Der Essay als Form Bestimmt, Erleuchtetes zu sehen, nicht das Licht. Goethe, Pandora
Daß der Essay in Deutschland als Mischprodukt verrufen ist; daß es an überzeugender Tradition der Form gebricht; daß man ihrem nachdrücklichen Anspruch nur intermittierend genügte, wurde oft genug festgestellt und gerügt. »Die Form des Essays hat bis jetzt noch immer nicht den Weg des Selbständigwerdens zurückgelegt, den ihre Schwester, die Dichtung, schon längst durchlaufen hat: den der Entwicklung aus einer primitiven, undifferenzierten Einheit mit Wissenschaft, Moral und Kunst.« 1 Aber weder das Unbehagen an diesem Zustand noch das an der Gesinnung, die darauf reagiert, indem sie Kunst als Reservat von Irrationalität einhegt, Erkenntnis der organisierten Wissenschaft gleichsetzt und was jener Antithese nicht sich fügt als unrein ausscheiden möchte, hat am landesüblichen Vorurteil etwas geändert. Noch heute reicht das Lob des écrivain hin, den, dem man es spendet, akademisch draußen zu halten. Trotz aller belasteten Einsicht, die Simmel und der junge Lukács, Kassner und Benjamin dem Essay, der Spekulation über spezifische, kulturell bereits vorgeformte Gegenstände 2 anvertraut haben, duldet die Zunft als Philosophie nur, was sich mit der Würde des Allgemeinen, Bleibenden, heutzutage womöglich Ursprünglichen bekleidet und mit dem besonderen geistigen Gebilde nur insoweit sich einläßt, wie daran die allgemeinen Kategorien zu exemplifizieren sind; wie wenigstens das Besondere auf jene durchsichtig wird. Die Hartnäckigkeit, mit der dies Schema überlebt, wäre so rätselhaft wie seine affektive Besetztheit, speisten es nicht Motive, die stärker sind als die peinliche Erinnerung daran, was einer Kultur an Kultiviertheit mangelt, die historisch den homme de lettres kaum kennt. In Deutschland reizt der Essay zur Abwehr, weil er an die Freiheit des Geistes mahnt, die, seit dem Mißlingen einer seit Leibnizischen Tagen nur lauen Aufklärung, bis heute, auch unter den Bedingungen formaler Freiheit, nicht recht sich entfaltete, sondern stets bereit war, die Unterordnung unter irgendwelche Instanzen als ihr eigentliches Anliegen zu verkünden. Der Essay aber läßt sich sein Ressort nicht vorschreiben. Anstatt wissenschaftlich etwas zu leisten oder künstlerisch etwas zu schaffen, spiegelt noch seine Anstrengung die Muße des Kindlichen wider, der ohne Skrupel sich entflammt an dem, was andere schon getan haben. Er reflektiert das Geliebte und Gehaßte, anstatt den Geist nach dem Modell unbegrenzter Arbeitsmoral als Schöpfung aus dem Nichts vorzustellen. Glück und Spiel sind ihm wesentlich. Er fängt nicht mit Adam und Eva an sondern mit dem, worüber er reden will; er sagt, was ihm daran aufgeht, bricht ab, wo er selber am Ende sich fühlt und nicht dort, wo kein Rest mehr bliebe: so rangiert er unter den Allotria. Weder sind seine Begriffe von einem Ersten her konstruiert noch runden sie sich zu einem Letzten. Seine Interpretationen sind nicht philologisch erhärtet und besonnen, sondern prinzipiell Überinterpretationen, nach dem automatisierten Verdikt jenes wachsamen Verstandes, der sich als Büttel an die Dummheit gegen den Geist verdingt. Die Anstrengung des Subjekts, zu durchdringen, was als Objektivität hinter der Fassade sich versteckt, wird als müßig gebrandmarkt: aus Angst vor Negativität überhaupt. Alles sei viel einfacher. Dem, der deutet, anstatt hinzunehmen und einzuordnen, wird der gelbe Fleck dessen angeheftet, der kraftlos, mit fehlgeleiteter Intelligenz spintisiere und hineinlege, wo es nichts auszulegen gibt. Tatsachenmensch oder Luftmensch, das ist die Alternative. Hat man aber einmal sich terrorisieren lassen vom Verbot, mehr zu meinen als an Ort und Stelle gemeint war, so willfahrt man bereits der falschen Intention, wie sie Menschen und Dinge von sich selber hegen. Verstehen ist dann nichts als das Herausschälen dessen, was der Autor jeweils habe sagen wollen, oder allenfalls der einzelmenschlichen psychologischen Regungen, die das Phänomen indiziert. Aber wie kaum sich ausmachen läßt, was einer sich da und dort gedacht, was er gefühlt hat, so wäre durch derlei Einsichten nichts Wesentliches zu gewinnen. Die Regungen der Autoren erlöschen in dem objektiven Gehalt, den sie ergreifen. Die objektive Fülle von Bedeutungen jedoch, die in jedem geistigen Phänomen verkapselt sind, verlangt vom Empfangenden, um sich zu enthüllen, eben jene Spontaneität subjektiver Phantasie, die im Namen objektiver Disziplin geahndet wird. Nichts läßt sich herausinterpretieren, was nicht zugleich hineininterpretiert wäre. Kriterien dafür sind die Vereinbarkeit der Interpretation mit dem Text und mit sich selber, und ihre Kraft, die Elemente des Gegenstandes mitsammen zum Sprechen zu bringen. Durch diese ähnelt der Essay einer ästhetischen Selbständigkeit, die leicht als der Kunst bloß entlehnt angeklagt wird, von der er gleichwohl durch sein Medium, die Begriffe, sich unterscheidet und durch seinen Anspruch auf Wahrheit bar des ästhetischen Scheins. Das hat Lukács verkannt, als er in dem Brief an Leo Popper, der die ›Seele und die Formen‹ einleitet, den Essay eine Kunstform nannte 3 . Nicht überlegen aber ist dem die positivistische Maxime, was über Kunst geschrieben würde, dürfe selbst in nichts künstlerische Darstellung, also Autonomie der Form beanspruchen. Die positivistische Gesamttendenz, die jeden möglichen Gegenstand als einen von Forschung starr dem Subjekt entgegensetzt, bleibt wie in allen anderen Momenten so auch in diesem bei der bloßen Trennung von Form und Inhalt stehen: wie denn überhaupt von Ästhetischem unästhetisch, bar aller Ähnlichkeit mit der Sache kaum sich reden ließe, ohne daß man der Banausie verfiele und a priori von jener Sache abglitte. Der Inhalt, einmal nach dem Urbild des Protokollsatzes fixiert, soll nach positivistischem Brauch gegen seine Darstellung indifferent, diese konventionell, nicht von der Sache gefordert sein, und jede Regung des Ausdrucks in der Darstellung gefährdet für den Instinkt des wissenschaftlichen Purismus eine Objektivität, die nach Abzug des Subjekts herausspränge, und damit die Gediegenheit der Sache, die um so besser sich bewähre, je weniger sie sich auf die Unterstützung durch die Form verläßt, obwohl doch diese ihre Norm selber genau daran hat, die Sache rein und ohne Zutat zu geben. In der Allergie gegen die Formen als bloße Akzidenzien nähert sich der szientifische Geist dem stur dogmatischen. Das unverantwortlich geschluderte Wort wähnt, die Verantwortlichkeit in der Sache zu belegen, und die Reflexion über Geistiges wird zum Privileg des Geistlosen. All diese Ausgeburten der Rancune sind nicht nur die Unwahrheit. Verschmäht es der Essay, kulturelle Gebilde zuvor abzuleiten aus einem ihnen Zugrundeliegenden, so embrouilliert er sich allzu beflissen mit dem Kulturbetrieb von Prominenz, Erfolg und Prestige marktmäßiger Erzeugnisse. Die Romanbiographien und was an verwandter Prämissen-Schriftstellerei an diese sich anhängt, sind keine bloße Ausartung sondern die permanente Versuchung einer Form, deren Verdacht gegen die falsche Tiefe durch nichts gefeit ist vor dem Umschlag in versierte Oberflächlichkeit. Schon in Sainte-Beuve, von dem die Gattung des jüngeren Essays wohl sich herleitet, zeichnet das sich ab und hat mit Produkten wie den Schattenrissen von Herbert Eulenberg, dem deutschen Urbild einer Flut kultureller Schundliteratur, bis zu den Filmen über Rembrandt, Toulouse-Lautrec und die Heilige Schrift die Neutralisierung geistiger Gebilde zu Gütern weiterbefördert, die ohnehin das, was im Ostbereich schmählich das Erbe heißt, in der jüngeren Geistesgeschichte unwiderstehlich ergreift. Am sinnfälligsten vielleicht ist der Prozeß bei Stefan Zweig, dem in seiner Jugend einige differenzierte Essays gelangen und der schließlich in seinem Balzacbuch herunterkam auf die Psychologie des schöpferischen Menschen. Solches Schrifttum kritisiert nicht die abstrakten Grundbegriffe, begriffslosen Daten, eingeschliffenen Clichés, sondern setzt allesamt implizit, aber desto einverstandener voraus. Der Abhub verstehender Psychologie wird fusioniert mit gängigen Kategorien aus der Weltanschauung des Bildungsphilisters, wie der Persönlichkeit und dem Irrationalen. Dergleichen Essays verwechseln sich selber mit jenem Feuilleton, mit dem die Feinde der Form diese verwechseln. Losgerissen von der Disziplin akademischer Unfreiheit, wird geistige Freiheit selber unfrei, willfahrt dem gesellschaftlich präformierten Bedürfnis der Kundenschaft. Das Unverantwortliche, an sich Moment jeglicher Wahrheit, die sich nicht in der Verantwortung gegenüber dem Bestehenden verbraucht, verantwortet sich dann vor den Bedürfnissen des etablierten Bewußtseins; die schlechten Essays sind nicht weniger konformistisch als die schlechten Dissertationen. Verantwortung aber respektiert nicht nur Autoritäten und Gremien sondern auch die Sache. Daran jedoch, daß der schlechte Essay von Personen erzählt, anstatt die Sache aufzuschließen, ist die Form nicht unschuldig. Die Trennung von Wissenschaft und Kunst ist irreversibel. Bloß die Naivetät des Literaturfabrikanten nimmt von ihr keine Notiz, der sich wenigstens für ein Organisationsgenie hält und gute Kunstwerke zu schlechten verschrottet. Mit der Vergegenständlichung der Welt im Verlauf fortschreitender Entmythologisierung haben Wissenschaft und Kunst sich geschieden; ein Bewußtsein, dem Anschauung und Begriff, Bild und Zeichen eins wären, ist, wenn anders es je existierte, mit keinem Zauberschlag wiederherstellbar, und seine Restitution fiele zurück ins Chaotische. Nur als Vollendung des vermittelnden Prozesses wäre solches Bewußtsein zu denken, als Utopie, wie sie die idealistischen Philosophen seit Kant mit dem Namen der intellektuellen Anschauung bedachten, die versagte, wann immer aktuelle Erkenntnis auf sie sich berief. Wo Philosophie durch Anleihe bei der Dichtung das vergegenständlichende Denken und seine Geschichte, nach gewohnter Terminologie die Antithese von Subjekt und Objekt, meint abschaffen zu können und gar hofft, es spreche in einer aus Parmenides und Jungnickel montierten Poesie Sein selber, nähert sie eben damit sich dem ausgelaugten Kulturgeschwätz. Sie weigert sich mit als Urtümlichkeit zurechtgestutzter Bauernschläue, die Verpflichtung des begrifflichen Denkens zu honorieren, die sie doch unterschrieben hat, sobald sie Begriffe in Satz und Urteil verwandte, während ihr ästhetisches Element eines aus zweiter Hand, verdünnte Bildungsreminiszenz an Hölderlin oder den Expressionismus bleibt oder womöglich an den Jugendstil, weil kein Denken so schrankenlos und blind der Sprache sich anvertrauen kann, wie die Idee urtümlichen Sagens es vorgaukelt. Der Gewalttat, die dabei Bild und Begriff wechselseitig aneinander verüben, entspringt der Jargon der Eigentlichkeit, in dem Worte vor Ergriffenheit tremolieren, während sie verschweigen, worüber sie ergriffen sind. Die ambitiöse Transzendenz der Sprache über den Sinn hinaus mündet in eine Sinnleere, welche vom Positivismus spielend dingfest gemacht werden kann, dem man sich überlegen meint und dem man doch eben durch jene Sinnleere in die Hände arbeitet, die er kritisiert und die man mit seinen Spielmarken teilt. Unterm Bann solcher Entwicklungen nähert Sprache, wo sie in Wissenschaften überhaupt noch sich zu regen wagt, dem Kunstgewerbe sich an, und der Forscher bewährt, negativ, am ehesten ästhetische Treue, der gegen Sprache überhaupt sich sträubt und, anstatt das Wort zur bloßen Umschreibung seiner Zahlen zu erniedrigen, die Tabelle vorzieht, welche die Verdinglichung des Bewußtseins ohne Rückhalt einbekennt und damit für sie etwas wie Form findet ohne apologetische Anleihe bei der Kunst. Wohl war diese in die vorherrschende Tendenz der Aufklärung von je so verflochten, daß sie seit der Antike in ihrer Technik wissenschaftliche Funde verwertete. Aber die Quantität schlägt um in die Qualität. Wird Technik im Kunstwerk verabsolutiert; wird Konstruktion total und tilgt sie ihr Motivierendes und Entgegengesetztes, den Ausdruck; prätendiert also Kunst, unmittelbar Wissenschaft, richtig nach deren Maß zu sein, so sanktioniert sie die vorkünstlerische Stoffhuberei, sinnfremd wie nur das Seyn aus philosophischen Seminaren, und verbrüdert sich mit der Verdinglichung, gegen die wie immer auch stumm und selber dinghaft Einspruch zu erheben bis zum heutigen Tag die Funktion des Funktionslosen, der Kunst, war. Aber wie Kunst und Wissenschaft in Geschichte sich schieden, so ist ihr Gegensatz auch nicht zu hypostasieren. Der Abscheu vor der anachronistischen Vermischung heiligt nicht eine nach Sparten organisierte Kultur. In all ihrer Notwendigkeit beglaubigen jene Sparten institutionell doch auch den Verzicht auf die ganze Wahrheit. Die Ideale des Reinlichen und Säuberlichen, die dem Betrieb einer veritabeln, auf Ewigkeitswerte geeichten Philosophie, einer hieb- und stichfesten, lückenlos durchorganisierten Wissenschaft und einer begriffslos anschaulichen Kunst gemein sind, tragen die Spur repressiver Ordnung. Dem Geist wird eine Zuständigkeitsbescheinigung abverlangt, damit er nicht mit den kulturell bestätigten Grenzlinien die offizielle Kultur selber überschreite. Vorausgesetzt wird dabei, daß alle Erkenntnis potentiell in Wissenschaft sich umsetzen lasse. Die Erkenntnistheorien, welche das vorwissenschaftliche vom wissenschaftlichen Bewußtsein unterschieden, haben denn auch durchweg den Unterschied lediglich graduell aufgefaßt. Daß es aber bei der bloßen Versicherung jener Umsetzbarkeit blieb, ohne daß je im Ernst lebendiges Bewußtsein in wissenschaftliches verwandelt worden wäre, verweist auf das Prekäre des Übergangs selber, eine qualitative Differenz. Die einfachste Besinnung aufs Bewußtseinsleben könnte darüber belehren, wie wenig Erkenntnisse, die keineswegs unverbindliche Ahnungen sind, allesamt vom szientifischen Netz sich einfangen lassen. Das Werk Marcel Prousts, dem es so wenig wie Bergson am wissenschaftlichpositivistischen Element mangelt, ist ein einziger Versuch, notwendige und zwingende Erkenntnisse über Menschen und soziale Zusammenhänge auszusprechen, die nicht ohne weiteres von der Wissenschaft eingeholt werden können, während doch ihr Anspruch auf Objektivität weder gemindert noch der vagen Plausibilität ausgeliefert würde. Das Maß solcher Objektivität ist nicht die Verifizierung behaupteter Thesen durch ihre wiederholende Prüfung, sondern die in Hoffnung und Desillusion zusammengehaltene einzelmenschliche Erfahrung. Sie verleiht ihren Beobachtungen erinnernd durch Bestätigung oder Widerlegung Relief. Aber ihre individuell zusammengeschlossene Einheit, in der doch das Ganze erscheint, wäre nicht aufzuteilen und wieder zu ordnen unter die getrennten Personen und Apparaturen etwa von Psychologie und Soziologie. Proust hat, unter dem Druck des szientifischen Geistes und seiner auch dem Künstler latent allgegenwärtigen Desiderate, getrachtet, in einer selbst den Wissenschaften nachgebildeten Technik, einer Art von Versuchsanordnung, sei's zu retten, sei's wiederherzustellen, was in den Tagen des bürgerlichen Individualismus, da das individuelle Bewußtsein noch sich selbst vertraute und nicht vorweg unter organisatorischer Zensur sich ängstigte, als Erkenntnisse eines erfahrenen Mannes vom Typ jenes ausgestorbenen homme de lettres galt, den Proust als höchster Fall des Dilettanten nochmals beschwört. Keinem jedoch wäre es beigekommen, die Mitteilungen eines Erfahrenen, weil sie nur die seinen sind und nicht ohne weiteres wissenschaftlich sich generalisieren lassen, als unbeträchtlich, zufällig und irrational abzutun. Was aber von seinen Funden durch die wissenschaftlichen Maschen schlüpft, entgeht ganz gewiß der Wissenschaft selber. Als Geisteswissenschaft versagt sie, was sie dem Geist verspricht: dessen Gebilde von innen aufzuschließen. Der junge Schriftsteller, der auf Hochschulen lernen will, was ein Kunstwerk, was Sprachgestalt, was ästhetische Qualität, ja auch ästhetische Technik sei, wird meist bloß desultorisch etwas davon vernehmen, allenfalls Auskünfte erhalten, die von der jeweils zirkulierenden Philosophie fertig bezogen und dem Gehalt der in Rede stehenden Gebilde mehr oder minder willkürlich aufgeklatscht sind. Wendet er sich aber an die philosophische Ästhetik, so werden ihm Sätze eines Abstraktionsniveaus aufgedrängt, die weder mit den Gebilden, die er verstehen will, vermittelt sind, noch in Wahrheit eins mit dem Gehalt, nach dem er tastet. Für all das aber ist nicht die Arbeitsteilung des kosmos noetikos nach Kunst und Wissenschaft allein verantwortlich; nicht sind deren Demarkationslinien durch guten Willen und übergreifende Planung zu beseitigen. Sondern der unwiderruflich nach dem Muster von Naturbeherrschung und materieller Produktion gemodelte Geist begibt sich der Erinnerung an jenes überwundene Stadium, die ein zukünftiges verspricht, der Transzendenz gegenüber den verhärteten Produktionsverhältnissen, und das lähmt sein spezialistisches Verfahren gerade seinen spezifischen Gegenständen gegenüber. Im Verhältnis zur wissenschaftlichen Prozedur und ihrer philosophischen Grundlegung als Methode zieht der Essay, der Idee nach, die volle Konsequenz aus der Kritik am System. Selbst die empiristischen Lehren, welche der unabschließbaren, nicht antezipierbaren Erfahrung den Vorrang vor der festen begrifflichen Ordnung zumessen, bleiben insofern systematisch, als sie mehr oder minder konstant vorgestellte Bedingungen von Erkenntnis erörtern und diese in möglichst bruchlosem Zusammenhang entwickeln. Empirismus nicht weniger als Rationalismus war seit Bacon – selbst einem Essayisten – »Methode«. Der Zweifel an deren unbedingtem Recht ward in der Verfahrensweise des Denkens selber fast nur vom Essay realisiert. Er trägt dem Bewußtsein der Nichtidentität Rechnung, ohne es auch nur auszusprechen; radikal im Nichtradikalismus, in der Enthaltung von aller Reduktion auf ein Prinzip, im Akzentuieren des Partiellen gegenüber der Totale, im Stückhaften. »Vielleicht hat der große Sieur de Montaigne etwas Ähnliches empfunden, als er seinen Schriften die wunderbar schöne und treffende Bezeichnung ›Essais‹ gab. Denn eine hochmütige Courtoisie ist die einfache Bescheidenheit dieses Wortes. Der Essayist winkt den eigenen, stolzen Hoffnungen, die manchmal dem Letzten nahe gekommen zu sein wähnen, ab – es sind ja nur Erklärungen der Gedichte anderer, die er bieten kann und bestenfalls die der eigenen Begriffe. Aber ironisch fügt er sich in diese Kleinheit ein, in die ewige Kleinheit der tiefsten Gedankenarbeit dem Leben gegenüber und mit ironischer Bescheidenheit unterstreicht er sie noch.« 4 Der Essay pariert nicht der Spielregel organisierter Wissenschaft und Theorie, es sei, nach dem Satz des Spinoza, die Ordnung der Dinge die gleiche wie die der Ideen. Weil die lückenlose Ordnung der Begriffe nicht eins ist mit dem Seienden, zielt er nicht auf geschlossenen, deduktiven oder induktiven Aufbau. Er revoltiert zumal gegen die seit Platon eingewurzelte Doktrin, das Wechselnde, Ephemere sei der Philosophie unwürdig; gegen jenes alte Unrecht am Vergänglichen, wodurch es im Begriff nochmals verdammt wird. Er schreckt zurück vor dem Gewaltsamen des Dogmas: dem Resultat der Abstraktion, dem gegenüber dem darunter befaßten Individuellen zeitlich invarianten Begriff, gebühre ontologische Dignität. Der Trug, der ordo idearum wäre der ordo rerum, gründet in der Unterstellung eines Vermittelten als unmittelbar. So wenig ein bloß Faktisches ohne den Begriff gedacht werden kann, weil es denken immer schon es begreifen heißt, so wenig ist noch der reinste Begriff zu denken ohne allen Bezug auf Faktizität. Selbst die vermeintlich von Raum und Zeit befreiten Gebilde der Phantasie verweisen, wie immer auch abgeleitet, auf individuelles Dasein. Darum läßt sich der Essay von dem depravierten Tiefsinn nicht einschüchtern, Wahrheit und Geschichte stünden unvereinbar einander gegenüber. Hat Wahrheit in der Tat einen Zeitkern, so wird der volle geschichtliche Gehalt zu ihrem integralen Moment; das Aposteriori wird konkret zum Apriori, wie Fichte und seine Nachfolger nur generell es forderten. Die Beziehung auf Erfahrung – und ihr verleiht der Essay soviel Substanz wie die herkömmliche Theorie den bloßen Kategorien – ist die auf die ganze Geschichte; die bloß individuelle Erfahrung, mit welcher das Bewußtsein als mit dem ihr nächsten anhebt, ist selber vermittelt durch die übergreifende der historischen Menschheit; daß stattdessen diese mittelbar und das je Eigene das Unmittelbare sei, bloße Selbsttäuschung der individualistischen Gesellschaft und Ideologie. Die Geringschätzung des geschichtlich Produzierten als eines Gegenstandes der Theorie wird daher vom Essay revidiert. Die Unterscheidung einer ersten von einer bloßen Kulturphilosophie, welche jene voraussetze und auf ihr weiterbaue, mit der das Tabu über den Essay theoretisch sich rationalisiert, ist nicht zu retten. Eine Verfahrensweise des Geistes verliert ihre Autorität, welche die Scheidung von Zeitlichem und Zeitlosem als Kanon ehrt. Höhere Abstraktionsniveaus investieren den Gedanken weder mit höherer Weihe noch mit metaphysischem Gehalt; eher verflüchtigt sich dieser mit dem Fortgang der Abstraktion, und etwas davon möchte der Essay wiedergutmachen. Der geläufige Einwand gegen ihn, er sei stückhaft und zufällig, postuliert selber die Gegebenheit von Totalität, damit aber Identität von Subjekt und Objekt, und gebärdet sich, als wäre man des Ganzen mächtig. Der Essay aber will nicht das Ewige im Vergänglichen aufsuchen und abdestillieren, sondern eher das Vergängliche verewigen. Seine Schwäche zeugt von der Nichtidentität selber, die er auszudrücken hat; vom Überschuß der Intention über die Sache und damit jener Utopie, welche in der Gliederung der Welt nach Ewigem und Vergänglichem abgewehrt ist. Im emphatischen Essay entledigt sich der Gedanke der traditionellen Idee von der Wahrheit. Damit suspendiert er zugleich den traditionellen Begriff von Methode. Der Gedanke hat seine Tiefe danach, wie tief er in die Sache dringt, nicht danach, wie tief er sie auf ein anderes zurückführt. Das wendet der Essay polemisch, indem er behandelt, was nach den Spielregeln für abgeleitet gilt, ohne dessen endgültige Ableitung selber zu verfolgen. In Freiheit denkt er zusammen, was sich zusammenfindet in dem frei gewählten Gegenstand. Nicht kapriziert er sich auf ein Jenseits der Vermittlungen – und das sind die geschichtlichen, in denen die ganze Gesellschaft sedimentiert ist – sondern sucht die Wahrheitsgehalte als selber geschichtliche. Er fragt nach keiner Urgegebenheit, zum Tort der vergesellschafteten Gesellschaft, die, eben weil sie nichts duldet, was von ihr nicht geprägt ward, am letzten dulden kann, was an ihre eigene Allgegenwart erinnert, und notwendig als ideologisches Komplement jene Natur herbeizitiert, von der ihre Praxis nichts übrig läßt. Der Essay kündigt wortlos die Illusion, der Gedanke vermöchte aus dem, was thesei, Kultur ist, ausbrechen in das, was physei, von Natur sei. Gebannt vom Fixierten, eingestandenermaßen Abgeleiteten, von Gebilden, ehrt er die Natur, indem er bestätigt, daß sie den Menschen nicht mehr ist. Sein Alexandrinismus antwortet darauf, daß noch Flieder und Nachtigall, wo das universale Netz ihnen zu überleben etwa gestattet, durch ihre bloße Existenz glauben machen, das Leben lebte noch. Er verläßt die Heerstraße zu den Ursprüngen, die bloß zu dem Abgeleitetesten, dem Sein führt, der verdoppelnden Ideologie dessen, was ohnehin ist, ohne daß doch die Idee von Unmittelbarkeit ganz verschwände, die der Sinn von Vermittlung selbst postuliert. Alle Stufen des Vermittelten sind dem Essay unmittelbar, ehe er zu reflektieren sich anschickt. Wie er Urgegebenheiten verweigert, so verweigert er die Definition seiner Begriffe. Deren volle Kritik ist von der Philosophie unter den divergentesten Aspekten erreicht worden; bei Kant, bei Hegel, bei Nietzsche. Aber die Wissenschaft hat solche Kritik niemals sich zugeeignet. Während die mit Kant anhebende Bewegung, als eine gegen die scholastischen Residuen im modernen Denken, anstelle der Verbaldefinitionen das Begreifen der Begriffe aus dem Prozeß rückt, in dem sie gezeitigt werden, verharren die Einzelwissenschaften, um der ungestörten Sicherheit ihres Operierens willen, bei der vorkritischen Verpflichtung zu definieren; darin stimmen die Neopositivisten, denen die wissenschaftliche Methode Philosophie heißt, mit der Scholastik überein. Der Essay dafür nimmt den antisystematischen Impuls ins eigene Verfahren auf und führt Begriffe umstandslos, »unmittelbar« so ein, wie er sie empfängt. Präzisiert werden sie erst durch ihr Verhältnis zueinander. Dabei jedoch hat er eine Stütze an den Begriffen selber. Denn es ist bloßer Aberglaube der aufbereitenden Wissenschaft, die Begriffe wären an sich unbestimmt, würden bestimmt erst durch ihre Definition. Der Vorstellung des Begriffs als einer tabula rasa bedarf die Wissenschaft, um ihren Herrschaftsanspruch zu festigen; als den der Macht, welche einzig den Tisch besetzt. In Wahrheit sind alle Begriffe implizit schon konkretisiert durch die Sprache, in der sie stehen. Mit solchen Bedeutungen hebt der Essay an und treibt sie, selbst wesentlich Sprache, weiter; er möchte dieser in ihrem Verhältnis zu den Begriffen helfen, sie reflektierend so nehmen, wie sie bewußtlos in der Sprache schon genannt sind. Das ahnt das Verfahren der Bedeutungsanalyse in der Phänomenologie, nur daß es die Beziehung der Begriffe auf die Sprache zum Fetisch macht. Dazu steht der Essay ebenso skeptisch wie zu ihrer Definition. Er zieht ohne Apologie den Einwand auf sich, man wisse nicht über allem Zweifel, was man unter den Begriffen sich vorzustellen habe. Denn er durchschaut, daß das Verlangen nach strikten Definitionen längst dazu herhält, durch festsetzende Manipulationen der Begriffsbedeutungen das Irritierende und Gefährliche der Sachen wegzuschaffen, die in den Begriffen leben. Dabei jedoch kommt er weder ohne allgemeine Begriffe aus – auch die Sprache, die den Begriff nicht fetischisiert, kann seiner nicht entraten – noch geht er mit ihnen nach Belieben um. Die Darstellung nimmt er darum schwerer als die Methode und Sache sondernden, der Darstellung ihres vergegenständlichten Inhalts gegenüber gleichgültigen Verfahrensweisen. Das Wie des Ausdrucks soll an Präzision erretten, was der Verzicht aufs Umreißen opfert, ohne doch die gemeinte Sache an die Willkür einmal dekretierter Begriffsbedeutungen zu verraten. Darin war Benjamin der unerreichte Meister. Solche Präzision kann jedoch nicht atomistisch bleiben. Weniger nicht, sondern mehr als das definitorische Verfahren urgiert der Essay die Wechselwirkung seiner Begriffe im Prozeß geistiger Erfahrung. In ihr bilden jene kein Kontinuum der Operationen, der Gedanke schreitet nicht einsinnig fort, sondern die Momente verflechten sich teppichhaft. Von der Dichte dieser Verflechtung hängt die Fruchtbarkeit von Gedanken ab. Eigentlich denkt der Denkende gar nicht, sondern macht sich zum Schauplatz geistiger Erfahrung, ohne sie aufzudröseln. Während aus ihr auch dem traditionellen Denken seine Impulse zuwachsen, eliminiert es seiner Form nach die Erinnerung daran. Der Essay aber wählt sie als Vorbild, ohne sie, als reflektierte Form, einfach nachzuahmen; er vermittelt sie durch seine eigene begriffliche Organisation; er verfährt, wenn man will, methodisch unmethodisch. Wie der Essay die Begriffe sich zueignet, wäre am ehesten vergleichbar dem Verhalten von einem, der in fremdem Land gezwungen ist, dessen Sprache zu sprechen, anstatt schulgerecht aus Elementen sie zusammenzustümpern. Er wird ohne Diktionär lesen. Hat er das gleiche Wort, in stets wechselndem Zusammenhang, dreißigmal erblickt, so hat er seines Sinnes besser sich versichert, als wenn er die aufgezählten Bedeutungen nachgeschlagen hätte, die meist zu eng sind gegenüber dem Wechsel je nach dem Kontext, und zu vag gegenüber den unverwechselbaren Nuancen, die der Kontext in jedem einzelnen Fall stiftet. Wie freilich solches Lernen dem Irrtum exponiert bleibt, so auch der Essay als Form; für seine Affinität zur offenen geistigen Erfahrung hat er mit dem Mangel an jener Sicherheit zu zahlen, welchen die Norm des etablierten Denkens wie den Tod fürchtet. Nicht sowohl vernachlässigt der Essay die zweifelsfreie Gewißheit, als daß er ihr Ideal kündigt. Wahr wird er in seinem Fortgang, der ihn über sich hinaustreibt, nicht in schatzgräberischer Obsession mit Fundamenten. Seine Begriffe empfangen ihr Licht von einem ihm selbst verborgenen terminus ad quem, nicht von einem offenbaren terminus a quo, und darin drückt seine Methode selber die utopische Intention aus. Alle seine Begriffe sind so darzustellen, daß sie einander tragen, daß ein jeglicher sich artikuliert je nach den Konfigurationen mit anderen. In ihm treten diskret gegeneinander abgesetzte Elemente zu einem Lesbaren zusammen; er erstellt kein Gerüst und keinen Bau. Als Konfiguration aber kristallisieren sich die Elemente durch ihre Bewegung. Jene ist ein Kraftfeld, so wie unterm Blick des Essays jedes geistige Gebilde in ein Kraftfeld sich verwandeln muß.
