
 
Auf die Gefahr hin, überlebende Getreue zu kränken, würde ich es
in die imaginäre Ausgabe nicht aufnehmen.
Brüchig ist George, wo er als authentisch, ermächtigt Macht
auszuüben trachtet. Das jedoch erlaubt beinahe die Umkehrung:
authentisch sind die Gedichte, die als nichtauthentische auftreten,
gesellschaftlich ungedeckt, isoliert. In ihnen klaffen die Sache, das
Gedichtete, die zur Form sublimierte Erfahrung, und Georges
sogenannte geistige Haltung auseinander. Nichts könnte dieser
schroffer entgegengesetzt sein als die von Arnold Schönbergs
Musik; aber Schönbergs Kompositionen Georgescher Texte, eines
großen Zyklus aus dem Buch der Hängenden Gärten, der ›Litanei‹
und der ›Entrückung‹ aus dem Siebenten Ring und einer
Dowson-Übertragung, sind kongenial. Schwerlich wären sie es
geworden, hefteten sie sich nicht an so außerordentliche Verse wie
die Beschreibung des schönen Beets oder jenes subliminal zarte
Gedicht von der Vergänglichkeit, mit dem Schönberg eine ganze
musikalische Gattung, bis zu den punktuellen Kompositionen der
fünfziger Jahre, heraufrief:
 
Sprich nicht immer
Von dem laub
Windes raub
Vom zerschellen
Reifer quitten ·
Von den tritten
Der vernichter
Spät im jahr ·
Von dem zittern
Der libellen
In gewittern
Und der lichter
Deren flimmer
Wandelbar. 5
 
Lautlos bebt darin ein Äußerstes der Gewalt nach, die dem
dichterischen Subjekt angetan wird; darum ist es von aller Gewalt
rein und wird einmal wieder leuchten. So unbegreiflich wie
charakteristisch für das Verhexte, unter dem die Tradition steht, die
George zu stiften sich vermaß, ist sein Verhalten, als ihm, nach
einer Überlieferung, ein befreundeter Musiker die Schönberglieder
zu den Hängenden Gärten vorspielte. Er soll, dem Sinn nach,
geäußert haben: Das haben wir doch hinter uns. Stimmt das, so hätte
er einen Topos der deutschen Kulturreaktion sich zu eigen gemacht,
demzufolge man, was zu exponiert, zu fortgeschritten, zu gefährlich
sich darbietet, nicht offen um jener Qualität willen ablehnt. Statt
dessen manövriert man sich strategisch in die Position, das
Zurückgebliebene sei fortgeschrittener, der mit Übereifer
problematisch gescholtene Zustand überwunden. Die gesamte
Kunstübung der Jugendbewegung hat das hergebetet. George
verblendete sich dagegen, daß, was ihm morbid und dekadent
dünkte, auch in ihm das Stichhaltigste war. Einer dialektischen
Spannung, die Nietzsche noch austrug, zeigte dessen lyrischer Erbe
schon nicht mehr sich gewachsen. Überlebt etwas an George, dann
eben die Schicht, die er seit dem Tod Maximins verleugnete, durchs
Brimborium von Chorlyrik und einer Verbundenheit, hinter der die
Volksgemeinschaft lauert.
So unverwelkt ist aber, trotz der Wundmale, nicht Weniges aus
dem im engen Sinn Lyrischen. Das redselig Schmückende, das an
Rilke so sehr irritiert, den Drang, dem Vers und dem Reim
widerstandslos nachzugeben, hat Georges Reflexion weithin
gebändigt. Vieles ist von ornamentaler Zutat gereinigt, ehe man an
Sachlichkeit nur dachte. Die Kraft zur Verdichtung und
Konzentration ist das glückliche Korrelat zum Kunstfeindlichen an
Georges Kunstwillen; Borchardt hat jene Fähigkeit richtig als sein
Eigentümlichstes erkannt. Die besten Verse halten sparsam haus mit
dem, worin das Ich von einer kollektiven Sprache sich getragen
weiß, die es eben doch in sich enthält und der es, als schon
entschwindender, nachhorcht. Mit Grund sind manche seiner
höchsten Gedichte mit geschichtlichen Innervationen verwachsen.
So eines aus dem Jahr der Seele:
 
Ihr tratet zu dem herde
Wo alle glut verstarb
Licht war nur an der erde
Vom monde leichenfarb.
 
Ihr tauchtet in die aschen
Die bleichen finger ein
Mit suchen tasten haschen –
Wird es noch einmal schein!
 
Seht was mit trostgebärde
Der mond auch rät:
Tretet weg vom herde
Es ist worden spät. 6
 
Unallegorisch geht das Gedicht in der sinnlichen Situation auf.
Keine gedankliche Bedeutung wird abdestilliert. Gleichwohl
speichert die Zeile »Es ist worden spät«, gedrängt bis zum
Schweigen, das Gefühl eines Weltalters auf, das den Gesang schon
verbietet, der noch davon singt. Die Apologetik Gundolfs hat von
Zaubersprüchen geredet. Zuweilen beraubt sich die forcierte
Dunkelheit des raunenden Mystagogen kunstgewerblich aller
Glaubwürdigkeit. Manchmal jedoch redet wirklich aus George, wie
ein letztes Mal, und wie andere es nur vortäuschten, Sprache selber.
Dann läßt sie den faßlichen Sinn hinter sich, weit vorstoßend in ein
hermetisches Bereich, das lange erst nach Georges Tod der Kunst
ganz sich öffnete. Georges überindividuelle Gedichte sind nicht die
Sprechchöre, sondern stets fast die verdunkelten. Er lockt dazu,
nach dem gewiß problematischen Muster Borchardts, in eine
Anthologie nicht allein ganze Gedichte, sondern gelegentlich
einzelne Verse aufzunehmen. Die Schwermut dessen, dem
zutrauliche Stallwärme gern Kühle vorwarf, findet einen Ausdruck
des Ausgehöhlten, verzweifelter als je der volltönende: »Nun heb
ich wieder meine leeren augen / Und in die leere nacht die leeren
hände.« 7 Dann wieder enthält seine Skala Farbtöne wie nur
westliche Musik der gleichen Jahre, etwa Ravels Jeux d'eau: »Die
wespen mit den goldengrünen schuppen / Sind von verschlossnen
kelchen fortgeflogen · / Wir fahren mit dem kahn in weitem bogen /
Um bronzebraunen laubes inselgruppen.« 8 Frankreich hat George
einen romanischen Schwung, eine schlanke Anmut zugebracht, die
ganz allein, durch ihre bloße Existenz, das kleinbürgerlich
Hausbackene der sogenannten deutschen Erlebnislyrik des späteren
neunzehnten Jahrhunderts wegfegte. Dies neue Sprachniveau blieb
kanonisch auch für Generationen, denen die Georgeschen Vorbilder
gar nicht mehr gegenwärtig sind. »Denn wird das glück sich je uns
offenbaren / Wenn jezt die nacht die lockende besternte / In grüner
garten-au es nicht erspäht · / Wenn es die bunte volle blumen-ernte /
Wenn es der glutwind nicht verrät?« 9 Mit überfliegendem,
musikhaft erotischem Elan gewann er der deutschen Lyrik eine
utopische Spur jenseits von Georges retrospektiver Gesinnung;
heute ist sie zugeschüttet:
 
Saget mir auf welchem pfade
Heute sie vorüberschreite –
Daß ich aus der reichsten lade
Zarte seidenweben hole ·
Rose pflücke und viole ·
Dass ich meine wange breite ·
Schemel unter ihrer sohle. 10
 
Selbstpreisgabe ist unversöhnlich dem Edelnationalismus, dem
George, nach der Zäsur des Teppichs, sich überantwortete. Die
passioniertesten Liebesgedichte des Frauenfeindes können übrigens
nur Frauenbildern gelten; ähnlich hat Proust die imago des jungen
Mädchens gebannt. Erlaubt ist vielleicht die Spekulation, Georges
Verfall zur krampfhaft nationellen Positivität rühre daher, daß er
den Trieb zum anderen Geschlecht, und damit zum Anderen
schlechthin, in sich unterdrückte und endogamisch bei dem sich
beschied, was ihm so glich wie die Stimme des unseligen Engels aus
dem Vorspiel.
Das inkommensurabel Neue, das Georges Lyrik der deutschen
gewann, ist nicht zu trennen von seiner Durchtränktheit mit der
französischen. Eigentlich hat erst er ihr Recht widerfahren lassen in
einem Land, wo man sich einbildete, und vielfach noch sich
einbildet, Lyrik als Natur gepachtet zu haben und die französische
als verschnittenen Taxus geringschätzen zu dürfen. Einige seiner
Übertragungen rangieren denn auch unter seinem Bedeutendsten;
nicht einfach wegen der virtuosen Übersetzungsleistung sondern als
deutsche Gebilde, gerade vermöge der wörtlichen Versenkung in die
andere Sprache. Stets fast ist die technische Arbeit der Georgeschen
Lyrik – und er als erster hat in der deutschen den Begriff der
Technik zu Ehren gebracht – im einzelnen Gedicht zugleich die an
der Sprache als solcher. Mehr als alles andere erschwert das die
Stellung zu ihm. Dem als l'art pour l'art-Künstler Abgestempelten
war keineswegs das einzelne Kunstwerk oberstes Ideal sondern
durch es hindurch die Sprache: nicht weniger wollte er, als sie
verändern. Darin ist er der Erbe Hölderlins, dessen säkularen Rang
er und seine Schule entdeckten. Zugunsten der Gewaltsamkeiten im
einzelnen Gedicht ist anzuführen, daß sie von jener Arbeit an der
Sprache herrühren, als hätte sein Ingenium um ihretwillen die
eigenen Gebilde beschädigt, womöglich geopfert; seine karge
Produktion in späteren Jahren deutet darauf. Nirgends bewährt jener
Impuls sich so wie an den Übersetzungen. Von ihnen sagte er, aus
Anlaß Baudelaires, sie verdankten »ihre entstehung nicht dem
wunsche einen fremdländischen verfasser einzuführen sondern der
ursprünglichen reinen freude am formen« 11 Wollte der Dichter,
abermals nach seinen Worten, weniger eine getreue Nachbildung als
ein deutsches Denkmal schaffen, so wurde es das einzig vermöge
schrankenloser Entäußerung, wahlverwandt der erotischen. Bei
Verlaine heißt es: »C'est bien la pire peine / De ne savoir pourquoi, /
Sans amour et sans haine, / Mon coeur a tant de peine!« George
übersetzt: »Das sind die ärgsten peinen: / Nicht zu wissen warum.. /
Liebe keine – hass keinen – / Mein Herz hat solche peinen.« 12 Das
ist wahrhaft schon kein Nachbilden mehr. Mit dem Fremdwort
peinen für peine wird, wie Benjamin vom Übersetzer es forderte, die
eigene Sprache durch die andere erweitert. Eine menschenwürdige
Anthologie Georges müßte derlei Übertragungen einbegreifen; sie
haben ihresgleichen nicht mehr gefunden. Belegt sei das durch
Strophen aus dem ungeheuren Gedicht Baudelaires von den Petites
vieilles aus den Pariser Bildern: »Sie trippeln ähnlich wie die
Polichinellen · / Sie schleppen sich wie verwundete tiere fort / Und
ohne zu wollen tanzen sie – arme schellen / Daran sich ständig ein
dämon hängt! so verdorrt / Sie auch sind: ihre stechenden augen
bestricken / Und glitzern wie ruhende wasserhöhlen bei nacht / Und
sind wie die eines mädchens mit göttlichen blicken / Das alles
bestaunt und zu allem erglänzenden lacht.« 13 In derlei Versen,
ebenso denen über die servante au grand coeur – er übersetzt ihre
Anrufung freilich einfach mit ›Die treue Magd‹ – wird, durch das
formende Stilisationsprinzip des Französischen hindurch, ein
Soziales eingelassen, mit dem in der eigenen Produktion George
sich zu beflecken wähnte. Sie verleihen seinem Werk eine
Humanität, die seine ethischen Anrufe verleugnen.
Die Qualität von Georges Übersetzungen ist in vielem seiner
anspruchsvollsten Produktion überlegen. Unabweislich der
Gedanke, was von George dauere, sei nicht das, was trotzig die
eigene Dauer vorwegnimmt, sondern was ephemer auftritt; nicht
was ihm der Kern dünkte, sondern was am Rande liegt und seinen
Gläubigen sichtlich Unbehagen bereitete. Das ist auch zeitlich zu
verstehen, als Verteidigung von Georges in manchem noch
unbeholfenem und sich überforderndem Frühwerk. Hier liegt der
imperiale Anspruch als blasses Wunschbild des Weltschmerzlichen
hilflos, ungeschützt zutage: das versöhnt damit. Benjamin hat, wohl
als erster, das dichterische Werk Georges dem Jugendstil
zugeordnet, der in dem Buchschmuck Lechters so offenbar ist. Die
späteren Werke, sei es die kunstvolle Einfachheit des Jahrs der
Seele, sei es das vorexpressionistische Pathos des Siebenten Ringes,
wollten dies jugendstilhafte Element überdecken, doch es behauptet
sich bis zur letzten Zeile. Das neue Schönheitsverlangen, das die
Vorrede zu den Hymnen rühmte, war kein anderes als das des
Jugendstils, das nach einer gleichsam Luftwurzeln treibenden, frei
vom Subjekt gesetzten, noch die eigene Ohnmacht mitgestaltenden
Schönheit. Sie behält, im Wesen seltsam unbestimmt, etwas vom
blinden Fleck. Georges Lyrik war die des erfundenen Ornaments,
einer Unmöglichkeit; in der Nötigung es zu erfinden aber mehr als
bloß ornamental, Ausdruck eines ebenso kritischen wie
hoffnungslosen Bedürfnisses. Wo George ohne Vorbehalt, ohne
statuarische Veranstaltung sich, im Einklang mit dem Jugendstil, der
Vergänglichkeit des eigenen und des geschichtlichen Augenblicks
überläßt, war das Glück mit ihm. Einem Gedicht aus den
›Pilgerfahrten‹ ließe leicht der neuromantische Requisitenschatz
sich vorrechnen:
 
Kein tritt kein laut belebt den inselgarten ·
Er liegt wie der palast im zauberschlaf ·
Kein wächter hisst die ehrenden standarten ·
Es floh der fürst der priester und der graf.
 
Denn aus dem flusse blasen fieberdünste ·
Ein feuer fällt · ein feuer steigt empor
Und um der ziergewächse welke künste ·
Um alle farben spinnt ein grauer flor.
 
Jedoch der Fremde bangt erwartungsvoller ·
Er geht den pfad am taxushag hinan..
Kein schein von einem blauen sammetkoller
Von einem kinderschuh aus saffian? 14
 
Fast schmerzhaft nah zitieren die letzten Verse daraus das Gefühl, in
dem solche Bilderwelt sich entlädt. So mochte man als
Fünfzehnjähriger erröten, wenn zufällig der Name des Mädchens
fiel, von dem man entflammt war. Noch ins Jahr der Seele hat ein
Vers sich eingeschlichen, der den Namen verraten will, einen
preziös gesuchten, gleichwohl mit dem Schein äußerster kollektiver
Notwendigkeit: »Die tränen fern von Lilia dem kinde?« 15 Das
Fragilste als das Stärkste: das wäre nicht die falscheste Formel für
den Jugendstil. Georges Kraft zur lyrischen Kondensation war ihr
verwandt; davon geht heute noch die ungestillte Sehnsucht aus, die
der Jugendstil meinte und schon als unstillbar vergegenwärtigte. In
diesem Geist hat George dem dritten und letzten Gedicht der
›Verjährten Fahrten‹, deren zweitem das Phantasma des »blauen
sammetkollers« und des »kinderschuhs aus saffian« aufblitzt, ein
Bild der sonst von ihm tabuierten Technik eingefügt, das der
Eisenbahn: »Wir jagen über weiße steppen / Der trennung weh
verschwand im nu · / Die raschen räder die uns schleppen / Führen
ja dem frühling zu.« 16 Der eilende Zug und die »wundersame
pflanzenwelt«, mit der das Gedicht schließt: das ist das
Kryptogramm des Dranges, vollendet Vegetabilisches dem
vollendet Artifiziellen abzuzwingen, Natur dem absolut Gefertigten,
der Natur Ferngerückten.
Der fernrückende Gestus, der noch dem Nächsten solcher
Gedichte, der Absicht nach, widerfährt, scheint den Dichter George
von Prosa kategorisch zu trennen. Bekannt ist der Bannfluch seiner
Schule gegen den Roman. Wer aber bei George den
Randphänomenen nachsinnt, wird den Prosaband nicht
vernachlässigen, den er unter dem Hesiodischen Titel Tage und
Taten veröffentlichte. Dort sind eine Reihe von Träumen abgedruckt
– durchgeformte Traumprotokolle möchte man sie nennen –, die in
einer Ausgabe nicht fehlen dürften, welche sich dadurch legitimiert,
daß sie die Vorstellung von George der offiziellen entreißt. Es sind
Träume finstersten Wesens, inkommensurabel der apollinisch in
sich ruhenden Gestalt, die später das Dogma des Dichters
verherrlichte: Gesichte des Untergangs, in denen mythische und
moderne Momente in Konstellation treten wie manchmal bei Proust
und dann im Surrealismus. Einer lautet: »Unsere barke tauchte und
hob sich ächzend mitten auf dem meer in nässendem sturm. Ich war
am steuer hielt es mit krampfender hand meine zähne standen fest
auf der unterlippe und mein wille kämpfte gegen das wetter. So
trieben wir ein stück selber still im rasenden lärm. Da aber
erschlaffte der frost meine finger mein wille lahmte so dass ich
losliess. Und die barke sank und die wellen schlugen drüber und wir
werden alle sterben.« 17 Ein anderer, Zeit-Ende, unmittelbar
Vorahnung einer kosmischen Katastrophe, schließt: »Seit tagen war
keine sonne aufgegangen eisige winde fuhren einher und es gurgelte
im schooss der erde. Eben geht der lezte zug ins gebirg. Die lichter
blinken matt in den schwarzen morgen. Die wenigen insassen sehen
sich starr an zittern stumm. Der endliche stoss kommt vielleicht
schon vor der ankunft im gebirg.« 18 Der bedeutendste aber ist der
letzte, Der Redende Kopf: »Man hatte mir eine thönerne maske
gegeben und an meiner zimmerwand aufgehängt. Ich lud meine
freunde ein damit sie sähen wie ich den kopf zum reden brächte.
Vernehmlich hiess ich ihn den namen dessen zu sagen auf den ich
deutete und als er schwieg versuchte ich mit dem finger seine lippen
zu spalten. Darauf verzog er sein gesicht und biss in meinen finger.
Laut und mit äusserster anspannung wiederholte ich den befehl
indem ich auf einen anderen deutete. Da nannt er den namen. Wir
verliessen alle entsezt das zimmer und ich wusste dass ich es nie
mehr betreten würde.« 19 Die Gewalt, die noch einmal zum Wort
zwingt, ihr Sieg und das maßlose Grauen, das dieser Sieg als
selbstvernichtender bereitet – das ist Georges Rätselfigur. Keiner
wird das Wort über ihn finden, solange sie nicht aufgelöst ist. Die
Maske aber stammt aus jenem Mexiko, dahin der junge Dichter
fliehen wollte, als sein Leben verzweifelt sich verstrickt hatte.
 Fußnoten
 
1 Stefan George, Werke. Ausgabe in zwei Bänden, hrsg. von Robert
Boehringer, 2. Aufl., Düsseldorf, München 1968, Bd. 1, S. 196 (Der
Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod).
 
2 a.a.O., S. 153.
 
3 Vgl. a.a.O., S. 50 (»O mutter meiner mutter und Erlauchte«).
 
4 a.a.O., S. 469.
 
5 a.a.O., S. 109 (Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte, der
Sagen und Sänge und der hängenden Gärten).
 
6 a.a.O., S. 165.
 
7 a.a.O., S. 129 (Das Jahr der Seele, »Die blume die ich mir am
fenster hege«).
 
8 a.a.O., S. 124 (Das Jahr der Seele, »Nun säume nicht die gaben zu
erhaschen«).
 
9 a.a.O., S. 131 (Das Jahr der Seele, »Der lüfte schaukeln wie von
neuen dingen«).
 
10 a.a.O., S. 106 (Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte, der
Sagen und Sänge und der hängenden Gärten).
 
11 a.a.O., Bd. 2, S. 233.
 
12 a.a.O., S. 411.
 
13 a.a.O., S. 306.
 
14 a.a.O., Bd. 1, S. 39.
 
15 a.a.O., S. 152 (»Des erntemondes ungestüme flammen«).
 
16 a.a.O., S. 39 (Hymnen Pilgerfahrten Algabal).
 
17 a.a.O., S. 489 (»Die Barke«).
 
18 a.a.O.
 
19 a.a.O., S. 490f.
 
 Die beschworene Sprache
Zur Lyrik Rudolf Borchardts
Das Werk Rudolf Borchardts hat alle dichterischen Gattungen
umfaßt und als Gattungen sie gepflegt. Schlüsselcharakter hat die
Lyrik: nicht darum bloß, weil seine Produktion vom lyrischen
Gedicht ausging, sondern weil seine bestimmende poetische
Reaktionsform die lyrische war. In allem, was er schrieb, hat er sich
zum Organ der Sprache gemacht. Die unvergleichliche Zeile »Ich
habe nichts als Rauschen«, aus dem Jugendgedicht ›Pause‹, führt
tief in seine geistige Verhaltensweise, nach Borchardts eigenen
Worten in den »Schmerz, in dich zu lauschen«. Sprache
durchrauscht ihn wie ein Strom. Nach ihr greift er, über sie lernt er
verfügen, um ihr zu dienen; zu ihrem Schauplatz hat er sein Werk
bereitet. Ihn trug die Erfahrung, nach der all sein Dichten trachtet:
daß, eine barocke Wendung zu gebrauchen, Sprache selber redet.
Der redende Gestus fast jeglicher Zeile, die er verfaßte, ist weniger
der des Redenden als, der Absicht nach, die Epiphanie der Sprache.
Folgt auf jenen Vers in dem Jugendgedicht der andere »Kein
Deutliches erwarte dir«, so streift er das Selbstbewußtsein davon:
alles Gemeinte, alle Intention ist wie bei Mallarmé, über den er
skeptisch urteilte, sekundär gegenüber der Sprachgestalt, wiegt
wenig ohne sie, die Ideen inbegriffen, denen Borchardt sich
verpflichtet fühlte. Die Substanz kristallisiert sich in der Sprache an
sich, als wäre es die wahre Sprache der jüdisch-mystischen Lehre.
Das verleiht seinen Gebilden den beharrlichen, bis heute fragenden
Rätselcharakter. Sie sind, nach dem Maß zumal visueller
Gegenständlichkeit, unanschaulich, aber in der Sprache prall
sinnlich; das Paradoxon unsinnlicher Anschauung. Die redende
Energie, die in seiner Lyrik Sprache zur Objektivation verhält,
nähert die Gedichte der Musik an. Wohl weisen sie, verglichen mit
Rilke oder Trakl, der sprachlichen Artikulation zuliebe, durch die
Härte ihrer Fügung, musikähnliche Wirkungen von sich. Dafür sind
sie desto musikhafter in ihrer Verfahrungsweise als solcher, in der
Bildung eines Idioms, welche diesem den Inhalt schafft und jeden
anderen zum Unerheblichen relegiert.
Aber die Sprache, der Borchardt sich überantwortet, ist im
Deutschen nicht derart substantiell, wie er von ihr es erfleht. Ihm
trat sie als geschichtlich gescheiterte gegenüber, so als hätte sie ihre
eigene Möglichkeit nicht erfüllt. Die Erfahrung des Sprachzerfalls
hat Borchardt mit Karl Kraus gemein. Sein Weltschmerz ist der um
die Sprache nicht weniger als der des Subjekts über seine
Einsamkeit und die Fremdheit des Wirklichen. Je tiefer Borchardt
den Anspruch fühlt, der von der Sprache an ihn ergeht, desto
schroffer wird er dessen gewahr, wie solcher Anspruch an Dichter
und Sprache gleichermaßen zuschanden wird. Sprache, der sich
aufzuopfern ihm die Passion des Dichters ist, gewährt von sich aus
nicht, warum er das Opfer bringt. Sie ist nicht die wahre, der das
Opfer gilt, sondern durch Kommerz, Kommunikation, durch die
Schmach des Tauschs verwüstet. Was sein Freund Hofmannsthal im
Chandosbrief als individuellen Fluch im Verhältnis zur Sprache
beschrieb, das ist dem ungestümen, heftig anklagenden Borchardt
die Schuld der Sprache selbst. Die sprachliche Versagung lag
vielleicht gar nicht so sehr am Deutschen wie an einem
geschichtlich Umfassenderen, der Verbürgerlichung des Geistes.
Darauf indessen hat er, in maßloser Liebe und maßloser Auflehnung
gebunden an das, was er als Nation stilisierte, kaum sich besonnen.
Unterwerfung wie Rebellion schreibt ihm sein eigenes sprachliches
Gebaren vor. Bis zu seiner Phase und der Hofmannsthals und
Georges haben die deutschen Lyriker, die zählen, die Krisis der
Sprache zu spüren bekommen am spezifischen Ausdrucksbedürfnis,
dem die Sprache an sich länger nicht willfahrt. Sie wollten der
Sprache das Ihre geben, indem sie sie der eigenen Intention
anschmiegten oder anbildeten; dabei um so glücklicher, je weniger
sie ihr Gewalt antun mußten. Das Ideal solcher Gewaltlosigkeit war
auch das Borchardts, aber kollidierte mit seinem Naturell. Eben weil
die Sprache nicht unmittelbar garantiert, was sie seiner Konzeption
zufolge müßte, bemächtigt er sich ihrer auf Biegen und Brechen.
Für den Begriff sprachlicher Erneuerung, dessen Ohnmacht
unterdessen sich bekräftigte, hätte er kaum anderes als Spott gehabt.
Vielmehr will er radikale Rekonstruktion, will die objektive Sprache
überhaupt erst schaffen, die versäumt ward und die solcher
subjektiven Schöpfung heftig widerstrebt. Nicht bloß durch seine
Freundschaft mit Schröder war er dem Jugendstil verbunden, zumal
dem modern style der englischen Lyrik, dem Swinburnes. Während
aber seine antikische Vorstellung von hohem Stil dem
Stimmungshaften des Jugendstils von früh auf opponierte, stimmte
er mit diesem im Kern überein dadurch, daß er die transsubjektive,
objektive Verbindlichkeit der Sprache jenseits der subjektiven
Reaktionsweisen, so wie sie mit seiner Idee von hohem Stil
übereinkam, durch die Don Quixoterie subjektiver Setzung zu
erzwingen hoffte. Das Subjekt überträgt gleichsam die eigene Kraft
auf das, was der naiven Ansicht für das Medium seines Ausdrucks
gilt, um dann ihm sich unterzuordnen. Jeder Vers Borchardts ist an
diesen ungeheuerlichen Versuch gewandt. Er war aber nach
rückwärts gestaut. Nur durch Anknüpfung an eine nach Borchardts
Imagination abgebrochene, doch im Vorhandenen vorgezeichnete
Tradition, nicht indem sie Luftwurzeln trieb, sollte die Sprache
substantiell etwas von jenem Verpflichtenden gewinnen. Alle
archaisierende Anreicherung hätte sein wählender Geschmack als
hilflos verschmäht; gegen das Wort Neuromantik zeigte er
Ungeduld. Nur wenn die Sprache, nach einer Metapher Borchardts,
gänzlich umgepflügt wird, sei Dichtung überhaupt noch möglich. In
einer freilich von ihm nicht gewünschten Richtung wurde das nach
ihm verifiziert. Er erträumte sich von der Dichtung die
Wiedergutmachung der Sprache. Im Nachwort zum deutschen
Dante hat er das unumwunden fast ausgesprochen: »Ich besaß ein
Deutsch, das nicht von der Willkür und der Buchtradition festgelegt
war, sondern sich aus unabsehbarer Anlage fort und fort entfaltete,
und von der auf das vorlutherische Deutsch, fünfzehntes,
vierzehntes, dreizehntes Jahrhundert rückwärts, eine rosige
Lebensfarbe fiel ... Hier war ja wieder, war ja noch, die alte
Knappheit und Evidenz, die vielsagende verschmelzende Rundheit
des Sprechsatzes, der unbedingte Primat gehäufter heftiger Accente
vor der pedantisch gefristeten Museumsvollständigkeit des
Silbenbestandes, der dramatische Sprechwille stärker als das
vernünftelnde, umständliche Bezeichnen, die Syntax die eines
künstlerischen, aus der Drastik geborenen Instrumentes, die
Wortstellung der Bildkraft und nicht der Schullogik angemessen,
herausfordernd umrissen, und nicht aus Umschreibungen schwach
und lahm zusammengezeichnet.« 1 Soll das durchaus Romantik
heißen, so ist es eine integrale der Sprache.
Schockiert hat Borchardt durch das philologische Element seiner
Arbeit; Gundolf meinte, seine »sprachwissenschaftliche
Beredsamkeit« gegen den ins Feld führen zu können, der ihn und
seine Schule tödlich getroffen hatte, und noch Schröder glaubte den
poeta doctus verteidigen zu müssen. Aber das Moment von Bildung
inmitten von Borchardts Lyrik wird von seiner Konzeption
magnetisch angezogen wie nachmals bei Eliot und Pound, bei Joyce
und Beckett. Nur durch die philologische Versenkung in die eigene
vergangene Sprache und in ausländische vermochte er die ersehnte
Phantasmagorie zu konkretisieren. Borchardts nicht minder
befremdende Rhetorik aber entspringt in seiner primär redenden
Reaktionsweise. Als Redender wird er Organon der Sprache. Ihrer
eigenen Beschwörung gilt die Rhetorik. Seine Dichtung macht
durch Mimesis an die Rede dem Potential der Sprache sich ähnlich,
damit es erscheine. Das stiftet Borchardts Affinität zur Musik. Was
in dieser, bei Beethoven, von dem Borchardt in manchem
verwandten Heinrich Schenker Tonwille genannt wurde, ein
dynamisches Wesen, das in der Sprache von Musik selbst entbunden
wird und ihr wiederum den rhetorischen Aspekt des Empire verleiht,
dem korrespondiert Borchardts Wille in der Sprache, die von sich
aus, autonom sich artikuliert. Das wirft Licht auf eines der
auffälligsten und ungewohntesten Phänomene in Borchardts Lyrik:
die Wiederkunft des sehr langen Gedichts in einem aufs äußerste
differenzierten, verdichteten, weltweit von epischer und balladesker
Breite entfernten Verfahren. Die langen Gedichte übertragen die
musikalische Idee von Form, die strukturimmanente, keinem
Auswendigen abgeborgte, auf die Sprache. Buchstäblich wird mit
dieser komponiert. Mehrere dieser Gedichte, so die Bacchische
Epiphanie, enthalten Reprisen im musikalischen Verstande. In jener
kehrt mit der Strophe »Zwischen Tod und Leben reisend« erstmals
der Anfang »Zwischen Greif und Sphinge schreitend« variiert
wieder und ein zweites Mal, diesmal mit schließender Kraft, in der
»Zwischen Tod und Leben brausend«. Ungewiß, ob Borchardt dabei
auf den späten Hölderlin, etwa die Technik von ›Patmos‹
zurückgriff; fraglos, daß er durch nichts so tief von dem
musikfremden und musikfeindlichen Georgekreis sich unterschied
wie in dieser Schicht; in ihr mochte er mit dem Wiener
Hofmannsthal sich treffen. Sie ist aber ein Urphänomen von
Borchardts Moderne, das jeden Gedanken an alexandrinische
Wiederbelebung und Ausgrabung seines Unsinns überführt. Das
musikhaft formende Verfahren revoltiert gegen den traditionellen
Vorrang des Sinnes in der Lyrik und bewegt auf die absolute
Dichtung sich zu, die bei ihm noch von traditionellen Momenten
aufgehalten war.
Die Idee der Beschwörung einer nichtexistenten Sprache
impliziert deren Unmöglichkeit. Wäre sie möglich, so vollzöge sie
sich, wie es Hofmannsthal vorgeschwebt haben dürfte,
unwillentlich: ohne Velleität. Borchardts Klugheit hat, trotz des
pathetischen Glaubens an den inspirierten Dichter, darüber
keineswegs sich getäuscht. Wohl hegte er die Hybris: »Ich habe es
früh als einen tiefen Unterschied zwischen Hofmannsthal und mir
angesehen, daß er literaturmäßig dankbare Stoffe und halb gestaltete
Formen der vergangenen Literatur als Bearbeiter aufgriff, um ihnen
endgiltige und harmonische Formen zu geben, während mir der
Weg der Menschheit, der europäischen Menschheit, überhaupt und
im Ganzen als vorschwebender Mythus erschien, der nirgends zu
Ende gekommen war und sich in allen seinen Stücken durch mich
weiter dichtete ...« 2 Aber nicht minder wußte er, daß es Hybris war.
Stellen des Dantenachworts verleihen der Spannung zwischen dem
eigenen geschichtlichen Standort und der Sprachintention Ausdruck.
Unbeirrbar hat er den Prozeß der Verflüssigung der Sprache durch
ihre Anbildung an die verschüttete Möglichkeit als seinerseits
Modernes, in philosophischer Terminologie sagte man: als Kritik
ihrer Verdinglichung, wahrgenommen: »Denn ganz und immer so,
... wie ich bisher andeute, kann ein Dichter nicht durch zwei
Jahrzehnte arbeiten, oder er ist kein Dichter. Zwei
Original-Tendenzen, miteinander verbunden und doch jede für sich
allein denkbar, werden sich früher oder später seiner bemächtigen:
er beginnt das Geformte auf sich selber wirken zu lassen, wird sein
eigener und erster Leser, begegnet einer Erscheinung und fühlt sein
eigenes Lebendigstes ihr ausgesetzt, läßt dies auf seinen Entwurf
zurückwirken und legt die zweite Hand über die erste, um
auszugleichen, nun aber von der Grundlage seiner Mitzeit aus, – und
indem er sich liest und kritisch bessert, wird er sich seines
Unternehmens erst bewußt, das Bewußtsein gleitet in seine Arbeit
über und wird Zeittendenz, beeinflußt die Haltung seiner
Weiterarbeit und entzieht sie dem alten Rahmen. Dies ist das erste,
und es endet in mir in der Einsicht, von meinem Vorsatze schon
weit über die Horizonte einer bloßen Übersetzung hinausgetragen zu
sein, mehr und mehr in eine Aufgabe der Sprachschöpfung
geworfen zu werden, die ohne Beziehung auf ein fremdes Original
in sich selber ruhte. Die deutsche Sprache hatte mir aufgehört eine
statische Gegebenheit zu sein, Goethes ›schlechtester Stoff‹ an dem
Zeit und Kunst nur zu verderben war. Sie war mir in Fluß geraten,
das steingewordene Gefüge der Geschichte gab nach und schmolz,
setzte sich in Bewegung und rückte als Durchbruch gegen die uns
rings bedingende Wand des Luther-Opitz-Gottschedschen
Geschiebes, den Klassizismus.« 3 Tatsächlich vollzog die
Avantgarde von Dichtung – an Rimbaud wäre das vorab zu zeigen –
als Gegenbewegung gegen den Sprachzerfall unterm Kapitalismus
stets auch den Rückgriff auf minder verunstaltete Sprache. Seitdem
dichterische Konkretion der Immergleichheit der industriellen Welt
sich erwehren mußte, trug sie in Bilderschatz und Ausdruck neben
den entgegengesetzten manche archaischen Züge. Dem
geschichtlichen Bedürfnis des Bewußtseins genügend, trat sie zu
dessen Stand auch in Widerspruch. Er ist der Äther von Borchardts
Dichtung. Produktiv wird diese dadurch, daß sie in die
Rekonstruktion des geschichtlich Unwiederbringlichen dessen
Unwiederbringlichkeit einbezieht vermöge subjektiver Erfahrungen,
welche all die Kräfte voraussetzen, die das Ansichsein der Sprache
gesprengt haben. Unwiederbringlichkeit ist bei Borchardt zum
Kunstmittel geworden. Die Schwelle zwischen ihm und dem
Archaisieren, jenem Butzenscheibenhaften, das er im Deutschen wie
im Französischen verabscheute und dessen Spur ihn bis zurück zu
den Minneliedern Walters von der Vogelweide schreckte, ist, daß er
die Sprachschichten, mit denen sein Wille sich vollsog, nicht näher
rückte, nicht benutzte, als wären sie tel quel mit der gesprochenen
Sprache seiner Zeit vereinbar. Statt dessen hat er sie, unsentimental
auf Einfühlung verzichtend, in ihren Abstand gebracht. Nirgends ist
dieser verkleinert oder verletzt. Distanz war ihm das Mittel zur
Mobilisierung des längst Vergangenen, nicht ohne Stütze übrigens
bei der älteren germanischen Sprachwissenschaft, die von der
hemdsärmeligen Zutraulichkeit der Geistesgeschichte von
Oberlehrern verdrängt worden war. Solche Distanz bewahrt ihn
davor, aus den alten Sprachschichten kunstgewerblich-anrüchige
Reizmittel zu keltern. Er verleibt sie dem Material ein, über das
dann sein dichterisches Ingenium mit jener Freiheit verfügt, deren
Bedingung die Emanzipation vom Schein des Selbstverständlichen
ist.
Billig, die vom objektiven Widerspruch bedingte Komplexität
Borchardt als subjektive Schwäche anzukreiden. Die Zerrissenheit
eines Dichters ist ein Topos unter Literaturhistorikern, anwendbar
auf jegliches Phänomen, das nicht in ihr Konzept paßt. Der
Würdigende beschlagnahmt durchs Verdikt über den Zerrissenen für
sich eitel Harmonie und prätendiert eine Überlegenheit über sein
Opfer, die in nichts anderem zu bestehen pflegt, als daß er jenen
zum Gegenstand wählt, nicht umgekehrt. Das schale Ideal des in
sich ausgeglichenen, widerspruchsfreien Menschen – – wie armselig
müßte einer sein, der ihm mitten in der dissonanten Welt entspräche
– paart sich vortrefflich mit der Sitte zu personalisieren, dem
einzelnen Autor umstandslos zuzuschreiben, was in seiner
Objektivität zu begreifen die etablierte Philologie unfähig ist.
Borchardt taugt paradigmatisch zur Widerlegung der Phrase von der
Zerrissenheit, die er in manchem herausfordert. Die Spannungen im
oeuvre und in der Person, die, nach dem Brahmsischen Wort, jeder
Esel sieht, haben ihn nicht sowohl gehemmt als gesteigert. Fast
möchte man sein Außerordentliches darin suchen, wie er aus
Antagonismen den Funken schlug. Nicht darum geht es, wie der
Dichter mit angeblicher oder faktischer innerer Problematik fertig
wird – manche der größten, zumal in Frankreich, haben gerade das
nie vermocht –; sondern wie er auf die Antagonismen, denen er
konfrontiert ist und die freilich auch in ihn hineinreichen, durchs
Gebilde antwortet. Versöhnung in Borchardts Werk besteht in der
Gestaltung des Unversöhnlichen. Der Lyriker Borchardt vibriert
zwischen Polen und eignet noch ihre Antithetik als Formgesetz sich
zu. Die bestürzende Macht des Wollens in Borchardts Gedichten,
durch welche diese dem überkommenen Bild von Lyrik als einem
passiv Empfangenen sich weigern, gründet in der Nötigung, jene
Spannung Form werden zu lassen. Nicht wird einfach die
ungeborene Sprache beschworen und gebannt: ausgetragen wird der
Konflikt zwischen ihr und dem einheimischen Reich des poetischen
Subjekts. Daher empfängt Borchardts Werk jene Atmosphäre des
bis zum Äußersten Exponierten, die mit dem Mittelmaß
dichterischer Restauration so unvereinbar ist wie seine Idee mit dem
Klassizismus. Worin seine Sprachmelodie an die Hofmannsthals
anklingt, das liegt obenauf; in der rigoros formenden Energie ist er
George näher. Das trägt bei zum Verständnis seiner besonderen
Empfindlichkeit gegen die usurpatorischen Züge des Älteren. Sein
Willentliches, autoritär Prägendes jedenfalls war reaktiv. In den
schönsten Jugendgedichten wird es ausgeglichen von einem
Moment des Hingerissenseins. In vielen Versen spricht der Dichter
als von Liebe Überwältigter. Gegen seine Hörigkeit kämpft er durch
den männlich-herrschaftlichen Gestus an, wie wenn er fürchtete,
schutzlos sonst der Welt preisgegeben zu sein.
Einsicht darein dürfte am ehesten zur zentralen: der in
Borchardts inkommensurablen Ton helfen. Sein Timbre setzt sich
zusammen aus dem redenden Element und dem des Nächtlichen.
Borchardt enträtseln hieße die Chiffre auflösen, welche jene
Momente mitsammen bilden. Der Grundhabitus dieser Gedichte ist
der eines Sprechens ins Dunkle, das sie selbst verdunkelt. Solche
Rede ist nicht wie traditionelle Rhetorik an den anderen gerichtet,
gar um ihn zu überreden. Sie ruft wie über den Abgrund hinweg
dem undeutlich gewordenen, entschwindenden Anderen zu.
Unersättlich fortgesponnen, zeugt sie von der Vergeblichkeit, zu
jenem zu dringen, so als sollte in immer erneuten Ansätzen das
Unmögliche erreicht werden. Der heroische Gestus der
Borchardtschen Rede antwortet verzweifelt auf absolute Einsamkeit.
So spricht ein Kind vor sich hin ins Finstere, endlos, um die Angst
zu beschwichtigen, die das Schweigen ihm bereitet. Die Situation
der Nacht ist die, in der Entfremdung sinnfällig wird. Ähnlich dem
Gefälle der Träume, ist Borchardts Rhetorik monologisch. »Mein
Herz sehnt sich hinaus« – das ist nicht die Sehnsucht, die der Titel
des Gedichtes nennt, sondern wahrhaft »ein Lied, das sich in
Worten singt«, manisch an das Nicht-Ich appellierend, das zu
ergreifen zur paradoxalen Idee von Lyrik wurde, seitdem sie, in
Baudelaire, zuerst die Position der definitiv gewordenen Einsamkeit
reflektierte: »C'est un moi insatiable du non-moi, qui, à chaque
instant, le rend et l'exprime en images plus vivantes que la vie
elle-même, toujours insatiable et fugitive.« 4 Allein in der Nacht des
Halbschlafs trifft unverbrüchlich Einsamkeit in sich selbst, verhängt,
abgeblendet, auf das, was sie transzendierte, ohne daß sie dabei die
Grenze des Standes verletzte, der ihr geschichtlich auferlegt ist.
»Atmete die Nacht so laut, /Daß ich schlief und doch nicht schlief /
Schlafend so hinaus begehrte, / Daß ich so ins Dunkle rief.« 5 Die
unverlorene Kindlichkeit der nächtlichen Rede ist der verborgene
Ursprung von Borchardts Lyrik. Aus ihr schöpft er den Gehalt des
Gedichteten, nicht aus dem, was gesagt wird.
Oft ist die Kluft zwischen Borchardts Judentum und seinen
Sympathien für Macht und etablierte Tradition bemerkt worden. Die
Erklärung ist wohl, daß er Zuflucht sucht bei dem, was ihm nicht
selbstverständlich ist; heimatlos überwertet er Heimat. All das
spricht für etwas wie mißglückte Identifikation. Hilflos der Welt
gegenüber, outriert er das Weltmännische und Weltkundige und
bewundert es an anderen. Darin hat eine Naivetät Unterschlupf
gefunden, die sein raffiniertes künstlerisches Bewußtsein und seine
resignative Parteinahme für Bestehendes um keinen Preis Wort
haben will. Solche Züge ebenso wie die Exklusivität seiner
rücksichtslos durchgebildeten Produktion ärgerten die Zeitgenossen,
fremd nicht zuletzt den gesellschaftlich Herrschenden, mit denen er
politisch sich solidarisierte. Die imago von ihnen, welche ihm vor
Augen stand, war, mit sehr wenigen Ausnahmen, fiktiv. Am Ende
mußte er das bitter erfahren und hat mit vollkommener Wendung
darauf reagiert. Der Bogen seines beschwörenden Gestus schwang
so weit über alles Heimelige, über das falsch mittlere Glück von
Stallwärme und deutscher Idylle hinaus, daß er bei Konservativen
nicht weniger anstieß als sein Konservatismus bei der Linken und
der literarischen Avantgarde. Der für Volkheit optierte, war sein
Leben lang der Mann des Privatdrucks. Die kompromißlose Esoterik
seiner Gebilde hat seine konformistischen Anstrengungen
desavouiert und korrigiert. Was alle an ihm schmähen; worin der
Allerweltshumanismus, der den Menschen wie sie sind nach dem
Munde redet, und das hinter allgemeinem Einverständnis
verschanzte Privileg gegen ihn sich zusammenfanden, ist an ihm zu
verteidigen. Der Borchardtsche Snobismus, über den sie zetern, war
eine ihrer selbst unbewußte Gestalt der Absage ans Bestehende;
Autoren, die er verabscheute wie Carl Sternheim, standen ihm darin
nahe. Borchardts Ekel vorm profanum vulgus war eigentlich der vor
den Einrichtungen, welche die Menschen deformiert haben, und die
er nicht durchschaute. Seine politische Haltung kann nicht
beschönigt werden. Andererseits verdankt er seiner Obsession mit
dem so und nicht anders Gewordenen einen Sinn für konkrete
Verhältnisse, der nicht nur dem Sachgehalt seiner Dichtung zum
Guten gereichte sondern zuweilen auch, etwa in der Polemik gegen
den Georgekreis, ihm Einsichten zutrug, welche die offizielle
Ideologie durchschlugen. Wenn in der neueren Zeit Gesinnung und
Intention von Künstlern und deren objektive Leistung vielfach weit
divergieren, so ist Borchardt, neben Arnold Schönberg, wohl das
bedeutendste Modell solcher Divergenz. Den restaurativen,
»wiederherstellenden« Inhalt attackiert seine Form, so sehr auch sie
Wiederherstellung wollte, und keineswegs stets abstrakt und
harmlos. Borchardt war unvereinbar mit der abscheulichen
Gesundheit der bürgerlichen Kultur, mit deren Gediegenheit er
flirtete. In seiner Formgesinnung war insgeheim angelegt, was ihn
schließlich zu den Invektiven gegen die Nationalsozialisten
vermochte, gegen die gleichgeschalteten Universitäten. Nicht erst
hat der losgelassene Nationalismus den Juden Borchardt verfolgt: er
war Jude genug, schon zu einer Zeit nicht hineinzupassen, da er
noch das Wort Nation ungescheut über die Lippen brachte und in
den Süddeutschen Monatsheften publizierte. Das anachronistische
Pathos seiner Bildung war der Erbärmlichkeit neudeutscher
Realpolitik unangemessen.
Jene Divergenz im Borchardtschen Werk, die man abkürzend,
zur puren Verständigung, eine von Form und Inhalt nennen mag, ist
Erbschaft der literarischen Bewegung, der er trotz allem zuzählt; bei
Baudelaire vorgebildet in der mythisch überhöhenden Gestaltung
von Bildern trostlos kapitalistischer Moderne. Borchardts genuine
dichterische Kraft erweist sich daran, daß er sich von der
geschichtlichen Erfahrung seiner Epoche unvergleichlich viel tiefer
durchdringen ließ, als seiner Doktrin lieb war. Zwei der erotischen
Zyklen aus den Vermischten Gedichten, der dem Drama Petra
zubestimmte und ›Der Mann und die Liebe‹, sind nicht allzuweit
entfernt vom Strindbergschen Thema des Geschlechterkampfs. Die
Lyrik Borchardts hat eine Komponente des verkappten Realismus.
Der von ihm visierte hohe Stil wäre Lüge, wollte er die Realien
verschweigen, die gegen ihn spröde sind. Zu den größten Momenten
der Borchardtschen Lyrik gehören Verse, die solchem Mißverhältnis
ins Auge sehen: lyrisches Hingerissensein verbindet darin sich mit
dem Bewußtsein der heraufdämmernden Unmöglichkeit von Liebe
für den, der ohne Kompromiß dem entstellten Leben sich weigert.
Das Cliché, der Mann bleibe in Haßliebe an die Frau gekettet,
verzerrt trivial den Sachverhalt. Fähig ist Borchardt, der Fessel das
freie Wort zu finden. »Die Lieblichste der Schlechten, / Die je vom
Besten Reiz geliehn, /Längst zwischen Herrn und Knechten /
Verfochten und verschrien, / Heillos in jeder Fiber / Und
unverschmerzlich jeder Zoll – / Geh, Stern – sie ist mir lieber, / Als
wär sie, wie sie soll.« 6 Die Sehnsucht nach der im gleichen
Atemzug ihrer steinernen Kälte wegen verklagten Frau ist die des
seiner Heimat Beraubten nach dem Haus, einem der Archetypen von
Borchardts Werk; die Jamben des großen Wannsee-Gedichts
enthüllen das Motiv, erstaunliche Querverbindungen zu Benjamins
Berliner Kindheit stellen sich her. Zu Borchardts Ehre setzen in
seinem Werk stets wieder stoffliche, auch psychologische Momente
sich durch, welche die Tabus seiner Gesinnung verletzen.
Authentisch wird seine Dichtung, indem sie das ihr Heterogene,
womöglich Verhaßte ergreift.
Einmal steigert sich die Erfahrung des Risses durch Reflexion
zur Errettung des schmählich verkommenen, mit Grund in Literatur
nachhaltigen Anspruchs seit Nietzsche und George verfemten
Humors. Daß Borchardt an George die Kehrseite von Humor, eine
Humorlosigkeit bemängelte, die zuweilen mit dem berüchtigten
Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen in Geschmacklosigkeit
ausartet, mag genetisch mitgespielt haben. Das Manongedicht aus
Petra gehört zu den tours de force deutscher Lyrik. Es bringt den
Humor, der von alters her den sogenannten niederen Gattungen
vorbehalten war und sonst durch unerträglich versöhnenden
Abglanz den hohen Stil befleckte, diesem durch ein Äußerstes an
Takt und spielerischer Überlegenheit zu. Das leidende poetische
Subjekt gewinnt den Standpunkt einer vom Geselligen,
Schmunzelnden des tout pardonner reinen Ironie. Durch die Form
der Epistel wird der Gegenstand in ein dix-huitième entrückt, dessen
Kostüm die bürgerliche Erniedrigung des Sexus graziös verkleidet.
Die Ironie aber waltet lautlos, indem der Dichter mit der
schmerzvoll Geliebten sich identifiziert, die süß die Verse plappert.
Er setzt sich gegen sie, mit einem Borchardtschen Ausdruck, nicht
ins Rechte; wägt ihr ein Recht zu, das Klage und Gegenklage
gleichermaßen kassiert. Die Phrasen, die er Manon als
Abschiedsbrief an Des Grieux in die Feder diktiert, machen lächeln,
aber sie spricht sie so, daß noch aus ihnen das Unwiderstehliche
Aphroditens widerscheint. Zugleich sagt sie über sich selbst die
Wahrheit, welche die Unwahrheit der Phrasen aufhebt, bis sie in der
unbeschreiblich pointierten und spirituellen Schlußstrophe alle
Konvention überfliegt, heim in die Utopie des hetärischen Zeitalters.
Solche Rettung, die des Humors und die der mythischen
Leichtsinnigen Prévosts in einem, ist Eingedenken der Natur,
welche die Forke nicht auszurotten vermag; jener widerfährt in
Manon die Gerechtigkeit. Nicht schwer fiele es unentwegter
Aufklärung, Borchardt mit anderen neudeutschen Mythologen wie
dem von ihm, hélas, geachteten Klages zusammenzuwerfen. Aber
das Verhältnis des an Hegel Geschulten zum Mythos ist nicht
Sympathie mit dem Widervernünftigen und Barbarischen sondern
mit dem, was unter herrschaftlicher Vernunft, und durch sie unter
der Herrschaft überhaupt, herabgedrückt wird; nicht umsonst ist
Manon das schöne Kind des aufgeklärten Jahrhunderts. Eine Kurve
realer Humanität reicht von dem Manongedicht zu dem todernsten
von der geretteten Schwalbe. Es ist, als erlaubte die Gewalt, in die
Borchardts Lyrik sich nimmt, ihr den Hang zum Anarchischen,
Ungebändigten auszudrücken, ohne daß sie darüber in Roheit
zurückfiele; Prosastücke wie das über den Hochstapler Veltheim
bewegen sich in der gleichen Richtung. Borchardts Rede ist
Plädoyer gegen die bürgerliche Entstellung des Lebens, aber gleitet
nicht ab ins dumpf Naturtümelnde. Rettung erwartet sie von der
Kraft des zum äußersten gebildeten Geistes, die keine andere ist als
die zivilisatorische. Humor erhebt dadurch wie der Witz von Karl
Kraus sich über die Beschränktheit des männlichen Così fan tutte.
Das Manongedicht zählt zu den nicht zahlreichen von
Borchardt, die durch die Wahl ihres Stilisationsprinzips noch
einigen Kontakt mit dem Empfangenden, Lesenden, Hörenden
halten. Liebenswürdigkeit war eine seiner Ausdrucksmöglichkeiten,
nicht die primäre. Die Bilderwelt der Jugendgedichte verbindet
präraffaelitische Askese mit sprachlicher Üppigkeit wie Swinburne,
von dem er einiges, darunter ›The Garden of Proserpine‹,
meisterlich übersetzte. In der maßlosen sprachlichen Anspannung
vieler Gebilde schon aus dieser Zeit, zumal der großen Elegien,
ebenso wie im enigmatisch Rauschenden überschlagen sich die
unverkennbaren Jugendstilmotive. Er sagt der bürgerlichen
Forderung von Verständlichkeit ab, der, daß einem ein Gedicht
etwas gebe. Unverhohlen orientiert er sich an als unzugänglich und
schwierig gescheuten Texten der Vergangenheit wie Pindar. Der
retrospektiven Absicht des Dichters zum Trotz kristallisiert sich
Moderne; sie verleiht dem Hinweis auf Borchardt mehr Nachdruck
als den einer Wiederentdeckung unter anderen. Durch die
Verselbständigung des Wortstroms, durch Komposition aus Valeurs
und Klängen anstatt aus dem Gesagten, tendieren seine Gedichte
zum Hermetischen. In Frankreich empfing die radikale Lyrik viel
von Valéry; gleichermaßen hätte im Deutschen absolute Poesie von
Borchardt zu lernen. Seine Lyrik, die alle Kraft der Objektivation
von der Sprache als dem Genius der Völker sich erhoffte, brach die
Brücke zu den Völkern ab. Der nicht verschmähte, in die
Verdammungsurteile über das moderne Chaos einzustimmen, wagt
mehr als einmal sich ins Chaotische. Es zu bannen, ist eine der
Funktionen der Sprache bei ihm. Sie ist sowohl die natura naturans
wie die natura naturata seiner Dichtung. Kunsttheoretisch zollte er
dem chaotischen Moment den Tribut, als er den Dichter zum vates,
zum trunkenen Propheten und Seher erhöhte und den
Verfahrungsweisen aller anderen Künste kontrastierte, die er der
texnh subsumierte. Nirgends hat er so sehr den herrschenden
Strömungen des bürgerlichen Denkens willfahrt wie dort, wo er das
Dichterische, und das Dichterische allein, einem der Religion
entlehnten Mysterium gleichsetzte, das er für unersetzlich hielt. Sein
eigenes Werk indessen ragt weit darüber hinaus, weil es eben den
Begriff der texnh realisiert, dem er in der Reflexion minderen Rang
zuwies und ohne den doch seine Gebilde ihren hohen nicht hätten.
In der Offenheit, in der sie als Verfertigtes, als tesei sich einbekennt,
antezipiert seine Dichtung, bei allem Überschwang, eine
Sachlichkeit, von der die neuromantischen Zeitgenossen nichts
ahnten. Jeden Zaubers der Wirkung mächtig, arbeiten seine
Gedichte an Entzauberung. Anstatt daß das lyrische Subjekt sich bei
sich beschiede, überläßt es sich dem Entfremdeten. Dahin wird
Borchardt vom Vorrang der Sprache geleitet. Sie wird zur
objektiven Instanz von Dichtung, jenseits der bloßen Kundgabe des
Dichters. Seine Lyrik geht auch davon aus, daß das Subjekt, an das
neuere Lyrik während der letzten zwei Jahrhunderte naiv sich zu
halten pflegte, nicht nur gesellschaftlich sondern ebenso ästhetisch,
nämlich durch die Sprache vermittelt ist. Das poetische Subjekt, das
nicht an das ihm Fremde sich entäußern wollte, war Opfer des
Allerfremdesten, der Konvention längst ausgelaugter Erlebnislyrik
geworden. Die Integration historischer Bildung in Lyrik bei
Borchardt hat deren Begriff mit jähem Ruck erweitert, ihr Schichten
und Typen zugeführt, die ihr mit der Emanzipation des Subjekts
verloren gegangen waren und die ihre Aktualität wiedergewinnen
angesichts der Beschränktheit fürsichseiender Subjektivität, ohne
daß er doch dem Schwindel von Gemeinschaftskunst die mindeste
Konzession gemacht hätte. Der musikhafte Duktus, den er der
lyrischen Sprache anschuf, hat, wider den Schein selbstgenügsamer
Unwillkürlichkeit, in der Dichtung dem Virtuosen einen Platz
erobert, den er in der Musik nie ganz verlor, wo mittlerweile
Virtuosität ebenfalls ins kompositorische Verfahren einwanderte.
Ist, nach einer Wendung Schröders, ein Gedicht wie die Bacchische
Epiphanie ein Prunkstück, ein Agalma, dann begibt Borchardt sich
auf eine Seite der Kunst, die ihr unabdingbar ist und zum Unheil
anschlägt nur, wofern sie darüber betrügt; vielleicht war es die
äußerste Provokation, die von Borchardt ausging, daß sein Werk den
Begriff des Hofpoeten rettete, eines Hofpoeten ohne Hof. Die
Ideologie von den Urerlebnissen, die Gundolf für George
propagierte, wird von Borchardts dichterischer Praxis widerlegt und
dadurch die Beziehung auch von Lyrik auf Sachgehalte aufgedeckt,
die seit der ersten Romantik verschleiert war. Solche Sachlichkeit
zeigt sich analog auch in der Gesinnung, welche die Auswahl dessen
lenkte, was Borchardt, mit Hofmannsthal und Schröder, an Prosa
anderer einsammelte. Unter diesem Aspekt gehört Borchardt, wider
die naiven, zu den sentimentalischen Dichtern; deshalb mag er mit
Schiller sympathisiert haben; nur täuscht dieser Konkretheit als ein
Unmittelbares vor, während für Borchardt solche von oben her
inszenierte Unmittelbarkeit in die Brüche ging, so daß die Abdrücke
der formenden Hand des Dichters an der Sachschicht des
Gedichteten ungeglättet sichtbar wurden.
Die Kritik vorgetäuschter Unmittelbarkeit durch Borchardt, samt
dem Willen zur Rekonstruktion versäumter Möglichkeiten, führt zu
einem prima vista anachronistischen Vorrang von Gattungen übers
einzelne Gebilde; an seinen Paradigmata hat das Anteil. Er beugt
sich nicht dem nominalistischen Kriterium des reinen hic et nunc; in
seine Dichtung gerät etwas eigentümlich Didaktisches, das eher der
Haltung des polemischen Präzeptors entspricht als dem Geist seiner
Zeit. Unter den Ästhetikern hat, im Gegensatz zu seinem
Lehrmeister Hegel, Benedetto Croce dem Nominalismus, dem
Vorrang des Werkes über seine Gattung, zum Durchbruch
verholfen. Höchst auffällig, daß Borchardt, der Croce bewunderte
und fraglos von ihm philosophisch das meiste empfing, in der
eigenen Kunst so wenig danach sich richtete. Ihn beeindruckte sein
philologisches Ingenium weit tiefer mit dem Eigenrecht der
Gattungen, als unreflektierte Unmittelbarkeit es konzediert; auch
insofern stand er zu dieser in Antithese. Wie in vielen seiner
Exzentrizitäten jedoch zeigte Borchardt der Zeit sich auch voraus,
wo er sie zurückzuschrauben vorhatte. Tief unbewußt regte in ihm
sich die Ahnung, das unverwechselbare Jetzt und Hier trage nicht
länger. Einmaligkeit selbst, auf welche die Dichtung seit dem
Jugendstil sich verpflichtete, ist nur das Deckbild der
Immergleichheit im realen Lebensprozeß, etwa so wie limitierte
Ausgaben von Büchern die Massenproduktion verstecken. Nicht
entbehrt es der Ironie, daß gerade der Bibliophile Borchardt an
dieser Stelle eine Aufklärung vorwegnahm, die später das
vermeintlich aufklärerische Prinzip von Kunst, den Nominalismus
erschüttern sollte. Das Nüchterne, das in seiner Dichtung heilsam
der Rhetorik sich amalgamiert, bekundet unter der Keimhülle der
Dichtung Mißtrauen gegen die überkommene Vorstellung von deren
Konkretion, gegen die Norm sinnlicher Anschaulichkeit. Die
Intention auf Gattungen kam unerwartet zutage in der jüngsten
Musik, von deren Exponenten manche der kühnsten wie
Stockhausen in jedem einzelnen Werk mehr die Möglichkeiten
ganzer Typen zu eröffnen scheinen, als daß das Werk, wie die
Tradition es gewohnt ist, in sich ruhte. Zu spekulieren ist darüber,
ob in Borchardt die Krise des Werkes überhaupt sich anmeldet; ob
der Dichter, mit der Überlegenheit des Virtuosen, aufs Einzelwerk
verzichtet zugunsten der allgemeineren Möglichkeit, die jedes
einzelne Werk ebenfalls verkörpert; fast so, als legte der triumphaler
Kultur Müde spielerisch den eigenen Herrschaftsanspruch, das
gerundete Werk, aus den allzu geübten Händen. Daß in seinem
oeuvre so vieles unvollendet blieb; daß mehr noch vielleicht
lediglich in seiner Phantasie existierte und er die Möglichkeit
mancher Gebilde mit ihrer Wirklichkeit verwechseln mochte,
spricht für die Perspektive solcher Umwendung der Kunst durch den
Artisten. Derlei Tendenzen mußten zunächst reaktionär erscheinen
und waren mit traditionalistischer Gesinnung versetzt. Borchardt
war, wie die Georgeschule, aber auch wie Benjamin, heftiger
Gegner des Expressionismus. Solche Gegnerschaft hatte es leicht,
weil gerade der Expressionismus den Begriff des durchgebildeten
Werkes suspendierte, seine Substanz eigentlich nur in einer Idee
hatte, der die Unmöglichkeit des Realisierens von Beginn
einbeschrieben war, während die Expressionisten gleichwohl Werke
vorlegten. Aber indem Borchardt diese kaum zu beachten
prätendierte, wurde er jener Dialektik von Gattung und Einzelwerk
gewahr, über die der ungebrochene Nominalismus hinweggleitet.
Kein Kunstwerk kann auf dem reinen Punkt sich halten, das in
vollkommener Konsequenz ein jegliches ausschlösse, was sein
einsames Subjekt dem Entfremdeten entlehnte, und das nach nichts
tastete, was jenseits des minimalen Ortes wäre, auf den es
zurückgeworfen ist. Noch der Schrei, zu dem das Werk dann sich
zusammenzöge, überschritte das Subjekt als ein Stück Realität, und
höbe es dadurch erst recht auf. Hat Borchardt, bei ungestümem
Ausdrucksbedürfnis, den Punkt verlassen durch Metier, wie die
universale Bildung es ihm zutrug, so hat er nicht anders sich
verhalten als die radikale Kunst bis hinauf zu Beckett. Alle
ästhetischen Fragen, die der Dichtung inbegriffen, sind heute zu
solchen des Metiers geworden. Nicht nur bei Borchardt trägt die
Sprachwissenschaft zu dessen Skelettierung wesentlich bei. Sein
Metier ist der Vorrang der Sprache; vor ihr kapituliert die Schwäche
des geschichtlich zerfallenden Subjekts. Er wäre entsetzt gewesen
von dem, wohin Ansätze trieben wie die seinen; schon Proust,
geschweige denn Joyce verurteilte er, ohne Organ für die geheime
Wahlverwandtschaft. Sein Traditionalismus zerrüttete den
traditionellen Begriff des Kunstwerks, parallel zu denen, auf die er
das kulturkonservative Vokabular anwandte. Daß er mit der ihm
verhaßten Moderne sich traf im Vermögen, bis zum Ende zu gehen,
ist mehr zu seinem Ruhm, als daß er mit zusammengebissenen
Zähnen für vorgeblich bewahrende Positivität optierte. So innig war
seine Klugheit der dichterischen Spontaneität vermählt, daß er
erkannte und poetisch danach verfuhr, wie sehr subjektive Lyrik,
entsprungen im Protest gegen die Konventionen, konventionell und
verdinglicht geworden war; das inspirierte seinen Kampf gegen den
Klassizismus jeder Observanz seit der Antike. Da aber keine
transsubjektive Position, kein gesellschaftlicher Ort vorhanden ist,
den der Dichter ohne Lüge betreten könnte, wird Bildung als
Produktivkraft entbunden in der Sisyphusanstrengung, sie dem
Stand des Einsamen kommensurabel zu machen. Die Widersprüche
durchdringen sich bei Borchardt, werden nicht geschlichtet; ihn
bestätigt, daß er den Konflikt bis zum Untergang austrug. Die
Borchardtsche Position des Dichters ist eine umzingelte Festung; er
war cornered, wie es in der Sprache hieße, die er liebte: sein Werk
ausweglos, aporetisch. Daß es die eigene Unmöglichkeit gestaltet,
ist das Echtheitssiegel seiner Moderne.
Gleichwohl konnte er eine suprapersonale Haltung nicht
durchaus vermeiden. Sie hat ebensoviel kritisches Recht gegenüber
der herkömmlichen, wie sie gesellschaftlich fragwürdig ist, weil die
Gesellschaft, ihrer innersten Schicht nach, dem von Borchardt
befochtenen bürgerlich individualistischen Prinzip stets noch
gehorcht, und dem Dichter nichts an Kategorien und Inhalt beistellt,
was von sich aus, jenseits seiner Subjektivität verpflichtend wäre.
Falsche Gesellschaft gibt keine Wahrheit vor, es sei denn die eigene
Falschheit. Darüber vermochte Sprache flüchtig und prekär noch
einmal hinwegzutragen; nichts Inhaltliches jedoch und am
wenigsten der Begriff der Nation, auf den Borchardt die
Beschwörung von Sprache gleichsam ausdehnte. In ihm wurde das
Aporetische verhängnisvoll. Borchardts Nationalismus zumal
während der Weimarer Zeit überführt sich selbst durch jene
schrillen Passagen, in denen er sich allein nicht nur als den Sprecher
jener Nation proklamierte, sondern als ihre eigene Verkörperung,
eben weil sie nicht existierte, weil die Stunde von Nationen
abgelaufen ist; der jüngste Nationalismus und schon der seine
übertönt das nur. In der Fiktion des Wir dort, wo ein Ich redet,
berührt er sich mit seinem Antipoden Brecht, der zum Lob der
Partei sich herbeiließ. Von beiden ward Politik der Dichtung
einverleibt. Weil diese aber nicht, wie sie sich vermißt, unmittelbar:
weil sie einzig zur Agitation entwürdigt einzugreifen vermag, wird
sie von Politik verzerrt, deren kollektive Forderung einzuholen nicht
in ihrer Macht ist; zum Unrecht wird sie auch an der Politik, sobald
sie Kollektivität spielt. Borchardts exaggerierte Vorstellung von der
Nation schlug ins äußerste Gegenteil um, als er über die
Unmöglichkeit der Identifikation mit ihr und über das, was aus dem
Nationellen geworden war, furchtbar belehrt wurde. Der in
nationellen und herrschaftlichen Kategorien anstatt in
gesellschaftlichen dachte, mußte in den Epoden seiner
Emigrationszeit herrisch verwerfen, was er einmal herrisch als sein
Volk, bis zum Einverständnis mit dem Imperialismus, gepriesen
hatte. Bei den anklagenden Gedichten wird man, trotz des
Imponierenden der Wendung, das Gefühl nicht los, sie gälten eher
dem, daß die Deutschen einem Bild von Vornehmheit nicht
entsprachen, das seinerseits mit der herrschaftlichen Attitude verfilzt
war, als der Identifikation, die nun allein noch offen ist, der mit dem
Unterdrückten und Zertretenen, die Borchardt früher von sich
gewiesen hatte, nicht ohne daß er dabei auf den Widerspruch zum
unvergleichlichen Schwalbengedicht aufmerksam geworden wäre.
A priori ist einsichtig, daß der aporetischen Dichtung Borchardts
derlei Strophen, ein Äußerstes, nur intermittierend, partikular,
fragmentarisch gelingen konnten, wie sehr auch sein oeuvre von der
Emphase des dichterischen Anspruchs erzittert. Aber er hat Zeilen
geschrieben, wie sonst nur Musik Stellen kennt, solche, die klingen,
als wären sie immer schon da gewesen. Sie sind versprengt und
untereinander gänzlich verschiedenen Tones, hoffnungslos traurig
zuweilen, ekstatisch dort. Das Ende des Jugendgedichts ›Der
traurige Besuch‹ lautet: »Blick nicht in meine Fenster, Tag. / Mein
Schiff will Sturm und keinen Stern. / Das letzte, was das Herz
vermag, / Ist, es stürbe gern« 7 : seit Verlaine ist keine reinere
Stimme saturnischer Schwermut erklungen. In einem anderen
frühen Gedicht heißt es: »Mein Haus weiß jeden Stern von deinem
Haus« 8 : der Vers beschämt den, der ihn paraphrasieren oder deuten
wollte. Herbstlich glühend leuchtet der Eigenname eines kleinen
Badeorts in der Konstellation: »O Park und Haus, o Purpur von
Pyrmont.« 9 Die Anfangszeile der von ihm als klassisch benannten
Ode liest sich beim ersten Mal zwingend mit dem Gefühl, wann hab
ich das schon einmal gehört, das ihr eigenes ist: »Ich bin gewesen,
wo ich schon einmal war.« 10 Die schönsten Gebilde des
leidenschaftlich Formenden sind die, wo seine aktive Sprache
passivisch wird. Dann tönt aus dem Deutschen die
jüdisch-messianische Stimme: »Für Gott, den Ungebornen, stehe /
Ich euch ein: / Welt, und sei dir noch so wehe, / Es kehrt von
Anfang, alles ist noch dein!« 11 Während des Ersten Kriegs hat er, in
einer Soldatenzeitung, ein artifizielles Volkslied veröffentlicht,
dessen Titel noch mit dem Sieger zu triumphieren scheint: ›Als das
geschlagene Rußland Frieden schloß‹. Aber in dies Gedicht haben
sich die Worte verirrt: »Es schimmert unter schlechtem Zelt /Ganz
klein der Trost der neuen Welt.« 12 Der die Sprache beschwor, bis
sie klirrend zu zerspringen drohte, dem hat sie das Echo nicht
versagt.
 Fußnoten
 
1 Rudolf Borchardt, Dante deutsch, München und Berlin 1930, S.
501f.
 
2 Borchardt, Gedichte, Stuttgart 1957 (Gesammelte Werke in
Einzelbänden), S. 568f.
 
3 Borchardt, Dante deutsch, a.a.O., S. 517f.
 
4 Charles Baudelaire, OEuvres complètes III: L'art romantique,
Paris 1898, p. 65.
 
5 Borchardt, Ausgewählte Gedichte. Auswahl und Einleitung von
Theodor W. Adorno, Frankfurt a.M. 1968, S. 52.
 
6 a.a.O., S. 98.
 
7 a.a.O., S. 41.
 
8 a.a.O., S. 47.
 
9 a.a.O., S. 51.
 
10 a.a.O., S. 72.
 
11 a.a.O., S. 56.
 
12 a.a.O., S.94.
 
 Henkel, Krug und frühe Erfahrung
Ui, haww' ich gesacht.
Friedrich Stoltze
 
In mein Exemplar der ersten Ausgabe des ›Geistes der Utopie‹ hatte
ich keine Jahreszahl geschrieben, doch muß ich es 1921 gelesen
haben. Im Frühjahr jenes Jahres lernte ich, Abiturient, die ›Theorie
des Romans‹ von Lukács kennen und erfuhr, daß Bloch diesem
nahestand. Ich stürzte mich auf das Buch, bis zum Erscheinen des
›Prinzips Hoffnung‹ Blochs chef d'oeuvre. Tatsächlich ist das
Kapitel über den komischen Helden, Don Quixote, im Ansatz der
Romantheorie überaus verwandt, wenngleich der Exkurs ›Zur
Theorie des Dramas‹ davon sich abgrenzt. Der Unterschied
zwischen dem Helden als dem »Blutenden« und dem
»Vollendeten«, den Bloch macht, ist bereits der zwischen
expressionistischer und klassizistischer Haltung; er hat, in sich
wandelnden Kategorien und an sich wandelnden Gegenständen, das
Bereich der beiden miteinander Verbundenen bis ins hohe Alter
artikuliert. Doch war das nicht die wesentliche Differenz zwischen
ihnen, auf die meine frühe Erfahrung ansprach. Der dunkelbraune,
auf dickem Papier gedruckte, über vierhundert Seiten lange Band
versprach etwas von dem, was man von mittelalterlichen Büchern
sich erhofft und was ich als Kind zuhause noch an dem
schweinsledernen ›Heldenschatz‹ verspürte, einem verspäteten
Zauberbuch des achtzehnten Jahrhunderts, voll abstruser
Anweisungen, an deren manche ich mich heute noch besinne. Der
›Geist der Utopie‹ sah aus, als wäre er von des Nostradamus eigener
Hand geschrieben. Auch der Name Bloch hatte diese Aura. Dunkel
wie ein Tor, gedämpft dröhnend wie ein Posaunenstoß, weckte er
eine Erwartung des Ungeheuren, die mir rasch genug die
Philosophie, mit der ich studierend bekannt wurde, als schal und
unterhalb ihres eigenen Begriffs verdächtig machte. Als ich sieben
Jahre danach Bloch traf, fand ich in seiner Stimme denselben Ton.
Zur ketzerischen Verheißung mochten auch despektierliche
Äußerungen Blochs über den damals als Psychologen der
Weltanschauungen hochangesehenen Karl Jaspers beitragen, die mir
ganz früh hinterbracht wurden.
Ich hatte, so dumpf wie ein Siebzehnjähriger solche Phänomene
wahrnimmt, das Gefühl, hier sei die Philosophie dem Fluch des
Offiziellen entronnen. Auch wohin, ahnte ich, in ein Inneres, das
nicht wie idyllische Innerlichkeit in sich beharrt und sich setzt,
sondern durch das hindurch die denkende Hand geleitet zu einer
Fülle von Gehalt, den weder das äußere Leben gewährt, nach Blochs
Lehre immer weniger, als es sein könnte, noch die traditionelle
Philosophie, die, als intentio obliqua, vor eben dem Inhalt sich
zurückzieht, den der Adept sich erwartet. Es war eine Philosophie,
die vor der avancierten Literatur nicht sich zu schämen hatte; nicht
abgerichtet zur abscheulichen Resignation der Methode. Begriffe
wie »Abfahrt nach innen«, auf der schmalen Grenzscheide von
magischer Formel und Theorem, zeugten dafür. Sollte, nach Platon,
Philosophie im Staunen, wörtlich: im sich Wundern entspringen und
– so folgerte man unwillkürlich – durch ihren Verlauf jenes Staunen
beschwichtigen, so erhob der Blochische Band, ein Foliant in Quart,
Einspruch gegen den zur Selbstverständlichkeit gefrorenen
Widersinn, daß Philosophie wichtigtuerisch um das betrügt, was sie
soll. Die Blochs begann nicht bloß mit dem Staunen, sondern
mündete, ihrer Intention nach, ins Erstaunliche; mystisch und, im
doppelten Sinn, hochfahrend, wollte sie das Zeremonial geistiger
Disziplin abschaffen, das sie um ihren Zweck bringt; brüderlich
gesellte sie sich dem Kühnsten der gleichzeitigen Kunst, hätte am
liebsten es transzendiert, indem sie es, durch denkende Reflexion,
weitertrieb. Das Buch, Blochs erstes und alles Spätere tragendes,
dünkte mir eine einzige Revolte gegen die Versagung, die im
Denken, bis in seinen pur formalen Charakter hinein, sich
verlängert. Dies Motiv, allem theoretischen Inhalt vorausgehend,
habe ich mir so sehr zugeeignet, daß ich meine, nie etwas
geschrieben zu haben, was seiner nicht, latent oder offen, gedächte.
Das Spezifische der Blochischen Philosophie war schon im
Utopiebuch, trotz seines bunten Reichtums, eher im Gestus zu
suchen als im einzelnen Gedanken, nicht ausgenommen, worum
alles bei ihm sich ordnet, die Perspektive des messianischen Endes
der Geschichte, des Durchbruchs zur Transzendenz; Lukács
übrigens, zu jenen Zeiten mit der metaphysischen Interpretation
Dostojewskys befaßt, hatte das Motiv mit ihm gemein. Der Vorrang
der Geste aber rührt her vom Gehalt. Mit dem Begriff der Gestalt
der unkonstruierbaren Frage hat Bloch das, was allein wert wäre
gedacht zu werden, der Vermessenheit kontrastiert, Denken könne
von sich aus seinen Namen nennen. Um so schwieriger ist es darum,
konkret anzugeben, was der Erfahrung seines Werks ihre Gewalt
verlieh; wodurch er, nach seiner Sprache, »betroffen« machte.
Helfen mag, einen kurzen Abschnitt aus dem alten Utopiebuch dem
eines anderen Autors zu vergleichen, mit dem er thematisch sich
berührt. Einzig im Vergleichbaren konstituiert sich das
Unvergleichliche, so sehr auch Absicht und geistige
Verhaltensweise Blochs vom ersten Tag an der gemäßigten
Umständlichkeit sich entgegengesetzt wußte, deren vor dem ersten
Weltkrieg jeder sich befleißigte – gleichsam um sich akademisch zu
entschuldigen –, der philosophisch auf Inhaltliches sich einließ.
Aber Georg Simmel, den Bloch wie die meisten berühmten
Philosophen seiner Jugend gut kannte, hat doch als erster, bei allem
psychologischen Idealismus, jene Rückwendung der Philosophie auf
konkrete Gegenstände vollzogen, die kanonisch blieb für jeden, dem
das Klappern von Erkenntniskritik oder Geistesgeschichte nicht
behagte. Reagierten wir einst besonders heftig gegen Simmel, so nur
darum, weil er uns, womit er uns lockte, doch wieder vorenthielt.
Geistreich auf heute arg verblichene Weise, überspann seine
Attitude ihre piekfeinen Objekte mit schlichten Kategorien, oder
schloß recht allgemeine Reflexionen an, ohne je so ungedeckt in die
Sache sich zu verlieren, wie es verlangt ist, wenn Erkenntnis mehr
sein soll als der selbstgenügsame Leerlauf ihrer prästabilierten
Apparatur. Von Simmel steht ein Essay ›Der Henkel‹ in einem
Buch, das den ärgerlich einverstandenen Titel ›Philosophische
Kultur‹ trägt; das Utopiebuch eröffnen ein paar Seiten ›Ein alter
Krug‹. Sie gelten freilich einem Krug ohne Henkel, einem, der nicht
so umgänglich mit der Gebrauchswelt kommuniziert, wie es Simmel
zu Betrachtungen ermutigt.
Dieser geht, nach alter Weise, aus von einer Kernthese: daß
jedes Kunstwerk »gleichzeitig in ... zwei Welten« stehe: »während
das Wirklichkeitsmoment in dem reinen Kunstwerk völlig
indifferent, sozusagen verzehrt ist, erhebt es Forderungsrechte an
die Vase, mit der hantiert wird, die gefüllt und geleert, hin und her
gereicht und gestellt wird. Diese Doppelstellung der Vase nun ist es,
die sich in ihrem Henkel am entschiedensten ausspricht.« 1 So
unbestreitbar die Doppelfunktion des Henkels, so trivial zugleich
ihre Entdeckung. Simmel kommt es nicht bei, daß die Momente der
Empirie, die das Kunstwerk notwendig ergreift, um überhaupt sich
in sich konstituieren zu können, nicht einfach untergehen, sondern
bis in sein Sublimes hinein sich erhalten, und daß die Kunstwerke
wesentlich in der Spannung zu ihnen leben. Er erkennt sie nicht als
in sich durch die aufgehobene Empirie vermittelt. Die Vermittlung,
über die er meditiert, bleibt ihnen so äußerlich wie nun einmal der
Henkel der Vase. Dem entspricht seine konventionelle Ansicht vom
fraglosen in sich Ruhen der Kunstwerke. Sie werden vorweg zu
Gegenständen betrachtenden Genusses neutralisiert. »Aus den
Anschauungen der Wirklichkeit, aus denen das Kunstwerk freilich
seinen Inhalt bezieht, baut es ein souveränes Reich; und während die
Leinwand und der Farbenauftrag auf ihr Stücke der Wirklichkeit
sind, führt das Kunstwerk, das durch sie dargestellt wird, seine
Existenz in einem ideellen Raum, der sich mit dem realen so wenig
berührt, wie sich Töne mit Gerüchen berühren können.« 2 So wahr
es ist, daß die Kunstwerke dem angehören, was Simmel ideellen
Raum nennt, so wahr ist es, daß dieser nur in einer Dialektik zum
realen besteht; allein daß Simmel das Wort Raum der
außerästhetischen Realität entlehnen muß, bezeugt das. Die
undialektische These, eine von statischer Allgemeinheit, gestattet
ihm allerhand Philosopheme, die weder als Gedanke recht triftig
sind, noch dem Gegenstand Gerechtigkeit widerfahren lassen.
Ästhetik wird zum Ästhetisieren: »Denn es handelt sich gerade
darum, daß die Nützlichkeit und die Schönheit als zwei einander
fremde Forderungen an den Henkel herantreten – jene von der Welt,
diese von dem Formganzen der Vase her – und daß nun gleichsam
eine Schönheit höherer Ordnung beide übergreift und ihren
Dualismus in letzter Instanz als eine nicht weiter beschreibliche
Einheit offenbart.« 3 Diese Art Allgemeinheit schreckt, da sie schon
einmal »nicht weiter beschreiblich« sein soll, nicht zurück vor
Weisheiten eines Typus, den Simmel selbst ohne Scheu mit dem
Begriff der Lebenskunst etikettiert: »Vielleicht formuliert dies den
Lebensreichtum der Menschen und der Dinge; denn dieser ruht doch
in der Vielfachheit ihres Zueinandergehörens, in der
Gleichzeitigkeit des Drinnen und Draußen, in der Bindung und
Verschmelzung nach der einen Seite, die doch zugleich Lösung ist,
weil ihr die Bindung und Verschmelzung nach einer anderen Seite
gegenübersteht.« 4 Ob die Haltung dessen, der beim Tee respektvoll
Lauschenden derart unverbindlichen esprit offeriert, der Pedanterie
des Katheders überlegen ist, darüber läßt sich streiten. An dieser,
dem Korrelat des Sammlerfeinsinns, fehlt es ihm keineswegs; er
urteilt über Vasen so kategorisch von oben herab wie nur je ein
Professor nach seinen unveräußerlichen Gesetzen des Schönen:
»Den entschieden häßlichen Eindruck dieser Stücke bewirkt weder
eine unmittelbare Sünde gegen die Anschaulichkeit noch eine gegen
die Praxis; denn warum sollte ein Gefäß nicht nach mehreren Seiten
gekippt werden?« 5 Oder er postuliert, daß »Henkel und Schnabel
einander anschaulich als Endpunkte des Gefäßdurchmessers
korrespondieren und ein gewisses Gleichgewicht halten müssen« 6 ,
unbekümmert um die Möglichkeit, es vermöchte die Konstruktion
einer Form oder sogar die Rücksicht auf Zweckmäßigkeit andere
Anordnungen hervorzubringen als derlei symmetrische. Dem
Geschmack, der obersten Erhebung solcher Ästhetik, ist die
Geschmacklosigkeit immanent, die auch von Hausgreueln nicht aus
ihrer reifen Contenance gebracht wird: »Solches Intervall zwischen
Vase und Henkel pointiert sich stärker in der häufigen Form: daß
der Henkel als Schlange, Eidechse, Drache gestaltet ist.« 7
Erstaunliche Ansätze eines Programms neuer Sachlichkeit, welche
die Arbeit dort enthält, wo sie die sogenannte ästhetische Wirkung
durch mangelnde Zweckmäßigkeit beeinträchtigt sieht, werden
dadurch entwertet. Die Fehlleistungen entspringen darin, daß das
Bedürfnis philosophischer Entäußerung, des Verschwindens im
Objekt, sich verzerrt zur prompten Fähigkeit und Bereitschaft, über
alles und jedes zu philosophieren. Das dürftige Skelett invarianter
Grundbegriffe wie Form und Leben und die Blindheit für das am
Phänomen, was Philosophie erst einzuholen hätte, entsprechen sich
dabei. Nur die unnachgiebige theoretische Kraft in sich reich
ausgebildeter Philosophie ist fähig zu jener Nachgiebigkeit den
Objekten gegenüber, welche diese dechiffrierte. An ihre Stelle tritt
bei Simmel Bildung. Sie nimmt mit dem Vorrat approbierter Güter
vorlieb, den der Geist gleichwie in einem Fayencenschrank anhortet;
im Essay über den Henkel ist nur von wohlgefälligen objets d'art die
Rede, nichts Vorweltliches wird der wählerischen Aufmerksamkeit
gewürdigt. Simmels Philosophie bedient sich, wie Brecht allem
Feinsinn gegenüber es zu nennen pflegte, des Silbergriffels; die
Fiber des Gedankens kapituliert vorm Kunstgewerbe. Wohl entgeht
dem Klugen nicht, daß die imago der Vase etwas mit dem
Menschen zu tun hat, aber es bleibt beim Einfall des Vergleichs. Er
hütet sich, durch die Versenkung ins Inkommensurable des Objekts
zu entdecken, was dem Menschen an ihm selber verborgen wäre,
und was er vom Objekt nicht ohnehin schon weiß. Der Blochische
Text aber steht unter dem Obertitel: Die Selbstbegegnung.
Vom Simmelschen unterscheidet er sich, prima vista, durchs
Tempo. Kein Gedanke wird exponiert oder in besinnlichen
Ausführungen abgewandelt. Wie unterm Zwang der neuen Musik,
seit Schönberg, auch ältere weit schneller muß gespielt werden, um
das spekulative Ohr nicht durch Verweilen beim
Selbstverständlichen zu beleidigen, so hat Ernst Blochs spekulativer
Kopf es eilig. Die zwei Seiten lassen sich keine Zeit, atemlos
bewegen sie sich zwischen den Extremen schildernder Beschreibung
eines Kruges, eines Besonderen, und der abenteuerlichen
Spekulation, vielmehr deren unausdrücklicher Gewalt. Bloch nennt
den Weg seines ungesättigten Blicks: »Auch hier fühlt man sich, in
einen langen sonnenbeschienenen Gang mit einer Tür am Ende
hineinzusehen.« 8 Das Tempo ist mehr als bloß Medium subjektiv
erregten Vortrags. Seine Heftigkeit ist die des Auszudrückenden,
jenes Durchbruchs, der, offen oder latent, das Thema jeden Satzes
bildet, den Bloch je geschrieben hat und den er, durch die Figur der
Rede, beschwören möchte. Vergleichbar wäre dies Tempo dem
expressionistischen, verkürzenden. Philosophisch notiert es eine
veränderte Stellung zum Objekt. Nicht länger kann es ruhig,
gelassen betrachtet werden. Es wird, wie im emanzipierten Film, mit
bewegter Kamera gedacht. Die bürgerliche Ordnung der
Erfahrungen, mit scheinbar fester Distanz zwischen dem
Betrachteten und dem Betrachter, ist, für die Innervationen solcher
Philosophie, dahin, mitten im Ersten Krieg. Erschütterung im
Verhältnis des Subjekts zu dem, was es sagen will, verändert die
Idee von Wahrheit selber. Dadurch wird die Darstellung, in der
Philosophie, außer der Nietzsches, längst akademisch
vernachlässigt, zum erstenmal wieder wesentlich für die Sache.
Hatte Hegel den Begriff der Vermittlung der Ansicht entrissen, sie
sei ein Mittleres zwischen Verschiedenem, und sie ins Inwendige
der Sachverhalte verlagert, die unterm saugenden Blick des
Arguments lebendig und zu ihrem eigenen Anderen werden, so hat
Bloch diese Struktur des Gedankens erstmals in die literarische
Form der Philosophie umgesetzt. Nichts provoziert, bis heute, so
sehr die Wut aller mittleren Intellektuellen auf ihn wie die
Verschiebung der Perspektive und des Tempos ins Wie des
Gedachten. Das Postulat seines Tempos ist eins mit dem von Dichte.
Der philosophische Betrieb hat nicht Vermögen und Kraft
aufgebracht, der gleichwohl als unabweislich gespürten Forderung
zu genügen. Deshalb wird sie von der Rancune als
unwissenschaftlich angeschwärzt.
Die Lebensumstände, unter denen der junge Bloch
philosophierte, waren von den Simmelschen gar nicht so weit weg.
Es geht nicht zu wie bei armen Leuten: »Die Wand ist grün, der
Spiegel golden, das Fenster schwarz, die Lampe brennt hell« 9 , und
der Krug, den Bloch schildert, ist »nicht nur einfach warm oder gar
so fraglos schön wie die anderen edlen alten Dinge« 10 . Er wird
deren viele besessen haben, vielleicht ein Sammler wie Benjamin.
Aber denkend verhält er zum Gesammelten schon nicht sich wie zu
Besitz; eher wie ein Allegoriker zu den ihn umgebenden, ihm
beredten Emblemen, oder gar wie ein Mystiker zu den
Handschriften, die er manisch fortschleppt, damit sie ihm sich
enträtseln. Die veränderte Erfahrung bescheidet sich nicht mehr mit
der herkömmlichen von der ästhetischen Form, die man
verphilosophierte. Hegelisch reißt Blochs Erfahrung den Inhalt in
sich hinein. Schön sind ihm nicht länger die Maßverhältnisse seines
Kruges, sondern was, als dessen Werden und Geschichte, in ihm
sich aufgespeichert hat, was darin verschwand, und was der Blick
des Denkenden, so zart wie aggressiv, zum Leben erweckt. Der
Krug, den er meint, ist kein »kostbares antikes Exemplar«, nicht
»glänzend erhalten, enghalsig, bewußt modelliert, mit vielen Rillen,
schön frisiertem Kopf auf dem Hals und einem Wappen auf dem
Bauch« 11 . Kaum wird fehlgehen, wer aus Blochs Abneigung gegen
Kunstwerke, die im Bann des Feinsinns aufhören, es zu sein,
Polemik gegen Simmel heraushört: »Doch wer ihn liebt, der
erkennt, wie oberflächlich die kostbaren Krüge sind, und er zieht
das braune, ungeschlachte Gerät, fast ohne Hals, mit wildem
Männergesicht und einem bedeutenden, schneckenartigen,
sonnenhaften Zeichen auf der Wölbung, diesen Brüdern vor.« 12 Das
Blochische Tempo: das ist auch Ungeduld mit der Kultur, die
aufschiebt und verhindert, was jetzt und hier sein sollte. Ihm ist das
halbbarbarische Stück lieber und krud Stoffliches wie der wilde
Mann, der mehr vom Geheimnis – dem Geheimnis gegen den Tod –
verkörpert als alle gelungene Immanenz. Man kann, am parti pris
des Philosophen, drastisch sich vergegenwärtigen, wie identische
Motive, in der geschichtlichen Bewegung, konträre Funktion und
Bedeutung anzunehmen vermögen. In seiner Liebe zu dem
ungeschlachten Ding verschmäht Bloch nicht Formulierungen wie
die von »guter bodenständiger Handarbeit«. Die Sympathie mit dem
Bäuerlichen, der Blochische Archaismus, paßt zu dem der radikalen
Expressionisten, die im Blauen Reiter bayerische Bauernkunst
reproduzierten. Abgesagt wird dem mittleren geformten Wesen um
eines Absoluten, dem Subjekt nicht länger Unversöhnten willen,
äußerstes Gegenteil dessen, was aus derlei Archaismus in der Blut-
und Bodenideologie wurde. Das Uralte, Urvergessene spricht dieser
Intention vom noch nicht Gewesenen, erst Herzustellenden, das von
der Ordnung der Kultur verstellt wird, die über das unvollkommene
und mit seiner Unvollkommenheit fragende Gebilde billig
triumphierte. Der alte Krug, schließt Bloch, »hat nichts
Künstlerisches an sich, aber mindestens so müßte ein Kunstwerk
aussehen, um eines zu sein« 13 .
Eine Dimension wird aufgestoßen, die der Philosophie, seit dem
Überschwang ihrer spekulativen Tage, tabu war und die sie dem
Apokryphen eingeräumt hatte, bis hinab zu jenem Rudolf Steiner,
von dem das Utopiebuch nicht ohne ironischen Respekt redet. Das
Desperate, welches das spekulative Element annimmt, sobald es aus
der Dialektik herausfällt, tönt in Blochs Musik als die sich
übertreibende Leidenschaft zur Möglichkeit, die inmitten des
Wirklichen als unmöglich unterliegt. Wie jeder menschenwürdige
Gedanke gedeiht der Blochische am Rand des Mißlingens: hart an
der Sympathie fürs Okkulte. Sie ist gebrochen nur dadurch, daß von
der Zeit, »da noch der Schlappohr und der feurige Mann auf den
abendlichen Feldern der rheinfränkischen Gegend gesehen worden
sein sollen« 14 , mit der Sehnsucht nach einem unwiederbringlich
Vergangenen, so im Ernst nicht zu Ersehnenden gesprochen wird.
Die Blochische neue Dimension ist doch nicht die arge alte vierte.
Simmel hatte seine Vase, im tertium comparationis des abstrakten
Begriffs, mit dem Menschenwesen verglichen, von dem da gefordert
sei, »seine Rolle in der organischen Geschlossenheit des einen
Kreises zu bewahren, indem es zugleich den Zwecken jener
weiteren Einheit dienstbar wird und durch solche Dienstbarkeit den
engeren Kreis in den umgebenden einordnen hilft« 15 . Wald- und
Wiesenmetaphysik dieses Typus ist bei Bloch verbrannt. Mensch
und Krug gleichen sich nicht in ihrer dünnen Doppelzugehörigkeit
zu den Welten ästhetischer Autonomie und praktischer
Zweckmäßigkeit. Der Krug Blochs bin ich selber, wörtlich und
unmittelbar, dumpfes Muster dessen, was ich werden könnte und
nicht sein darf: »Wohl aber kann ich krugmäßig geformt werden,
sehe mir als einem Braunen, sonderbar Gewachsenen, nordisch
Amphorahaften entgegen, und dieses nicht nur nachahmend oder
einfach einfühlend, sondern so, daß ich darum als mein Teil reicher,
gegenwärtiger werde, weiter zu mir erzogen an diesem mir
teilhaftigen Gebilde.« 16 Was die Höhlentiefe des Krugs ausdrückt,
ist kein Gleichnis; wäre man darin, so suggeriert Bloch, so wäre
man im Ding an sich, in dem am Menschenwesen, was vor der
Introspektion zurückweicht. Das Artefakt verkörpert, in seinem
unergründlichen Inneren, denen, die es machten, leibhaftig-geistig
das von ihnen Versäumte. Gegenstand von Kontemplation ist es
auch darum nicht länger, weil es von ihnen will, was sie
unwillentlich in seine Gestalt hineinsenkten. Kunst, die Kantische
Sphäre interesselosen Wohlgefallens, wird aus dieser erlöst, nicht
indem das einzelne Gebilde reale Tendenzen verfolgt, sondern
indem die ganze Sphäre ästhetischer Transzendenz einsteht für die
wahrhafte, scheinlose.
Darüber wird das Staunen wiedergefunden, aber eines vor den
einzelnen Dingen, kein platonisches; ein Staunen, gesättigt mit
Nominalismus und zugleich in heftigem Widerstand gegen die
Macht der Konvention, die trübe Brille ist vorm Auge und
Staubschicht auf dem Objekt. Die verwegene Reflexion will dem
Gedanken anschaffen, was vorsichtige Reflexion ihm austrieb,
Naivetät. Denn wie, nach den Worten von Blochs Meister, kein
Unmittelbares zwischen Himmel und Erde ist, das nicht vermittelt
wäre, so ist auch kein Vermitteltes, ohne daß der Begriff der
Vermittlung ein Moment des Unmittelbaren involvierte. Diesem gilt
unermüdlich Blochs Pathos. Er fragt den Krug: Was ist das; nicht
wie der Katechismus, der dem Bauernlümmel einhämmern will, was
er zu glauben habe, und ihn noch übertölpelt, indem er ihm einredet,
die Wiederholung sei der verborgene Sinn: vielmehr lehrt er die
Insistenz vorm Unbekannten, Ungewußten, gleichwohl Gewußten:
»Es ist schwer zu ergründen, wie es im dunklen, weiträumigen
Bauch dieser Krüge aussieht. Das möchte man hier wohl gerne inne
haben. Die dauernde, neugierige Kinderfrage geht wieder auf. Denn
der Krug ist dem Kindlichen nahe verwandt.« 17 Keine Ontologie
soll aus dem Bauch zutage gefördert werden. Gezielt ist darauf:
wüßte man nur recht, was der Krug, in seiner Dingsprache, sagt und
wiederum verbirgt, so wüßte man, was zu wissen wäre und was die
Disziplin zivilisatorischen Denkens, mit dem Gipfel von Kants
Autorität, dem Bewußtsein zu fragen verboten hat. Dies Geheimnis
wäre das Gegenteil dessen, was immer so war und immer so sein
wird, der Invarianz: das, was einmal endlich anders wäre.
Das jedoch steht nicht, mit soviel Worten, in dem kurzen
Blochischen Text. Während mir jenes Was ist das als Inhalt des
›Alten Krugs‹ unauslöschlich gegenwärtig war, habe ich, was ich
daraus las, bei erneuter Lektüre nach mehr als vierzig Jahren, nicht
darin finden können. Mystisch ist es in dem Text verschwunden.
Der Gehalt des Textes hat erst in der Erinnerung ganz sich entfaltet.
Viel mehr enthält er, als er enthält, und nicht nur im vagen Sinn
potentiell sich anschließender Assoziationen. Unzweideutig
kommuniziert er, was er eindeutig zu kommunizieren sich weigert.
Das ist der ganze Bloch. Die Verwandlung im Eingedenken dessen,
was er schrieb, bestätigt seine eigene Philosophie. Er könnte eine
chassidische Geschichte erfinden, die von jener Verwandlung
erzählt.
 Fußnoten
 
1 Georg Simmel, Philosophische Kultur. Gesammelte Essais, 3.
Aufl., Potsdam 1923, S. 127.
 
2 a.a.O., S. 126.
 
3 a.a.O., S. 132.
 
4 a.a.O., S. 134.
 
5 a.a.O., S. 130.
 
6 a.a.O., S. 132.
 
7 a.a.O., S. 128.
 
8 Ernst Bloch, Geist der Utopie, München, Leipzig 1918, S. 14f.
 
9 a.a.O., S. 13.
 
10 a.a.O.
 
11 a.a.O.
 
12 a.a.O.
 
13 a.a.O., S. 15.
 
14 a.a.O., S. 14.
 
15 Simmel, a.a.O., S. 133.
 
16 Bloch, a.a.O., S. 14.
 
17 a.a.O.
 