Der Essay fordert das Ideal der clara et distincta perceptio und der zweifelsfreien Gewißheit sanft heraus. Insgesamt wäre er zu interpretieren als Einspruch gegen die vier Regeln, die Descartes' Discours de la méthode am Anfang der neueren abendländischen Wissenschaft und ihrer Theorie aufrichtet. Die zweite jener Regeln, die Zerlegung des Objekts in »so viele Teile ... als nur möglich und als erforderlich sein würde, um sie in der besten Weise aufzulösen« 5 , entwirft jene Elementaranalyse, in deren Zeichen die traditionelle Theorie die begrifflichen Ordnungsschemata und die Struktur des Seins einander gleichsetzt. Der Gegenstand des Essays aber, die Artefakte, versagen sich der Elementaranalyse und sind einzig aus ihrer spezifischen Idee zu konstruieren; nicht umsonst hat darin Kant Kunstwerke und Organismen analog behandelt, obwohl er sie zugleich so unbestechlich wider allen romantischen Obskurantismus unterschied. Ebensowenig ist die Ganzheit als Erstes zu hypostasieren wie das Produkt der Analyse, die Elemente. Beidem gegenüber orientiert sich der Essay an der Idee jener Wechselwirkung, welche streng die Frage nach Elementen so wenig duldet wie die nach dem Elementaren. Weder sind die Momente rein aus dem Ganzen zu entwickeln noch umgekehrt. Es ist Monade, und doch keine; seine Momente, als solche begrifflicher Art, weisen über den spezifischen Gegenstand hinaus, in dem sie sich versammeln. Aber der Essay verfolgt sie nicht dorthin, wo sie sich jenseits des spezifischen Gegenstandes legitimierten: sonst geriete er in schlechte Unendlichkeit. Sondern er rückt dem hic et nunc des Gegenstandes so nah, bis er in die Momente sich dissoziiert, in denen er sein Leben hat, anstatt bloß Gegenstand zu sein. Die dritte Cartesianische Regel, »der Ordnung nach meine Gedanken zu leiten, also bei den einfachsten und am leichtesten zu erkennenden Gegenständen zu beginnen, um nach und nach sozusagen gradweise bis zur Erkenntnis der zusammengesetztesten aufzusteigen«, widerspricht schroff der Essayform insofern, als diese vom Komplexesten ausgeht, nicht vom Einfachsten, allemal vorweg Gewohnten. Sie läßt sich nicht beirren im Verhalten dessen, der Philosophie zu studieren beginnt und dem dabei ihre Idee irgend schon vor Augen steht. Er wird kaum zuerst die simpelsten Schriftsteller lesen, deren common sense meist dahinplätschert, wo zu verweilen wäre, sondern eher nach den angeblich schwierigen greifen, die dann ihr Licht rückwärts aufs Einfache werfen und es erhellen als eine »Stellung des Gedankens zur Objektivität«. Die Naivetät des Studenten, dem das Schwierige und Formidable gerade gut genug dünkt, ist weiser als die erwachsene Pedanterie, die mit drohendem Finger den Gedanken ermahnt, er solle das Einfache kapieren, ehe er an jenes Komplexe sich wage, das doch allein ihn reizt. Solche Vertagung der Erkenntnis verhindert sie bloß. Dem convenu der Verständlichkeit, der Vorstellung von der Wahrheit als einem Wirkungszusammenhang gegenüber, nötigt der Essay dazu, die Sache mit dem ersten Schritt so vielschichtig zu denken, wie sie ist. Korrektiv jener verstockten Primitivität, die der gängigen ratio allemal sich gesellt. Wenn die Wissenschaft das Schwierige und Komplexe einer antagonistischen und monadologisch aufgespaltenen Realität nach ihrer Sitte fälschend auf vereinfachende Modelle bringt und diese dann nachträglich, durch vorgebliches Material, differenziert, so schüttelt der Essay die Illusion einer einfachen, im Grunde selber logischen Welt ab, die zur Verteidigung des bloß Seienden so gut sich schickt. Seine Differenziertheit ist kein Zusatz sondern sein Medium. Gern rechnet das etablierte Denken sie der bloßen Psychologie der Erkennenden zu und meint dadurch ihr Verpflichtendes abzufertigen. Die wissenschaftlichen Brusttöne gegen Übergescheitheit gelten in Wahrheit nicht der vorwitzig unzuverlässigen Methode, sondern dem Befremdenden an der Sache, das sie erscheinen läßt. Unverändert kehrt die vierte Cartesianische Regel, man »solle überall so vollzählige Aufzählungen und so allgemeine Übersichten anstellen«, daß man »sicher wäre, nichts auszulassen«, das eigentlich systematische Prinzip, wieder noch in Kants Polemik gegen das »rhapsodistische« Denken des Aristoteles. Sie entspricht dem Vorwurf gegen den Essay, er sei, nach der Rede der Schulmeister, nicht erschöpfend, während jeder Gegenstand, und gewiß der geistige, unendlich viele Aspekte in sich schließt, über deren Auswahl nichts anderes entscheidet als die Intention des Erkennenden. Nur dann wäre die »allgemeine Übersicht« möglich, wenn vorweg feststünde, daß der zu behandelnde Gegenstand in den Begriffen seiner Behandlung aufgeht; daß nichts übrig bleibt, was von diesen her nicht zu antezipieren wäre. Die Regel von der Vollständigkeit der einzelnen Glieder aber prätendiert, im Gefolge jener ersten Annahme, daß der Gegenstand in lückenlosem Deduktionszusammenhang sich darstellen lasse: eine identitätsphilosophische Supposition. Wie in der Forderung von Definition hat die Cartesianische Regel, als denkpraktische Anweisung, das rationalistische Theorem überlebt, auf dem sie beruhte; umfassende Übersicht und Kontinuität der Darstellung wird auch der empirisch offenen Wissenschaft zugemutet. Dadurch verwandelt sich, was bei Descartes als intellektuelles Gewissen über die Notwendigkeit der Erkenntnis wachen will, in Willkür, die eines »frame of reference«, einer Axiomatik, die zur Befriedigung des methodischen Bedürfnisses und um der Plausibilität des Ganzen an den Anfang gestellt werden soll, ohne daß sie selbst ihre Gültigkeit oder Evidenz mehr dartun könnte, oder, in der deutschen Version, eines »Entwurfs«, der mit dem Pathos, aufs Sein selber zu gehen, seine subjektiven Bedingungen bloß unterschlägt. Die Forderung der Kontinuität der Gedankenführung präjudiziert tendenziell schon die Stimmigkeit im Gegenstand, dessen eigene Harmonie. Kontinuierliche Darstellung widerspräche einer antagonistischen Sache, solange sie nicht die Kontinuität zugleich als Diskontinuität bestimmte. Unbewußt und theoriefern meldet im Essay als Form das Bedürfnis sich an, die theoretisch überholten Ansprüche der Vollständigkeit und Kontinuität auch in der konkreten Verfahrungsweise des Geistes zu annullieren. Sträubt er sich ästhetisch gegen die engherzige Methode, die nur ja nichts auslassen will, so gehorcht er einem erkenntniskritischen Motiv. Die romantische Konzeption des Fragments als eines nicht vollständigen sondern durch Selbstreflexion ins Unendliche weiterschreitenden Gebildes verficht dies antiidealistische Motiv inmitten des Idealismus. Auch in der Art des Vortrags darf der Essay nicht so tun, als hätte er den Gegenstand abgeleitet, und von diesem bliebe nichts mehr zu sagen. Seiner Form ist deren eigene Relativierung immanent: er muß so sich fügen, als ob er immer und stets abbrechen könnte. Er denkt in Brüchen, so wie die Realität brüchig ist, und findet seine Einheit durch die Brüche hindurch, nicht indem er sie glättet. Einstimmigkeit der logischen Ordnung täuscht über das antagonistische Wesen dessen, dem sie aufgestülpt ward. Diskontinuität ist dem Essay wesentlich, seine Sache stets ein stillgestellter Konflikt. Während er die Begriffe aufeinander abstimmt vermöge ihrer Funktion im Kräfteparallelogramm der Sachen, scheut er zurück vor dem Obergriff, dem sie gemeinsam unterzuordnen wären; was dieser zu leisten bloß vortäuscht, weiß seine Methode als unlösbar und sucht es gleichwohl zu leisten. Das Wort Versuch, in dem die Utopie des Gedankens, ins Schwarze zu treffen, mit dem Bewußtsein der eigenen Fehlbarkeit und Vorläufigkeit sich vermählt, erteilt, wie meist geschichtlich überdauernde Terminologien, einen Bescheid über die Form, der um so schwerer wiegt, als er nicht programmatisch sondern als Charakteristik der tastenden Intention erfolgt. Der Essay muß an einem ausgewählten oder getroffenen partiellen Zug die Totalität aufleuchten lassen, ohne daß diese als gegenwärtig behauptet würde. Er korrigiert das Zufällige und Vereinzelte seiner Einsichten, indem sie, sei es in seinem eigenen Fortgang, sei es im mosaikhaften Verhältnis zu anderen Essays, sich vervielfachen, bestätigen, einschränken; nicht durch Abstraktion auf die aus ihnen abgezogenen Merkmaleinheiten. »So unterscheidet sich also ein Essay von einer Abhandlung. Essayistisch schreibt, wer experimentierend verfaßt, wer also seinen Gegenstand hin und her wälzt, befragt, betastet, prüft, durchreflektiert, wer von verschiedenen Seiten auf ihn losgeht und in seinem Geistesblick sammelt, was er sieht, und verwortet, was der Gegenstand unter den im Schreiben geschaffenen Bedingungen sehen läßt.« 6 Das Unbehagen an dieser Prozedur; das Gefühl, es könne nach Belieben so weiter gehen, hat seine Wahrheit und seine Unwahrheit. Seine Wahrheit, weil der Essay in der Tat nicht schließt und das Unvermögen dazu als Parodie seines eigenen Apriori hervorkehrt; als Schuld wird ihm dann das aufgebürdet, was eigentlich jene Formen verschulden, welche die Spur der Beliebigkeit verwischen. Unwahr aber ist jenes Unbehagen, weil die Konstellation des Essays doch nicht derart beliebig ist, wie es einem philosophischen Subjektivismus dünkt, der den Zwang der Sache in den der begrifflichen Ordnung verlegt. Ihn determiniert die Einheit seines Gegenstandes samt der von Theorie und Erfahrung, die in den Gegenstand eingewandert sind. Seine Offenheit ist keine vage von Gefühl und Stimmung, sondern wird konturiert durch seinen Gehalt. Er sträubt sich gegen die Idee des Hauptwerks, welche selber die von Schöpfung und Totalität widerspiegelt. Seine Form kommt dem kritischen Gedanken nach, daß der Mensch kein Schöpfer, daß nichts Menschliches Schöpfung sei. Weder tritt der Essay selbst, stets bezogen auf schon Geschaffenes, als solche auf, noch begehrt er ein Allumfassendes, dessen Totalität der der Schöpfung gliche. Seine Totalität, die Einheit einer in sich auskonstruierten Form, ist die des nicht Totalen, eine, die auch als Form nicht die These der Identität von Gedanken und Sache behauptet, die sie inhaltlich verwirft. Die Befreiung vom Identitätszwang schenkt dem Essay zuweilen, was dem offiziellen Denken entgleitet, das Moment des Unauslöschlichen, der untilgbaren Farbe. Gewisse Fremdwörter bei Simmel – Cachet, Attitude – verraten diese Intention, ohne daß sie selber theoretisch behandelt würde. Er ist offener und geschlossener zugleich, als dem traditionellen Denken gefällt. Offener insofern, als er Systematik durch seine Anlage negiert und sich selbst um so besser genügt, je strenger er es damit hält; systematische Residuen in Essays, etwa die Infiltration literarischer Studien mit fertig bezogenen, verbreiteten Philosophemen, durch die sie sich respektabel machen wollen, taugen nicht mehr als psychologische Trivialitäten. Geschlossener aber ist der Essay, weil er an der Form der Darstellung emphatisch arbeitet. Das Bewußtsein der Nichtidentität von Darstellung und Sache nötigt jene zur unbeschränkten Anstrengung. Das allein ist das Kunstähnliche des Essays; sonst ist er vermöge der in ihm vorkommenden Begriffe, die ja selber von draußen nicht nur ihre Bedeutung sondern auch ihren theoretischen Bezug mitbringen, notwendig der Theorie verwandt. Freilich verhält er zu ihr sich so vorsichtig wie zum Begriff. Weder leitet er sich bündig aus ihr ab – der Kardinalfehler aller späteren essayistischen Arbeiten von Lukács – noch ist er Abschlagszahlung auf kommende Synthesen. Unheil droht der geistigen Erfahrung, je angestrengter sie zu Theorie sich verfestigt und gebärdet, als habe sie den Stein der Weisen in Händen. Gleichwohl strebt geistige Erfahrung selbst dem eigenen Sinn nach solcher Objektivierung zu. Diese Antinomie wird vom Essay gespiegelt. Wie er Begriffe und Erfahrungen von draußen absorbiert, so auch Theorien. Nur ist sein Verhältnis zu ihnen nicht das des Standpunkts. Ist die Standpunktlosigkeit des Essays nicht länger naiv und der Prominenz ihrer Gegenstände hörig; nutzt er vielmehr die Beziehung auf seine Gegenstände als Mittel wider den Bann des Anfangs, so verwirklicht er parodisch gleichsam die sonst nur ohnmächtige Polemik des Denkens gegen bloße Standpunktphilosophie. Er zehrt die Theorien auf, die ihm nah sind; seine Tendenz ist stets die zur Liquidation der Meinung, auch der, mit der er selbst anhebt. Er ist, was er von Beginn war, die kritische Form par excellence; und zwar, als immanente Kritik geistiger Gebilde, als Konfrontation dessen, was sie sind, mit ihrem Begriff, Ideologiekritik. »Der Essay ist die Form der kritischen Kategorie unseres Geistes. Denn wer kritisiert, der muß mit Notwendigkeit experimentieren, er muß Bedingungen schaffen, unter denen ein Gegenstand erneut sichtbar wird, noch anders als bei einem Autor, und vor allem muß jetzt die Hinfälligkeit des Gegenstandes erprobt, versucht werden, und eben dies ist ja der Sinn der geringen Variation, die ein Gegenstand durch seinen Kritiker erfährt.« 7 Wird dem Essay, weil er keinen außerhalb seiner selbst liegenden Standpunkt einbekennt, Standpunktlosigkeit und Relativismus vorgeworfen, so ist dabei eben jene Vorstellung von der Wahrheit als einem »Fertigen«, einer Hierarchie von Begriffen im Spiel, die Hegel zerstörte, der Standpunkte nicht mochte: darin berührt sich der Essay mit seinem Extrem, der Philosophie des absoluten Wissens. Er möchte den Gedanken von seiner Willkür heilen, indem er sie reflektierend ins eigene Verfahren hineinnimmt, anstatt sie als Unmittelbarkeit zu maskieren. Jene Philosophie freilich blieb behaftet mit der Inkonsequenz, daß sie zugleich den abstrakten Oberbegriff, das bloße »Resultat«, im Namen des in sich diskontinuierlichen Prozesses kritisierte und doch, nach idealistischer Sitte, von dialektischer Methode redete. Darum ist der Essay dialektischer als die Dialektik dort, wo sie selbst sich vorträgt. Er nimmt die Hegelsche Logik beim Wort: weder darf unmittelbar die Wahrheit der Totalität gegen die Einzelurteile ausgespielt noch die Wahrheit zum Einzelurteil verendlicht werden, sondern der Anspruch der Singularität auf Wahrheit wird buchstäblich genommen bis zur Evidenz ihrer Unwahrheit. Das Gewagte, Vorgreifende, nicht ganz Eingelöste jedes essayistischen Details zieht als Negation andere herbei; die Unwahrheit, in die wissend der Essay sich verstrickt, ist das Element seiner Wahrheit. Unwahres liegt gewiß auch in seiner bloßen Form, der Beziehung auf kulturell Vorgeformtes, Abgeleitetes, als wäre es an sich. Je energischer er aber den Begriff eines Ersten suspendiert und sich weigert, Kultur aus Natur herauszuspinnen, um so gründlicher erkennt er das naturwüchsige Wesen von Kultur selber. Bis zum heutigen Tag perpetuiert sich in ihr der blinde Naturzusammenhang, der Mythos, und darauf gerade reflektiert der Essay: das Verhältnis von Natur und Kultur ist sein eigentliches Thema. Nicht umsonst versenkt er, anstatt sie zu »reduzieren«, sich in Kulturphänomene als in zweite Natur, zweite Unmittelbarkeit, um durch Beharrlichkeit deren Illusion aufzuheben. Er täuscht sich so wenig wie die Ursprungsphilosophie über die Differenz zwischen Kultur und darunter Liegendem. Aber ihm ist Kultur kein zu destruierendes Epiphänomen über dem Sein, sondern das darunter Liegende selbst ist thesei, die falsche Gesellschaft. Darum gilt ihm der Ursprung nicht für mehr als der Überbau. Seine Freiheit in der Wahl der Gegenstände, seine Souveränität gegenüber allen priorities von Faktum oder Theorie verdankt er dem, daß ihm gewissermaßen alle Objekte gleich nah zum Zentrum sind: zu dem Prinzip, das alle verhext. Er glorifiziert nicht die Befassung mit Ursprünglichem als ursprünglicher denn die mit Vermitteltem, weil ihm die Ursprünglichkeit selber Gegenstand der Reflexion, ein Negatives ist. Das entspricht einer Situation, in der Ursprünglichkeit, als Standpunkt des Geistes inmitten der vergesellschafteten Welt, zur Lüge ward. Sie erstreckt sich von der Erhebung historischer Begriffe aus historischen Sprachen zu Urworten bis zum akademischen Unterricht in »creative writing« und zu der gewerbsmäßig betriebenen Primitivität, zu Blockflöten und finger painting, in denen die pädagogische Not sich als metaphysische Tugend geriert. Der Gedanke ist nicht verschont von Baudelaires Rebellion der Dichtung gegen Natur als gesellschaftliches Reservat. Auch die Paradiese des Gedankens sind einzig noch die künstlichen, und in ihnen ergeht sich der Essay. Weil, nach Hegels Diktum, nichts zwischen Himmel und Erde ist, was nicht vermittelt wäre, hält der Gedanke der Idee von Unmittelbarkeit Treue nur durchs Vermittelte hindurch, während er dessen Beute wird, sobald er unvermittelt das Unvermittelte ergreift. Listig macht der Essay sich fest in die Texte, als wären sie schlechterdings da und hätten Autorität. So bekommt er, ohne den Trug des Ersten, einen wie immer auch dubiosen Boden unter die Füße, vergleichbar der einstigen theologischen Exegese von Schriften. Die Tendenz jedoch ist die entgegengesetzte, die kritische: durch Konfrontation der Texte mit ihrem eigenen emphatischen Begriff, mit der Wahrheit, die ein jeder meint, auch wenn er sie nicht meinen will, den Anspruch von Kultur zu erschüttern und sie zum Eingedenken ihrer Unwahrheit zu bewegen, eben jenes ideologischen Scheins, in dem Kultur als naturverfallen sich offenbart. Unterm Blick des Essays wird die zweite Natur ihrer selbst inne als erste. Bewegt sich die Wahrheit des Essays durch seine Unwahrheit, so ist sie nicht im bloßen Gegensatz zu seinem Unehrlichen und Verfemten aufzusuchen sondern in diesem selber, seiner Mobilität, seinem Mangel an jenem Soliden, dessen Forderung die Wissenschaft von Eigentumsverhältnissen auf den Geist transferierte. Die den Geist glauben gegen Unsolidität verteidigen zu müssen, sind seine Feinde: Geist selber, einmal emanzipiert, ist mobil. Sobald er mehr will als bloß die administrative Wiederholung und Aufbereitung des je schon Seienden, hat er etwas Ungedecktes; die vom Spiel verlassene Wahrheit wäre nur noch Tautologie. Historisch ist denn auch der Essay der Rhetorik verwandt, welcher die wissenschaftliche Gesinnung seit Descartes und Bacon den Garaus machen wollte, bis sie folgerecht im wissenschaftlichen Zeitalter zur Wissenschaft sui generis, der von den Kommunikationen, herabsank. Wohl war Rhetorik stets schon der Gedanke in seiner Anpassung an die kommunikative Sprache. Er zielte auf die unmittelbare: die Ersatzbefriedigung der Hörer. Der Essay nun bewahrt gerade in der Autonomie der Darstellung, durch die er von wissenschaftlicher Mitteilung sich unterscheidet, Spuren des Kommunikativen, deren jene enträt. Die Befriedigungen, welche Rhetorik dem Hörer bereiten will, werden im Essay sublimiert zur Idee des Glücks einer Freiheit dem Gegenstand gegenüber, welche diesem mehr von dem seinen gibt, als wenn er unbarmherzig der Ordnung der Ideen eingegliedert würde. Das szientifische Bewußtsein, gerichtet gegen jegliche anthropomorphistische Vorstellung, war von je mit dem Realitätsprinzip verbündet und glücksfeindlich gleich diesem. Während Glück der Zweck aller Naturbeherrschung sein soll, stellt es dieser zugleich immer als Regression in bloße Natur sich dar. Das zeigt sich bis in die höchsten Philosophien, bis in Kant und Hegel hinein. Die Vernunft, an deren absoluter Idee sie ihr Pathos haben, wird zugleich von ihnen als naseweis und respektlos angeschwärzt, sobald sie Geltendes relativiert. Gegen diesen Hang errettet der Essay ein Moment der Sophistik. Spürbar ist die Glücksfeindschaft des offiziell kritischen Gedankens zumal in Kants transzendentaler Dialektik, welche die Grenze zwischen Verstand und Spekulation verewigen möchte und, nach der charakteristischen Metapher, das »Ausschweifen in intelligible Welten« verhindern. Während die Vernunft, die sich selbst kritisiert, bei Kant mit beiden Füßen fest auf dem Boden stehen, sich selbst begründen soll, dichtet sie sich dem innersten Prinzip nach ab gegen jegliches Neue und gegen die auch von der Existentialontologie beschimpfte Neugier, das Lustprinzip des Gedankens. Was Kant inhaltlich als den Zweck der Vernunft einsieht, die Herstellung der Menschheit, die Utopie, wird von der Form, der Erkenntnistheorie her verwehrt, welche der Vernunft es nicht gestattet, über den Bereich der Erfahrung hinauszugehen, der im Mechanismus von bloßem Material und unveränderlicher Kategorie zu dem zusammenschrumpft, was von je schon war. Gegenstand des Essays jedoch ist das Neue als Neues, nicht ins Alte der bestehenden Formen Zurückübersetzbares. Indem er den Gegenstand gleichsam gewaltlos reflektiert, klagt er stumm darüber, daß die Wahrheit das Glück verriet und mit ihm auch sich selbst; und diese Klage reizt zur Wut auf den Essay. Das Überredende der Kommunikation wird an ihm, analog dem Funktionswechsel mancher Züge in der autonomen Musik, seinem ursprünglichen Zweck entfremdet und zur reinen Bestimmung der Darstellung an sich, dem Bezwingenden ihrer Konstruktion, die nicht die Sache abbilden sondern aus ihren begrifflichen membra disiecta wiederherstellen möchte. Die anstößigen Übergänge der Rhetorik aber, in denen Assoziation, Mehrdeutigkeit der Worte, Nachlassen der logischen Synthesis es dem Hörer leicht machten und den Geschwächten dem Willen des Redners unterjochten, werden im Essay mit dem Wahrheitsgehalt verschmolzen. Seine Übergänge desavouieren die bündige Ableitung zugunsten von Querverbindungen der Elemente, für welche die diskursive Logik keinen Raum hat. Er benutzt Äquivokationen nicht aus Schlamperei, nicht in Unkenntnis ihres szientifischen Verbots, sondern um heimzubringen, wozu die Äquivokationskritik, die bloße Trennung der Bedeutungen selten gelangt: daß überall, wo ein Wort Verschiedenes deckt, das Verschiedene nicht ganz verschieden sei, sondern daß die Einheit des Worts an eine wie sehr auch verborgene in der Sache mahnt, ohne daß freilich diese, nach dem Brauch gegenwärtiger restaurativer Philosophien, mit Sprachverwandtschaften verwechselt werden dürfte. Auch darin streift der Essay die musikalische Logik, die stringente und doch begriffslose Kunst des Übergangs, um der redenden Sprache etwas zuzueignen, was sie unter der Herrschaft der diskursiven Logik einbüßte, die sich doch nicht überspringen, bloß in ihren eigenen Formen überlisten läßt kraft des eindringenden subjektiven Ausdrucks. Denn der Essay befindet sich nicht im einfachen Gegensatz zum diskursiven Verfahren. Er ist nicht unlogisch; gehorcht selber logischen Kriterien insofern, als die Gesamtheit seiner Sätze sich stimmig zusammenfügen muß. Keine bloßen Widersprüche dürfen stehenbleiben, es sei denn, sie würden als solche der Sache begründet. Nur entwickelt er die Gedanken anders als nach der diskursiven Logik. Weder leitet er aus einem Prinzip ab noch folgert er aus kohärenten Einzelbeobachtungen. Er koordiniert die Elemente, anstatt sie zu subordinieren; und erst der Inbegriff seines Gehalts, nicht die Art von dessen Darstellung ist den logischen Kriterien kommensurabel. Ist der Essay, im Vergleich zu den Formen, in denen ein fertiger Inhalt indifferent mitgeteilt wird, vermöge der Spannung zwischen Darstellung und Dargestelltem, dynamischer als das traditionelle Denken, so ist er zugleich, als konstruiertes Nebeneinander, statischer. Darin allein beruht seine Affinität zum Bild, nur daß jene Statik selber eine von gewissermaßen stillgestellten Spannungsverhältnissen ist. Die leise Nachgiebigkeit der Gedankenführung des Essayisten zwingt ihn zu größerer Intensität als der des diskursiven Gedankens, weil der Essay nicht gleich diesem blind, automatisiert verfährt, sondern in jedem Augenblick auf sich selber reflektieren muß. Diese Reflexion freilich erstreckt sich nicht nur auf sein Verhältnis zum etablierten Denken sondern ebenso auch auf das zu Rhetorik und Kommunikation. Sonst wird, was überwissenschaftlich sich dünkt, eitel vorwissenschaftlich. Die Aktualität des Essays ist die des Anachronistischen. Die Stunde ist ihm ungünstiger als je. Er wird zerrieben zwischen einer organisierten Wissenschaft, in der alle sich anmaßen, alle und alles zu kontrollieren, und die, was nicht auf den Consens zugeschnitten ist, mit dem scheinheiligen Lob des Intuitiven oder Anregenden aussperrt; und einer Philosophie, die mit dem leeren und abstrakten Rest dessen vorlieb nimmt, was der Wissenschaftsbetrieb noch nicht besetzte und was ihr eben dadurch Objekt von Betriebsamkeit zweiten Grades wird. Der Essay jedoch hat es mit dem Blinden an seinen Gegenständen zu tun. Er möchte mit Begriffen aufsprengen, was in Begriffe nicht eingeht oder was durch die Widersprüche, in welche diese sich verwickeln, verrät, das Netz ihrer Objektivität sei bloß subjektive Veranstaltung. Er möchte das Opake polarisieren, die darin latenten Kräfte entbinden. Er bemüht sich um die Konkretion des in Raum und Zeit bestimmten Gehalts; konstruiert das Zusammengewachsensein der Begriffe derart, wie sie als im Gegenstand selbst zusammengewachsen vorgestellt werden. Er entschlüpft dem Diktat der Attribute, welche seit der Definition des Symposions den Ideen zugeschrieben werden, »ewig seiend und weder werdend noch vergehend, weder wechselnd noch abnehmend«; »ein um sich selbst für sich selbst ewig eingestaltiges Sein«; und bleibt doch Idee, indem er vor der Last des Seienden nicht kapituliert, nicht dem sich beugt, was bloß ist. Aber er mißt es nicht an einem Ewigen, sondern eher an einem enthusiastischen Fragment aus Nietzsches Spätzeit: »Gesetzt, wir sagen Ja zu einem einzigen Augenblick, so haben wir damit nicht nur zu uns selbst, sondern zu allem Dasein Ja gesagt. Denn es steht Nichts für sich, weder in uns selbst noch in den Dingen: und wenn nur ein einziges Mal unsere Seele wie eine Saite vor Glück gezittert und getönt hat, so waren alle Ewigkeiten nöthig, um dies eine Geschehen zu bedingen – und alle Ewigkeit war in diesem einzigen Augenblick unseres Jasagens gutgeheißen, erlöst, gerechtfertigt und bejaht.« 8 Nur daß der Essay noch solcher Rechtfertigung und Bejahung mißtraut. Für das Glück, das Nietzsche heilig war, weiß er keinen anderen Namen als den negativen. Selbst die höchsten Manifestationen des Geistes, die es ausdrücken, sind immer auch verstrickt in die Schuld, es zu hintertreiben, solange sie bloßer Geist bleiben. Darum ist das innerste Formgesetz des Essays die Ketzerei. An der Sache wird durch Verstoß gegen die Orthodoxie des Gedankens sichtbar, was unsichtbar zu halten insgeheim deren objektiven Zweck ausmacht. Fußnoten
1 Georg von Lukács, Die Seele und die Formen, Berlin 1911, S. 29.
2 Vgl. Lukács, a.a.O., S. 23: »Der Essay spricht immer von etwas bereits Geformtem, oder bestenfalls von etwas schon einmal Dagewesenem, es gehört also zu seinem Wesen, daß er nicht neue Dinge aus einem leeren Nichts heraushebt, sondern bloß solche, die schon irgendwann lebendig waren, aufs neue ordnet. Und weil er sie nur aufs neue ordnet, nicht aus dem Formlosen etwas Neues formt, ist er auch an sie gebunden, muß er immer ›die Wahrheit‹ über sie aussprechen. Ausdruck für ihr Wesen finden.«
6 Max Bense, Über den Essay und seine Prosa, in: Merkur 1 (1947), S. 418.
7 Bense, a.a.O., S. 420.
8 Friedrich Nietzsche, Werke, Bd. 10, Leipzig 1906, S. 206 (Der Wille zur Macht II, § 1032). Über epische Naivetät
»Und wie erfreulich das Land herschwimmenden Männern erscheinet, / Welchen Poseidons Macht das rüstige Schiff in der Meerflut / Schmetterte, durch die Gewalt des Orkans und geschwollener Brandung; / ... Freudig anjetzt ersteigen sie Land, dem Verderben entronnen, / So war ihr auch erfreulich der Anblick ihres Gemahls, / Und fest hielt um den Hals sie die Lilienarme geschlungen.« 1 Mißt man die Odyssee an diesen Versen, dem Gleichnis für das Glück der wieder vereinten Gatten, nicht als an einer bloß eingeschobenen Metapher sondern als an dem gegen Ende der Erzählung nackt erscheinenden Gehalt, so wäre sie nichts anderes als der Versuch, dem stets erneuten Anschlagen des Meeres auf die Felsenküste nachzuhorchen, geduldig nachzuzeichnen, wie das Wasser die Klippen überflutet, um rauschend von ihnen zurückzuströmen und in tieferer Farbe das Feste leuchten zu lassen. Solches Rauschen ist der Laut der epischen Rede, in dem das Eindeutige und Feste mit dem Vieldeutigen und Verfließenden zusammentrifft, um davon gerade sich zu scheiden. Die gestaltlose Flut des Mythos ist das Immergleiche, das Telos der Erzählung jedoch das Verschiedene, und die mitleidslos strenge Identität, in der der epische Gegenstand festgehalten wird, dient gerade dazu, dessen Nichtidentität mit dem schlecht Identischen, dem unartikulierten Einerlei, seine Verschiedenheit selber, zu vollziehen. Die Epopöe will berichten von etwas Berichtenswertem, von einem, das nicht allem andern gleicht, nicht vertauschbar ist und um seines Namens willen verdient, überliefert zu werden. Weil jedoch der Erzähler der Welt des Mythos als seinem Stoff zugewandt ist, war sein Beginnen, heute mit Unmöglichkeit geschlagen, stets schon widerspruchsvoll. Denn der Mythos, dem die rationale und kommunikative Rede des Erzählers samt ihrer subsumierenden Logik, welche alles Berichtete gleichmacht, als dem Konkreten nachhängt, dem, was von der nivellierenden Ordnung des Begriffssystems noch verschieden wäre – solcher Mythos ist gerade selber doch von der Wesensart der Immergleichheit, die in der ratio zum Bewußtsein ihrer selbst erwachte. Der Erzähler war von jeher der, welcher der universalen Fungibilität widersteht, aber was er in der Geschichte bis auf den heutigen Tag zu berichten hat, war immer schon das Fungible. Aller Epik wohnt daher ein anachronistisches Element inne: dem homerischen Archaismus jener Anrufung der Muse, die helfen soll, das Ungeheure zu vermelden, ebenso wie den verzweifelten. Anstrengungen des späten Goethe und Stifters, bürgerliche Verhältnisse als urtümliche, dem unaustauschbaren Wort gleichwie einem Namen offene Wirklichkeit zu fingieren. Dieser Widerspruch aber hat sich, seit es große Epik gibt, in der Verhaltensweise des Erzählers niedergeschlagen als das Element epischer Dichtung, das man als Gegenständlichkeit hervorzuheben pflegt. Gegenüber dem aufgeklärten Bewußtseinsstand, dem die erzählende Rede angehört, dem allgemeinbegrifflichen Wesen, erscheint dies gegenständliche Element stets als eines von Dummheit, ein Nichtverstehen, Nichtbescheidwissen, verstockt ans Besondere dort sich Halten, wo es zugleich schon als vom Allgemeinen Aufgelöstes bestimmt ist. Das Epos ahmt den Bann des Mythos nach, um ihn zu erweichen. K. Th. Preuss hat jene Verhaltensweise »Urdummheit« genannt, und Gilbert Murray die der homerisch-olympischen Phase voraufgehende, die erste Stufe der griechischen Religion, eben dadurch charakterisiert 2 . In der starren Fixierung des epischen Berichts an seinen Gegenstand, welche die Macht von Furcht vor dem brechen soll, welchem das identifizierende Wort ins Auge sieht, wird der Erzähler gleichsam des Gestus von Furcht mächtig. Naivetät ist der Preis, den er dafür zollt, und ihn verbucht die herkömmliche Ansicht als Gewinn. Die traditionelle Lobpreisung solcher erst in der Dialektik der Form entsprungenen Dummheit des Erzählens hat aus ihr eine bewußtseinsfeindliche, restaurative Ideologie gemacht, deren letzter Abhub in den falsch konkreten philosophischen Anthropologien von heutzutage verschachert wird. Aber die epische Naivetät ist nicht nur Lüge, um die allgemeine Besinnung von der blinden Anschauung des Besonderen fernzuhalten. Wie sie, als antimythologische Anstrengung, aus dem aufklärerischen, gleichsam positivistischen Bestreben hervorgeht, treu und unverstellt was einmal war so festzuhalten, wie es war, und damit den Zauber, den das Gewesene ausübt, den Mythos im eigentlichen Sinn zu sprengen, bleibt ihr in der Beschränkung aufs Einmalige ein Zug eigentümlich, der Beschränkung transzendiert. Denn das Einmalige ist nicht bloß der trotzige Rückstand gegen die umfassende Allgemeinheit des Gedankens, sondern auch dessen innerste Sehnsucht, die logische Form eines Wirklichen, das nicht mehr von der gesellschaftlichen Herrschaft und dem ihr nachgebildeten klassifizierenden Gedanken umfaßt wäre; der Begriff, der sich versöhnt mit seiner Sache. In der epischen Naivetät lebt die Kritik der bürgerlichen Vernunft. Sie hält jene Möglichkeit von Erfahrung fest, welche zerstört wird von der bürgerlichen Vernunft, die sie gerade zu begründen vorgibt. Die Beschränktheit in der Darstellung des einen Gegenstandes ist das Korrektiv der Beschränktheit, die jeglichen Gedanken ereilt, indem er den einen Gegenstand kraft dessen begrifflicher Operation vergißt, ihn überspinnt, anstatt ihn eigentlich zu erkennen. Wie es leicht ist, die homerische Einfalt, die selber schon zugleich das Gegenteil von Einfalt war, sei's zu belächeln, sei's hämisch gegen den analytischen Geist ins Feld zu führen, so wäre es leicht, die Befangenheit von Gottfried Kellers letztem Roman darzutun und der Konzeption des ›Martin Salander‹ vorzuwerfen, daß das auftrumpfende So-schlecht-sind-heute-die-Menschen kleinbürgerliche Unkenntnis der ökonomischen Gründe der Krisen, der gesellschaftlichen Voraussetzungen der Gründerjahre verrate und das Wesentliche verfehle. Aber nur solche Naivetät wiederum erlaubt es, von den unheilschwangeren Anfängen der spätkapitalistischen Ära zu erzählen und der Anamnesis sie zuzueignen, anstatt bloß von ihnen zu berichten und sie kraft des Protokolls, das von Zeit einzig noch als einem Index weiß, mit trugvoller Gegenwärtigkeit ins Nichts dessen hinabzustoßen, woran keine Erinnerung mehr sich zu heften vermag. In solcher Erinnerung an das, was eigentlich schon gar nicht mehr sich erinnern läßt, drückt dann freilich Kellers Beschreibung der beiden betrügerischen Advokaten, die Zwillingsbrüder, Duplikate, sind, soviel von der Wahrheit aus, nämlich gerade von der erinnerungsfeindlichen Fungibilität, wie erst wieder einer Theorie möglich wäre, die noch den Verlust von Erfahrung aus der Erfahrung der Gesellschaft durchsichtig bestimmte. Vermöge der epischen Naivetät übt das erzählende Wort, in dessen Habitus dem Vergangenen gegenüber immer ein Apologetisches, die Rechtfertigung der Begebenheit als einer bemerkenswerten, lebt, Korrektur an sich selber. Die Genauigkeit des beschreibenden Wortes sucht die Unwahrheit aller Rede zu kompensieren. Der Drang Homers, einen Schild wie eine Landschaft zu beschreiben und eine Metapher zur Aktion durchzubilden, bis sie, selbständig geworden, das Gewebe der Erzählung zerreißt – dieser Drang ist der gleiche, der die größten Erzähler des neunzehnten Jahrhunderts, zumindest in Deutschland, Goethe, Stifter und Keller, immer wieder dazu trieb, zu zeichnen und zu malen, anstatt zu schreiben, und die archäologischen Studien Flauberts mag der gleiche Impuls inspiriert haben. Der Versuch, die Darstellung von der reflektierenden Vernunft zu emanzipieren, ist der stets schon verzweifelte Versuch der Sprache, indem ihre bestimmende Intention bis zum äußersten getrieben wird, vom Negativen ihrer Intentionalität, der begrifflichen Manipulation der Gegenstände zu heilen und das Wirkliche rein, unverstört von der Gewalt der Ordnungen hervortreten zu lassen. Die Dummheit und Blindheit des Erzählers – nicht zufällig hat die Überlieferung Homer als Blinden aufgefaßt – drückt bereits Unmöglichkeit und Hoffnungslosigkeit solchen Beginnens aus. Gerade das gegenständliche Element des Epos, das aller Spekulation und Phantasie extrem entgegengesetzte, führt die Erzählung, um ihrer apriorischen Unmöglichkeit willen, an den Rand des Wahnsinns. Die letzten Novellen Stifters geben vom Übergang der gegenständlichen Treue in die manische Obsession die deutlichste Kunde, und keine Erzählung hat je Teil an der Wahrheit gehabt, die nicht in den Abgrund hinabgeblickt hätte, in welchen die Sprache einstürzt, die sich selbst aufheben möchte in Namen und Bild. Die homerische Besonnenheit macht davon keine Ausnahme. Wenn im letzten Gesang der Odyssee, der zweiten Nekyia, die Seele des Freiers Amphimedon der des Agamemnon im Hades von der Rache des Odysseus und seines Sohnes berichtet, kommen die. Verse vor: »Beide, da über der Freier entsetzlichen Mord sie geratschlagt, / Kamen zur prangenden Stadt der Ithaker; nämlich Odysseus / Folgete nach; ihm voraus war Telemachos früher gegangen.« 3 Das »Nämlich« 4 hält um des Zusammenhangs willen die logische Form sei's der Erklärung, sei's der Affirmation fest, während der Inhalt des Satzes, als rein darstellende Aussage, in einem solchen Zusammenhang mit dem Vorhergehenden gar nicht steht. In dem minimalen Widersinn der fortführenden Partikel stößt der Geist der erzählenden, logischintentionalen Sprache zusammen mit dem Geist der wortlosen Darstellung, dem jene nachhängt, und gerade die logische Form der Fortführung droht den Gedanken, der nicht fortführt, eigentlich Gedanke schon nicht mehr ist, dorthin zu verschlagen, wo Syntax und Stoff sich verlieren und der Stoff seine Übermacht bekräftigt, indem er die syntaktische Form, die ihn zu umfassen strebt, Lügen straft. Das aber ist das epische, das eigentlich antikische Element in Hölderlins Wahnsinn. In dem Gedicht ›An die Hoffnung‹ heißt es: »Im grünen Tale, dort, wo der frische Quell / Vom Berge täglich rauscht und die liebliche / Zeitlose mir am Herbsttag aufblüht, / Dort, in der Stille, du holde, will ich / Dich suchen, oder wenn in der Mitternacht / Das unsichtbare Leben im Haine wallt, / Und über mir die immerfrohen / Blumen, die blühenden Sterne glänzen.« 5 Das Oder, und häufig dann Partikeln bei Trakl, gleicht jenem homerischen Nämlich. Während die Sprache, um Sprache überhaupt zu bleiben, in solchen Wendungen urteilend noch Synthesis des Zusammenhangs der Dinge zu sein beansprucht, begibt sie in den Worten, deren Verwendung gerade den Zusammenhang auflöst, sich des Urteils. Die epische Verknüpfung, in der die Führung des Gedankens schließlich erschlafft, wird zur Gnade, die in der Sprache vorm Recht des Urteils ergeht, das sie doch unweigerlich bleibt. Gedankenflucht, die Opfergestalt der Rede, ist die Flucht der Sprache aus ihrem Gefängnis. Wenn bei Homer, wie Thomson besonders hervorhebt, die Metapher gegenüber dem Bedeuteten, der Handlung, Selbständigkeit gewinnt 6 , so prägt darin die gleiche Feindschaft gegen die Gebundenheit der Sprache im Zusammenhang der Intentionen sich aus. Das sprachlich ausgeführte Bild vergißt an die eigene Bedeutung, um die Sprache selber ins Bild hineinzuziehen, anstatt das Bild durchsichtig zu machen auf den logischen Sinn des Zusammenhanges. In der großen Erzählung kehrt tendenziell das Verhältnis von Bild und Handlung sich um. Davon hat Goethes Technik in den ›Wahlverwandtschaften‹ und den ›Wanderjahren‹, wo bildchenhafte, intermittierende Novellen das Wesen des Dargestellten reflektieren, Zeugnis abgelegt, und Homer-Allegoresen von der Art der berühmten Schellingschen Formel von der Odyssee des Geistes 7 haben das Gleiche geahnt. Nicht daß die Epen von allegorischer Absicht diktiert wären. Aber die Gewalt der geschichtlichen Tendenz in Sprache und Sachgehalt ist in ihnen so groß, daß im Lauf des Prozesses zwischen Subjektivität und Mythologie Menschen und Dinge vermöge der Blindheit, mit der das Epos ihrer Darstellung sich überläßt, in bloße Schauplätze sich verwandeln, über denen jene Tendenz sichtbar wird, gerade dort, wo der pragmatische und sprachliche Zusammenhang brüchig sich zeigt. »Es kämpfen keine Individuen, sondern Ideen miteinander«, heißt es in einem Fragment Nietzsches zu ›Homers Wettkampf‹ 8 . Der objektive Umschlag der reinen bedeutungsfernen Darstellung in die Allegorie der Geschichte ist es, der am logischen Zerfall der epischen Sprache wie an der Ablösung der Metapher vom Gang der buchstäblichen Handlung sichtbar wird. Erst durch Sinnverlassenheit ähnelt die epische Rede dem Bilde sich an, einer Figur objektiven Sinnes, die aus der Negation von subjektiv vernünftigem Sinn aufsteigt. Fußnoten
1 Homer, Odyssee, XXIII, 210ff. (Voß).
2 Vgl. G. Murray, Five Stages of Greek Religion, New York 1925, p. 16; vgl. U.v. Wilamowitz-Möllendorf, Der Glaube der Hellenen, I, S. 9.
3 Odyssee, XXIV, 153ff.
4 Schröder übersetzt: »und wahrlich Odysseus blieb zurück«. Die wörtliche Übertragung des h als einer Partikel der Bekräftigung und nicht der Explikation ändert nichts am enigmatischen Charakter der Stelle.
5 Friedrich Hölderlin, Gesamtausgabe des Insel-Verlags (Text nach Zinkernagel), Leipzig o.J., S. 139. – Zwischen Voß und Hölderlin bestehen literargeschichtliche Zusammenhänge.
6 »No, one would deny that ... true similes have been in constant use from the beginnings of human speech ... But, besides these, there are others which, as we have seen, are formally similes, but in reality are disguised identifications or transformations.« (J.A.K. Thomson, Studies in the Odyssey, Oxford 1914, p. 7.) Metaphern sind danach Spuren des historischen Prozesses.
7 Vgl. Schelling, Werke, Bd. 2, Leipzig 1907, S. 302 (System des transzendentalen Idealismus). Im übrigen hat Schelling später in der ›Philosophie der Kunst‹ die allegorische Auslegung Homers ausdrücklich verworfen (vgl. a.a.O., Bd. 3, S. 57).
8 Nietzsche, Werke, Bd. 9, S. 287.
Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman Die Aufgabe, in wenige Minuten einiges über den gegenwärtigen Stand des Romans als Form zusammenzudrängen, zwingt dazu, sei's auch gewaltsam, ein Moment herauszugreifen. Das soll die Stellung des Erzählers sein. Sie wird heute bezeichnet durch eine Paradoxie; es läßt sich nicht mehr erzählen, während die Form des Romans Erzählung verlangt. Der Roman war die spezifische literarische Form des bürgerlichen Zeitalters. An seinem Beginn steht die Erfahrung von der entzauberten Welt im ›Don Quixote‹, und die künstlerische Bewältigung bloßen Daseins ist sein Element geblieben. Der Realismus war ihm immanent; selbst die dem Stoff nach phantastischen Romane haben getrachtet, ihren Inhalt so vorzutragen, daß die Suggestion des Realen davon ausging. Diese Verhaltensweise ist, in einer bis ins neunzehnte Jahrhundert zurückreichenden, heute zum Extrem beschleunigten Entwicklung fragwürdig geworden. Vom Standpunkt des Erzählers her durch den Subjektivismus, der kein unverwandelt Stoffliches mehr duldet und eben damit das epische Gebot der Gegenständlichkeit unterhöhlt. Wer heute noch, wie Stifter etwa, ins Gegenständliche sich versenkte und Wirkung zöge aus der Fülle und Plastik des demütig hingenommenen Angeschauten, wäre gezwungen zum Gestus kunstgewerblicher Imitation. Er machte der Lüge sich schuldig, der Welt mit einer Liebe sich zu überlassen, die voraussetzt, daß die Welt sinnvoll ist, und endete beim unerträglichen Kitsch vom Schlage der Heimatkunst. Nicht geringer sind die Schwierigkeiten von der Sache her. Wie der Malerei von ihren traditionellen Aufgaben vieles entzogen wurde durch die Photographie, so dem Roman durch die Reportage und die Medien der Kulturindustrie, zumal den Film. Der Roman müßte sich auf das konzentrieren, was nicht durch den Bericht abzugelten ist. Nur sind ihm im Gegensatz zur Malerei in der Emanzipation vom Gegenstand Grenzen gesetzt durch die Sprache, die ihn weithin zur Fiktion des Berichtes nötigt: konsequent hat Joyce die Rebellion des Romans gegen den Realismus mit einer gegen die diskursive Sprache verbunden. Die Abwehr seines Versuchs als abseitig individualistischer Willkür wäre armselig. Zerfallen ist die Identität der Erfahrung, das in sich kontinuierliche und artikulierte Leben, das die Haltung des Erzählers einzig gestattet. Man braucht nur die Unmöglichkeit sich zu vergegenwärtigen, daß irgendeiner, der am Krieg teilnahm, von ihm so erzählte, wie früher einer von seinen Abenteuern erzählen mochte. Mit Recht begegnet die Erzählung, die auftritt, als wäre der Erzähler solcher Erfahrung mächtig, der Ungeduld und Skepsis beim Empfangenden. Vorstellungen wie die, daß einer sich hinsetzt und »ein gutes Buch liest«, sind archaisch. Das liegt nicht bloß an der Dekonzentration der Leser sondern am Mitgeteilten selber und seiner Form. Etwas erzählen heißt ja: etwas Besonderes zu sagen haben, und gerade das wird von der verwalteten Welt, von Standardisierung und Immergleichheit verhindert. Vor jeder inhaltlich ideologischen Aussage ist ideologisch schon der Anspruch des Erzählers, als wäre der Weltlauf wesentlich noch einer der Individuation, als reichte das Individuum mit seinen Regungen und Gefühlen ans Verhängnis noch heran, als vermöchte unmittelbar das Innere des Einzelnen noch etwas: die allverbreitete biographische Schundliteratur ist ein Zersetzungsprodukt der Romanform selber. Von der Krisis der literarischen Gegenständlichkeit ist die Sphäre der Psychologie, in der gerade jene Produkte sich häuslich, wenngleich mit wenig Glück einrichten, nicht ausgenommen. Auch dem psychologischen Roman werden seine Gegenstände vor der Nase weggeschnappt: mit Recht hat man bemerkt, daß zu einer Zeit, da Journalisten ohne Unterlaß an den psychologischen Errungenschaften Dostojewskys sich berauschten, die Wissenschaft, zumal die Psychoanalyse Freuds, längst jene Funde des Romanciers hinter sich gelassen hatte. Übrigens hat man wohl mit solchem phrasenhaften Lob Dostojewsky verfehlt: soweit es bei ihm überhaupt Psychologie gibt, ist es eine des intelligiblen Charakters, des Wesens, und nicht des empirischen, der Menschen, so wie sie herumlaufen. Und gerade darin ist er fortgeschritten. Nicht nur, daß alles Positive, Greifbare, auch die Faktizität des Inwendigen von Informationen und Wissenschaft beschlagnahmt ist, nötigt den Roman, damit zu brechen und der Darstellung des Wesens oder Unwesens sich zu überantworten, sondern auch, daß, je dichter und lückenloser die Oberfläche des gesellschaftlichen Lebensprozesses sich fügt, um so hermetischer diese als Schleier das Wesen verhüllt. Will der Roman seinem realistischen Erbe treu bleiben und sagen, wie es wirklich ist, so muß er auf einen Realismus verzichten, der, indem er die Fassade reproduziert, nur dieser bei ihrem Täuschungsgeschäfte hilft. Die Verdinglichung aller Beziehungen zwischen den Individuen, die ihre menschlichen Eigenschaften in Schmieröl für den glatten Ablauf der Maschinerie verwandelt, die universale Entfremdung und Selbstentfremdung, fordert beim Wort gerufen zu werden, und dazu ist der Roman qualifiziert wie wenig andere Kunstformen. Von jeher, sicherlich seit dem achtzehnten Jahrhundert, seit Fieldings ›Tom Jones‹, hatte er seinen wahren Gegenstand am Konflikt zwischen den lebendigen Menschen und den versteinerten Verhältnissen. Entfremdung selber wird ihm dabei zum ästhetischen Mittel. Denn je fremder die Menschen, die Einzelnen und die Kollektive, einander geworden sind, desto rätselhafter werden sie einander zugleich, und der Versuch, das Rätsel des äußeren Lebens zu dechiffrieren, der eigentliche Impuls des Romans, geht über in die Bemühung ums Wesen, das gerade in der von Konventionen gesetzten, vertrauten Fremdheit nun seinerseits bestürzend, doppelt fremd erscheint. Das antirealistische Moment des neuen Romans, seine metaphysische Dimension, wird selber gezeitigt von seinem realen Gegenstand, einer Gesellschaft, in der die Menschen voneinander und von sich selber gerissen sind. In der ästhetischen Transzendenz reflektiert sich die Entzauberung der Welt. All das hat kaum seinen Platz in der bewußten Erwägung des Romanciers, und Grund ist zur Annahme, daß, wo es in jene eindringt, wie etwa in den sehr groß intendierten Romanen Hermann Brochs, es dem Gestalteten nicht zum besten anschlägt. Vielmehr setzen sich die geschichtlichen Veränderungen der Form um in idiosynkratische Empfindlichkeiten der Autoren, und es entscheidet wesentlich über ihren Rang, wie weit sie als Meßinstrumente des Geforderten und Verwehrten fungieren. An Empfindlichkeit gegen die Form des Berichts hat keiner Marcel Proust übertroffen. Sein Werk gehört in die Tradition des realistischen und psychologischen Romans, auf der Linie von dessen subjektivistisch extremer Auflösung, wie sie, ohne alle historische Kontinuität mit dem Franzosen, über Gebilde wie Jacobsens ›Niels Lyhne‹ und Rilkes ›Malte Laurids Brigge‹ führt. Je strenger es mit dem Realismus des Auswendigen, der Geste »so war es« gehalten wird, um so mehr wird jedes Wort zum bloßen Als ob, um so mehr wächst der Widerspruch zwischen seinem Anspruch an und dem, daß es nicht so war. Eben jener immanente Anspruch, den der Autor unabdingbar erhebt: daß er genau wisse, wie es zugegangen sei, will ausgewiesen werden, und die ins Schimärische getriebene Präzision Prousts, die mikrologische Technik, unter der schließlich die Einheit des Lebendigen nach Atomen sich spaltet, ist eine einzige Anstrengung des ästhetischen Sensoriums, diesen Ausweis zu leisten, ohne den Bannkreis der Form zu überschreiten. Mit dem Bericht von einem Unwirklichen einzusetzen etwa, als wäre es wirklich gewesen, hätte er nicht über sich gebracht. Daher beginnt sein zyklisches Werk mit der Erinnerung daran, wie ein Kind einschläft, und das ganze erste Buch ist nichts als eine Entfaltung der Schwierigkeiten beim Einschlafen, wenn dem Knaben seine schöne Mutter nicht den Gute-Nacht-Kuß gegeben hat. Der Erzähler stiftet gleichsam einen Innenraum, der ihm den Fehltritt in die fremde Welt erspart, wie er zutage käme an der Falschheit des Tons, der mit jener vertraut tut. Unmerklich wird die Welt in diesen Innenraum – man hat der Technik den Titel des monologue intérieur verliehen – hineingezogen, und was immer an Äußerem sich abspielt, kommt so vor, wie es auf der ersten Seite vom Augenblick des Einschlafens gesagt wird: als ein Stück Innen, ein Moment des Bewußtseinsstroms, behütet vor der Widerlegung durch die objektive raumzeitliche Ordnung, zu deren Suspension das Proustsche Werk aufgeboten ist. Aus ganz anderen Voraussetzungen und in ganz anderem Geist hat der Roman des deutschen Expressionismus, etwa Gustav Sacks ›Verbummelter Student‹ Verwandtes visiert. Das epische Bestreben, nichts Gegenständliches darzustellen, als was sich ganz und gar füllen läßt, hebt schließlich die epische Grundkategorie der Gegenständlichkeit auf. Der traditionelle Roman, dessen Idee vielleicht am authentischsten in Flaubert sich verkörpert, ist der Guckkastenbühne des bürgerlichen Theaters zu vergleichen. Diese Technik war eine der Illusion. Der Erzähler lüftet einen Vorhang: der Leser soll Geschehenes mitvollziehen, als wäre er leibhaft zugegen. Die Subjektivität des Erzählers bewährt sich in der Kraft, diese Illusion herzustellen, und – bei Flaubert – in der Reinheit der Sprache, die sie zugleich durch Vergeistigung doch dem empirischen Bereich enthebt, dem sie sich verschreibt. Ein schweres Tabu liegt über der Reflexion: sie wird zur Kardinalsünde gegen die sachliche Reinheit. Mit dem illusionären Charakter des Dargestellten verliert heute auch dies Tabu seine Kraft. Oft ist hervorgehoben worden, daß im neuen Roman, nicht nur bei Proust, sondern ebenso beim Gide der ›Faux-Monnayeurs‹, beim späteren Thomas Mann, in Musils ›Mann ohne Eigenschaften‹ die Reflexion die reine Formimmanenz durchbricht. Aber solche Reflexion hat kaum mehr als den Namen mit der vor-Flaubertschen gemein. Diese war moralisch: Parteinahme für oder gegen Romanfiguren. Die neue ist Parteinahme gegen die Lüge der Darstellung, eigentlich gegen den Erzähler selbst, der als überwacher Kommentator der Vorgänge seinen unvermeidlichen Ansatz zu berichtigen trachtet. Die Verletzung der Form liegt in deren eigenem Sinn. Heute erst läßt Thomas Manns Medium, die enigmatische, auf keinen inhaltlichen Spott reduzierbare Ironie, sich ganz verstehen aus ihrer formbildenden Funktion: der Autor schüttelt mit dem ironischen Gestus, der den eigenen Vortrag zurücknimmt, den Anspruch ab, Wirkliches zu schaffen, dem doch keines selbst seiner Worte entrinnen kann; am sinnfälligsten vielleicht in der Spätphase, im ›Erwählten‹ und in der ›Betrogenen‹, wo der Dichter, spielend mit einem romantischen Motiv, durch den Habitus der Sprache den Guckkastencharakter der Erzählung, die Unwirklichkeit der Illusion einbekennt, und eben damit, nach seinem Wort, dem Kunstwerk jenen Charakter des höheren Jux zurückgibt, den es besaß, ehe es mit der Naivetät der Unnaivetät den Schein allzu ungebrochen als Wahres präsentierte. Wenn vollends bei Proust der Kommentar derart mit der Handlung verflochten ist, daß die Unterscheidung zwischen beiden schwindet, so greift damit der Erzähler einen Grundbestand im Verhältnis zum Leser an: die ästhetische Distanz. Diese war im traditionellen Roman unverrückbar. Jetzt variiert sie wie Kameraeinstellungen des Films: bald wird der Leser draußen gelassen, bald durch den Kommentar auf die Bühne, hinter die Kulissen, in den Maschinenraum geleitet. Zu den Extremen, an denen mehr über den gegenwärtigen Roman sich lernen läßt als an irgendeinem sogenannten »typischen« mittleren Sachverhalt rechnet das Verfahren Kafkas, die Distanz vollends einzuziehen. Durch Schocks zerschlägt er dem Leser die kontemplative Geborgenheit vorm Gelesenen. Seine Romane, wenn anders sie unter den Begriff überhaupt noch fallen, sind die vorwegnehmende Antwort auf eine Verfassung der Welt, in der die kontemplative Haltung zum blutigen Hohn ward, weil die permanente Drohung der Katastrophe keinem Menschen mehr das unbeteiligte Zuschauen und nicht einmal dessen ästhetisches Nachbild mehr erlaubt. Auch von den minderen Erzählern, die schon kein Wort mehr zu schreiben wagen, das nicht als Tatsachenbericht um Entschuldigung dafür bittet, daß es geboren ist, wird die Distanz eingezogen. Kündigt bei ihnen die Schwäche eines Bewußtseinsstandes sich an, der zu kurzatmig ist, um seine ästhetische Darstellung zu dulden, und der kaum mehr Menschen hervorbringt, die solcher Darstellung fähig wären, so ist in der fortgeschrittensten Produktion, der solche Schwäche nicht fremd bleibt, die Einziehung der Distanz Gebot der Form selber, eines der wirksamsten Mittel, den vordergründigen Zusammenhang zu durchschlagen und das Darunterliegende, die Negativität des Positiven auszudrücken. Nicht daß notwendig wie bei Kafka die Schilderung von Imaginärem die von Realem ablöste. Er eignet sich schlecht zum Muster. Aber die Differenz zwischen Realem und imago wird grundsätzlich kassiert. Es ist den großen Romanciers der Epoche gemeinsam, daß die alte Romanforderung des »So ist es«, bis zu Ende gedacht, eine Flucht geschichtlicher Urbilder auslöst, in Prousts unwillkürlicher Erinnerung wie in den Parabeln Kafkas und in den epischen Kryptogrammen von Joyce. Das dichterische Subjekt, das von den Konventionen gegenständlicher Darstellung sich lossagt, bekennt zugleich die eigene Ohnmacht, die Übermacht der Dingwelt ein, die inmitten des Monologs wiederkehrt. So bereitet sich eine zweite Sprache, vielfach aus dem Abhub der ersten destilliert, eine zerfallene assoziative Dingsprache, wie sie den Monolog nicht bloß des Romanciers, sondern der ungezählten der ersten Sprache Entfremdeten durchwächst, welche die Masse ausmachen. Wenn Lukács in seiner ›Theorie des Romans‹ vor vierzig Jahren die Frage aufwarf, ob die Romane Dostojewskys Bausteine zukünftiger Epen, wo nicht selber bereits solche Epen seien, dann gleichen in der Tat die heutigen Romane, die zählen, jene, in denen die entfesselte Subjektivität aus der eigenen Schwerkraft in ihr Gegenteil übergeht, negativen Epopöen. Sie sind Zeugnisse eines Zustands, in dem das Individuum sich selbst liquidiert und der sich begegnet mit dem vorindividuellen, wie er einmal die sinnerfüllte Welt zu verbürgen schien. Mit aller gegenwärtigen Kunst teilen diese Epopöen die Zweideutigkeit, daß es nicht bei ihnen steht, etwas darüber auszumachen, ob die geschichtliche Tendenz, die sie registrieren, Rückfall in die Barbarei ist oder doch auf die Verwirklichung der Menschheit abzielt, und manche fühlen sich im Barbarischen allzu behaglich. Kein modernes Kunstwerk, das etwas taugte und nicht an der Dissonanz und dem Losgelassenen auch seine Lust hätte. Aber indem solche Kunstwerke gerade das Grauen ohne Kompromiß verkörpern und alles Glück der Betrachtung in die Reinheit solchen Ausdrucks werfen, dienen sie der Freiheit, die von der mittleren Produktion nur verraten wird, weil sie nicht zeugt von dem, was dem Individuum der liberalen Ära widerfuhr. Ihre Produkte sind über der Kontroverse zwischen engagierter Kunst und l'art pour l'art, über der Alternative zwischen der Banausie der Tendenzkunst und der Banausie der genießerischen. Karl Kraus hat einmal den Gedanken formuliert, was immer aus seinen Werken moralisch als leibhafte, nichtästhetische Wirklichkeit spreche, sei ihm lediglich unterm Gesetz der Sprache, also im Namen von l'art pour l'art zuteil geworden. Die Einziehung der ästhetischen Distanz im Roman heute, und damit dessen Kapitulation vor der übermächtigen und nur noch real zu verändernden, nicht im Bilde zu verklärenden Wirklichkeit, wird erheischt von dem, wohin die Form von sich aus möchte. Rede über Lyrik und Gesellschaft