 Einleitung zu Benjamins ›Schriften‹
Die Veröffentlichung einer umfangreichen Ausgabe von Schriften
Walter Benjamins 1 soll deren sachlicher Bedeutung gerecht werden.
Absicht ist weder, bloß das Lebenswerk eines Philosophen oder
Gelehrten einzusammeln, noch einem, der als Opfer der
nationalsozialistischen Verfolgung starb und dessen Name seit 1933
aus dem deutschen öffentlichen Bewußtsein verdrängt ward,
Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Der Begriff des Lebenswerks,
so wie er dem neunzehnten Jahrhundert vertraut war, ist Benjamin
unangemessen; fraglich, ob ein solches Werk, das ein aus den
eigenen Voraussetzungen bruchlos vollbrachtes Leben erheischt,
heute irgendeinem vergönnt wird; gewiß aber, daß Benjamin die
geschichtlichen Katastrophen seiner Zeit die runde Einheit des
Gestalteten verwehrten und seine gesamte Philosophie, nicht erst
den großen Entwurf seiner späteren Jahre, auf den er alles setzte,
zum Fragmentarischen verurteilten. Der Versuch, ihn gerade darum
vor der drohenden Vergessenheit zu schützen, wäre freilich legitim
genug: der einem kleinen Kreis längst vertraute Rang von Texten
wie dem über ›Goethes Wahlverwandtschaften‹ oder über den
›Ursprung des deutschen Trauerspiels‹ böte gewiß allen Anlaß, das
über Jahrzehnte Verlorene wieder zugänglich zu machen. Nur hätte
ein solcher Versuch geistiger Wiedergutmachung ein Moment der
Ohnmacht, das keiner härter gegen sich selbst würde erkannt haben
als Benjamin, der des Kinderglaubens an die geschichtslose
Unveränderlichkeit und Dauer geistiger Gebilde tapfer sich
entschlagen hatte. Was vielmehr den Entschluß zur Herausgabe
eines oeuvre motiviert, das dessen Autor sich eher »in
Marmorgrüften« verborgen hätte wünschen mögen, aus denen es
eines besseren Tages ausgegraben würde, ist ein Versprechen, das
von Benjamin, dem Schriftsteller und der Person, ausging, und an
das zu erinnern um so dringlicher ward, als die übermächtigen
Gewalten des Tatsächlichen heute verschworen scheinen, nichts
dergleichen mehr aufkommen zu lassen; eine Faszination einziger
Art. Sie rührt nicht von Geist, Fülle, Originalität und Tiefe allein
her. Sondern Benjamins Gedanken leuchten in einer Farbe, die im
Spektrum der Begriffe kaum vorkommt und die einer Ordnung
angehört, gegen die sonst das Bewußtsein sich sogleich abblendet,
um nicht der gewohnten Welt und ihrer Zwecke überdrüssig zu
werden. Was Benjamin sagte und schrieb, klang, als käme es aus
dem Geheimnis. Seine Macht aber empfing es durch Evidenz. Es
blieb frei vom Gehabe der Geheimlehre und des Eingeweihtseins;
niemals übte Benjamin »privilegiertes Denken« 2 . Zwar hätte man
ihn sich gut als Magier mit hohem spitzen Hut vorstellen können,
und er hat wohl auch seinen Freunden zuweilen Gedanken
überreicht wie kostbare und zerbrechliche Zauberdinge, aber es war
doch allen, noch den fremdesten und abenteuerlichsten, stets
schweigend etwas wie eine Anweisung darauf beigesellt, daß das
wache Bewußtsein eben jener Erkenntnisse mächtig werden könnte,
wenn es nur wach genug wäre. Seine Sätze beriefen sich nicht auf
Offenbarung, sondern auf einen Typus von Erfahrung, der vom
allgemeinen einzig dadurch sich unterschied, daß er die
Einschränkungen und Verbote nicht respektierte, unter die das
zugerichtete Bewußtsein sich sonst beugt. Benjamin hat in keiner
seiner Äußerungen die Grenze anerkannt, die allem neuzeitlichen
Denken selbstverständlich ward, das Kantische Gebot, nicht in
intelligible Welten auszuschweifen oder, wie Hegel aufbegehrend es
nannte, dorthin, wo »böse Häuser« sind. So wenig wie das sinnliche
Glück, das von der traditionellen Moral der Arbeit verpönt ist, läßt
Benjamins Denken dessen geistigen Gegenpol, die Beziehung aufs
Absolute, sich verwehren. Denn untrennbar ist Übernatur von der
Erfüllung des Natürlichen. Daher spinnt Benjamin die Beziehung
aufs Absolute nicht aus dem Begriff heraus, sondern sucht sie in
leibhafter Fühlung mit den Stoffen. Alles, wogegen sonst die
Normen der Erfahrung sich verstocken, soll Benjamins Impuls
zufolge der Erfahrung zuteil werden, wofern sie nur auf der eigenen
Konkretion besteht, anstatt diese, ihr unsterbliches Teil, zu
verflüchtigen, indem sie es dem Schema des abstrakt Allgemeinen
unterwirft. Benjamin hat sich damit in schroffen Gegensatz zur
gesamten neueren Philosophie gesetzt, den einen Hegel vielleicht
ausgenommen, der wußte, daß eine Grenze aufrichten immer auch
sie überschreiten heißt, und er hat es denen bequem gemacht, die
seinen Gedanken die Verbindlichkeit bestreiten, sie als Einfälle,
bloß subjektiv, bloß ästhetisch, oder als bloße metaphysische
Weltanschauung abtun möchten. So quer stand er zu derlei
Kriterien, daß es ihm nicht einmal einfiel, gegen ihren
Geltungsanspruch wie Bergson sich zu verteidigen; er hat es auch
verschmäht, eine besondere Erkenntnisquelle vom Schlag der
Intuition für sich zu beanspruchen. Er faszinierte dadurch, daß die
geläufigen Einwände gegen die keineswegs auf all ihre Stufen
zurückzuverfolgende, aber oft schlagende Evidenz seiner Erfahrung
etwas töricht Fuchtelndes, Apologetisches, den Ton des »Ja aber«,
annahmen. Sie klangen wie bloße Anstrengungen des
konventionellen Bewußtseins, sich gegen das Unwiderlegliche,
gegen eine Lichtquelle zu behaupten, die stärker war als die
Schutzhülle der aufs Bestehende eingeschworenen Rationalität.
Alles eher als irrational, hat doch Benjamins Philosophie jene
Rationalität ohne Polemik, durch ihr bloßes Dasein der eigenen
Dummheit überführt. Nicht aus Mangel an Kenntnis oder aus
undisziplinierter Phantasie ignorierte er die philosophische Tradition
und die gängigen Regeln der Wissenschaftslogik, sondern weil er in
ihr ein Steriles, Vergebliches, Ausgelaugtes argwöhnte, und weil die
Gewalt der unverkümmerten, nicht zugerichteten Wahrheit zu
mächtig in ihm war, als daß er sich durch den erhobenen
Zeigefinger intellektueller Kontrolle hätte einschüchtern lassen.
Die Philosophie Benjamins fordert das Mißverständnis heraus,
sie als Folge unverbundener oder dem Zufall von Tag und Reiz
gehorchender Aperçus zu konsumieren und zu entschärfen. Dagegen
ist nicht bloß der angespannt spirituelle, allem molluskenhaften
Reagieren noch inmitten der sinnlichsten Gegenstände ganz konträre
Charakter seiner Einsichten zu halten. Sondern eine jegliche besitzt
ihren Stellenwert inmitten einer außerordentlichen Einheit des
philosophischen Bewußtseins. Nur hat diese Einheit ihr Wesen
darin, nach außen zu gehen, sich zu gewinnen, indem sie sich
wegwirft an das Viele. Maß der Erfahrung, die jeglichen Satz
Benjamins trägt, ist die Kraft, das Zentrum unablässig in die
Peripherie zu setzen, anstatt das Periphere, wie es die Übung der
Philosophen und der traditionellen Theorie verlangen, aus dem
Zentrum zu entwickeln. Wenn Benjamins Denken nicht die Grenze
von Bedingtem und Unbedingtem achtet, so erhebt es umgekehrt
auch nicht den Anspruch des abschlußhaft Totalen, der überall dort
laut wird, wo Denken seinen eigenen Kreis, den Herrschaftsbereich
von Subjektivität absteckt, um darin souverän zu schalten. Seine
spekulative Methode trifft sich paradox mit der empirischen. In der
Vorrede des Trauerspielbuchs hat er eine metaphysische Rettung
des Nominalismus unternommen: durchweg wird bei ihm nicht von
oben nach unten geschlossen, sondern auf eine exzentrische Weise
gerade »induktiv«. Philosophische Phantasie ist ihm die Fähigkeit
zur »Interpolation im Kleinsten«, und eine Zelle angeschauter
Wirklichkeit wiegt ihm – auch dies seine eigene Formel – den Rest
der gesamten Welt auf. Der Vermessenheit des Systems ist
Benjamin so fern wie der Resignation im Endlichen; ja beides dünkt
ihm zuinnerst das gleiche; Systeme entwerfen das vergebliche
Trugbild jener in der Theologie beheimateten Wahrheit, auf deren
treue und radikale Übersetzung ins Säkulare er aus ist. Seiner Kraft
zur Selbstentäußerung entspricht unterirdisch ein Maulwurfsbau
allverbindender Stollen. Der klassifizierenden
Oberflächenorganisation mißtraute er aufs tiefste: in ihr fürchtete er,
nach der Märchenwarnung, das Beste zu vergessen. War Benjamins
Dissertation einem zentralen theoretischen Aspekt der frühen
deutschen Romantik gewidmet, so ist er in einem Friedrich Schlegel
und Novalis sein Leben lang verpflichtet geblieben, in der
Konzeption des Fragments als philosophischer Form, die gerade als
brüchige und unvollständige etwas von jener Kraft des Universalen
festhält, welche im umfassenden Entwurf sich verflüchtigt. Daß
Benjamins Werk fragmentarisch blieb, ist also nicht bloß dem
widrigen Schicksal zuzuschreiben, sondern war im Gefüge seines
Denkens, in seiner tragenden Idee von je angelegt. Noch das
umfangreichste Buch, das von ihm existiert, der ›Ursprung des
deutschen Trauerspiels‹, ist, trotz sorgfältigster Architektur im
großen, so gebaut, daß jeder der dicht gewobenen und in sich
undurchbrochenen Abschnitte gleichsam Atem schöpft, von neuem
anhebt, anstatt nach dem Schema des durchlaufenden
Gedankengangs in den nächsten zu münden. Dies literarische
Kompositionsprinzip vertritt kaum einen geringeren Anspruch als
den, Benjamins Vorstellung von der Wahrheit selber auszudrücken.
Diese ist für ihn so wenig wie für Hegel die bloße Angemessenheit
des Gedankens an die Sache – kein Stück von Benjamin gehorcht je
diesem Kriterium –, sondern eine Konstellation von Ideen, die, so
mag es ihm vorgeschwebt haben, mitsammen den göttlichen Namen
bilden, und diese Ideen kristallisieren sich jeweils im Detail als in
ihrem Kraftfeld.
Benjamin gehört zu der philosophischen Generation, die
allenthalben aus Idealismus und System auszubrechen trachtete, und
es fehlt nicht an Beziehungen zu den älteren Repräsentanten solcher
Bemühung. Mit der Phänomenologie verbindet ihn zumal in seiner
Jugend das Verfahren der objektiv-bedeutungsanalytischen, an der
Sprache ausgerichteten, der willkürlichen Festsetzung von Termini
entgegengesetzten Bestimmung von Wesenheiten. Die ›Kritik der
Gewalt‹ steht exemplarisch für dies Verfahren ein. Stets hat
Benjamin über eine altertümlich strenge Kraft der Definition
verfügt, von der des Schicksals als des »Schuldzusammenhangs von
Lebendigem« 3 bis zu der späten der »Aura« 4 . – An die Georgesche
Schule, der er mehr verdankt, als der Oberfläche des von ihm
Gelehrten sich anmerken ließe, gemahnt ein Bannendes, Bewegtes
zum Einstand Zwingendes seiner philosophischen Gestik, jene
Monumentalität des Momentanen, die eine der maßgebenden
Spannungen seiner Denkform ausmacht. – Simmel, dem
Antisystematiker, ist verwandt sein Bestreben, Philosophie aus der
»Eiswüste der Abstraktion« herauszuführen und den Gedanken in
konkrete geschichtliche Bilder hineinzutragen. – Unter den
Gleichaltrigen trifft er sich mit Franz Rosenzweig in der Tendenz,
Spekulation in theologische Lehre umschlagen zu lassen; mit dem
Ernst Bloch des ›Geists der Utopie‹ in der Konzeption des
»theoretischen Messianismus«, in der Unbekümmertheit um die
kritizistische Grenze des Philosophierens wie in der Absicht,
innerweltliche Erfahrung als Chiffre transzendenter zu
interpretieren. Aber gerade von den Philosophemen, mit denen er als
mit Zeitströmungen übereinzukommen schien, hat er sich am
energischsten distanziert. Lieber hat er Elemente eines ihm fremden
und bedrohlichen Denkens wie eine Schutzimpfung sich einverleibt,
als sich einem Ähnlichen zu überantworten, in dem er die
Komplizität mit dem Bestehenden und Offiziellen unbestechlich
auch dort noch gewahrte, wo man sich gebärdete, als wäre der erste
Tag angebrochen und man hätte neu zu beginnen. Von Husserl
pflegte er, dessen spekulative Verwegenheit mit Resten eines
schulgerechten Neukantianismus, ja scholastischer Distinktionen
seltsam gepaart war, zu sagen, er verstünde ihn nicht; für Scheler
hegten er und Scholem den Spott jüdisch-theologischer Tradition
gegen die Auferstehung der Metaphysik auf dem Markt. Was ihn
aber von allem irgend Parallelen seiner Epoche zuinnerst
unterschied, war das spezifische Gewicht des Konkreten in seiner
Philosophie. Er hat das Konkrete niemals zum Beispiel für den
Begriff herabgewürdigt, nicht einmal zur »Symbolintention«, der
messianischen Spur inmitten der verstrickten natürlichen Welt,
sondern hat den unterdessen zur Ideologie und zum Obskurantismus
verkommenen Konkretionsbegriff so wörtlich genommen, daß er
schlechterdings untauglich ward für alle jene Manipulationen, die
damit heutzutage im Namen von Auftrag und Begegnung, von
Anliegen, Echtheit und Eigentlichkeit betrieben werden. Er war aufs
höchste empfindlich gegen die Versuchung, im Schutz konkreter
Aussagen unlegitimierte Begriffe als substantiell und
erfahrungshaltig einzuschmuggeln, indem das Konkrete
stillschweigend als bloßes Exemplar seines bereits vorgedachten
Begriffs unterschoben wird. Soweit es dem Denken überhaupt nur
verstattet ist, hat er stets die Knotenpunkte des Konkreten, das
Unauflösliche daran, das, worin es wahrhaft zusammengewachsen
ist, als Gegenstand gewählt. In aller zarten Hingabe an die Sachen
beißt seine Philosophie unablässig sich die Zähne aus an den
Kernen. Insofern hängt sie unausdrücklich mit Hegel zusammen,
permanente Anstrengung des Begriffs, bar jeglichen Vertrauens auf
die selbsttätigen Mechanismen eines die Objekte bloß
überspinnenden Kategorisierens. Im äußersten Gegensatz zur
zeitgenössischen Phänomenologie will Benjamin – wenn er nicht
gerade, wie im Barockbuch, Intentionen wie die allegorische
ausdrücklich behandelt – nicht durchs Denken Intentionen
nachzeichnen, sondern sie aufknacken und ins Intentionslose stoßen,
wo nicht gar, in einer Art von Sisyphusarbeit, das Intentionslose
selber enträtseln. Je größer die Zumutung, die Benjamin an den
spekulativen Begriff stellt, um so rückhaltloser, fast könnte man
sagen blinder, ist die Verfallenheit dieses Denkens an seinen Stoff.
Nicht aus Koketterie, sondern mit ganzem Ernst sagte er einmal, er
brauche eine gehörige Portion Dummheit, um einen anständigen
Gedanken denken zu können.
Die Stoffschicht aber, an die er sich band, war historisch und
literarisch. Als er noch recht jung war, in den frühen zwanziger
Jahren, hat er einmal als seine Maxime formuliert, niemals freiweg
oder, wie er es nannte, »amateurhaft« drauflos denken zu wollen,
sondern stets und ausschließlich im Verhältnis zu bereits
vorliegenden Texten. Benjamin durchschaut die idealistische
Metaphysik als Trug, insofern sie das Seiende in Identität setzt mit
einem Sinn. Zugleich jedoch ist ihm jede unvermittelte Aussage
über solchen Sinn, über Transzendenz, geschichtlich verwehrt. Das
gräbt seiner Philosophie den allegorischen Zug ein. Sie geht aufs
Absolute, aber gebrochen, mittelbar. Die ganze Schöpfung wird ihm
zur Schrift, die es zu dechiffrieren gilt, während der Code unbekannt
ist. Er versenkt sich in die Realität wie in einen Palimpsest.
Interpretation, Übersetzung, Kritik sind die Schemata seines
Denkens. Die Mauer der Worte, die er abklopft, gewährt dem
obdachlosen Gedanken Autorität und Schutz; gelegentlich sprach er
von seiner Methode als einer Parodie der philologischen. Auch
dabei ist ein theologisches Modell, die Tradition der jüdischen,
zumal mystischen Bibelauslegung nicht zu verkennen. Unter den
Operationen zur Säkularisierung der Theologie um ihrer Rettung
willen ist nicht die letzte die, profane Texte so zu betrachten, als
wären es heilige. Darin lag Benjamins Wahlverwandtschaft mit Karl
Kraus. Aber die asketische Beschränkung seiner Philosophie auf das
durch Geist bereits Vorgeformte, auf »Kultur« noch dort, wo er
wider diese provokatorisch den Begriff der Barbarei ausspielte, –
diese Beschränkung auf das vom Geist Gezeitigte, der Verzicht auf
die philosophische Befassung mit aller Unmittelbarkeit des Daseins
und aller sogenannten Ursprünglichkeit bezeugt zugleich, daß eben
die Welt des von Menschen Gemachten und gesellschaftlich
Vermittelten, die seinen philosophischen Horizont ausfüllt, sich als
Totalität vor die »Natur« geschoben hat. Daher sieht bei Benjamin
das Geschichtliche selber so aus, als wäre es Natur. Nicht umsonst
steht in seiner Interpretation des Barocks der Begriff der
»Naturgeschichte« im Mittelpunkt. Hier wie vielerorten destilliert
Benjamin aus fremdem Stoff die eigene Essenz. Das geschichtlich
Konkrete wird ihm zum »Bild« – zum Urbild von Natur wie von
Übernatur – und umgekehrt Natur zum Gleichnis eines
Geschichtlichen. »Unvergleichliche Sprache des Totenkopfes:
völlige Ausdruckslosigkeit – das Schwarz seiner Augenhöhlen –
vereint er mit wildestem Ausdruck – den grinsenden Zahnreihen«,
heißt es in der ›Einbahnstraße‹ 5 . Der eigentümliche Bildcharakter
von Benjamins Spekulation, wenn man will sein mythisierender
Zug, kommt eben daher, daß unterm Blick seines Tiefsinns
Geschichtliches in Natur sich verwandelt kraft der eigenen
Hinfälligkeit und alles Natürliche in ein Stück
Schöpfungsgeschichte. Um dies Verhältnis kreist Benjamin
unermüdlich; es ist, als wollte er das Rätsel ergründen, das
Schiffskajüten und Zigeunerwagen dem kindlichen Staunen
aufgeben, und wie für Baudelaire wird vor ihm alles zur Allegorie.
Erst am Intentionslosen fände solche Versenkung ihre Grenze, erst
in ihm würde der gestillte Begriff erlöschen, und darum erhebt er
das Denkbild zum Ideal. Aber so wenig er es auf eine
irrationalistische Philosophie abgesehen hat, weil einzig die vom
Denken bestimmten Elemente zu solcher Bildlichkeit sich zu
versammeln vermöchten, so fern sind die Benjaminschen Bilder in
Wahrheit den mythischen, wie sie etwa die Psychologie Jungs
beschreibt. Sie stellen nicht invariante Archetypen dar, die aus
Geschichte herauszuschälen wären, sondern schießen gerade durch
die Kraft der Geschichte zusammen. Benjamins mikrologischer
Blick, die unverwechselbare Farbe seiner Art Konkretion ist die
Richtung auf Geschichtliches in einem der philosophia perennis
entgegengesetzten Sinn. Sein philosophisches Interesse richtet sich
überhaupt nicht aufs Geschichtslose, sondern gerade auf das zeitlich
Bestimmteste, Unumkehrbare. Daher der Titel ›Einbahnstraße‹. Mit
Natur hängen die Benjaminischen Bilder nicht als Momente einer
sich selbst gleichbleibenden Ontologie zusammen, sondern im
Namen des Todes, der Vergängnis als der obersten Kategorie des
natürlichen Daseins, zu der Benjamins Spekulation fortschreitet.
Ewig an ihnen ist einzig das Vergängliche. Mit Recht hat er die
Bilder seiner Philosophie dialektische genannt: der Plan des Buches
›Pariser Passagen‹ visiert ebenso ein Panorama dialektischer Bilder
wie deren Theorie. Der Begriff dialektisches Bild war objektiv
gemeint, nicht psychologisch: die Darstellung der Moderne als des
Neuen, des schon Vergangenen und des Immergleichen in Einem
wäre das zentrale philosophische Thema und das zentrale
dialektische Bild geworden.
Die ungemeinen Schwierigkeiten, vor die Benjamin den Leser
stellt, sind nicht vorab solche der Darstellung, obwohl auch diese
wenigstens in den früheren Texten ihm einiges zumutet durch den
Ton der Lehre, eine Sprache, die an und für sich, kraft des Nennens
Autorität beansprucht und vielfach – darin der Phänomenologie gar
nicht unähnlich – Begründungszusammenhänge und
Argumentationen verweigert. Größer noch aber sind die
Anforderungen, die im philosophischen Gehalt entspringen. Dieser
erheischt es, Erwartungen draußen zu lassen, mit denen gemeinhin
der philosophisch Gebildete in Texte eintritt. Zunächst bestimmt der
antisystematische Impuls Benjamins die Verfahrungsweise weit
radikaler, als das sonst auch bei Antisystematikern der Fall zu sein
pflegt. Das Vertrauen auf Erfahrung in jenem besonderen Sinn, der
sich kaum allgemein umreißen, sondern erst im Umgang mit
Benjamins Gedanken gewinnen läßt, verbietet es, sogenannte
Grundgedanken auszusprechen und das andere als Konsequenz
daraus abzuleiten. Dabei läßt sich schwer ausmachen, wie weit der
Begriff des Grundgedankens von Benjamin selbst radikal verneint
ist, oder wie weit seine Neigung vorherrscht, jene Grundgedanken
zu verschweigen, um sie desto kräftiger aus dem Verborgenen
wirken zu lassen, so daß ihr Licht auf die Phänomene fällt, während
es den blenden müßte, der unmittelbar hineinblickte. Immerhin hat
Benjamin in seiner Jugend zuweilen – seinen Ausdruck zu
gebrauchen – mit offeneren Karten gespielt als später. Er selbst hielt
stets besonders große Stücke auf die kurze Arbeit ›Schicksal und
Charakter‹ und betrachtete sie als eine Art theoretischen Modells
dessen, was ihm vorschwebte. Wer sich ihm nähern möchte, wird
gut daran tun, zunächst jene Abhandlung intensiv zu studieren. Er
wird daran ebenso die tiefe, leise antiquarische Bindung Benjamins
an Kant, vor allem an dessen bündige Unterscheidung von Natur
und Übernatur gewahren, wie die unwillentliche Umbildung und
Verfremdung solcher Begriffe unterm saturnischen Blick. Denn
eben der Charakter, den Benjamin von der Ordnung des
Moralischen so nachdrücklich trennt wie den des Schicksals, ist ja
als »intelligibler«, als autonom Gesetztes bei Kant der
Bestimmungsgrund der moralischen Freiheit; woran freilich das
Benjaminsche Motiv, daß im Charakter Übernatur, der Mensch, dem
mythisch Amorphen sich entringt, doch auch wiederum anklingt. Da
man lange nach der Entstehung dieser relativ frühen Arbeit um eine
ontologische Auslegung von Kant sich bemühte, so steht heute wohl
der Hinweis an, daß unter jenem medusischen, zum Erstarren
zwingenden Blick Benjamins das durch und durch funktionale, auf
»Tätigkeiten« abzielende Denken Kants vorweg zu einer Art
Ontologie gefror. Die bei Kant durch die eine Vernunft miteinander
verbundenen und noch in ihrem Gegensatz sich wechselfältig
bestimmenden Begriffe des Phänomenalen und Noumenalen werden
bei Benjamin zu Sphären einer theokratischen Ordnung. In solchem
Geiste aber hat er, was immer an Bildung in seinen Umkreis trat,
umgeformt – wie wenn die Form seiner geistigen Organisation und
die Trauer, mit der seine Natur die Idee von Übernatur, von
Versöhnung konzipierte, allem, was er ergriff, einen Schimmer des
Totenhaften hätte verleihen müssen. Selbst der Begriff der
Dialektik, dem er in seiner späteren, materialistischen Phase sich
zuneigte, trägt solche Züge. Nicht umsonst ist es eine Dialektik von
Bildern anstatt einer des Fortgangs und der Kontinuität; eine
»Dialektik im Stillstand«, deren Namen er übrigens fand, ohne zu
wissen, daß Kierkegaards Melancholie ihn längst beschworen hatte.
Der Antithese des Ewigen und des Historischen entrann er durch das
mikrologische Verfahren, durch Konzentration aufs Kleinste, darin
die geschichtliche Bewegung innehält und zum Bilde sich
sedimentiert. Man versteht Benjamin nur dann richtig, wenn man
den Umschlag äußerster Bewegtheit in ein Statisches, ja die
statische Vorstellung von der Bewegung selber, hinter jedem seiner
Sätze spürt; er prägt auch das spezifische Wesen seiner Sprache. In
den entscheidenden Thesen über den Begriff der Geschichte, die
dem Komplex des Spätwerks ›Pariser Passagen‹ angehören, hat er
am Ende unumwunden von seiner philosophischen Idee geredet und
dabei dynamische Begriffe wie den des Fortschritts kraft seiner
unvergleichlichen, einzig vielleicht der photographischen
Momentaufnahme ähnlichen Erfahrung überflügelt. – Sucht man,
außer der frühen Abhandlung und den mit äußerster Anstrengung,
wohl schon im Angesicht der letzten Gefahr niedergeschriebenen
Thesen weiter nach Schlüsseln, so wäre am ehesten noch die ›Kritik
der Gewalt‹ zu nennen, in der die Polarität von Mythos und
Versöhnung so mächtig hervortritt. In der Dissoziation ins Gestalt-
und Subjektlose hier und das aller natürlichen Ordnung Entzogene,
die Gerechtigkeit dort, zergeht bei Benjamin alles, was sonst als
Dynamik, Entwicklung, Freiheit die mittlere Welt des Humanen
bildet. Kraft solcher Dissoziation ist Benjamins Philosophie in der
Tat unmenschlich: der Mensch ist eher ihr Ort und Schauplatz als
ein aus sich heraus und für sich selber Seiendes. Der Schauder vor
diesem Aspekt definiert wohl die innerste Schwierigkeit der
Benjaminschen Texte. Selten rühren geistige Schwierigkeiten vom
bloßen Mangel an Verständlichkeit her; sie sind meist Folgen eines
Choks. Vor Benjamin zuckt zurück, wer sich nicht Gedanken
überantworten mag, in denen er fürs vertraute Bewußtsein von sich
selbst tödliche Gefahr wittert. Erst dem kann die Lektüre Benjamins
fruchtbar und glückvoll geraten, der dieser Gefahr ins Auge sieht,
ohne sogleich darauf sich zu versteifen, mit solcher Denaturierung
des Daseins wolle man nichts zu schaffen haben. Bei Benjamin
entspringt das Rettende wahrhaft erst wo Gefahr ist.
Die innere Zusammensetzung seiner Prosa ist unbequem auch in
der Verbindung der Gedanken, und nirgends ist es notwendiger als
hier, falsche Erwartungen wegzuräumen, wenn man nicht in die Irre
geraten will. Denn die Benjaminsche Idee in ihrer Strenge schließt
wie Grundmotive so auch deren Entwicklung, Durchführung, den
ganzen Mechanismus von Voraussetzung, Behauptung und Beweis,
von Thesen und Resultaten aus. So wie die Neue Musik in ihren
kompromißlosen Vertretern keine »Durchführung«, keinen
Unterschied von Thema und Entwicklung mehr duldet, sondern
jeder musikalische Gedanke, ja jeder Ton darin gleich nahe zum
Mittelpunkt steht, so ist auch Benjamins Philosophie »athematisch«.
Dialektik im Stillstand bedeutet sie auch insofern, als sie in sich
eigentlich keine Entwicklungszeit kennt, sondern ihre Form aus der
Konstellation der einzelnen Aussagen empfängt. Daher ihre
Affinität zum Aphorismus. Zugleich jedoch erfordert das
theoretische Element Benjamins stets wieder große gedankliche
Zusammenhänge. Seine Form hat er einem Gewebe verglichen, und
ihr überaus verschlossener Charakter wird davon bedingt: die
einzelnen Motive sind aufeinander abgestimmt und ineinander
verschlungen ohne Rücksicht darauf, durch ihre Folge einen
Denkprozeß abzubilden, etwas »mitzuteilen« oder den Leser zu
überzeugen: »Überzeugen ist unfruchtbar.« 6 Sucht man in
Benjamins Philosophie nach dem, was herauskommt, so wird man
notwendig enttäuscht; sie befriedigt nur den, der so lange darüber
brütet, bis er findet, was ihr innewohnt: »Da eines abends wird das
werk lebendig«, wie in Georges Teppich. In späteren Jahren, unter
der Wirkung der materialistischen Injektionen, hat Benjamin das
unkommunikative Element, das in den früheren Schriften keine
Rücksicht kennt und in der höchst bedeutenden Arbeit ›Die Aufgabe
des Übersetzers‹ den verbindlichsten Niederschlag gefunden hat,
ausscheiden wollen; ›Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
Reproduzierbarkeit‹ beschreibt nicht nur die
geschichtsphilosophischen Zusammenhänge, die jenes Element
auflösen, sondern enthält insgeheim auch ein Programm für
Benjamins eigene Schriftstellerei, dem dann die Abhandlung ݆ber
einige Motive bei Baudelaire‹ und die Thesen ›Über den Begriff der
Geschichte‹ zu gehorchen trachten. Ihm schwebte die
Kommunizierung des Unkommunizierbaren durch lapidaren
Ausdruck vor. Eine gewisse Vereinfachung der sprachlichen Mittel
ist unverkennbar. Aber wie vielfach in der Geschichte der
Philosophie trügt die Einfachheit; an der gedanklichen Optik
Benjamins hat sich nichts geändert, und indem die fremdesten
Einsichten sich aussprechen, als wären sie purer Menschenverstand,
wird ihre Fremdheit nur noch gesteigert: nichts könnte
Benjaminischer sein als die Antwort, die er einmal auf die Frage
nach einem Beispiel für gesunden Menschenverstand erteilte: »Je
später der Abend, desto schöner die Gäste.« Sein Sprachgestus
nimmt wie in der Jugend abermals etwas Autoritäres an; nun etwas
vom fiktiven Sprichwort, vielleicht aus dem Willen, zwischen seiner
Art geistiger Erfahrung und der breiteren Mitteilung auszugleichen.
Zum dialektischen Materialismus zog ihn wohl überhaupt weniger
dessen theoretischer Gehalt als die Hoffnung auf ermächtigte,
kollektiv verbürgte Rede. Nicht länger glaubte er, wie in der Jugend,
aus mystischer Theologie schöpfen zu dürfen, ohne doch die Idee
der Lehre zu opfern: auch darin prägt das Motiv der rettenden
Preisgabe der Theologie, ihrer rückhaltlosen Säkularisierung sich
aus. Die Konfiguration von Unvereinbarem, unerbittlich zugleich
gegen das, was er von je verwarf, leiht der späten Philosophie von
Benjamin ihre schmerzlich brüchige Tiefe.
Das Bedürfnis nach Autorität im Sinne kollektiver Deckung war
im übrigen Benjamin keineswegs so fremd, wie es bei seiner
jeglichem Einverständnis entrückten geistigen Anlage zu vermuten
wäre. Vielmehr hat gerade das Inkommensurable, bis zur
leidvollsten Vereinsamung Individuierte dieses Denkens und seines
Trägers vom ersten Tag an nach Entäußerung gesucht auch im wie
immer hoffnungslosen Versuch der Eingliederung in
Gemeinschaften und Ordnungen. Sicherlich bemerkte Benjamin als
einer der ersten unter den Philosophierenden den Antagonismus, daß
das bürgerliche Individuum, das da denkt, bis ins innerste
fragwürdig ward, ohne daß doch ein Überindividuelles im Dasein
substantiell gegenwärtig wäre, in dem das Einzelsubjekt geistig
ohne Unterdrückung sich aufgehoben fände; er hat dem Ausdruck
verliehen, indem er sich als einen bestimmte, der seine Klasse
verließ, ohne doch zur anderen zu gehören. Seine Rolle in der
damals freilich von ihren späteren Manifestationen überaus
verschiedenen Jugendbewegung – er zählte zu den
Hauptmitarbeitern des ›Anfangs‹ und war mit Wyneken befreundet,
bis dieser zu den Apologeten des Ersten Krieges überging –
vielleicht sogar sein Hang zu theokratischen Vorstellungen ist vom
selben Schlag wie sein Typus von Marxismus, den er orthodox, als
Lehrstück zu übernehmen meinte, ohne zu ahnen, was er in
produktivem Mißverständnis damit anstellte. Nicht schwer ist es, die
Vergeblichkeit all solcher Ausbruchsversuche, des hilflosen sich
Angleichens an die heraufdämmernden Mächte zu durchschauen,
vor denen es keinem mehr gegraut haben muß als Benjamin: »es
war, als wolle ich in keinem Falle eine Front, und sei es mit der
eigenen Mutter, bilden«, sagt er noch in der ›Berliner Kindheit‹ 7 .
Der Unmöglichkeit seiner Eingliederung war er sich bewußt und hat
doch das Verlangen danach nicht verleugnet. Solcher Widerspruch
deutet aber keineswegs bloß auf die Schwäche des Vereinzelten
zurück, sondern ein Wahres meldet sich darin an, die Einsicht in die
Unzulänglichkeit privater Reflexion, solange sie abgetrennt ist von
der objektiven Tendenz und von verändernder Praxis. An dieser
Unzulänglichkeit krankt selbst, wer sich, wie Benjamin
außerordentlichem Maße, zum Seismographen dessen macht, was an
der Zeit ist. Der einmal sich einverstanden erklärte mit der
Charakteristik, er denke in Brüchen, hat auch vor dem Äußersten
sich nicht gescheut; das ihm tödliche Fremde in sich hineingezogen,
selbst auf die ihm mögliche Gestalt von Stimmigkeit verzichtet: die
der fensterlosen Monade, die da gleichwohl das Universum
»vorstellt«. Denn er wußte, daß keine Berufung auf prästabilierte
Harmonie mehr stichhaltig wäre, wenn anders sie es je gewesen ist.
An dem tour de force, auf das er sich ohne viel Illusionen übers
mögliche Gelingen einließ, läßt nicht weniger sich lernen als an dem
Meisterlichen, das er vollbrachte. Als er einen Aufsatz ›Wider ein
Meisterwerk‹ betitelte, schrieb er auch gegen sich selber, und das
Vermögen eben dazu ist von seiner produktiven Kraft nicht zu
scheiden.
In solchem Widerspruch ist der Grund von Benjamins Trauer zu
suchen, sein »Charakter« in dem Sinn, den er dem Wort selbst
verlieh. Trauer – nicht Traurigkeit – war die Bestimmung seiner
Natur, als jüdisches Wissen um die Permanenz von Drohung und
Katastrophe ebenso wie als antiquarische Neigung, der noch das
Gegenwärtige in längst Vergangenes sich verzauberte. Benjamin,
der unerschöpflich Einfallsreiche, Produktive, in jedem wachen
Augenblick seines Lebens ganz des Geistes Mächtige und ganz von
Geist Beherrschte, war doch alles eher, als was dem Cliché für
spontan gilt; wie er druckreif sprach, so traf auf ihn selber insgesamt
seine schöne Formel über den alten Goethe als den Kanzlisten des
eigenen Inneren 8 zu. Ihn hatte die Vormacht des Geistes extrem
seiner physischen und selbst psychologischen Existenz entfremdet.
Ähnlich wie nach Schönbergs Wort Webern, dessen Schrift an die
Benjamins mahnt, hatte er animalische Wärme mit einem Tabu
bedacht; kaum durfte ein Freund es wagen, ihm auch nur die Hand
auf die Schulter zu legen, und noch sein Tod mag damit
zusammenhängen, daß in der letzten Nacht in Port Bou die Gruppe,
mit der er geflohen war, aus Scheu ihm ein Einzelzimmer
einräumte, so daß er unbeobachtet das Morphium nehmen konnte,
das er sich für den äußersten Notfall gesammelt hatte. Trotzdem
aber war seine Aura warm, nicht kalt. Ihm eignete eine Fähigkeit,
die an Kraft zur Beglückung jede bloß unmittelbare unendlich tief
unter sich ließ: die zum schrankenlosen Schenken. Was Zarathustra
als Höchstes preist, die schenkende Tugend, war sein zu solchem
Grade, daß alles andere daneben in den Schatten trat: »Ungemein ist
die höchste Tugend und unnützlich, leuchtend ist sie und mild im
Glanze.« Und wenn er sein erkorenes Emblem – den Kleeschen
Angelus Novus – den Engel nannte, der nicht gibt, sondern nimmt 9
, so löst auch das einen Gedanken Nietzsches ein: »Zum Räuber an
allen Werten muß solche schenkende Liebe werden«, denn »eine
Stätte der Genesung soll noch die Erde werden! Und schon liegt ein
neuer Geruch um sie, ein heilbringender, – und eine neue
Hoffnung!« Von dieser Hoffnung hat Benjamins Wort gezeugt, sein
märchengleich lautloses, unkörperliches Lächeln und sein
Schweigen. Jedes Zusammensein mit ihm hat wiederhergestellt, was
sonst unwiederbringlich dahin ist, das Fest. In seiner Nähe wurde es
einem zumute wie dem Kind in dem Augenblick, in dem ein Spalt
des weihnachtlichen Zimmers sich öffnet und eine Fülle des Lichts
das Auge zu Tränen überwältigt, erschütternder und bestätigter, als
je der Glanz es grüßt, wenn es eingeladen wird, das Zimmer zu
betreten. Alle Macht des Denkens versammelte sich in Benjamin,
um solche Augenblicke zu bereiten, und an sie allein ist
übergegangen, was einmal die Lehren der Theologie verhießen.
 Fußnoten
 
1 Vgl. Walter Benjamin, Schriften. Hrsg. von Theodor W. Adorno
und Gretel Adorno unter Mitwirkung von Friedrich Podszus, 2 Bde.,
Frankfurt a.M.1955.
 
2 Vgl. a.a.O., Bd. 2, S. 315ff.
 
3 a.a.O., Bd. 1, S. 69; vgl. ebd., S. 35.
 
4 Vgl. a.a.O., S. 372f. und S. 461ff.
 
5 a.a.O., S. 544.
 
6 a.a.O., S. 517.
 
7 a.a.O., S. 633.
 
8 Vgl. Deutsche Menschen. Eine Folge von Briefen, Auswahl und
Einleitungen von Detlef Holz (Pseud.), Luzern 1936, S. 90.
 
9 Vgl. Benjamin, Schriften, a.a.O., Bd. 2, S. 194.
 
 Benjamin der Briefschreiber
Walter Benjamins Person war von Anbeginn derart Medium des
Werkes, sein Glück hatte er so sehr an seinem Geist, daß, was
immer sonst Unmittelbarkeit des Lebens heißt, gebrochen wurde.
Ohne daß er asketisch gewesen wäre, auch nur in seiner
Erscheinung so gewirkt hätte, eignete ihm ein fast Körperloses. Der
seines Ichs mächtig war wie wenige, schien der eigenen Physis
entfremdet. Das ist vielleicht eine der Wurzeln der Intention seiner
Philosophie, mit rationalen Mitteln heimzubringen, was an
Erfahrung in der Schizophrenie sich anmeldet. Wie sein Denken die
Antithesis bildet zum Personbegriff des Existentialismus, scheint er
empirisch, trotz extremer Individuation, kaum Person sondern
Schauplatz der Bewegung des Gehalts, der durch ihn hindurch zur
Sprache drängte. Müßig wären Reflexionen über den
psychologischen Ursprung jenes Zuges; setzten sie doch jene
Normalvorstellung vom Lebendigen voraus, die Benjamins
Spekulation sprengte und an der das allgemeine Einverständnis
desto verstockter festhält, je weniger das Leben noch eines ist. Eine
Äußerung von ihm über seine eigene Handschrift – er war ein guter
Graphologe –: sie sei vor allem darauf angelegt, nichts merken zu
lassen, bezeugt zumindest, wie er zu sich in dieser Dimension stand,
ohne daß er im übrigen um seine Psychologie viel sich gekümmert
hätte.
Schwerlich ist es einem anderen gelungen, die eigene Neurose,
wenn es denn eine war, so produktiv zu machen, wie ihm. Zum
psychoanalytischen Begriff der Neurose gehört die Fesselung der
Produktivkraft, die Fehlleitung der Energien. Nichts dergleichen bei
Benjamin. Die Produktivität des sich selbst Entfremdeten ist
erklärbar nur dadurch, daß in seiner diffizilen subjektiven
Reaktionsform ein objektiv Geschichtliches sich niederschlug, das
ihn befähigte, sich umzuschaffen zum Organ von Objektivität. Was
ihm an Unmittelbarkeit mangeln mochte oder was zu verbergen ihm
von früh zur zweiten Natur muß geworden sein, ist in der vom
abstrakten Gesetz der Beziehungen zwischen den Menschen
beherrschten Welt verloren. Nur um den Preis des bittersten
Schmerzes oder nur unwahr, als tolerierte Natur, darf es sich zeigen.
Benjamin hat daraus, längst ehe ihm dergleichen Zusammenhänge
bewußt waren, die Konsequenz gezogen. In sich und seinem
Verhältnis zu anderen setzte er rückhaltlos den Primat des Geistes
durch, der anstelle von Unmittelbarkeit sein Unmittelbares wurde.
Seine private Haltung näherte zuweilen dem Ritual sich an. Man
wird den Einfluß Stefan Georges und seiner Schule, von der ihn
philosophisch schon in seiner Jugend alles trennte, darin zu suchen
haben: er lernte von George Schemata des Rituals. In den Briefen
reicht es bis ins typographische Bild hinein, ja bis in die Wahl des
Papiers, das für ihn eine ungemeine Rolle spielte; noch während der
Emigrationszeit beschenkte ihn sein Freund Alfred Cohn, wie
längst, mit einer bestimmten Papiersorte. Die ritualen Züge sind am
stärksten in der Jugend; erst gegen Ende seines Lebens lockerten sie
sich, als hätte die Angst vor der Katastrophe, vor Schlimmerem als
dem Tod, die tief vergrabene Spontaneität des Ausdrucks erweckt,
die er durch Mimesis an den Tod bannte.
Benjamin war ein großer Briefschreiber; offensichtlich hat er
passioniert Briefe geschrieben. Trotz der beiden Kriege, des
Hitlerreichs und der Emigration erhielten sich sehr viele;
auszuwählen war schwierig 1 . Der Brief wurde ihm zur Form. Die
primären Impulse läßt sie durch, schiebt aber zwischen diese und
den Adressaten ein Drittes, die Gestaltung des Geschriebenen
gleichwie unterm Gesetz von Objektivation, trotz der Anlässe von
Ort und Stunde und dank ihrer, als würde dadurch erst die Regung
legitimiert. Wie bei Denkern von bedeutender Kraft Einsichten, die
aufs treueste ihr Objekt treffen, vielfach zugleich solche über den
Denkenden selbst sind, so bei Benjamin: ein Modell dafür ist die
berühmt gewordene Formel über den alten Goethe als Kanzlisten
des eigenen Inneren. Solche zweite Natur hatte nichts Posiertes;
übrigens hätte er den Vorwurf gleichmütig hingenommen. Der Brief
war ihm darum so gemäß, weil er vorweg zur vermittelten,
objektivierten Unmittelbarkeit ermutigt. Briefe schreiben fingiert
Lebendiges im Medium des erstarrten Worts. Im Brief vermag man
die Abgeschiedenheit zu verleugnen und gleichwohl der Ferne,
Abgeschiedene zu bleiben.
Auf das Spezifische des Briefschreibers Benjamin mag ein
Detail Licht werfen, das mit Korrespondenz zunächst gar nichts zu
tun hat. Die Unterhaltung führte einmal auf Unterschiede zwischen
dem geschriebenen und dem gesprochenen Wort wie den, daß man
in der lebendigen Konversation, aus Humanität, an sprachlicher
Form etwas nachläßt und des bequemeren Perfekts sich bedient, wo
grammatisch das Präteritum gefordert wäre. Benjamin, der das
feinste Organ für sprachliche Nuancen besaß, machte gegen den
Unterschied sich spröde und bestritt ihn mit einem gewissen Affekt,
so als ob eine Wunde berührt worden wäre. Seine Briefe sind
Figuren einer redenden Stimme, die schreibt, indem sie spricht.
Für den Verzicht, der sie trägt, sind aber diese Briefe aufs
reichste belohnt worden. Das rechtfertigt, sie einem großen
Leserkreis zugänglich zu machen. Der das gegenwärtige Leben
wahrhaft an seinem farbigen Abglanz hatte, dem war Macht
gegeben über die Vergangenheit. Die Form des Briefes ist
anachronistisch und begann es schon zu seinen Lebzeiten zu
werden; die seinen ficht das nicht an. Bezeichnend, daß er, wenn
irgend es möglich war, seine Briefe, als längst die Schreibmaschine
dominierte, mit der Hand zu Papier brachte; ebenso bereitete ihm
der physische Akt des Schreibens Lust – er fertigte gern Exzerpte
und Reinschriften an –, wie ihn Abneigung beseelte gegen
mechanische Hilfsmittel: die Abhandlung über das Kunstwerk im
Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit war insofern, wie
manches in seiner geistigen Geschichte, Identifikation mit dem
Angreifer. Das Briefschreiben, meldet einen Anspruch des
Individuums an, dem es heute so wenig mehr gerecht wird, wie die
Welt ihn honoriert. Als Benjamin bemerkte, daß man von keinem
Menschen mehr eine Karikatur machen könne, kam er jenem
Sachverhalt nahe; auch in der Abhandlung über den Erzähler. In
einer gesellschaftlichen Gesamtverfassung, die jeden Einzelnen zur
Funktion herabsetzt, ist keiner länger legitimiert, so im Brief von
sich selbst zu berichten, als wäre er noch der unerfaßte Einzelne,
wie der Brief es doch sagt: das Ich im Brief hat bereits etwas
Scheinhaftes.
Subjektiv aber sind die Menschen, im Zeitalter des Zerfalls der
Erfahrung, zum Briefschreiben nicht mehr aufgelegt. Einstweilen
sieht es aus, als entzöge die Technik den Briefen ihre
Voraussetzung. Weil Briefe, angesichts der prompteren
Möglichkeiten der Kommunikation, der Schrumpfung
zeiträumlicher Distanzen, nicht mehr notwendig sind, zergeht auch
ihre Substanz an sich. Benjamin brachte für sie eine antiquarische
und ungehemmte Begabung mit; ein Vergehendes vermählte sich
ihm mit der Utopie seiner Wiederherstellung. Was ihn verlockte,
Briefe zu schreiben, hing wohl auch insofern mit seiner
Erfahrungsweise zusammen, als er geschichtliche Formen – und der
Brief ist eine – wie Natur sah, die zu enträtseln, deren Gebot zu
folgen sei. Seine Haltung als Briefschreiber neigt sich der des
Allegorikers zu: Briefe waren ihm naturgeschichtliche Bilder
dessen, was Vergängnis überdauert. Dadurch, daß die seinen
eigentlich gar nicht ephemeren Äußerungen des Lebendigen
gleichen, gewinnen sie ihre gegenständliche Kraft, die zu
menschenwürdiger Prägung und Differenzierung. Noch ruht das
Auge, trauernd um ihren heraufdämmernden Verlust, so geduldig
und intensiv auf den Dingen, wie es wieder einmal möglich sein
müßte. Eine private Äußerung Benjamins führt ins Geheimnis seiner
Briefe: ich interessiere mich nicht für Menschen, ich interessiere
mich nur für Dinge. Die Kraft der Negation, die davon ausgeht, ist
eins mit seiner Produktivkraft.
Die frühen Briefe sind durchweg an Freunde und Freundinnen
aus der Freideutschen Jugendbewegung gerichtet, einer radikalen,
von Gustav Wyneken geleiteten Gruppe, deren Vorstellungen die
Wickersdorfer Freie Schulgemeinde am nächsten kam. Auch am
›Anfang‹, der Zeitschrift jenes Kreises, die 1913–14 viel Aufsehen
machte, arbeitete er maßgebend mit. Paradox, den durch und durch
idiosynkratisch reagierenden Benjamin in einer solchen Bewegung,
überhaupt in irgendeiner, sich vorzustellen. Daß er so vorbehaltlos
sich hineinstürzte, die heute dem Außenstehenden nicht mehr
verständlichen Auseinandersetzungen innerhalb der ›Sprechsäle‹
und alle Beteiligten so ungemein wichtig nahm, war wohl ein
Kompensationsphänomen. Geschaffen, das Allgemeine durchs
Extrem des Besonderen, sein Eigenes auszudrücken, litt Benjamin
daran so sehr, daß er, gewiß vergeblich, krampfhaft nach
Kollektiven suchte; auch noch in seiner reifen Zeit. Überdies teilte
er die selbst wiederum allgemeine Neigung des jungen Geistes, die
Menschen, mit denen er zunächst zusammentraf, zu überschätzen.
Die Anspannung zum Äußersten, die ihn vom ersten bis zum letzten
Tag seiner intellektuellen Existenz beseelte, übertrug er, wie es dem
reinen Willen ansteht, als ein Selbstverständliches auf seine
Freunde. Nicht die geringfügigste unter seinen schmerzlichen
Erfahrungen muß gewesen sein, daß nicht nur die meisten nicht die
Kraft der Elevation haben, auf die er von sich aus schloß, sondern
jenes Äußerste gar nicht wollen, das er ihnen zutraute, weil es das
Potential der Menschheit ist.
Dabei erfuhr er die Jugend, mit der er inständig sich
identifizierte, und auch sich selbst als Jungen, bereits in der
Reflexion. Jungsein wird ihm zu einer Position des Bewußtseins. Er
war souverän gleichgültig gegen den Widerspruch darin: daß der
Naivetät negiert, welcher sie als Standpunkt bezieht und gar eine
›Metaphysik der Jugend‹ plant. Später hat Benjamin, was den
Jugendbriefen ihre Signatur verlieh, schwermütig auf seine
Wahrheit gebracht mit dem Satz, er habe Ehrfurcht vor der Jugend.
Die Kluft zwischen seiner eigenen Beschaffenheit und dem Kreis,
dem er sich anschloß, scheint er versucht zu haben, durch
Herrschbedürfnis zu überbrücken; noch während der Arbeit am
Barockbuch sagte er einmal, ein Bild wie das des Königs habe ihm
ursprünglich sehr viel bedeutet. Herrische Anwandlungen
durchfahren das vielfach Wolkige der Jugendbriefe wie Blitze, die
zünden wollen; die Gebärde antezipiert, was später die geistige
Kraft leistet. Prototypisch muß für ihn gegolten haben, was junge
Menschen, etwa Studenten, leicht und gern an den Begabtesten
unter ihnen tadeln: sie seien arrogant. Solche Arroganz ist nicht zu
verleugnen. Sie markiert den Unterschied zwischen dem, was
Menschen obersten geistigen Ranges als ihre Möglichkeit wissen,
und dem, was sie bereits sind; jenen Unterschied gleichen sie durch
ein Verhalten aus, das von außen notwendig Anmaßung dünkt. Der
reife Benjamin ließ so wenig mehr Arroganz wie Herrschbegierde
erkennen. Er war von vollkommener, überaus anmutiger
Höflichkeit; sie hat auch in den Briefen sich dokumentiert. Darin
ähnelte er Brecht; ohne jene Eigenschaft wäre die Freundschaft
zwischen den beiden kaum beständig gewesen.
Mit der Scham, die Menschen solchen Anspruchs an sich selbst
vor der Unzulänglichkeit ihrer Anfänge häufig befällt – einer
Scham, die ihrer früheren Selbsteinschätzung gleichkommt –, hat
Benjamin unter die Periode seiner Teilnahme an der
Jugendbewegung den Schlußstrich gezogen, als er seiner selbst ganz
innewurde. Nur mit wenigen, wie Alfred Cohn, blieb der Kontakt
erhalten. Freilich auch der mit Ernst Schoen; die Freundschaft
dauerte bis zum Tod. Die unbeschreibliche Vornehmheit und
Sensibilität Schoens muß ihn bis ins Innerste betroffen haben;
sicherlich war er einer der ersten ihm Ebenbürtigen, die er
kennenlernte. Die wenigen Jahre, die Benjamin später, nach dem
Scheitern seiner akademischen Pläne und bis zum Ausbruch des
Faschismus, einigermaßen sorgenfrei existieren konnte, hatte er in
nicht geringem Maß der Solidarität Schoens zu verdanken, der, als
Programmleiter des Radios Frankfurt, ihm die Möglichkeit
dauernder und häufiger Mitarbeit gewährte. Schoen war einer der
Menschen, die, tief ihres eigenen Wesens sicher, ohne alles
Ressentiment zurückzutreten liebten bis zur Selbstauslöschung; um
so mehr Anlaß, seiner zu gedenken, wenn vom Persönlichen bei
Benjamin die Rede ist.
Entscheidend war, in der Zeit der Emanzipation, außer der
Heirat mit Dora Kellner die Freundschaft mit Scholem, der ihm
geistig gewachsen war; wohl die engste im Leben Benjamins.
Dessen Begabung zur Freundschaft glich in vielem der zum
Briefschreiben, noch in exzentrischen Zügen wie der
Geheimniskrämerei, die ihn dazu bewog, soweit es nur anging, seine
Freunde voneinander fernzuhalten, die dann regelmäßig, innerhalb
eines notwendig begrenzten Kreises, doch einander kennenlernten.
Wehrte Benjamin, aus Aversion gegen geisteswissenschaftliche
Clichés, den Gedanken einer Entwicklung seiner Arbeit von sich ab,
so zeigt der Unterschied der ersten Briefe an Scholem von allen
vorhergehenden, neben der Kurve des Werkes selbst, wie sehr er
sich entwickelte; hier plötzlich ist er von aller veranstalteten
Superiorität frei. An ihre Stelle tritt jene unendlich zarte Ironie, die
ihm, trotz des seltsam Objektivierten, Unberührbaren der Gestalt,
ebenso im privaten Umgang den außerordentlichen Reiz verlieh.
Eines ihrer Elemente war, daß der empfindlich Wählerische mit
Volkstümlichem, etwa Berliner oder jüdisch-idiomatischen
Redewendungen, spielte.
Die Briefe seit den frühen zwanziger Jahren sind nicht so fern
gerückt wie die vor dem Ersten Krieg geschriebenen. In ihnen
entfaltet Benjamin sich in liebevollen Berichten und Erzählungen, in
präzisen epigrammatischen Formeln, zuweilen auch – nicht gar zu
oft – in theoretischen Argumentationen; zu ihnen fühlte er sich
gedrängt, wo dem Vielgereisten große räumliche Entfernung die
mündliche Diskussion mit dem Korrespondenten verwehrte. Die
literarischen Beziehungen sind weit verzweigt. Benjamin war alles
andere als ein jetzt erst wiederentdeckter Verkannter. Seine Qualität
konnte nur dem Neid verborgen bleiben; durch publizistische
Medien wie die Frankfurter Zeitung und die Literarische Welt
wurde sie allgemein sichtbar. Erst im Vorfaschismus wurde er
zurückgedrängt; noch in den ersten Jahren der Hitlerdiktatur
vermochte er, pseudonym, in Deutschland weiter manches zu
veröffentlichen. Fortschreitend vermitteln die Briefe ein Bild nicht
nur von ihm, sondern auch vom geistigen Klima der Epoche. Die
Breite seiner sachlichen und privaten Kontakte war von keiner
Politik beeinträchtigt. Sie reichte von Florens Christian Rang und
Hofmannsthal bis Brecht; die Komplexion theologischer und
gesellschaftlicher Motive wird in der Korrespondenz durchsichtig.
Vielfach hat er, ohne daß sein Eigentümliches darüber gemindert
worden wäre, den Korrespondenten sich angepaßt; Formgefühl und
Distanz, Konstituentien des Benjaminschen Briefes überhaupt,
treten dann in den Dienst einer gewissen Diplomatie. Sie hat etwas
Rührendes, vergegenwärtigt man sich, wie wenig die zuweilen
kunstvoll bedachten Sätze ihm tatsächlich das Leben erleichterten;
wie inkommensurabel und unannehmbar er dem Bestehenden trotz
seiner temporären Erfolge blieb.
Erlaubt sei der Hinweis darauf, mit welcher Würde und, solange
es nicht ums nackte Leben ging, mit welcher Gelassenheit Benjamin
die Emigration ertrug, obwohl sie ihm während der ersten Jahre die
ärmlichsten materiellen Bedingungen auferlegte, und obwohl er
keinen Augenblick sich täuschte über die Gefahr seines Verbleibs in
Frankreich. Um des Hauptwerks, der Pariser Passagen willen hat er
sie in Kauf genommen. Seiner Haltung damals schlug das
Unprivate, fast Apersonale zum Segen an; wie er sich als Instrument
seiner Gedanken, nicht sein Leben als Selbstzweck verstand, trotz
oder gerade wegen des unfaßlichen Reichtums an Gehalt und
Erfahrung, den er verkörperte, so hat er sein Schicksal nicht als
privates Unglück beklagt. Daß er es in seinen objektiven
Bedingungen durchschaute, verlieh ihm die Kraft, darüber sich zu
erheben; jene Kraft, die ihm noch 1940, fraglos im Gedanken an
seinen Tod, die Formulierung der Thesen über den Begriff der
Geschichte gestattete.
Nur ums Opfer des Lebendigen wurde Benjamin der Geist, der
lebte von der Idee des opferlosen Standes.
 Fußnoten
 
1 Vgl. Walter Benjamin, Briefe. Hrsg. und mit Anmerkungen
versehen von Gershom Scholem und Theodor W. Adorno, Frankfurt
a.M. 1966.
 