Bei der Ankündigung eines Vortrags über Lyrik und Gesellschaft wird viele von Ihnen Unbehagen ergreifen. Sie werden eine soziologische Betrachtung erwarten, wie sie nach Belieben an jeden Gegenstand sich heften kann, so wie man vor fünfzig Jahren Psychologien, vor dreißig Phänomenologien aller erdenklichen Dinge erfand. Sie werden dabei das Mißtrauen hegen, daß die Erörterung der Bedingungen, unter denen Gebilde entstanden, und die ihrer Wirkung, sich vorwitzig an Stelle der Erfahrung von den Gebilden wie sie sind setzen will; daß Zuordnungen und Relationen die Einsicht in Wahrheit oder Unwahrheit des Gegenstandes selber verdrängen. Sie werden argwöhnen, daß ein Intellektueller dessen schuldig werde, was Hegel dem »formellen Verstand« vorwarf, daß er nämlich, indem er das Ganze übersieht, über dem einzelnen Dasein steht, von dem er spricht, das heißt, es gar nicht sieht, sondern es etikettiert. Das Peinliche eines solchen Verfahrens wird Ihnen an der Lyrik besonders fühlbar. Das Zarteste, Zerbrechlichste soll angetastet, mit eben dem Getriebe zusammengebracht werden, von dem unberührt sich zu halten im Ideal zumindest des traditionellen Sinnes von Lyrik liegt. Eine Sphäre des Ausdrucks, die ihr Wesen geradezu daran hat, die Macht der Vergesellschaftung sei's nicht anzuerkennen, sei's, wie bei Baudelaire oder Nietzsche, durchs Pathos der Distanz zu überwinden, soll arrogant durch die Art ihrer Betrachtung zum Gegenteil dessen gemacht werden, als was sie sich selber weiß. Kann, so werden Sie fragen, von Lyrik und Gesellschaft ein anderer reden als ein amusischer Mensch? Offenbar ist dem Verdacht nur dann zu begegnen, wenn lyrische Gebilde nicht als Demonstrationsobjekte soziologischer Thesen mißbraucht werden, sondern wenn ihre Beziehung auf Gesellschaftliches an ihnen selber etwas Wesentliches, etwas vom Grund ihrer Qualität aufdeckt. Sie soll nicht wegführen vom Kunstwerk, sondern tiefer in es hinein. Daß das aber zu erwarten sei, darauf allerdings führt die einfachste Besinnung. Denn der Gehalt eines Gedichts ist nicht bloß der Ausdruck individueller Regungen und Erfahrungen. Sondern diese werden überhaupt erst dann künstlerisch, wenn sie, gerade vermöge der Spezifikation ihres ästhetischen Geformtseins, Anteil am Allgemeinen gewinnen. Nicht, daß was das lyrische Gedicht ausdrückt, unmittelbar das sein müßte, was alle erleben. Seine Allgemeinheit ist keine volonté de tous, keine der bloßen Kommunikation dessen, was die anderen nur eben nicht kommunizieren können. Sondern die Versenkung ins Individuierte erhebt das lyrische Gedicht dadurch zum Allgemeinen, daß es Unentstelltes, Unerfaßtes, noch nicht Subsumiertes in die Erscheinung setzt und so geistig etwas vorwegnimmt von einem Zustand, in dem kein schlecht Allgemeines, nämlich zutiefst Partikulares mehr das andere, Menschliche fesselte. Von rückhaltloser Individuation erhofft sich das lyrische Gebilde das Allgemeine. Ihr eigentümliches Risiko aber hat Lyrik daran, daß ihr Individuationsprinzip nie die Erzeugung von Verpflichtendem, Authentischem garantiert. Sie hat keine Macht darüber, ob sie nicht in der Zufälligkeit der bloßen abgespaltenen Existenz verharrt. Jene Allgemeinheit des lyrischen Gehalts jedoch ist wesentlich gesellschaftlich. Nur der versteht, was das Gedicht sagt, wer in dessen Einsamkeit der Menschheit Stimme vernimmt; ja, noch die Einsamkeit des lyrischen Wortes selber ist von der individualistischen und schließlich atomistischen Gesellschaft vorgezeichnet, so wie umgekehrt seine allgemeine Verbindlichkeit von der Dichte seiner Individuation lebt. Daher aber ist das Denken des Kunstwerks berechtigt und verpflichtet, dem gesellschaftlichen Gehalt konkret nachzufragen, nicht bei dem vagen Gefühl eines Allgemeinen und Umfangenden sich zu beruhigen. Solche denkende Bestimmung ist keine kunstfremde und äußerliche Reflexion, sondern wird von jedem sprachlichen Gebilde gefordert. Sein eigenes Material, die Begriffe, erschöpfen sich nicht in der bloßen Anschauung. Um ästhetisch angeschaut werden zu können, wollen sie immer auch gedacht werden, und der Gedanke, einmal vom Gedicht ins Spiel gesetzt, läßt sich nicht auf dessen Geheiß sistieren. Dieser Gedanke aber, die gesellschaftliche Deutung von Lyrik, wie übrigens von allen Kunstwerken, darf danach nicht unvermittelt auf den sogenannten gesellschaftlichen Standort oder die gesellschaftliche Interessenlage der Werke oder gar ihrer Autoren zielen. Vielmehr hat sie auszumachen, wie das Ganze einer Gesellschaft, als einer in sich widerspruchsvollen Einheit, im Kunstwerk erscheint; worin das Kunstwerk ihr zu Willen bleibt, worin es über sie hinausgeht. Das Verfahren muß, nach der Sprache der Philosophie, immanent sein. Gesellschaftliche Begriffe sollen nicht von außen an die Gebilde herangetragen, sondern geschöpft werden aus der genauen Anschauung von diesen selbst. Der Satz aus Goethes ›Maximen und Reflexionen‹, daß du, was du nicht verstehst, auch nicht besitzest, gilt nicht nur für das ästhetische Verhältnis zu Kunstwerken sondern ebenso für die ästhetische Theorie: nichts, was nicht in den Werken, ihrer eigenen Gestalt ist, legitimiert die Entscheidung darüber, was ihr Gehalt, das Gedichtete selber, gesellschaftlich vorstellt. Das zu bestimmen verlangt freilich Wissen wie vom Inneren der Kunstwerke so auch von der Gesellschaft draußen. Aber verbindlich ist dies Wissen nur, wenn es in dem rein der Sache sich Überlassen sich wiederentdeckt. Wachsamkeit ist geboten zumal dem heute ins Unerträgliche ausgewalzten Ideologiebegriff gegenüber. Denn Ideologie ist Unwahrheit, falsches Bewußtsein, Lüge. Sie offenbart sich im Mißlingen der Kunstwerke, ihrem Falschen in sich und wird getroffen von Kritik. Großen Kunstwerken aber, die an Gestaltung und allein dadurch an tendenzieller Versöhnung tragender Widersprüche des realen Daseins ihr Wesen haben, nachzusagen, sie seien Ideologie, tut nicht bloß ihrem eigenen Wahrheitsgehalt unrecht, sondern verfälscht auch den Ideologiebegriff. Dieser behauptet nicht, aller Geist tauge nur dazu, daß irgendwelche Menschen irgendwelche partikularen Interessen als allgemeine unterschieben, sondern will den bestimmten falschen Geist entlarven und ihn zugleich in seiner Notwendigkeit begreifen. Kunstwerke jedoch haben ihre Größe einzig daran, daß sie sprechen lassen, was die Ideologie verbirgt. Ihr Gelingen selber geht, mögen sie es wollen oder nicht, übers falsche Bewußtsein hinaus. Lassen Sie mich an Ihr eigenes Mißtrauen anknüpfen. Sie empfinden die Lyrik als ein der Gesellschaft Entgegengesetztes, durchaus Individuelles. Ihr Affekt hält daran fest, daß es so bleiben soll, daß der lyrische Ausdruck, gegenständlicher Schwere entronnen, das Bild eines Lebens beschwöre, das frei sei vom Zwang der herrschenden Praxis, der Nützlichkeit, vom Druck der sturen Selbsterhaltung. Diese Forderung an die Lyrik jedoch, die des jungfräulichen Wortes, ist in sich selbst gesellschaftlich. Sie impliziert den Protest gegen einen gesellschaftlichen Zustand, den jeder Einzelne als sich feindlich, fremd, kalt, bedrückend erfährt, und negativ prägt der Zustand dem Gebilde sich ein: je schwerer er lastet, desto unnachgiebiger widersteht ihm das Gebilde, indem es keinem Heteronomen sich beugt und sich gänzlich nach dem je eigenen Gesetz konstituiert. Sein Abstand vom bloßen Dasein wird zum Maß von dessen Falschem und Schlechtem. Im Protest dagegen spricht das Gedicht den Traum einer Welt aus, in der es anders wäre. Die Idiosynkrasie des lyrischen Geistes gegen die Übergewalt der Dinge ist eine Reaktionsform auf die Verdinglichung der Welt, der Herrschaft von Waren über Menschen, die seit Beginn der Neuzeit sich ausgebreitet, seit der industriellen Revolution zur herrschenden Gewalt des Lebens sich entfaltet hat. Auch Rilkes Dingkult gehört in den Bannkreis solcher Idiosynkrasie als Versuch, noch die fremden Dinge in den subjektiv-reinen Ausdruck hineinzunehmen und aufzulösen, ihre Fremdheit metaphysisch ihnen gutzuschreiben; und die ästhetische Schwäche dieses Dingkults, der geheimnistuerische Gestus, die Vermischung von Religion und Kunstgewerbe, verrät zugleich die reale Gewalt der Verdinglichung, die von keiner lyrischen Aura mehr sich vergolden, in den Sinn einholen läßt. Man verleiht solcher Einsicht ins gesellschaftliche Wesen von Lyrik nur eine andere Wendung, wenn man sagt, ihr Begriff, so wie er uns unmittelbar, gewissermaßen zweite Natur ist, sei durchaus moderner Art. Analog hat die Landschaftsmalerei und ihre Idee von »Natur« erst in der Moderne autonom sich entwickelt. Ich weiß, daß ich damit übertreibe, daß Sie mir viele Gegenbeispiele entgegenhalten könnten. Das eindringlichste wäre Sappho. Von der chinesischen, japanischen, arabischen Lyrik rede ich nicht, da ich sie nicht im Original lesen kann und den Verdacht hege, daß sie durch die Übersetzung in einen Anpassungsmechanismus gerät, der angemessenes Verständnis überhaupt unmöglich macht. Aber die Bekundungen des uns vertrauten, im spezifischen Sinn lyrischen Geistes aus älterer Zeit leuchten nur versprengt auf, so wie zuweilen Hintergründe alter Malerei die Idee des Landschaftsbildes ahnungsvoll vorwegnehmen. Sie konstituieren nicht die Form. Die großen Dichter der früheren Vergangenheit, die nach literargeschichtlichen Begriffen der Lyrik zurechnen, Pindar etwa und Alkaios, aber auch das Werk Walthers von der Vogelweide in seinem überwiegenden Teil sind unserer primären Vorstellung von Lyrik ungemein fern. Ihnen geht jener Charakter des Unmittelbaren, Entstofflichten ab, den wir zu Recht oder Unrecht uns gewöhnt haben, als Kriterium von Lyrik anzusehen, und über den nur die angestrengte Bildung uns hinausführt. Was wir jedoch mit Lyrik meinen, ehe wir den Begriff sei's historisch erweitern, sei's kritisch gegen die individualistische Sphäre wenden, hat, je »reiner« es sich gibt, das Moment des Bruches in sich. Das Ich, das in Lyrik laut wird, ist eines, das sich als dem Kollektiv, der Objektivität entgegengesetztes bestimmt und ausdrückt; mit der Natur, auf die sein Ausdruck sich bezieht, ist es nicht unvermittelt eins. Es hat sie gleichsam verloren und trachtet, sie durch Beseelung, durch Versenkung ins Ich selber, wiederherzustellen. Erst durch Vermenschlichung soll der Natur das Recht abermals zugebracht werden, das menschliche Naturbeherrschung ihr entzog. Selbst lyrische Gebilde, in die kein Rest des konventionellen und gegenständlichen Daseins, keine krude Stofflichkeit mehr hineinragt, die höchsten, die unsere Sprache kennt, verdanken ihre Würde gerade der Kraft, mit der in ihnen das Ich den Schein der Natur, zurücktretend von der Entfremdung, erweckt. Ihre reine Subjektivität, das, was bruchlos und harmonisch an ihnen dünkt, zeugt vom Gegenteil, vom Leiden am subjektfremden Dasein ebenso wie von der Liebe dazu – ja ihre Harmonie ist eigentlich nichts anderes als das Ineinanderstimmen solchen Leidens und solcher Liebe. Noch das »Warte nur, balde / ruhest du auch« hat die Gebärde des Trostes: seine abgründige Schönheit ist nicht zu trennen von dem, was sie verschweigt, der Vorstellung einer Welt, die den Frieden verweigert. Einzig indem der Ton des Gedichtes mit der Trauer darüber mitfühlt, hält er fest, daß doch Friede sei. Fast möchte man das in dem benachbarten Gedicht gleichen Titels stehende »Ach, ich bin des Treibens müde« als Interpretation von ›Wanderers Nachtlied‹ zu Hilfe holen. Freilich, dessen Größe rührt daher, daß es nicht vom Entfremdeten, Störenden redet, daß in ihm selber nicht die Unruhe des Objekts dem Subjekt entgegensteht: vielmehr zittert dessen eigene Unruhe nach. Verhießen wird eine zweite Unmittelbarkeit: das Menschliche, die Sprache selber scheint, als wäre sie noch einmal die Schöpfung, während alles Auswendige im Echo der Seele verklingt. Mehr als Schein aber und zur ganzen Wahrheit wird es, weil, kraft des sprachlichen Ausdrucks der guten Müdigkeit, noch über der Versöhnung der Schatten der Sehnsucht bleibt und selbst der des Todes: dem »Warte nur balde« wird mit dem rätselhaften Lächeln von Trauer das ganze Leben zum kurzen Augenblick vor dem Einschlafen. Der Ton des Friedens bezeugt, daß Frieden nicht gelang, ohne daß doch der Traum zerbräche. Keine Macht hat der Schatten über das Bild des zu sich selbst zurückgekehrten Lebens, aber er verleiht als letzte Erinnerung an dessen Entstelltsein erst dem Traum die schwere Tiefe unter dem schwerelosen Lied. Im Angesicht der ruhenden Natur, von der die Spur des Menschenähnlichen getilgt ist, wird das Subjekt der eigenen Nichtigkeit inne. Unmerklich, lautlos streift Ironie das Tröstende des Gedichts: die Sekunden vor der Seligkeit des Schlafes sind die gleichen, die das kurze Leben vom Tode trennen. Diese erhabene Ironie ist dann nach Goethe zur hämischen herabgesunken. Stets aber war sie bürgerlich: zur Erhöhung des befreiten Subjekts gehört als Schatten dessen Erniedrigung zum Austauschbaren, zum bloßen Sein für anderes hinzu; zur Persönlichkeit das »Was bist du schon?« Seine Authentizität jedoch hat das Nachtlied an seinem Augenblick: der Hintergrund jenes Zerstörenden entrückt es dem Spiel, während das Zerstörende noch keine Gewalt hat über die gewaltlose Macht des Trostes. Man pflegt zu sagen, ein vollkommenes lyrisches Gedicht müsse Totalität oder Universalität besitzen, müsse in seiner Begrenzung das Ganze, in seiner Endlichkeit das Unendliche geben. Soll das mehr sein als ein Gemeinplatz aus jener Ästhetik, die da als Allerweltsmittel den Begriff des Symbolischen zur Hand hat, dann zeigt es an, daß in jedem lyrischen Gedicht das geschichtliche Verhältnis des Subjekts zur Objektivität, des Einzelnen zur Gesellschaft im Medium des subjektiven, auf sich zurückgeworfenen Geistes seinen Niederschlag muß gefunden haben. Er wird um so vollkommener sein, je weniger das Gebilde das Verhältnis von Ich und Gesellschaft thematisch macht, je unwillkürlicher es vielmehr im Gebilde von sich aus sich kristallisiert. Sie können mir vorwerfen, ich hätte durch diese Bestimmung, aus Angst vorm plumpen Soziologismus, das Verhältnis von Lyrik und Gesellschaft so sublimiert, daß eigentlich nichts davon übrig bleibt; gerade das nicht Gesellschaftliche am lyrischen Gedicht solle nun sein Gesellschaftliches sein. Sie könnten mich an jene Karikatur eines erzreaktionären Abgeordneten von Gustave Doré erinnern, der sein Lob auf das ancien régime steigert zu dem Ausruf: »Und wem, meine Herren, haben wir die Revolution von 1789 zu verdanken, wenn nicht Ludwig XVI.!« Sie könnten das auf meine Auffassung von Lyrik und Gesellschaft anwenden: in ihr spiele die Gesellschaft die Rolle des hingerichteten Königs und die Lyrik die jener, die ihn bekämpften; Lyrik sei aber so wenig aus der Gesellschaft zu erklären wie die Revolution zum Verdienst des Monarchen zu machen, den sie stürzte und ohne dessen Torheiten sie vielleicht zu jenem Zeitpunkt nicht ausgebrochen wäre. Dahin steht, ob der Abgeordnete Dorés wirklich nur ein dumm-zynischer Propagandaredner war, so wie der Zeichner ihn verspottet, und ob nicht an seinem unbeabsichtigten Witz mehr Wahrheit ist als der gesunde Menschenverstand einräumt; Hegels Geschichtsphilosophie hätte manches zur Rettung jenes Abgeordneten beizutragen. Indessen will der Vergleich doch nicht recht stimmen. Lyrik soll nicht aus der Gesellschaft deduziert werden; ihr gesellschaftlicher Gehalt ist gerade das Spontane, das nicht schon folgt aus jeweils bestehenden Verhältnissen. Aber die Philosophie – wiederum die Hegels – kennt den spekulativen Satz, das Individuelle sei durchs Allgemeine vermittelt und umgekehrt. Das will nun heißen, auch der Widerstand gegen den gesellschaftlichen Druck sei nichts absolut Individuelles, sondern in ihm regten, durchs Individuum und seine Spontaneität hindurch, künstlerisch sich die objektiven Kräfte, welche einen beengten und beengenden gesellschaftlichen Zustand über sich hinaus treiben zu einem menschenwürdigen hin; Kräfte also einer Gesamtverfassung, keineswegs bloß der starren Individualität, die der Gesellschaft blind opponiert. Darf in der Tat der lyrische Gehalt als ein vermöge der eigenen Subjektivität objektiver angesprochen werden – und sonst wäre ja das Einfachste, das die Möglichkeit von Lyrik als einer Kunstgattung stiftet: ihre Wirkung auf andere als den monologisierenden Dichter, nicht zu erklären – dann nur, wenn das sich in sich selbst Zurück-, in sich selbst Hineinnehmen des lyrischen Kunstwerks, seine Entfernung von der gesellschaftlichen Oberfläche, über den Kopf des Autors hinweg gesellschaftlich motiviert ist. Das Medium dafür aber ist die Sprache. Die spezifische Paradoxie des lyrischen Gebildes, die in Objektivität umschlagende Subjektivität, ist gebunden an jenen Vorrang der Sprachgestalt in der Lyrik, von dem der Primat der Sprache in der Dichtung überhaupt, bis zur Form von Prosa, herstammt. Denn die Sprache ist selber ein Doppeltes. Sie bildet durch ihre Konfigurationen den subjektiven Regungen gänzlich sich ein; ja wenig fehlt, und man könnte denken, sie zeitigte sie überhaupt erst. Aber sie bleibt doch wiederum das Medium der Begriffe, das, was die unabdingbare Beziehung auf Allgemeines und die Gesellschaft herstellt. Die höchsten lyrischen Gebilde sind darum die, in denen das Subjekt, ohne Rest von bloßem Stoff, in der Sprache tönt, bis die Sprache selber laut wird. Die Selbstvergessenheit des Subjekts, das der Sprache als einem Objektiven sich anheimgibt, und die Unmittelbarkeit und Unwillkürlichkeit seines Ausdrucks sind dasselbe: so vermittelt die Sprache Lyrik und Gesellschaft im Innersten. Darum zeigt Lyrik dort sich am tiefsten gesellschaftlich verbürgt, wo sie nicht der Gesellschaft nach dem Munde redet, wo sie nichts mitteilt, sondern wo das Subjekt, dem der Ausdruck glückt, zum Einstand mit der Sprache selber kommt, dem, wohin diese von sich aus möchte. Andererseits aber ist die Sprache auch nicht, wie es manchen der heute geläufigen ontologischen Sprachtheorien gefiele, als Stimme des Seins wider das lyrische Subjekt zu verabsolutieren. Das Subjekt, dessen Ausdrucks, gegenüber der bloßen Signifikation objektiver Inhalte, es bedarf, um jene Schicht der sprachlichen Objektivität zu erlangen, ist keine Zutat zu deren eigenem Gehalt, ist ihr nicht äußerlich. Der Augenblick der Selbstvergessenheit, in dem das Subjekt in der Sprache untertaucht, ist nicht dessen Opfer ans Sein. Er ist keiner der Gewalt, auch nicht der Gewalt gegen das Subjekt, sondern einer von Versöhnung: erst dann redet die Sprache selber, wenn sie nicht länger als ein dem Subjekt Fremdes redet sondern als dessen eigene Stimme. Wo das Ich in der Sprache sich vergißt, ist es doch ganz gegenwärtig; sonst verfiele die Sprache, als geweihtes Abrakadabra, ebenso der Verdinglichung wie in der kommunikativen Rede. Das weist aber zurück auf das reale Verhältnis zwischen Einzelnem und Gesellschaft. Nicht bloß ist der Einzelne in sich gesellschaftlich vermittelt, nicht bloß sind seine Inhalte immer zugleich auch gesellschaftlich. Sondern umgekehrt bildet sich und lebt die Gesellschaft auch nur vermöge der Individuen, deren Inbegriff sie ist. Wenn einmal die große Philosophie die freilich heute von der Wissenschaftslogik verschmähte Wahrheit konstruierte, Subjekt und Objekt seien überhaupt keine starren und isolierten Pole, sondern könnten nur aus dem Prozeß bestimmt werden, in dem sie sich aneinander abarbeiten und verändern, dann ist die Lyrik die ästhetische Probe auf jenes dialektische Philosophem. Im lyrischen Gedicht negiert, durch Identifikation mit der Sprache, das Subjekt ebenso seinen bloßen monadologischen Widerspruch zur Gesellschaft, wie sein bloßes Funktionieren innerhalb der vergesellschafteten Gesellschaft. Je mehr aber deren Übergewicht übers Subjekt anwächst, um so prekärer die Situation der Lyrik. Das Werk Baudelaires hat das als erstes registriert, indem es, höchste Konsequenz des europäischen Weltschmerzes, nicht bei den Leiden des Einzelnen sich beschied, sondern die Moderne selbst als das Antilyrische schlechthin zum Vorwurf wählte und kraft der heroisch stilisierten Sprache daraus den dichterischen Funken schlug. Schon bei ihm kündet dabei ein Verzweifeltes sich an, das eben nur auf der Spitze der eigenen Paradoxie balanciert. Als dann der Widerspruch der poetischen Sprache zur kommunikativen ins Extrem sich steigerte, ward alle Lyrik zum va-banque-Spiel; nicht, wie die banausische Meinung es möchte, weil sie unverständlich geworden wäre, sondern weil sie vermöge des reinen zu sich selbst Kommens der Sprache als einer Kunstsprache, durch die Anstrengung zu deren absoluter, von keiner Rücksicht auf Mitteilung geschmälerter Objektivität, zugleich sich entfernt von der Objektivität des Geistes, der lebendigen Sprache, und eine nicht mehr gegenwärtige durch die poetische Veranstaltung surrogiert. Das poetisierende, gehobene, subjektiv gewalttätige Moment schwacher späterer Lyrik ist der Preis, den sie für den Versuch zu zahlen hat, unverschandelt, fleckenlos, objektiv sich am Leben zu erhalten; ihr falscher Glanz das Komplement zur entzauberten Welt, der sie sich entwindet. All das freilich bedarf der Einschränkung, um nicht mißdeutet zu werden. Es war meine Behauptung, das lyrische Gebilde sei stets auch der subjektive Ausdruck eines gesellschaftlichen Antagonismus. Da aber die objektive Welt, welche Lyrik hervorbringt, an sich die antagonistische ist, so geht der Begriff von Lyrik nicht auf im Ausdruck der Subjektivität, der die Sprache Objektivität schenkt. Nicht bloß verkörpert das lyrische Subjekt, je angemessener es sich kundgibt, um so verbindlicher auch das Ganze. Sondern die dichterische Subjektivität verdankt sich selber dem Privileg: daß es nur den wenigsten Menschen je vom Druck der Lebensnot erlaubt wurde, in Selbstversenkung das Allgemeine zu ergreifen, ja überhaupt als selbständige, des freien Ausdrucks ihrer selbst mächtige Subjekte sich zu entfalten. Die andern jedoch, jene, die nicht nur dem befangenen dichterischen Subjekt fremd gegenüberstehen, als wären sie Objekte, sondern die im buchstäblichsten Verstand zum Objekt der Geschichte erniedrigt wurden, haben das gleiche oder größeres Recht, nach dem Laut zu tasten, in dem Leid und Traum sich vermählen. Dies unveräußerliche Recht ist immer wieder durchgebrochen, wenn auch so unrein, verstümmelt, fragmentarisch, intermittierend, wie es denen nicht anders möglich ist, welche die Last zu tragen haben. Ein kollektiver Unterstrom grundiert alle individuelle Lyrik. Meint diese in der Tat das Ganze und nicht selber bloß ein Stück des Besserhabens, Feinheit und Zartheit dessen, der es sich leisten kann, zart zu sein, dann gehört die Teilhabe an diesem Unterstrom wesentlich zur Substantialität auch der individuellen Lyrik: er wohl macht überhaupt erst die Sprache zu dem Medium, in dem das Subjekt mehr wird als nur Subjekt. Die Beziehung der Romantik zum Volkslied ist dafür nur das sinnfälligste, sicherlich nicht das eindringlichste Beispiel. Denn die Romantik verfolgt programmatisch eine Art Transfusion des Kollektiven ins Individuelle, kraft deren die individuelle Lyrik eher der Illusion allgemeiner Verbindlichkeit technisch nachhing, als daß ihr jene Verbindlichkeit aus sich selbst heraus zugefallen wäre. Oftmals haben statt dessen Dichter, die jegliche Anleihe bei der Kollektivsprache verschmähten, kraft ihrer geschichtlichen Erfahrung an jenem kollektiven Unterstrom teil. Ich nenne Baudelaire, dessen Lyrik nicht bloß dem juste milieu, sondern auch jedem bürgerlichen sozialen Mitgefühl ins Gesicht schlägt und der doch, in Gedichten wie den ›Petites vieilles‹ oder dem von der Dienerin mit großem Herzen aus den ›Tableaux Parisiens‹, den Massen, denen er seine tragisch-hochmütige Maske entgegenkehrte, treuer war als alle Armeleutepoesie. Heute, da die Voraussetzung jenes Begriffs von Lyrik, von dem ich ausgehe, der individuelle Ausdruck, in der Krise des Individuums bis ins Innerste erschüttert scheint, drängt an den verschiedensten Stellen der kollektive Unterstrom der Lyrik nach oben, erst als bloßes Ferment des individuellen Ausdrucks selbst, dann aber doch auch vielleicht als Vorwegnahme eines Zustandes, der über bloße Individualität positiv hinausgeht. Wenn die Übersetzungen nicht trügen, dann ist etwa García Lorca, den die Schergen Francos ermordeten und den kein totalitäres Regime hätte ertragen können, Träger solcher Kraft; und der Name Brechts drängt sich auf als der des Lyrikers, dem sprachliche Integrität zuteil ward, ohne daß er den Preis des Esoterischen hätte entrichten müssen. Ich versage es mir, darüber zu urteilen, ob hier in der Tat das dichterische Individuationsprinzip in einem höheren aufgehoben ward, oder ob der Grund Regression, die Schwächung des Ichs ist. Vielfach dürfte die kollektive Gewalt zeitgenössischer Lyrik den sprachlichen und seelischen Rudimenten eines noch nicht ganz individuierten, eines im weitesten Sinn vorbürgerlichen Zustandes – dem Dialekt – sich verdanken. Die traditionelle Lyrik aber, als die strengste ästhetische Negation der Bürgerlichkeit, ist eben damit bis heute an die bürgerliche Gesellschaft gebunden gewesen.
Weil prinzipielle Erwägungen nicht genügen, möchte ich an einigen Gedichten das Verhältnis des dichterischen Subjekts, das allemal für ein weit allgemeineres, kollektives Subjekt einsteht, zu der ihm antithetischen gesellschaftlichen Realität konkretisieren. Dabei werden die stofflichen Elemente, deren kein sprachliches Gebilde, selbst die poésie pure nicht, ganz sich zu entäußern vermag, ebenso der Interpretation bedürfen wie die sogenannten formalen. Besonders wird hervorzuheben sein, wie beide sich durchdringen, denn nur kraft solcher Durchdringung hält eigentlich das lyrische Gedicht in seinen Grenzen den geschichtlichen Stundenschlag fest. Indessen möchte ich nicht solche Gebilde wählen, wie das Goethesche, an dem ich einiges hervorhob, ohne es zu analysieren, sondern Späteres, Verse, denen nicht jene unbedingte Authentizität eignet wie dem ›Nachtlied‹. Wohl haben die beiden, über die ich etwas sagen will, an dem kollektiven Unterstrom Anteil. Ich möchte aber Ihre Aufmerksamkeit vor allem darauf lenken, wie sich in ihnen verschiedene Stufen eines widerspruchsvollen Grundverhältnisses der Gesellschaft im Medium des poetischen Subjekts darstellen. Wiederholen darf ich, daß es sich nicht um die Privatperson des Dichters, nicht um seine Psychologie, nicht um seinen sogenannten gesellschaftlichen Standpunkt handelt, sondern eben um das Gedicht als geschichtsphilosophische Sonnenuhr. Zunächst möchte ich Ihnen ›Auf einer Wanderung‹ von Mörike vorlesen:
In ein freundliches Städtchen tret ich ein, In den Straßen liegt roter Abendschein. Aus einem offnen Fenster eben, Über den reichsten Blumenflor Hinweg, hört man Goldglockentöne schweben, Und eine Stimme scheint ein Nachtigallenchor, Daß die Blüten beben, Daß die Lüfte leben, Daß in höherem Rot die Rosen leuchten vor. Lang hielt ich staunend, lustbeklommen. Wie ich hinaus vors Tor gekommen, Ich weiß es wahrlich selber nicht. Ach hier, wie liegt die Welt so licht! Der Himmel wogt in purpurnem Gewühle, Rückwärts die Stadt in goldnem Rauch; Wie rauscht der Erlenbach, wie rauscht im Grund die Mühle! Ich bin wie trunken, irrgeführt – O Muse, du hast mein Herz berührt Mit einem Liebeshauch!
Auf drängt sich das Bild jenes Glücksversprechens, wie es heute noch am rechten Tage von der süddeutschen Kleinstadt dem Gast gewährt wird, aber ohne das leiseste Zugeständnis ans Butzenscheibenhafte, an die Kleinstadtidylle. Das Gedicht gibt das Gefühl der Wärme und Geborgenheit im Engen und ist doch zugleich ein Werk des hohen Stils, nicht von Gemütlichkeit und Behaglichkeit verschandelt, nicht sentimental die Enge gegen die Weite preisend, kein Glück im Winkel. Rudimentäre Fabel und Sprache helfen gleichermaßen, die Utopie der nächsten Nähe und die der äußersten Ferne kunstvoll in eins zu setzen. Die Fabel weiß vom Städtchen einzig als flüchtigem Schauplatz, nicht als von einem des Verweilens. Die Größe des Gefühls, das ans Entzücken über die Mädchenstimme sich schließt, und nicht diese allein, sondern die der ganzen Natur, den Chor vernimmt, offenbart sich erst jenseits des begrenzten Schauplatzes, unter dem offenen purpurn wogenden Himmel, wo goldene Stadt und rauschender Bach zur imago zusammentreten. Dem kommt sprachlich ein unwägbar feines, kaum am Detail fixierbares antikes, odenhaftes Element zu Hilfe. Wie von weit her mahnen die freien Rhythmen an griechische reimlose Strophen, etwa auch das ausbrechende und doch nur mit den diskretesten Mitteln der Wortumstellung bewirkte Pathos der Schlußzeile der ersten Strophe: »Daß in höherem Rot die Rosen leuchten vor.« Entscheidend das eine Wort Muse am Ende. Es ist, als glänzte dies Wort, eines der vergriffensten des deutschen Klassizismus, dadurch, daß es dem genius loci des freundlichen Städtchens verliehen wird, noch einmal, wahrhaft wie im Licht der untergehenden Sonne auf und wäre als schon verschwindendes all der Gewalt der Entzückung mächtig, von der sonst der Anruf der Muse mit Worten der neuzeitlichen Sprache komisch hilflos abgleitet. Die Inspiration des Gedichts bewährt sich kaum in einem seiner Züge so vollkommen wie darin, daß die Wahl des anstößigsten Wortes an der kritischen Stelle, behutsam motiviert durch den latent griechischen Sprachgestus, wie ein musikalischer Abgesang die drängende Dynamik des Ganzen einlöst. Der Lyrik gelingt im knappsten Raum, wonach die deutsche Epik selbst in Konzeptionen wie ›Hermann und Dorothea‹ vergebens griff. Die gesellschaftliche Deutung solchen Gelingens gilt dem geschichtlichen Erfahrungsstand, der in dem Gedicht sich anzeigt. Der deutsche Klassizismus hatte es unternommen, im Namen der Humanität, der Allgemeinheit des Menschlichen, die subjektive Regung der Zufälligkeit zu entheben, die ihr in einer Gesellschaft droht, in der die Beziehungen zwischen den Menschen nicht mehr unmittelbar, sondern bloß noch durch den Markt vermittelt sind. Er hatte die Objektivierung des Subjektiven angestrebt, so wie Hegel in der Philosophie, und versucht, im Geiste, in der Idee die Widersprüche des realen Lebens der Menschen versöhnend zu überwinden. Das Fortbestehen dieser Widersprüche in der Realität jedoch hatte die geistige Lösung kompromittiert: gegenüber dem von keinem Sinn getragenen, in der Geschäftigkeit konkurrierender Interessen sich abquälenden oder, wie es der künstlerischen Erfahrung sich darstellt, prosaischen Leben; gegenüber einer Welt, in der das Schicksal der einzelnen Menschen nach blinden Gesetzen sich vollzieht, wird Kunst, deren Form sich gibt, als rede sie aus der gelungenen Menschheit, zur Phrase. Der Begriff des Menschen, wie der Klassizismus ihn gewonnen hatte, zog darum in die private, einzelmenschliche Existenz und ihre Bilder sich zurück; nur in ihnen noch schien das Humane geborgen. Notwendig ward auf die Idee der Menschheit als ganzer, sich selbst bestimmender, vom Bürgertum wie in der Politik so in den ästhetischen Formen verzichtet. Das sich Verstocken bei der Beschränktheit des je Eigenen, das selber einem Zwang gehorcht, macht dann Ideale wie die des Behaglichen und Gemütlichen so suspekt. Der Sinn selber wird an die Zufälligkeit des individuellen Glücks gebunden; gleichsam usurpatorisch wird ihm eine Würde zugeschrieben, die es erst zusammen mit dem Glück des Ganzen erlangte. Die gesellschaftliche Kraft im Ingenium Mörikes jedoch besteht darin, daß er beide Erfahrungen, die des klassizistischen hohen Stils und der romantischen privaten Miniatur verband und daß er dabei mit unvergleichlichem Takt der Grenzen beider Möglichkeiten inne ward und sie gegeneinander ausglich. In keiner Regung des Ausdrucks überschreitet er, was zu seinem Augenblick wahrhaft sich füllen ließ. Das vielberufene Organische seiner Produktion ist wohl nichts anderes als jener geschichtsphilosophische Takt, wie ihn kaum ein Dichter deutscher Sprache im selben Maße besaß. Die angeblich krankhaften Züge Mörikes, von denen Psychologen zu berichten wissen, auch das Versiegen seiner Produktion in späteren Jahren sind der negative Aspekt seines zum Extrem gesteigerten Wissens um das, was möglich ist. Die Gedichte des hypochondrischen Cleversulzbacher Pfarrers, den man zu den naiven Künstlern zählt, sind Virtuosenstücke, die kein Meister des l'art pour l'art überbot. Das Hohle und Ideologische des hohen Stils ist ihm so gegenwärtig wie das Mindere, kleinbürgerlich Dumpfe und gegen die Totalität Verblendete des Biedermeiers, in dessen Zeit der größere Teil seiner Lyrik fällt. Es treibt den Geist in ihm, einmal noch Bilder zu bereiten, die weder an den Faltenwurf noch an den Stammtisch sich verraten, weder an die Brusttöne noch ans Schmatzen. Wie auf einem schmalen Grat findet sich in ihm, was eben noch vom hohen Stil, verhallend, als Erinnerung nachlebt, zusammen mit den Zeichen eines unmittelbaren Lebens, die Gewährung verhießen, als sie selber von der historischen Tendenz eigentlich schon gerichtet waren, und beides grüßt den Dichter, auf einer Wanderung, nur noch im Entschwinden. Er hat schon Anteil an der Paradoxie von Lyrik im heraufkommenden Industriezeitalter. So schwebend und zerbrechlich wie erstmals seine Lösungen, sind dann die der großen nachfolgenden Lyriker allesamt gewesen, auch derer, die durch einen Abgrund von ihm getrennt erscheinen, wie jenes Baudelaire, von dem doch Claudel sagte, sein Stil sei eine Mischung aus dem Racines und dem des Journalisten seiner Zeit. In der industriellen Gesellschaft wird die lyrische Idee der sich wiederherstellenden Unmittelbarkeit, wofern sie nicht ohnmächtig romantisch Vergangenes beschwört, immer mehr zu einem jäh Aufblitzenden, in dem das Mögliche die eigene Unmöglichkeit überfliegt. Das kurze Gedicht von Stefan George, zu dem ich Ihnen nun noch einiges sagen möchte, entstand in einer viel späteren Phase dieser Entwicklung. Es ist eines der berühmten Lieder aus dem ›Siebenten Ring‹, aus einem Zyklus aufs äußerste verdichteter, in aller Leichtigkeit des Rhythmus an Gehalt überschwerer Gebilde, aller Jugendstilornamente ledig. Ihre verwegene Kühnheit hat erst die Vertonung durch den großen Komponisten Anton von Webern dem schmählichen Kulturkonservativismus des Kreises entrissen; bei George klaffen Ideologie und gesellschaftlicher Gehalt weit auseinander. Das Lied lautet:
Im windes-weben War meine frage Nur träumerei. Nur lächeln war Was du gegeben. Aus nasser nacht Ein glanz entfacht – Nun drängt der mai Nun muss ich gar Um dein aug und haar Alle tage In sehnen leben.