 Offener Brief an Rolf Hochhuth
Sehr geehrter Herr Hochhuth,
Sie haben zu der Festschrift für Georg Lukács, die mir erst jetzt
zu Gesicht kommt, einen Aufsatz 1 beigesteuert, der wesentlich
gegen mich polemisiert, vielleicht um mittelbar eine Kontroverse
zwischen Lukács und mir fortzusetzen, die schon Jahre zurückliegt.
»Unser modischer Chef-Theoretiker« – nach dem Zusammenhang
muß ich vermuten, daß Sie damit mich meinen, obwohl ich nicht
recht sehe, wer das Kollektiv sein soll, das in dem »unser« steckt.
Eine Rolle dieser Art ist gemeinhin nur in totalitären Staaten
vorgesehen; weder erhebe ich derlei Ansprüche, noch übe ich eine
solche Wirkung aus: Mit der erweiternden Formel »seine
Nachschreiber« bequemen Sie einem Cliché sich an, das meine
philosophischen Intentionen neutralisieren will, indem Menschen,
die bei mir allenfalls etwas gelernt haben, vorweg zu schwächlichen
Imitatoren gestempelt werden; verdächtigt wird, was man sonst
Philosophen ohne Zögern zubilligt, die Entstehung einer Schule.
Aber nicht Gereiztheit deswegen veranlaßt mich, Ihnen zu
antworten, sondern daß ich mich gründlich mißverstanden fühle und
verzerrt, was ich denke. Strittig ist mehr als nur literarische
Standpunkte.
Der Satz von Lukács, von dem Sie ausgehen: in der Literatur sei
»der konkrete, der besondere Mensch das Primäre, der Ausgangs-
und Endpunkt des Gestaltens«, dünkt mir nicht so selbstverständlich
wie dem ungarischen Ästhetiker. Längst hat, auch in der
Verfahrungsweise von Literatur, etwas wie die Ideologie des
Besonderen sich formiert, eine Konzentration auf unverwechselbare
Menschen, als ließe von ihnen noch so sich erzählen wie anno
dazumal, während, nach Brechts Wort, das Wesentliche in die
Funktionale rutschte. Lukács vergaß schwerlich, daß Hegel und
Marx das Individuum nicht als Naturkategorie sondern als
geschichtlich, nämlich vermöge der Arbeit erst Entspringendes
bestimmten; das war das stärkste Motiv des Angriffs von Marx auf
Feuerbach, gegen den er Hegel wieder zu Ehren brachte. Ist aber das
Individuum ein Entsprungenes, so wacht keine Seinsordnung
darüber, daß es nicht ebenso wieder vergehen könnte. Sperrt Lukács
sich dagegen; erklärt er den besonderen Menschen zur Invariante
der Literatur, so bezeugt das lediglich, daß im Bann einer zur
Weltanschauung versteinerten Dialektik das dialektische Salz dumm
ward. Bei Hegel heißt die Stufe der Individuation Selbstbewußtsein,
weil Individualität nicht einfach das biologische Einzelwesen ist,
sondern dessen durch Vernunft sich als ein Besonderes erhaltende
Reflexionsform. In der großen Literatur fehlen nicht Belege dafür,
daß der sich selbst bestimmende Einzelmensch keineswegs erst
heute fragwürdig wurde.
Seine jüngste Krisis hat den Grund, daß die Qualitäten, welche
die Gesellschaft einmal von ihm verlangte, womöglich die
Kategorie des Qualitativen selber, durch die neuen
Produktionsmethoden überflüssig werden; Horkheimer und ich
haben, in mancherlei Varianten, das hervorgehoben. Daß die
Menschen nach den Produktionsmethoden gemodelt werden, ist
abscheulich, aber es ist so lange der Weltlauf, wie sie im Bann der
gesellschaftlichen Produktion stehen, anstatt über diese zu gebieten.
Da aber andererseits der Produktionsapparat nur um der Menschen
willen da sein soll und zu seinem Zweck deren Befreiung, nämlich
die von überflüssiger Arbeit hat, so wohnt dem Verfall von
Individualität zugleich ein Widerspruchsvolles, wahrhaft Absurdes
inne. Das nicht zuletzt zeitigt die von Ihnen wenig geliebte
Literatur, für die das Wort absurd als Spitzmarke sich einbürgerte.
Sie verkörpert ein richtiges Bewußtsein. Die Einsicht in das
Zwangshafte eines Prozesses indessen ist nicht eins mit dessen
Billigung. In diesem Entscheidenden haben Sie, verehrter Herr
Hochhuth, mich schlicht mißverstanden. Verzeihen Sie mir, wenn
ich, um Ihnen das zu zeigen, Eigenes zitiere, den letzten Satz der
Arbeit über den Fetischcharakter in der Musik, die ich 1938 in der
›Zeitschrift für Sozialforschung‹ publizierte – sie ist wieder
abgedruckt in den ›Dissonanzen‹. Dort habe ich gewisse
anthropologische Erfahrungen zuerst angemeldet; ich wüßte an
jenem Satz nichts zurückzunehmen: »Die kollektiven Mächte
liquidieren ... die unrettbare Individualität, aber bloß Individuen sind
fähig, ihnen gegenüber, erkennend, das Anliegen von Kollektivität
noch zu vertreten.« 2 Vorschlagen möchte ich, der Weisheit des
Morgensternschen Überfahrenen, »daß nicht sein kann, was nicht
sein darf«, nicht zu folgen, nicht Gedanken in Verruf zu bringen, die
dem Bestürzenden sich stellen ohne den Trost, noch im äußersten
Schrecken überlebe das Menschliche; gar zu leicht artet er in die
Rechtfertigung jenes Schreckens aus. Mir will es scheinen, daß das,
was Sie die »Rettung des Menschen« nennen – ich scheue vor der
Formel zurück –, wofern es überhaupt möglich ist, voraussetzt, daß
man das äußerste Unheil zu Ende denkt. An diesem hat auch das
Individuum seine Schuld. Was heute über es ergeht, setzt seine
Verhärtung und Kälte fort.
Sie sträuben sich heftig gegen die Annahme, »daß der Mensch
in der Masse kein Individuum mehr sei«, so als ob, wer darauf
deutet, dazu beitrüge, während die Entwicklung es dahin brachte.
Ihnen, dem Künstler, ist aber fraglos eine Erfahrung offen, die Ihnen
anmeldet, welche Bewandtnis es mit dem Individuum heute hat. Der
Satz Rilkes vom eigenen Tod, auf den Sie sich berufen, ist zum
blutigen Hohn auf die geworden, welche in den Lagern ermordet
wurden oder in Vietnam fallen. Die Äußerungen von mir, die Sie
schockieren, möchten die Opfer vor diesem Hohn behüten, nicht,
wie Sie es mir zutrauen, die schmähen, welche der Weltlauf an der
Individuation verhindert. Sie stellen sich immer noch vor, daß man
eine faszinierende Szene aus Stalin und Truman in Potsdam machen
könnte, die nur einige Nebensätze der Waffe des Genocids widmen,
nachdem der Tenno die Kapitulation seit zehn Tagen angeboten hat.
Beiläufig werde der überflüssige Entschluß gefaßt, die Bombe über
Hiroshima abzuwerfen. Ich kann mir nicht helfen: ich fände diese
Szene auf dem Theater nicht faszinierend, sondern eher das, wofür
der amerikanische Slang über das Wort phoney verfügt, das die
Worte hohl oder scheinhaft nur unvollkommen übersetzen. Vor
vielen Jahrzehnten, schon vor dem Ausbruch des Faschismus, hat
Ortega y Gasset beobachtet, Weltgeschichte werde um ihrer eigenen
Publizität willen eigentlich nur noch gespielt, und Karl Kraus
erkannte in den ›Letzten Tagen der Menschheit‹ das ganze Grauen
darin, daß die gespielte Geschichte das Allerrealste ist und
womöglich den Menschen noch Ärgeres antut als früher die minder
veranstaltete. Hitler war ein Schmierenkomödiant der Untaten, die
er beging, und gar kein Individuum. Lassen Sie mich noch einmal
zitieren, diesmal aus der ›Dialektik der Aufklärung‹, die
Horkheimer und ich 1947 veröffentlichten: »Zur Kultur der Stars
gehört als Komplement der Prominenz der gesellschaftliche
Mechanismus, der, was auffällt, gleichmacht, jene sind nur die
Schnittmuster für die weltumspannende Konfektion und für die
Schere der juristischen und ökonomischen Gerechtigkeit, mit der die
letzten Fadenenden noch beseitigt werden.« 3 Solche Schnittmuster
sind vollends Diktatoren auf der Bühne. Brecht hatte schon einen
richtigen Instinkt, als er in ›Furcht und Elend des Dritten Reiches‹
dessen Unwesen an den Bevölkerungen zeigte, nicht an den Herren.
Dafür mußte er das traditionelle Pathos der Tragödienform
preisgeben und zur Episode greifen, vielleicht auf Kosten des
eigentlich Dramatischen, Konsequenz der phoneyness, die des
Subjekts sich bemächtigt hat, seines gesellschaftlichen Scheins. Nur
ist Brecht, indem er das politische Drama von dessen Subjekten auf
die Objekte verschob, vermutlich noch nicht weit genug gegangen.
Sie sind unvergleichlich mehr zu Objekten geworden, als er es
sichtbar werden läßt. Unter diesem Aspekt sind die Beckettschen
Menschenstümpfe realistischer als die Abbilder einer Realität,
welche diese durch ihre Abbildlichkeit bereits sänftigen.
Was mich bei Stücken über die Prominenz von heutzutage am
meisten irritiert, ist, daß sie stillschweigend nach den Gebräuchen
der Kulturindustrie sich richten, welche Prominenz als Kriterium
des Wesenhaften und für die Menschen Wichtigen unterschiebt.
Zwischen Soraya, Beatrix und den tatsächlich mächtigen Spitzen
aller erdenklichen Organisationen ist dabei schon gar kein so großer
Unterschied mehr. Überall wird personalisiert, um anonyme
Zusammenhänge, die den theoretisch nicht Gewitzigten nicht länger
durchschaubar sind und deren Höllenkälte das verängstigte
Bewußtsein nicht mehr ertragen kann, lebendigen Menschen
zuzurechnen und dadurch etwas von spontaner Erfahrung zu
erretten; auch Sie sind nicht anders verfahren. Daß immer noch
spontan Handelnde existieren, und ihre Darstellung, durch die ihrem
Handeln entscheidender Einfluß bestätigt wird, ist aber zweierlei.
Wollte man dagegen das Grauen an den Opfern darstellen, so
überhöht es sich, ohne Durchblick auf die Machtverhältnisse, die es
bedingen, in unausweichliches Schicksal; irre ich nicht, so hat das
Sie zur Stoffwahl Ihrer Stücke gebracht. Aus dem Schreckenszirkel
führt nichts hinaus. Es liegen dafür gleichsam experimentelle
Proben vor. Menschen guten Willens haben versucht, dem Unheil zu
widerstehen, indem sie an Prominente, wirkliche Schlüsselfiguren
der Katastrophen oder jenen Nahestehende, Hilfe heischend sich
wandten; wenn ich recht sehe, sind diese Versuche gescheitert. Dem
Künstler, der weder dem Äußersten sich entziehen noch es gestalten
kann, bleibt wohl nichts übrig, als bei den Opfern anzusetzen, ihre
Darstellung jedoch den gewohnten Wirkungszusammenhängen des
mittleren Lebens so fern zu rücken, daß an ihnen das Äußerste
aufginge, ohne daß es thematisch würde; fast wagt Scham kaum es
zu nennen. Das von Ihnen geforderte realistische Theater und die
Absurdität mögen tatsächlich, wie es bei Ihnen durchscheint,
konvergieren. Daß das allerdings gelinge, dazu bedarf es wirklich
schon des Guernicabildes oder des Schönbergschen ›Überlebenden
von Warschau‹ Keine traditionalistische Dramaturgie von
Hauptakteuren leistet es mehr. Die Absurdität des Realen drängt auf
eine Form, welche die realistische Fassade zerschlägt.
Hinter Ihrem Widerwillen gegen Massenverachtung bleibe ich
nicht zurück. Keiner darf sich selbst, in elitärem Hochmut, der
Masse entgegensetzen, deren Moment auch er ist. Als Gegenbegriff
jedoch reicht der des Einzelnen nicht aus. Inhuman, finden Sie, sei
es von mir gewesen, zu schreiben: »Bei vielen Menschen ist es
schon eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen.« 4 Haben Sie denn
wirklich nicht gemerkt, oder wollen Sie es gewaltsam nicht merken,
daß damit nicht die zur Unmündigkeit Verhaltenen angeklagt sind
sondern jener Machthaber, der schrieb »Ich beschloß, Politiker zu
werden«, oder der Babbit, der über ein großes Kunstwerk zu urteilen
meint mit dem Satz: »I like it«.
Ob, wie es Ihre Ansicht ist, das Theater am Ende wäre, wenn es
je zugäbe, daß der Mensch in der Masse kein Individuum mehr sei,
weiß ich nicht. Als ich vor fünfzehn Jahren Gides Dramatisierung
des Kafkaschen Prozesses angriff, dachte ich ähnlich; unterdessen
habe ich an späterer dramatischer Produktion gelernt, daß das
Drama seine eigene Voraussetzung, die Freiheit des Subjekts,
überleben, daß es dessen Niedergang ebenso darstellen kann und
wohl muß, wie es einmal, in Athen, den Ursprung der Individualität,
die dem Mythos sich entringt, behandelte. Aber hätten Sie selbst
recht; wäre kein Drama mehr möglich, so dürfte man kaum den
eingreifendsten Erfahrungen ausweichen, damit ja noch Drama sei.
Gerade Sie, der das Ethos des Dramas so sehr urgiert, müßten darin
mir zustimmen. Statt dessen proklamieren Sie: »Der Mensch ändert
sich nicht von Grund auf. Eine Epoche, die das behauptet, nimmt
sich zu ernst.« Der Glaube an die Unveränderlichkeit der
Menschennatur ist aber, wie ein Blick auf die Vulgärsoziologie und
-pädagogik von heutzutage Ihnen bestätigen würde, mittlerweile zu
einem Stück eben der Ideologie geworden, gegen die Ihre Dramatik
angeht. Auf Ihren Vorwurf, eine Epoche nähme sich zu ernst,
welche eine »Veränderung von Grund auf« annimmt, entgegne ich,
daß ein Ethos, das solcher Veränderung sich sperrt, nicht ernst
genug ist. Mit einer der Thesen, die das Unauslöschliche der
Individualität verteidigen sollen, geraten Sie in eben die Sphäre, der
Ihr eigener Abscheu gilt: »Ein Snob, der übersieht, daß auch die
Fabrikarbeiterin und ihre Geschwister, die nie ein Buch lesen, mehr
sind und bleiben als ein großgezogener Wurf aus der Mietskaserne,
nämlich Menschen mit ganz persönlichen Konstellationen, der soll
nicht lamentieren, wenn er selbst von jenen, die den Terror durchs
Megaphon anweisen, eines Tages der Anonymität und Numerierung
überantwortet wird, weil die Schurken sich nur zu gern einreden
ließen, ihre Opfer hätten kein Gesicht mehr, sie seien nur Stimmvieh
und in geringerem Maße noch Einzelwesen als etwa die Städter des
Mittelalters, denen nicht das Fernsehen, sondern der Pastor
alltäglich in den Ohren lag.« Überhören denn wirklich Ihre Ohren,
wie sehr das Schimpfen auf den Snob, der sich für etwas Besseres
halte, jener Art Volksgemeinschaft in allen Ländern Zuspruch
spendet, die über den Abweichenden herfallen möchte, der
vermutlich noch am ehesten Ihrem Begriff vom Individuum
entspricht, aber ex lex sein soll, weil er ausplaudert, was die
offizielle Ideologie verschleiert und rechtfertigt? Sagt Ihnen Ihre
geschichtliche Einsicht, die sich doch sonst von Illusionen
freizumachen trachtet, nicht, daß unterm Faschismus die Berufung
auf die unverlierbaren Werte des Individuums, die gegen die
Vermassung zu schützen seien, mit der Praxis jener Vögte sich
vortrefflich verstand, in deren Vokabular »einen fertig machen«, die
Gleichmacherei zum Tode, ihren hervorragenden Platz besetzte?
Was sie heute Vermassung nennen – ich selbst habe das Wort nie
anders denn als Kritiker seines Gebrauchs verwandt –, wird den
Massen von den sauberen Cliquen und Individuen angetan, die sie
verwalten und dann als Masse schelten. Jede Zeile von mir meint
den Widerstand dagegen. Ich möchte Ihnen nicht unterstellen, daß
Sie mich mit dem massenfeindlichen Snob verwechselten; wer
immer es aber sein soll, ich beneide Sie nicht um die Drohung, die
Sie, offenbar nicht ganz ohne Genugtuung, ihm angedeihen ließen:
er solle nicht lamentieren, wenn er selber, nach Ihren Worten, der
Anonymität und Numerierung überantwortet wird, als ob wirklich er
den Schurken eingeredet hätte, ihre Opfer wären keine Menschen
mehr, während er nur, im Entsetzen davor, das Einverständnis
zwischen dem Terror der Schurken und der Tendenz der Geschichte
erkannte, welche die Menschen zu solcher Anonymität verdammt.
Indem Sie um der Humanität willen sich dagegen verschließen, was
aus dieser geworden ist – Valéry sah längst vor Auschwitz, die
Inhumanität habe eine große Zukunft –, –, nähern Sie sich dem
Inhumanen. Darauf möchte ich Sie nicht rhetorisch aufmerksam
machen, sondern weil Humanität Sie dann wahrscheinlich doch in
Ihrem Vertrauen auf die Unverlierbarkeit von Humanität beirrt. Daß
es freilich im Mittelalter, in den von Lukács einstmals als sinnerfüllt
gepriesenen Zeiten, nicht soviel besser bestellt war als heute; daß
am Ende das Individuum nur deshalb zugrunde geht, weil seine
Freiheit die ganze Geschichte hindurch mißlang, ist wohl wahr.
Tatsächlich erhält eine Ontologie sich die Geschichte hindurch, die
der Verzweiflung. Ist sie aber das Perennierende, dann erfährt das
Denken jede Epoche, und zuvor die eigene, von der es unmittelbar
weiß, als die schlimmste.
In aufrichtiger Hochschätzung
Ihr Theodor W. Adorno
 Fußnoten
 
1 Vgl. Rolf Hochhuth, Die Rettung des Menschen, in: Festschrift
zum achtzigsten Geburtstag von Georg Lukács, hrsg. von Frank
Benseler, Neuwied, Berlin 1965, S. 484.
 
2 Theodor V. Adorno, Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt,
3. Ausg., Göttingen 1963, S. 45 [GS 14, s. S. 50].
 
3 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der
Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947, S. 282
[GS 3, s. S. 270].
 
4 Theodor W. Adorno, Minima moralia. Reflexionen aus dem
beschädigten Leben, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1962, S. 57 [GS 4, s. S.
55]..
 
 Zur Dialektik von Heiterkeit

1
Der Vers »Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst« beschließt den
Prolog zu Schillers Wallenstein. Er ist einer Wendung aus den
Tristien des Ovid nachgebildet: Vita verecunda est, Musa jocosa
mihi. Man wird dem anmutig durchtriebenen antiken Dichter dabei
eine Absicht unterschieben dürfen. Er, dessen Leben so heiter war,
daß es dem Augusteischen Establishment untragbar dünkte, mochte
seinen Gönnern zublinzeln, indem er seine Munterkeit in die
literarische der Ars amandi zurückdichtete und reuig des Lebens
ernstes Führen als Haltung seiner Person durchblicken ließ. Ihm
ging es um Begnadigung. Von solcher lateinischen Schlauheit
wollte der Hofpoet des deutschen Idealismus nichts wissen. Seine
Sentenz hebt zweckfrei den Zeigefinger. Dadurch wird sie vollends
ideologisch, einverleibt dem bürgerlichen Hausschatz, bei
passendem Anlaß zitierfähig. Denn sie bestätigt die verfestigte und
allbeliebte Zweiteilung zwischen Beruf und Freizeit. Was auf die
Qual prosaisch unfreier Arbeit und den im übrigen keineswegs
unberechtigten Abscheu vor ihr zurückgeht, sei ein ewiges Gesetz
der beiden reinlich getrennten Sphären. Keine soll mit der anderen
vermischt werden. Gerade durch ihre erbauliche Unverbindlichkeit
wird die Kunst dem bürgerlichen Leben als dessen ihm
widersprechende Ergänzung eingefügt und unterworfen. Schon ist
die Freizeitgestaltung abzusehen, die einmal daraus wird. Sie ist der
Garten Elysium, wo die himmlischen Rosen wachsen, welche die
Frauen ins irdische Leben flechten sollen, das so abscheulich ist.
Dem Idealisten verdeckt sich die Möglichkeit, es könne real einmal
anders werden. Er hat dabei die Wirkung der Kunst im Auge. Bei
aller Noblesse der Gebärde nimmt er insgeheim jenen Zustand
vorweg, der in der Kulturindustrie Kunst als Vitaminspritze für
müde Geschäftsleute verordnet. Hegel war, auf der Paßhöhe des
Idealismus, der erste, der wie gegen die auf das achtzehnte
Jahrhundert, Kant eingeschlossen, zurückdatierende
Wirkungsästhetik so auch gegen jene Ansicht von der Kunst
Einspruch erhob mit dem Satz, diese sei kein horazisch angenehmes
oder nützliches Spielwerk.
 2
 
Dennoch kommt der Platitude von der Heiterkeit der Kunst ihr Maß
an Wahrheit zu. Wäre sie nicht, wie immer auch vermittelt, für die
Menschen eine Quelle von Lust, so hätte sie in dem bloßen Dasein,
dem sie widerspricht und widersteht, nicht sich erhalten können.
Das aber ist ihr nichts Äußerliches sondern ein Stück ihrer eigenen
Bestimmung. Die Kantische Formel von der Zweckmäßigkeit ohne
Zweck spielt, obgleich sie die Gesellschaft nicht nennt, darauf an.
Das Ohne Zweck der Kunst ist ihr Entronnensein aus den Zwängen
von Selbsterhaltung. Sie verkörpert etwas wie Freiheit inmitten der
Unfreiheit. Daß sie, durch ihr bloßes Dasein, aus dem herrschenden
Bann heraustritt, gesellt sie einem Glücksversprechen, das sie irgend
selbst mit dem Ausdruck von Verzweiflung ausdrückt. Noch vor
den Spielen Becketts hebt sich der Vorhang wie vor dem
weihnachtlichen Zimmer. Vergebens arbeitet die Kunst, im
Bestreben, ihres Scheinhaften sich zu entäußern, daran sich ab, jenes
Restes von Beseligendem ledig zu werden, in dem sie den Verrat
wittert an die Jasagerei. Die These von der Heiterkeit der Kunst ist
indessen sehr genau zu nehmen. Sie gilt für die Kunst als ganze,
nicht für die einzelnen Werke. Diesen mag Heiterkeit gründlich
abgehen, nach dem Maß des Schreckens der Realität. Das Heitere an
der Kunst ist, wenn man so will, das Gegenteil dessen, als was man
es leicht vermutet, nicht ihr Gehalt sondern ihr Verhalten, das
Abstrakte, daß sie überhaupt Kunst ist, aufgeht über dem, von
dessen Gewalt sie zugleich zeugt. Darin bestätigt sich der Gedanke
des Philosophen Schiller, der die Heiterkeit der Kunst in ihrem
Wesen als Spiel erkannte und nicht in dem, was sie, auch jenseits
des Idealismus, an Geistigem ausspricht. Kunst ist a priori, vor ihren
Werken, Kritik des tierischen Ernstes, welchen die Realität über die
Menschen verhängt. Indem sie das Verhängnis nennt, glaubt sie es
zu lockern. Das ist ihr Heiteres; freilich ebenso, als Veränderung des
jeweils bestehenden Bewußtseins, ihr Ernst.
 3
 
Aber die Kunst, die gleich der Erkenntnis all ihr Material und am
Ende ihre Formen von der Realität, und zwar der gesellschaftlichen,
empfängt, um sie zu verwandeln, ist dadurch verstrickt in ihre
unversöhnlichen Widersprüche. Ihre Tiefe mißt sich danach, ob sie
durch die Versöhnung, die ihr Formgesetz den Widersprüchen
bereitet, deren reale Unversöhntheit erst recht hervorhebt. In ihren
entlegensten Vermittlungen zittert der Widerspruch nach wie im
äußersten Pianissimo der Musik das Dröhnen des Schrecklichen.
Wo der Kulturglaube ihr eitel Harmonie nachrühmt, wie bei Mozart,
bekundet diese die Dissonanz zum Dissonierenden und hat es zur
Substanz. Das ist Mozarts Trauer. Nur durch die Verwandlung des
gleichwohl als negativ Erhaltenen, Widersprüchlichen vollbringt
Kunst, was verleumdet wird, sobald man es zu einem Sein jenseits
des Seienden verklärt, unabhängig von seinem Gegenteil. Pflegen
die Versuche, Kitsch zu definieren, zu scheitern, so wäre jedenfalls
der nicht der schlechteste, der zum Kriterium von Kitsch macht, ob
ein Kunstprodukt, und wäre es durch den Nachdruck des
Gegensatzes zur Realität, das Bewußtsein des Widerspruchs
ausprägt oder darüber betrügt. Unter solchem Aspekt ist von
jeglichem Kunstwerk sein Ernst zu fordern. Kunst vibriert zwischen
ihm und der Heiterkeit als der Realität Entronnenes und gleichwohl
von ihr Durchdrungenes. Allein solche Spannung macht Kunst aus.
 4
 
Was es mit der widerspruchsvollen Bewegung von Heiterkeit und
Ernst in der Kunst – ihrer Dialektik – auf sich hat, dürfte einfach
sich erläutern durch zwei Distichen Hölderlins, die der Dichter wohl
mit Absicht nahe zusammenrückte. Das erste, ›Sophokles‹ betitelt,
lautet: »Viele versuchten umsonst das Freudigste freudig zu sagen /
Hier spricht endlich es mir, hier in der Trauer sich aus.« Die
Heiterkeit des Tragikers wird nicht im mythischen Inhalt seiner
Stücke aufzusuchen sein, vielleicht nicht einmal in der Versöhnung,
die er den Mythen angedeihen läßt, sondern darin, daß er es sagt,
daß es sich ausspricht; beide Ausdrücke werden in Hölderlins
Versen mit Emphase verwandt. Das Glück ist bei der Sprache, die
über das bloß Seiende hinausweist. – Das zweite Distichon trägt die
Überschrift ›Die Scherzhaften‹: »Immer spielt ihr und scherzt? ihr
müßt! o Freunde! mir geht diß / In die Seele, denn diß müssen
Verzweifelte nur.« Wo Kunst von sich aus heiter sein will, und
damit zu jenem Gebrauch sich schickt, zu dem Hölderlin zufolge
nichts Heil'ges mehr taugt, wird sie eingeebnet aufs Bedürfnis der
Menschen und ihr Wahrheitsgehalt verraten. Ihre verordnete
Munterkeit paßt in den Betrieb. Sie bekräftigt die Menschen darin,
ihn weiter über sich ergehen zu lassen, mitzutun. Das ist die Gestalt
objektiver Verzweiflung. Nimmt man das Distichon schwer genug,
so richtet es alles affirmative Wesen von Kunst. Es hat seitdem,
unter dem Diktat der Kulturindustrie, zur Allgegenwart, der Scherz
zur grinsenden Fratze von Reklame schlechthin sich entwickelt.
 5
 
Denn das Verhältnis des Ernsten und Heiteren von Kunst unterliegt
einer historischen Dynamik. Was irgend heiter an ihr genannt
werden darf, ist ein Entsprungenes, undenkbar in archaischen
Werken oder solchen strikt theologischen Ortes. Das Heitere an
Kunstwerken setzt etwas wie städtische Freiheit voraus, nicht erst
im frühen Bürgertum wie Boccaccio, Chaucer, Rabelais, der Don
Quixote, sondern bereits als das, was späteren Epochen klassisch
hieß, von der Archaik sich sondert. Womit Kunst dem
finster-ausweglosen Mythos sich entringt, das ist wesentlich Prozeß,
keine unveränderlich zugrunde liegende Wahl zwischen ernst und
heiter. Im Heiteren der Kunst wird Subjektivität ihrer selbst inne
und bewußt. Durch Heiterkeit zieht sie aus dem Verstrickten sich
auf sich selbst zurück. Das Heitere hat etwas von bürgerlicher
Freizügigkeit, gerät allerdings damit auch in die geschichtliche
Fatalität des Bürgertums. Was einmal Komik war, stumpft
unwiederbringlich sich ab; die spätere ist verderbt zum schmatzend
einverstandenen Behagen. Am Ende wird sie unerträglich. Wer
jedoch könnte danach noch über den Don Quixote lachen und den
sadistischen Spott über den, welcher vorm bürgerlichen
Realitätsprinzip versagt? Was gar an den heute wie damals genialen
Komödien des Aristophanes komisch sein soll, ist zum Rätsel
geworden, die Gleichsetzung des Derben mit dem Komischen nur
noch in der Provinz nachzufühlen. Je gründlicher die Gesellschaft
jene Versöhnung schuldig bleibt, die der bürgerliche Geist als
Aufklärung des Mythos versprach, um so unwiderstehlicher wird
Komik in den Orkus gerissen, Lachen, einst Bild von Humanität,
zum Rückfall in die Unmenschlichkeit.
 6
 
Seitdem die Kunst von der Kulturindustrie an die Kandare
genommen wird und unter die Konsumgüter sich einreiht, ist ihre
Heiterkeit synthetisch, falsch, verhext. Nichts Heiteres ist vereinbar
mit dem willkürlich Angedrehten. Das befriedete Verhältnis der
Heiterkeit zur Natur schließt aus, was diese manipuliert und
kalkuliert. Der Unterschied, den die Sprache zwischen Witz und
Witzelei macht, legt davon recht präzise Rechenschaft ab. Wo
Heiterkeit heute auftritt, ist sie entstellt als anbefohlene, bis in das
ominöse Jedennoch jener Tragik hinein, die damit sich tröstet, daß
das Leben nun einmal so sei. Kunst, die anders als reflektiert gar
nicht mehr möglich ist, muß von sich aus auf Heiterkeit verzichten.
Dazu nötigt sie vor allem anderen, was jüngst geschah. Der Satz,
nach Auschwitz lasse kein Gedicht mehr sich schreiben, gilt nicht
blank, gewiß aber, daß danach, weil es möglich war und bis ins
Unabsehbare möglich bleibt, keine heitere Kunst mehr vorgestellt
werden kann. Objektiv artet sie in Zynismus aus, mag immer sie die
Güte menschlichen Verstehens sich erborgen. Übrigens ist solche
Unmöglichkeit von der großen Dichtung, zuerst wohl bei
Baudelaire, fast ein Jahrhundert vor der europäischen Katastrophe
gespürt worden, dann auch bei Nietzsche und in der Absage der
George-Schule an den Humor. Dieser ist übergegangen an die
polemische Parodie. Dort findet er temporäre Zuflucht, solange, wie
er unversöhnlich verharrt, ohne Rücksicht auf den Begriff der
Versöhnung, der einst an den Begriff Humor sich heftete.
Nachgerade ist die polemische Gestalt des Humors ebenfalls
fragwürdig geworden. Sie darf nicht mehr mit solchen rechnen, die
sie verstünden, und wenn irgendeine künstlerische Form, vermag
Polemik nicht ins Leere zu zielen. Vor einigen Jahren gab es eine
Debatte darüber, ob der Faschismus komisch oder parodistisch
dargestellt werden dürfe ohne Frevel an den Opfern. Unverkennbar
das Läppische, Schmierenkomödiantische, Subalterne, die
Wahlverwandtschaft Hitlers und der Seinen mit
Revolverjournalismus und Spitzeltum. Lachen läßt darüber sich
nicht. Die blutige Realität war nicht jener Geist oder Ungeist, dessen
der Geist zu spotten vermöchte. Das waren noch gute Zeiten, mit
Schlupfwinkeln und Schlamperei mitten im System des Grauens, als
Hasek den Schwejk schrieb. Komödien über den Faschismus aber
machten sich zu Komplizen jener törichten Denkgewohnheit, die ihn
vorweg für geschlagen hält, weil die stärkeren Bataillone der
Weltgeschichte gegen ihn stünden. Die Stellung des Siegers zu
beziehen, ziemt am letzten den Gegnern der Faschisten, welche die
Pflicht haben, in nichts denen zu gleichen, die in jener Stellung sich
verschanzen. Die geschichtlichen Kräfte, welche das Grauen
hervorbrachten, stammen aus der Gesellschaftsstruktur an sich. Es
sind keine der Oberfläche und viel zu mächtig, als daß es
irgendeinem zustünde, sie zu behandeln, als hätte er die
Weltgeschichte hinter sich, und die Führer wären tatsächlich die
Clowns, deren Gedalber ihre Mordreden nachträglich erst ähnlich
wurden.
 7
 
Weil indessen das Moment von Heiterkeit in der Freiheit der Kunst
vom bloßen Dasein besteht, die noch die desperaten Werke, und sie
erst recht, bewähren, wird das Moment von Heiterkeit oder Komik
geschichtlich nicht einfach aus ihnen ausgetrieben. Es überlebt in
ihrer Selbstkritik, als Komik der Komik. Die Züge des kunstvoll
Sinnlosen und Albernen, die an den gegenwärtigen radikalen
Kunstwerken den Positiven soviel Ärgernis geben, sind weniger
Rückbildung der Kunst auf ein infantiles Stadium als ihr komisches
Gericht über die Komik. Wedekinds Schlüsselstück gegen den
Verleger des Simplizissimus führt den Untertitel: Die Satire der
Satire. Verwandtes enthält Kafka, dessen Schockprosa manche
seiner Deuter, auch Thomas Mann, als Humor empfanden und
dessen Verhältnis zu Hasek slowakische Autoren erforschen.
Vollends vor Becketts Stücken überantwortet die Kategorie des
Tragischen ebenso sich dem Gelächter, wie sie allen
einverstandenen Humor abschneiden. Sie bezeugen einen
Bewußtseinsstand, der die gesamte Alternative Ernst und Heiter
nicht mehr zuläßt und auch nicht das Gemisch Tragikomik. Tragik
zergeht vermöge der offenbaren Nichtigkeit des Anspruchs der
Subjektivität, die da tragisch sein sollte. Anstelle von Lachen tritt
das tränenlose, verdorrte Weinen. Die Klage ist zu der von hohlen,
leeren Augen geworden. Gerettet wird der Humor in Becketts
Stücken, weil sie anstecken mit dem Lachen über die Lächerlichkeit
des Lachens und über die Verzweiflung. Dieser Prozeß verbindet
sich mit dem der künstlerischen Reduktion, einer Bahn zum
Existenzminimum als dem Minimum von Existenz, das übrig ist.
Dies Minimum diskontiert, vielleicht um sie zu überleben, die
geschichtliche Katastrophe.
 8
 
In der zeitgenössischen Kunst zeichnet ein Absterben der
Alternative von Heiterkeit und Ernst, von Tragik und Komik,
beinahe von Leben und Tod sich ab. Kunst verneint damit ihre
gesamte Vergangenheit, darum wohl, weil die gewohnte Alternative
einen zwischen dem Glück des fortdauernden Lebens und dem
Unheil gespaltenen Zustand ausdrückt, welches das Medium seiner
Fortdauer bildet. Kunst jenseits von Heiterkeit und Ernst mag
ebenso Chiffre von Versöhnung wie von Entsetzen sein kraft der
vollendeten Entzauberung der Welt. Solche Kunst entspricht sowohl
dem Ekel vor der Allgegenwart offener und verkappter Reklame
fürs Dasein wie dem Widerstreben gegen den Kothurn, der durch
die Überhöhung des Leidens abermals Partei für seine
Unabänderlichkeit ergreift. So wenig Kunst mehr heiter ist, so
wenig mehr ist sie, angesichts des Jüngstvergangenen, ganz ernst.
Zweifel werden wach, ob sie je so ernst war, wie die Kultur den
Menschen es einredet. Sie darf nicht mehr, wie Hölderlins Dichtung,
die mit dem Weltgeist sich fühlte, das Sagen der Trauer dem
Freudigsten gleichsetzen. Der Wahrheitsgehalt der Freude scheint
unerreichbar geworden. Daß die Gattungen sich verfransen, daß die
tragische Gebärde komisch dünkt und die Komik trübselig, hängt
damit zusammen. Tragik verwest, weil sie Anspruch auf den
positiven Sinn von Negativität erhebt, jenen, den die Philosophie
positive Negation nannte. Er ist nicht einzulösen. Die Kunst ins
Unbekannte hinein, die einzig noch mögliche, ist weder heiter noch
ernst; das Dritte aber zugehängt, so, als wäre es dem Nichts
eingesenkt, dessen Figuren die fortgeschrittenen Kunstwerke
beschreiben.
  
Anhang
 Expressionismus und künstlerische Wahrhaftigkeit
Zur Kritik neuer Dichtung
Primär als Ausdruck eines in Bildung begriffenen neuen Seelentums
einerseits, Ergebnis wurzellos gewordener Stilgebundenheit
andererseits, Schöpfung zugleich und Reaktion, setzt der
Expressionismus das Ich absolut, fordert den reinen Ausschrei.
Verrückt werden die gerosteten Drahtzäune zwischen Leben und
Kunst; beide sind eines als Wirkung des großen Erlebnisses der Zeit,
– verrückt scheinen den Trägen die Hirne derer, die Zäune
verrücken, um Bau zu türmen. In neue und fremde Formen
gewiesen, ist der Expressionismus erklärter Kampf. Alle
überkommenen Formen, die er durchtobt, werden zu
Reibungsflächen, an denen er sich zur Fackelglut entflammt. Kräfte
ausschleudernd gegen ungezählte Widerstände, findet er nie
Richtung ins Selbst, richtet das Selbst wider die Welt.
Beschaulichkeit, Selbstbesinnung sind ihm fremd; wo er den Mut
besitzt, klug zu sein, braucht er seine Klugheit nur, um die konträren
Formen zu zersetzen. Die eigenen Voraussetzungen scheinen ihm
endgültig, erhaben über den Zweifel.
So tobt die neue Kunst einer Krise entgegen.
Bedeutet Kunst schließlich das Auflösen des Ich in eine höhere
Einheit, muß sie als Katharsis die ganze Tiefe des Ich umfassen, so
hat sie dann erst Geltungsrecht, wenn sie wahrhaftig ist. Nicht etwa:
einen Zustand, einen Vorgang, eine Seele spiegelt aus der
Wirklichkeit von deren Umwelt, sondern: in ihr Blickfeld nur das
einbezieht, was adäquat ist dem Erlebnisuntergrund, über dem die
Kunst aufwächst. Die Wahrhaftigkeit des Erlebnisses ist das erste
Gesetz der Gestaltung. Diese Wahrhaftigkeit aber ist zweifach – wie
Kunst in Werden, Form, Wirkung zweifach ist. Ihre Komponenten
sind Welt und Ich – ausgedrückt durch typisches und individuales
Erlebnis. Die Wahrhaftigkeit des Icherlebnisses ist notwendig, das
Werk aus dem Chaos der Seele zur Reinheit eines gesonderten
Willens emporzuzwingen. Die Katharsis erfordert Wahrhaftigkeit
des Welterlebnisses. Dann nur vermag die Dichtung das Ich in die
überzeitliche Gesetzlichkeit der Menschheit überzuführen, wenn sie
das Bild dieser Menschheit – bedeute sie nun noch Feind oder schon
Ziel – nach ihrer typischen gemeinsamen Eignung entrollt. Nur eine
wahre, aus dem typischen Erlebnis hervorquellende Menschheit
vermag Ziel zu sein. Ist die individuale Wahrhaftigkeit Gebot in
jeder Lebensform, so prägt der Gedanke der Katharsis die typische
zum spezifisch künstlerischen Gebot.
War der vorexpressionistischen Kunst die individuale (und
damit freilich auch die typische, insofern nämlich sie die
Menschheitsschöpfung gar nicht mehr einbezog, die Katharsis
überwunden glaubte!) Wahrhaftigkeit verloren gegangen, so droht
der Expressionismus die typische zu verlieren.
Das dem Ich-Abbild entgegengesetzte Weltbild bleibt Abbild
des auf die Welt projizierten Ich, nicht Abbild der typischen
Erlebnisinhalte. Soweit expressionistischer Wille aus einem Pol
Kraft zu saugen versucht, lyrisch bleibt, ergibt die Welt
schimmernden Spiegelsaal der Seele, durchflutet von einem
unbezweifelbaren Licht. Wo jedoch der Strom des Schaffens
Induktion sucht durch eine Vielheit, sich ballt zur Zweiheit
kämpfenden Willens, Drama anstrebt – nimmt der Expressionismus
den Weg über eine Lüge, die, geschickt verdeckt, ethisch
wohlverbrämt an irgendeiner Stelle doch den Wert vernichtet. Der
Künstler, unfähig oder nicht willens, die Vielheit der Welt aus ihrer
Totalität heraus zum Typus zu gestalten, setzt das individuale und
im letzten zufällige Eindruckserlebnis zum Abbild der Welt, damit
die Seele der Totalität, die zu gestalten er sich vorgenommen,
einfach unterschlagend. Daß er dies eingesteht, erklärt aus der
Notwendigkeit seiner Zeit, zum Programm erhebt, beweist nur die
Unfähigkeit der Gestaltung. Die Freiheit des Ich ist dem
Expressionisten noch nicht Gesetz geworden. Symptom für die
letzte Unwahrhaftigkeit ist das Zersetzen der Wirklichkeiten – die
ihrer Eigengesetzlichkeit beraubte Welt wird Spielzeug in der Hand
dessen, der sie ergreift nur um der Zweiheit willen, nicht, um aus
der Zweiheit ihren Sinn zu ergründen. Das Drama wird
Scheinvorgang, Aufprall von Doppelgängern; die von ihm
übergangene Welt bleibt gleichgültig an ihm. Das Drama wird
sinnlos. Und der Schöpfer verfällt einer Unehrfürchtigkeit, die ihn
an irgendeinem Punkte lieblos macht und steril.
Um die Gefahr der Unwahrhaftigkeit an einem der ersten und
richtungweisenden expressionistischen Dramen aufzuzeigen: es ist
kein Zweifel, daß Reinhard Sorges ›Bettler‹ individual restlos
ehrlich durchlebt wurde. Aber aus der Tatsache, daß eines Dichters
Vater ein wahnsinniger Architekt ist (ohne daß die Wurzeln seines
Wahnsinns irgendwie bloßgelegt würden!), folgt nicht das Recht,
den »Vater« als typisches Erlebnis nun zum wahnsinnigen
Architekten werden zu lassen. Ebenso gut könnte er besoffener
Spießer sein. Das große typische Erlebnis von Vater und Sohn,
weltgegensätzlich aufwachsend an der tragischen Antithese vom
Werden und Vergehen, wird verzufälligt zum Kampf Irgendwelcher.
Die Wahrheit der Welt wird zur Fratze verengt wie nur in
irgendeinem naturalistischen Schmarren der neunziger Jahre. Die
eherne Notdurft dramatischen Wuchses im Tiegel eines ganz nur
ichhaften tout comprendre eingeschmolzen. Die ethische Geltung
verschwindet – wo sie Forderung bleibt, ist sie unwahr geworden. –
Daß über den nicht welthaften Zufall die Decke einer mystisch
ungreifbaren Gesetzlichkeit gebreitet ist, mag man gelten lassen
vielleicht als lyrisches Stilmittel spätlingsromantischer Form –
nimmer aber als dramatischen Faktor.
Die Kunst der Zeit steht vor der Frage nach ihrem Bestand. Ihre
Notwendigkeit droht zum Schein zu verblassen, und, wo sie
ausgeschrien wird, zur Lüge herabzusinken. Ichhaft
Zufälliggewordenes bleibt ichhaft zufällig auch in seiner Wirkung.
Wir alle drohen Schuldige zu werden am Geiste. Es ist an der Zeit,
das zu erkennen. Die kommenden Tage, in die wir gebannt unsern
Blick eingesenkt halten, werden uns künden, ob der neue Wille neue
Wahrhaftigkeit zu gebären die Kraft in sich trägt.
 ›Platz‹
 
Zu Fritz von Unruhs Spiel
Es handelt sich nicht um irgendeinen. Der Dichter Fritz von Unruh
war während fast eines Dezenniums, zu einer Zeit unerhörter
Kräfteanspannung, des deutschen Volkes große dramatische
Hoffnung. Offen und erklärtermaßen mit dem ein Jahrhundert
umspannenden Blick von Weimar bis Wedekind. Die Vielen
witterten etwas vom Schillerkragen und Lorbeerkranz und fingen
an, um ihre tiefste Sehnsucht zu wissen. Vielleicht hatten sie recht.
Eine bekenntnisdick mit roter Tinte unterstrichene Linie – die
Unterstreichung mag einstmals blau gewesen sein – wurde in ihrer
Betonung erkannt und gedeutet. Man flüsterte den Namen, der ein
Programm war: Heinrich von Kleist. Und man flüsterte ihn nicht nur
...
Da der Dichter Fritz von Unruh nun in dreieinhalb
Theaterstunden seine Gestalten von allen Problemen reden läßt, die
der Gegenwart wesentlich sind oder scheinen: so ist es nicht mehr
an der Zeit, von Begabung zu sprechen und Qualitäten abzuwägen
wider einander. Es handelt sich nicht um irgendeinen. Hier will ein
Künstler mit dem Anspruch der Reife in seiner Ganzheit verstanden
und gewertet sein. Es gibt nur einen Maßstab: den der absoluten
schöpferischen Leistung. Wollte der Dichter den erstrebten
Dimensionen seines Spiels treu bleiben, er müßte jede andere
Einstellung als nicht immanent zurückweisen.
Das Ziel war: den Weg zu einer neuen Menschheit aufzuzeigen.
Es ist öfter und nackter ausgesprochen, als es die Schamhaftigkeit
dieser unmittelbarsten und darum zu einer selbst mit Härte nur
durch die distanzierte Eigenkraft wirkenden Vornehmheit
gezwungenen Form gerechtfertigt erscheinen läßt. Es wird am
Schluß als Vorhang über das Stück gebreitet; es werden alle
Gestalten auf der Bühne und die Gläubigen und die Zynischen im
Parkett, den wacker schwitzenden Beleuchtungsmeister nicht zu
vergessen, darin eingehüllt, daß sie allesamt – wieder einmal –
wissen: der Mensch ist gut. Da heißt es:
 
Ich sehe
tief in das Herz der Welt, da deine Kraft
aus neuer Liebe neue Menschen schafft. 1
 
Und darunter steht »Ende« – gesperrt gedruckt.
Vorher aber vernimmt man von einem Oberherrn, der,
verrotteter Vertreter einer verrotteten Zeit, rotbärtig eines
symbolischen Scheintodes stirbt; von seinen zwei wunderschönen
Töchtern, deren eine eine Edelhure und deren andere ein geistiger
Mensch ist; von einem Kulturschieber namens Schleich, der in
eroticis einige Erfahrung besitzt und überdies Sternheim gelesen hat
– wie in sarkastischer Parenthese der Dichter blinzäugelt. Von
einem schlagwortgepanzerten Militaristen; von einem
homosexuellen Greis. Dann von einem jugendlichen Helden namens
Dietrich, der auch einer von denen ist, die Kronen weiterschleppen
sollen; der schon im ›Geschlecht‹ vorkam und von dort eine
Erbschaft an Gefühlen und seinen feigen Bruder mitbringt; der mit
der Byrongeste seinen Schmerz hinträumt und von Venedig spricht,
die geistige Tochter zweimal rein und einmal unrein liebt und
dazwischen die Edelhure in der entsprechenden Weise küßt. Der
zeitweise Führer aufständischen Volkes ist. Dessen letztes Wort ein
Schrei und ein Frauenname. Dieser Frauenname aber lautet: Irene.
Das ist ein griechisch Wort und bedeutet: Friede. Und es ist
nichts unwesentlich in diesem Spiel – also auch kein Name.
Demnach Grund vorhanden zur Annahme, daß er uns lehren soll,
wie durch die Synthese mit dem geistigen Weibe schließlich der
gute Mensch in seinem dunklen Drange sich löse zur Reinheit seiner
prästabilierten Harmonie. Man könnte es auch bürgerlicher
verstehen, aber man denke an die neue Menschheit. Dann wird es
notwendig das Ewig -Weibliche, das Dietrich hinanzieht, und nicht
das Weibliche schlechthin. Auch wenn er etwas von Weininger
weiß oder dem bösen Prinzip.
Die Frage lautet denn also: ob der Weg gewiesen ist, ob die
postulierte eirhnh eine Wahrheit, ob das Spiel eine Wahrheit
bedeutet. Darauf allein kommt es an, von diesem Zentrum aus ist
das Stück in seinen künstlerischen Möglichkeiten zu erfassen. Der
Beweis – oder Gegenbeweis – läßt sich nicht absolut führen, weil
der Dichter Fritz von Unruh nicht eine philosophische Dissertation
als bühnenfähig dramatisiert hat. Sondern die Frage nach eines
Kunstwerks Wahrhaftigkeit ist immer zugleich die nach seiner
künstlerischen Wahrhaftigkeit.
Der Sinn des Dramas ist: eine Zweiheit in eine höhere Einheit
überzuführen. Wenn überhaupt man aus einem Glauben an geistige
Werte heraus die Vielheit der Erscheinungen nach einer Zweiheit
sondert. Man halte mir nicht Kokoschka entgegen, dessen Dramen
in die Zeit gewachsene Bilder sind, deren Zweiheit als die von
Raum und Zeit nur in der Transzendenz zu erleben ist, und die
darum als Dramen in gültigem Sinne mit den gültigen
Voraussetzungen sich nicht ansehen lassen. Die Schreihälse des
Expressionismus aber, die in der Absolutsetzung ihres Ich, die eine
Flucht war, eine Einheit zu schaffen meinten, haben sich heute
schon ausgeschrien und kommen ernsthaft nicht mehr in Betracht.
Die paar Wesentlichen aber und Unruh nehmen in ihrem Werk die
dramatische Voraussetzung an. Noch im ›Geschlecht‹ ist sie in der
Tragik des Ältesten Sohnes, über die hinaus die Bejahung des
Jüngsten Sohnes wächst, deutlich wirkend.
Anders in ›Platz‹. In der verwirrenden Fülle von Gestaltbildern
überwuchern die Symbole ungezählter Gesetze und Zweiheiten
dergestalt, daß ihr Sinn: die Gesetze, die Zweiheiten selbst nicht
erkennbar sind. Nirgendwo wird die dramatische Zweiheit aus sich
selbst heraus ganz explicit. Das Ziel ist die neue Menschheit. Die
tragische Problematik müßte als Endergebnis dieser Menschheit
Schöpfung hervorquellen lassen. Doch der Dichter Fritz von Unruh
fühlt sich nicht gebunden an sein Ziel. Wohl ist in Dietrich – in
dessen das ganze Stück umspannender Wesensentwicklung die
Wendepunkte der dramatischen Kurve zu suchen sind – die
Problematik von Ichgefühl und Menschheitsgefühl spürbar gemacht.
Von seiner Befreiungsaufgabe inmitten einer Welt geschichtlich
bedingter Tatsächlichkeiten reißt ihn gewaltsam ein naturhaft
eruptives Ichgefühl zu Irene weg – das freilich, gelöst aus dem
Bereiche kosmischer Schwärmerei, ethisch unendlich vieldeutig ist.
– Aber die Linie wird sogleich umgebogen, und eine Entscheidung
vollzieht sich expositionslos, ehe die Kräfte entwickelt sind. –
Gewiß ist nicht eine künstlerisch schließlich destruktive psychische
Analysis im Sinne Ibsens etwa zu fordern. Aber jede Entscheidung
muß doch aus dem dramatischen Prozeß als notwendig
hervorspringen, darf nicht aus der Willkür einer szenischen
Situation einzig und unvollkommen sich erklären. Die wirkliche
Entscheidung vollzieht sich bereits mit dem Blick, der Dietrich und
Irene aneinander kettet. Dieser Blick liegt vor dem Drama. Da
außerhalb des Dramas gleichsam Unruh Dietrich zur Liebe eines
Einzelwesens sich entscheiden läßt, erst viel später wieder das erste
Problem aufgreift und unter ganz anderer Schau: so ist es ihm wohl
nicht – o Reichtum dramatischer Bewegung! – zentral gewesen.
Es wäre denn zentral: wie das Liebesgefühl Dietrichs in seiner
Wandlung wächst.
Und da zeigt sich ein Erstaunliches: es wächst überhaupt nicht.
Aus dem Bereich naturhaft polarer Anziehung bis zur Vereinung mit
Irene geführt, sinkt es in einer höchst nachträglichen,
psychologisierenden Linie zur absoluten Negation des Geistigen, die
sich in verzweifelter Nur-Körperlichkeit ausdrückt, herab, um dann
mühselig an einer Opernmelodie wiederum sich emporzuranken zu
einem Ja.
Dies aber ist zutiefst undramatisch. Erfülltes Drama ist immer
hart, wenn auch eine umspannende Güte es gezeugt. Hier jedoch
strahlt eine unerklärliche Milde des Dichters, die fast nach Mitleid
aussieht, auf seine ohne eingeborenes Gesetz dahintaumelnden
Gestalten und schmilzt sie um also, daß sie schließlich so klug und
vor allem: so gut dastehen als wie zuvor. Keine Welt wird verbrannt
und nur eine äußere fällt zusammen.
Denn auch das positive Ergebnis, der Wechsel der Erosformen,
ist nicht dramatisch. Die sprachlichen Opernentgleisungen,
Wagnerei schlimmster Art, sind symptomatisch dafür, wie sehr das
Verhaftetsein im Ich, das Nicht-bedingt-werden durch den Aufprall,
Unruh zwingt, in lyrischer Dichtform ungestaltete Monologe zu
umschreiben. Andererseits spiegelt sich der dramatische Verlauf nur
in realen Geschehnissen, und die psychische Wandlung bleibt
diesseits des dramatischen Prozesses romanhaft stehen. ›Platz‹ ist
kein Drama: weil alle Entscheidungen unter dem Zwange der
apodiktischen Gegebenheiten Lehrsätze sind, deren Auflösung in
Bühnengeschehnisse durchaus zufällig unter dem Einfluß von außen
an den dramatischen Prozeß herangetragener Zeiterkenntnisse sich
vollzieht.
Mehr noch. Der Weg, den Dietrich durchmißt, hat mit dem
Wege der Menschheit nichts zu tun. In seiner Vergeistigung selbst
führt er lediglich durch seelisches Land, das so sehr nur einem
raumzeitlich eng umgrenzten Ich angehört, daß es den Mutterboden
für den Wuchs typischer Gestalten nie und nimmer bedeuten kann.
Denn wieder ist hier das Erotische zum alleinigen Träger der
Ichentwicklung geworden, das ohne Schöpfung einer geistigen
Totalität der Persönlichkeit immer untypisch bleibt. Und was liegt
uns, die wir von ›Madame Bovary‹ über ›Hedda Gabler‹ bis
Strindberg alle Formen erotischer Komplizierung erfahren haben,
heute noch am erotischen Spezialfall? Der mag den Biologen oder
den Mediziner interessieren. Wir haben nach dem Weg zur
Menschheit gefragt; und als Antwort gibt uns der Dichter Fritz von
Unruh das Irgendwie eines Eros, dessen modale Einzelschichten
weder künstlerisch tragfähig noch auch menschlich zwingend sind.
Hier die Wurzel einer anderen Schwäche. Der Dichter sagt:
»Das Spiel ist an kein Zeitkostüm gebunden«; und sichtlich erblickt
er in der »Zeitlosigkeit« seines Stückes eine Stärke. Sie ist das
Gegenteil. Der ›Platz‹ liegt nicht jenseits der Zeiten, sondern
diesseits – wie alles, was hier Unendlichkeit bedeuten möchte, nur
formlose Diesseitigkeit ist. Weil der Dichter zu schwach ist, aus
seiner selbstischen Erosgebundenheit den Helden zum Träger eines
geschichtlichen Vorganges zu prägen, weil er befürchten muß, die
Kleinheit seiner Inhalte möchte ihn vor den scharf
herausgemeißelten Formen eines irgendwie historisch sich
gliedernden Hintergrundes unwesentlich und banal erscheinen
lassen, deshalb läßt er das Drama verwehen im Nebel
wirklichkeitsfremder Ironie, damit alle seine Gestalten entwurzelnd
und ihre Menschlichkeit zu hysterischer Gespensterei zersetzend.
›Platz‹ ist ein romantisches Stück im verwerflichsten Sinne: weil
eine Flucht, eine Notdurft, eine Feigheit ihm den Boden wegzieht
unter den Füßen, und nicht eine ethisch unmittelbare Zeugungskraft
es aufreißt zum Fluge.
Denn – und das soll mit aller Deutlichkeit ausgesprochen
werden – die postulierte Vergeistigung des Eros ist in der Formung,
welche sie hier erfährt, eine große Lüge. Soll in ihr die Stufe der
Natur mit der Gebärde ethischen Wissens überwunden werden, dann
ist sie eine unbegrenzte, ganz und gar unschöpferische Negierung,
krank, selbst pervers. Soll sie aber eine Synthese auf höherer Ebene
bedeuten, dann widerspricht ihr der dramatische Verlauf. Denn im
letzten ist es eine allenfalls verderbte, doch in ihren Wurzeln höchst
primitive Nur-Geschlechtlichkeit, die immer und immer wieder den
Personen ihre Worte in den Mund und ihre Taten in die Hand gibt.
Die Vergeistigung ist dann ungestaltetes Programm geblieben. Des
Dichters Kraft hat nicht ausgereicht.
Und diese Schwäche, die nichts anderes ist als die Schwäche,
Menschheit zu gestalten, sie zeigt sich auch in der Form des
Dramas. Es ist die gleiche Erscheinung wie einst bei Grabbe: im
Willen zur Umfassung verliert der Dichter die Bilder der Dinge aus
dem Bereich seines Blickes. Die Idee, wegen ihrer Engung im
Erotischen von Anbeginn nicht mitzwingend, verzettelt sich in
Aperçus bis zu einer Zeitkritik von erstaunlich engem Horizont. So
sehr, daß mehr und mehr in mir der Verdacht Gewißheit wurde, es
habe das Stück überhaupt keine Idee. So fehlt dem Drama jede
Kristallisationsmöglichkeit: es springt keine künstlerisch
überzeugende Form hervor. So werden auch die oft klobig genug
aufgesetzten Schatten nicht wirksam; ein trübes Grau überdeckt alle
Gestalten. Darum wirken die vielen kritisch gemeinten
Allzugeschlechtlichkeiten wie Zoten. Oder vielmehr: sind Zoten,
weil sie nicht von der luftdurchwehten Gesundheit dramatischen
Willens getragen sind, sondern als Dokumentierung einer nur sich
selbst ausschreienden sittlichen Freiheit hervorgestoßen werden in
toller Parabase einer Komödie, die als Drama sinnlos ist.
Es ließe sich kein treffenderes Symbol finden für die geistige
Situation dieses Dichters, als jenes von ihm selbst nahegelegte: der
Inzest. Von einer vielleicht einmal im Antrieb starken Bewegung
ausgehend, bleibt sein Werk verhaftet in der Enge der einander
widerstreitenden Bedingtheiten des Schöpfers; inzestisch sucht es
aus seinem monomanischen Kreisen um das Eigenerlebnis einer
halbbejahten Geschlechtlichkeit eine höhere Welt zu gebären, die
doch immer wieder mit allen Mängeln und Sünden des eben erst
verdammten Alten behaftet sein muß. So bewegt sich Unruhs Werk
in konzentrischen Kreisen: immer wieder rückläufig zu den
Ausgangspunkten zurückkehrend. Damit aber unschöpferisch. Und
mit der ethischen Geste und dem Pharisäismus eines
Sich-für-wahrhaltens den Wirbel seines Kreisens für Schöpfung
auszugeben, ist eine Lüge. Jeder Kompromiß vor dieser Tatsache
bedeutet: selbst zum Lügner werden an der Zeit: zum Lügner am
Geiste.
 