Am hohen Stil ist keine Sekunde Zweifel. Das Glück der nahen Dinge, das Mörikes so viel älteres Gedicht noch streift, verfällt dem Verbot. Es wird fortgewiesen von eben jenem Nietzscheschen Pathos der Distanz, als dessen Nachfahren George sich wußte. Zwischen Mörike und ihm liegt abschreckend der Abhub der Romantik; die idyllischen Reste sind ohne Hoffnung veraltet und zu Herzenswärmern verkommen. Während Georges Dichtung, die eines herrischen Einzelnen, die individualistische bürgerliche Gesellschaft und den für sich seienden Einzelnen als Bedingung ihrer Möglichkeit voraussetzt, ergeht über das bürgerliche Element der einverstandenen Form nicht anders als über die bürgerlichen Inhalte ein Bannfluch. Weil aber diese Lyrik aus keiner anderen Gesamtverfassung als der von ihr nicht nur a priori und stillschweigend, sondern auch ausdrücklich verworfenen bürgerlichen reden kann, wird sie zurückgestaut: sie fingiert von sich aus, eigenmächtig, einen feudalen Zustand. Das verbirgt sich gesellschaftlich hinter dem, was das Cliché Georges aristokratische Haltung nennt. Sie ist nicht die Pose, über die der Bürger sich empört, der diese Gedichte nicht abtätscheln kann, sondern wird, so gesellschaftsfeindlich sie sich gebärdet, von der gesellschaftlichen Dialektik gezeitigt, die dem lyrischen Subjekt die Identifikation mit dem Bestehenden und seiner Formenwelt verweigert, während es doch bis ins Innerste dem Bestehenden verschworen ist: von keinem anderen Ort aus kann es reden als dem einer vergangenen, selber herrschaftlichen Gesellschaft. Ihm ist das Ideal des Edlen entlehnt, das die Wahl eines jeden Wortes, Bildes, Klanges in dem Gedichte diktiert; und die Form ist, auf eine kaum dingfest zu machende, gleichsam in die sprachliche Konfiguration hineingetragene Weise, mittelalterlich. Insofern ist das Gedicht, wie George insgesamt, in der Tat neuromantisch. Beschworen aber werden nicht Realien und nicht Töne, sondern eine entsunkene Seelenlage. Die artistisch erzwungene Latenz des Ideals, die Abwesenheit jedes groben Archaismus, hebt das Lied über die verzweifelte Fiktion hinaus, die es doch bietet; mit der Wandschmuck-Poesie der Frau Minne und der Aventuren läßt es so wenig sich verwechseln wie mit dem Requisitenschatz von Lyrik aus der modernen Welt; sein Stilisationsprinzip bewahrt das Gedicht vorm Konformismus. Für die organische Versöhnung widerstreitender Elemente ist ihm so wenig Raum gelassen, wie sie in seiner Epoche real mehr sich schlichten ließen: bewältigt werden sie nur durch Selektion, durchs Fortlassen. Wo nahe Dinge, das, was man gemeinhin konkret unmittelbare Erfahrungen nennt, in Georges Lyrik überhaupt noch Einlaß finden, ist er ihnen verstattet einzig um den Preis von Mythologisierung: keine darf bleiben, was sie ist. So wird, in einer der Landschaften des ›Siebenten Ringes‹, das Kind, das Beeren pflückte, wortlos, wie mit dem Zauberstab, mit magischer Gewalttat, ins Märchenkind verwandelt. Die Harmonie des Liedes ist einem Äußersten an Dissonanz abgezwungen: sie beruht auf dem, was Valéry refus nannte, auf einem unerbittlichen sich Versagen alles dessen, woran die lyrische Konvention die Aura der Dinge zu besitzen wähnt. Das Verfahren behält bloß noch Modelle übrig, die reinen Formideen und Schemata des Lyrischen selber, die, indem sie jegliche Zufälligkeit abwerfen, prall vor Ausdruck noch einmal reden. Inmitten des Wilhelminischen Deutschland darf der hohe Stil, dem jene Lyrik polemisch sich entrang, auf keinerlei Tradition sich berufen, am letzten aufs klassizistische Erbe. Er wird gewonnen, nicht, indem er etwas an rhetorischen Figuren und Rhythmen sich vorgibt, sondern indem er asketisch ausspart, was immer die Distanz von der vom Kommerz geschändeten Sprache mindern könnte. Damit das Subjekt wahrhaft hier der Verdinglichung in Einsamkeit widersteht, darf es nicht einmal mehr versuchen, aufs Eigene wie auf sein Eigentum sich zurückzuziehen; es schrecken die Spuren eines Individualismus, der unterdessen selbst schon im Feuilleton dem Markt sich überantwortete, sondern das Subjekt muß aus sich heraustreten, indem es sich verschweigt. Es muß sich gleichsam zum Gefäß machen für die Idee einer reinen Sprache. Ihrer Errettung gelten die großen Gedichte Georges. Gebildet an den romanischen Sprachen, besonders aber an jener Reduktion der Lyrik aufs Einfachste, durch die Verlaine sie ins Instrument fürs Differenzierteste umschuf, hört das Ohr des deutschen Mallarméschülers die eigene Sprache gleichwie eine fremde. Er überwindet ihre Entfremdung, die durch den Gebrauch, indem er sie übersteigert zur Entfremdung einer eigentlich schon nicht mehr gesprochenen, ja einer imaginären, an der ihm aufgeht, was in ihrer Zusammensetzung möglich wäre, doch nie geriet. Die vier Zeilen »Nun muss ich gar / Um dein aug und haar / Alle tage / In sehnen leben«, die ich zu dem Unwiderstehlichsten zähle, was jemals der deutschen Lyrik beschieden war, sind wie ein Zitat, aber nicht aus einem anderen Dichter, sondern aus dem von der Sprache unwiederbringlich Versäumten: sie müßten dem Minnesang gelungen sein, wenn dieser, wenn eine Tradition der deutschen Sprache, fast möchte man sagen, wenn die deutsche Sprache selber gelungen wäre. Aus solchem Geiste wollte dann Borchardt den Dante übertragen. Subtile Ohren haben an dem elliptischen »gar« sich gestoßen, das wohl an Stelle von »ganz und gar« und einigermaßen um des Reimes willen verwandt ist. Man mag solche Kritik ebenso zugestehen, wie daß das Wort, so wie es in den Vers verschlagen ward, überhaupt keinen rechten Sinn gibt. Aber die großen Kunstwerke sind jene, die an ihren fragwürdigsten Stellen Glück haben; so etwa, wie die oberste Musik nicht rein aufgeht in ihrer Konstruktion, sondern mit ein paar überflüssigen Noten oder Takten über diese hinausschießt, verhält es sich auch mit dem »gar«, einem Goetheschen »Bodensatz des Absurden«, mit dem die Sprache der subjektiven Intention entflieht, die das Wort herbeizog; wahrscheinlich ist es überhaupt erst dies »gar«, das mit der Kraft eines déjà vu den Rang des Gedichtes stiftet: durch das seine Sprachmelodie hinausreicht übers bloße Bedeuten. Im Zeitalter ihres Untergangs ergreift George in der Sprache die Idee, die der Gang der Geschichte ihr verweigerte, und fügt Zeilen zusammen, die klingen, nicht als wären sie von ihm, sondern als wären sie von Anbeginn der Zeiten da gewesen und müßten für immer so sein. Die Donquixoterie dessen aber; die Unmöglichkeit solcher wiederherstellenden Dichtung, die Gefahr des Kunstgewerbes wächst noch dem Gehalt des Gedichts zu: die schimärische Sehnsucht der Sprache nach dem Unmöglichen wird zum Ausdruck der unstillbaren erotischen Sehnsucht des Subjekts, das im anderen seiner selbst sich entledigt. Es bedurfte des Umschlags der ins Maßlose gesteigerten Individualität zur Selbstvernichtung – und was ist der Maximinkult des späten George anderes als die verzweifelt positiv sich auslegende Abdankung von Individualität –, um die Phantasmagorie dessen zu bereiten, wonach die deutsche Sprache in ihren größten Meistern vergebens tastete, das Volkslied. Nur vermöge einer Differenzierung, die so weit gedieh, daß sie die eigene Differenz nicht mehr ertragen kann, nichts mehr, was nicht das von der Schmach der Vereinzelung befreite Allgemeine im Einzelnen wäre, vertritt das lyrische Wort das An-sich-Sein der Sprache wider ihren Dienst im Reich der Zwecke. Damit aber den Gedanken einer freien Menschheit, mag auch die Georgesche Schule ihn mit niedrigem Höhenkultus sich selber verdeckt haben. George hat seine Wahrheit daran, daß seine Lyrik in der Vollendung des Besonderen, in der Sensibilität gegen das Banale ebenso wie schließlich auch gegen das Erlesene, die Mauern der Individualität durchschlägt. Zog ihr Ausdruck sich zusammen in den individuellen, so wie sie ihn ganz mit Substanz und Erfahrung der eigenen Einsamkeit sättigt, dann wird eben diese Rede zur Stimme der Menschen, zwischen denen die Schranke fiel. Zum Gedächtnis Eichendorffs
Je devine, à travers un murmure Le contour subtil des voix anciennes Et dans les lueurs musiciennes, Amour pâle, une aurore future! Verlaine
Die Beziehung zur geistigen Vergangenheit in der falsch auferstandenen Kultur ist vergiftet. Der Liebe zum Vergangenen gesellt vielfach sich die Rancune gegen das Gegenwärtige; der Glaube an einen Besitz, den man doch verliert, sobald man ihn unverlierbar wähnt; das Wohlgefühl im vertraut Überkommenen, in dessen Zeichen gern jene dem Grauen entfliehen, deren Einverständnis es bereiten half. Die Alternative zu alldem scheint schneidend: der Gestus »Das geht nicht mehr«. Allergie gegen das falsche Glück der Geborgenheit bemächtigt eifernd sich auch des Traumes vom wahren, und die gesteigerte Empfindlichkeit gegen Sentimentalität zieht sich auf den abstrakten Punkt des bloßen Jetzt zusammen, vor dem das Einst so viel gilt, als wäre es nie gewesen. Erfahrung wäre die Einheit von Tradition und offener Sehnsucht nach dem Fremden. Aber ihre Möglichkeit selber ist gefährdet. Der Bruch in der Kontinuität historischen Bewußtseins, den Hermann Heimpel erkannte, bewirkt eine Polarisierung in antiquarische, wo nicht zu ideologischen Zwecken zurechtgestutzte Kulturgüter, und in eine Aktualität, die, gerade weil es ihr an Erinnerung gebricht, auf dem Sprung steht, dem bloß Bestehenden auch dort spiegelnd sich zu verschreiben, wo sie ihm opponiert. Der Rhythmus von Zeit ist verstört. Während die philosophischen Gassen von Zeitmetaphysik widerhallen, ist Zeit den Menschen, einst gemessen am beständigen Ablauf ihres Lebens, selber entfremdet; darum wohl wird sie so krampfhaft beredet. Das wahrhaft tradierte Vergangene wäre in seinem Gegenteil, in der fortgeschrittensten Gestalt des Bewußtseins aufgehoben; fortgeschrittenes Bewußtsein aber, das seiner selbst mächtig wäre und nicht fürchten müßte, von der nächsten Information dementiert zu werden, hätte darum auch die Freiheit, Vergangenes zu lieben. Große avantgardistische Künstler wie Schönberg mußten nicht sich selber durch die Wut auf Vorfahren bestätigen, daß sie deren Bann entrannen. Entronnene und Befreite, durften sie die Tradition als ihresgleichen wahrnehmen, anstatt auf einem Unterschied zu insistieren, der mit dem Gebot des radikalen, gleichsam naturhaften Neubeginns nur die Geschichtshörigkeit übertönt. Sie wußten sich als Vollstrecker des geheimen Willens jener Tradition, die sie zerbrachen. Nur wo sie nicht mehr durchbrochen wird, weil man sie nicht mehr spürt und darum auch nicht die eigene Kraft an ihr erprobt, verleugnet man sie; was anders ist, scheut nicht die Wahlverwandtschaft mit dem, wovon es abstößt. Gegenwärtig wäre nicht das zeitlose Jetzt sondern eines, das gesättigt ist mit der Kraft des Gestern und es darum nicht zu vergötzen braucht. An dem avancierten Bewußtsein wäre es, das Verhältnis zum Vergangenen zu korrigieren, nicht indem der Bruch beschönigt wird, sondern indem man dem Vergänglichen am Vergangenen das Gegenwärtige abzwingt und keine Tradition unterstellt. Sie gilt so wenig mehr wie umgekehrt der Glaube, die Lebenden hätten Recht gegen die Toten, oder die Welt finge mit ihnen an. Spröde widerstrebt Joseph von Eichendorff solcher Bemühung. Die ihn preisen, sind vorab Kulturkonservative. Manche rufen ihn als Kronzeugen einer positiven Religiosität an, wie er sie, zumal in den literarhistorischen Arbeiten seiner Spätzeit, schroff dogmatisch behauptete. Andere beschlagnahmen ihn in landsmannschaftlichem Geiste, einer Art Stammespoetik Nadlerschen Schlages. Sie möchten ihn gewissermaßen rücksiedeln, ihr »er war unser« soll patriotischen Ansprüchen zugute kommen, mit deren jüngster Gestalt sein restaurativer Universalismus doch wohl wenig gemein hat. Solchen Anhängern gegenüber ist dann der zeitgemäße Hinweis aufs Unzeitgemäße an Eichendorff nur allzu einleuchtend. Deutlich erinnere ich mich aus meiner Gymnasialzeit daran, wie ein Lehrer, der auf mich bedeutenden Einfluß ausübte, mich bei den Zeilen »Es war, als hätt' der Himmel /Die Erde still geküßt«, die mir so selbstverständlich waren wie Schumanns Komposition, auf die Trivialität des Bildes aufmerksam machte. Ich war unfähig, der Kritik zu begegnen, ohne daß sie mich doch recht überzeugt hätte, wie denn Eichendorff allen Einwänden preisgegeben ist. Aber dennoch gefeit gegen jeglichen. Was, nach Brahmsens Wort, jeder Esel hört, prallt ab von der Qualität der Eichendorffschen Gedichte. Wird sie indessen zum Geheimnis erklärt, das man zu respektieren habe, so verbirgt hinter solchem demütigen Irrationalismus sich die Trägheit, die angestrengte Passivität aufzubringen, welche das Gedicht erheischt; am Ende auch die Bereitschaft, das einmal Approbierte weiter zu bewundern und sich zu bescheiden mit der vagen Überzeugung, daß irgend etwas daran mehr sei als in Anthologien oder Klassikerausgaben aufgebahrte Lyrik. Zu einer Stunde aber, zu der keine künstlerische Erfahrung mehr fraglos vorgegeben ist; zu einer Stunde, da in unserer Kindheit keine Autorität von Lesebüchern uns die Schönheit zueignet, die wir verstehen, weil wir sie noch nicht verstehen, fordert jegliche Anschauung des Schönen, daß wir den Grund wissen, warum es schön genannt wird. Selbstgerecht und unwahr bleibt die Naivetät, die davon sich dispensiert; der Gehalt des Kunstwerks, der Geist ist, hat den Geist nicht zu fürchten, der sucht, ihn zu begreifen, sondern sucht ihn selber. Eichendorff erkennend vor Freunden und Feinden retten, ist das Gegenteil sturer Apologie. Das Element seiner Gedichte, das dem Männergesangverein überantwortet ward, ist nicht immun gegen sein Schicksal und hat es vielfach herbeigezogen. Ein Ton des Affirmativen, der Verherrlichung des Daseins schlechthin bei ihm hat geradewegs in jene Lesebücher geführt. Die apokryphe Unsterblichkeit freilich, die er dort fand, steht zu verachten nicht an. Wer nicht als Kind »Wem Gott will rechte Gunst erweisen, / Den schickt er in die weite Welt« auswendig lernte, kennt nicht eine Schicht der Erhebung des Wortes über den Alltag, die kennen muß, wer sie sublimieren, wer den Riß zwischen der menschlichen Bestimmung und dem ausdrücken will, was die Einrichtung der Welt aus ihm macht. So sind auch Schuberts Müllerlieder nur dem ganz nah, der zuvor einmal die Vulgärkomposition von »Das Wandern ist des Müllers Lust« im Schulchor mitgesungen hat. Manche Verse von Eichendorff, »Am liebsten betracht' ich die Sterne, / Die schienen, wenn ich ging zu ihr«, klingen wie Zitate beim ersten Mal, memoriert nach dem Lesebuch Gottes. Darum jedoch muß man die allzu ungebrochenen Töne nicht verteidigen, mit denen Eichendorff lobt und dankt. In den Generationen, die seit seinen Tagen vergingen, ist das Ideologische am weltfrohen und geselligen Eichendorff hervorgetreten, um in der Prosa manchmal Lächeln zu provozieren. Aber selbst um diese Schicht ist es bei ihm nicht ganz einfach bestellt. Ein goethisch angestimmtes geselliges Lied enthält die Zeilen:
Das Trinken ist gescheiter, Das schmeckt schon nach Idee, Da braucht man keine Leiter, Das geht gleich in die Höh'.
Nicht bloß streift die studentenhaft saloppe Nennung des Wortes Idee die große Philosophie, deren Zeitalter Eichendorff angehört, sondern es wird eine über jenes Zeitalter weit hinausgreifende Vergeistigung des Sinnlichen innerviert, wie sie nichts mit verspäteter Anakreontik gemein hat und erst in den tödlichen Weingedichten Baudelaires zu sich selber kam: so flüchtig und ephemer ist von nun an die Idee, das Absolute, wie der Duft des Weines. Wohl geziemt es nicht, nach einer verbreiteten literarhistorischen Manier, Eichendorffs affirmativen Ton als dem Dunklen entrungen zu rechtfertigen, von dem jene Gedichte und Prosasätze wenig bezeugen. Aber fraglos sind sie doch verwandt mit dem europäischen Weltschmerz. Ihm antwortet Eichendorffs gekaufter Mut, jener Entschluß zur Munterkeit, wie er mit befremdend paradoxer Gewalt am Ende eines der größten seiner Gedichte, dem vom Zwielicht, sich bekundet: »Hüte dich, sei wach und munter«. Was bei Schumann einmal »im fröhlichen Ton« heißt, gleicht bei diesem wie bei Eichendorff schon dem Rilkeschen »Als ob wir noch Fröhlichkeit hätten«:
Hinaus, o Mensch, weit in die Welt Bangt dir das Herz in krankem Mut; Nichts ist so trüb in Nacht gestellt, Der Morgen leicht macht's wieder gut.
Die Ohnmacht solcher Strophen ist nicht die des beschränkten Glücks, sondern der vergeblichen Beschwörung, und der Ausdruck ihrer Vergeblichkeit, mit dem wohl skeptisch Wienerischen »leicht« für »vielleicht«, ist zugleich die Kraft, die mit ihnen versöhnt. Kinderangst will der Schluß des ›Zwielichts‹ übertäuben, aber: »Manches bleibt in Nacht verloren«. Der späte Eichendorff hat die verfrühte Dankbarkeit des jungen so nach Hause gebracht, daß sie des eigenen Truges inne wird und die eigene Wahrheit doch festhält:
Mein Gott, dir sag' ich Dank, Daß du die Jugend mir bis über alle Wipfel In Morgenrot getaucht und Klang, Und auf des Lebens Gipfel, Bevor der Tag geendet, Vom Herzen unbewacht Den falschen Glanz gewendet, Daß ich nicht taumle ruhmgeblendet, Da nun herein die Nacht Dunkelt in ernster Pracht.
So unwiederbringlich heute das Befriedete selbst dieser Verse dahin ist, so strahlend leuchtet es, und längst nicht mehr bloß der Todesnacht des Einzelnen. Eichendorff verherrlicht was ist und meint doch nicht das Seiende. Er war kein Dichter der Heimat sondern der des Heimwehs, im Sinne des Novalis, dem er nahe sich wußte. Selbst in jenem »Es war als hätt' der Himmel«, das er unter die ›Geistlichen Gedichte‹ einreihte und das klingt, als wäre es mit dem Bogenstrich gespielt, trägt das Gefühl der absoluten Heimat nur darum, weil es nicht unmittelbar die beseligte Natur meint, sondern mit einem Akzent unfehlbaren metaphysischen Takts bloß gleichnishaft ausgesprochen wird:
Und meine Seele spannte Weit ihre Flügel aus, Flog durch die stillen Lande, Als flöge sie nach Haus.
Anderswo schreckt die Katholizität des Dichters nicht zurück vor der wie immer auch trauernden Zeile: »Das Reich des Glaubens ist geendet.« Gleichwohl ist Eichendorffs Positivität seinem Konservativismus verschwistert, sein Lob dessen, was ist, der Idee des Bewahrenden. Aber wenn irgendwo, dann hat in der Dichtung der Stellenwert des Konservativismus zum äußersten sich verändert. Hilft er heute, nach dem Zerfall der Tradition, als willkürliches Lob von Bindungen, bloß zur Rechtfertigung eines schlechten Bestehenden, so wollte er einmal auch ein sehr anderes, das erst an seinem Gegensatz, der hereinbrechenden Barbarei, ganz sich wägen läßt. Wieviel an Eichendorff aus der Perspektive des depossedierten Feudalen stammt, ist so offenbar, daß gesellschaftliche Kritik daran albern wäre; in seinem Sinne aber lag nicht nur die Restauration der entsunkenen Ordnung, sondern auch der Widerstand gegen die destruktive Tendenz des Bürgerlichen selber. Seine Überlegenheit über alle Reaktionäre, die heute die Hand nach ihm ausstrecken, bewährt sich daran, daß er, wie die große Philosophie seiner Epoche, die Notwendigkeit der Revolution begriff, vor der ihn schauderte: er verkörpert etwas von der kritischen Wahrheit des Bewußtseins derer, die den Preis für den fortschreitenden Gang des Weltgeistes zu entrichten haben. Seine Schrift über den Adel und die Revolution enthält gewiß viel Beschränktes, und seine Vorbehalte gegen den eigenen Stand sind nicht frei von puritanischen Klagen über dessen »Seuche der Glanz-und Genußsucht«, die freilich von ihm zusammengebracht werden mit der unter den Feudalen sich ausbreitenden kapitalistischen Gesinnung, mit ihrer Neigung, den Grundbesitz »in ihrer beständigen Geldnot durch verzweifelte Güterspekulationen zur gemeinen Ware« zu machen. Aber er hat nicht nur von den »bramarbasierenden Haudegen des Siebenjährigen Krieges« gesprochen, »die mit einer unnachahmlich lächerlichen Manneswürde von einer gewissen Biderbigkeit Profession machten«, sondern auch den deutschen Nationalisten der Napoleonischen Ära den »Terrorismus einer groben Vaterländerei« vorgeworfen. Teilt er, mit einem Einschlag von Sozialkritik, die der Rechten seiner Zeit geläufigen Argumente gegen kosmopolitische Nivellierung, so hat der Feudale doch keineswegs mit den Jahn und Fries sich gemein gemacht. Überraschend sein Organ für die revolutionären und auflösenden Sympathien der Aristokratie; er hat sie bejaht: »Es brütete ... eine unheimliche Gewitterluft über dem ganzen Lande, jeder fühlte, daß irgendetwas Großes im Anzuge sei, ein unausgesprochenes, banges Erwarten, man wußte nicht von was, hatte mehr oder minder alle Gemüter beschlichen. In dieser Schwüle erschienen, wie immer vor nahenden Katastrophen, seltsame Gestalten und unerhörte Abenteurer, wie der Graf St. Germain, Cagliostro u.a., gleichsam als Emissäre der Zukunft.« Und er fand Sätze über Figuren wie den Baron Grimm und den radikalen Emigranten Grafen Schlabrendorf, die mit dem Cliché vom Konservativen so wenig zusammenstimmen wie jene Partien der Hegelschen Rechtsphilosophie, die von den über sich hinaustreibenden Kräften der bürgerlichen Gesellschaft handeln. Die Sätze lauten: »Aus diesen Sonderbündlern sind später, als die Revolution zur Tat geworden, einige höchst denkwürdige Charaktere hervorgegangen. So der rastlos unruhige Freiheitsfanatiker Baron Grimm, unablässig wie der Sturmwind die Flammen schürend und wendend, bis sie über ihm zusammenschlugen und ihn selber verzehrten. So auch der berühmte Pariser Einsiedler Graf Schlabrendorf, der in seiner Klause die ganze soziale Umwälzung wie eine große Welttragödie unangefochten, betrachtend, richtend und häufig lenkend, an sich vorübergehen ließ. Denn er stand so hoch über allen Parteien, daß er Sinn und Gang der Geisterschlacht jederzeit klar überschauen konnte, ohne von ihrem wirren Lärm erreicht zu werden. Dieser prophetische Magier trat noch jugendlich vor die große Bühne, und als kaum die Katastrophe abgelaufen, war ihm der greise Bart bis an den Gürtel gewachsen.« Wohl ist die Sympathie mit der Revolution hier bereits zu gebildet zuschauender Humanität neutralisiert, aber noch diese erhebt sich gebietend über den heutigen Kult des Heilen, Organischen und Ganzheitlichen: Eichendorffs Bewahrendes ist weit genug, sein eigenes Gegenteil mitzuumfassen. Seine Freiheit zur Einsicht in das Unwiderrufliche des geschichtlichen Prozesses ist dem Konservativismus der spätbürgerlichen Phase gänzlich abhanden gekommen; je weniger die vorkapitalistischen Ordnungen mehr sich wiederherstellen lassen, desto verbissener klammert sich die Ideologie an deren angeblich geschichtloses, absolut verbürgtes Wesen. Das vorbürgerliche Ferment im Eichendorffschen Konservativismus, das über die Bürgerlichkeit selber die Unruhe von Sehnsucht, Ausbruch und seliger Nutzlosigkeit bringt, reicht aber tief hinein bis in seine Lyrik. In Benjamins ›Einbahnstraße‹ heißt es: »Der Mann ..., der sich in Einklang mit den ältesten Überlieferungen seines Standes oder seines Volkes weiß, stellt gelegentlich sein Privatleben ostentativ in Gegensatz zu den Maximen, die er im öffentlichen Leben unnachsichtlich vertritt, und würdigt ohne leiseste Beklemmung des Gewissens sein eigenes Verhalten insgeheim als bündigsten Beweis unerschütterlicher Autorität der von ihm affichierten Grundsätze.« 1 Das könnte zwar nicht auf Eichendorffs Privatleben, wohl aber auf seinen dichterischen Habitus gemünzt sein. Hinzuzufügen wäre die Frage, ob nicht eben solche Unzuverlässigkeit, neben dem Gesichertsein selbst, auch das Korrektiv an der Sicherheit, die Transzendenz zu einer bürgerlichen Gesellschaft ausdrücke, in der der Konservative nicht ganz domestiziert ist und zu deren Gegnern ihn etwas hinzieht. Sie werden bei Eichendorff von den Vaganten vertreten, den Heimatlosen von einst als Boten an die Zukunft derer, die, wie es bei Novalis die Philosophie will, überall zuhause sind. Nach dem Lob der Familie als der Keimzelle der Gesellschaft wird man bei ihm vergebens suchen. Enden einige Novellen – nicht der große Jugendroman ›Ahnung und Gegenwart‹ – konventionell mit der Ehe des Helden, so bekennt sich in der Lyrik der Dichter als der, welcher keine Bleibe hat, mit unmißverständlichem Spott gegen das Gebundensein. Das Motiv kommt aus dem Volkslied, aber die Insistenz, mit der Eichendorff es wiederholt, sagt etwas über ihn selber. Der Soldat singt: »Und spricht sie vom Freien: / So schwing ich mich auf mein Roß – / Ich bleibe im Freien, / Und sie auf dem Schloß.« Und der wandernde Musikant: »Manche Schöne macht wohl Augen, / Meinet, ich gefiel' ihr sehr, / Wenn ich nur was wollte taugen, / So ein armer Lump nicht wär. – / Mag dir Gott ein'n Mann bescheren, / Wohl mit Haus und Hof versehn! / Wenn wir zwei zusammen wären, / Möcht mein Singen mir vergehn.« Noch das berühmte Gedicht von den zwei Gesellen würde verfehlen, wer dächte, die Strophe vom ersten, der ein Liebchen fand, dem die Schwieger Haus und Hof kaufte und der behaglich seine Familie gründet, entwerfe das Bild richtigen Lebens. Die Schlußstrophe mit dem jähen Weinen »Und seh ich so kecke Gesellen« gilt dem mittleren Glück des ersten nicht weniger als dem verlorenen zweiten; das richtige Leben ist zugehängt, vielleicht schon unmöglich, und in der letzten Zeile: »Ach Gott, führ uns liebreich zu dir!« sprengt niederbrechende Verzweiflung hilflos das Gedicht. Ihr Gegenteil ist die Utopie: »Es redet trunken die Ferne / Wie von künftigem, großem Glück!« – und nicht vom vergangenen: so unzuverlässig war Eichendorffs Konservativismus. Es ist aber eine schweifend erotische. Wie die Helden seiner Prosa schwanken zwischen Frauenbildern, die ineinanderspielen, niemals gegeneinander konturiert sind, so zeigt Eichendorffs Lyrik kaum ans konkrete Bild einer Geliebten sich gebunden: eine jegliche bestimmte Schöne wäre schon Verrat an der Idee schrankenloser Erfüllung. Selbst in »Übern Garten durch die Lüfte«, einem der passioniertesten Liebesgedichte der deutschen Sprache, erscheint weder sie selber noch redet der Dichter von sich. Laut wird einzig der Jubel: »Sie ist Deine, sie ist dein!« Über Namen und Erfüllung ist ein Bilderverbot ergangen. Der älteren Tradition der deutschen Dichtung war im Gegensatz zur französischen die unverhüllte Darstellung des Sexus fremd, und sie hat auf ihrem mittleren Niveau mit Prüderie und idealischem Philistertum bitter dafür zu büßen gehabt. In ihren größten Repräsentanten aber ist ihr das Verschweigen zum Segen angeschlagen, die Kraft des Ungesagten ins Wort gedrungen und hat ihm seine Süße geschenkt. Noch das Unsinnliche und Abstrakte ward bei Eichendorff zum Gleichnis für ein Gestaltloses: archaisches Erbe, früher als die Gestalt und zugleich späte Transzendenz, das Unbedingte über die Gestalt hinaus. Das sinnlichste Gedicht aus seiner Hand hält sich im nächtlich Unsichtbaren:
Über Wipfel und Saaten In den Glanz hinein – Wer mag sie erraten? Wer holte sie ein? Gedanken sich wiegen, Die Nacht ist verschwiegen, Gedanken sind frei.
Errät es nur eine, Wer an sie gedacht, Beim Rauschen der Haine, Wenn niemand mehr wacht, Als die Wolken, die fliegen – Mein Lieb ist verschwiegen Und schön wie die Nacht.
Der noch Zeitgenosse Schellings war, tastet nach den ›Fleurs du mal‹, der Zeile: »O toi que la nuit rend si belle.« Eichendorffs entfesselte Romantik führt bewußtlos zur Schwelle der Moderne. Die Erfahrung des modernen Elements in Eichendorff, das heute wohl erst offen liegt, führt am ehesten ins Zentrum des dichterischen Gehalts. Es ist wahrhaft antikonservativ: Absage ans Herrschaftliche, an die Herrschaft zumal des eigenen Ichs über die Seele. Eichendorffs Dichtung läßt sich vertrauend treiben vom Strom der Sprache und ohne Angst, in ihm zu versinken. Für solche Generosität, die nicht haushält mit sich selber, dankt ihm der Genius der Sprache. Die Zeile: »Und ich mag mich nicht bewahren!«, die in einem seiner Gedichte vorkommt, das er selber an den Anfang von deren Ausgabe setzte, präludiert in der Tat sein gesamtes oeuvre. Hier zuinnerst ist er Schumanns Wahlverwandter, gewährend und vornehm genug, noch das eigene Daseinsrecht zu verschmähen: so verströmt die Ekstase des dritten Satzes von Schumanns Klavierphantasie ins Meer. Todverfallen ist diese Liebe und selbstvergessen. In ihr verhärtet das Ich nicht länger sich in sich selber. Es möchte etwas gutmachen von dem uralten Unrecht, Ich überhaupt zu sein. Eichendorff ist schon ein bâteau ivre, aber eines noch auf dem Fluß zwischen grünen Ufern und mit bunten Wimpeln. »Nacht, Wolken, wohin sie gehen, / Ich weiß es recht gut«, heißt es aufgelöst expressionistisch in den gleichwohl dem Volkslied nachgebildeten ›Nachtigallen‹: diese Konstellation ist der ganze Eichendorff. Der wandernde Musikant sagt: »In der Nacht dann Liebchen lauschte / An dem Fenster süß verwacht«, ein Bild der Traumbefangenen mit wirrem Haar, von keiner exakten Vorstellung mehr einzuholen, aber, durch die Synkopierung des Ausdrucks, der die Süße des Mädchens und die Übernächtigkeit ineinanderfügt, magischer als jegliche Beschreibung; im selben Geist wird sie anderswo »ein süßverträumtes Kind« genannt. Zuweilen sind bei Eichendorff Worte hingelallt, aller Kontrolle bar, und die bis zum Extrem gediehene Lockerung nähert sie dem immer schon Gewesenen: »Lied, mit Tränen halb geschrieben.« Wie wenig ein Begriff von Kultur taugt, welcher die Künste abschneidend auf einen Nenner bringt, bezeugt die deutsche Dichtung, die, seit Lessing Shakespeare gegen den Klassizismus wandte, im äußersten Gegensatz zur großen Musik und Philosophie, nicht Integration, System, subjektiv gestiftete Einheit des Mannigfaltigen wollte, sondern Ausatmen und Dissoziation. An diesem deutschen Unterstrom, wie er vom Sturm und Drang und vom jungen Goethe über Büchner und manches von Hauptmann bis zu Wedekind, dem Expressionismus und Brecht treibt, hat Eichendorff insgeheim Anteil. Seine Lyrik ist gar nicht »subjektivistisch«, so, wie man von der Romantik es sich vorzustellen pflegt: sie erhebt, als Preisgabe an die Impulse der Sprache, stummen Einspruch gegen das dichterische Subjekt. Auf kaum einen paßt das bequeme Schema vom Erlebnis und der Dichtung schlechter als auf ihn. Das Wort »wirr«, eines seiner liebsten, ist völlig anderen Sinnes als das »dumpf« des jungen Goethe: es meldet die Suspension des Ichs, seine Preisgabe an ein chaotisch Andrängendes an, während die Goethesche Dumpfheit stets den seiner selbst gewissen Geist meint, der sich erst bildet. Ein Eichendorffsches Gedicht beginnt: »Ich hör die Bächlein rauschen / Im Walde her und hin, / Im Walde in dem Rauschen / Ich weiß nicht, wo ich bin«: so weiß diese Lyrik überhaupt nie, wo ich bin, weil das Ich sich vergeudet an das, wovon es flüstert. Genial falsch ist die Metapher von den Bächlein, die »her und hin« rauschen, denn die Bewegung der Bäche ist einsinnig, aber das Her und Hin gibt das Verstörte dessen wieder, was die Laute dem Ich sagen, das lauscht, anstatt sie zu lokalisieren; auch ein Stück Impressionismus wird in solchen Wendungen antezipiert. An eine äußerste Grenze gelangen jene Verse ›Zwielicht‹, die Thomas Mann besonders liebte. In der Jagdszene aus ›Ahnung und Gegenwart‹, in die sie eingeflochten sind, wahren sie, mit Eifersucht motiviert, eine gewisse Oberflächen-Verständlichkeit. Aber sie reicht nicht weit. Die Zeile: »Wolken ziehn wie schwere Träume« gewinnt der Lyrik die spezifische Art des Meinens im deutschen Wort Wolken, zum Unterschied etwa von nuage: das Wort Wolken und was es begleitet zieht in diesem Vers dahin wie schwere Träume, gar nicht erst die Gebilde, die es bedeutet. Vollends in der Fortsetzung bezeugt das Gedicht, isoliert vom Roman, die Selbstentfremdung des Ichs, das sich seiner entäußert hat, bis zum Wahnsinn der schizoiden Mahnung: »Hast ein Reh du lieb vor andern, /Laß es nicht alleine grasen«, und der Verfolgungsphantasie des Abgeschiedenen, die ihm den Freund in den Feind verhext. Eichendorffs Selbstentäußerung hat nichts gemein mit jener Kraft gegenständlicher Anschauung, jener Fähigkeit zur Konkretion, die das convenu dem dichterischen Vermögen gleichsetzt. Sein lyrisches Werk neigt zum Abstrakten nicht bloß in der imago der Liebe. Kaum je gehorcht es den Kriterien sinnlichdichter Erfahrung von der Welt, die man von Goethe, Stifter, auch Mörike abgezogen hat. Es weckt damit Zweifel am unbedingten Recht jener Kriterien selbst als an einer Reaktionsbildung, dem Versuch, für das zu kompensieren, was die idealistische Philosophie gerade dem deutschen Geist entzog. In den Märchen der Grimmschen Sammlung wird kein Wald je beschrieben oder auch nur charakterisiert; und welcher Wald wäre doch so sehr einer wie der aus den Märchen. Mit Recht hat Wolfdietrich Rasch auf die Seltenheit von Zeilen »erhöhter Anschaulichkeit, mit besonderen optischen Reizen« bei Eichendorff aufmerksam gemacht wie »Schon funkelt das Feld wie geschliffen«. Nur ist es nicht mit der rhetorischen Frage getan, ob es überhaupt nötig sei zu zeigen, worin das Faszinierende seiner Verse beruhe. Denn er erreicht die außerordentlichsten Wirkungen mit einem Bilderschatz, der bereits zu seiner Zeit abgebraucht gewesen sein muß. Von jenem Schloß, an dem Eichendorffs Sehnsucht haftete, ist nicht anders die Rede als eben nur von dem Schloß; der obligate Vorrat von Mondschein, Waldhörnern, Nachtigallen, Mandolinen wird aufgeboten, ohne daß doch die Requisiten der Eichendorffschen Dichtung viel zuleide täten. Dazu trägt bei, daß er an den Bruchstücken der lingua mortua als erster wohl Ausdruckskraft entdeckt. Er hat die lyrischen Valeurs von Fremdwörtern entbunden. In dem utopischen Gedicht ›Schöne Fremde‹ folgt unmittelbar auf das »Wirr wie in Träumen« die »phantastische Nacht«, und das Abstraktum phantastisch, uralt und unberührt in eins, ruft alles Gefühl der Nacht auf, das ein genaueres Epitheton zerschnitte. Erweckt jedoch werden die Requisiten nicht durch solche Funde, auch nicht durch neue Anschauung, sondern durch die Konstellation, in die sie treten. Totes erwecken will Eichendorffs Lyrik insgesamt, so wie der einer Schonfrist bedürftige Spruch am Ende des ›Sängerleben‹ überschriebenen Abschnitts postuliert: »Schläft ein Lied in allen Dingen, / Die da träumen fort und fort, /Und die Welt hebt an zu singen, / Triffst du nur das Zauberwort.« Dies Wort, dem die wohl von Novalis inspirierten Verse nachhängen, ist kein geringeres als die Sprache selbst. Ob die Welt singt, darüber entscheidet, daß der Dichter ins Schwarze, ins Sprachdunkle, trifft, als in ein zugleich an sich schon Seiendes. Das ist der Antisubjektivismus des Romantikers Eichendorff. Vorab wird man dabei, bei dem Dichter des Heimwehs, in dem viel ungebrochener Barock gegenwärtig war, an Allegorie gemahnt. Den Vollzug seiner allegorischen Intention halten zwei Strophen fast protokollarisch fest:
Es zog eine Hochzeit den Berg entlang, Ich hörte die Vögel schlagen, Da blitzten viel Reiter, das Waldhorn klang, Das war ein lustiges Jagen!
Und eh' ich's gedacht, war alles verhallt, Die Nacht bedecket die Runde, Nur von den Bergen noch rauschet der Wald, Und mich schauert im Herzensgrunde.
In der Vision der sogleich verschwindenden Hochzeit zielt Eichendorffs ganz unausgesprochene und darum um so nachdrücklichere Allegorie ins Zentrum des allegorischen Wesens selber, die Vergänglichkeit; der Schauer, der ihn vor dem Ephemeren des Festes ergreift, das doch Dauer meint, verwandelt die Hochzeit zurück in eine Geisterhochzeit; läßt das Jähe des Lebens selber zum Gespenstischen erstarren. Stand am Anfang der deutschen Romantik die spekulative Identitätsphilosophie, in der das Gegenständliche Geist ist und der Geist Natur, dann verleiht Eichendorff den bereits verdinglichten Dingen im Einstand noch einmal die Kraft des Bedeutens, des über sich Hinausweisenden. Dieser Augenblick des Aufblitzens einer gleichsam noch in sich erzitternden Dingwelt erklärt wohl in einigem Maß das Unverwelkliche am Welken bei Eichendorff. »Aus der Heimat hinter den Blitzen rot«, hebt ein Gedicht an, als wäre das Wetterleuchten ein geronnenes, Trauer verkündendes Stück der Landschaft, wo Vater und Mutter lange tot sind. So gleichen zuweilen die hellen Sonnenränder zwischen Gewitterwolken Blitzen, die aus ihnen zünden könnten. Keines der Eichendorffschen Bilder ist nur das, was es ist, und keines läßt sich doch auf seinen Begriff bringen: dies Schwebende allegorischer Momente ist sein dichterisches Medium. Freilich erst das Medium. In seiner Dichtung sind die Bilder wahrhaft nur Elemente, überantwortet dem Untergang im Gedicht selber. Der vergessene deutsche Ästhetiker Theodor Meyer hat in dem Buch ›Das Stilgesetz der Poesie‹, einer ebenso bescheiden vorgetragenen wie kühn gedachten Konzeption, vor mehr als fünfzig Jahren gegen den Lessingschen Laokoon und die an ihn sich anschließende Tradition, und sicherlich ohne Kenntnis Mallarmés, eine Theorie entwickelt, die etwa die Sätze zusammenfassen: »Es könnte sich bei genauerem Betrachten ergeben, daß solche Sinnenbilder mit der Sprache gar nicht geschaffen werden können, daß die Sprache allem, was durch sie hindurchgeht, auch dem Sinnlichen ihren eigenen Stempel aufdrückt; daß sie uns also das Leben, das uns der Dichter zu genießendem Nacherleben darbieten möchte, in psychischen Gebilden vorführt, die verschieden von den Erscheinungen der sinnlichen Wirklichkeit nur unserer Vorstellung eigen sind. Dann wäre die Sprache nicht das Vehikel, sondern das Darstellungsmittel der Poesie. Denn nicht in Sinnbildern, die durch die Sprache suggeriert wären, sondern in der Sprache selber und in den durch sie geschaffenen ihr allein eigentümlichen Gebilden bekämen wir den Gehalt. Man sieht, die Frage nach dem Darstellungsmittel der Poesie ist nicht müßig, ist kein Streit um des Kaisers Bart; sie wird alsbald zur Frage nach der Gebundenheit der Kunst an die sinnliche Erscheinung. Sollte es sich finden, daß die Lehre vom Vehikel ein Irrtum ist, der fallen muß, so fällt mit ihm auch die Definition der Kunst als Anschauung.« 2 Das paßt genau auf Eichendorff. Die »Sprache als Darstellungsmittel der Poesie«, als ein Autonomes, ist seine Wünschelrute. Ihr dient die Selbstauslöschung des Subjekts. Der sich nicht bewahren will, findet für sich die Zeilen: »Und so muß ich, wie im Strome dort die Welle, / Ungehört verrauschen an des Frühlings Schwelle.« Zum Rauschen macht sich das Subjekt selber: zur Sprache, überdauernd bloß im Verhallen wie diese. Der Akt der Versprachlichung des Menschen, ein Wortwerden des Fleisches, bildet der Sprache den Ausdruck von Natur ein und transfiguriert ihre Bewegung ins Leben noch einmal. Rauschen war sein Lieblingswort, fast eine Formel; das Borchardtsche »Ich habe nichts als Rauschen« dürfte als Motto über Vers und Prosa Eichendorffs stehen. Dies Rauschen jedoch wird von der allzu hastigen Erinnerung an Musik versäumt. Rauschen ist kein Klang sondern Geräusch, der Sprache verwandter als dem Klang, und Eichendorff selber stellt es als sprachähnlich vor. »Er verließ schnell den Ort«, wird vom Helden des ›Marmorbildes‹ erzählt, »und immer schneller und ohne auszuruhen eilte er durch die Gärten und Weinberge wieder fort, der ruhigen Stadt zu; denn auch das Rauschen der Bäume kam ihm nun wie ein verständiges, vernehmliches Geflüster vor, und die langen gespenstischen Pappeln schienen mit ihren weitgestreckten Schatten hinter ihm drein zu langen.« Das ist nochmals allegorischen Wesens: als würde Natur dem Schwermütigen zur bedeutenden Sprache. Aber die allegorische Intention wird in Eichendorffs eigener Dichtung getragen nicht sowohl von der Natur, der er sie an jener Stelle zuschreibt, als von seiner Sprache in ihrer Bedeutungsferne. Sie ahmt Rauschen und einsame Natur nach. Damit drückt sie eine Entfremdung aus, die kein Gedanke sondern nur noch der reine Laut überbrückt. Doch auch das Entgegengesetzte. Die erkalteten Dinge werden durch die Ähnlichkeit ihres Namens mit ihnen selber heimgeholt, und der Zug der Sprache erweckt jene Ähnlichkeit. Ein Potential des jungen Goethe, der nächtigen Landschaft von ›Willkommen und Abschied‹, wird bei Eichendorff zum Formgesetz: das der Sprache als zweiter Natur, in der die vergegenständlichte, dem Subjekt verlorene diesem wiederkehrt als beseelte. Eichendorff ist dem Bewußtsein davon sehr nahe gekommen, und zwar nicht zufällig in einem Tafellied zu Goethes Geburtstag 1831, dessen letztem: »Wie rauschen nun Wälder und Quellen / Und singen vom ewigen Port.« Sagt Proust von den Bildern Renoirs, daß, seit sie gemalt wurden, die Welt selbst anders aussieht, so wird hier mit tiefem Blick an der Lyrik Goethes das Ungeheure gerühmt, daß durch sie Natur selber sich verändert habe, durch ihn die Rauschende geworden sei. Der »Port« aber, den nach Eichendorffs Deutung Wälder und Quellen besingen, ist die Versöhnung mit den Dingen durch die Sprache. Zur Musik transzendiert sie erst kraft jener Versöhnung. Das Requisitenhafte der Sprachelemente widerspricht dem nicht sowohl, als daß es die Bedingung dafür abgibt. Die Sigel einer selber bereits verdinglichten Romantik stehen in Eichendorffs Dichtung ein für die Entzauberung der Welt, und an ihnen gerade gelingt die Erweckung durch Selbstpreisgabe. Kraft gegen das Härteste hat bei Eichendorff allein das Zarteste wie in Brechts Laotse-Gedicht: »Daß das weiche Wasser in Bewegung mit der Zeit den Stein besiegt. Du verstehst.« Das weiche Wasser in Bewegung: das ist das Gefälle der Sprache, das, wohin sie von sich aus möchte, die Kraft des Dichters aber die zur Schwäche, die, dem Sprachgefälle nicht zu widerstehen eher als die, es zu meistern. Gegen den Vorwurf des Trivialen ist es so wehrlos wie die Elemente; aber was es vollbringt: die Wörter wegzuschwemmen von ihren abgezirkelten Bedeutungen und sie, in dem sie sich berühren, aufleuchten zu machen, überführt dergleichen Einwände der Armseligkeit pedantischen Gebildetseins. Eichendorffs Größe ist nicht dort zu suchen, wo er gesichert ist, sondern wo die Schutzlosigkeit seines Gestus am äußersten sich exponiert. Das Gedicht ›Sehnsucht‹ lautet:
Es schienen so golden die Sterne, Am Fenster ich einsam stand Und hörte aus weiter Ferne Ein Posthorn im stillen Land. Das Herz mir im Leibe entbrennte, Da hab' ich mir heimlich gedacht: Ach, wer da mitreisen könnte In der prächtigen Sommernacht!
Zwei junge Gesellen gingen Vorüber am Bergeshang, Ich hörte im Wandern sie singen Die stille Gegend entlang: Von schwindelnden Felsenschlüften, Wo die Wälder rauschen so sacht, Von Quellen, die von den Klüften Sich stürzen in die Waldesnacht.
Sie sangen von Marmorbildern, Von Gärten, die überm Gestein In dämmernden Lauben verwildern, Palästen im Mondenschein, Wo die Mädchen am Fenster lauschen, Wann der Lauten Klang erwacht Und die Brunnen verschlafen rauschen In der prächtigen Sommernacht.
Dies Gedicht, unvergänglich wie nur eines aus Menschenhand, enthält kaum einen Zug, dem man nicht das Abgeleitete, Sekundäre vorrechnen könnte, aber jeder dieser Züge wandelt sich in Charakter durch die Fühlung mit dem nächsten. Was ließe von der nächtlichen Landschaft Unverbindlicheres sich sagen, als daß sie still sei, und was wäre fataler als das Posthorn; aber das Posthorn im stillen Land, der tiefsinnige Widersinn, daß der Klang die Stille nicht sowohl tötet, denn, als ihre eigene Aura, zur Stille erst macht, trägt schwindelnd hinweg übers Gewohnte, und die unmittelbar anschließende Zeile »Das Herz mir im Leibe entbrennte«, mit dem ungebräuchlichen Präteritum, das gleichsam vom ungestümen Pochen der Gegenwart nicht los kann, verbürgt durch den Kontrast zu dem Vorhergehenden eine Würde und Eindringlichkeit, von der kein einzelnes ihrer Worte etwas weiß. Oder: wie schwach wäre, nach allen Maßstäben des Gewählten, für die Sommernacht das Attribut »prächtig«. Aber das Assoziationsfeld des Adjektivs begreift die von Menschen geschaffene Schönheit, allen Reichtum von Stoff und Stickerei in sich ein und nähert damit das Bild des gestirnten Himmels dem uralten von Mantel und Gezelt: die ahnungsvolle Erinnerung daran macht es glühen. Wie offen zutage liegt die Abhängigkeit der vier Zeilen übers Gebirge von denen aus »Kennst du das Land«, aber wie weltfern von dem mächtig festbannenden »Es stürzt der Fels und über ihn die Flut« Goethes ist das Pianissimo des »Wo die Wälder rauschen so sacht«, das Paradoxon eines leisen, gleichsam nur noch im akustischen Innenraum vernehmbaren Rauschens, in das die heroische Landschaft zerrinnt, opfernd die Bestimmtheit der Bilder für ihre Flucht in offene Unendlichkeit. So ist auch das Italien des Gedichts nicht bestätigtes Ziel der Sinne, sondern selber wiederum nur Allegorie der Sehnsucht, voll des Ausdrucks der Vergängnis, des »Verwilderten«, kaum Gegenwart. Die Transzendenz der Sehnsucht aber ist gebannt im Ende des Gedichts, einem Formeinfall des Genius, der im metaphysischen Gehalt entspringt. Wie in musikalischer Reprise schließt es sich kreishaft zusammen. Als Erfüllung der Sehnsucht dessen, der da mitreisen möchte in der prächtigen Sommernacht, erscheint die prächtige Sommernacht noch einmal, Sehnsucht selbst. Das Gedicht rankt sich gleichsam um den Goetheschen Titel ›Selige Sehnsucht‹: Sehnsucht mündet in sich als in ihr eigenes Ziel, so wie, in ihrer Unendlichkeit, der Transzendenz über alles Bestimmte, der Sehnsüchtige den eigenen Zustand erfährt; so wie Liebe stets so sehr der Liebe gilt wie der Geliebten. Denn wie das letzte Bild des Gedichts die Mädchen erreicht, die am Fenster lauschen, enthüllt es sich als erotisch; aber das Schweigen, mit dem allerorten Eichendorff Begierde zudeckt, schlägt um in jene oberste Idee des Glücks, worin Erfüllung als Sehnsucht selber sich offenbart, die ewige Anschauung der Gottheit.
Eichendorff zählt, nach der Periodisierung der Geistesgeschichte und auch dem eigenen Habitus nach, bereits in die Phase des Verfalls der deutschen Romantik. Wohl hat er viele aus der ersten Generation, darunter Clemens Brentano, noch gekannt, aber das Band scheint zerrissen; nicht zufällig hat er den deutschen Idealismus, nach Schlegels Wort, eine der großen Tendenzen des Zeitalters, mit dem Rationalismus verwechselt. Er hat den Nachfolgern Kants, für den er einsichtsvolle und ehrfürchtige Worte fand, »eine Art chinesischer Schönmalerei ohne allen Schatten, der doch das Bild erst wahrhaft lebendig macht« in vollkommenem Mißverständnis vorgeworfen und an ihnen kritisiert, daß sie »das Geheimnisvolle und Unerforschliche, das sich durch das ganze menschliche Dasein hindurchzieht, ohne weiteres als störend und überflüssig negierten«. Dem Bruch der Tradition, den solche ununterrichteten Sätze dessen bekunden, der selber noch im Heidelberg der großen Jahre studierte, entspricht seine Stellung zu den romantischen Errungenschaften als zu einem Erbe. Aber weit entfernt davon, daß dergleichen geistesgeschichtliche Reflexionen Eichendorffs Lyrik minderten, beweisen sie nur das Läppische einer Betrachtungsweise nach dem Schema von Aufstieg, Höhe und Verfall. Den Dichtungen Eichendorffs fiel mehr zu als denen der Inauguratoren der deutschen Romantik, die ihm bereits historisch waren und die er kaum mehr recht begriff. Hat Romantik, nach dem Wort eines anderen ihrer Spätlinge, Kierkegaard, an jedem Erlebnis die Taufe der Vergessenheit vollzogen und es der Ewigkeit der Erinnerung geweiht, dann bedurfte es wohl der Erinnerung, um der Idee der Romantik ganz Genüge zu tun, die ihrer eigenen Unmittelbarkeit und Gegenwart widersprach. Erst die abgeschiedenen Worte sind, von Eichendorffs Munde gesprochen, zur Natur zurückgekehrt, erst die Trauer um den verlorenen Augenblick hat errettet, was der lebendige bis heute stets wieder versäumte.
CODA: SCHUMANNS LIEDER
Schumanns Liederkeis nach Eichendorff-Gedichten op. 39 ist einer der großen lyrischen Zyklen der Musik. Diese bilden, seit Schuberts Müllerliedern und der ›Winterreise‹ bis zu den Georgeliedern op. 15 von Schönberg, eine eigentümliche Form, welche die Gefahr allen Liedwesens, die Verniedlichung der Musik in genrehafte Kleinformate, bannt durch Konstruktion: das Ganze steigt aus dem Zusammenhang miniaturhafter Elemente auf. Der Rang des Schumannschen Zyklus ward so wenig je in Zweifel gezogen wie sein Zusammenhang mit der glücklichen Wahl großer Dichtung. Viele der bedeutendsten Eichendorff- Verse sind darunter, und die wenigen anderen haben durch besondere Eigentümlichkeiten die Komposition inspiriert. Mit Grund nennt man die Lieder kongenial. Das heißt aber nicht, daß sie den lyrischen Gehalt ihres Vorwurfs bloß wiederholten; dann wären sie, nach höchster künstlerischer Ökonomie, überflüssig. Sondern sie bringen ein Potential der Gedichte heraus, jene Transzendenz zum Gesang, die entspringt in der Bewegung über alles bildhaft und begrifflich Bestimmte hinweg, im Rauschen des Wortgefälles. Die Kürze der gewählten Texte – keine Komposition außer der gleichsam exterritorialen dritten ist länger als zwei Seiten – erlaubt jeder einzelnen äußerste Präzision und schließt mechanische Wiederholung vorweg aus. Meist handelt es sich um variierte Strophenlieder, zuweilen um dreiteilige Liedformen nach dem Grundriß a-b-a, einigemale auch um ganz unkonventionelle, in einen Abgesang mündende Formen. Die Charaktere sind aufs genaueste gegeneinander ausgewogen, sei es durchs Mittel sich steigernder Kontraste, sei es durch verbindende Übergänge. Gerade die Profiliertheit der einzelnen Charaktere macht aber den Plan des Ganzen notwendig, wenn es nicht in Details sich zersplittern soll; die unausrottbare Frage, ob ein solcher Plan dem Komponisten bewußt war, ist gleichgültig gegenüber dem Komponierten. Wird immer wieder von Schumanns Formalismus geredet, so mag etwas daran sein, solange es um die überlieferten und ihm bereits entfremdeten Formen sich handelt; wo er sich eigene schafft, wie in seinen früheren Instrumental- und Vokalzyklen, bewährt er nicht nur den subtilsten Formsinn sondern obendrein einen von äußerster Originalität. Alban Berg hat, in seiner exemplarischen Analyse der ›Träumerei‹ und ihrer Stellung in den ›Kinderszenen‹, zum ersten Mal, zwingend, darauf aufmerksam gemacht. Der Aufbau der Eichendorfflieder, in vielem den ›Kinderszenen‹ verwandt, erheischt ähnliche Einsicht, wenn man über die bloß wiederholende Beteuerung ihrer Schönheit hinausgelangen will. Jener Aufbau des Liederkreises steht im engsten Verhältnis zum Gehalt der Texte. Wörtlich ist der von Schumann herrührende Titel ›Liederkreis‹ zu nehmen: die Folge schließt sich den Tonarten nach zusammen und durchmißt zugleich einen modulatorischen Weg von der Melancholie des ersten, in fis-moll, zur Ekstase des letzten im Dur des gleichen Tons. Ähnlich wie die ›Kinderszenen‹ ist das Ganze zweiteilig gegliedert; und zwar im einfachsten Symmetrieverhältnis, mit der Zäsur nach dem sechsten Lied. Sie wäre durch ein deutliches Absetzen zu markieren. Das letzte Lied des ersten Teils, ›Schöne Fremde‹, steht in H-Dur, mit entschiedenem Aufstieg in die Dominanzregion; das letzte des gesamten Zyklus, in Fis-Dur, führt diesen Aufstieg noch um eine Quint weiter. Dies architektonische Verhältnis drückt ein poetisches aus: das sechste Lied endet mit der Utopie des künftigen großen Glücks, mit Ahnung; das letzte, die ›Frühlingsnacht‹ mit dem Jubel: »Sie ist Deine, sie ist dein«, mit Gegenwart. Verstärkt wird die Zäsur durch den Tonartenplan. Während die Lieder des ersten Teils allesamt in Kreuztonarten geschrieben sind, senken sie sich zu Beginn des zweiten Teils zweimal nach a-moll, ohne Vorzeichen, um dann die im ersten Teil vorwaltenden Tonarten reprisenhaft wieder aufzunehmen, bis die Anfangstonart erreicht und zugleich mit der Versetzung in Dur die stärkste modulatorische Steigerung bewirkt wird. Die Folge der Tonarten ist bis ins einzelne balanciert; das zweite Lied bringt die Dur-Parallele zum ersten, das dritte deren Dominante; das vierte senkt sich ins terzverwandte G-Dur, das fünfte stellt das vorausgehende E-Dur wieder her, und das sechste erhebt sich weiter nach H-Dur. Von den beiden a-moll-Liedern des zweiten Teils schließt das erste auf einem Dominantakkord, der das Gedächtnis an E-Dur wachruft; das anschließende, ›In der Fremde‹, anstatt in a-moll in A-Dur, das folgende erreicht dann wiederum E-Dur als Dominanz-Tonart von A-Dur, analog dem architektonischen Verhältnis des dritten zum zweiten. Ähnlich korrespondiert das zehnte, in e-moll, dem vierten in G-Dur, beide in Tonarten mit nur einem Kreuz. Anstelle des E-Dur des fünften jedoch bringt das elfte nur A-Dur und verleiht dadurch dem Übergang in die extreme Tonart, Fis-Dur, mit der großen Spannung allen modulatorischen Nachdruck. – Diese harmonischen Proportionen vermitteln die innere Form des Zyklus. Er beginnt also mit zwei lyrischen Stücken, traurig das eine, im abgerungen fröhlichen Ton das zweite. Das dritte, ›Waldesgespräch‹, die Loreleiballade, kontrastiert ebenso durch den erzählenden Ton wie durch die breitere Anlage und den doppelstrophischen Bau; im ersten Teil nimmt es eine ähnliche Sonderstellung ein wie dann im zweiten die an analoger Stelle lokalisierte ›Wehmut‹. Das vierte und fünfte Lied wenden sich zum intimen Charakter zurück, steigern aber dessen Zartheit, ›Die Stille‹, ein piano-, die ›Mondnacht‹, ein pianissimo- Lied. Das sechste, die ›Schöne Fremde‹, bringt den ersten großen Ausbruch. Der zweite Teil wird eröffnet von einem Stück zwischen Lied und Ballade, und auch das folgende gibt den lyrischen Ausdruck im Medium des Erzählens. Die ›Wehmut‹ dann ist formal ein Intermezzo wie zuvor das ›Waldesgespräch‹, nun aber lyrisch ganz und gar, gleichsam die Selbstreflexion des Zyklus. Das zehnte Lied, ›Zwielicht‹, erreicht, wie das Gedicht es verlangt, den Schwerpunkt des Ganzen, die tiefste, dunkelste Stelle des Gefühls. Es zittert nach im elften, der Jagdvision ›Im Walde‹. Darauf endlich, mit dem stärksten Kontrast des gesamten Zyklus, die Elevation der ›Frühlingsnacht‹. – Zu den einzelnen Liedern mag so viel bemerkt sein: das erste, ›In der Heimat hinter den Blitzen rot‹, ist »Nicht schnell« überschrieben und wird darum stets zu langsam genommen; man muß es in ruhigen Halben, nicht in Vierteln denken. Auffallend vorab die dissonierenden Akkordakzente; der kurze Mittelteil kennt ein bleich schimmerndes Dur, mit kurzen Motivansätzen im Klavier; eine unbeschreiblich ausdrucksvolle harmonische Variante fällt auf die Worte »Da ruhe ich auch«. Innerhalb der Gesamtform des Zyklus erfüllt das Lied einleitende Funktion. Es geht melodisch noch nicht aus sich heraus, hält meist mit Sekundintervallen haus. – Das zweite Lied, ›Dein Bildnis wunderselig‹, am ehesten Schumanns Heinegesängen vergleichbar, hat einen drängenden Mittelteil, dessen Impuls von der Reprise nach Hause gebracht wird. Diese beginnt mit einer Dehnung der Dominante, unter Aussparung der Tonika, so daß der harmonische Strom über den Formeinschnitt hinwegfließt. Abermals gibt es Ansätze selbständiger Nebenstimmen, eine Art hingetuschten harmonischen Kontrapunkts, der für den Stil des ganzen Werkes charakteristisch ist; folgerecht arbeitet dann auch das Nachspiel mit Imitationen des Themas durch seine Gegenbewegung. – Das ›Waldesgespräch‹ ist eines jener Schumannmodelle, aus denen Brahms entsprang. Die Form bildet der Kontrast des Balladenberichts und der Geisterstimme. Musikalisch am originellsten sind die zwiespältigen alterierten Akkorde, welche die drohende Lockung ausdrücken. – Das vierte, ganz vor sich hingesungene Lied bricht in der Mitte jäh aus und nimmt sogleich ins Leise sich zurück. Zum Wort »wissen« wird ein quartiger Akkord angeschlagen, der, durch doppelte Vorhaltsbildung, gefärbt ist wie vom Triangel. – Von der ›Mondnacht‹ läßt so schwer sich reden, wie, nach Goethes Diktum, von allem, was eine große Wirkung getan hat. Doch darf bei der Komposition, der tongewordenen Klarheit, wenigstens auf Züge verwiesen werden, durch die sie der Monotonie entgeht, wie die hinzugefügte Sekundreibung in der zweiten Strophe bei den Worten »durch die Felder«. Sigel des Liedes ist der große Nonenakkord, mit dem es anhebt. Durch die Setzweise und seine figurative Auflösung hält er sich diesseits des Schwelgerischen, das er vielfach bei Wagner, Strauss und später annimmt. Vielmehr suggerieren die übereinander geschichteten Terzen das Gefühl des Gedichts, indem das Ohr dieselben Intervalle wie ins Unendliche fortsetzt, über das real Erklingende hinaus, während zugleich die Identität des Terzenintervalls eben jene Klarheit rettet, aus deren Verhältnis zum Unendlichen der Ton des Liedes resultiert. Die Form nähert sich dem Bar; die letzte Strophe zeichnet als Abgesang die ausgreifende Gebärde des Gedichts nach, während doch die beiden letzten Zeilen Reprise des Beginns bleiben und das transzendierende Gebilde wiederum in sich verschließen. Der rhythmischen Dehnung zu den Schlußworten »Als flöge sie nach Haus«, wo aus zwei Dreiachteltakten ein großer Dreivierteltakt wird, dürfte kein Ohr sich versagen, das sie einmal wahrgenommen hat. Dies auskomponierte Ritardando hat ein Brahmsisches Verfahren gezeitigt, das endlich die bei Schumann unbestrittene Vorherrschaft der achttaktigen Periode brach. – Die ›Schöne Fremde‹ setzt auf der dritten Stufe ein, gewissermaßen in schwebender Tonalität, so daß das H-Dur des ekstatischen Schlusses wirkt, als wäre es nicht vorweg da, sondern aus dem Gang der Melodie erst erzeugt; das Wort »phantastisch« spiegelt sich in einer süß eindringenden Dissonanz. Auch hier hat die Schlußstrophe deutlich das Wesen des Abgesangs; aber in dem Lied ist insgesamt auf Symmetrie durch Wiederholung verzichtet, es strömt mit wahrhaft unerhörter Freiheit dorthin, wo es melodisch und harmonisch hinaus will. ›Auf einer Burg‹, das ritterromantische Stück, mit dem der zweite Teil anhebt, wird ausgezeichnet durch die kühnen, bei Schumann und im früheren neunzehnten Jahrhundert wohl einzigartigen Dissonanzen, die aus dem Zusammenstoß der melodischen Linie mit den choralhaften Bindungen der an Nebenstufen reichen Begleitung resultieren; es ist, als hätte die Modernität dieser Harmonisierung vorweg das Gedicht vorm Veralten schützen wollen. – Das gedämpft hastende ›Ich hör die Bächlein rauschen‹ ist aus einfachsten Zweitaktern, ohne jede rhythmische Variation gefügt, aber mit derart expressiven harmonischen Nuancen und, am Schluß, einem so grellen Akzent, daß gleichwohl die wildeste Rührung davon ausgeht. – Das Adagio-Intermezzo ›Wehmut‹ hält sich im undurchbrochenen Legatosatz harmonischer Instrumentalstimmen; die modulatorische Ausweichung in die Unterdominanzregion beim Wort »Sehnsucht« läßt jedoch darauf eine Sekunde lang schräg, wie von außen, trübsinniges Licht fallen; gegen das angedeutete D-Dur scheint die Haupttonart E-Dur kränklich aufzuleuchten. – ›Zwielicht‹, vielleicht das großartigste Stück des Zyklus, der Form nach einfaches Strophenlied, ist als starker Kontrast zum vorhergehenden kontrapunktisch, mit jener unendlich produktiven Umdeutung Bachs, an der der Historismus sich stößt, während also verwandelt Bach wahrhaft nachlebt. Das umgedachte Vorbild ist wohl das Thema der h-moll-Fuge aus dem ersten Band des Wohltemperierten Klaviers. Das c im Kontrapunkt des zweiten Takts, aus der harmonischen Molltonleiter gewonnen, hat eine Art von Schwere, die dann dem Ganzen, horizontal und vertikal, sich mitteilt, die ganze Musik in die Tiefe hinunterzieht. Die erste und zweite Strophe endet im dunklen Ton eines lang hallenden Akkords, als tönte das Lied in einem hohlen Raum; die dritte, »Hast du einen Freund hinnieden«, verdichtet das kontrapunktische Gewebe durch Hinzufügung einer dritten selbständigen Stimme; die vierte schließlich vereinfacht das Lied, bei identischer Melodie, ins Homophone und faßt die merkwürdige letzte Zeile, »Hüte dich, sei wach und munter«, aufs knappste, rezitativisch. – Das folgende Lied, ›Im Walde‹, wird erzeugt aus der anschlagenden Tonwiederholung des Horns und dem immer wiederkehrenden Gegensatz von Ritardando und a tempo, der übrigens der Darstellung außerordentliche Schwierigkeiten bereitet. Schumanns Formsinn triumphiert darin, daß er, gleichsam um die hartnäckig retardierenden Momente auszugleichen, einen fast widerstandslos gleitenden und gerade dadurch höchst unheimlichen Abgesang schreibt, der doch stets den Hornrhythmus markiert bis in die beiden letzten Noten der Singstimme hinein. – Die ›Frühlingsnacht‹ endlich, berühmt wie nur »Es war, als hätt' der Himmel«, scheint so sehr aus einem Guß, als spottete sie des analytischen Blicks; aber ihre Einheit wird gerade von der vielfältigen Artikulation des gedrängten Verlaufs erzeugt. Analog zur ›Mondnacht‹ ist die Idee des Liedes – hier die des hingerissen über sich Hinausgreifenden – im Ausgangsmaterial implizit. Die Melodie hat zum Kern einen umschriebenen Septim-Akkord. Melodisch prägnant an ihm ist das Septimintervall, dessen Schwung die Dreiklangsterzen und Sekundfüllungen überfliegt und das, in einem sonst von diesen definierten kompositorischen Raum, einer Subjektivität zur Sprache verhilft, die der Fessel sich entledigt. Schumanns Ingenium hat es jedoch nicht bei der Affektensymbolik belassen, sondern das kritische Intervall der Septime strukturell ins Zentrum gerückt. Angedeutet wird es schon in der Aufeinanderfolge der Phrasenendungen und -anfänge bei »Jauchzen möcht' ich, möchte weinen«; bei dem Wort »Sterne« erfaßt es die Singstimme, und schließlich, vor »Sie ist Deine«, wird es von der Begleitphrase des Klaviers variiert, so daß der motivische Verlauf identisch ist mit der Gefühlskurve. Das Lied des äußersten Ausbruchs ist ein piano-Lied, nach jeder Welle zum leisen Grunde zurückkehrend, und nur dem verdankt es das Atemlose, das erst im Forte der beiden Zeilen sich entlädt. Der Mittelsatz »Jauchzen möcht' ich, möchte weinen« setzt zu der jagenden Akkordbegleitung eine abermals nur eben angedeutete Gegenstimme, ohne daß doch die Bewegung unterbrochen würde. Das Atemlose steigert sich aufs höchste dort, wo, vor den Worten »Mit dem Mondesglanz herein«, ein guter Taktteil ganz ausgespart ist. Die Wiederholung der ersten Strophe führt zur Klimax nicht nur durch die harmonischen und melodischen Varianten, sondern dadurch, daß an der entscheidenden Stelle der Kontrapunkt des Mittelteils, nun erst ganz frei und erfüllend, hinzugefügt wird und ins Nachspiel hinüberträgt, in dem dies Motiv, der wahre Jubel, alles andere vergessen hinter sich zurückläßt. Fußnoten