Es handelt sich nicht um irgendeinen.
Daß ›Platz‹ bei seinen tausend Unzulänglichkeiten doch höchst
gekonnte Bühne ist, versteht sich. Beweist überdies nur: daß der
Vorwurf der Unwahrhaftigkeit in mehr als einer Hinsicht
gerechtfertigt ist. Denn nur Ungeschick, gläubige Täppischkeit
vermöchte zu überzeugen, daß hinter diesem Chaos halbethischer
Stufungen doch ein Wertevermögen von großer Linie steht.
Ebensowenig ist darüber zu reden, daß eine heimliche lyrische
Glut zittert durch das Stück, vor allem den zweiten Teil, und
manchmal fackelhell auflodert. Daß einige sehr tief gehörte und
geformte Verse darin stehen. Solche Feststellungen betonen, hieße:
das Niveau verschieben.
Bei dem furchtbaren Ernst aber, mit dem nach diesem Werk die
Position Unruhs zu betrachten ist, wird man Konsequenzen zu
ziehen haben. Unzulänglichkeit ist entschuldbar – Lüge niemals.
Man wird sich fragen müssen: ob als Künstler Fritz von Unruh
weiterhin in Betracht kommt. Daran ändert auch dies nichts, daß die
Darstellerin der Irene bei der Frankfurter Uraufführung, Fritta Brod,
an einer unsagbar reinen Glut zur flammenden Säule emporwuchs;
daß man sie in Zukunft zu den großen deutschen Schauspielerinnen
zu zählen hat. Auch dies ändert nichts an der Tatsache: daß in
zermürbtem Schrei eine große Hoffnung zerbrach.
 Fußnoten
 
1 Fritz von Unruh, Platz. Ein Spiel. Zweiter Teil der Trilogie Ein
Geschlecht, München 1920, S. 159.
 
 Ein Bildungsroman
Victor Meyer-Eckhardts Buch »Die Möbel des Herrn Berthélemy«
(Diederichs, Jena) ist ein Bildungsroman in doppeltem Sinne: als
Versuch, die Entwicklung eines verantwortungslosen Zuschauers
zum realen Menschen darzustellen, und als Erzeugnis, das selbst aus
der Bildung kommt, gesättigt mit Bildungsstoff im
Gegenständlichen wie im Formgebaren; ungewollt wird die humane
Bildung des Helden zur Apologie der gebildeten Humanität, die den
Roman hervorbrachte. Diese Apologie entfaltet sich an der
Geschichte, auf deren Zeichen der Gebildete deutend vertraut, der
Geschichte, die – so scheint es – Bildung aus sich einläßt. Dem
gebildeten Bildner indessen bringt es Gefahr, der Geschichte zu
vertrauen, in ihr sich zu spiegeln; Bildung nur, die sich selbst genügt
und der Frage vergißt, mag sich selbst als Ziel der Geschichte
verstehen. Solcher genügsamen Bildung aber versperrt sich die
offene Innerlichkeit; unversehens wird die geschichtliche Bildung,
die da ist, zum schlechten Ersatz für die Bildungsgeschichte, die von
der bloßen Bildung seine Gestalt empfängt.
Der Archivar Jacques-Albert Berthélemy, drapiert mit allen
wohlfeilen Emblemen landläufiger Dekadenzvorstellung, findet sich
ausgeliefert an die französische Revolution, um an ihr ins Konkrete
zu wachsen; und die Revolution ist im Roman womöglich noch
unkonkreter geblieben als der unkonkrete Aesthet gemeint ist, den
sie ästhetisch züchtigen soll.
Denn des Autors Bildung versichert ihn der Geschichte als eines
Vorgeformten, auf das er sich beziehen kann, um geborgen darin
sein Wesen nachzuformen. Sogleich desavouiert ihn die Geschichte:
sie ist nicht vorgeformt, und wie er sie als ruhigen Besitz hinnimmt,
anstatt sie aufzulösen mit der Kraft des dichterischen Ich, zergeht sie
ihm unter den Händen, löst sich selber auf, nur freilich nicht in die
Wirklichkeit von Menschen, die ringen um einander, sondern in ein
System von Allgemeinbegriffen, freischwebend über Figuranten, du
vergebens trachten, von ihm ihren Sinn sich zu erborgen. Ja die
Konkretheit sogar und personhafte Fülle, der Bildung und Gebilde
zustreben, leitet sich vom Allgemeinbegrifflichen her; die hohlen
Bezugskörper der Bildungsidee werden nachträglich gleichsam mit
individueller Substanz gespeist, weil es die Bildungsidee fordert.
Anstelle zerfasernder Psychologie will greifbar eindeutig die
Situation treten: und wird doch nur sauber konstruierte Staffage,
hinter der eine Psychologie versteckt liegt, die allerdings nicht
zerfasert, sondern gepflegt sich in der Konvention hält. Die Helden
wollen aus dem Zeitgeist sprechen: und sprechen doch nur über den
Zeitgeist, orakeln eine platte und nachträgliche
Geschichtsphilosophie.
Ein Mädchen, Aristokratin von Geblüt, in der Not des
Augenblicks zur Demokratin gereift, soll den Archivar-Aestheten
als lebendiges Vorbild zur Humanität führen: und redet doch so
altklug und bescheiden-pharisäisch, daß der »ebenso gebildete wie
ermüdete Spätling einer zerfallenden Kultur« – Meyer-Eckhardt
benennt ihn offenherzig – mit gutem Grunde ihre aufdringliche
Vollkommenheit ironisieren dürfte.
Schließlich aber, und das entscheidet, wird die Wandlung des
angeblichen Spätlings zum angeblichen Repräsentanten tätiger
Menschenliebe nicht entfernt glaubhaft. Wie vermöchte sie es auch,
da der Spätling schon als Spätling kein Mensch ist, sondern eine
kulturhistorische Marionette, die am Draht des humanen
Geschichsprogramms zappelt! Konsequent genug wird dem
Archivar der Zutritt zur tragischen Sphäre verwehrt und die positive
Hingabe an eine Sache; er kann sich nicht töten und nichts tun.
Allein die Humanität erheischt ihr Recht; ihr zu Gefallen muß der
Aermste bei einer Kanonade spazieren gehen und die Kugel
erwarten, die ihn mitnimmt. Die trifft auch ein und läßt ihm gefällig
sein Leben, ihn der Humanität zuspielend; Vorsehung gleichsam,
braucht Humanität den Zufall als Vehikel. Aus dem Aestheten, der
keiner ist, macht Selbstmord, der keiner ist, ein offenkundiges
Nichts; das Surrogat menschlichen Handelns, das Herrn Berthélemy
zugemutet wird, entwertet seine Bekehrung zur Farce, und am Ende
behält man mehr Sympathie für des Archivars schnöde Ignoranz in
Dingen der Revolution als für seine Wendung zur Idee, die noch
größere Ignoranz bezeugt, und denkt wohl gar, die Spätlinge seien
doch bessere Menschen, solange sie Spätlinge bleiben.
Es ist leicht, die Attitude des alten Goethe, des Stifter und der
Tradition großer deutscher Prosa anzunehmen, wenn man die
Konflikte im allgemeinen beläßt und allenfalls behaglich auf den
Stoff projiziert, anstatt ernst zu machen in ihm. Mehr als epigonale
Literatur kommt dabei nicht zuwege, mag man sprachlich wie
immer bemüht sein um genaue Sorgfalt und breite Gediegenheit.
1925
 
 Frank Wedekind und sein Sittengemälde ›Musik‹
Es ist leicht, für die literarische Physiognomie dieses
außerordentlichen Menschen Formeln zu finden, die in schlagender
Metapher das Augenfällige seines Wesens einbegreifen. Seine
Werke sind, gegeneinander sowohl wie in sich, mit Extremen
übersättigt; und groß ist für den Betrachter die Versuchung, die
tragische Grimasse, die aus dem Helldunkel seines psychischen
Hintergrundes plastisch vorzuspringen scheint (sie scheint es
wirklich!), als menschlich und stilgesetzlich statuierendes Prinzip
anzuerkennen und zu deuten. Es ist leicht, Formeln zu finden: aber
es ist schwer, den im Bewußtsein oberflächlicher Gegenwart fast
schon erstarrten Dichter Frank Wedekind als einen Lebendigen zu
begreifen. Denn das heißt: auf all den Reichtum extensiver
Äußerungen, in denen eng mit der Zeit verwachsene Gefühls und
Ideenkomplexe einleuchtend verkörpert scheinen, verzichten, zu
suchen die Intensität seiner Seele, die sich offenbart sowohl im
Zwang des historischen Verlaufes, in den der Dichter gestellt wurde,
wie in der Einmaligkeit, die ihn der Zeit gegenüber exponiert.
Und solcher Verzicht ist unbequem. Wie einfach war es nicht,
auf Grund von Dramen, die als des Dichters Monologe auch dem
ungeistigsten Zuschauer einsichtig sind, diesen so erfreulich
offenherzigen Dichter als tragischen Clown, närrischen König,
antimoralischen Philister oder Zwergriesen je nach Geschmack zu
verfluchen, zu preisen oder zu bedauern! Aber man muß sich klar
sein, daß diese Formulierungen, auch soweit Wedekind selbst für sie
verantwortlich zu machen ist, irgendwie schon Fälschungen sind.
Abgesehen davon, daß sie zumeist aus der Stofflichkeit seines
Werkes sich herleiten und wie alle künstlerische Stofflichkeit nur
tiefere, dem Ablauf realer Bühnengeschehnisse unmittelbar versagte
Inhalte widerspiegeln sollen, abgesehen auch davon, daß sie mehr
aus der äußeren Lebensgestaltung des Dichters denn aus der Wurzel
seines Wesens entspringen: es ist ein schöpferischer Mensch stets
weiter und tiefer, als ein Paradoxon, sei es noch so geistreich. Denn
es bezieht das Paradoxon um der zwingenden Bildwirkung willen
die dem Schöpfermenschen immanente Antithese nur auf eine Seite
seines Wesens; der Strom lebendigen Gegensatzes jedoch, der
Werk, der Dramen zeugt, durchflutet den Menschen in seiner
Ganzheit und ist nie ganz im Sinnlichen und Anschaulichen
einzufangen. Darum ist das Paradoxon als kritisches
Charakteristikum unzulänglich und bewirkt feuilletonistische
Verengung. Bei Wedekind aber, dessen fundamentale Kraft die
Fülle sehnsüchtig ergriffener Gegenständlichkeit ist, bedeutet jede
Verengung schon Fälschung: hat er doch, indem er sich selbst
verengte, sich selbst verfälscht.
Es soll nicht gesagt sein, daß jene tagesüblichen Formulierungen
durchaus unrichtig sind. Sie haben symptomatische Bedeutung. Und
sofern sie tiefer fundiert sind als im szenischen Verlauf, werden sie
auch einer ernsthaften Betrachtung wiederum aufstoßen. Nur scheint
es mir der heute gerade bei Wedekind durchweg nachweisbaren
literarischen Einstellung gegenüber (er war ja selbst vielfach
»Literat«) notwendig, deutliche Grenzen zu ziehen.
Der Dramatiker Wedekind ersteht an der Grenze der Zeiten. Die
ihres Sinnes in Jahrhunderten beraubte Kultur verliert den letzten
Halt in der Idee im platonischen Sinn: das Prinzip des
Individualismus gipfelt im für sich seienden Ich. Der Eros flieht aus
der Welt. Die Kultur wird zur Zivilisation, ihre Wertungen verlieren
ihre Bezogenheit auf ein überpersonales Prinzip und werden relativ
auf die Bezugssysteme der verschiedenen in den leeren Raum
hinaustretenden Individuen. Das Ich wird entselbstet zur Zahl in der
zwecklos und mechanisch ablaufenden Transformation des
Lebensvorganges. Denn es hat den Eros verloren. Und nur der Eros
gibt ihm feste Gestalt und Haltung in der Welt des Äußeren. Jede
Zeit aber stellt mit ihrer Kunst die Frage nach der Stellung des Ich
zur Welt. Während in einer sinngebundenen Kultur – bei Dante etwa
– diese Grundfrage sich ausdrückt in der Frage nach der Haltung des
gotterfüllten Ich zu geistiger und sinnlicher Welt, zu Metaphysis
und Physis, bedeutet sie in unserer sinnentleerten Welt geradezu die
Frage nach der Existenz des Geistigen schlechthin. Geht dies
Problem ins dramatische Kunstwerk ein, so wird es zum Problem
der Liebe, denn Liebe ist im weitesten Sinn die einzig vorstellbare
Form des Göttlichen zwischen Ich und Du. – Der Künstler aber trägt
selbst an seiner Zeit, auch sein Ich ist dem Atomisierungsvorgang
irgendwie verfallen. Er hat nicht den Gott, sondern sucht ihn; er hat
nicht die Liebe, sondern sucht sie und sieht sie darum in der Enge
seiner willenhaften Gebundenheit. Und vor allem: der kosmische
Bereich der Liebe zerfällt ihm, weil nicht vom Sinn gebunden, wird
in sich selbst problematisch und der Tummelplatz notentborener
Verkörperungen von Geist und Ungeist. So wird Venus und
Elisabeth, so wird die in sinngebundener Epoche naturhaft
notwendige Liebe von Mann zu Weib doppeldeutig und also unrein.
So wird die Kunst Wagners und Strindbergs.
Hier beginnt Wedekind. Es ist nicht so, daß er wie Hebbel die
ganze tragische Weite unseres entgeisteten Daseins umfaßte. Er hat
nicht das Wissen um die letzten metaphysischen Zusammenhänge,
er, der wahrscheinlich nie ein philosophisches Buch gelesen und
allenfalls wie die ganze Generation seinen Nietzsche mißverstanden
hat. Aber er hat ein Anderes, das ihn weit aus der Zeit herausstellt.
Der Bohémien, der in kompakten Bühnenbildern der bourgeoisen
Epoche vielbestaunte Pervertiertheiten zuschrie, ist als einziger
vielleicht naiv. Daß er nicht mehr weiß, als Zeitungen oder
Straßenmädchen, daß seine historische Erkenntnis nicht über das
Lexikon hinausreicht, gibt ihm etwas, was seit dem jungen Schiller
nicht da war. Er ist wieder ein Anfang. Denn er hat schon den
großen Atem. Seine Dramatik ist abenteuerlich wie die Prosa
Dostojewskijs, das Spielmäßige der Handlung sitzt nicht artistisch,
sondern akrobatisch, er ist unerhört wagemutig, er pocht an jedes
Gefühl und kriecht in jeden Instinkt, er schreit, er plakatiert. Er geht
ins Große. Er ist gar kein Psychologe, er sah nie, wie die Menschen
wurden, sondern nur, wie sie sind und auch das nur mit einem Auge.
Er war der Zeit staunenswert voraus, weil er so weit hinter ihr
zurück war. In seinem ersten Laut überschrie sich der Naturalismus.
Und als er wuchs, wuchs er in eine Fülle des Gegenständlichen mit
seinem schamlos empfangenden Leben, wie sie in Deutschland
lange nicht da war. So suchte er nach der Liebe. Er hatte das
Problem in den Fingerspitzen.
Er hatte es auch im Rückenmark. Er erlebte die Liebelosigkeit
der Epoche in der krassesten Exemplifizierung auf seine empirische
Individualität. Er erlebte die Liebe als Widersinn: als Verführung
und Hurerei. Man kann das als Faktum nehmen oder sich freuen
über die schöne Unanständigkeit, mit der er der gottlosen Zeit ihre
Götzen zerstampfte, auch wenn er den Weg zum Gott ihr nicht
weisen konnte. Aber es ist nicht dies allein. Es ist in ihm die Liebe
selbst dialektisch geworden. Die Liebe, des Geistes gültigste Form,
erscheint ihm losgetrennt vom Geiste, widergeistig. Und weil sie
ihre Herkunft vom Göttlichen auch im Kot noch gebietend
verkündet, wird sie zum Fleischgeist. Träger der Liebesidee ist ihm
nicht – wie dem von gleicher Sehnsucht getragenen Tolstoi – das
reine Naturwesen, sondern als höchst zivilisatorischer Protest die
animalische und schöne Dirne. Der Geist zieht als Liebe wider sich
selbst zu Felde. Dies ist die letzte Wesensantinomie: aus ihr
entspringen mittelbar alle Formeln ethischer und ästhetischer
Paradoxie.
Diese Wesensantinomie hat aber ihre Wurzeln nicht im
historischen Prozeß, sondern in der Einmaligkeit des Dichters
Wedekind. Die tragische Entscheidung, aus der die Liebe lebendig
aufwachsen könnte, hat in ihm noch nicht in ihrer Reinheit sich
vollzogen. Seine Stärke ist seine Schwäche: ein letztlich naiver
Künstler wird die Probleme einer späten und gänzlich bewußten
Epoche nicht bewältigen. Wedekind war schließlich ungebildet. Das
will sagen: daß ihn die Kulturinhalte, deren Gestaltung ihm Aufgabe
war, nicht entscheidend formten, daß Zeitliches und Überzeitliches
in ihm nicht durch das bewußte Eingehen in den Kulturvorgang
geschieden wurden. Und ohne solche Scheidung ist keine
Entscheidung. Er ergreift die Probleme mit dem Instinktwissen um
die Idee, aber der Weg zur Bindung und Kulturwerdung der Idee
bleibt ihm versagt.
Und darum auch die Synthese: darum bleibt die eingeborene und
durchaus schöpferische Antinomie seines Wesens paradox: sie kann
nicht zur höheren Geistform umgeschaffen werden. Sie läßt ihn
nicht zur reinen Gestaltung gelangen. Er ist nicht tragisch, wie er
eitel genug war zu glauben: er ist ein Grenzfall. Als Ich in der
Donquixoterie seines Geistprotestes wider den Geist und auch im
Werke. Denn auch in seinem Werke wird eine reine Entscheidung
nicht vollzogen. Unter dem Zwang der Fleischgeist-Ethik werden
seine Gestalten sittlich doppeldeutig und sind zugleich berufen,
Träger der Idee zu sein. Daß dies möglich werde, macht er einen
Akrobatensprung und verschiebt die Welt ganz mathematisch, bis er
seine »Helden« zum Koordinatenursprung machen kann, sei es auch
um den Preis, jeweils neue Moralen ad hoc zu konstruieren. Dieser
Mut ist eine große Sache und Nietzsches nicht ganz unwürdig. Aber
die Welt, die von Dichters Gnaden wird, taumelt von Relation zu
Relation und ist die Welt der Tragikomödie. Sie ist stilgesetzlich
unrein und bleibt deshalb ästhetisch unzulänglich. Wedekind hat ja
auch keine Sprache. Der Zwang, konträre geistige Welten
ineinander zu transformieren, ließ sein Ich keine feste Position
gewinnen. Sein Ich muß sich selber transformieren und redet
journalistisch. Nur dort, wo der sittliche und ästhetische
Transformierungsprozeß selbst in den Mittelpunkt des Geschehens
gerückt wird, gewinnt er in epigrammatischer Prägung (die immer
tiefer sich prägt als etwa bei Wilde) zwangsläufigen Ausdruck
seiner epigrammatisch zerfetzten Wesenheit: im ›Marquis von
Keith‹, in manchen Gedichten. – Und manchmal, freilich, ist die
lyrische Flamme da, aus der der Brand des Dramas wird, und brennt
sich eine unverwechselbare Form, in Stellen von ›Frühlings
Erwachen‹ und von ›Erdgeist‹.
Man muß sich über das Kernproblem Wedekinds klar sein, um
zu dem »Sittengemälde« ›Musik‹ die rechte Einstellung zu finden.
Denn dies Stück liegt an der Peripherie von Wedekinds
dichterischem Umkreis. Losgelöst aus dem Zusammenhang der
Werke, ist es geeignet, vom Wesen des Künstlers Wedekind ganz
schiefe Vorstellungen zu geben. Es ist nicht vollbürtig, es ist eine
Auch-Äußerung.
Schon der Untertitel »Sittengemälde« ist bedenklich. Wenn
gesagt wurde, daß Wedekind an jeden Instinkt sich wende, so fällt
darunter auch – leider! – der Volksstückinstinkt. Er wirkte nicht nur
auf Unterleib, Zwerchfell, Grimasse. Er kannte auch die
Tränendrüsen, und das ist keines Künstlers würdig. Sittengemälde
pflegen Öldrucke zu sein, und das ist schlimm. Immerhin:
Wedekind hat vielleicht an Hogarth gedacht. ›Musik‹ klingt nach
Komödie. Wedekind gibt sich hier überzeugt tragisch. ›Musik‹, das
bedeutete ein Milieu, süddeutsches Konservatorium mit
schwärmenden Schülerinnen und viel sexuellem Sprengstoff, und
darüber hinaus das Leid der Liebe oder, mit Wedekind zu reden:
wenn einer ein Lied singen kann. Denn das ist die Idee des Ganzen.
Es ist nur eigentlich keine Idee, sondern eine Tendenz. Ein
Musikprofessor ist verheiratet und hat ein Verhältnis mit einer
Schülerin, die ganz hebbelsch und sicher nicht ohne Absicht den
Vornamen Klara hat und den ironisch-pervers gemeinten Zunamen
Hühnerwadel. Sie hat sich ein Kind abtreiben lassen, die Sache
kommt heraus, der Professor benimmt sich schofel und die Gattin
mit einer teils gütigen, teils hysterischen, teils trotteligen
Weitherzigkeit. Man sieht: dies Stück stammt vom Naturalismus
her. Die arme Klara kommt durch des Professors Schuld ins
Gefängnis und gibt dem Dichter Anlaß, der Obrigkeit einige
Schläge zu versetzen. Else, die Gattin, befreit sie, und die Sache
geht wieder von vorne an. Es wäre alles ganz gut, wenn nicht ein
Literat Franz Lindekuh, der Stellvertreter Wedekinds auf – dieser –
Erden, ganz nach berühmten Mustern moralisch-amoralisch die
Sache in die Luft zu sprengen drohte und dabei sich von Josef, dem
Professor, mit Beweismaterial dartun lassen müßte, daß Klara das
edelste, anständigste Menschenkind sei, das er je kennen gelernt
habe. Das Unglück wird gestoppt und es zeigt sich, daß Klara
wieder ein Kind erwartet. Diesmal bringt sie es zur Welt, aber es
stirbt (die Doktoren bekommen eins ab im Stil von ›Frühlings
Erwachen‹) und Klara wird wahnsinnig, wenigstens temporär. Denn
Wedekind gibt sich hier überzeugt tragisch. Da er sich jedoch zur
psychischen Paradoxie verpflichtet glaubt, so nennt er das letzte
Bild »der Fluch der Lächerlichkeit« und begründet diesen Titel
damit, daß er Klara von diesem Fluch verzweifelt reden läßt, ohne
daß ein Anlaß dazu evident würde.
Kein Zweifel: Klara ist eigentlich nur ein Abbild der Klara aus
›Maria Magdalene‹, und spezifisch wedekindisch ist nur die
verkrampfte Sehnsucht nach Keuschheit, die durch diese Gestalt
zittert. Diese Sehnsucht, so menschlich ergreifend sie wirkt, bleibt
in ›Musik‹ irgendwie rückschauend – romantisch, und schließlich ist
es doch so, daß Klara an der blauen Haarschleife ihrer verlorenen
Mädchenheit sentimentalisch sich aufhängt. Vor hundertundfünfzig
Jahren war das gefallene Mädchen als dichterische Gestalt eine
Entdeckung und konnte die revolutionäre Ethik tragen. Heute ist
diese Figur in die Oberfläche der Zeit getreten und nimmt willig die
Ergüsse derer auf, die auf der Oberfläche der Zeit bleiben wollen, ist
recht eigentlich zur Domäne der Sudermänner geworden. Es gehört
schon die dichterische Kraft von ›Frühlings Erwachen‹ dazu, einen
mehr und mehr ins Sensationelle gerutschten Typus zum
dramatischen Individuum neu zu schaffen. Aber die mangelnde
Psychologie wäre noch kein Einwand, höchstens im Sinne
Wedekinds, der hier ein naturalistisches Drama schreiben wollte.
Der ›König Nicolo‹ ist höchst unpsychologisch, und doch wird jede
Figur so stark von der Idee gezeugt, daß im Rahmen der
bilderbogenhaften Stilisierung starke Dramatik zustande kommt. So
stark ist das in ›Musik‹ nicht der Fall. Das Milieu wirkt in seiner
nackten Stofflichkeit, ohne zum Stilprinzip verdichtet zu werden. Es
ist nicht die strömende Fülle spezifisch geschauter Menschen da wie
etwa im ›Marquis von Keith‹. Und die Idee? In ›Lulu‹, im
›Hetmann‹ und in den Spätwerken ist eine Idee spürbar, die, mag
man noch so sehr ihre Grenzen im Individuum Wedekind erkennen,
aus diesem Individuum organisch hervorwächst. Und vor allem: dort
handelt es sich um eine künstlerische Idee, am reinsten wohl im
›Hetmann‹, wo der Dichter Wedekind den Kulturpolitiker Wedekind
aus sich herausstellt und in seiner menschlichen Problematik
objektiviert. ›Musik‹ hingegen ist geradezu ein kulturpolitisches
Manifest. Die Zielstellung dieses Dramas ist nicht künstlerisch
absolut, sondern zeitlich zweckhaft. Es handelt sich um das Recht
der freien Liebe, und das ist letztlich keine künstlerische
Angelegenheit.
Aber es ist bei alldem nicht Tendenz im Sinne etwa von Ibsens
Gesellschaftsdramen. Der Hauch des Menschlichen weht darin, die
Glut eines Paränetikers, der an den Dingen brennt, für die er redet.
Der zuckende Jammer des Erlebnisses zerstörter Jugend, der dem
Menschen Wedekind im Blute tief saß, brüllt doch über die
Lattenzäune landläufiger Tendenzbezirke hinaus in gültigere
Bereiche. Dazu kommt, daß dies Stück, der flüchtigen Diktion nach
sehr rasch hingeworfen, die stachelnde, sichere Kolportagetechnik
des gehetzten Dichters in den drei ersten Bildern zeigt, freilich um
im letzten Bild hart am melodramatischen Kitsch zu landen. Allein
die menschliche Ehrlichkeit dieses doch mit jedem Atemzug
gelebten Dramas hebt es weit über den Durchschnitt der heute schon
schulmäßigen und darum zu jeder Sünde wider den Geist bereiten
Ausschrei-Produktion hinaus.
 Über den Nachlaß Frank Wedekinds
 
Meine Damen und Herren, wenn ich es unternehme, mit einigen
Worten und ohne allen Anspruch auf Deutung Sie auf den
literarischen Nachlaß Frank Wedekinds aufmerksam zu machen,
soweit er im achten und neunten Band der Gesamtausgabe des
Georg Müller Verlages vorliegt 1 , so leitet mich dabei die
unbestimmte Hoffnung, es möchten Trümmer und Bruchstücke an
die Ganzheit eines literarischen Werkes erinnern, während die
Ganzheit des Werkes selber, die in Erscheinung trat, fürs öffentliche
Bewußtsein in Trümmer und Bruchstücke zerfiel. Es kann nicht
geleugnet werden, daß Wedekinds Dramatik, vor zwölf Jahren noch
mit Strindberg Trägerin aller bewegenden Impulse des deutschen
Theaters, seitdem nicht bloß wenig mehr gespielt wird, sondern
geradezu vergessen oder verdrängt ist: ein Vorgang, der um so
ernster zu denken geben sollte, als an keiner Stelle die
Wedekindsche Problematik aufgenommen oder zu neueren,
verbindlicheren Lösungen gebracht wurde, sondern einfach am
Wege liegen blieb, als sei mit einem Mal den Menschen gänzlich
gleichgültig, worum sie zuvor zitterten und wo sie ihre ganze
Existenz angegriffen fühlten. Der einmal der Klassiker aller
Expressionisten war, den hat die neue Sachlichkeit mit anderen
Klassikern in die Rumpelkammer gesperrt, so ungebärdig auch seine
Marionetten wider ihr Begräbnis erster Klasse gestikulieren
mochten. Von seinen Konstruktionen, von seinen kubistischen und
schräg überschnittenen Dialogen, der Szene des Marquis von Keith
mit Scholtz, der Dialektik zwischen Lulu und dem Doktor Schön
haben Kaiser und Sternheim die ihren gelernt; die Psychologie der
Geschlechter, erhitzt bis zur Grenze, wo das Ich aufhört, es selber
und unteilbar zu sein: diese Psychologie schlug in ihr Gegenteil um,
und für die dramatische Form schien eine Leistung gelungen, die bei
völlig anders gelagerter Stoffschicht der malerischen des Cézanne
ähnlich genug dünkte; hier wurde die Probe auf den Individualismus
gemacht, der bis zum äußersten sich behauptete, und das Gegenteil
ging aus ihm hervor: wie dort aus den Farbflecken der Augenwelt
ein neuer Farbraum sich komponierte, so ließen hier die
Menschentriebe die Menschen hinter sich zurück, die von ihnen
getrieben waren, setzten über ihren Köpfen sich durch und begannen
zu spielen; aus dem Theater der Seelen wurde eines der Leiber und
schließlich ein entfesseltes als Zirkus. Davon ist nun heute nichts
mehr zurückgeblieben; heute, wo die literarische Mode es liebt, die
Wirklichkeit hinzustellen, als sei sie nie von der Subjektivität
angegriffen und geformt worden, während sie erst aus dem Angriff
der Subjektivität, aus dem Angriff des frei formenden Künstlers als
eigentliche Wirklichkeit, als gedeutete und gerichtete, wieder
hervorgehen könnte. Es ist keine Übertreibung, wenn man sagt,
Wedekind scheine nur darum überholt, weil seine Fragestellung, die
der dichterischen Form nämlich und nicht die der bloßen
Stofftendenzen, überhaupt noch nicht erreicht und eingeholt ist. Der
Vorwurf des Überholtseins richtet sich bei Wedekind allemal gegen
seine Stoffe. Frauenemanzipation und Körperkultur, freie Liebe und
rhythmische Gymnastik, die privaten Nöte von Primanern und
Weltverbesserern, Glanz und Elend aller Kurtisanen, das seien keine
Sorgen für die Gesellschaft, die mit alldem längst auf ihre Weise,
gut oder schlecht, fertig geworden sei und deren Fragen heute
unmittelbar auf die Möglichkeit des Weiterlebens gingen.
Wedekinds Probleme sollen aus der Perspektive von 1933 aussehen
wie private Schrullen; so wie die ganze Privatwelt, in der sie
möglich waren. Es ist nun ohne Umstände zuzugeben, daß am
Fleischgeist und am schönen Tier, auch an den unpolitischen
Reformversuchen und Beutezügen der Wedekindschen Akrobaten
als an Stoffen nichts gelegen ist; daß also, um das ominöse Wort zu
gebrauchen, diese Stoffe tatsächlich für »zeitbedingt« gelten mögen.
Aber es scheint mir, als müsse man den Begriff der Zeitbedingtheit,
den wir von einer klassizistischen Ästhetik als Schimpfnamen
geerbt haben, etwas vorsichtig gebrauchen. Denn es ist den
bedeutenden Dichtwerken eigentümlich, daß sie in der Zeit nicht die
gleichen bleiben, sondern sich verändern. Diese Veränderung wird
aber um so besser und tiefer geraten, je besser und tiefer die
Stoffschicht der Werke der ihrer Zeit eingesenkt ist. Während
Werke minderen Ranges verfallen, indem sie nicht die Macht
besitzen, in Geschichte ihre Stofflichkeit zu beherrschen und in ihrer
Stoffschicht untergehen, vermögen es die großen, durch ihre
Geschichte den Stoff selbst durchsichtig zu machen, in dem sie
ruhen, weil sie ihn vollständig ergriffen haben und nun gleichsam in
eine geschichtliche Bewegung mitreißen, durch welche er gedeutet
wird. So ist aber die Zeitgebundenheit Wedekinds einzig zu
verstehen. Seine Dichtungen schauen ihren Stoff, die Bürgerwelt der
letzten Vorkriegsjahrzehnte, mit so starren, fremden, gleichsam
hohlen Augen an, daß sie heute als vom gleichen Blick gedeutete
sich kundgibt, die er vordem nur als erstarrende Fratze zu bannen
schien. Heute erscheinen alle jene vorgeblichen »Tendenzen«
Wedekinds weit eher zur Deutung beschworen als von ihm selber
vertreten, und es ist schwerlich Zufall, daß das Drama, das die
schärfsten Formulierungen der sogenannten Tendenzen enthält,
›Hidalla oder Karl Hetmann der Zwergriese‹, zugleich diese
Tendenzen objektiv darstellt und deutet, indem Wedekind sie ad
absurdum demonstriert.
Ich sagte, das Element der Deutung des Zeitstoffes durch
Wedekind sei erst durch die Zeit selber offenbar geworden, die
Werke und Stoffe gleichermaßen veränderte. Aber es ist eine Stütze
dieser Auffassung, mit der ich die gegenwärtige Aktualität
Wedekinds begründen möchte, daß Wedekind selber den
Tatbestand, wenn schon nicht durchreflektierte, so doch fraglos in
der Praxis seiner Darstellungsprobleme gewahrte. Das kommt an
seinem Verhältnis eben zum »Stoff« zutage und wird nirgendwo
besser bezeugt als im Nachlaß. Während er – so etwa läßt sich das
fruchtbare Spannungsverhältnis Wedekinds zum Stoff formulieren
–, während er einerseits das Recht auf Formung mit dem Pathos des
Excentrics vertritt, den Naturalismus verfehmt, bestreitet, jemals auf
Tendenz auszugehen, und alle die vermeintlichen Tendenzen als
bloße Anlässe zum in sich geschlossenen Gebilde genommen haben
will, hat er andererseits den Willen, überall dort den Stoff zu
akzentuieren, wo er der Form sich nicht einfügt und wider die Form
seinen Einspruch anmeldet, unterhalb deren er gelegen ist: Stoff als
Schein und Kolportage und Kitsch. Hier, in jenen eigenmächtigen
Stoffschichten, ist der Ort der Deutung. Die Stoffe werden um so
durchsichtiger, je dichter sie in sich zusammenschießen, je härter sie
sich gegen den Zugriff der Dichtung wehren. Der Dichter lohnt es
ihnen, indem er sie verteidigt gegenüber den im herkömmlichen
Sinn »dichterischen«, fügsamen Stoffen. Von den scheinhaftesten,
grellsten, geschmacklosesten Stoffen wird er überwältigt und findet
seine Form gerade dort, wo er verzichtet, sie in scheinbarer Freiheit
von sich aus zu setzen, sondern wo er sie aus den Figuren der
Stofflichkeit heraus liest. Der Umschlag in Objektivität betrifft
darum nicht bloß die Wedekindsche Form, sondern ebenso seine
Stoffe, die gleichen Stoffe, die man heute überholt und, als
subjektiv, veraltet schilt. In einem offenbar frühen Gedicht, das der
erste Nachlaßband bringt, formuliert er sehr scharf: »An einen
Dichter. – Dein Schaffen war wie Gold so echt, / Solang du
Modekram geschaffen. / Du gabst dem menschlichen Geschlecht /
Urechten Plunder zu begaffen. / Doch seit ein reineres Idol / Dein
ruhmbedürftig Herz begeistert, / Wie ward dein Schaffen falsch und
hohl, / Aus eitel Phrasenschwulst gekleistert.« Das Problem des
urechten Plunders ist Wedekinds eigentliches: der abgeworfenen,
niedrigen, von der Form und von der Gesellschaft verlassenen
Dinge, die die einzig scheinlosen sind, und denen er die Wahrheit
abzuzwingen hofft, die allen anderen versagt ist. Der urechte
Plunder: das ist das gleiche, was die ästhetische Sprache unserer
Tage Kitsch nennt, ohne jemals zu einer so schlagenden Definition
zu gelangen wie Wedekind. Es existiert noch aus der reifen Zeit ein
großes dramatisches Fragment von ihm, im zweiten Nachlaßband
veröffentlicht, das ›Kitsch‹ heißt und bewußt darauf ausgeht, seine
Kompositionselemente gleichsam dem Schutthaufen der Ästhetik zu
entnehmen. Da ist kein Zug der Handlung, keine Figur, die nicht
vom Geschmack verpönt wäre. Wedekind notiert dazu: »Höchstes
Leben und gemeinster Kitsch berühren sich.« Und dann, noch
kühner, als »Ideen des Kunstgelehrten«, der zugleich Held des
Stückes sein soll, so wie sonst der Liebestheoretiker Wedekind
Hauptclown seiner Stücke ist: »Kitsch ist die heutige Form von
Gotisch, Rokoko, Barock. Höchste Schönheit und Kitsch. Gottheit
und Porzellanpuppe.« In solchen Worten springt die Erkenntnis auf,
daß gerade die verworfenen Stoffe die sind, aus denen die echten
Bedeutungen einmal aufsteigen. Es sind aber gerade die, welche
heute zeitbedingt gescholten werden: Wedekind überholt zu nennen
und seine Stoffe Kitsch ist das gleiche. Allein er war nicht nur den
neusachlichen Kritikern, sondern sich selber voraus, indem er die
Durchsichtigkeit der formverlassenen Stofflichkeit, des Kitschs,
gewahr wurde zu einer Zeit, als er noch ganz in sich verschlossen
war. Erst heute, da der Surrealismus die Deutung aller
Kitschornamente des neunzehnten Jahrhunderts im Entsetzen
begonnen hat, läßt sich recht verstehen, was Wedekind meinte
eigentlich, der wahrhaft eher ein Ahnherr der Surrealisten als der
Expressionisten ist, die ihn einmal reklamierten, und der neben den
französischen Nationalheiligen des Surrealismus, Rimbaud und
Apollinaire, keine schlechte Figur machen wird. Der surrealistische
Wedekind aber – und auf ihn aufmerksam zu machen ist die
eigentliche Absicht meiner Worte – enthüllt sich im Nachlaß; hier,
an dieser Stelle, wird die oft bemerkte und kaum je in ihrer
Tragweite verstandene Verbindung von Wedekind mit Brecht
begreiflich, mit Brecht, der gleich Wedekind, anstatt in der
Oberwelt der ästhetischen Formen zu reden, die Unterwelt der
bloßen Stoffe selber zum Reden bringt und damit deutet. Die
Beziehung Wedekinds zum Surrealismus, wie sie in allen
Chokmomenten seines Werkes, in den aufgesprengten Träumen aus
dem neunzehnten Jahrhundert ruht, in jenen Elementen, die Walter
Benjamin einmal beim Problem des Surrealismus in der Formel
»Traumkitsch« zusammengestellt hat – diese Beziehung ist noch
genauer bestimmbar. Es scheint mir die eigentlich großartige
Leistung Wedekinds, daß er die Form, die diese Stoffschichten zur
Deutung bringt, aus ihnen selber herausgeholt hat: der Kitsch-Stoff
wird in der Kitsch-Form beredt. Die engen biographischen und
literarischen Beziehungen Wedekinds zur Welt des Cirkus sind
bekannt. Man weiß, daß Wedekinds Menschen stets fast verlarvte
Clowns, Akrobaten und Seiltänzerinnen sind, und der Auftritt des
Zirkusdirektors Cotrelly am Ende von ›Karl Hetmann‹ hat weniger
die Geste des Umschlags ins Maskenspiel, als welche sie sich gibt,
als der Demaskierung. Man kennt auch die Zirkussituationen bei
Wedekind, selbst dort, wo es am tragischesten hergeht, wie in jenem
Augenblick des ›Erdgeists‹, wo die ertappten Liebhaber der Lulu als
ein Excentricensemble in allen Dimensionen des Raumes
gleichzeitig erscheinen. Aber solche Situationen sind nicht beliebige
Übernahmen aus der Welt des Cirkus, ein beliebiges Umschlagen
aus der innermenschlichen Tragik ins unmenschliche Spiel der
Groteske. Sondern sie bilden Wedekinds wahre Form, die einzige,
in welcher er die Stoffe bewältigt, die vom sinngebenden Menschen
sich losgerissen haben. Es ist die Form des Tableaus. Des
Zirkustableaus: eine Interpretation von Wedekinds Dichtung hätte
darum von seinen Balletten, den ›Flöhen‹, der ›Kaiserin von
Neufundland‹ dem Mückenprinzen aus ›Mine-Haha‹ und dem
Ballett ›Bethel‹ des zweiten Nachlaßbandes auszugehen, die
allesamt in Tableaus, in Bildern gedacht sind. Wir erinnern uns aus
unserer Kindheit an die »Großartige Schlußapotheose«, die die
Cirkusrevue »Golo, der Seeräuber und Mädchenhändler« glorreich
beendete. Ihre Form ist keine andere, als daß alles, was im Stück
vorkam, ohne Rücksicht auf Handlungszusammenhang und Form,
zusammentritt, eine Gruppe bildet und für einen Augenblick ganz
stillhält; und dieser Augenblick genügt, daß das Tableau
zusammenschießt. Daß alles Historische, Bunte und Stoffliche, was
darin erscheint, zur Ewigkeit erstarrt, aus der es kam. Die Tableaus
sind die Urbilder aller Montage. Was Kitsch war und hier vereint
stillhält, das stellt als Bild vollständig und schlagend sich dar, und
die Epoche versammelt sich im Tableau, das sie in sich hineinzieht
und aufsaugt: »Kitsch ist die heutige Form von Gotisch, Rokoko,
Barock«, meint Wedekind, und im Tableau erkennt sich der Kitsch
als Stil. Solange er darin stillhält, gleicht er der Gotik, dem Barock,
dem Rokoko und gleicht ihm um so besser, je zeitlicher und
verfallener er war, bis der gestaute Zeitstrom die Dämme des
Tableaus überflutet und die ahnungsvolle Gleichheit versinkt.
Tiefsinnig läßt Wedekind die Tableaus von ›Bethel‹ von einem
Photographen begleiten, der sie festhält und dabei in die seltsamsten
Traumabenteuer gerät; in seinen Momentaufnahmen will der Kitsch
erkannt werden und beim Namen gerufen, und alles Ungemach, das
dem Photographen Samtleben widerfährt, rührt nur daher, daß der
Kitsch gegen solche Benennung im Tableau zappelnd sich sträubt
wie nur das Kind beim Photographen. Die Geste, mit der Wedekind
den Kitsch deutet, ist die von »Bitte recht freundlich« und ihr
gehorchen die Dinge, die keinem beseelten Menschenwort mehr
gefügig wären.
 
Meine Damen und Herren, nicht deuten wollte ich, sondern bloß
erinnern. Denn in den Stücken, an die ich Sie erinnern durfte, liegt
die Deutung beschlossen. Es ist aber ihre Größe, daß sie die
Deutung nicht als Symbole verbergen, sondern daß sie dergestalt als
Tableaus gestellt sind, daß mit ihnen die Deutung unmittelbar
erscheint. Wedekinds Dichtungen sind heute wie Chiffren ihrer
selbst. Sie anzuschauen und sie verstehen ist eigentlich das gleiche.
Darum taugen sie zur Erinnerung: die lautlose Bilderschrift des
Jüngstvergangenen.
 Fußnoten
 
1 Vgl. Frank Wedekind, Gesammelte Werke, Bd. 8: Lyrik,
Versepik, Erzählende Prosa, München 1920; Bd. 9: Dramen,
Entwürfe, Aufsätze aus dem Nachlaß, München 1921.
 
 Physiologische Romantik
Karl Kraus gibt im Verlag Anton Schroll, Wien, eine Auswahl aus
den Büchern von Peter Altenberg heraus 1 , die enthält, was heute
für den Toten verbindlich zeugt. Sein Blick streift Altenbergs Prosa
mit der tiefsinnigen Zärtlichkeit des Tyrannen: es ist Hamlets Blick
über Yoricks Schädel. »Ein Narr verließ die Welt, und sie blieb
dumm«, sagt er im großen Einleitungsgedicht, und der Unerbittliche
läßt dem verschiedenen Freunde die Freiheit des Narren. Der darf
von der »Künstler-Seele« reden, von einer Frau sagen, daß sie
»direkt edelste Menschenfreundlichkeit überallhin ausstrahlte«,
ohne daß dafür das strafende Zitat ihn träfe, und den Sperrdruck, bei
Kraus das schauerlichste Mittel der Vernichtung, darf er
gebrauchen, einzig um Gedanken hervorzuheben, deren Zartheit,
wäre sie was sie beansprucht, gerade den Sperrdruck verwehrte. Die
beiden, Kraus und Altenberg, stellen ihre Figur auf der Szene
Shakespeares, die wie für Kraus so für Altenberg als Landschaft den
Umkreis des Wirklichen umschreibt. Bei Altenberg heißt es: »Sein
eigenes Leben nicht ernster nehmen als ein Stück von Shakespeare!
Aber auch nicht minder ernst! Sich von dem Leben in Besitz
nehmen lassen wie im Theater. Das Theater des Lebens. Der ideale
Zuschauer seiner selbst sein! Ganz drin sein und dennoch aus den
facheusen Komplikationen herauskommen können in die frische
Nachtluft; erlebt haben, was man nicht erlebt hat, nicht erlebt haben,
was man erlebt hat!« Die landläufige Meinung möchte hier die
Phrase vom Ästheten und Impressionisten Altenberg anschließen,
dem alle Erfahrung nur feines sinnliches Spiel geblieben sei, das mit
ihm verfiel: den Gedanken an den neuromantischen Bettler im
Vorkriegs-Wien. Aber so wenig jener Satz vom Theater und der
frischen Nachtluft draußen, der realen also, in Wahrheit dem
neuromantischen Wesen zuzählt; so wenig nur die Zitate bei Karl
Kraus mit der zitierenden Dramatik Hofmannsthals zu tun haben, so
wenig darf Altenberg selber romantisch heißen.
Das kommt an seinem eigenen Begriff von Romantik zutage.
»Mein Buch: ein erster Versuch einer physiologischen Romantik. «
Das ist aber eine solche der Nerven, die ihren unendlichen Anspruch
nicht bloß anmelden sondern durchführen. Als impressionistische
Künstler-Nerven melden sie; was sie durchführen aber gehört nicht
mehr der einsamen Seele und ihren Bildern sondern dem Leib und
seinen Funktionen. Ihr Recht liegt nicht in der Stimmung sondern
im Bedürfnis; sie geben Signale zukünftiger Gebrauchswerte. Ihr
Amt ist weniger, die positive Fülle der Reize zu verarbeiten, als
negativ alle die fernzuhalten, die nicht mit genauen Bedürfnissen
korrespondieren: sie werden gleich schlechten Ornamenten
abgeschlagen. So wollen es die Sätze: »Die tragischen
Schwächungen: Essen, wenn man nicht hungrig ist. Sich bewegen,
wenn man ruhebedürftig ist. Sich begatten, wenn man liebelos ist.«
Mit solcher Kritik schlagen bei Altenberg Ästhetentum,
Impressionismus und Dekadenz um in eine subjektive Technik zur
Vorwegnahme besserer gesellschaftlicher Zustände. Das Recht der
Dekadenz im Umschlag, sein bestes, hat er selbst erkannt:
»Pferde-Mißhandlung. Sie wird aufhören, bis die Passanten so
irritabel dekadent sein werden, daß sie, ihrer selbst nicht mächtig, in
solchen Fällen tobsüchtig und verzweifelt Verbrechen begehen
werden und den hündisch-feigen Kutscher niederschießen werden –
Pferde-Mißhandlung nicht mehr mit ansehen zu können, ist die Tat
des nervenschwachen Zukunfts-Menschen! Bisher haben sie eben
noch die armselige Kraft gehabt, sich um solche fremde
Angelegenheiten nicht zu kümmern.« Die ironische Sprache klärt
den Willen auf, sich »fremder« Angelegenheiten anzunehmen, die
einen nichts angehen. Der politische Wille manifestiert sich in der
Sprache des Privaten und bricht die private Romantik.
Wenn Walter Benjamin im Kraus-Essay der ›Frankfurter
Zeitung‹ die privaten Forderungen von Kraus, die Forderungen an
ein wahrhaft »ungestörtes« Privatleben, gerettet hat als exakte
Antezipationen gesellschaftlicher Forderungen aus der Sicht des
Individuums, dann gebührt die gleiche Rettung, zusamt dem
vorgeblich individualistisch-übersteigerten Ausdruckswillen
Schönbergs und den Plänen von Loos, auch dem seligen Hofnarren
eben des künstlerischen Bereiches, dem man sonst
wirkungslos-tragische Einsamkeit zu attestieren nicht müde wird.
Das Geheimnis auch jenes um- und überschlagenden
Individualismus war Altenberg vertraut: »Der › Einzige ‹ sein ist
wertlos, eine armselige Spielerei des Schicksals mit einem
Individuum. Der › Erste ‹ sein ist alles!« Oder extremer und mit
scharfer Spitze gegen jene fatale Natur, in welcher sonst Bohémiens
sich wohlsein lassen: » Wahre Individualität ist, das im voraus allein
zu sein, was später alle, alle werden müssen! Falsche Individualität
ist, ein zufälliges Spiel der Natur sein wie ein weißes Reh oder ein
Kalb mit zwei Köpfen.« Das Echtheitssiegel dieser Konzeption vom
Individuum als Modell aber ist Bewußtsein, woran »Krimskrams«
und Ornament zerfällt und woran das isolierte, vorwegnehmende,
darum närrische Individuum seine Richtung findet: » Nur die sehnen
sich nach dem Unbewußten zurück, denen das Bewußtsein nur die
Erkenntnis gebracht hat, daß sie Esel waren und geblieben sind!«
Aphorisma, Impression und Skizze stehen bei Altenberg mit
allem Schein des Privaten und allem privaten, auch ästhetischen
Schein als leibhafter, harter, gar nicht zarter Entwurf der Zukunft.
Dies Werk wird in der Zeit bis ins Innerste sich verändern. Was wir
heute als falsche Zartheit daran fühlen, wird von der echten Härte
als Narrenmaske abfallen; die Nuance wird sich in genaue
Erkenntnis umsetzen; die Pose wird sich als parodische Ahnung
wirklicher Gesten erweisen, und der Sperrdruck, der geschmacklose
Sperrdruck, der den Seelenkünstler desavouiert, wird lesbar werden
als das grelle Plakat, das den monologischen Text des Dichters
wohltätig durchbricht.
 Fußnoten
 
1 Vgl. Peter Altenberg, Auswahl aus seinen Büchern. Von Karl
Kraus, Wien 1932.
 
 Wirtschaftskrise als Idyll
Daß das rechte Idyll einzig vom Hintergrund der welthistorischen
Katastrophe wirksam sich abhebe, ist seit ›Hermann und Dorothea‹
die verbreitete, obschon keineswegs sichergestellte Meinung. Wenn
aber die Katastrophe sich nicht mehr im Hintergrund bannen läßt,
sondern ungestüm die gesamte Szenerie einnimmt, dann bleibt der
Idylle keine andere Wahl, als die Katastrophe selber mit ihrem
Formgesetz einzuspinnen, wofern sie es nicht vorzieht zu
verschwinden. Der Roman ›Engelgasse‹ von J.B. Priestley, vom
Fischer-Verlag in einer fleißigen Übertragung von Paul Baudisch
ediert 1 , gestaltet die Wirtschaftskrise als Idyll oder wenigstens
Vorgänge, deren wahren Horizont die Wirtschaftskrise bildet. Der
Waschzettel-Vergleich mit Dickens, als Kompliment gemeint, findet
sich bestätigt für eine kritische Betrachtung, die erkennt, daß der
Untergang einer Londoner Furnierholzhandlung im
Konkurrenzkampf sich eben nicht »voll gelassener Freundschaft zu
allem Leben« darstellen läßt – einer Freundschaft, deren
Allgemeinheitsanspruch übrigens Dickens kaum sich unterworfen
hätte, der in den Partien seines Werkes, die die Industriekrise zum
Gegenstand haben, allen versöhnenden Humor tiefsinnig vergißt
und das Grauen benennt, wie es aufsteigt. Nun ist es um den
Dickens bei Priestley nicht eindeutig bestellt. Die Ausführlichkeit,
mit der jede Person, die am Schicksal der Firma Twigg &
Dersingham beteiligt ist, nicht bloß durch ihr dichtes und
personenreiches Milieu, sondern auch durch all die gedrängten
Augenblicke ihrer täglichen Existenz geleitet wird – diese zuweilen
grausam getönte Ausführlichkeit scheint weniger der zärtlichen
Liebe des Marionettenspielers zu seinen Figuren zu entspringen, die
er dort noch beherrscht, wo sie vollständig dem natürlichen Leben
verstrickt scheinen, als dem Drang, die blinde Zufälligkeit eines
sinnleeren, verdinglichten Lebens dort gerade festzuhalten, wo das
Leben am zufälligsten sich gibt; einem Drang, der freilich nicht tief
genug treibt, um die Deutung der Zufälligkeit selber zu erzwingen.
Man schwankt, ob man die Ausführlichkeit und Detailfreude des
Buches dem leibhaftigen Dickens oder dem leibhaftigen Joyce
zuschreiben soll. Liest man dann freilich: »... und das wollte etwas
besagen, denn obgleich unser alter Worrellier ...« (S. 91), so
verscheucht die zutrauliche Rede jeden Gedanken an die harte
Auskonstruktion des zufälligen Lebens. Und es fallen, selten genug
und gewiß gegen den Willen des Autors, Sätze, in denen die
Haltung dessen, der hier so unerbittlich den Mechanismus der City
betrachten möchte, als kleinbürgerlich-harmlos kennbar wird: »Der
Norden Londons gehört nicht zu jener kleinen Treibhauswelt, in der
ein braver Ehemann oder eine brave Ehefrau als ein langweiliges
Übel, ja vielleicht sogar als ein Hindernis auf dem Wege zur freien
Entwicklung des andern Partners betrachtet wird.« (S. 61) Dem
geheimen kleinbürgerlichen Standpunkt des Autors entspricht der
offene Gang der Handlung: Aufschwung und Untergang von Twigg
und Dersingham wird nicht von der Konjunktur, nicht einmal von
faßlichen ökonomischen Produktivkräften bestimmt, sondern einzig
privat: durch einen Abenteurer und Gauner, der das Geschäft
»ankurbelt«, um Geld einzuheimsen, und der verschwindet und die
Firma auffliegen läßt, sobald seine Absicht erfüllt ist und nicht
weiter ebenso sich realisieren läßt; so daß das Schicksal der Firma
nicht eigentlich in den Wirtschaftsprozeß eingeschaltet ist, sondern
isoliert bleibt, obwohl es nach allen Seiten hin von der objektiven
wirtschaftlichen Situation abgegrenzt wird: denn denen, die hier aus
dem Produktionsmechanismus, in dem sie streng genommen
niemals wirkten, herausgeschleudert werden, droht Arbeitslosigkeit.
Wie es nicht anders sein kann, konzentriert in dieser nicht gänzlich
durchrationalisierten Romanwelt der abenteuerliche Gauner als
Vitalphänomen alles Licht auf sich – zumal das erotische. – So hält
das Buch im Zentrum nicht stand. Was aber um die leere Mitte an
angeschauter Wirklichkeit sich ankristallisiert, ist nicht wenig. In
der falsch-genrehaften Ausführlichkeit, die noch die Fremdheit
unserer Dingwelt zu einem besitzesfrohen Inventar aller Dinge
verarbeitet, lebt noch etwas von der echten Sicherheit eines Volkes,
dem die prasselnden Scheite der Götterdämmerung gut genug sind,
seinen großen Kachelofen zu heizen und daran sich zu erwärmen.
Nicht umsonst stellen die gegenwärtigen Dinge, die das Inventar
rettet, sogleich als vergangen sich dar, ein Warenlager, »das
vielleicht aus einem Banjofutteral, zwei rosaroten, geschliffenen
Vasen, einem Seil und einem Unterrock, einer großen Photographie
des Generals Buller, fünf schmutzigen Tennisbällen, einer Zither, an
der die meisten Saiten fehlten, und dem Briefwechsel Charley
Kingsleys bestand« (S. 134). Hat man das Buch einmal aufgeteilt, so
läßt sich gut davon leben; es ist lang wie ein nebliger Herbstabend
vom Zimmer aus und nahrhaft wie ein Roastbeef. Manchmal kann
man weinen darüber, wie wenn einem bei gutem Essen die Tränen
in die Augen steigen. Etwa bei jener Beschreibung einer Tür am
Anfang: »Diese Tür trägt keinen Namen, und niemand, nicht einmal
T. Benenden, hat sie jemals offen gesehen oder weiß, was hinter ihr
steckt. Sie ist einfach da, eine Tür, tut weiter nichts als Staub und
Spinnweben sammeln und läßt ab und zu eine neue Flocke
vertrockneter Farbe auf die abgetretene Stufe hinunterfallen.
Vielleicht führt sie in eine andere Welt. Vielleicht wird sie sich
eines Tages öffnen und einen Engel herauslassen, der, nachdem er
einen Augenblick lang durch das kleine Gäßchen hin und her
geblickt hat, plötzlich die Posaune des Jüngsten Gerichtes zu blasen
beginnt.« (S. 19) Nach diesen Sätzen trägt das Buch seinen Namen.
 Fußnoten
 
1 Vgl. John Boynton Priestley, Engelgasse. Roman, übertr. von Paul
Baudisch, Berlin 1931.
 
 Über den Gebrauch von Fremdwörtern
Einer entschlossenen Verteidigung des Gebrauchs von
Fremdwörtern kann es nicht obliegen, die bekannten Argumente
zusammenzustellen oder die traditionelle Auseinandersetzung durch
neue Ausflüchte am schlechten Leben zu erhalten. Sie gilt einzig,
wofern sie auf die Entscheidung hinarbeitet. Damit überschreitet sie
das Bereich von Verteidigung selber: nicht die Harmlosigkeit der
Fremdwörter hat sie darzutun sondern ihre Sprengkraft zu
entbinden; deren Fremdes nicht zu leugnen sondern zu nutzen.
Der Kampf wider den Purismus in der Sprachlehre mag so alt
sein wie der Purismus selber. Wann immer die Einsicht in die
geschichtliche Bestimmtheit des Geistes und seiner objektiven
Formen vorherrschte, fand das Fremdwort seine Apologeten. Liberal
wird der Unterschied zwischen fremden und eigenständigen
Wörtern geleugnet. Sie sollen bloß verschiedene Stufen des einigen
historischen Prozesses abgeben oder gar, in einer Sprachgeschichte,
die unterm Bilde des Stromes angeschaut wird, kontinuierlich
fließend ineinander übergehen. Lehnworte, denen man den fremden
Ursprung nicht mehr anhört; eingebürgerte, die nach dem Gesetz der
herrschenden Sprache sich modelten, gelten als geschichtliche
Vermittlungen. Die ältesten erreichbaren Sprachen sogar werden
samt ihrer Reinheit verstört durch die Urverwandtschaften; in
dämmernder Vorzeit spielen sie ineinander, und die archaischen
Trübungen des Sprachspiegels lassen die Umrisse der kreatürlichen
Ursprache verschwimmen, deren Entwurf als posthume romantische
Wunschidee sich entzaubert. Einmal später – das liegt im Zuge jener
Anschauungen – soll die historische Kontinuität auch die
eigentlichen Fremdwörter erfassen; einmal sollen »Symbol«,
»Komplex«, »Initiative« ohne Naht und Narbe dem Sprachleib sich
einfügen wie nur »Bank«, »Siegel« und selbst »Acker«. Die
Vorstellung der Sprache als eines Organischen hat die landläufige
Verteidigung der Fremdwörter mit dem Purismus gemein, mag sie
immer das Leben der Sprache nach anderen Zählzeiten messen. Den
Rhythmus selber hat bewußt erstmals das neunzehnte Jahrhundert
synkopisch durchbrochen unterm Zwang des Individuums und
seines souveränen Ausdrucks. Wenn dem sprachformenden Subjekt
die Sprache als ein Objektives gegenübersteht, dann setzt das
Subjekt den eigenen Drang wider die Sprache durch vermöge jener
Wörter, die ihr nicht untertan sind und die es wider die sprachliche
Konvention mobilisiert, wie starr konventionell sie auch selber im
sprachlichen Alltag begegnen. Die Fremdwörter werden Träger
subjektiver Gehalte: der Nuancen. Wohl entsprechen den
Bedeutungen der fremden Wörter jeweils die eigener; aber sie lassen
nicht beliebig durch diese sich ersetzen, weil der Ausdruck der
Subjektivität in Bedeutung nicht rein aufgelöst werden kann.
Stimmung, Atmosphäre, Sprach-Musik, alle Postulate der
Verlaineschen art poétique, wie sie dem Differentialprinzip der
Nuance unterstehen, wollen den Anspruch des Individuums auf
seine rationale Unauflöslichkeit in der Sprache erhärten, indem sie
ihn an der Unübersetzbarkeit demonstrieren. Wörter wie Attitude
und Cachet, deutsch nicht eindeutig wiederzugeben, erweisen
drastisch diese Funktion, und nicht zufällig hat Simmel als
Philosoph der Nuance, des Individuums und der Irrationalität sie in
die philosophische Kunstsprache aufgenommen. Er erhob damit
lediglich Intentionen zum theoretischen Selbstbewußtsein, die seit
den lateinischen Zitaten in Baudelaires Gedichten die Lyrik
durchdrangen, auch die deutsche: beim jungen George noch der
Mystik des Erlesenen zuliebe, beim Rilke der ›Neuen Gedichte‹
dann, um gerade die abgeworfenen, verblichenen, erstarrten Dinge
beim Eigennamen zu rufen und jäh im Echo zu erwecken, das sie
zurücksenden: »Du schnell vergehendes Daguerreotyp / in meinen
langsamer vergehenden Händen.« Solche Lyrik hat allen
sprachlichen Purismus in die Provinz gescheucht.
Nicht aber ihn radikal widerlegt. Weder läßt sich mehr auf ein
Sprach-Wachstum vertrauen, das stetig die Fremdwörter
assimilierte; noch kann über die Dignität sprachlicher Leistungen ihr
Nuancen-Gehalt entscheiden, da längst die Funktion der
Sprachnuance sich wandelte, die heute durchweg verhüllender Art
ist; schon beginnen Nuancen-Fremdwörter wie »Geste« oder
»mondän« selber in die Provinz abzuwandern. Was im Rahmen der
Assimilation oder des bloßen Nuancen-Gegensatzes beharrt, bleibt
vereinbar zudem mit den Prämissen des Purismus. Die
Sprachgeschichte selber würden Puristen nicht leugnen; könnte sich
auch mit Wörtern abfinden, die der Sprache sich einfügen oder
durch Reiz und Verfeinerung sie bestätigen, indem sie sich
scheinbar ihr in den Weg stellen. Wie aber verhält es sich mit den
harten, künstlichen, unnachgiebigen Fremdwörtern, deren Leben nur
für Augenblicke die Sphäre der Nuancen schneidet; die nicht
verschmelzen, nicht einmal schon den Ausdruck der eigenen
Vergangenheit tragen? Müßten sie fallen, behielte der Purismus
recht trotz Georges Malachit- und Alabasterkrügen und trotz Rilkes
Daguerreotyp; er müßte vielleicht auf die Idee des reinen Uridioms
verzichten, dürfte aber festhalten an der Konzeption einer in sich
zweckvoll geschlossenen, sich immanent entfaltenden Sprache,
deren Gleichnis das Wachstum bliebe; die fremden Wörter würde
sie verdauen oder ausscheiden, nicht aber als eiserne Male, als
wandernde Geschoßkugeln dulden bei sich. Um dies Ideal der
immanent-geschlossenen, organischen Sprache geht schließlich die
Diskussion. Nicht ist vor dem Purismus zurückzuweichen, indem
man ihm den organischen Charakter der Sprache zugesteht und bloß
die Fremdwörter in lebendige Zellen magisch umdeutet, weil sie
auch ihre Schicksale haben und lyrisch klingen können. Man muß
sie verteidigen, wo sie im Sinne des Purismus am schlimmsten sind:
wo sie als Fremdkörper den Sprachleib bedrängen.
Sie legitimieren sich erst einer veränderten Auffassung von der
Sprache. So wenig je deren transpersonales Leben als das Gesetz
bestritten werden darf, nach welchem die Worte zur Wahrheit
zusammentreten, so wenig ist dies Leben strengen Sinnes organisch.
Denn wohl sind die Menschen unter den Sternhimmel der ziehenden
Worte gestellt, wohl sind Sprache und Kreatur je und je aufeinander
verwiesen, aber doch nicht anders als der Weg der Sterne und das
Schicksal von Menschen einander gelten. Die reine kreatürliche
Sprache ist den Menschen verborgen oder verloren, weil ihr
Inbegriff nichts anderes wäre als der der dargestellten Wahrheit.
Darum verläuft das Leben der Sprache nicht mit dem teleologischen
Atem des kreatürlichen, mit Geburt, Wachstum und Tod, sondern
mit Benennung als dem rätselvollen Urphänomen zwischen
ergreifendem Denken und erscheinender Wahrheit, mit
Kristallisation und Zerfall. Die wahren Worte, Bruchstücke der
Wahrheit, sind nicht die verschütteten und mythisch beschworenen
Urworte. Es sind die gefundenen, getanen, künstlichen –
schlechtweg die gemachten Worte; wie nach dem Bericht der
Genesis Gott dem Menschen nicht die Namen der Dinge offenbarte,
es sei denn, sie wären ihm kund geworden, als dieser menschlich sie
benannte: im Akt der Benennung selber. Jedes neu gesetzte
Fremdwort aber feiert im Augenblick seines Erscheinens profan
nochmals die wahre urgeschichtliche Benennung. Und in jedem
entringt aufs neue sich der Genius dem mythischen Verfallensein an
den Zusammenhang bloß natürlichen Lebens.
Darum sind historisch die Fremdwörter Einbruchstellen
erkennenden Bewußtseins und erhellter Wahrheit im
ungeschiedenen Wuchse dessen, was bloß Natur ist an der Sprache:
Einbruch von Freiheit. Über ihr Recht und Unrecht läßt sich nicht
danach entscheiden, ob sie sich einfügen, sondern bloß
gesellschaftlich. Je fremder in der Gesellschaft den Menschen ihre
Dinge wurden, um so fremder müssen die Worte dafür stehen, sie zu
erreichen und allegorisch zu mahnen, daß die Dinge heimgebracht
werden. Je tiefer die Gesellschaft vom Widerspruch zwischen ihrem
naturwüchsigen und ihrem rationalen Wesen durchfurcht wird, um
so isolierter müssen notwendig die Fremdwörter im Sprachraum
beharren, unverständlich dem einen Teil der Menschen, bedrohlich
dem anderen; und haben dennoch ihr Recht als Ausdruck der
Entfremdung selbst, auch als die durchsichtigen Kristalle, die
einmal, vielleicht, die dumpfe Gefangenschaft des Menschen in der
vorgedachten Sprache zersprengen. Freilich nicht von sich aus: das
Esperanto ist das Widerspiel jeglichen echten Fremdwortes. Aber
wären die Sachen an ihrer rechten Stelle, folgten ihnen vor anderen
Worten die fremden am ehesten dahin nach; wäre es auch im Zerfall
der historisch-organischen Sprachen.
Der Purismus sieht die Fremdwörter besser als die laxe
Verteidigung: sie stehen fremd zur Sprache. Seit der ersten
gewalttätigen Emanzipation der ratio von der naturwüchsigen
Gesellschaft in neuerer Zeit, dem Humanismus, haben sie
tatsächlich dem saugenden Sprachleib sich entzogen. Sie sind übrig
geblieben in Kraft des gesellschaftlichen Widerspruchs zwischen
der Bildungsschicht und der Schicht der Ungebildeten, der weder
mehr die unreflektierte, »volksetymologische« Sprachentwicklung
gestattete noch schon die Durchkonstruktion der Sprache erlaubt
hätte, weil die freie Verfügung über die Sprachkräfte einzig der wie
den anderen so sich selbst entfremdeten Bildungsschicht
vorbehalten blieb. Die arbeitsteilige Ausformung besonderer
wissenschaftlicher Terminologien, die das lateinische und
griechische Erbe zerstückten, hat vollends den Fremdwörtern ihren
verdinglichten Zug verliehen: jenen unmenschlichen, fetischhaften
Warencharakter, an dem der Purist mit Recht Anstoß nimmt. Nur
zielt seine Kritik zu kurz. Die Isolierung der Fremdwörter könnte
nicht durch die Restitution einer integralen Sprache, sondern bloß
von der Gesellschaft aus beseitigt werden, die mit den Dingen sich
selber benennt. Dann aber wird nicht das Fremdwort, der todmüde
Bote aus dem zukünftigen Sprachreich, durchs naturwüchsige,
historisch unangemessene Wort ersetzt werden, sondern die
Spannung zwischen den beiden Sprachsphären, in der wir heute
existieren, kann sich produktiv zeigen, und im Gebrauch einer
prompten, gebrauchsfähigen Terminologie können beide sich
aufeinander zu bewegen. Nicht als Bildungsprivileg sind die
Fremdwörter zu hüten. Tatsächlich ist bereits heute ihre Anwendung
durch Bildung und Bildungsanspruch nicht mehr definiert. Es wäre
kein verächtliches Anliegen volkskundlicher Bemühung, zu prüfen,
was unterhalb der Bildungssphäre, doch ohne mit dem Sprachleib zu
verschmelzen, Fremdwörter treiben; auf dem tiefsten Grunde der
Sprache, im politischen Jargon, im Rotwelsch der Liebe und in einer
Alltagsredeweise, die vom Standpunkt organischer Sprache und
Sprach-Reinheit aus verderbt heißen muß, in der sich aber die
Konturen einer kommenden abzeichnen mögen, die so wenig nach
der Idee des Organischen wie der der Bildung zu verstehen ist.
So weit hält der Schriftsteller noch nicht. Er gebraucht das echte,
nicht-organische Fremdwort durchwegs als Zitat: aus den
besonderen Bereichen von Philosophie, von Wissenschaften, von
Kunst, von Technik, deren Selbständigkeit vom totalen
Lebensprozeß der Gesellschaft her nicht mehr mit adäquaten
Worten getroffen wird. Damit dienen die Fremdwörter in der Hand
des Schriftstellers scheinbar dem Bildungsideal, und nicht kann
geleugnet werden, daß unter den gegenwärtigen Verhältnissen ihr
Verständnis jeweils kleinen Gruppen vorbehalten ist. Aber dieser
Bildungs-Gebrauch verschließt seine Dialektik in sich. Wohl
verfährt der Schriftsteller so, wie Walter Benjamin in der
›Einbahnstraße‹ es dargestellt hat, indem er den Literaten einem
Chirurgen vergleicht, der mit dem Gedanken schwierige
Operationen vollführt und ihm dabei die »silberne Rippe eines
Fremdwortes« einfügt. Aber die silberne Rippe hilft dem Patienten
Gedanke weiterzuleben, während er an der organischen krankte.
Solcher Art ist die Dialektik des Fremdwortes. Es stößt ab vom
organischen Sprachwesen, wofern dieses nicht mehr zureicht,
Gedanken zu fassen. Über seine richtige Verwendung entscheidet
wahrhaft nicht Bildung sondern Erkenntnis. Im Fremdwort wird der
Sprachfluß vom Strahl der ratio getroffen, unter dem er schmerzlich
erglänzt. In ihm wird die Nuance gerettet und vernichtet in eins.
Vernichtet: weil das Fremdwort nicht mehr das Irrationale, flüchtig
Individuelle, Stimmungsmäßige scheinhaft bannt, sondern gerade
den Umriß der Erkenntnis hart, eindeutig aus der Sprachmasse
heraustreibt. Gerettet: weil die kleinsten Differenzen der
Gegenstände, die vordem von den Fremdwörtern als Nuancen
beschworen wurden und schwebend enteilten, als Unterschiede der
Erkenntnis wägbar wiederkehren. Fremdwörter sind Zitate. Aber
während der Schriftsteller allemal noch meint, er zitiere aus seiner
Bildung und dem spezialen Wissen, zitiert er aus einer verborgenen,
positiv unbekannten Sprache, die jäh die bestehende ereilt,
überblendet, verklärt, als schicke sie sich an, selber in die zukünftige
umzuschlagen. Dann gleichen die alten organischen Worte
Gaslaternen in einer Straße, in der das violette Licht einer autogenen
Schweißanlage aufflammt; so trostlos vergangen, so
vorzeitlich-mythologisch schauen sie drein. Die Macht einer
unbekannten, eigentlichen Sprache, die keinem Kalkul sich eröffnet,
die einzig stückhaft aus dem Zerfall der bestehenden sich erhebt:
diese negative, gefährliche und gleichwohl sicher versprochene
Macht ist die wahre Rechtfertigung der Fremdwörter.
 Theses Upon Art and Religion Today
 
I. The lost unity between art and religion, be it regarded as
wholesome or as hampering, cannot be regained at will. This unity
was not a matter of purposeful cooperation, but resulted from the
whole objective structure of society during certain phases of history,
so the break is objectively conditioned and irreversible. Unity of art
and religion is not simply due to subjective convictions and
decisions but to the underlying social reality and its objective trend.
Such a unity exists, in principle, only in non-individualistic,
hierarchical, closed societies – even in Greek antiquity it did not
prevail during those phases when the individual had emancipated
himself economically and politically. The present crisis involving
individuality and the collectivistic tendencies in our society does not
justify any retrogression of art to a stage which comes earlier than
the individualistic era, any attempt to subject art arbitrarily once
more to bonds of a religious nature. Such a reversion would
necessarily bear the hallmarks of the individualistic age itself: it
would be essentially rationalistic. The individual might still be
capable of having religious experiences. But positive religion has
lost its character of objective, all-comprising validity, its
supra-individual binding force. It is no longer an unproblematic, a
priori medium within which each person exists without questioning.
Hence the desire for a reconstruction of that much praised unity
amounts to wishful thinking, even if it be deeply rooted in the
sincere desire for something which gives »sense« to a culture
threatened by emptiness and universal alienation.
II. The exalted unity of art and religion is, and always was,
highly problematic in itself. Actually it is largely a romantic
projection into the past of the desire for organic, non-alienated
relations between men, for doing away with the universal division of
labor. Probably no such unity ever existed in periods where we
might speak of art in the proper sense of freedom of human
expression as distinct from the symbols of ritual which are works of
art only accidentally. It is characteristic that the idea of that unity
has been conceived during the romantic age. The notion that art has
broken away from religion only during a late phase of
enlightenment and secularization is erroneous. Both objectified
religion and art are from a very early age equally the product of the
dissolution of the archaic unity between imagery and concept. Since
both spheres have been established, their relation was one of
tension. Even during periods which are supposed to have secured
the utmost integration of religion and art, such as the Greek classical
century, or medieval culture at its height, this unity was largely
superimposed upon art and was to a certain degree of a repressive
character. This is testified by Plato's diatribes against poetry no less
than, conversely, by those devil heads and grotesque figures which
adorn the Gothic Cathedrals; these last, though part and parcel of the
Catholic ordo, plainly express impulses of resistance of the rising
individual against this very same ordo. In other words, art, and
so-called classical art no less than its more anarchical expressions,
always was, and is, a force of protest of the humane against the
pressure of domineering institutions, religious and others, no less
than it reflects their objective substance. Hence there is reason for
the suspicion that wherever the battle cry is raised that art should go
back to its religious sources there also prevails the wish that art
should exercise a disciplinary, repressive function.
III. Any attempts to add spiritual meaning and thus greater
objective validity to art by the re-introduction of religious content,
for artistic treatment, are futile. Thus religion if treated in modern
poetry and with the unavoidable means of modern poetical
technique assumes an aspect of the »ornamental,« of the decorative.
It becomes a metaphorical circumscription for mundane, mostly
psychological experiences of the individual. Religious symbolism
deteriorates into an unctuous expression of a substance which is
actually of this world. A good example for this deterioration of
religious symbols into mere embellishment is provided by the
pseudomysticism of Rainer Maria Rilke. With certain more
advanced works of a supposedly religious content, such as
Stravinsky's Symphonie des Psaumes, the religious attitude assumes
the air of an externally enforced and ultimately arbitrary community
manipulated by individualistic devices behind which there is
nothing of the collective power which they pretend. And I must
refer to the best-seller kind of religious novel of which we had some
unpleasant examples during the last few years. This kind of
literature has done away with any pretension to the ultimate validity
of its religious theses. It glorifies religion because it would be so
nice if one could believe again. Religion is on sale, as it were. It is
cheaply marketed in order to provide one more so-called irrational
stimulus among many others by which the members of a calculating
society are calculatingly made to forget the calculation under which
they suffer. This consumer's art is movie religion even before that
industry takes hold of it. Against this sort of thing, art can keep faith
to its true affinity with religion, the relationship with truth, only by
an almost ascetic abstinence from any religious claim or any
touching upon religious subject matter. Religious art today is
nothing but blasphemy.
IV. It is equally futile to borrow religious forms of the past, such
as the mystery play or the oratorio, while abstracting from the
religious contents with which these artistic forms were bound up.
Today, the obsolescence of individualistic art and its replacement by
collectivism are taken for granted. It is this formula which
engenders the most passionate attempts to mobilize once again the
artistic forms of past religious ages. It is highly characteristic,
however, that none of the attempts made in this direction has as its
basis a true and concrete reconciliation between subject and object,
between individual and collectivity, but that they reach their
collective character only at the expense of the individual whose
freedom of expression is more or less curtailed. This is closely
connected with totalitarian tendencies in our society which I cannot
discuss in these brief remarks. Conversely, it should be
acknowledged, however, that there is no way back to individualistic
art in the traditional sense either. In its relationship with collectivism
and individualism art today faces a deadlock which we might try to
overcome concretely but which certainly cannot be mastered by any
general recipe and even less by »synthesis,« by selecting the middle
road. This deadlock is a faithful expression of the crisis of our
present society itself.
V. In an era such as ours, torn asunder by group antagonisms
and all kinds of social discrimination, an era in which positive
religion as well as traditional philosophy has lost a great deal of its
mass appeal, to many the idea sounds alluring that the integrating
force of those realms should have passed on to art. Art should, as the
word goes, »convey a message« of human solidarity, brotherly love,
all-comprising universality. It seems to me that the value of these
ideas can only consist in their inherent truth, not in their social
applicability, and even less in the way they are effectively
propagated by art. In other words, to cope with them as such
remains a matter of autonomous philosophical thinking. To make
today those ideas the subject matter of works of art would be little
better than modernistic mural paintings of Saints or novels about
dubious miracles – the ultimate ideas of philosophy would be
distorted into a species of election slogans. If we are told that art,
religion, and philosophy are, in the last analysis, identical, this does
not suffice to justify the view that art should translate philosophical
ideas into sensuous imagery. For the supposed identity of art,
religion, and philosophy, even if it be true, is so utterly abstract that
it virtually amounts to nothing and remains almost as thin as the
truisms pronounced in Sunday Schools and Philharmonic
Committee meetings. What seems to be high- idealism actually
presupposes the complete emasculation of all the contents in
question, religious, philosophical, and artistic. They all become
identical, or at least reconcilable with each other, as »cultural
goods« which are no longer taken quite seriously by anybody. They
are rendered harmless and impotent. It is the reduction towards
something generally acceptable within the conformist pattern of
given culture which produces the illusory appearance of spiritual
identity. The apparently humanistic emphasis on it has turned into a
mere ideology. Art that wants to fulfill its humane destination
should not peep at the humane, nor proclaim humanistic phrases.
VI. I have stressed so far the sharp distinction between art and
religion as well as between art and philosophy as it was brought
about historically. This should not blind us, however, to the intimate
relationship which existed originally between them and which led
again and again to productive interaction. Every work of art still
bears the imprint of its magical origin. We may even concede that, if
the magic element should be extirpated from art altogether, the
decline of art itself will have been reached. This, however, has to be
properly understood. First, the surviving magic trends of art are
something utterly different from its manifest contents or forms.
They are rather to be found in traits, such as the spell cast by any
true work of art, the halo of its uniqueness, its inherent claim to
represent something absolute. This magic character cannot be
conjured up by the desire to keep the flame alive. The actual
relationship may be expressed paradoxically. Artistic production
cannot escape the universal tendency of Enlightenment – of
progressive domination of nature. Throughout the course of history
the artist becomes more and more consciously and freely the master
of his material and his forms and thus works against the magic spell
of his own product. But it is only his incessant endeavor towards
achieving this conscious control and constructive power, only the
attack of artistic autonomy on the magic element from which this
selfsame element draws the strength to survive and to make itself
felt in new and more adequate forms. The powers of rational
construction brought to bear upon this irrational element seem to
increase its inner resistance rather than to eliminate it, as our
irrationalist philosophers want to make us believe. Thus the only
possible way to save the »spell« of art is the denial of this spell by
art itself. Today it is only the hit composer and the best seller writer
who prate about the irrationality and inspiration of their products.
Those who create works which are truly concrete and indissoluble,
truly antagonistic to the sway of culture industry and calculative
manipulation, are those who think most severely and intransigently
in terms of technical consistency.
VII. I am fully aware of how unsatisfactory these fragmentary
theses are. I am particularly conscious of one objection which will
certainly be raised and which I have to accept. You will say that art,
in spite of everything, is related to the universal; that one must not
hypostatize the division of labor by regarding art as a self-sufficient
tightly closed realm of its own. You may even suspect me of
attempting to revive good old aestheticism, the idea of l'art pour
l'art which has now been pronounced dead so many times. Nothing
of this sort is my aim. As firmly as I am convinced that the
dichotomy between art and religion is irreversible, as firmly do I
believe that it cannot be naively regarded as something final and
ultimate. But the relationship between the work of art and the
universal concept is not a direct one. If I should have to express it
boldly, I should borrow a metaphor famous from the history of
philosophy. I should compare the work of art to the monad.
According to Leibniz each monad »represents« the universe, but it
has no windows; it represents the universal within its own walls.
That is to say, its own structure is objectively the same as that of the
universal. It may be conscious of this in different degrees. But it has
no immediate access to universality, it does not look at it, as it were.
No matter what we think about the logical or metaphysical merits of
this conception, it seems to me to express the nature of the work of
art most adequately. Art cannot make concepts its »theme.« The
relationship of the work and the universal becomes the more
profound the less the work copes explicitly with universalities, the
more it becomes infatuated with its own detached world, its
material, its problems, its consistency, its way of expression. Only
by reaching the acme of genuine individualization, only by
obstinately following up the desiderata of its concretion, does the
work become truly the bearer of the universal. I will call the name
of an artist of our time who has followed this axiom to an extreme,
who as many believe made a spleen of concretion, but thus achieved
a degree of universality which I think unsurpassed in modern
literature. I am thinking of the work of Marcel Proust. His glance at
men and things is so close that even the identity of the individual,
his »character,« is dissolved. Yet it is his obsession with the
concrete and the unique, with the taste of a madeleine or the color of
the shoes of a lady worn at a certain party, which becomes
instrumental with regard to the materialization of a truly theological
idea, that of immortality. For it is this concentration upon opaque
and quasi-blind details through which Proust achieves that
Remembrance of Things Past by which his novel undertook to brave
death by breaking the power of oblivion engulfing every individual
life. It is he who, in a non-religious world, took the phrase of
immortality literally and tried to salvage life, as an image, from the
throes of death. But he did so by giving himself up to the most
futile, the most insignificant, the most fugitive traces of memory. By
concentrating upon the utterly mortal, he converted his novel,
blamed today for self-indulgence and decadence, into a hieroglyph
of »O death, where is thy sting? O grave, where is thy victory?«
 Ein Titel
 
Rowohlt hat, in seiner billigen Buchreihe 1 , den ›Professor Unrat‹
von Heinrich Mann neu herausgebracht, und dafür soll man ihm
dankbar sein. Der Roman fluoresziert desto bedrohlicher, je
veralteter die stofflichen Voraussetzungen, die muffige
Gymnasialstube mit dem »Kabuff«, der kindisch-sadistische
Professor, das Laster von Biercabaret und anrüchiger Vorstadtvilla,
die provinzielle Halbweltdame scheinen: es ist, als hätte die
kleinbürgerliche Beschränktheit dieses Lübecker Alltags sich kraft
der Verve der Darstellung verdichtet zum grell Ungeheuren des
Wesens. Der Sexus schlägt in die Atmosphäre, und die Bürger samt
ihrem Anhang werfen die Maske des Normalen ab und zeigen
Dämonenfratzen. Zugleich aber auch das hilflos Preisgegebene, das
von der Ordnung ihres Daseins sonst fortgebannt wird. An Kraft
aufklärender Verzauberung ist der Roman einzig Wedekinds
›Frühlings Erwachen‹ zu vergleichen; manchmal liest er sich, als
wäre die bizarr übertreibende Ähnlichkeit Daumierscher
Karikaturen in Sprachgesten aufgelöst. Die Beschreibung des auf
der Variétébühne vor einem tobenden Publikum zelebrierten
Flaggenliedes offenbart mehr von der Ontologie des neudeutschen
Nationalismus, als historische Traktate umständlich zu entfalten
vermöchten. Heinrich Mann hat von den Franzosen das Schneidende
des unumwölkten Blicks, die polemische Kraft der Kälte gelernt und
sich freigehalten von jenem selbstgerecht versöhnenden Humor, der
in Deutschland so hoch im Kurs steht. Er hat bewährt, was sonst
dem deutschen Roman abgeht, sobald er sich mit den Bildern der
Enge einläßt: fruchtbaren Haß. Dem verdankt er die unbeirrte
gesellschaftliche Physiognomik. Stilgeschichtlich bezeichnet der
Roman den Umschlag der ins Extrem gesteigerten naturalistischen
Mittel in den expressionistischen Ausbruch. So nah rückt er den
bürgerlichen Urbildern auf den Leib, daß die Darstellung die
bürgerliche Ausdruckskonvention durchbricht und den Menschen
zitiert in Gestalt zappelnder Unmenschen. Sätze wie der letzte: »Er
sprudelte Wasser, empfing von hinten einen Stoß, stolperte das
Trittbrett hinan und gelangte kopfüber auf das Polster neben der
Künstlerin Fröhlich und ins Dunkel«, sind im Deutschen ohne
Beispiel gewesen und haben ihre Spur hinterlassen weit über den
Umkreis dessen hinaus, was die Literaturgeschichte »Einfluß«
nennt. Etwas vom gedrängten Pathos dieses Gefüges lebt in jedem
Satz, der seitdem Dichtern in Prosa gelang.
Dies Gebilde können nun wieder Gymnasiasten lesen wie vor
dreißig Jahren im Feuilleton einer sozialdemokratischen Zeitung,
und vielleicht finden sich sogar noch einige, die sich in die
Künstlerin Fröhlich verlieben und am Ende des Tyrannen
berauschen, ohne sich das Pubertätsglück des Romans sogleich
abzuschneiden, indem sie sich dessen versichern, daß so etwas doch
heutzutage schlechterdings unmöglich, daß kein Studienrat, gewiß
kein Gymnasiast mehr so naiv sei. Wahrscheinlicher aber stellen die
Leser von 1952 einen Vergleich mit dem Film an und ziehen den
Komfort des Fertigfabrikats der Anstrengung der Phantasie vor.
Daran jedoch macht die Neuausgabe sich mitschuldig. Sie
versteckt den Titel des Romans in eine Notiz und nennt sich: Der
Blaue Engel, vermutlich um den Absatz zu steigern. Es werden
Leser angezogen, die den Film kennen, ohne von Heinrich Mann
etwas zu wissen, und auf diese Weise soll der Erfolg des Absuds
dem primären Kunstwerk zugute kommen. Solche List könnte
unschuldig genug scheinen, wäre der Titel gleichgültig. Aber er ist
es keineswegs und war es schon für die nicht, welche ihn seinerzeit
änderten. Man kann sich das aus Filmschaffenden mit dem Herzen
auf dem rechten Fleck und ihren Wirtschaftsführern
zusammengesetzte Gremium vorstellen, das da einmal in einer
wichtigen Konferenz, bei der jede Störung verboten war, über die
Frage befand. »Professor Unrat? Kommt überhaupt nicht in Frage.
In so was geht kein Mensch herein. Außerdem kann man den
Professorentitel nicht öffentlich herabwürdigen. Tonfilm ist ja schön
und gut, aber Gestank kauft sich keiner. Der Blaue Engel, das ist
was ganz andres. Da stellt sich jeder gleich was mit Mädchen
drunter vor. Wir kennen ja schließlich unser Publikum. So was
zieht. Uns machen sie nichts vor. Film ist keine Literatur.« Ob
Heinrich Mann an dieser Sitzung, die stattfand, auch wenn sie nicht
stattfand, teilnehmen durfte, weiß ich so wenig, wie ob etwa der
Todkranke die Änderung des Romantitels noch sanktionierte;
sicherlich aber drang er, der etwas von der Sache verstand, gegen
soviel Sachverständige nicht durch. So hat man denn die prustende
Fanfare des Titels, die klingt, als würden vier gedämpfte Trompeten
fortissimo angeblasen, durch ein mattes und unaggressives Cliché
ersetzt. Der Konformismus fuhr seinerzeit dem Kunstwerk in die
Parade. Nicht in Hollywood, sondern in Neubabelsberg. Wird nun
der Roman danach umgetauft, so macht der Verleger das Diktat des
Konformismus nochmals sich zu eigen.
In der Tat des Konformismus. Denn der Film, der heute für eine
Großtat gilt, hat vor Hitler und ohne daß eine Zensurbehörde sich
erst hätte bemühen brauchen, freiwillig bereits jene Gesinnung
bekundet, die unterdessen zur Institution ward, und nur die schönen
Beine der Marlene Dietrich haben darüber getäuscht. Vor lauter
Entzücken über den sorgfältig dosierten Sex appeal übersieht man,
daß das Gremium jeden gesellschaftlichen Stachel entfernte, aus
dem Spießerdämon eine rührselige Lustspielfigur bereitete. Bei
Heinrich Mann endet Unrat im Gefängniswagen. Größe gewinnt er,
als Verkommener, durch die Obsession der Rache an einer Welt, die
sich ihm aus unbotmäßigen Schülern zusammensetzt. Er behält
Recht gegen die Gesellschaft, sobald er aus der absurden
Konsequenz ihres eigenen Autoritätsprinzips heraus mit ihr den
Kampf aufnimmt. Der Held des Films aber schleppt sich, weil sein
pädagogischer Eros es schon gar nicht mehr aushält, mit
gebrochenem Herzen in seine Klasse und stirbt dort eines verklärten
Todes. Die Frau vollends, die ihn zugrunde richtet, wird zu einem
prächtigen Geschöpf, das an dem Alten eher Sozialfürsorge übt, als
daß es ihm die Zuhälterei angewöhnte. Der ehrwürdige Spitzenfilm
ist schon eines jener abscheulich verlogenen, übrigens von den
berühmten Beinen abgesehen, auch ziemlich langweiligen Produkte,
die den Griff ins volle Menschenleben gerade nur noch zum
Kundenfang benutzen, den Blick auf den Gegenstand jedoch schon
sorgfältig filtrieren durch die Verstellungen, welche die Herren
ihren Zuschauern zuschreiben, um sie diesen um so wirksamer
aufzwingen zu können. Die Humanität, deren ›Der Blaue Engel‹
sich durch seine mildernden Retuschen befleißigt, die zum
angeblich allzu Menschlichen schmunzelnde Güte, hat keinen
anderen Zweck, als die Denunziation des Inhumanen zum
Schweigen zu bringen, die Heinrich Manns Roman vollbrachte und
die dessen Nutznießern noch nach zwanzig Jahren unerträglich war,
als sie auf der Jagd nach ihrem Glück ein Drehbuch daraus
zusammenstümperten.
Wäre nicht unterdessen das Verdikt des Betriebs ungefragt als
entscheidende Instanz anerkannt, so müßte dem verunstalteten Werk
wieder zu seiner Ehre verholfen werden, indem der Verleger das
Symbol der Anpassung, den falschen Titel, tilgt und den echten
wieder herstellt, der da einmal die Schmach des Offiziellen
hinausschrie.
 Fußnoten
 
1 Vgl. Heinrich Mann, Der blaue Engel, Hamburg 1951
(rororo-Taschenbuch 35).
 
 Unrat und Engel
Auf meinen Aufsatz wegen der Änderung des Titels von Heinrich
Manns Roman ›Professor Unrat‹ hat der Rowohlt-Verlag
geantwortet, er teile grundsätzlich meine Auffassung. Gegen die
Übernahme des Filmtitels hätte er zuerst Bedenken gehabt und
zugestimmt nur, nachdem der Autor – wie ich es als möglich
unterstellte – die Titeländerung sanktionierte. Gerechtfertigt sei die
Änderung mit eben dem Motiv, das ich vermutete: daß durch die
Erinnerung an den ›Blauen Engel‹ die Verbreitung des Buches in
der billigen Auflage gefördert würde.
Die Änderung selbst übrigens rührte nicht von Rowohlt her,
sondern von dem Originalverleger, dem ostdeutschen
Aufbau-Verlag, Berlin. Die Gleichschaltung des Kunstwerkes an die
Kulturindustrie ist also dort akzeptiert worden, wo der Ausdruck
»Hollywood-Kitsch« zum Repertoire gehört. Offenbar ist unter
jenen hierarchischen Verwaltungen, die sich selbst
volksdemokratisch nennen, der Respekt vor dem Anerkannten, dem
Offiziellen, besonders aber dem Erfolg so groß, daß man, um nur ja
nicht in den Verdacht der Volksfremdheit zu geraten, dem
Richterspruch derer sich beugt, die erst dem Volk die Binde über die
Augen und dann das Fell über die Ohren ziehen. Vielleicht klingt
ihnen auch der Titel ›Professor Unrat‹ zu dekadent oder subversiv.
Kurz, es herrschen da unübersichtliche Verhältnisse.
Aber es geht im Augenblick nicht um die Einheitsfront von
Moskau und Neubabelsberg. Denn dem Material zufolge, das
Rowohlt mir sandte, sind eigentlich alle gegen die Titeländerung
gewesen. Rowohlt selber hat im Verlag seine Bedenken »mehrfach
leidenschaftlich zum Ausdruck gebracht«. Heinrich Mann hat sich
gefügt, aber, wie ein Brief des Aufbau-Verlages meldet, »im Herzen
am alten Titel gehangen«. Der Aufbau-Verlag selber erklärt, ihm sei
ebenfalls der alte Titel lieber. Wenn es gelänge, des Gremiums
habhaft zu werden, das ich erfand, so würde sich vermutlich
herausstellen, daß jeder Einzelne den Titel ›Der Blaue Engel‹ schon
damals mit Entrüstung von sich wies, und daß er von einer Mehrheit
beschlossen ward, die aus Nullen bestand.
Keiner ist es gewesen – am Ende wirklich keiner. Das Unwesen
der Kulturindustrie liegt gerade darin, daß in ihr, wie früher so kraß
nur in der Wirtschaft, sich Tendenzen über den Köpfen der
Menschen hinweg durchsetzen, und soweit die Beteiligten
Intellektuelle sind, gegen ihren Willen. Während die positivistische
Wissenschaft den Begriff des objektiven Geistes als Metaphysik mit
Entrüstung von sich weist, wird dieser Begriff immer
handgreiflicher. Das Bewußtsein der Vertreter der Kulturindustrie
ist gespalten in das, was sie selber für richtig halten, und das, wovon
sie glauben, daß es dem Schema der Branche, auf die sie selber
schimpfen, entspreche; und sie zögern nicht, das Entsprechende zu
wählen. Ihr objektiver Geist erspart es bereits den
Wirtschaftsführern, mit der Kündigung zu drohen. Das Ganze aber
hat den Vorteil, daß, wenn man einmal dem Unrat an einem
konkreten Fall wie dem jenes Titels zu Leibe rückt, nichts sich
greifen läßt und die vom Weltungeist befohlene Machination sich
ausnimmt, als wäre sie ein beklagenswerter, doch unabänderlicher
Unfall. Alle sind Engel.
Das jedoch steht wiederum ein für einen viel grundsätzlicheren
Sachverhalt: die Verflüchtigung der Schuld. Nicht nur erlaubt es der
Übergang des Lebens an die Verwaltung, alle möglichen
Abscheulichkeiten zu begehen, ohne sich selber als Täter zu fühlen,
sondern macht es obendrein möglich, daß, wenn wirklich einmal ein
Einzelner zur Verantwortung gezogen werden soll, er mit guten
Gründen und voller subjektiver Ehrlichkeit sein Alibi beweisen
kann. Diese Verflüchtigung reicht von scheinbaren Lappalien wie
der, daß der Titel eines guten Romans in den eines schlechten Films
verbogen wird, bis zum Ungeheuerlichen; bei den Lappalien kann
man den Finger darauf legen, bei dem Ungeheuerlichen kaum mehr.
Je weniger die Verantwortung sich fixieren läßt, um so grausiger
wächst die Dimension der verdinglichten, allem Menschlichen
inkommensurablen Schuld selber an.
Früher war es Potentaten und Staatsmännern vorbehalten, »ich
habe es nicht gewollt« zu sagen, wenn sie einen Krieg angezettelt
hatten. Heute beruft sich schon jeder Filmschreiber und jeder
Lagerblockwart darauf und braucht nicht einmal mehr zu lügen.
Jeder ist sich selbst ein Würstchen. Unverantwortlichkeit ist kein
Privileg mehr. Das Unheil ward total.
 Zur Krisis der Literaturkritik
 
Wer nach langen Emigrationsjahren wieder in Deutschland sich
befindet, spürt den Verfall der literarischen Kritik. Es mag dabei
Selbsttäuschung im Spiel sein. Der Vertriebene neigt dazu, den
geistigen Zustand in Deutschland in der Zeit vor Hitler zu verklären
und den Gedanken an all das zu verdrängen, was damals schon die
faschistische Barbarei teleologisch in sich trug. Erinnert man sich an
den Kampf, den Karl Kraus gegen die literaturkritischen
Prominenzen führte, an den von ihm unerbittlich erbrachten
Nachweis ihres Konformismus, ihrer Inkompetenz, ihrer
Schlamperei, Wichtigmacherei und Unverantwortlichkeit, so wird
man sich aller Illusionen über den damaligen kritischen Großbetrieb
entschlagen. Aber gerade Karl Kraus hat im Negativen zwischen
Dummheit und Gemeinheit, zwischen Mittelmaß und Inferiorität,
zwischen dem Schmock und dem Kaffern zu unterscheiden gewußt.
Es liegt im Sinne solcher Unterscheidung, daß man den heutigen
Zustand, in dem der Geist kritischer Freiheit und Autonomie in
Deutschland zu fehlen scheint, abhebt von einer Periode, in der die
Kritik sich mag aufgebläht haben, aber wenigstens noch dem
sogenannten geistigen Leben gegenüber ein Element von
Unabhängigkeit bewahrte.
Längst ist es meine Absicht gewesen, die Krisis der
Literaturkritik, die mir weit ernstere Aspekte zu bieten scheint als
den, daß es keinen Alfred Kerr mehr gibt, eingehender zu
behandeln. Einiges Prinzipielle habe ich in der Abhandlung
›Kulturkritik und Gesellschaft‹ zu formulieren versucht, die in der
Festschrift zu Leopold von Wieses 75. Geburtstag, ›Soziologische
Forschung in unserer Zeit‹, erschienen ist 1 . Heute möchte ich mich
darauf beschränken, einige Momente anzudeuten, die mir für die
gegenwärtige Lage charakteristisch erscheinen. Die Literaturkritik,
so wie wir sie aus unserer Jugend kennen, ist ein Produkt des
liberalen Zeitalters. Sie hatte ihre Stätte vorab in liberalen Blättern
wie der ›Frankfurter Zeitung‹ und dem ›Berliner Tageblatts‹. Sie
setzte nicht nur das Recht auf freie Meinungsäußerung und das
Vertrauen auf das ungebunden urteilende Individuum voraus,
sondern auch eine bestimmte Autorität der Presse, die mit der
Bedeutung der Sphäre von Kommerz und Zirkulation
zusammenhing. Die Nationalsozialisten haben diesen
Zusammenhang brutal erkannt, die Literaturkritik als ein wesentlich
liberales Medium abgeschafft und durch ihre Art Kunstbetrachtung
ersetzt. Heute, nach dem Sturz der Diktatur, sind nun aber die
gesellschaftlichen Voraussetzungen der Literaturkritik durch den
bloßen Wechsel des politischen Systems nicht wieder hergestellt.
Weder gibt es jenen Typus des Publikums, der die liberalen
Zeitungen las, noch die Menschen, die ihrer eigenen Beschaffenheit
nach als autonom und begründet über Dichtungen Urteilende
aufzutreten vermöchten. Die faschistische Autorität ist zergangen,
aber übrig geblieben ist von ihr der Respekt vor einem jeglichen
Bestehenden, Anerkannten und sich als bedeutsam Aufspreizenden.
Ironie, geistige Beweglichkeit, Skepsis gegen das, was nun einmal
da ist, hat nie in Deutschland hoch im Kurs gestanden. Solche
geistigen Verhaltensweisen wurden auch während des liberalen
Zeitalters mit schlechtem Gewissen, als eine Art illegitimer Reiz
genossen. Sie galten für unsolid: stets mißtrauten das Feuilleton und
das Akademische einander. Das Element der produktiven
Negativität geht nun offenbar der heute in Deutschland Kritik
übenden Generation weithin ab. Entweder man traut sich nicht, oder
der Versuch bleibt hilflos. Polemiken wie etwa die, welche vor
einiger Zeit Alfred Polgar im ›Monat‹ dem Opus des Herrn von
Salomon widmete, sind seltene Ausnahmen. Wird negativ geurteilt,
so geschieht es eher im Sinne des autoritären Dekrets als dem des
Eindringens in die Sache. Die Ablehnung hat stets noch die Form
dessen, was im Jargon des Dritten Reiches »abschießen« hieß. Meist
aber beschränkt sich die Kritik aus Mangel an Freiheit, Distanz und
vor allem wirklicher Kenntnis der sachlichen Probleme, in deren
Bewältigung künstlerische Arbeit wesentlich besteht, auf eine Art
gehobener Information. Oft fällt es schwer, den Kritiker vom
Waschzettelschreiber zu unterscheiden, wie ich mir umgekehrt habe
erzählen lassen, daß jüngst ein Literaturkritiker, anstatt sich mit dem
ihm vorliegenden Buch zu befassen, sich auf die Kritik des
Waschzettels beschränkte. Der Zerfall der Bildung, insbesondere
auch die sprachliche Verwahrlosung spielen dabei überall hinein.
Die Neigung, mit fertig bezogenen Sprachclichés zu operieren,
anstatt den angemessenen Ausdruck des Gemeinten zu suchen,
findet sich zusammen mit der Unfähigkeit, das Phänomen selber
ursprünglich zu erfahren. Es ist, als würde alles schon durch ein
Schema erstarrter Phrasen hindurch wahrgenommen. Vor der
Negativität hat man Angst, als könnte sie ans allzu Negative des
Lebens gemahnen, an das man sich um keinen Preis erinnern lassen
möchte. Vorwürfe wie der des Zersetzenden, des Überspitzten, des
Outrierten und Esoterischen und Ähnliches sind so beliebt, als wäre
nichts geschehen.
Die Krisis der Literaturkritik und übrigens wohl der gesamten
künstlerischen Kritik, besonders auch der musikalischen, ist keine
bloße Sache der Unzulänglichkeit von Spezialisten. Sie weist auf die
gegenwärtige Gesamtverfassung des Daseins zurück. Einerseits ist
jede bestätigte Macht der Tradition zerfallen, an der Kritik, wenn
auch im Widerspruch, sich bilden könnte. Andererseits lähmt das
herrschende Gefühl der Ohnmacht der Individuen jene Impulse, die
der Kritik ihre Energie verleihen könnten. Große Kritik ist denkbar
nur als integrales Moment geistiger Strömungen, denen sie sei's
hilft, sei's widerspricht, und die selber ihre Kraft aus
gesellschaftlichen Tendenzen ziehen. Angesichts eines zugleich
desorganisierten und epigonalen Bewußtseinsstandes fehlt es der
Kritik an der objektiven Möglichkeit des Ansatzes. Der Mangel an
Authentizität, das Ausgehöhlte, an dem alle literarischen Produkte,
wie sie sich auch anstrengen mögen, heute leiden; die Ahnung von
der Gleichgültigkeit dessen, was heute unter dem Namen Kultur
weiter betrieben wird, im Schatten der realen Mächte der
Geschichte, lassen jenen Ernst nicht aufkommen, dessen die
Literaturkritik bedarf. Gewalt hat sie nur, wofern ihr jeder
gelungene oder mißratene Satz etwas mit dem Schicksal der
Menschheit zu tun hat. Als Lessings helle Rationalität den
äthetischen Rationalismus durchschaute, Heine die zum Genrehaften
und Reaktionären verkommene Romantik angriff, als Nietzsche die
Sprache des Bildungsphilisters bloßstellte, trug sie alle die Teilhabe
am objektiven Geist. Selbst Karl Kraus, der den Expressionismus
der Baller und Steiler bekämpfte, aber Georg Trakl entdeckte, wäre
ohne jene geistige Bewegung nicht vorstellbar gewesen. Daß es
heute eine damit irgend vergleichbare Tendenz des objektiven
Geistes kaum gibt, und daß, was etwa noch an avantgardistischen
Intentionen sich vorwagt, sofort in Gefahr steht, zur Spezialität zu
verkümmern, reduziert Kritik zur beliebigen, unverbindlichen
Meinungsäußerung.
Noch die Aussage, daß an der Sterilität der Kritik die Sterilität
der Produktion Schuld trage, griffe zu kurz. Der wahre Grund ist die
Neutralisierung der Kultur, die weiter weist wie zufällig von den
Bomben verschonte Häuser, und an deren Substantialität keiner
mehr recht glaubt. In solcher Kultur wird der Kritiker, der sie nicht
selber beim Namen nennt, notwendig zum Mitmacher und verfällt
der Gleichgültigkeit seiner Objekte, in denen die geschichtlichen
Kräfte des Zeitalters zwar stofflich erscheinen, kaum je aber das
Gestaltete selber tragen. Die Aufgabe der Literaturkritiker scheint an
weiter und tiefer greifende Besinnungen übergegangen, weil die
ganze Gattung Literatur heute nicht mehr die Dignität beanspruchen
kann, die ihr noch vor dreißig Jahren zukam. Nur der
Literaturkritiker würde seiner Aufgabe noch gerecht, der über diese
Aufgabe hinausginge und etwas von der Erschütterung in seinen
Gedanken registrierte, die dem Boden widerfuhr, auf dem er sich
bewegt. Das könnte aber nur gelingen, wenn er zugleich in voller
Freiheit und Verantwortlichkeit, ohne alle Rücksicht auf öffentliche
Geltung und Machtkonstellationen und zugleich mit der genauesten
artistisch-technischen Erfahrung sich in die Gegenstände versenkte,
die ihm vorkommen, und den Anspruch aufs Absolute, der noch
dem erbärmlichsten Kunstwerk verzerrt innewohnt, so schwer
nähme, als wäre es das, wofür es sich gibt.
 Fußnoten
 
1 Vgl. jetzt Theodor W. Adorno, Prismen. Kulturkritik und
Gesellschaft, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 1969, S. 7ff. [GS 10.1, s. S.
11ff.]
 