1 Walter Benjamin, Schriften, Frankfurt a.M. 1955, Bd. 1, S. 523f.
2 Theodor A. Meyer, Das Stilgesetz der Poesie, Leipzig 1901, S. 8.
Die Wunde Heine Wer im Ernst zum Gedächtnis Heines am hundertsten Tag seines Todes beitragen will und keine bloße Festrede halten, muß von einer Wunde sprechen; von dem, was an ihm schmerzt und seinem Verhältnis zur deutschen Tradition, und was zumal in Deutschland nach dem zweiten Krieg verdrängt ward. Sein Name ist ein Ärgernis, und nur wer dem ohne Schönfärberei sich stellt, kann hoffen, weiterzuhelfen. Nicht erst von den Nationalsozialisten ist Heine diffamiert worden. Ja diese haben ihn beinahe zu Ehren gebracht, als sie unter die Loreley jenes berühmt gewordene »Dichter unbekannt« setzten, das die insgeheim schillernden Verse, die an Figurinen der Pariserischen Rheinnixen einer verschollenen Offenbachoper mahnen, als Volkslied unerwartet sanktionierte. Das ›Buch der Lieder‹ hatte unbeschreibliche Wirkung getan, weit über den literarischen Umkreis hinaus. In seiner Folge ward schließlich die Lyrik hinabgezogen in die Sprache von Zeitung und Kommerz. Darum geriet Heine um 1900 bei den geistig Verantwortlichen in Verruf. Man mag das Verdikt der Georgeschule dem Nationalismus zuschreiben, das von Karl Kraus läßt sich nicht auslöschen. Seitdem ist die Aura Heines peinlich, schuldhaft, als blutete sie. Seine eigene Schuld ward zum Alibi jener Feinde, deren Haß gegen den jüdischen Mittelsmann am Ende das unsägliche Grauen bereitete. Das Ärgernis umgeht, wer sich auf den Prosaschriftsteller beschränkt, dessen Rang, inmitten des durchweg trostlosen Niveaus der Epoche zwischen Goethe und Nietzsche, in die Augen springt. Diese Prosa erschöpft sich nicht in der Fähigkeit bewußter sprachlicher Pointierung, einer in Deutschland überaus seltenen, von keiner Servilität gehemmten polemischen Kraft. Platen etwa bekam sie zu spüren, als er Heine antisemitisch anrempelte und eine Abfuhr erhielt, die man heutzutage wohl existentiell nennen würde, hielte man nicht den Begriff des Existentiellen so sorgfältig von der realen Existenz der Menschen rein. Aber Heines Prosa reicht weit über solche Bravourstücke hinaus durch ihren Gehalt. Wenn, seitdem Leibniz Spinoza die kalte Schulter zeigte, alle deutsche Aufklärung insofern jedenfalls mißlang, als sie den gesellschaftlichen Stachel verlor und zum untertänig Affirmativen sich beschied, dann hat Heine allein unter den berühmten Namen der deutschen Dichtung, und in aller Affinität zur Romantik, einen unverwässerten Begriff von Aufklärung bewahrt. Das Unbehagen, das er trotz seiner Konzilianz verbreitet, geht von jenem scharfen Klima aus. Mit höflicher Ironie weigert er sich, das soeben Demolierte durch die Hintertür – – oder die Kellertür der Tiefe – sogleich wieder einzuschmuggeln. Man mag bezweifeln, ob er so stark den frühen Marx beeinflußte, wie manche jungen Soziologen es möchten. Politisch war Heine ein unsicherer Geselle: auch des Sozialismus. Aber er hat diesem gegenüber den rasch genug zugunsten von Sprüchen wie »Wer nicht arbeitet, soll nicht essen« verschütteten Gedanken ungeschmälerten Glücks im Bild einer rechten Gesellschaft festgehalten. In seiner Aversion gegen revolutionäre Reinheit und Strenge meldet sich Mißtrauen gegen das Muffige und Asketische an, dessen Spur bereits manchen frühen sozialistischen Dokumenten nicht fehlt und weit später verhängnisvollen Entwicklungstendenzen zugutekam. Heine der Individualist, der es so sehr war, daß er sogar aus Hegel nur Individualismus heraushörte, hat doch dem individualistischen Begriff der Innerlichkeit nicht sich gebeugt. Seine Idee sinnlicher Erfüllung begreift die Erfüllung im Auswendigen mit ein, eine Gesellschaft ohne Zwang und Versagung. Die Wunde jedoch ist Heines Lyrik. Einmal hat ihre Unmittelbarkeit hingerissen. Sie hat das Goethesche Diktum vom Gelegenheitsgedicht so ausgelegt, daß jede Gelegenheit ihr Gedicht fand und jeder die Gelegenheit zum Dichten für günstig hielt. Aber diese Unmittelbarkeit war zugleich überaus vermittelt. Heines Gedichte waren prompte Mittler zwischen der Kunst und der sinnverlassenen Alltäglichkeit. Die Erlebnisse, die sie verarbeiteten, wurden ihnen unter der Hand, wie dem Feuilletonisten, zu Rohstoffen, über die sich schreiben läßt; die Nuancen und Valeurs, die sie entdeckten, machten sie zugleich fungibel, gaben sie in die Gewalt einer fertigen, präparierten Sprache. Das Leben, von dem sie ohne viel Umstände zeugten, war ihnen verkäuflich; ihre Spontaneität eins mit der Verdinglichung. Ware und Tausch bemächtigten sich in Heine des Lauts, der zuvor sein Wesen hatte an der Negation des Treibens. So groß war die Gewalt der entfalteten kapitalistischen Gesellschaft damals schon geworden, daß die Lyrik sie nicht mehr ignorieren konnte, wenn sie nicht ins provinziell Heimelige versinken wollte. Damit ragt Heine in die Moderne des neunzehnten Jahrhunderts hinein gleich Baudelaire. Aber Baudelaire, der Jüngere, zwingt der Moderne selbst, der weiter vorgerückten Erfahrung des unaufhaltsam Zerstörenden und Auflösenden, heroisch Traum und Bild ab, ja transfiguriert den Verlust aller Bilder selbst ins Bild. Die Kräfte solchen Widerstandes wuchsen mit denen des Kapitalismus. In dem Heine, den noch Schubert komponierte, waren sie nicht ebenso angespannt. Williger hat er sich dem Strom überlassen, hat gleichsam eine dichterische Technik der Reproduktion, die dem industriellen Zeitalter entsprach, auf die überkommenen romantischen Archetypen angewandt, nicht aber Archetypen der Moderne getroffen. Darüber genau schämen sich die Nachgeborenen. Denn seit es bürgerliche Kunst gibt derart, daß die Künstler ohne Protektoren ihr Leben erwerben müssen, haben sie neben der Autonomie ihres Formgesetzes insgeheim das Marktgesetz anerkannt und für Abnehmer produziert. Nur verschwand solche Abhängigkeit hinter der Anonymität des Marktes. Sie erlaubte es dem Künstler, sich und anderen als rein und autonom zu erscheinen, und dieser Schein selbst wurde honoriert. Dem Romantiker Heine, der vom Glück der Autonomie zehrte, hat der Aufklärer Heine die Maske heruntergerissen, den bislang latenten Warencharakter hervorgekehrt. Das hat man ihm nicht verziehen. Die sich selbst überspielende und damit wiederum sich selbst kritisierende Willfährigkeit seiner Gedichte demonstriert, daß die Befreiung des Geistes keine Befreiung der Menschen war und darum auch keine des Geistes. Die Wut dessen aber, der das Geheimnis der eigenen Erniedrigung an der eingestandenen des anderen wahrnimmt, heftet sich mit sadistischer Sicherheit an seine schwächste Stelle, das Scheitern der jüdischen Emanzipation. Denn seine von der kommunikativen Sprache erborgte Geläufigkeit und Selbstverständlichkeit ist das Gegenteil heimatlicher Geborgenheit in der Sprache. Nur der verfügt über die Sprache wie über ein Instrument, der in Wahrheit nicht in ihr ist. Wäre es ganz die seine, er trüge die Dialektik zwischen dem eigenen Wort und dem bereits vorgegebenen aus, und das glatte sprachliche Gefüge zerginge ihm. Dem Subjekt aber, das die Sprache wie ein vergriffenes Ding gebraucht, ist sie selber fremd. Heines Mutter, die er liebte, war des Deutschen nicht ganz mächtig. Seine Widerstandslosigkeit gegenüber dem kurrenten Wort ist der nachahmende Übereifer des Ausgeschlossenen. Die assimilatorische Sprache ist die von mißlungener Identifikation. Die allbekannte Geschichte, daß der Jüngling Heine dem alten Goethe auf dessen Frage nach seiner gegenwärtigen Arbeit »ein Faust« geantwortet habe und darauf ungnädig verabschiedet wurde, erklärte Heine selbst mit seiner Schüchternheit. Sein Vorwitz entsprang der Regung dessen, der für sein Leben gern aufgenommen sein möchte und damit doppelt die Bodenständigen reizt, die, indem sie ihm die Hilflosigkeit seiner Anpassung vorhalten, die eigene Schuld übertäuben, daß sie ihn ausgeschlossen haben. Das ist heute noch das Trauma von Heines Namen, und geheilt kann es nur werden, wenn es erkannt wird, anstatt trüb, vorbewußt fortzuwesen. Die Möglichkeit dazu aber liegt rettend in der Heineschen Lyrik selber beschlossen. Denn die Macht des ohnmächtig Spottenden übersteigt seine Ohnmacht. Ist aller Ausdruck die Spur von Leiden, so hat er es vermocht, das eigene Ungenügen, die Sprachlosigkeit seiner Sprache, umzuschaffen zum Ausdruck des Bruchs. So groß war die Virtuosität dessen, der die Sprache gleichwie auf einer Klaviatur nachspielte, daß er noch die Unzulänglichkeit seines Worts zum Medium dessen erhöhte, dem gegeben ward zu sagen, was er leidet. Mißlingen schlägt um ins Gelungene. Nicht in der Musik derer, die seine Lieder vertonten – erst in der vierzig Jahre nach seinem Tod entstandenen von Gustav Mahler, in der die Brüchigkeit des Banalen und Abgeleiteten zum Ausdruck des Realsten, zur wild entfesselten Klage taugt, hat dies Heinesche Wesen sich ganz enthüllt. Erst die Mahlerschen Gesänge von den Soldaten, die aus Heimweh die Fahne flohen, die Ausbrüche des Trauermarschs der V. Symphonie, die Volkslieder mit dem grellen Wechsel von Dur und moll, die zuckende Gestik des Mahlerschen Orchesters haben die Musik der Heineschen Verse entbunden. Das Altbekannte nimmt im Munde des Fremden etwas Maßloses, Übertriebenes an, und das eben ist die Wahrheit. Ihre Chiffren sind die ästhetischen Risse; sie versagt sich der Unmittelbarkeit runder erfüllter Sprache. In dem Zyklus, den der Emigrant ›Die Heimkehr‹ nannte, stehen die Verse:
Mein Herz mein Herz ist traurig, Doch lustig leuchtet der Mai; Ich stehe, gelehnt an der Linde, Hoch auf der alten Bastei.
Da drunten fließt der blaue Stadtgraben in stiller Ruh; Ein Knabe fährt im Kahne, Und angelt und pfeift dazu.
Jenseits erheben sich freundlich, In winziger, bunter Gestalt, Lusthäuser und Gärten und Menschen, und Ochsen und Wiesen und Wald.
Die Mägde bleichen Wäsche, Und springen im Gras herum: Das Mühlrad stäubt Diamanten, Ich höre sein fernes Gesumm.
Am alten grauen Turme Ein Schilderhäuschen steht; Ein rotgeröckter Bursche Dort auf und nieder geht.
Er spielt mit seiner Flinte, Die funkelt im Sonnenrot, Er präsentiert und schultert – Ich wollt, er schösse mich tot.
Hundert Jahre hat es gebraucht, bis aus dem absichtsvoll falschen Volkslied ein großes Gedicht ward, die Vision des Opfers. Heines stereotypes Thema, hoffnungslose Liebe, ist Gleichnis der Heimatlosigkeit, und die Lyrik, die ihr gilt, eine Anstrengung, Entfremdung selber hineinzuziehen in den nächsten Erfahrungskreis. Heute, nachdem das Schicksal, das Heine fühlte, buchstäblich sich erfüllte, ist aber zugleich die Heimatlosigkeit die aller geworden; alle sind in Wesen und Sprache so beschädigt, wie der Ausgestoßene es war. Sein Wort steht stellvertretend ein für ihr Wort: es gibt keine Heimat mehr als eine Welt, in der keiner mehr ausgestoßen wäre, die der real befreiten Menschheit. Die Wunde Heine wird sich schließen erst in einer Gesellschaft, welche die Versöhnung vollbrachte. Rückblickend auf den Surrealismus
Die verbreitete Theorie des Surrealismus, wie sie in den Manifesten von Breton niedergelegt ist, aber auch die Sekundärliteratur beherrscht, setzt ihn zum Traum in Beziehung, zum Unbewußten, womöglich den Jungschen Archetypen, die in den Collages wie in den automatischen Niederschriften ihre von der Zutat des bewußten Ichs befreite Bildersprache gefunden hätten. So sollen Träume mit den Elementen des Realen umspringen wie seine Verfahrensweise. Ist aber keine Kunst gehalten, sich selbst zu verstehen – und man ist versucht, ihr Selbstverständnis und ihr Gelingen für fast unvereinbar zu halten – dann braucht man auch jener programmatischen und von den Vermittlern wiederholten Auffassung nicht zu parieren. Ohnehin ist das Fatale an der Interpretation von Kunst, auch der philosophisch verantwortlichen, daß sie genötigt ist, Befremdendes, indem sie es auf den Begriff bringt, durch bereits Vertrautes auszudrücken und dadurch wegzuerklären, was einzig der Erklärung bedürfte: so sehr die Kunstwerke ihrer Erklärung harren, so sehr begeht eine jegliche, sei's auch entgegen der eigenen Absicht, ein Stück Verrat an den Konformismus. Wäre in der Tat der Surrealismus nichts anderes als eine Sammlung literarischer und graphischer Illustrationen zu Jung oder selbst Freud, er verdoppelte nicht bloß überflüssig, was die Theorie selber ausspricht, anstatt daß sie es metaphorisch verkleidete, sondern er wäre auch von einer Harmlosigkeit, die kaum Raum ließe für den scandal, den der Surrealismus meint und der sein Lebenselement bildet. Ihn auf die psychologische Traumtheorie nivellieren, unterwirft ihn bereits der Schmach des Offiziellen. Dem versierten: Das ist eine Vaterfigur, gesellt sich das befriedigte: Kennen wir schon, und was bloß Traum sein soll, läßt allemal, wie Cocteau erkannte, die Realität unbeschädigt, mag ihr Bild noch so beschädigt sein. Jene Theorie verfehlt aber die Sache selbst. So träumt man nicht, keiner träumt so. Dem Traum sind die surrealistischen Gebilde mehr nicht als bloß analog, indem sie die gewohnte. Logik und die Spielregeln des empirischen Daseins außer Kraft setzen, dabei aber doch die einzelnen auseinander gesprengten Dinge respektieren, ja all ihren Inhalt, und gerade auch den menschlichen, der Dinggestalt annähern. Es wird zerschlagen, umgruppiert, aber nicht aufgelöst. Gewiß hält es der Traum nicht anders, aber die Dingwelt erscheint doch in ihm unvergleichlich verschleierter, weniger als Realität gesetzt denn im Surrealismus, wo Kunst an der Kunst rüttelt. Das Subjekt, das im Surrealismus weit offener und ungehemmter am Werk ist als in den Träumen, wendet seine Energie gerade an seine Selbstauslöschung, zu der es im Traum keiner Energie bedarf; dadurch aber gerät alles gleichsam objektiver als im Traum, wo das Subjekt, vorweg abwesend, was immer begegnet hinter den Kulissen umfärbt und durchdringt. Die Surrealisten sind selbst unterdessen darauf gekommen, daß man so, wie sie dichten, auch nicht etwa in der psychoanalytischen Situation assoziiert. Übrigens ist die Unwillkürlichkeit selbst der psychoanalytischen Assoziationen keineswegs unwillkürlich. Jeder Analytiker weiß, welcher Mühe und Anstrengung, welchen Willens es bedarf, um des unwillkürlichen Ausdrucks mächtig zu werden, der vermöge solcher Anstrengung bereits in der analytischen Situation, geschweige denn erst in der künstlerischen der Surrealisten sich formt. In den Welttrümmern des Surrealismus kommt nicht das An sich des Unbewußten zutage. Mäße man sie an ihrer Beziehung darauf, die Symbole erwiesen sich als viel zu rationalistisch. Solche Dechiffrierungen spannten die wuchernde Vielfalt des Surrealismus über wenige Leisten, brächten sie auf ein paar dürftige Kategorien wie den Ödipuskomplex, ohne die Gewalt zu erreichen, die wenn nicht stets von den surrealistischen Kunstwerken so doch von deren Idee ausging; so scheint ja auch Freud auf Dali reagiert zu haben. Nach der europäischen Katastrophe sind die surrealistischen Schocks kraftlos geworden. Es ist, als hätten sie Paris durch Angstbereitschaft gerettet: der Untergang der Stadt war ihr Zentrum. Will man danach den Surrealismus im Begriff aufheben, so wird man nicht auf Psychologie, sondern auf die künstlerische Verfahrungsweise zurückgehen müssen. Deren Schema sind aber fraglos die Montagen. Leicht ließe sich zeigen, daß auch die eigentlich surrealistische Malerei mit deren Motiven operiert und daß das diskontinuierliche Aneinanderfügen von Bildern in der surrealistischen Lyrik Montagecharakter hat. Diese Bilder stammen aber, wie man weiß, teils buchstäblich, teils dem Geist nach, aus Illustrationen des späteren neunzehnten Jahrhunderts, mit denen die Eltern der Generation von Max Ernst Umgang hatten; schon in den zwanziger Jahren gab es, diesseits des surrealistischen Bereichs, Sammlungen solchen Bildmaterials wie ›Our Fathers‹ von Allan Bott, die an dem surrealistischen Schock – parasitär – teilhatten und dabei dem Publikum zuliebe die Mühe der Verfremdung durch Montage sich ersparten. Die eigentlich surrealistische Praxis jedoch hat jene Elemente mit ungewohnten versetzt. Eben die haben ihnen durch den Schreck das Vertraute, das: Wo habe ich das schon einmal gesehen? verliehen. Man wird also die Affinität zur Psychoanalyse nicht in einer Symbolik des Unbewußten vermuten dürfen, sondern im Versuch, durch Explosionen Kindheitserfahrungen aufzudecken. Was der Surrealismus den Abbildern der Dingwelt hinzufügt, ist, was uns von der Kindheit verlorenging: so sollen uns als Kindern jene damals selbst schon veralteten Illustrierten angesprungen haben wie jetzt die surrealistischen Bilder. Das subjektive Moment steckt dabei in der Handlung der Montage: diese möchte, vielleicht vergebens, aber der Intention nach unverkennbar, Wahrnehmungen herstellen, so wie sie damals gewesen sein müßten. Das Riesenei, aus dem jeden Augenblick das Monstrum eines jüngsten Tages ausschlüpfen kann, ist so groß, weil wir damals so klein waren, als wir zum ersten Mal vorm Ei erschauerten. Zu diesem Effekt hilft aber das Veraltete. An Moderne wirkt paradox, daß sie, stets schon im Bann der Immergleichheit von Massenproduktion, überhaupt Geschichte hat. Diese Paradoxie entfremdet sie und wird in den »Kinderbildern der Moderne« zum Ausdruck einer Subjektivität, die mit der Welt auch sich selbst fremd geworden ist. Die Spannung im Surrealismus, die im Schock sich entlädt, ist die zwischen Schizophrenie und Verdinglichung, gerade nicht also eine psychologischer Beseeltheit. Das frei über sich verfügende, jeder Rücksicht auf die empirische Welt ledige, absolut gewordene Subjekt enthüllt sich im Angesicht der totalen Verdinglichung, die es vollends auf sich und seinen Protest zurückwirft, selber als Unbeseeltes, virtuell als das Tote. Die dialektischen Bilder des Surrealismus sind solche einer Dialektik der subjektiven Freiheit im Stande objektiver Unfreiheit. In ihnen erstarrt der europäische Weltschmerz gleich der Niobe, die ihre Kinder verlor; in ihnen schleudert die bürgerliche Gesellschaft die Hoffnung auf ihr Überleben von sich. Kaum zu vermuten, daß einer der Surrealisten die Hegelsche Phänomenologie kannte, aber ein Satz daraus, den man zusammendenken muß mit dem allgemeineren von der Geschichte als dem Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, definiert den surrealistischen Gehalt. »Das einzige Werk und Tat der allgemeinen Freiheit ist daher der Tod, und zwar ein Tod, der keinen inneren Umfang und Erfüllung hat.« Die darin gegebene Kritik hat der Surrealismus zur eigenen Sache gemacht; das erklärt seine politischen Impulse wider die Anarchie, die doch wieder mit jenem Gehalt unvereinbar waren. Man hat von dem Hegelschen Satz gesagt, in ihm hebe die Aufklärung sich durch ihre eigene Verwirklichung auf; um keinen geringeren Preis, nicht als eine Sprache der Unmittelbarkeit, sondern als Zeugnis des Rückschlags der abstrakten Freiheit in die Vormacht der Dinge und damit in bloße Natur wird man den Surrealismus begreifen dürfen. Seine Montagen sind die wahren Stilleben. Indem sie Veraltetes auskomponieren, schaffen sie nature morte. Diese Bilder sind nicht sowohl die eines Inwendigen als vielmehr Fetische – Warenfetische – an die einmal Subjektives, Libido sich heftete. An ihnen, nicht durch die Selbstversenkung, holen sie die Kindheit herauf. Die Modelle des Surrealismus wären die Pornographien. Was in den Collages geschieht, was in ihnen krampfhaft innehält wie der gespannte Zug von Wollust um den Mund, ähnelt den Veränderungen, die eine pornographische Darstellung im Augenblick der Befriedigung des Voyeurs durchmacht. Abgeschnittene Brüste, Beine von Modepuppen in Seidenstrümpfen auf den Collages – das sind Erinnerungsmerkmale jener Objekte der Partialtriebe, an denen einst die Libido aufwachte. Das Vergessene offenbart dinghaft, tot, sich in ihnen als das, was die Liebe eigentlich wollte, dem sie sich selbst gleichmachen will, dem wir gleichen. Verwandt der Photographie ist der Surrealismus als erstarrtes Erwachen. Wohl sind es imagines, die er erbeutet, aber nicht die invarianten, geschichtslosen des unbewußten Subjekts, zu denen die konventionelle Auffassung sie neutralisieren möchte, sondern geschichtliche, in denen das Innerste des Subjekts seiner selbst als dessen Auswendiges, als Nachahmung eines Gesellschaftlich-Geschichtlichen innewird. »Geh Joe, mach die Musik von damals nach.« Damit aber bildet der Surrealismus das Komplement der Sachlichkeit, mit der gleichzeitig er erstand. Das Grauen, das diese im Sinn des Worts von Adolf Loos vor dem Ornament als Verbrechen empfindet, wird mobilisiert vom surrealistischen Schock. Das Haus hat eine Geschwulst, seinen Erker. Die malt der Surrealismus: aus dem Haus wuchert ein Auswuchs von Fleisch. Die Kinderbilder der Moderne sind der Inbegriff dessen, was die Sachlichkeit mit einem Tabu zudeckt, weil es sie an ihr eigenes dinghaftes Wesen gemahnt und daran, daß sie nicht damit fertig wird, daß ihre Rationalität irrational bleibt. Der Surrealismus sammelt ein, was die Sachlichkeit den Menschen versagt; die Entstellungen bezeugen, was das Verbot dem Begehrten antat. Durch sie errettet er das Veraltete, ein Album von Idiosynkrasien, in denen der Glücksanspruch verraucht, den die Menschen in ihrer eigenen technifizierten Welt verweigert finden. Wenn aber heute der Surrealismus selber obsolet dünkt, so darum, weil die Menschen bereits jenes Bewußtsein der Versagung sich selbst versagen, das im Negativ des Surrealismus festgehalten ward. Satzzeichen
Je weniger die Satzzeichen, isoliert genommen, Bedeutung oder Ausdruck tragen, je mehr sie in der Sprache den Gegenpol zu den Namen ausmachen, desto entschiedener gewinnt ein jegliches unter ihnen seinen physiognomischen Stellenwert, seinen eigenen Ausdruck, der zwar nicht zu trennen ist von der syntaktischen Funktion, aber doch keineswegs in ihr sich erschöpft. Die Erfahrung des Grünen Heinrich, der, nach dem großen deutschen P befragt, ausruft: das ist der Pumpernickel, gilt erst recht für die Figuren der Interpunktion. Gleicht nicht das Ausrufungszeichen dem drohend gehobenen Zeigefinger? Sind nicht Fragezeichen wie Blinklichter oder ein Augenaufschlag? Doppelpunkte sperren, Karl Kraus zufolge, den Mund auf: weh dem Schriftsteller, der sie nicht nahrhaft füttert. Das Semikolon erinnert optisch an einen herunterhängenden Schnauzbart; stärker noch empfinde ich seinen Wildgeschmack. Dummschlau und selbstzufrieden lecken die Anführungszeichen sich die Lippen.
Alle sind Verkehrssignale; am Ende wurden diese ihnen nachgebildet. Ausrufungszeichen sind rot, Doppelpunkte grün, Gedankenstriche befehlen stop. Aber es war der Irrtum der Georgeschule, sie darum mit Zeichen der Kommunikation zu verwechseln. Vielmehr sind es solche des Vortrags; sie dienen nicht beflissen dem Verkehr der Sprache mit dem Leser, sondern hieroglyphisch einem, der im Sprachinnern sich abspielt, auf ihren eigenen Bahnen. Überflüssig darum, sie als überflüssig einzusparen: dann verstecken sie sich bloß. Jeder Text, auch der dichtest gewobene, zitiert sie von sich aus, freundliche Geister, von deren körperloser Gegenwart der Sprachleib zehrt.
In keinem ihrer Elemente ist die Sprache so musikähnlich wie in den Satzzeichen. Komma und Punkt entsprechen dem Halb- und Ganzschluß. Ausrufungszeichen sind wie lautlose Beckenschläge, Fragezeichen Phrasenhebungen nach oben, Doppelpunkte Dominantseptimakkorde; und den Unterschied von Komma und Semikolon wird nur der recht fühlen, der das verschiedene Gewicht starker und schwacher Phrasierungen in der musikalischen Form wahrnimmt. Vielleicht ist aber die Idiosynkrasie gegen Satzzeichen, die vor fünfzig Jahren sich regte und der kein Aufmerksamer sich ganz entziehen wird, gar nicht so sehr Auflehnung gegen ein ornamentales Element, wie daß darin sich niederschlägt, wie heftig Musik und Sprache auseinanderstreben. Kaum jedoch wird man es für Zufall halten können, daß die Berührung der Musik mit sprachlichen Satzzeichen an das Schema der Tonalität gebunden war, das unterdessen zerfiel, und daß man die Mühe der neuen Musik recht wohl als eine um Satzzeichen ohne Tonalität darstellen könnte. Ist aber Musik gezwungen, in Satzzeichen das Bild ihrer Sprachähnlichkeit zu bewahren, so mag die Sprache ihrer Musikähnlichkeit nachhängen, indem sie den Satzzeichen mißtraut.
Der Unterschied zwischen dem griechischen Semikolon, jenem erhöhten Punkt, der der Stimme verwehren will, sich zu senken, und dem deutschen, das mit Punkt und Unterlänge die Senkung vollzieht und gleichwohl, indem es den Beistrich in sich aufnimmt, die Stimme in der Schwebe läßt, wahrhaft ein dialektisches Bild – dieser Unterschied scheint den zwischen der Antike und dem christlichen Zeitalter, der durchs Unendliche gebrochenen Endlichkeit, nachzuahmen; auf die Gefahr hin, daß das heute gebräuchliche griechische Zeichen erst von Humanisten des sechzehnten Jahrhunderts erfunden ward. In den Satzzeichen hat Geschichte sich sedimentiert, und sie ist es weit eher als Bedeutung oder grammatische Funktion, die aus jedem, erstarrt und mit leisem Schauder, herausblickt. Wenig fehlt darum, und man möchte für die wahren Satzzeichen nur die der deutschen Fraktur halten, deren graphisches Bild allegorische Züge bewahrt, und die der Antiqua für bloße säkularisierte Nachbilder.
Das geschichtliche Wesen der Satzzeichen kommt daran zutage, daß an ihnen genau das veraltet, was einmal modern war. Aufrufungszeichen sind unerträglich geworden als Gebärde der Autorität, mit der der Schriftsteller von außen her einen Nachdruck zu setzen versucht, den die Sache nicht selbst ausübt, während das musikalische Seitenstück zum Ausrufungszeichen, das Sforzato, heute noch so unentbehrlich ist wie zu Beethovens Zeiten, als es den Einbruch subjektiven Willens ins musikalische Gewebe markierte. Die Ausrufungszeichen aber sind zu Usurpatoren von Autorität, Beteuerungen der Wichtigkeit verkommen. Sie waren es indessen, die einmal die graphische Gestalt des deutschen Expressionismus prägten. Ihre Häufung lehnte sich gegen die Konvention auf und war Symptom der Ohnmacht zugleich, das Sprachgefüge von innen her zu verändern, an dem man stattdessen von außen rüttelte. Sie überleben als Male des Bruchs von Idee und Realisiertem aus jener Epoche, und ihre hilflose Beschwörung errettet sie in der Erinnerung: verzweifelte Schriftgebärde, die vergebens über die Sprache hinausmöchte. In ihr hat der Expressionismus sich verbrannt; mit den Ausrufungszeichen hat er die eigene Wirkung sich gutgeschrieben, und darum ist sie in ihnen verpufft. Sie gleichen, in expressionistischen Texten, heute den Millionenziffern auf Banknoten der deutschen Inflation.
Literarische Dilettanten sind daran kenntlich, daß sie alles miteinander verbinden wollen. Ihre Produkte haken die Sätze durch logische Partikeln ineinander, ohne daß die von jenen Partikeln behauptete logische Beziehung waltete. Wer nichts wahrhaft als Einheit zu denken vermag, dem ist alles unerträglich, was ans Brüchige, Abgesetzte mahnt; erst wer eines Ganzen mächtig ist, weiß um Zäsuren. Die aber lassen sich vom Gedankenstrich lernen. An ihm wird der Gedanke seines Fragmentcharakters inne. Nicht zufällig wird gerade dies Zeichen dort, wo es seinen Zweck erfüllt: wo es trennt, was Verbundenheit vortäuscht, im Zeitalter des fortschreitenden Sprachzerfalls vernachlässigt. Es hält nur noch dazu her, läppisch auf Überraschungen vorzubereiten, die eben dadurch keine mehr sind.
Der ernste Gedankenstrich: sein unübertroffener Meister in der deutschen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts war Theodor Storm. Selten sind die Satzzeichen so tief dem Gehalt verschworen wie jene in seinen Novellen, stumme Linien in die Vergangenheit, Falten auf der Stirn der Texte. Die vortragende Stimme fällt mit ihnen in sorgenvolles Schweigen: die Zeit, die sie zwischen zwei Sätze einsprengen, ist eine des lastenden Erbes und hat, kahl und nackt zwischen den angezogenen Ereignissen, etwas vom Unheil des Naturzusammenhangs und von der Scham, daran zu rühren. So diskret versteckt sich der Mythos im neunzehnten Jahrhundert; er sucht Unterschlupf in der Typographie.