 Bei Gelegenheit von Wilhelm Lehmanns

›Bemerkungen zur Kunst des Gedichts‹


Es ist mir unmöglich, die von Erfahrung prallen Worte Lehmanns
im üblichen Sinne zu diskutieren. Nicht nur stimme ich, wenn das
nicht unbescheiden klingt, dem von ihm Gesagten durchwegs zu.
Sondern es ist das Eigentümliche solcher Erfahrungen wie der
seinen, daß sie, im Gegensatz zu der heute verbreiteten
Denkgewohnheit, keine These aufstellen, niemandem eine
Gesinnung aufdrängen wollen, vielmehr sich um Konkretion im
wörtlichsten Sinn, das Ineinandergewachsensein der Momente eines
Problems bemühen. Mit anderen Worten, um Gerechtigkeit. Es
scheint mir das Wesentliche an Lehmanns Aussagen, daß sie
nirgends bei einer beschränkten, sei's auch noch so tiefen Einsicht
stehenbleiben, sondern des Doppelcharakters einer jeden sich
erinnern. Die Kraft dazu aber rührt her von dem Wissen um die
Objektivität des Ästhetischen: daß Kunst keine Sache des
Geschmacks ist, daß erst jene sie dazu machten, die keinen
Geschmack haben.
Zwei Formulierungen möchte ich besonders hervorheben, die,
wie jede echte Erkenntnis, weit über den Zusammenhang
hinaustragen, in dem sie gewonnen worden sind. Die eine lautet, daß
lyrische Dichtung das entdeckte Wort errette, die andere, daß
dichterisches Schöpfertum und kritisches Vermögen zuletzt
identisch seien. Beides klingt zunächst widerspruchsvoll: wie soll
Rettung und Kritik auf das gleiche hinauskommen? Aber da die im
dichterischen Wort vollzogene Rettung stets eine des Möglichen,
des übers bloße Dasein sich Erhebenden, eigentlich der Utopie ist,
so liegt in Wahrheit darin stets auch beschlossen, daß das Gedicht
gegen das bloße Dasein, das gesellschaftliche zumal, seine Spitze
wende, selbst wenn seiner Intention und Absicht alle Polemik ganz
fernliegt. Eben das habe ich jüngst, in ganz anderem
Zusammenhang, als das tragende Verhältnis von Lyrik und
Gesellschaft zu bestimmen versucht. Es erfüllt mich mit
Dankbarkeit, den Gedanken aus der unmittelbaren Erfahrung des
Lyrikers selbst, und gewiß ohne Kenntnis meiner Spekulation,
bestätigt zu finden und damit bezeugt, daß künstlerische Produktion
und Dialektik einander nicht so fremd sind, wie es der Banausenidee
von der Kunst selbstverständlich dünkt, die da verlangt, daß Kunst
immerzu etwas zu geben und zu bejahen habe.
Wenn ich, solcher Übereinstimmung froh, den Worten Wilhelm
Lehmanns ganz kurze Bemerkungen hinzufüge, so geschieht das
nicht in der Haltung des Streitenden oder gar Besserwissenden,
sondern lediglich, um einige der dialektischen Motive Lehmanns
vielleicht noch ein wenig weiterzutreiben. Zunächst dünkt es mir,
daß der Gegensatz des Glatten und Rauhen in der Dichtung, so sehr
ich auch selber mit dem Rauhen sympathisiere, nicht umstandslos
verabsolutiert werden kann und gewiß nicht im Sinn eines
Wertmaßstabes. Lehmann deutet das auch selber an, aber es mag
erlaubt sein, noch stärker hervorzuheben, daß solche Kategorien,
isoliert herausgegriffen, kaum jenes Komplexe des Kunstwerkes
ganz treffen, um das Lehmann sich bemüht. Glatt und rauh, das sind
zunächst Möglichkeiten der Formgestaltung, über die der
reflektierte Künstler, je nach den Forderungen seines Gebildes, frei
verfügt, und das Abstoßende an der Glätte der Goldschnittlyrik, auf
das Lehmann mit Recht deutet, rührt weniger von der Glätte als
solcher her als davon, daß hier zwischen der runden Form und dem
Gedichteten eigentlich kein Prozeß, keine Auseinandersetzung mehr
statthat; daß, was nur als Resultat sich ausweist, als Voraussetzung
auftritt. Selbst bei Heine, dessen Glätte in der Tat den Widerstand
provoziert, ist es damit nicht so einfach bestellt, gerade um der
Provokation willen: die Glätte ist hintersinnig, zugleich virtuose
Verfügung über den Gehalt und das ironisch gebrochene
Zugeständnis, daß eben durch solche virtuose Verfügung der Gehalt
selber sich auflöst. Kurz, das Urteil über Kategorien wie glatt und
rauh ist von ihrer Stellung zum dichterischen Gehalt selber nicht zu
trennen.
Es geht wohl auch nicht an, den Gegensatz von konventionellem
und unkonventionellem dichterischen Wort dem einer
geschlossenen Gesellschaft und einer, in der jeder auf sich selbst
gestellt ist, ohne weiteres gleichzustellen. Sondern die genaue
Betrachtung der Lyrik von Epochen, die ihren Dichtern den Stil
vorgaben, wird darauf stoßen, daß die Qualität davon abhängt, wie
weit der Dichter entweder diesen Stil, indem er ihn beherrscht,
durchbricht, oder die Substantialität des Stils aus sich heraus
spontan nochmals hervorbringt, während fade bleibt, was in
fragloser Konsonanz mit dem Stil verläuft. Um Lehmanns
Gedanken aufzunehmen, auch in Zeiten einer konventionell
verbindlichen Sprache vollzieht sich das künstlerische Gelingen
wesentlich durch die Kritik, die dem Werk selbst innewohnt. Man
braucht nur, um sich innerhalb einer bestimmten Schule und ihres
recht geprägten Stilideals zu halten, etwa große Lyrik von Brentano
mit den Produktionen von Tieck zu vergleichen, um zu entdecken,
daß bei jenem die künstlerische Konvention bereits das gleiche
Kräftespiel in sich schließt, das dann die Konvention zertrümmert,
und daß die Objektivität des Gebildes, seine wahre Form, geradezu
abhängt von der Intensität dieser zusammenprallenden Kräfte, von
dem Konflikt, der das Schema bewährt und gefährdet.
Zum Ende möchte ich noch anmerken, was Lehmann gewiß
vertraut ist, aber von ihm nicht eigentlich ausgesprochen ward: daß,
bei allem unseren Widerwillen gegen poetisierende Wörter, der
bloße Gebrauch solcher Wörter allein noch nicht notwendig das
Gedicht degradiert. So wie in der Musik nie der einzelne Ton banal
ist, sondern immer erst die Konstellation, so macht auch in der
Dichtung gerade nicht der Ton die Musik, sondern die Melodie,
obwohl ich zugestehen würde, daß die Idiosynkrasie gegen
poetisierende Wörter der jüngeren Vergangenheit durchaus etwas
von der Gewalt eines Tabuverbotes hat. Aber während die
Nachtigall gewiß zum abscheulichen Requisit entwürdigt ward,
bleibt das Wort eben dessen fähig, was Lehmann so schön Rettung
nennt, wofern es nur wirklich so nahe angeschaut wird, bis es, nach
der unvergänglichen Prägung von Karl Kraus, fremd zurückblickt.
Es gibt ein Gedicht von Verlaine, ›En sourdine‹, dessen letzte
Strophe etwa sich wiedergeben ließe:
 
Wenn der Abend schwarz und groß
von den Eichen sinkt im Fall,
Stimme daß wir hoffnungslos
tönt die Nachtigall.
 
Indem hier das Bild der Nachtigall aus allen konventionellen
Figuren der Liederseligkeit herausgebrochen wird und der
Schwermut des Geschlechts gesellt, indem es also von der
geronnenen zweiten Natur sich entfernt, dem bloßen Spiegelbild der
Verdinglichung, wird es noch einmal Natur.
 Zu Proust
 
1. ›In Swanns Welt‹
Nicht, daß es sich bei ›Du côté de chez Swann‹ um ein Novum für
mich gehandelt hätte – seit Jahrzehnten spielt Proust in meinem
geistigen Haushalt eine zentrale Rolle, und ich könnte mir ihn
schlechterdings nicht wegdenken aus der Kontinuität dessen, worum
ich mich bemühe. Prousts Werk ist durch eine Reihe unglücklicher
Fügungen, die schon vor dem Ausbruch des Dritten Reiches
begannen, für Deutschland verlorengegangen, und die Übertragung,
die Walter Benjamin und Franz Hessel begonnen hatten, wurde nie
zu Ende gebracht. Von der Erfahrung Prousts in Deutschland
verspreche ich mir Entscheidendes, nicht im Sinne der
Nachahmung, sondern in dem des Maßstabes. Wie man jedem
deutschen lyrischen Gedicht anhört, ob es dem Geist nach
vor-georgisch oder nach-georgisch ist, auch wenn es mit der
Georgischen Lyrik selber gar nichts zu tun hat, so sollte sich wohl
die deutsche Prosa scheiden nach einer vor-proustischen und
nach-proustischen. Wer an seiner Forderung, die gewohnten
Oberflächenzusammenhänge zu durchbrechen, die genauesten
Namen für die Phänomene zu finden, sich nicht mißt, sollte als
zurückgeblieben ein schlechtes Gewissen vor sich selber
bekommen. Angesichts des desorientierten Zustandes der deutschen
Prosa, wenn nicht der Krisis der Sprache überhaupt, ist Rettendes zu
hoffen von der Rezeption eines Dichters, der das Exemplarische
vereint mit dem Avancierten. Vielen Franzosen gilt Proust für
»deutsch«. Ich wüßte mir literarisch nichts Schöneres zu wünschen,
als daß die Deutschen den säkularen Dichter verbindlich und in all
seinem abgründigen Reichtum so sich zueigneten, wie nur je einen
aus anderen Jahrhunderten.
 2. ›Im Schatten junger Mädchenblüte‹
 
Vorausschicken möchte ich, daß ich von dem Buch, das ich anzeige,
nicht als Kritiker reden kann. Proust ist seit dreißig Jahren viel zu
sehr ein Element meiner eigenen geistigen Existenz, als daß ich
Distanz dazu hätte, und die Qualität des Werkes scheint mir von der
Art, daß der Anspruch kritischer Überlegenheit auf Unverschämtheit
hinausliefe. Wenn ich dem ersten Band der neuen deutschen
Ausgabe auf einem Frankfurter Verlegerabend gewissermaßen das
Geleit geben durfte, so drückt sich darin die einzige Haltung aus, die
ich dem säkularen Dichter gegenüber einzunehmen vermag, der
heute noch des Geleits vielleicht bedarf. Während man sich in
Deutschland einem europäischen Ereignis dieses Ranges kaum
länger verschließen wird, kann man sich doch die Widerstände
ausmalen, die er provoziert. Spricht man am Radio über Proust, der
die französische Gesellschaft um 1900 schwierig und minutiös
beschwört, so ist man den Hörern zu sagen schuldig, warum sie sich
dafür interessieren sollen.
Als ich vor dreißig Jahren zum ersten Mal einen Aufsatz über
Proust las, und keinen guten, ergriff mich eine Faszination von der
Art, wie man sich in den Namen einer Frau verliebt, die man noch
nie gesehen hat. Diese Faszination hat sich bei der wachsenden
Vertrautheit mit dem Werk gesteigert. Walter Benjamin sagte mir
einmal, er wolle nicht ein Wort mehr von Proust lesen, als er jeweils
zu übersetzen habe, weil er sonst in eine süchtige Abhängigkeit
gerate, die ihn an der eigenen Produktion, die gewiß originell genug
war, hindere. Offenbar jedoch trifft die magnetische Gewalt Prousts
nicht nur den eingeweihten Schriftsteller, sondern jeden Leser, der
überhaupt konzentriert und differenziert genug ist, die Dichte und
vielfältige Bewegung des Romans aufzufassen. Es ist, als plaudere
er, in autobiographischer Maske, die Geheimnisse eines jeden aus,
während er zugleich vom Allerspeziellsten, von inkommensurablen,
höchst subtilen und privaten Erfahrungen aus der Luxussphäre
berichtet. Jeder Satz wird von der Ausnahmesituation des
Schreibenden diktiert ebenso wie von seinem Willen, nur das an
Gehalt durchzulassen, was dem allgemeinen Zugriff sich entzieht.
Dennoch eignet seinem oeuvre ein Verbindliches, Exemplarisches.
Dürfte man ohne Angst naturwissenschaftliche Gleichnisse
brauchen, man könnte sagen, Proust bemühe sich um geistige
Atomzertrümmerung, trachte, kleinste Elemente des Wirklichen als
Kraftfelder aufzuschließen, in denen alle Gewalt des Lebens
zusammenschießt. Nicht umsonst heften in dem Roman, von dem
ich heute spreche, und der in der Übersetzung von Eva
Rechel-Mertens ›Im Schatten junger Mädchenblüte‹ heißt, einige
der großartigsten Intuitionen sich an die Beschreibung eines so
Ephemeren wie der Kleidung Odettes, der früheren Halbweltdame,
die von dem Finanzier Swann geheiratet wird und schließlich eine
triumphale mondäne Karriere macht. Ich lese Ihnen daraus vor, um
Ihnen einen Eindruck aus erster Hand zu vermitteln. Madame
Swann hatte »ihre Toilette unweigerlich genau und einzigartig auf
Jahreszeit und Stunde abgestimmt; die Blumen ihres steifen Hutes
aus Stroh, die kleinen Bänder an ihrem Kleid schienen mir ein
natürlicheres Erzeugnis des Monats Mai zu sein als die Blumen in
Garten und Wald; und um das neue Weben und Wesen der
Jahreszeit zu erkennen, erhob ich die Blicke nicht höher als bis zu
ihrem Sonnenschirm, der offen ausgespannt wie ein nähergerückter,
kreisrunder, milder, beweglicher, stets heiterer Himmel war. Denn
wenn diese Riten auch souverän durchgeführt wurden, so setzten sie
und damit auch Madame Swann ihre Ehre darein, huldvoll dem
Morgen, dem Frühling, der Sonne sich anzupassen, die mir
ihrerseits gar nicht genügend geschmeichelt schienen, daß eine so
elegante Frau sich herabließ, von ihnen Kenntnis zu nehmen,
ihretwegen für den Tag ein Kleid von lichterem, leichterem Stoff
ausgewählt hatte, das durch die weitere Rundung von Kragen und
Ärmelstulpen der möglichen Feuchtigkeit am Halse und am
Handgelenk Rechnung trug, und den ganzen Extraaufwand einer
großen Dame trieb, die in heiterer Bereitwilligkeit sich aufs Land
begibt, um ganz gewöhnliche Leute zu besuchen, die jedermann,
selbst das Volk gut kennt, und dennoch Wert darauf legt, bei dieser
Gelegenheit eine für den Landaufenthalt geeignete Toilette zu
tragen. Gleich wenn sie kam, begrüßte ich Madame Swann, sie hielt
mich an und sagte lächelnd ›good morning‹ zu mir. Ich ging ein paar
Schritte neben ihr her. Ich begriff dann, daß sie nur um ihrer selbst
willen jenen Regeln gehorchte, nach denen sie sich kleidete, und
daß diese für sie eine höhere Weisheit waren, der sie als
Oberpriesterin opferte: denn wenn es ihr einmal zu warm wurde und
sie ihre Jacke, die sie doch eigentlich geschlossen hatte anbehalten
wollen, aufknöpfte oder ganz auszog und mir zu tragen gab,
entdeckte ich an dem Einsatz, den sie darin trug, tausend kleine
Einzelheiten der Ausführung, die um ein Haar ganz unbemerkt
geblieben wären wie jene Orchesterpartien, auf die der Komponist
die größte Sorgfalt verwendet hat, obwohl sie niemals wirklich ans
Ohr des Publikums dringen; oder ich fand in den Ärmeln der über
meinem Arm gefalteten Jacke irgendein wundervolles Detail, das
ich zu meinem Vergnügen oder aus Höflichkeit eingehend
bewunderte, einen Streifen von köstlicher Farbe, ein kleines
mauvefarbenes Seidenfutter, das gewöhnlich dem Auge entging,
aber genau so zierlich verarbeitet war wie die sichtbaren Teile, darin
den Skulpturen einer gotischen Kathedrale gleich, die in achtzig Fuß
Höhe hinter einer Balustrade verborgen genau so vollkommen
gemeißelt sind wie die Reliefs am großen Hauptportal, obwohl nie
eine Menschenseele sie erblickt.« 1
Das Außerordentliche einer solchen Passage liegt aber nicht nur
in der hingerissenen Exaktheit der Phantasie, sondern darin, daß
man davon sich angesprochen fühlt wie von ererbter Erinnerung,
einem jäh aufblitzenden Bild etwa in einer fremden Stadt, das längst
vor der eigenen Geburt von den Eltern schon einmal muß
wahrgenommen worden sein. Noch das erwachsene Leben wird von
Proust mit so staunenden und fremden Augen angeschaut, daß unter
dem versunkenen Blick das gegenwärtige sich in Vorzeit, in
Kindheit gleichsam verwandelt. Das hat einen keineswegs
esoterischen, eher demokratischen Aspekt. Jedes einigermaßen
behütete Kind nämlich, dem nicht bereits in den allerersten Jahren
die Reaktionsfähigkeit ausgetrieben ward, verfügt über unendliche
Möglichkeiten von Erfahrung. Ich erinnere mich an einen
Klassenkameraden, der nach dem Maß der Welt gar nichts
Besonderes geworden ist. Wir waren vielleicht zwölf Jahre alt, als
wir im französischen Unterricht den Geizhals von Molière lasen.
Mein Klassenkamerad machte mich darauf aufmerksam, daß der
Lehrer den Titel L'avare in einer Weise aussprach, die an einen
provinziellen Dialekt anklang, mangelnde Bildung, ein minderes
Milieu verriet, und daß man, wenn man dies harte r hörte, dem im
übrigen ausgezeichneten Lehrer nicht glaubte, daß er überhaupt
Französisch spräche. Eine solche Beobachtung könnte bei Proust
stehen. Aber die Fähigkeit dazu geht den anderen verloren. Der
Zwang, sich anzupassen, verbietet, die Realität so genau abzuhören,
abzuklopfen. Man braucht nur im Gespräch sich einmal die Mühe zu
nehmen, anstatt geradehin Gegenstände zu behandeln oder Zwecken
nachzugehen, die Obertöne zu verfolgen, das Falsche, Gemachte,
Herrschgierige, Schmeichelnde oder was immer es sein mag, das der
eigenen Stimme wie der des Partners beigesellt ist. Wären einem
ihre Implikationen in jedem Augenblick bewußt, man müßte so
gründlich an der Welt verzweifeln und dem, was aus einem selbst in
ihr geworden ist, daß einem die Lust, wahrscheinlich auch die Kraft
verginge, weiter mitzuspielen.
Proust jedoch hat den Verzicht auf solche Reaktionsfähigkeit,
hat überhaupt die falsche Reife der Resignation nicht mitgemacht.
Er hat der Möglichkeit ungeschmälerter Erfahrung aus der Kindheit
die Treue gehalten und mit aller Reflexion und Bewußtheit des
Erwachsenen die Welt so undeformiert wahrgenommen wie am
ersten Tage, ja hat geradezu eine Technik ausgebildet, der
Automatisierung und Technisierung des eigenen Denkens zu
widerstehen. Seine unermüdliche Anstrengung ist eine zur
Unmittelbarkeit, zur zweiten Naivetät, und die Position des
verwöhnten Amateurs, aus der heraus er sich an seine
schriftstellerische Aufgabe begibt, kommt diesen Bemühungen
zugute. Das Gefühl des Bekannten mitten im Ausgefallensten, das er
ausstrahlt, verdankt sich der beispiellosen Disziplin, mit der er über
das verfügt, was jeder Einzelne in der Kindheit einmal wußte und
verdrängte, und was ihm nun mit der Macht des Vertrauten
wiederkehrt. Was an Proust so extrem individuiert erscheint, ist es
nicht an sich, sondern nur weil wir so zu reagieren nicht mehr
wagen oder nicht mehr dazu imstande sind. Eigentlich stellt Proust
das Versprechen des Allgemeinen wieder her, um das wir betrogen
wurden. Es macht uns in seinen Texten erröten wie die Nennung
eines sorgfältig geheim gehaltenen Namens.
Die Suche nach der verlorenen Zeit prüft die innere und äußere
Realität mit dem Instrument der Existenz eines Menschen ohne
Haut. Dafür ist ein Preis zu zahlen. Bekannt ist, daß Proust,
jedenfalls in späteren Jahren, auch auf Gesellschaften stets seinen
Pelzmantel anbehielt, den er nur beim Abschied für einen
Augenblick auszog, um dadurch den Kontrast zwischen der
Zimmertemperatur und der Kälte draußen, auch der eines
Sommerabends, zu mildern. So hat der Hautlose auch geistig seinen
Pelzmantel anbehalten. Um der schrankenlosen Leidensfähigkeit
willen, an der bei ihm die Möglichkeit seiner Utopie haftet, hat er
durch die kunstvollsten Veranstaltungen Leiden zu verbannen
gesucht. Sein Märchenmodell ist die Prinzessin auf der Erbse. Sein
Vater, der berühmte Arzt und Chef des französischen
Hygienewesens, hat einen Ausdruck geprägt, der international in die
Sprache einging, den des cordon sanitaire. Ihn hat Proust
verinnerlicht. Sein ganzes Leben steht unter dem Gesetz des cordon
sanitaire, um sich gegen die groben Stöße zu sichern, welche die
Reaktionsfähigkeit des Kindes abstumpfen könnten. Aber nichts
wäre falscher, als in solchen Veranstaltungen Feigheit oder
Schwäche zu vermuten. Die Timidität, die für den ans Bild der
Mutter Gebundenen entscheidend muß gewesen sein, hat er
umgeschaffen in Stärke. Seine pathische Empfindlichkeit, sein
Preisgegebensein an die Valeurs des Konkreten untersteht einer
heroischen Disziplin. Buchstäblich soll nichts verloren gehen.
Die Treue zur Kindheit ist eine zur Idee des Glücks, das Proust
um nichts in der Welt sich wollte abhandeln lassen. Noblesse oblige:
das Privileg des Multimillionärs, das ihm die schrankenlose Feinheit
erlaubte, legte ihm die Verpflichtung auf, so zu sein, wie einmal alle
sein müßten. Indem er aber mit keinem Glück sich zufrieden gibt als
dem ganzen, wird sein Glücksbedürfnis eines mit dem nach der
ungeschmälerten, von keiner Konvention versperrten Wahrheit. Sie
jedoch ist Schmerz, Enttäuschung, Wissen vom falschen Leben.
Was er erzählt, ist die Geschichte vom unerreichten oder
gefährdeten Glück. Unter seinen psychologischen Gegenständen
steht obenan die Eifersucht, deren Rhythmus immer wiederkehrt
und die Einheit des Mannigfaltigen stiftet. Auf die Frage nach der
Möglichkeit von Glück antwortet er mit der Darstellung der
Unmöglichkeit von Liebe. Ganz Selbst, absolut differenziert sein
bedeutet zugleich Isolierung und abgründige Entfremdung.
Fessellose Glücksmöglichkeit und Glücksbereitschaft verwehrt die
eigene Erfüllung.
So wird bei Proust, den die Franzosen nicht umsonst vielfach als
deutsch empfinden, alles Einzelne und Vergängliche nichtig wie in
der Hegelschen Philosophie. Die Polarität von Glück und
Vergänglichkeit verweist ihn auf die Erinnerung. In ihr allein stellt
unbeschädigte Erfahrung weit über die Unmittelbarkeit hinaus sich
her, und durch sie scheint im ästhetischen Bilde Altern und Tod
überwunden. Dies Glück der Rettung, das sich nichts will abkaufen
lassen, heißt aber auch: unbedingter Verzicht auf den Trost. Lieber
wird um des ganzen Glücks willen das ganze Leben preisgegeben,
als ein Zug von ihm hingenommen, der nicht gemessen wäre am
Maß der äußersten Erfüllung. Das ist die innere Geschichte der
Suche nach der verlorenen Zeit. Totale Erinnerung antwortet auf
totale Vergängnis, und Hoffnung liegt einzig bei der Kraft, dieser
Vergängnis innezuwerden und sie festzuhalten in der Schrift. Proust
ist ein Märtyrer des Glücks.
 Fußnoten
 
1 Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 2: Im
Schatten junger Mädchenblüte, übertr. von Eva Rechel-Mertens,
Frankfurt a.M., Zürich 1954, S. 309f.
 
 Aus einem Brief über die ›Betrogene‹ an Thomas
Mann
18. Januar 1954
 
Heute möchte ich Ihnen Dank und Bewunderung sagen für die
skandalöse Parabel. Was haben Sie nicht dem Thema der
Verschlungenheit von Eros und Tod an Unvermutetem nochmals
abgewonnen; wie konkret und bilderreich ist es nicht geraten. Stets
lassen Sie den Gleichnischarakter des Ganzen souverän
durchschimmern, ohne anzustreben, was man unter deutschen
Ästhetikern Symbolik nennt und was meist darauf hinausläuft, eben
das Parabolische, den Überschuß des Gedankens über den Stoff, wie
er heute nun einmal unvermeidlich ist, zu verschleiern. Des
Rühmens wäre kein Ende im Hinblick auf die Subtilitäten und
kondensierten Erfahrungen, die in die Sache eingingen, wie etwa die
von der Gebrochenheit des uns allein noch offenen Verhältnisses zur
Natur (»wenn die Chausseen poetisch wurden«), oder den Bedacht,
mit dem Sie in die große Allegorie eine kleine, wie ein
Sekundenzifferblatt in eine Uhr, eingelassen haben, die vom
Moschusgeruch des Exkrementhaufens. Kaum je zuvor haben Sie es
so verstanden, die Kräfte des Skandalen mit der Sache selbst durch
eine kokette Schamlosigkeit in der Behandlung der facts of life,
welche die Parabel bilden, zu verbinden – eine Intention, die
insgeheim und minutiös das Ganze durchwächst, den stampfenden
Klumpfuß der Tochter und das peinliche pardon me des jungen Ken
inbegriffen. Selbst ich konnte dieses Mal dem Gedanken an die
musikalische Variationstechnik, der Ihnen ja wohl zum Halse
herauswächst, mich nicht entziehen – so als hätten Sie Variationen
Ihres obstinaten Grundthemas geboten, in denen Licht und Schatten,
Forte und Piano und was es sonst an Gegensätzen noch geben mag,
genau vertauscht sind; nicht also das todessüchtige Leben kommt
hier zu Wort, sondern der lebenssüchtige Tod, und eben dies
repräsentiert zugleich das Ungebührliche, Unerfaßte, das die
gesellschaftliche Immanenz erschüttert: so sehr, daß vor Ihrem
Spätwerk, das dem eigenen Begriff ein Schnippchen schlägt, die
Mehrheit Ihrer Leser wie unter dem Stab einer skurrilen Kirke sich
in alte Tanten zu verwandeln scheinen und den gladius dei
schwingen.
Die bürgerliche Zivilisation hat das, wie Sie es nennen, »Fiese«
des Todes verdrängt und entweder veredelt oder mit Hygiene
umzäunt. Die Vergeblichkeit des falschen Lebens will man nicht ins
Bewußtsein lassen, nicht dulden, daß das Niedrige am Tode sich
offenbare – nicht, daß der Tod eine Schande des Menschen ist, die,
anstatt im Namen von Tragik gefeiert, abgeschafft werden sollte.
Der Schock, auf den Ihre Erzählung zielt, indem sie den Sexus der
alternden Frau enthüllt, verletzt alle diese Spielregeln. Damit
vollbringt er etwas unendlich Befreiendes. Man kann wohl sagen,
daß in dieser Erzählung Ihr altes Schopenhauersches Wahnmotiv,
das der Scheinhaftigkeit und Eitelkeit des Lebens, zu einer
materialistischen Konsequenz getrieben ist, die den ideologischen
Spuk der Verklärung des Daseins dort trifft, wo es am wehesten tut.
Der Kontrast dieser aufklärenden Intention und der abenteuerlich
artifiziellen Mittel, deren Sie sich dabei bedienen, potenziert
womöglich die Wirkung. Die Spannung zwischen der Kultur und
dem, was darunter west, treiben Sie bis zum Zerreißen oder, wie ich
lieber sagen möchte, bis zum dialektischen Umschlag. Die
Überlegenheit über die gesamte humanistische Tradition, die Sie als
deren eigenster Träger dabei bewähren, ist großartig. Ich glaube,
erst allmählich wird das sich entfalten, was in dieser wirklich
inkommensurablen Produktion steckt.
Nicht kann ich es mir verbieten, Ihnen ein kleines Detail zu
berichten, das Ihnen vielleicht noch nicht bekannt ist. Rosalies
Anregung, die abstrakte Tochter möchte den Duft als solchen malen,
hatte sich bereits realisiert, ehe Sie sie mitteilten. Die späteren
Arbeiten des ehemaligen Surrealisten Masson, die ich vor ein paar
Jahren in Paris betrachten konnte, sehen in meinen in Dingen der
malerischen Technik nicht zuständigen Augen so aus, als wäre von
Renoir nichts anderes als der Duft übriggeblieben, die Gegenstände
aber getilgt; man spricht dortzulande in der Tat von einem
Anknüpfen der jüngsten Malerei an impressionistische Tendenzen.
Übrigens hat, wenn ich mich nicht täusche, schon Monet am Ende
zu einer solchen Auflösung des Gegenständlichen in die eigene
Aura tendiert, von verwandten Abenteuern der Musik wie den Jeux
von Debussy zu schweigen. Wenn Sie also nach Paris kommen –
und ich kann mir kaum vorstellen, daß die Arbeit am Krull eine
allzu lange Abwesenheit von dessen phantasmagorischer
Wahlheimat zuläßt –, dann versäumen Sie nicht, in die Galerie
Leiris zu gehen und sich von meinem herzlich verehrten Freund
Kahnweiler jene Massons zeigen zu lassen. Sie werden dann Ihrer
Betrogenen den Trost spenden können, daß sie sich schließlich vor
Ihnen doch noch avancierter dünken kann als die gestrenge Anna.
Wenn ich ein fragendes Wort anmelde, so nicht um auch nur das
leiseste Bedenken gegen das Werk vorzubringen, sondern einem
theoretischen Gedanken zuliebe, der mich schon lange intrigiert und
der Sie vielleicht nicht allzusehr langweilt. Die Figur des Ken trägt,
wenn ich mich nicht irre, alle Zeichen eines Amerikaners aus den
späten vierziger oder aus den fünfziger Jahren und nicht aus dem
Dezennium nach dem ersten Krieg; Sie wissen das natürlich viel
genauer als ich. Nun könnte man sagen, das sei die legitime Freiheit
des Gestaltens, und die Forderung nach chronologischer Treue
bleibe subaltern, auch wo es um die Akribie der
Menschendarstellung sich handelt. Aber ich zweifle, ob dies als
selbstverständlich sich aufdrängende Argument wirklich ganze
Kraft hat. Wenn Sie ein Werk in die zwanziger Jahre verlegen, es
nach dem ersten anstatt nach dem zweiten Krieg spielen lassen, so
haben Sie dafür Ihre guten Gründe – der handfesteste ist, daß eine
Existenz wie die der Frau von Tümmler heute kaum vorgestellt
werden könnte, und in einer tieferen Schicht spielt wohl das
Bestreben herein, gerade das Nächste zu distanzieren, in Vorwelt zu
verzaubern, jene Vorwelt, mit deren besonderer Patina auch der
Krull es zu tun hat. Indessen geht man doch mit solcher
Transposition der Jahreszahlen eine Art von Verpflichtung ein,
ähnlich wie beim ersten Takt einer Musik, dessen Desiderate man
bis zum letzten Ton nicht mehr loswird, der das Gleichgewicht
herstellt. Nicht die Verpflichtung äußerlicher Treue zum
»Zeitkolorit« meine ich, wohl aber die, daß die vom Kunstwerk
beschworenen Bilder zugleich als geschichtliche Bilder leuchten,
eine Verpflichtung freilich, die aus ästhetisch-immanenten Motiven
von jener äußerlichen nur schwer sich dispensieren kann. Denn irre
ich mich nicht abermals, so stößt man auf den paradoxen
Sachverhalt, daß die Beschwörung solcher Bilder, also das
eigentlich Magische des Kunstobjektes, um so vollkommener gerät,
je authentischer die Realien sind. Beinahe könnte man glauben, die
subjektive Durchdringung stünde nicht, wie unsere Bildung und
Geschichte uns glauben machen möchte, im einfachen Gegensatz
zur Forderung des Realismus, die ja in gewissem Sinne durch Ihr
ganzes oeuvre hindurchklingt, sondern es wäre, je präziser man sich
ans Geschichtliche auch von Menschentypen hält, um so eher die
Vergeistigung, die Welt der imago zu gewinnen. Auf derart
abwegige Reflexionen bin ich zuerst bei Proust verfallen, der in
dieser Schicht mit idiosynkratischer Genauigkeit reagierte, und bei
der ›Betrogenen‹ haben sie sich mir wieder aufgedrängt. Im
Augenblick kommt es mir vor, als wäre durch jene Art Genauigkeit
etwas von der Sünde abzubüßen, an der jegliche künstlerische
Fiktion laboriert; als wäre diese durchs Mittel der exakten Phantasie
von sich selbst zu heilen. Aber ich weiß nicht, ob es meinem
Gestammel auch nur gelingt, das verständlich zu machen, was mir
vorschwebt, während ich mich dem Verdacht aussetze, ich sei vor
lauter Dialektik am Ende der Stoffhuberei verfallen und bedürfte
selber einer Kur, weit dringender als die epische Illusion.
Der Erwählte und die Betrogene, das deutet beinahe schon durch
die Titel einen zyklischen Zusammenhang an. Ist wohl gar auf ein
drittes Stück dieses Typus zu hoffen, so wie ja Platon, wenn er und
Wilamowitz uns nicht betrogen haben, auf den Sophisten und den
Staatsmann den Philosophen folgen lassen wollte? Oder sind Sie
nun wieder ganz und gar im Krull?
In herzlichster Verehrung
Ihr alter
T.W.A.
 Benjamins ›Einbahnstraße‹
 
In jenem Gedicht des ›Siebenten Rings‹, in dem George seinen
Dank an Frankreich sagt, wird Mallarmé gepriesen als »für sein
Denkbild blutend«. Das Wort Denkbild, ein Hollandismus, ersetzt
das vom Gebrauch ramponierte »Idee«; herein spielt eine dem
Neukantianismus entgegengesetzte Auffassung des Platon,
derzufolge die Idee keine bloße Vorstellung ist, sondern ein
Ansichseiendes, das sich denn auch, wenngleich bloß geistig,
anschauen lasse. Der Ausdruck »Denkbild« ward in Borchardts
George-Rezension schneidend angegriffen und hat im Deutschen
wenig Glück gemacht. Aber wie die Bücher, so haben auch die
Worte, aus denen jene gefügt sind, ihr Schicksal. Während die
Verdeutschung der Idee ohnmächtig blieb gegenüber der Tradition
der Sprache, hat der Impuls, der nach dem neuen Wort griff, weiter
gewirkt. Walter Benjamins ›Einbahnstraße‹, erstmals 1928
erschienen, ist nicht, wie man bei flüchtiger Übersicht meinen
könnte, ein Aphorismenbuch, sondern eine Sammlung von
Denkbildern; eine spätere Folge kurzer Prosastücke von Benjamin,
die in den Umkreis der ›Einbahnstraße‹ gehören, trägt in der Tat den
Namen. Freilich hat der Sinn des Wortes sich verschoben. Mit dem
Georgeschen hat der Benjaminsche nur noch gemein, daß gerade
solchen Erfahrungen, die der trivialen Ansicht als bloß subjektiv
und zufällig gelten, Objektivität zugesprochen, ja, daß Subjektives
überhaupt nur als Manifestation eines Objektiven begriffen wird –
platonisch also sind Benjamins Denkbilder einzig etwa so, wie man
vom Platonismus Marcel Prousts geredet hat, mit dessen Werk
Benjamin nicht bloß als Übersetzer sich berührt.
Bilder jedoch sind die Stücke der ›Einbahnstraße‹ nicht wie die
platonischen Mythen von der Höhle oder vom Wagen. Es sind eher
gekritzelte Vexierbilder als gleichnishafte Beschwörungen des in
Worten Unsagbaren. Sie wollen nicht sowohl dem begrifflichen
Denken Einhalt gebieten als durch ihre Rätselgestalt schockieren
und damit Denken in Bewegung bringen, weil es in seiner
traditionellen begrifflichen Gestalt erstarrt, konventionell und
veraltet dünkt. Was nicht im üblichen Stil sich beweisen läßt und
doch bezwingt, soll Spontaneität und Energie des Gedankens
anspornen und, ohne buchstäblich genommen zu werden, durch eine
Art von intellektuellem Kurzschluß Funken entzünden, die jäh das
Vertraute umbeleuchten, wenn nicht gar in Brand stecken.
Für diese philosophische Form war es wesentlich, eine Schicht
zu finden, in der Geist, Bild und Sprache sich verbinden. Das ist
aber die des Traums. So enthält denn das Buch zahlreiche
Traumprotokolle und Reflexionen über Träume. Den Vorrang darin
behaupten Erkenntnisse, die der Traumzone abgewonnen sind. Aber
dies Verfahren hat nur geringe Ähnlichkeit mit der Freudschen
Traumdeutung, auf die Benjamin zuweilen anspielt. Die Träume
werden nicht als Symbole fürs unbewußte Seelische gesetzt, sondern
wörtlich und gegenständlich gefaßt. Freudisch gesprochen geht es in
ihnen um den manifesten Trauminhalt, nicht um den latenten
Traumgedanken. Zur Erkenntnis wird die Traumschicht in
Beziehung gesetzt dadurch, daß die Form der Darstellung
festzuhalten sucht, was an verschütteter Wahrheit die Träume
anzumelden haben. Nicht auf ihren psychologischen Ursprung ist es
abgesehen, sondern auf die sprichwortähnlichen, aber höchst
aktuellen Winke, welche die Träume dem Wachen zukommen
lassen und welche die ratio sonst verachtet. Der Traum wird zu
einem Medium unreglementierter Erfahrung als Quelle von
Erkenntnis gegenüber der verkrusteten Oberfläche des Denkens.
Vielfach wird die Reflexion künstlich ferngehalten, die
Physiognomik der Dinge dem Blitzlicht überantwortet – nicht weil
der Philosoph Benjamin die Vernunft verachtet hätte, sondern weil
er erst durch solche Askese das Denken selber wieder herstellen zu
können hoffte, das die Welt den Menschen auszutreiben sich
anschickt. Absurdes wird präsentiert, als wäre es selbstverständlich,
um das Selbstverständliche zu entmächtigen.
Das Stück ›Souterrain‹ bezeugt ebenso diese Intention, wie es
sie, soweit die Form des philosophischen Überfalls das überhaupt
gestattet, einigermaßen umreißt. »Wir haben längst das Ritual
vergessen, unter dem das Haus unseres Lebens aufgeführt wurde.
Wenn es aber gestürmt werden soll und die feindlichen Bomben
schon einschlagen, welch ausgemergelte, verschrobene Altertümer
legen sie da in den Fundamenten nicht bloß. Was ward nicht alles
unter Zauberformeln eingesenkt und aufgeopfert, welch
schauerliches Raritätenkabinett da unten, wo dem Alltäglichsten die
tiefsten Schächte vorbehalten sind. In einer Nacht der Verzweiflung
sah ich im Traum mich mit dem ersten Kameraden meiner
Schulzeit, den ich schon seit Jahrzehnten nicht mehr kenne und je in
dieser Frist auch kaum erinnerte, Freundschaft und Brüderschaft
stürmisch erneuern. Im Erwachen aber wurde mir klar: was die
Verzweiflung wie ein Sprengschuß an den Tag gelegt, war der
Kadaver dieses Menschen, der da eingemauert war und machen
sollte: wer hier einmal wohnt, der soll in nichts ihm gleichen.«
Die Technik der ›Einbahnstraße‹ ist der des Spielers verwandt,
als den Benjamin sich fühlte und über dessen Figur er immer wieder
brütete; Denken verzichtet auf allen Schein der Sicherheit geistiger
Organisation, auf Ableitung, Schluß und Folgerung, und gibt sich
ganz dem Glück und Risiko anheim, auf die Erfahrung zu setzen
und ein Wesentliches zu treffen. Nicht zuletzt darin liegt das
Schockierende des Buches. Es provoziert beim ironisch unterstellten
Leser dessen eingeschliffene Abwehrreaktionen, um ihn sogleich
darauf zu stoßen, daß er eigentlich längst gewußt hat, was er
leugnen möchte, und nur darum es so verbissen leugnet. Denn sehr
häufig kommen die Nummern heraus, auf die Benjamin setzte, und
ein Vielfaches des Riskierten wird dem Gedanken zuteil. Das sind
dann Erfahrungen gleich dieser schwermütig allegorischen: »Wie
ein gastlicher Abend verlaufen ist, das sieht an der Stellung der
Teller und Tassen, der Becher und Speisen, wer zurückblieb, auf
einen Blick.« – Oder: »Einen Menschen kennt einzig nur der,
welcher ohne Hoffnung ihn liebt.« – Oder: »Zwei Menschen, die
sich lieben, hängen über alles an ihren Namen.« Die Trauer solcher
Erkenntnisse ist es, die sie im Alltag zu verdrängen gebietet; aber
diese Trauer ist das Siegel ihrer Wahrheit.
Indessen besteht die ›Einbahnstraße‹ nicht nur aus Evidenzen
des Unableitbaren. Zuweilen redet durchsichtige Vernunft; dann
aber mit einer Schlagkraft der sentenziösen Prägung, die nicht
zurückbleibt hinter jener traumhaften, aus der Kontinuität des
ganzen Lebens gespeisten Gewißheit. Dahin gehören einige der
Definitionen des Kunstwerks gegen das Dokument wie: »Das
Kunstwerk ist synthetisch: Kraftzentrale.« – »Im wiederholten
Anblick steigert sich ein Kunstwerk.« Benjamins Definitionen sind
nicht festsetzende Begriffsbestimmungen sondern, der Tendenz
nach, Verewigungen des Augenblicks, in dem die Sache zu sich
selbst kommt. Eine Formulierung wie die folgende müßte einen
heute gespensterhaft wiederkehrenden legislativen Streit für immer
beenden: »Die Tötung des Verbrechers kann sittlich sein – niemals
ihre Legitimierung.«
Man verstünde aber Benjamins ›Einbahnstraße‹ ganz falsch,
wenn man sie um mancher ihrer methodischen Veranstaltungen als
irrationalistisch, um ihrer Affinität zum Traum willen als
mythologisierend ansähe. Vielmehr erscheint Benjamin die zum
entfremdeten Schicksal jedes Einzelnen gesteigerte, verblendete und
doch durchschaubare Verflochtenheit der Moderne und ihrer
Gesellschaft eben als der Mythos, dem das Denken sich anähneln
muß, um seiner selbst mächtig zu werden und damit den Bann des
Mythos zu brechen. Kraft dieser Absicht gehört die ›Einbahnstraße‹,
als erste von Benjamins Schriften, in den Zusammenhang der von
ihm geplanten Urgeschichte der Moderne. In diesem Gebiet
beschreibt er den Möbelstil der zweiten Hälfte des neunzehnten
Jahrhunderts: »Das bürgerliche Interieur der sechziger bis neunziger
Jahre mit seinen riesigen, von Schnitzereien überquollenen Büfetts,
den sonnenlosen Ecken, wo die Palme steht, dem Erker, den die
Balustrade verschanzt, und den langen Korridoren mit der singenden
Gasflamme wird adäquat allein der Leiche zur Behausung. ›Auf
diesem Sofa kann die Tante nur ermordet werden.‹ Die seelenlose
Üppigkeit des Mobiliars wird wahrhafter Komfort erst vor dem
Leichnam. Viel interessanter als der landschaftliche Orient in den
Kriminalromanen ist jener üppige Orient in ihren Interieurs: der
Perserteppich und die Ottomane, die Ampel und der edle
kaukasische Dolch. Hinter den schweren gerafften Kelims feiert der
Hausherr seine Orgien mit den Wertpapieren, kann sich als
morgenländischer Kaufherr, als fauler Pascha im Khanat des faulen
Zaubers fühlen, bis jener Dolch im silbernen Gehänge überm Divan
eines schönen Nachmittags seiner Siesta und ihm selber ein Ende
macht.« Verwandt ist die Beschreibung der Briefmarken, eines
Lieblingsgegenstandes der Surrealisten, denen Benjamin in der
›Einbahnstraße‹ sich zuneigt: »Briefmarken starren von Zifferchen,
winzigen Buchstaben, Blättchen und Äuglein. Sie sind graphische
Zellengewebe. Das alles wimmelt durcheinander und lebt, wie
niedere Tiere, selbst zerstückelt fort. Darum macht man aus
Briefmarkenteilchen, die man zusammenklebt, so wirksame Bilder.
Aber auf ihnen hat Leben immer den Einschlag von Verwesung zum
Zeichen, daß es aus Abgestorbenem sich zusammensetzt. Ihre
Porträts und obszönen Gruppen stecken voller Gebeine und
Würmerhaufen.« Während Benjamins Denken, ohne
Mentalreservat, bis zur Verliebtheit in jenes Mythische eingeht,
erzittert doch jeder seiner Sätze von der Ahnung, die einmal als
Axiom im Buch ausgesprochen wird: daß dies schuldhafte Ganze
der Moderne untergehe, sei es an sich selber, sei es durch Kräfte, die
es von außen stürzen. Der Wille, der die ›Einbahnstraße‹ beherrscht,
ist der, an der Übermacht des Bestehenden, sei's auch ohne
Hoffnung, sich selber zu stählen: die mythologischen Botschaften,
die aus dem Traum herausgehört werden, sind stets fast solche einer
unsentimentalen, aller Illusionen von Innerlichkeit und
Geborgenheit sich entschlagenden Disziplin, eines »Wirf weg, damit
Du gewinnst«. Von der Härte der Vorwelt möchte denkende
Erinnerung lernen, die Härte des Gegenwärtigen durch die eigene zu
überbieten. Der Weltlauf hat Benjamins ursprünglich der Politik
abgewandtes, metaphysisches Ingenium gezwungen, seine
Regungen in politische umzusetzen. Zum Dank für solche
Entäußerung sind ihm – schon während der Inflation der ersten
Jahre nach 1918 – gesellschaftliche Einsichten zuteil geworden, die
heute noch gelten wie damals, und in denen die Prognose des
Unheils beschlossen liegt, dessen Opfer Benjamin selber wurde. So
heißt es in der ›Reise durch die deutsche Inflation‹: »Eine
sonderbare Paradoxie: die Leute haben nur das engherzigste
Privatinteresse im Sinne, wenn sie handeln, zugleich aber werden
sie in ihrem Verhalten mehr als jemals bestimmt durch die Instinkte
der Masse. Und mehr als jemals sind die Masseninstinkte irr und
dem Leben fremd geworden.«
Saturnisch gilt Benjamins Blick dem Zusammenhang jenes
heraufdämmernden Unheils, und manchmal will es scheinen, als
verfiele er dem, was Anna Freud die Identifikation mit dem
Angreifer genannt hat, etwa an jener Stelle, an der er den Begriff der
Kritik verleugnet und ihm im Namen kollektiver Praxis, auf allzu
vertrautem Fuß mit dem Zeitgeist sich gebärdend, das kontrastiert,
wovor es ihm selber am meisten graute. Von allen Sätzen der
›Einbahnstraße‹ ist der schwermütigste: »Wieder und wieder hat es
sich gezeigt, daß ihr Hangen am gewohnten, nun längst schon
verlorenen Leben so starr ist, daß es die eigentlich menschliche
Anwendung des Intellekts, Voraussicht, selbst in der drastischen
Gefahr vereitelt« – der schwermütigste darum, weil Benjamin
selbst, der nichts anderes wollte, als aus dem Traum die Stimme
vernehmen, die das heilsame Erwachen bringt, eben jene Rettung
mißlang. Aber nur kraft der Verfallenheit ans Objekt, bis zur
buchstäblichen Auslöschung des Selbst, waren die Einsichten der
›Einbahnstraße‹ zu erringen. Das außerordentliche Buch selbst
enträtselt sich in den Worten, mit denen darin die ›Spes‹ Andrea
Pisanos dargestellt wird: »Sie sitzt, und hilflos erhebt sie die Arme
nach einer Frucht, die ihr unerreichbar bleibt. Dennoch ist sie
geflügelt. Nichts ist wahrer.«
 Zu Benjamins Briefbuch ›Deutsche Menschen‹
 
Das Buch ›Deutsche Menschen. Eine Folge von Briefen‹ hat Walter
Benjamin unter dem Pseudonym Detlef Holz 1936, während der
Emigration, in der Schweiz erscheinen lassen. Vorher bereits, in den
Jahren 1931/32, publizierte er die Briefe, mit den Einleitungen,
einzeln in der ›Frankfurter Zeitung‹. Dabei schon mußte er den
eigenen Namen verschweigen: der Faschismus warf seinen Schatten
lange voraus. Indessen hatte die Veröffentlichung in der
›Frankfurter Zeitung‹, wie jüngst Zuschriften auf einen Aufsatz
Benno Reifenbergs bestätigten, außerordentlich gewirkt.
Der Gedanke an die Wirkung erklärt den Titel. Er sollte,
Benjamins eigener Angabe zufolge, ermöglichen, das Buch ins
Dritte Reich zu importieren. Zugleich enthüllte das Motto den
Lesern, auf die es abgesehen war, das Buch als oppositionell. Durch
den puren Kontrast prangerte es das zerstörerische Selbstlob an; die
Prunksucht, welche die der Gründerjahre zum Wahnsinn steigerte;
den Eigennutz derer, die diesen auszurotten vorgaben. Besonders
freute Benjamin Max Rychners Scherz über das Motto, Goethes
Größe habe doch wohl nicht ganz des Glanzes ermangelt, eine jener
witzigen Bemerkungen, die, nach einem wahrhaft chinesischen Satz
Nietzsches, das kaum bemerkbare Lächeln erzeugen. Tatsächlich
gelangte das Buch ungefährdet nach Deutschland; freilich ohne
politischen Effekt. Die damals solche Literatur lasen, waren ohnehin
Gegner des Regimes, neue schuf es ihm schwerlich. Benjamin teilte
mit uns anderen Emigranten den Irrtum, Geist und List vermöchten
etwas auszurichten wider eine Gewalt, die den Geist gar nicht mehr
als Selbständiges kennt, sondern nur als ein Mittel zu ihren
Zwecken, und darum keine Konfrontation mit ihm zu fürchten hat.
Seine Abschaffung vermag der Geist kaum in sich hineinzunehmen.
Das Briefbuch begehrt auf gegen die Vernichtung des von den
Nationalsozialisten vollends zur Ideologie erniedrigten deutschen
Geistes. Es erinnert an diejenigen seiner Positionen, die sich rein
hielten vom Schein, und deren Sachlichkeit »mit keiner neuen den
Vergleich zu meiden hat«. Es möchte eine unterirdische deutsche
Tradition aufdecken; die dessen, was vom Nationalsozialismus
schlechterdings nicht angeeignet werden konnte, der ja, gleichgültig
gegen die spezifischen Differenzen, in denen der Geist sein Leben
hat, alles, auch das ganz Heterogene, beschlagnahmte. Jener
Unterstrom ist tief verwandt der Aufklärung, die in Deutschland nie
recht gelang, während doch die großen idealistischen Philosophen
alle, mit der einen Ausnahme Schellings, zu ihr sich bekannten.
Weil es an dieser Tradition in Deutschland immer noch gebricht,
weil die Verleumdung der Aufklärung das Dritte Reich überlebte, ist
Benjamins Intention heute noch so aktuell wie vor dreißig Jahren.
Zur katastrophischen Raschheit der geschichtlichen Veränderungen
in der gegenwärtigen Epoche bildet es das Komplement, wie wenig
durch diese veraltet, was dem Unheil nicht gleicht.
Der Briefband hat seine Einheit in dieser Intention, nicht in der
Bedeutung der einzelnen Dokumente. Unter diesen finden sich
neben solchen des obersten Rangs solche von bescheidenem,
peinliche wie das von Seume. Auch die Auswahl der
Korrespondenten hat kaum eigenes Gewicht. Benjamin zögerte
nicht, in demselben Buch, das mit einem Brief Overbecks an
Nietzsche endet, einen des von diesem verachteten David Friedrich
Strauß abzudrucken: den über Hegels Tod. Seiner Neigung fürs
Entlegene, vom offiziellen Geistesleben noch nicht Zermahlene hat
Benjamin widerstanden. Neben ganz unbekannte stellt er berühmte
Briefe wie den, in welchem Hölderlin sich einen von Apollo
Geschlagenen nennt, den Goethes an Seebeck, den Hilfe
heischenden Büchners an Gutzkow. Die Briefschreiber erscheinen
in dem Band als Sozialcharaktere, nicht als individuelle. Sie
verbindet eine Sprache, die so unvereinbar ist mit der zurichtenden
des Befehls wie mit der hochtrabenden Phrase.
Wer über den Details jenen Ton ignorieren wollte, verstünde das
Buch falsch. Nicht minder jedoch, wer es auf einen Begriff von
Aufklärung festnagelte, der sich nicht darum kümmert, wie sehr
diese selbst unterdessen in den Strudel der Unfreiheit hineingerissen
wurde. Karl Löwith schrieb in der Abhandlung über Heidegger und
Rosenzweig, beide hätten dadurch zusammengehört, »daß sich das
Denken des einen wie des anderen von der Bewußtseinsmetaphysik
des deutschen Idealismus abwandte, ohne dem Positivismus zu
verfallen, und positiv durch ihren gemeinsamen Ausgang von der
›Faktizität‹ des menschlichen Daseins«. Im selben Zusammenhang
erwähnt Löwith Eugen Rosenstock, Buber, Hans Ehrenberg und
andere. So sehr Benjamin in seiner reifen Zeit ihnen allen entgegen
war, heute zeigt sich ein Gemeinsames zwischen ihm und ihnen,
seinen Altersgenossen, in der Konzeption des Konkreten. Während
diese dem Idealismus sich entgegensetzt, trägt sie theologische
Farbe selbst dort, wo der Gedanke gegen Theologie sich spröd
macht. Weil in einer Gesellschaft, deren Gesetz alle Beziehungen
zwischen den Menschen zur Abstraktheit verurteilt, keine
Konkretion mehr ist, möchte Philosophie diese verzweifelt
beschwören, ohne über das Sinnlose des Daseins zu betrügen, aber
auch ohne darin aufzugehen. Dies Motiv ist eines von Bewegungen
der zwanziger Jahre wie dem sogenannten Patmoskreis, dem
Hofmannsthals – der mit jenem durch Florens Christian Rang,
einem Freund Benjamins, zusammenhing –, den dialektischen
Theologen und der weit davon abliegenden Phänomenologie. All
ihre Bemühungen stehen ausdrücklich unter der Maxime, das
Einzelne sei weder bloß Exemplar seiner Gattung noch bloß
Daseiendes. Sein Sinn, das, wodurch das Einzelne mehr ist als nur
es selber, wird aufgesucht in den Bestimmungen seines Jetzt und
Hier, nicht in der klassifikatorischen Ordnung. Rücksichtsloser als
jene anderen hat Benjamin diesen Impuls verfolgt. Nichts erhoffte er
sich von der Beschwörung; Rettung einzig von einer Profanität ohne
Dunstkreis. Uneingeschränkt, in einem paradoxen Nominalismus,
den das Barockbuch auch erkenntniskritisch begründete, hat er ins
Einzelne sich versenkt, ohne alle Rückendeckung bei der Idee. Der
Intention aufs Konkrete mischt er das materialistische Salz bei: das
bestimmte Daseiende wird zum Substantiellen als in sich
gesellschaftlich Vermitteltes. Wie Benjamin in den letzten Jahren
seines Lebens dem Idol nachhing, seine eigene Philosophie nicht
sowohl zu schreiben als womöglich deutungslos aus Materialien zu
montieren, die selber reden, so verfuhr er auch im Briefbuch. Es will
durch Auswahl und Anordnung Benjamins Philosophie
durchschlagen lassen, ohne sie auf eine allgemeinbegriffliche Form
zu bringen, die ihr selbst widerspräche. Es ist ein philosophisches
Werk, kein geistesgeschichtliches oder literarisches.
Die Briefe sind allesamt asketisch, sei's in der Haltung, sei's im
Verhältnis zum Ideal. Der Nachdruck ihres Prosaischen, ihre
Widerborstigkeit verklagt aber das prosaische Unwesen, dem die
deutsche Tradition der Freiheit unterlag: Gegenteil von Anpassung.
Der Utopie widerfährt Ehre durch Enthaltsamkeit gegenüber jedem
positiv gesetzten Sinn. Dem eifern Benjamins Kommentare nach.
Mit keinem Wort verrät der zu dem Brief Collenbuschs, der ihm der
liebste war, welches Pathos bei Benjamin das Wort Hoffnung besaß,
um das jener Brief zentriert ist wie Benjamins Interpretation der
Wahlverwandtschaften; auch bei dem unvergleichlichen Schreiben
der Annette von Droste-Hülshoff wird nicht enträtselt, wogegen die
Dichterin sich sträubt wie gegen die Verkündigung eines Engels.
Die Spannung des Prosaischen und Utopischen ist das
Lebenselement der Briefe. Keines ist ohne das andere. Die Gewalt
der Ernüchterung rührt her von der unbestechlichen Treue zum
Traum, der nicht aufgezehrt werden soll von seiner Anrufung. Die
Utopie flüchtet sich in die bittere Scham, daß es noch nicht gelang;
ihr Ausdruck ist das Tabu über ihren Ausdruck. Alle Sachgehalte
werden in dem Buch beredt, indem sie des Scheins sich entäußern;
aller Geist darin sättigt sich mit der Schwere der Stoffe, die
unversöhnt auf dem Schreibenden lastet; Idealität bewährt sich,
indem sie das nicht verleugnen, keine Versöhnung vortäuschen. Die
Kraft dazu aber eignet ihnen, weil zu jener Epoche in den
Sachgehalten noch die Möglichkeit gefühlt werden konnte, an die
rechte Stelle zu kommen, im citoyen die Humanität.
Das hintersinnige Buch erschließen hilft die Besinnung auf das,
was Benjamin aussparte. Es enthält keine Texte der Philosophen des
Jahrhunderts, sie werden nur an Reflexen spürbar; auch Briefe der
Brüder der Philosophie fehlen, der großen Komponisten. Erst die
Veröffentlichung von Benjamins eigenen Briefen wird seine
Gegenposition zum Idealismus ganz ins Licht rücken; einem an
Scholem ist zu entnehmen, wie antithetisch seine Verehrung für
Kant war, wie sehr er in diesem die höchste Verkörperung dessen
erblickte, wogegen er anging. Das erst verleiht dem
Collenbuschbrief seinen Stellenwert. Aber während Benjamin
gelegentlich von den Verwüstungen sprach, die der deutsche
Idealismus anrichtete, und das ihm Exterritoriale liebte, war sein
historisches Ingenium doch zu hellsichtig, als daß er danach
Grenzen gezogen hätte. Er wußte, wieviel von der Bestimmung des
Menschen im Idealismus wider die damals bereits heteronome
Gesellschaft sich verkörperte. Der Idealismus selbst war, in der Zeit
seiner Würde, der eigenen Zusammensetzung nach durchdrungen
von jener Gegenständlichkeit, der Benjamin nachhing; nach der
Sprache Hegels muß die Idee sich entäußern, um zu sich selbst zu
kommen. Erst als er sich zur feiertäglichen Weltanschauung
neutralisierte, gleichgültig gegen die verändernde Praxis, ging der
Idealismus unter in der Ideologie, die er immer auch gewesen war.
Die Gründerjahre, historisch und sachlich das Gegenbild des
Buches, waren die Ära des vulgären Materialismus und Idealismus
zugleich.
Was Benjamin dagegen versammelt, fügt sich zu einer Exegese
der Hölderlinschen Formel von der heiligen Nüchternheit. Nüchtern
sind die Briefe vermöge des praktischen Sinns der Bürger, den sie
zu jener Epoche guten Gewissens noch in ihren sublimsten
Äußerungen duldeten. Das Beschränkende und Beschränkte behütet
sie vor der Hybris, ihr Bewußtsein und der reale Zustand wären
schon ein wahres Ganzes. Das unverschleierte Eingeständnis
partikularer Eigeninteressen durch einen Ton, der die Lüge
verschmäht, weist über sich hinaus. Es ist nicht nur die Wahrheit
über die Schreibenden selbst, sondern auch die Ahnung, keine
Wahrheit sei, solange nicht alle zu dem Ihren kommen. Auf solcher
Stufe des Bewußtseins ist Wahrheit der Inbegriff bestimmter
Negation, so wie der späte Benjamin Wahrheit daran erkannte, daß
sie nicht gibt, sondern nimmt. In diesem Geist errettet das Buch die
tiefsten Schatten des bürgerlichen Charakters, das versagende
Prinzip. In der Einleitung des an Kant von dessen Bruder gerichteten
Briefs ist provokatorisch von Bedingungen und Grenzen der
Humanität die Rede. Nichts anderes kann damit gemeint sein, als
daß die bürgerliche Notdurft, welche die Subjekte in ihren Umkreis
bannt und in sich selbst modelt, eine Zeitlang ihnen jene Konkretion
verlieh, die dann im Zustand losgelassener Produktion zerfiel, in
dem sie nur noch Objekt sind, Konsumenten. Alle humanen
Eigenschaften bilden sich in solcher Konkretion. In ihrer
gesellschaftlichen Entstellung werden die Menschen der eigenen
Fehlbarkeit inne, und das eigentlich ist das Humane. Auf den
bürgerlichen Charakter, wie er bis ins jüngste Zeitalter überlebte
und noch von der Freudischen Schule als analer verklagt wurde, fällt
angesichts seines Untergangs versöhnliches Licht. Karg ist der Brief
von Kants Bruder, Bertrams mahnender Glückwunsch an Sulpiz
Boisserée, Kellers verschnörkelte Sorge, Storm möge bei seinen
Briefen ihm das Nachporto ersparen; noch Overbecks vorsichtige
Anregung, Nietzsche, bereits der Autor des Zarathustra, solle
Gymnasialprofessor werden. Die stolze Gegenwehr freier Subjekte
gegen Armut und einen Reichtum, dem sie als Bedrohung ihrer
Autonomie mißtrauen, erzeugt Wärme zwischen ihnen und den
Dingen, mit denen sie sparsam verfahren. Das ist das Klima, in dem
Tradition gedeiht. Selbst die aneignende Manie des Sammlers ist
auch ihr Gegenteil, konserviert die leibhafte Fühlung mit den sich
entfernenden Objekten.
Die sprachliche Form der bedeutenden Nüchternheit ist der
Lakonismus. Überflüssiges wird fortgelassen, aber das
Fortgelassene zum Unsagbaren erhöht durch die Kraft, die es ins
Wort ausstrahlt wie am Ende des Zelterbriefs. So nahe ist der
Lakonismus seiner Sache, daß diese gleichsam zum Diesda
zusammenschrumpft. In diesem Schrumpfungsprozeß wird sie aber
zu mehr als bloß sie selber.
Jene Nähe bedarf einer gewissen Naivetät. Damit auch das
Briefschreiben. Das Jahrhundert der Briefe war im Deutschen der
Korrespondenz günstig, weil bürgerliche Beschränktheit, bei allem
Bewußtsein, etwas von solcher Naivetät ererbte und zeitigte: auch
sie Bedingung und Grenze der Humanität in eins. Hätte das
Bewußtsein die Enge kleinen Eigentums und unmittelbarer Zwecke
ganz durchbrochen, so wäre es nicht mehr fähig gewesen,
unmittelbare Erfahrung so aufzuheben, wie es jedem dieser Briefe
glückte. Daß Goethe, nach Benjamins schöner Prägung, in den
Spätbriefen das eigene Innere nur noch als Kanzlist seiner selbst
verlautbart, antezipiert das geschichtliche Urteil über den Brief als
Form. Sie ist veraltet; wer ihrer noch mächtig ist, verfügt über
archaische Fähigkeiten; eigentlich lassen sich keine Briefe mehr
schreiben. Benjamins Buch setzt ihnen das Denkmal. Die noch
entstehen, haben etwas Falsches, weil sie durch den Gestus
unmittelbarer Mitteilung Naivetät bereits erschleichen. Benjamins
Buch lockt nicht zur Nachahmung der Texte, die es darbietet,
sondern lehrt die Distanz von ihnen. Ihre Unwiederbringlichkeit
wird zur Kritik des Weltlaufs, der, indem er das Beschränkende der
Humanität tilgte, ohne diese zu verwirklichen, gegen Humanität sich
kehrte.
 Reflexion über das Volksstück
 
Das Volksstück hat als Blubo sich verdächtig gemacht, längst ehe
die Abkürzung über das Abgekürzte die Wahrheit sagte.
Unbekümmert um die Kritik, welche die große realistische Literatur
an dergleichen Vorstellungen übte, gab die Gattung zu verstehen,
kleinstädtisches, ländliches Leben, die Reste des vorindustriellen
Zustands, taugten mehr als die Stadt; der Dialekt sei wärmer als die
Hochsprache, die derben Fäuste die rechte Antwort auf urbane
Zivilisation. Im Volksstück tobte die Rancune derer sich aus, die,
ausgeschlossen von der offiziellen Kultur oder nicht mitgekommen
mit ihr, einen engen Sonderbereich sich reservierten, wo sie endlich
Mensch sein, nämlich so unmenschlich sein durften, wie sie wollten;
denen bereits das Herz aufging, wenn etwas kein Goethe g'schrieben
und kein Schiller 'dicht hat, sondern der Götz von Berlichingen.
Freilich ging die Gattung nicht so ganz darin auf. Soweit ihr
böse Abgekapseltes das böse Netz zerreißen wollte, mit dem die
losgelassene Vergesellschaftung die Menschen überspann, erhielt
sie einen Bodensatz von Wahrheit, den queren, seiner selbst
unbewußten Widerstand der potentiellen Opfer. Er gedieh am
besten, wo das Volksstück dem Volk so genau aufs Maul schaute
und dabei soviel Geist mobilisierte, daß die urigen Urbilder ins
Wackeln gerieten. Nestroys raunzendes Welttheater blieb das
höchste Modell solcher Volksstücke. Ihr Typus bot dem einige
Zuflucht, was dem Schmutzstrom des bürgerlichen Idealismus
entrann.
Unterdessen sind dem Volksstück neue Kräfte zugewachsen.
Das gesellschaftliche Unwesen, die Abstraktheit, zu der es
menschliche Beziehungen verdammt, weigert sich der konkreten
Darstellung. Brecht bereits wußte, daß man den Kapitalismus als
solchen nicht, wie es die Ideologie im Osten verlangt, unmittelbar,
nämlich »realistisch« aufs Theater bringen kann. Vollends jenseits
der Möglichkeit von Realismus ist das Grauen der Hitlerwelt. Neben
den infantilistischen Vereinfachungen fehlen bei Brecht denn auch
nicht Reprisen des Volksstücks wie in ›Furcht und Elend des Dritten
Reichs‹ und – mit fragwürdigem Ergebnis – im Puntila. Wenn schon
das Unwesen nicht sich abbilden läßt, dann wenigstens, so lautet die
latente Reflexion, das, was sie den Menschen antut, wie es an ihnen
ausgeht, was aus ihnen im Bann des Unsäglichen wird. Das
Volksstück schlägt um ins Antivolksstück.
Diese junge Tradition, die vielleicht eher als von Brecht von
Ödön von Horvath gestiftet ward, setzt Hochwälders Komödie 1
fort. Die alten Volksstückfiguren, der saftige Prachtkerl, die
mannstolle Tochter, die heuchlerischen Honoratioren lassen wie im
Angsttraum sich wiedererkennen. Sie haben im Salz gelegen,
gebeizt, bis es auf der Zunge schmerzt. Die neue Geborgenheit, die
da vorgestellt wird, explodiert und offenbart sich als Kleinhölle. Die
heile Welt, von der die Ideologie faselt, mit dem schmiedeeisernen
Aushängeschild vom Weißen Lamm und dem Giebeldach aus
Märchenillustrationen, ist die des vollendeten Unheils, die
Volksgemeinschaft der Kampf aller gegen alle. Den entzaubernden
Zauber wirkt die altväterisch virtuose Handlung, in der schließlich
der kleine Gauner, den die Gewalt anekelt, gegen die moralischen
alten Kämpfer die Moral verkörpert.
So drastisch all das gebaut ist, am Schluß resümiert von der
gutherzigen dicken Köchin Burgerl, einem Mißverständnis setzt es
sich aus. Der Sache hilft, davor zu warnen. Brechtisch gesprochen
ist das Stück aristotelisches Theater, samt Einfühlung und
Identifikation. Der Held, Konrad Steißhäuptl, zieht diese auf sich.
Der Zuschauer ist in Versuchung, die Gleichung, daß der Prachtkerl
der Hauptschuft ist, umzukehren und den Hauptschuft für einen
Prachtkerl zu halten, so wie seine Spezis es tun, die er alle übers Ohr
haut. Was Hochwälder verlangt, ist eine veränderte Gestalt des
Widerstands. Das Publikum muß der Suggestion des Stücks selbst
widerstehen, wenn es das Stück verstehen will, sich dem Bann
überantworten, um das Entsetzen des Gemütlichen zu spüren und
dadurch ihm abzusagen.
 Fußnoten
 
1 Vgl. Fritz Hochwälder, Der Himbeerpflücker. Komödie,
München, Wien 1965. (Theater-Texte. 5.)
 
 Editorische Nachbemerkung
 Die drei von Adorno selbst veröffentlichten Bände der »Noten zur
Literatur« erschienen – innerhalb der Reihe »Bibliothek Suhrkamp«
– im Suhrkamp Verlag, Berlin und Frankfurt a.M. (später: Frankfurt
a.M.). Die »Noten zur Literatur I«, deren erste Auflage noch keine
Ziffer trug, kamen 1958 als Band 47 der »Bibliothek Suhrkamp«
heraus, die »Noten zur Literatur II« 1961 als Band 71 und die
»Noten zur Literatur III« 1965 als Band 146. Dem vorliegenden
Abdruck wurden jeweils die letzten, zu Lebzeiten des Autors
erschienenen Auflagen zugrunde gelegt: für den ersten Band das
18.–20. Tausend von 1968, für den zweiten Band das 9.–12.
Tausend von 1965 und für den dritten Band das 6.–9. Tausend von
1966. – Auf Entstehung und Vorveröffentlichungen der einzelnen
Arbeiten wies Adorno selber in »Drucknachweisen« hin, die er den
drei Bänden der »Noten« am Schluß beigab und deren Wortlaut im
folgenden mitgeteilt wird:
 
Drucknachweise [zu »Noten zur Literatur I«]
 
Der Essay als Form, geschrieben 1954–58. Unveröffentlicht.
 
Über epische Naivetät, geschrieben 1943, aus dem Komplex der
gemeinsam mit Max Horkheimer verfaßten »Dialektik der
Aufklärung«. Unveröffentlicht.
 
Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman, ursprünglich
ein Vortrag für RIAS Berlin, erschienen in den »Akzenten«,
1954, 5. Heft.
 
Rede über Lyrik und Gesellschaft, ursprünglich ein Vortrag für
RIAS Berlin, mehrfach umgearbeitet, erschienen in den
»Akzenten«, 1957, 1. Heft.
 
Zum Gedächtnis Eichendorffs, ursprünglich ein Vortrag zum
hundertsten Todestag im Westdeutschen Rundfunk, November
1957, erschienen in den »Akzenten«, 1958, 1. Heft.
 
Die Wunde Heine, ursprünglich ein Vortrag zum hundertsten
Todestag im Westdeutschen Rundfunk, Februar 1956,
erschienen in »Texte und Zeichen«, 1956, 3. Heft.
 
Rückblickend auf den Surrealismus, erschienen in »Texte und
Zeichen«, 1956, 6. Heft.
 
Satzzeichen, erschienen in den »Akzenten«, 1956, 6. Heft.
 
Der Artist als Statthalter, ursprünglich ein Vortrag für den
Bayerischen Rundfunk, erschienen im »Merkur«, VII. Jahrg.,
1953, 11. Heft.
 
Drucknachweise [zu »Noten zur Literatur II«]
 
Zur Schlußszene des Faust, in: »Akzente«, 1959, Heft 6, S.
567ff. Dort war vermerkt: »Im Gespräch neckte ich einmal
Benjamin um seiner Vorliebe für aparte und entlegene Stoffe
willen mit der Frage, wann er wohl eine Interpretation des Faust
schriebe, und er parierte, ohne zu zögern: wenn sie in
Fortsetzungen in der Frankfurter Zeitung erscheint. Die
Erinnerung an dies Gespräch veranlaßte die Niederschrift der
hier veröffentlichten Fragmente.«
 
Balzac-Lektüre, unpubliziert.
 
Valérys Abweichungen, in: »Die Neue Rundschau«, 71. Jahrg.,
1960, Heft 1, S. 1ff.
 
Kleine Proust-Kommentare, ursprünglich ein Vortrag für den
Hessischen und den Süddeutschen Rundfunk, zur Feier des
Abschlusses der deutschen Ausgabe der Recherche. Marianne
Hoppe las die ausgewählten Abschnitte, der Autor sprach die
Kommentare dazu. Unverändert publiziert in: »Akzente«, 1958,
Heft 6, S. 564ff.
 
Wörter aus der Fremde, ursprünglich ein Vortrag für den
Hessischen Rundfunk, gedruckt in: »Akzente«, 1959, Heft 2, S.
176ff.
 
Blochs Spuren, in: »Neue Deutsche Hefte«, April 1960, S. 14ff.
 
Erpreßte Versöhnung, in: »Der Monat«, 11. Jahrg., November
1958, S. 37ff.
 
Versuch, das Endspiel zu verstehen, unpubliziert. Teile wurden
beim 7. Suhrkamp-Verlags-Abend am 27. Februar 1961 in
Frankfurt / M. vorgetragen.
 
Drucknachweise [zu »Noten zur Literatur III«]
 
Titel. Paraphrasen zu Lessing, gedruckt in: »Akzente«, 1962,
Heft 3.
 
Zu einem Porträt Thomas Manns, Vortrag bei Eröffnung der
Darmstädter Ausstellung, 24. März 1962. Gedruckt in: »Die
Neue Rundschau«, 73. Jahrgang, 1962, Heft 2/3.
 
Bibliographische Grillen, entstanden aus einer Glosse in der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 16. Oktober 1959,
gedruckt in: »Akzente«, 1963, Heft 6. Erweitert.
 
Rede über ein imaginäres Feuilleton, gehalten im
Schweizerischen Radio, Zürich, 24. Februar 1963, gedruckt in:
»Süddeutsche Zeitung«, 13. / 15. April 1963.
 
Sittlichkeit und Kriminalität. Zum 11. Band der Werke von Karl
Kraus, entstanden aus einer kurzen Anzeige im »Spiegel« vom
5. August 1964. Unveröffentlicht.
 
Der wunderliche Realist. Über Siegfried Kracauer, Vortrag im
Hessischen Rundfunk, 7. Februar 1964, gedruckt in: »Neue
Deutsche Hefte«, September / Oktober 1964, Heft 101.
 
Engagement, Vortrag im Radio Bremen, 28. März 1962, unter
dem Titel ›Engagement oder künstlerische Autonomie‹;
gedruckt in: »Die Neue Rundschau«, 73. Jahrgang, 1962, Heft 1.
 
Voraussetzungen, Vortrag, aus Anlaß einer Lesung von Hans G.
Helms, Köln, 27. Oktober 1960. Publiziert in: »Akzente«, 1961,
Heft 5.
 
Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins, Vortrag auf der
Jahresversammlung der Hölderlin-Gesellschaft, Berlin, 7. Juni
1963. Die erweiterte Fassung erstmals publiziert in: »Neue
Rundschau«, 75. Jahrgang, 1964, Heft 1.
 
Eingriffe des Herausgebers in die Druckvorlagen blieben bei den
ersten drei Teilen des vorliegenden Bandes auf die Berichtigung von
Druck- und Zitierungsfehlern sowie auf eine gewisse
Vereinheitlichung der Zitatnachweise beschränkt.
 
Seine Absicht, einen vierten Band der »Noten zur Literatur« zu
publizieren, hat Adorno nicht mehr verwirklichen können. Der
vorliegende Band umfaßt unter dem Titel »Noten zur Literatur IV«
diejenigen Arbeiten, welche Adorno in den geplanten Band
aufnehmen wollte. Er schwankte nur bei dem Essay über Bloch –
aus privaten Gründen (vgl. jetzt Adorno, Graeculus II, in:
Frankfurter Adorno Blätter VIII, München 2003, S. 31f.), die für
eine posthume Edition nicht maßgeblich sein konnten. Der
George-Vortrag – eine Auftragsarbeit für den Rundfunk – genügte
Adorno noch nicht; er hatte vor, den Text zu überarbeiten 1 . – Als
Druckvorlage diente beim George-Vortrag das Typoskript, in allen
anderen Fällen wurden die vom Autor selbst überwachten oder
nachträglich korrigierten Abdrucke herangezogen:
 
Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie, in: »Neue
Rundschau« 78 (1967), S. 586–599 (Heft 4).
 
Rede über den ›Raritätenladen‹ von Charles Dickens, in:
Federlese. Ein Almanach des Deutschen PEN-Zentrums der
Bundesrepublik. Hrsg. von Benno Reifenberg und Wolfgang
Weyrauch. München 1967, S. 232–242. – Zuerst erschienen war
der Text in der »Frankfurter Zeitung«, 18. 4. 1931 (Jg. 75, Nr.
285), S. 1f. Dem überarbeiteten Neudruck von 1967 stellte
Adorno die Sätze voran: »Der hier veröffentlichte Text gehört
der Jugend des Autors an. Er erschien ursprünglich im
Feuilleton der Frankfurter Zeitung in den frühen dreißiger
Jahren, mit Bestimmtheit vor 1933.«
 
George, nach dem Typoskript im Nachlaß. – Vortrag im
Deutschlandfunk, 23. 4. 1967.
 
Die beschworene Sprache. Zur Lyrik Rudolf Borchardts, in:
Rudolf Borchardt: Ausgewählte Gedichte. Auswahl und
Einleitung von Theodor W. Adorno. Frankfurt a.M. 1968, S.
7–35.
 
Henkel, Krug und frühe Erfahrung, in: Ernst Bloch zu ehren.
Beiträge zu seinem Werk. Hrsg. von Siegfried Unseld. Frankfurt
a.M. 1965, S. 9–20.
 
Einleitung zu Benjamins ›Schriften‹, in: Walter Benjamin:
Schriften. Hrsg. von Th. W. Adorno und Gretel Adorno unter
Mitwirkung von Friedrich Podszus. Frankfurt a.M. 1955, Bd. 1,
S. IX-XXV.
 
Benjamin, der Briefschreiber, in: Walter Benjamin: Briefe.
Hrsg. und mit Anmerkungen versehen von Gershom Scholem
und Theodor W. Adorno. Frankfurt a.M. 1966, S. 14–21.
 
Offener Brief an Rolf Hochhuth, in: »Frankfurter Allgemeine
Zeitung«, 10. 6. 1967 (Nr. 132), Beilage. – Der Text wurde
nachgedruckt in: »Theater heute«, Jg. 8, Heft 7, Juli 1967, S. 1f.
 
Zur Dialektik von Heiterkeit, zuerst unter dem Titel »Ist die
Kunst heiter?«, in: »Süddeutsche Zeitung«, 15./16. 7. 1967 (Jg.
23, Nr. 168), S. 71; den endgültigen Titel hat der Nachdruck in:
Almanach der Wiener Festwochen [1968]. Die Komödianten
Europas. Wien, München 1968, S. 19–23, in dem aber die in GS
11 beibehaltene Absatzbezifferung fehlt.
 
Die Erstdrucke sowohl des Aufsatzes über Borchardt – der als
Einleitung zu einer von Adorno besorgten Auswahl von Gedichten
Borchardts erschien – wie der »Einleitung zu Benjamins
›Schriften‹« enthalten editorische Bemerkungen zu den respektiven
Ausgaben, die im folgenden abgedruckt werden.
 
Zur Auswahl [der Gedichte Borchardts]
 
Der Versuch, öffentliches Bewußtsein vom Rang des Lyrikers
Borchardt herzustellen, verlangt, daß aus seinen Gedichten eine
knappe Auswahl getroffen werde. Das aber ist eine jener
undankbaren Aufgaben, die, gleichgültig, was man tut, schutzlos der
Kritik sich preisgeben. Ähnlich kann man jeder Übersetzung
nachweisen, daß sie entweder es an Treue fehlen lasse oder an Kraft
in der eigenen Sprache. Der Grund von derlei Unzuträglichkeiten
ist wohl der Widerspruch zwischen dem reinen und objektiven
Anspruch des Geistes und dem kommunikativen, zwischen dem An
sich und dem Für andere.
Die Borchardt-Auswahl gilt einem bedeutenden aber, nicht
zuletzt im Schatten von Hofmannsthals erneutem Ruhm, wie mit
einem Tabu belegten Autor. Man wird ihr entgegenhalten, sei es, sie
versuche Vergangenes gewaltsam zu erwecken, sei es, sie nähre sich
von zufälligen Vorlieben, gar auf Kosten der tragenden Konzeption
des Dichters. Wenn irgend etwas, dann hilft dagegen nur, die
Gesichtspunkte der Auswahl auszusprechen.
Sie will den subjektiven Geschmack weder verleugnen noch
ausmerzen, sondern geht von ihm aus; er verspricht noch am
ehesten, wofern er selbst lebendig ist, Lebendiges zu erreichen. Bei
einem in seinen geschichtsphilosophischen Voraussetzungen so
polemischen Werk wie dem lyrischen Borchardts jedoch genügt das
nicht. Wodurch er Distanz setzt, gegen die unmittelbare Erfahrung
des Rezipierenden sich sträubt, hat so gut sein Recht zu erscheinen
wie das unmittelbar Evidente, das vielleicht gerade als solches den
Dichter gar nicht repräsentiert. Aktuell an Borchardt sind nicht
zuletzt Gedichte, durch die er den zu seiner Zeit noch gültigen und
schon kraftlosen Kanon des Lyrischen herausforderte. Nur wer auf
denselben Seiten die Bacchische Epiphanie findet und das
beispiellose Lied »Sie sagt im Gehen«, wird die Spannweite des
Dichters ermessen. Überreich ward Borchardt geschenkt, was er,
einer der wenigen deutschen Künstler mit Sinn für Refus, weithin
sich verbot. Illegitim wäre es auch gewesen, Gebilde
auszuschließen, die jedem Subalternen gestatten, sich wegen des
armseligen Privilegs nachgeboren zu sein, moderner und überlegen
zu fühlen. Nur durch das hindurch, was die nach ihnen herrschende
Ansicht als zeitgebunden abwertet, nicht als Idole des Zeitlosen
vermögen Kunstwerke ihre Zeit zu überdauern.
Die politische Lyrik des frühen und mittleren Borchardt, auch
was in einem weiteren, aber bestimmt zu fassenden Sinn an
Politisches grenzt, blieb unberücksichtigt: nicht allein, um ihn zu
schonen, sondern doch wohl auch dem politischen Urteil gemäß,
das er selbst im Alter fällte. Die Haltung seiner letzten Jahre ist
durch ein Gedicht dokumentiert, das zum Äußersten geht.
 
[Zur Ausgabe der Schriften Benjamins]
 
Die Ausgabe beansprucht keine wissenschaftliche Authentizität.
Benjamins Bücher – auch die Dissertation »Der Begriff der
Kunstkritik in der deutschen Romantik«, die er stets sehr hoch
schätzte, und die erst posthum erschienene »Berliner Kindheit« –
sind sämtlich aufgenommen, ebenso die großen Abhandlungen, mit
Ausnahme solcher, von denen er selbst sich distanzierte. Notwendig
war es, zwei ungemein exponierte Jugendarbeiten, die über die
Sprache und die über Hölderlin, zu bringen, zu denen er ebenfalls
stand, wie er denn auch als reifer Mann kaum einen der früheren
Texte preisgab und etwa noch in der Theorie der Aura auf die
Abhandlung über die »Wahlverwandtschaften« sich bezog. Aus der
»Berliner Kindheit« wurden einige Stücke ausgeschieden, die
bereits in der »Einbahnstraße«, in leicht abweichender Fassung,
enthalten sind. Bei der Auswahl der kleineren Schriften mußten die
Herausgeber, gestützt auf Benjamins Vertrauen, ihrem Urteil folgen
und freilich auch dem, was sie von seiner eigenen Ansicht über
seine Produktion wußten. So blieben fast alle novellistischen Stücke
weg. Gleichwohl trägt die Ausgabe dem Bedürfnis Rechnung, nicht
nur den Philosophen Benjamin zu zeigen, sondern ebenso den
Kritiker und »Literator«, als den er sich selbst verstand und der aus
seinem Bilde von Philosophie nicht fortgedacht werden kann. In
erreichbarer Vollständigkeit mußten die aphoristischen Stücke
erscheinen, die in den Umkreis der »Einbahnstraße« gehören und
die er selbst deren zweiter Ausgabe hinzuzufügen plante. Die
abgedruckten Kritiken dagegen sind eine einigermaßen willkürliche
Auswahl aus überreichem Material, insbesondere aus der
»Literarischen Welt«, aber auch aus anderen Zeitschriften und
Zeitungen wie der »Frankfurter« und der »Vossischen«. Zu
verzichten war auf die Briefsammlung »Deutsche Menschen«, die er
unter dem von ihm häufig gebrauchten Pseudonym Detlef Holz 1936
in der Schweiz herausgab und die besonders eindringliche
Einleitungen und Kommentare enthält.
An dem Komplex der »Pariser Passagen«, der philosophischen
»Urgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts«, hat Benjamin seit
den späten zwanziger Jahren bis zu seinem Tod gearbeitet.
Abgeschlossen liegen daraus nur der Aufsatz Ȇber einige Motive
bei Baudelaire« und die »Thesen über den Begriff der Geschichte«
vor. Außerdem wurden aufgenommen: das große Memorandum
»Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts« von 1935, das den
Gesamtplan für das Institut für Sozialforschung entwarf, und eine
Auswahl aus einem von ihm selbst »Zentralpark« überschriebenen
Konvolut von aphoristischen Aufzeichnungen aus der allerletzten
Zeit. Sie waren dem Schlußkapitel des vom Passagenkomplex
abgesonderten Baudelairebuchs zugedacht, von dem der Aufsatz
über den Dichter eine Art von Kurzfassung darstellt. All das jedoch
ist kaum mehr als eine Probe des Projektierten. Erhalten sind,
außer dem in der Ausgabe Eingeschlossenen, nicht nur erhebliche
Teile des Baudelairebuchs als Entwürfe, sondern die überaus
umfangreichen Materialien zur Passagenarbeit selbst.
Bei der Gestaltung des Textes wurde so verfahren, daß man sich
an die Druckvorlagen und Manuskripte treu hielt, ohne doch völlige
Zuverlässigkeit gewährleisten zu können. Benjamins mikroskopisch
kleine Schrift ist oft schwer lesbar; die Maschinenmanuskripte und
selbst die Druckfassungen enthalten fraglos zahlreiche Irrtümer.
Doch mußten sich die Berichtigungen auf offensichtliche
Druckfehler und ähnliches beschränken; bei Stellen
problematischen Sinnes, an denen es nicht fehlt, wurden kaum
Konjekturen gewagt; auch Überschneidungen und Wiederholungen
blieben stehen, wann immer sie für den Zusammenhang des Textes
unentbehrlich dünkten. Der umfangreiche wissenschaftliche
Apparat zum »Ursprung des deutschen Trauerspiels« wurde durch
gedrängte Hinweise ersetzt; der zur Dissertation blieb ganz fort;
hier wäre auf die Originalausgaben zu rekurrieren.
Danken möchten die Herausgeber all denen, die Benjaminsche
Manuskripte aufbewahrt und besonders während der Okkupation in
Paris versteckt haben; weiter seiner Witwe, Dora Sophie Morser,
die biographisch wichtige Angaben beisteuerte, seinem Sohn und
Erben Stefan, der die Bewilligung zum Druck erteilte, und seinem
Freund Gerhard G. Scholem, der die Manuskripte der frühen
Arbeiten zur Verfügung stellte und überhaupt am Zustandekommen
der Ausgabe tätig beratenden Anteil nahm.
 
Für die Textherstellung der »Noten zur Literatur IV« wurden die
Typoskripte in Adornos Nachlaß herangezogen und, wo nötig, zur
Korrektur von Druckfehlern und Irrtümern benutzt. Zitatnachweise
hat Adorno lediglich den Aufsätzen über Borchardt und Bloch
beigegeben. Der Herausgeber fügte dort Nachweise hinzu, wo, nach
dem Vorgang der von Adorno selbst in Buchform veröffentlichten
»Noten«, zu vermuten war, daß auch er so verfahren wäre. Die Titel
»Die beschworene Sprache« und »Benjamin, der Briefschreiber«
fanden sich in den Typoskripten, die Erstdrucke sind mit
»Einleitung« überschrieben. Der Titel »Einleitung zu Benjamins
›Schriften‹« wurde vom Herausgeber formuliert. Vom Herausgeber
stammt auch die Anordnung der »Noten zur Literatur IV« sowie,
selbstverständlich, diejenige des Anhangs.
 
In diesem Anhang wurden weitere Arbeiten Adornos
zusammengestellt, die literarischen Gegenständen und Themen
gelten und dem spezifisch an diesem Teil der Adornoschen
Produktion Interessierten zur Hand sein sollten 2 . Wenn Adorno
selbst keine dieser Arbeiten in die »Noten zur Literatur«
aufgenommen oder zur Aufnahme in den vierten Band derselben
vorgesehen hatte, so liegt darin ein deutlicher Hinweis darauf, daß
die Texte dem Maßstab, den er selbst durch die Buchausgaben der
»Noten« sich gesetzt hatte, nicht genügten: sie erscheinen deshalb
im vorliegenden Band auch ausdrücklich als ›Anhang‹. – Die drei an
erster Stelle abgedruckten Aufsätze schrieb der Autor zumindest
zum Teil, als er noch zur Schule ging; alle jedenfalls in den ganz
frühen zwanziger Jahren. In ihnen vertrat er ästhetische Positionen,
welche denen, die er schon bald danach – vor allem in den seit 1925
entstandenen musikalischen Arbeiten – einnahm, kraß
entgegengesetzt sind. Die Veröffentlichung dieser Texte soll allein
dem historischen Interesse an der Entwicklung des Adornoschen
Denkens dienen; Adorno hätte der Veröffentlichung bzw. der
Wiederveröffentlichung nicht zugestimmt. – Die Rezension »Ein
Bildungsroman«, publiziert 1925, wurde erst im Jahr von Adornos
100. Geburtstag wiedergefunden. – Die folgenden vier Texte –
»Über den Nachlaß Frank Wedekinds«, über die Altenberg-Auswahl
von Karl Kraus, über einen Roman von Priestley sowie »Über den
Gebrauch von Fremdwörtern« – wurden in den frühen dreißiger
Jahren geschrieben. Sie korrespondieren keineswegs nur in ihren
Entstehungsdaten mit den philosophischen »Vorträgen und Thesen«,
die in Band 1 der »Gesammelten Schriften« abgedruckt sind, sowie
mit den zahlreichen musikalischen Arbeiten, die während Adornos
Zugehörigkeit zur Redaktion des »Anbruch« entstanden sind. Ein
gleichfalls hierher gehörender Aufsatz über Georges »Tage und
Taten«, der Anfang 1934 geschrieben wurde und der Adorno immer
wichtig war, scheint verlorengegangen zu sein. – Die »Theses Upon
Art and Religion Today« gehören in die letzten Emigrationsjahre
des Autors, alle übrigen Texte des Anhangs stellen
Gelegenheitsarbeiten dar, die nach Adornos Rückkehr aus dem Exil
entstanden sind. Gemeinsam ist ihnen der Charakter des Eingriffs in
bestimmte Situationen der literarischen Öffentlichkeit, wie diese
nach dem zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik erst hektisch
sich herausbildete, dann stagnierte. – Zu den Druckvorlagen ist im
einzelnen zu bemerken:
 
Expressionismus und künstlerische Wahrhaftigkeit, in: »Die
Neue Schaubühne« 2 (1920), S. 233–236 (Heft 9).
 
›Platz‹. Zu Fritz von Unruhs Spiel, nach dem Typoskript im
Nachlaß. – Die Frankfurter Uraufführung des Stückes fand am
3. 6. 1920 statt; Adornos Polemik dürfte bald danach
geschrieben worden sein.
 
Ein Bildungsroman, in: »Frankfurter Zeitung«, 6.1.1925, S. 2f.
 
Frank Wedekind und sein Sittengemälde ›Musik‹, nach dem
Typoskript im Nachlaß.
 
Über den Nachlaß Frank Wedekinds, nach dem Typoskript im
Nachlaß. – Vortrag im Südwestfunk, 4. 2. 1932.
 
Physiologische Romantik, in: »Frankfurter Zeitung«, 16. 2. 1932
(Jg. 76, Nr. 123/124), S. 2.
 
Wirtschaftskrise als Idyll, nach dem Typoskript im Nachlaß. –
Ein von der Redaktion entstellter Abdruck findet sich in:
»Frankfurter Zeitung«, 17. 1. 1932 (Jg. 76, Nr. 45),
Literaturblatt.
 
Über den Gebrauch von Fremdwörtern, nach dem Typoskript
im Nachlaß.
 
Theses Upon Art and Religion Today, in: »Kenyon Review«,
Vol. 7 (1945), pp. 677–682 (No. 4).
 
Ein Titel, in: »Die Neue Zeitung«, 25. 1. 1952 (Jg. 8, Nr. 21), S.
4. – Der Abdruck hat den von der Redaktion eingesetzten Titel
»Warum nicht ›Professor Unrat‹? Zu einem geänderten Titel«.
 
Unrat und Engel, in: »Die Neue Zeitung«, 18. 2. 1952 (Jg. 8, Nr.
41), S. 4.
 
Zur Krisis der Literaturkritik, in: »Aufklärung« 2 (1952/53), S.
357f. (Nr. 4/6). – Vortrag für den Bayerischen Rundfunk.
 
Bei Gelegenheit von Wilhelm Lehmanns ›Bemerkungen zur
Kunst des Gedichts‹, nach dem Typoskript im Nachlaß. –
Geschrieben im Juli 1951 für den Süddeutschen Rundfunk,
Stuttgart. Lehmanns ›Bemerkungen zur Kunst des Gedichts‹
finden sich in: Dichtung als Dasein. Poetologische und kritische
Schriften, Hamburg 1956, S. 49–52; verändert in: Sämtliche
Werke in drei Bänden, o.O. [Gütersloh] 1962, Bd. 3, S.
198–201. Adornos Text bezieht sich auf eine dritte,
wahrscheinlich in der gleichen Sendung vorgetragene Version,
die gegenüber den beiden Buchpublikationen wiederum
Abweichungen enthalten haben muß.
 
›In Swanns Welt‹, in: Dichten und Trachten. Jahresschau des
Suhrkamp Verlages, Bd. 10, Berlin, Frankfurt a.M. 1957, S. 44.
 
›lm Schatten junger Mädchenblüte‹, in: Dichten und Trachten,
Bd. 4, 1954, S. 73–78. – Vortrag im Hessischen Rundfunk,
August 1954.
 
Aus einem Brief über die ›Betrogene‹ an Thomas Mann, in:
»Akzente« 2 (1955), S. 284–287 (Heft 3).
 
Benjamins ›Einbahnstraße‹, in: »Texte und Zeichen« 1 (1955),
S. 518–522 (Heft 4).
 
Zu Benjamins Briefbuch ›Deutsche Menschen‹, in: Deutsche
Menschen. Eine Folge von Briefen ausgewählt und eingeleitet
von Walter Benjamin, Frankfurt a.M. 1962, S. 121–128. – Der
Titel wurde vom Herausgeber formuliert.
 
Reflexion über das Volksstück, in: Schauspielhaus Zürich
1965/66. [Programmheft zu:] Der Himbeerpflücker, Komödie
von Fritz Hochwälder. [Uraufführung 23. 9. 1965], S. 1f.
 
Bei der Textherstellung der im Anhang abgedruckten Arbeiten
wurde wie bei den »Noten zur Literatur IV« verfahren. Soweit von
veröffentlichten Arbeiten Typoskripte vorlagen, sind diese
herangezogen worden. Nachweise stammen im allgemeinen vom
Herausgeber. Orthographie und, seltener, Interpunktion der
Druckvorlagen wurden zurückhaltend vereinheitlicht.
 
Vermissen wird der mit Adornos Werk Vertraute in dem
vorliegenden Band einen Aufsatz »Gedichte von Reinhold Zickel.
Zur Einleitung«, der 1958 in den »Akzenten« stand und im Jahr
darauf in einer Festschrift »Fünfzig Jahre
Freiherr-vom-Stein-Schule. Frankfurt a.M. 1909–1959«
nachgedruckt wurde. Adorno hatte den Text, den er in den zweiten
Band der »Noten« aufnehmen wollte, völlig umgearbeitet, als er in
einem Antiquariat auf den Roman »Strom« stieß, den Zickel 1940
veröffentlicht hatte: ein »maßlos nationalistisches Buch«, »im Sinn
eines kommerziellen Auftrags« geschrieben, »im Krieg, in einer
Situation, in der man wissen mußte, was der deutsche Nationalismus
konkret bedeutet«. Adorno verfügte daraufhin schriftlich, daß der
Aufsatz über seinen Lehrer Zickel »unter keinen Umständen« noch
einmal gedruckt werden dürfe. Der Herausgeber überzeugte sich,
daß für eine posthume Gesamtausgabe eine solche Verfügung des
Autors nicht maßgeblich sein konnte. Da jedoch eine ausdrückliche
Anordnung Adornos auch nicht einfach übergangen werden sollte,
wurde der Ausweg gewählt, den Aufsatz über Zickel wie auch einen
weiteren, für den eine ähnliche Weisung existiert, in einem Anhang
zum letzten Band der »Gesammelten Schriften«, als ›verworfene
Schriften‹, im Sinne der Dokumentation, abzudrucken (vgl. GS
20.2, s. S. 756ff.).
 
Juli 1974 / September 1989
 Fußnoten
 
1 Hinzu kommen sollten zwei weitere Arbeiten: die eine über
Becketts ›L'innommable‹, die andere über Paul Celans
›Sprachgitter‹; zeitweilig dachte Adorno daran, die letztere auf eine
Interpretation des Gedichts ›Engführung‹ zu beschränken. Adornos
Exemplare der beiden Bücher weisen eine Anzahl von Annotationen
auf (vgl. jetzt Frankfurter Adorno Blätter III, München 1994, S.
34ff., und Frankfurter Adorno Blätter VIII, München 2003, S.
159ff.), zur Niederschrift ist er nicht gekommen.
 
2 Im vorliegenden Band fehlen die literarischen Aufsätze, die
Adorno in die Essaysammlung »Prismen« aufnahm, die in Band 10
der »Gesammelten Schriften« zum Abdruck gelangt, sowie eine
Reihe kleinerer, miszellenartiger Texte, die in Band 20 publiziert
sind.
 

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