Zu den Verlusten, mit denen die Interpunktion am Sprachzerfall teilhat, rechnet der des schräggestellten Strichs, wie er etwa Verse einer Strophe voneinander sondert, die in einem Prosastück zitiert ist. Als Strophe gesetzt, zerrisse sie barbarisch das Sprachgewebe; einfach als Prosa gedruckt, machen Verse einen lächerlichen Effekt, weil Metron und Reim als kalauerhafter Zufall erscheinen; der moderne Gedankenstrich aber ist zu kraß, um zu leisten, was er in dergleichen Fällen leisten sollte. Die Fähigkeit, physiognomisch solche Differenzen wahrzunehmen, ist jedoch die Voraussetzung für jeglichen angemessenen Gebrauch der Satzzeichen.
Die drei Punkte, mit denen man in der Zeit des zur Stimmung kommerzialisierten Impressionismus Sätze bedeutungsvoll offen zu lassen liebte, suggerieren die Unendlichkeit von Gedanken und Assoziation, die eben der Schmock nicht hat, der sich darauf verlassen muß, durchs Schriftbild sie vorzuspiegeln. Reduziert man aber, wie die Georgeschule, jene den unendlichen Dezimalbrüchen der Arithmetik entwendeten Punkte auf die Zahl zwei, so meint man, die fiktive Unendlichkeit ungestraft weiter beanspruchen zu können, indem man, was dem eigenen Sinn nach unexakt sein will, als exakt drapiert. Der Interpunktion des unverschämten Schmocks ist die des verschämten nicht überlegen.
Anführungszeichen soll man nur dort verwenden, wo man etwas anführt, beim Zitat, allenfalls wo der Text von einem Wort, auf das er sich bezieht, sich distanzieren will. Als Mittel der Ironie sind sie zu verschmähen. Denn sie dispensieren den Schriftsteller von jenem Geist, dessen Anspruch der Ironie unabdingbar innewohnt, und freveln an deren eigenem Begriff, indem sie sie von der Sache trennen und das Urteil über diese als vorentschieden hinstellen. Die gehäuften ironischen Anführungszeichen bei Marx und Engels sind Schatten, welche das totalitäre Verfahren vorauswirft über ihre Schriften, die das Gegenteil meinten: der Samen, aus dem schließlich wurde, was Karl Kraus das Moskauderwelsch nannte. Die Gleichgültigkeit gegen den sprachlichen Ausdruck, die in der mechanischen Überantwortung der Intention ans typographische Cliché sich kundgibt, weckt den Verdacht, es sei eben die Dialektik stillgestellt, die den Inhalt der Theorie ausmacht, und das Objekt werde ihr von oben her, verhandlungslos, subsumiert. Dort, wo es überhaupt etwas zu sagen gibt, weist allerorten Indifferenz gegenüber der literarischen Form auf Dogmatisierung des Inhalts. Der blinde Richtspruch der ironischen Anführungszeichen ist deren graphischer Gestus.
Theodor Haecker erschrak mit Recht darüber, daß das Semikolon ausstirbt: er erkannte darin, daß keiner mehr eine Periode schreiben kann. Dazu gehört die Furcht vor seitenlangen Abschnitten, die vom Markt erzeugt ward; von dem Kunden, der sich nicht anstrengen will und dem erst die Redakteure und dann die Schriftsteller, um ihr Leben zu erwerben, sich anpaßten, bis sie am Ende der eigenen Anpassung Ideologien wie die der Luzidität, der sachlichen Härte, der gedrängten Präzision erfanden. Bei dieser Tendenz lassen aber Sprache und Sache nicht sich trennen. Durch das Opfer der Periode wird der Gedanke kurzatmig. Die Prosa wird auf den Protokollsatz, der Positivisten liebstes Kind, heruntergebracht, auf die bloße Registrierung der Tatsachen, und indem Syntax und Interpunktion des Rechts sich begeben, diese zu artikulieren, zu formen, Kritik an ihnen zu üben, schickt bereits die Sprache sich an, vor dem bloß Seienden zu kapitulieren, ehe nur der Gedanke Zeit hat, diese Kapitulation eifrig von sich aus ein zweites Mal zu vollziehen. Mit dem Verlust des Semikolons fängt es an, mit der Ratifizierung des Schwachsinns durch die von aller Zutat gereinigte Vernünftigkeit hört es auf.
Die Sensibilität des Schriftstellers in der Interpunktion bewährt sich in der Behandlung der Parenthesen. Der Vorsichtige wird dazu neigen, sie zwischen Gedankenstriche zu stellen und nicht in Klammern, denn die Klammer nimmt die Parenthese aus dem Satz ganz heraus, schafft gleichsam Enklaven, während doch nichts, was in guter Prosa vorkommt, dem Gesamtbau entbehrlich sein sollte; mit dem Zugeständnis solcher Entbehrlichkeit geben die Klammern stillschweigend den Anspruch auf die Integrität der sprachlichen Gestalt auf und kapitulieren vor der pedantischen Banausie. Dagegen halten die Gedankenstriche, welche die Parenthese aus dem Fluß herausstauen, ohne sie ins Gefängnis zu sperren, Beziehung und Distanz gleichermaßen fest. Aber wie das blinde Vertrauen auf ihre Kraft, das zu leisten, illusionär wäre, indem es vom bloßen Mittel erwartete, was einzig von Sprache und Sache selber geleistet werden kann, so läßt sich an der Alternative von Gedankenstrichen und Klammern entnehmen, wie hinfällig abstrakte Normen der Interpunktion sind. Proust, den keiner leicht einen Banausen nennen wird und dessen Pedanterie nichts ist als ein Aspekt seiner großartigen mikrologischen Kraft, hat unbedenklich mit Klammern gearbeitet, vermutlich, weil in den großen Perioden die Parenthesen so lang gerieten, daß ihre bloße Länge die Gedankenstriche annulliert hätte. Sie bedürfen festerer Dämme, um nicht die ganze Periode zu überfluten und jenes Chaos zu bereiten, dem jede dieser Perioden atemlos abgezwungen ward. Das Recht für den Proustschen Interpunktionsgebrauch liegt aber einzig beim Ansatz seines gesamten Romanwerkes: daß der Schein des Kontinuums der Erzählung durchbrochen wird, daß durch alle seine Fenster der asoziale Erzähler hineinzuklettern bereit ist, um den dunklen temps durée mit der Blendlaterne der gar nicht so unwillkürlichen Erinnerung zu beleuchten. Seine eingeklammerten Parenthesen, die wie das Schriftbild so den Vortrag unterbrechen, sind Denkmäler der Augenblicke, da der Autor, müde des ästhetischen Scheins und mißtrauisch gegen die Selbstgenügsamkeit der Vorgänge, die er doch ohnehin nur aus sich hervorspinnt, offen die Zügel ergreift.
Den Satzzeichen gegenüber befindet der Schriftsteller sich in permanenter Not; wäre man beim Schreiben seiner selbst ganz mächtig, man fühlte die Unmöglichkeit, je eines richtig zu setzen, und gäbe das Schreiben ganz auf. Denn die Anforderungen der Regeln der Interpunktion und des subjektiven Bedürfnisses von Logik und Ausdruck lassen sich nicht vereinen: in den Satzzeichen geht der Wechsel, den der Schreibende auf die Sprache zieht, zu Protest. Weder kann er den vielfach starren und groben Regeln sich anvertrauen, noch kann er sie ignorieren, wenn er nicht einer Art Eigenkleidung verfallen und durch die Pointierung des Unscheinbaren – und Unscheinbarkeit ist das Lebenselement der Interpunktion – deren Wesen verletzen will. Umgekehrt aber darf er, wenn er es ernst meint, nichts von dem, was er sucht, einem Allgemeinen opfern, mit dem kein Schreibender heute sich ganz und gar identisch fühlen kann und mit dem er sich überhaupt nur um den Preis des Archaisierens gleichzusetzen vermöchte. Jedesmal ist der Konflikt auszutragen, und man braucht viel Kraft oder viel Dummheit, um darüber nicht den Mut zu verlieren. Zu raten wäre allenfalls, man solle mit den Satzzeichen umgehen wie Musiker mit verbotenen Fortschreitungen der Harmonien und Stimmen. Einer jeden Interpunktion, wie einer jeden solchen Fortschreitung, läßt sich anmerken, ob sie eine Intention trägt oder bloß schlampt; und, subtiler, ob der subjektive Wille die Regel brutal durchbricht oder ob das wägende Gefühl sie behutsam mitdenkt und mitschwingen läßt, wo er sie suspendiert. Das wird sich besonders an den unscheinbarsten Zeichen erweisen, den Kommata, deren Beweglichkeit sich am ehesten dem Ausdruckswillen anschmiegt, die aber gerade in solcher Nähe zum Subjekt die Tücke des Objekts entfalten und besonders empfindlich werden mit Ansprüchen, die man ihnen kaum zutraut. Jedenfalls wird heute wohl der am besten fahren, der an die Regel: besser zuwenig als zuviel, sich hält. Denn die Satzzeichen, welche die Sprache artikulieren und damit die Schrift der Stimme anähneln, haben durch ihre logisch-semantische Verselbständigung von dieser doch gleich aller Schrift sich geschieden und geraten in Konflikt mit ihrem eigenen mimetischen Wesen. Davon sucht der asketische Gebrauch der Satzzeichen etwas gutzumachen. Jedes behutsam vermiedene Zeichen ist eine Reverenz, welche die Schrift dem Laut darbringt, den sie erstickt. Der Artist als Statthalter
Die Rezeption Paul Valérys in Deutschland, die bis heute nicht recht gelang, stellt darum vor besondere Schwierigkeiten, weil sein Anspruch vorab auf dem lyrischen Werk beruht. Kaum bedarf es eines Wortes, daß Lyrik in eine fremde Sprache nicht entfernt so transponiert werden kann wie Prosa; ganz gewiß nicht die unerbittlich gegen jede Kommunikation mit einer vorgestellten Leserschaft abgedichtete poésie pure des Mallarmé-Schülers. Mit Recht hat gerade George gesagt, es sei überhaupt nicht die Aufgabe der Übersetzung von Lyrik, einen fremdländischen Verfasser einzuführen, sondern ihm in der eigenen Sprache ein Denkmal zu errichten oder, wie der Gedanke von Benjamin gewandt ward, die eigene Sprache durch den Einbruch des fremden Dichtwerks zu erweitern und zu steigern. Immerhin ist trotzdem, oder vielleicht gerade wegen der Intransigenz seines großen Übersetzers, Baudelaire aus dem geschichtlichen Material der deutschen Literatur nicht wegzudenken. Nichts dergleichen bei Valéry; übrigens blieb auch bereits Mallarmé Deutschland wesentlich verschlossen. Wenn die Auswahl Valéryscher Verse, an der Rilke sich versucht hat, nichts von dem leistete, was den großen Übersetzungswerken von George, auch etwa den Borchardtschen Swinburne-Übertragungen gelang, so liegt das nicht nur an der Sprödigkeit des Gegenstandes. Rilke hat das Grundgesetz jeglicher legitimen Übertragung, die Treue zum Wort, verletzt und ist gerade Valéry gegenüber in eine Übung des ungefähren Nachdichtens zurückgefallen, die weder dem Modell Gerechtigkeit widerfahren läßt, noch kraft dessen strenger Abbildung sich in sich selbst zur vollen Freiheit erhebt. Man braucht nur Rilkes Version eines der berühmtesten und in der Tat schönsten Gedichte von Valéry, ›Les Pas‹, mit dem Original zu vergleichen, um zu sehen, welcher Unstern über dem Rencontre waltete. Nun besteht aber, wie man weiß, das Valérysche Werk keineswegs bloß in Lyrik, sondern auch in Prosa wahrhaft kristallinischer Art, die sich auf dem schmalen Grat zwischen ästhetischer Gestaltung und Reflexion über die Kunst provokativ bewegt. In Frankreich finden sich höchst kompetente Beurteiler, unter ihnen Gide, die diesem Teil von Valérys Produktion sogar das größere Gewicht zusprechen. In Deutschland ist auch sie, abgesehen von ›Monsieur Teste‹ und ›Eupalinos‹, bis heute kaum erfahren worden. Wenn ich hier auf eines der Prosabücher zu sprechen komme, so geschieht das nicht bloß, um dem bekannten Namen eines unbekannten Autors etwas von der Resonanz zu erbitten, um die er nicht zu bitten brauchte, sondern um mit der sachlichen Kraft, die seinem Werke innewohnt, der sturen Antithese von engagierter und reiner Kunst zu Leibe zu rücken. Sie ist ein Symptom der verhängnisvollen Tendenz zur Stereotypie, zum Denken in starren und schematischen Formeln, wie sie die Kulturindustrie allenthalben hervorbringt und wie sie längst auch ins Bereich der ästhetischen Erwägung eingedrungen ist. Die Produktion droht sich zu polarisieren in die sterilen Verwalter der Ewigkeitswerte auf der einen Seite und auf der anderen die Unheilsdichter, von denen man schon manchmal nicht mehr weiß, ob ihnen nicht die Konzentrationslager als Begegnung mit dem Nichts ganz recht sind. Ich möchte zeigen, welcher geschichtliche und gesellschaftliche Inhalt gerade dem Werke Valérys innewohnt, das jeden Kurzschluß zur Praxis sich versagt; ich möchte deutlich machen, daß das Beharren auf der Formimmanenz des Kunstwerks nicht zu tun haben muß mit dem Anpreisen unveräußerlicher, aber lädierter Ideen und daß in solcher Kunst und in dem Gedanken, der an ihr sich nährt und ihr gleicht, tieferes Wissen von historischen Veränderungen des Wesens sich kundgeben kann als in Äußerungen, die so behend es auf die Veränderung der Welt abgesehen haben, daß ihnen die lastende Schwere eben der Welt zu entgleiten droht, die es zu verändern gilt. Das Buch, das ich meine, ist leicht zugänglich. Es ist in der Bibliothek Suhrkamp erschienen und trägt den deutschen Titel ›Tanz, Zeichnung und Degas‹ 1 . Die Übertragung stammt von Werner Zemp. Sie ist ansprechend, auch wenn sie nicht stets die mit unendlicher Anstrengung errungene Grazie des Valéryschen Textes so hintergründig wiedergibt, wie sie es erheischt. Aber es ist dafür doch das Element des Leichten als solches, das Arabeskenhafte, und dessen paradoxes Verhältnis zu den aufs äußerste belasteten Gedanken bewahrt; zumindest der Schrecken der Unverständlichkeit wird von dem Bändchen kaum ausgehen. Neid erregt Valérys Fähigkeit, die subtilsten und schwierigsten Erfahrungen spielerisch, schwerelos zu formulieren, so wie er es zu Beginn des Degas-Buchs sich selbst als Programm setzt: »Wie ein etwas zerstreuter Leser seinen Bleistift an den Rändern eines Buches spazierenführt und, dank seiner Zerstreutheit und der Laune des Stifts, kleine Figuren oder unbestimmtes Schnörkelwerk neben den gedruckten Text kritzelt, so will ich das Folgende nach Einfall und Belieben an den Rand dieser paar Studien von Edgar Degas schreiben. Ich begleite diese Bilder mit ein wenig Text, der nicht unbedingt gelesen zu werden braucht, oder doch nicht unbedingt in einem Zug, und der nur einen ganz losen Zusammenhang mit diesen Zeichnungen hat, ja in überhaupt keiner unmittelbaren Beziehung zu ihnen steht.« (7) Diese Fähigkeit Valérys ist nicht billig auf die stets wieder als Lückenbüßer bemühte romanische Formbegabung, nicht einmal auf seine eigene exzeptionelle zurückzuführen. Sie wird gespeist von seinem unermüdlichen Drang zum Objektivieren und, mit Cézannes Wort, Realisieren, der kein Dunkles, Unaufgehelltes, Ungelöstes duldet; dem die Transparenz nach außen zum Maß des Gelingens im Innern selbst wird. Um so eher könnte man wohl Anstoß daran nehmen, wenn ein Philosoph über ein Buch spricht, das ein esoterischer Dichter über einen vom Handwerk besessenen Maler geschrieben hat. Ich möchte dies Bedenken lieber vorweg erörtern, als es naiv provozieren; um so mehr als dabei ein Zugang zur Sache selbst sich eröffnet. Ich halte es nicht für meine Aufgabe, über Degas mich zu äußern, und fühle mich dieser Aufgabe auch nicht gewachsen. Die Gedanken von Valéry, auf die ich hinweisen möchte, greifen allesamt über den großen impressionistischen Maler hinaus. Aber sie sind gewonnen vermöge jener Nähe zum künstlerischen Objekt, deren nur fähig ist, wer selbst in äußerster Verantwortung produziert. Große Einsichten in die Kunst geraten überhaupt entweder in absoluter Distanz, aus der Konsequenz des Begriffs, ungestört vom sogenannten Kunstverständnis, wie bei Kant oder auch Hegel, oder in solcher absoluten Nähe, der Haltung dessen, der hinter den Kulissen steht, der nicht Publikum ist, sondern das Kunstwerk mitvollzieht unter dem Aspekt des Machens, der Technik. Der mittlere, sich einfühlende Kunstverständige, der Mann mit Geschmack ist zumindest heute und wahrscheinlich schon stets in Gefahr, die Kunstwerke zu verfehlen, indem er sie zu Projektionen seiner Zufälligkeit erniedrigt, anstatt ihrer objektiven Disziplin sich zu unterwerfen, Valéry bietet den fast einzigartigen Fall des zweiten Typus, dessen, der vom Kunstwerk durchs métier, den präzisen Arbeitsprozeß weiß, in dem aber dieser Prozeß sogleich so glücklich sich reflektiert, daß er in die theoretische Einsicht umschlägt, in jene gute Allgemeinheit, die nicht das Besondere fortläßt, sondern es in sich bewahrt und es aus der Kraft der eigenen Bewegung ins Verbindliche treibt. Er philosophiert nicht über Kunst, sondern durchbricht, im gleichsam fensterlosen Vollzug des Gestaltens selber, die Blindheit des Artefakts. So drückt er etwas von der Verpflichtung aus, die jeglicher ihrer selbst bewußten Philosophie heute auferlegt ist; derselben Verpflichtung, die am entgegengesetzten Pol, dem spekulativen Begriff, in Deutschland vor hundertundvierzig Jahren von Hegel erreicht war. Das zur äußersten Konsequenz gesteigerte l'art pour l'art-Prinzip transzendiert bei Valéry sich selber, treu dem Satz der ›Wahlverwandtschaften‹, daß alles in seiner Art Vollkommene über seine Art hinausweise. Der Vollzug des dem Kunstwerk selbst streng immanenten geistigen Prozesses heißt zugleich: Blindheit und Befangenheit des Kunstwerks überwinden. Nicht umsonst haben Valérys Gedanken immer wieder um Lionardo da Vinci gekreist, in dem zu Beginn der Epoche eben jene Identität von Kunst und Erkenntnis unvermittelt gesetzt ist, die am Ende, durch hundert Vermittlungen hindurch, in Valéry zum großartigen Selbstbewußtsein gefunden hat. Das Paradoxon, um welches das Valérysche Werk geordnet ist und das auch im Degas-Buch immer wieder sich anmeldet, ist nichts anderes, als daß mit jeder künstlerischen Äußerung und mit jeder Erkenntnis der Wissenschaft der ganze Mensch und das Ganze der Menschheit gemeint sei, daß aber diese Intention nur durch selbstvergessene und bis zum Opfer der Individualität, zur Selbstpreisgabe des je einzelnen Menschen rücksichtslos gesteigerte Arbeitsteilung sich verwirklichen lasse. Diesen Gedanken trage ich nicht willkürlich in Valéry hinein. »Das, was ich die ›Große Kunst‹ nenne, ist, mit einem Wort, die Kunst, die gebieterisch alle Fähigkeiten eines Menschen für sich beansprucht und deren Werke so sind, daß alle Fähigkeiten eines andern sich von ihnen angesprochen fühlen und aufgeboten werden müssen, um sie zu begreifen ...« (138) Eben das wird, mit einem düsteren geschichtsphilosophischen Seitenblick, auch vom Künstler selber gefordert, vielleicht gerade in Erinnerung an Lionardo: »Hier wird nun mehr als einer ausrufen, was schon daran liege! Ich meinerseits glaube, es ist wichtig genug, daß an der Hervorbringung des Kunstwerks der ganze Mensch sich beteiligt. Aber wie ist es nur möglich, daß das, was man heute ohne weiteres glaubt vernachlässigen zu dürfen, ehemals so wichtig genommen wurde? Ein Liebhaber, ein Kenner aus der Zeit Julius II. oder Ludwigs XIV. wäre höchlichst erstaunt, vernehmen zu müssen, daß beinahe alles, was ihm an der Malerei wesentlich erschien, heutzutage nicht nur vernachlässigt wird, sondern für die Absichten des Malers und für die Ansprüche des Publikums völlig belanglos ist. Ja, je verfeinerter dieses Publikum ist, desto fortgeschrittener, das heißt: desto weiter entfernt ist es von jenen früheren Idealen. Aber es ist der gesamte Mensch, von dem man sich solchermaßen entfernt. Der Vollmensch stirbt aus.« (135/6) Es bleibt dahingestellt, ob der Ausdruck Vollmensch, der peinliche Assoziationen mit sich führt, die angemessene Übersetzung des von Valéry Gemeinten bietet; jedenfalls aber zielt er auf den ungeteilten Menschen, den, dessen Reaktionsweisen und Fähigkeiten nicht selber nach dem Schema der gesellschaftlichen Arbeitsteilung voneinander gerissen, einander entfremdet, zu verwertbaren Funktionen geronnen sind. Aber Degas, dessen Ungenügsamkeit im Anspruch an sich selbst, Valéry zufolge, auf diese Idee der Kunst hinausläuft, wird von ihm als das äußerste Gegenteil eines Universalgenies dargestellt, obwohl der Maler nicht nur, wie man weiß, als Plastiker arbeitete, sondern auch Sonette schrieb, über die es zu denkwürdigen Kontroversen mit Mallarmé kam. Valéry sagt von ihm: »Die Arbeit, das Zeichnen waren bei ihm zur Leidenschaft geworden, einer strengen Übung, Gegenstand einer Mystik und einer Ethik, die sich selber genügten, zu einem höchsten Anliegen, das jeden andern Belang schlechterdings aufhob, einem Anstoß nie gelöster, genau umrissener Aufgaben, die ihn jeder weiteren Neugierde entband. Er war Spezialist und wollte es sein, in einem Bereich, der sich bis zu einer gewissen Universalität zu steigern vermag.« (114) Solche Steigerung des Spezialistentums zur Universalität, die verrannte Intensivierung der arbeitsteiligen Produktion enthält nach Valéry das Potential einer möglichen Gegenwirkung gegen jenen Zerfall der menschlichen Kräfte – im jüngsten Sprachgebrauch der Psychologie würde man sagen: der Ichschwäche – dem Valérys Spekulation nachhängt. Er führt eine Äußerung des siebzigjährigen Degas an: »›Man muß eine hohe Meinung haben, nicht sowohl von dem, was man im Augenblick macht, als vielmehr von dem, was man eines Tages wird machen können; ohne das verlohnt es sich nicht, zu arbeiten.‹« (114) Das interpretiert Valéry: »So spricht der echte Stolz, Gegengift jeder Eitelkeit. Wie der Spieler fieberhaft seinen Partien nachsinnt, nachts vom Gespenst des Schachbretts oder des Spieltisches, auf den die Karten fallen, heimgesucht, von taktischen Kombinationen und ebenso spannenden wie nichtigen Lösungen bedrängt wird, so auch der Künstler, der wesentlich Künstler ist. Ein Mensch, der nicht ständig von einer derart heftig ihn erfüllenden Gegenwart sich belagert fühlt, ist ein Mensch ohne Bestimmung: ein brachliegendes Erdreich. Die Liebe, ohne Zweifel, und der Ehrgeiz sowie die Habgier beanspruchen viel Raum in einem Menschenleben. Aber das Vorhandensein eines sicheren Ziels und die damit verbundene Gewißheit, daß es näher oder ferner, erreicht oder nicht erreicht ist, ziehen diesen Leidenschaften bestimmte Grenzen. Dagegen rückt der Wunsch, etwas zu schaffen, wovon eine größere Macht oder Vollkommenheit ausgehen soll, als wir sie uns selber zutrauen, den betreffenden, jedem irdischen Augenblick entschlüpfenden und sich versagenden Gegenstand von uns ab in unendliche Fernen. Jeder Fortschritt unsererseits entrückt ihn ebensosehr, als er ihn verschönert. Die Vorstellung, die Technik einer Kunst völlig zu beherrschen, dereinst in der Lage zu sein, über ihre Mittel ebenso sicher und mühelos verfügen zu können, wie man über den normalen Gebrauch seiner Sinne und Glieder verfügt, gehört zu jenen Wunschbildern, auf die gewisse Menschen mit einer unendlichen Beharrlichkeit, unendlichen Aufwendungen, Übungen, Qualen reagieren müssen.« (114–116) Und Valéry faßt die Paradoxie des universalen Spezialistentums zusammen: »Flaubert, Mallarmé, jeder auf seinem Gebiet und auf seine Weise, sind literarische Beispiele für das völlige Aufgehen eines Lebens im Dienste des alles umfassenden imaginären Anspruchs, den sie der Kunst des Schreibens beimaßen.« (116) Ich darf an meine Behauptung erinnern, daß dem berüchtigten Artisten und Ästheten Valéry tiefere Einsicht in das gesellschaftliche Wesen von Kunst zufällt als der Doktrin ihrer unmittelbaren praktisch-politischen Nutzanwendung. Man mag das hier erhärtet finden. Denn die Theorie vom engagierten Kunstwerk, wie sie heute gang und gäbe ist, setzt sich über die in der Tauschgesellschaft unabdingbar herrschende Tatsache der Entfremdung zwischen den Menschen sowohl wie zwischen dem objektiven Geist und der Gesellschaft, die er ausdrückt und richtet, umstandslos hinweg. Sie will, daß die Kunst unmittelbar zu den Menschen spreche, als ließe sich in einer Welt universaler Vermittlung das Unmittelbare unmittelbar realisieren. Gerade damit aber degradiert sie Wort und Gestalt zum bloßen Mittel, zum Element des Wirkungszusammenhangs, zur psychologischen Manipulation und höhlt die Stimmigkeit und Logik des Kunstwerks aus, das nicht mehr nach dem Gesetz der eigenen Wahrheit sich entfalten, sondern die Linie des geringsten Widerstands bei den Konsumenten verfolgen soll. Valéry ist aktuell und das Widerspiel jenes Ästheten, zu dem ihn das vulgäre Vorurteil stempelt, weil er dem kurzatmig-pragmatischen Geist den Anspruch der unmenschlichen Sache um des Menschlichen willen entgegensetzt. Daß aber die Arbeitsteilung nicht durch ihre Verleugnung, daß die Kälte der rationalisierten Welt nicht durch empfohlene Irrationalität sich bannen läßt, ist eine gesellschaftliche Wahrheit, die durch den Faschismus aufs nachdrücklichste demonstriert worden ist. Durch ein Mehr, nicht durch ein Weniger an Vernunft lassen die Wunden sich heilen, welche das Werkzeug Vernunft im unvernünftigen Ganzen der Menschheit schlägt. Dabei hat Valéry weder naiv die Position des vereinsamten und entfremdeten Künstlers hingenommen, noch von der Geschichte abstrahiert, noch sich Illusionen gemacht über den gesellschaftlichen Prozeß, der in der Entfremdung terminierte. Gegen die Pächter der privaten Innerlichkeit, die Schlauheit, die oft genug ihre Funktion auf dem Markt erfüllt, indem sie die Reinheit dessen vorspiegelt, der nicht nach rechts und nicht nach links blickt, zitiert er einen sehr schönen Satz von Degas: »›Wieder einer jener Eremiten, die wissen, wann der nächste Zug abgeht.‹« (129) Mit aller Härte, ohne alle ideologische Zutat, wie kein Theoretiker der Gesellschaft es rücksichtsloser vermöchte, spricht Valéry den Widerspruch der künstlerischen Arbeit als solcher zu den heute herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen der materiellen Produktion aus. Er zeiht, wie in Deutschland vor mehr als hundert Jahren Carl Gustav Jochmann, die Kunst selber des Archaismus: »Bisweilen kommt mir der Gedanke, die Arbeit des Künstlers sei eine Arbeit noch ganz urtümlicher Art; der Künstler selber etwas Überlebtes; zu einer im Aussterben begriffenen Klasse von Arbeitern oder Handwerkern gehörig, die unter Anwendung höchst persönlicher Methoden und Erfahrungen Heimarbeit verrichtet; im vertrauten Durcheinander ihrer Werkzeuge lebt, blind für ihre Umgebung, nur sieht, was sie sehen will; die zerschlagene Töpfe, häuslichen Eisenkram und sonstiges überzähliges Zeug ihren Zwecken dienstbar macht ... Ob dieser Zustand sich je ändert und man vielleicht an Stelle des wunderlichen Wesens, das mit so weitgehend vom Zufall abhängigem Werkzeug sich behilft, dereinst einen peinlich in Weiß gekleideten, mit Gummihandschuhen versehenen Herrn in seinem Mal-Laboratorium antreffen wird, der sich an einen strikten Stundenplan hält, über streng spezialisierte Apparate und ausgesuchte Instrumente verfügt: jedes an seinem Platz, jedes einer bestimmten Verwendung vorbehalten? ... Bis jetzt freilich ist der Zufall aus unserem Tun noch nicht ausgeschaltet, so wenig als das Geheimnis aus der Technik, die Trunkenheit aus dem Stundenplan; aber ich möchte mich für nichts verbürgen.« (33/4) Man könnte wohl Valérys ironisch vorgetragene ästhetische Utopie als den Versuch bezeichnen, dem Kunstwerk die Treue zu halten und es zugleich durch Änderung der Verfahrungsweisen von der Lüge zu befreien, von der alle Kunst, und die Lyrik zumal, entstellt scheint, die unter den herrschenden technologischen Bedingungen sich regt. Der Künstler soll sich zum Instrument umschaffen: selbst zum Ding werden, wenn er nicht dem Fluch des Anachronismus inmitten einer verdinglichten Welt verfallen will. Valéry faßt den zeichnerischen Vorgang zusammen in dem Satz: »Der Künstler tritt vor und tritt zurück, er neigt sich bald nach dieser, bald nach jener Seite, er blinzelt, er benimmt sich, als sei sein gesamter Körper nur ein Zubehör seiner Augen, er selber vom Scheitel bis zur Sohle ein bloßes Instrument im Dienste des Zielens, Punktierens, Linierens, Präzisierens.« (67) Damit rückt Valéry jener unendlich verbreiteten Vorstellung vom Wesen des Kunstwerks zuleibe, die es, nach dem Muster des Privateigentums, dem gutschreibt, der es hervorgebracht hat. Er weiß besser als jeder andere, daß dem Künstler von seinem Gebilde nur das wenigste »gehört«; daß in Wahrheit der künstlerische Produktionsprozeß, und damit auch die Entfaltung der im Kunstwerk beschlossenen Wahrheit, die strenge Gestalt einer von der Sache erzwungenen Gesetzmäßigkeit hat, und daß ihr gegenüber die viel berufene schöpferische Freiheit des Künstlers nicht ins Gewicht fällt. Damit begegnet er sich mit einem anderen, ähnlich konsequenten, auch ähnlich unbequemen Künstler seiner Generation, Arnold Schönberg, der noch in seinem letzten Buch ›Style and Idea‹ entwickelt, daß große Musik in der Einlösung von »obligations«, von Verpflichtungen bestünde, die der Komponist gleichsam mit der ersten Note eingehe. Im gleichen Geiste sagt Valéry: »Auf allen Gebieten ist der wahrhaft starke Mensch derjenige, der am besten einsieht, daß einem nichts geschenkt ist, daß alles gemacht, daß alles erkauft werden muß; und der zittert, wenn er keine Widerstände spürt; der sie sich selber schafft ... Bei ihm ist die Form ein begründeter Entscheid.« (120) In Valérys Ästhetik waltet eine Metaphysik der Bürgerlichkeit. Am Ende der bürgerlichen Epoche will er die Kunst vom traditionellen Fluch ihrer Unehrlichkeit reinigen, sie rechtschaffen machen. Er mutet ihr zu, daß sie die Schulden bezahle, in die unabdingbar jedes Kunstwerk sich stürzt, indem es als wirklich sich setzt, ohne wirklich zu sein. Zweifel sind daran erlaubt, ob Valérys und Schönbergs Vorstellung vom Kunstwerk als einer Art von Tauschvorgang die ganze Wahrheit, ob sie nicht eben jener Verfassung des Daseins hörig sei, mit der nicht mitzuspielen doch eben von Valérys Konzeption gefordert wird. Aber es liegt ein Befreiendes in dem Selbstbewußtsein, das schließlich die bürgerliche Kunst von sich als bürgerlicher erringt, sobald sie sich ernst nimmt wie die Realität, die sie nicht ist. Die Geschlossenheit des Kunstwerks, die Notwendigkeit seines Gepräges in sich soll es von der Zufälligkeit heilen, durch die es hinter Zwang und Gewicht des Wirklichen zurücksteht. Im Moment der objektiven Verpflichtung, nicht in einem Verwischen der Grenze der Bereiche ist die Affinität der Valéryschen Kunstphilosophie zur Wissenschaft zu suchen und nicht zuletzt seine Wahlverwandtschaft mit Lionardo. Seine Pointierung von Technik und Rationalität gegenüber der bloßen Intuition, die es einzuholen gilt; die Hervorhebung des Prozesses gegenüber dem ein-für allemal fertigen Werk läßt sich aber ganz verstehen nur auf dem Hintergrund von Valérys Urteil über die breiten Entwicklungstendenzen der neueren Kunst. In dieser gewahrt er ein Zurücktreten der konstruktiven Kräfte, ein sich Überlassen an die sinnliche Rezeptivität – kurz in Wahrheit eben die Schwächung der menschlichen Kräfte, des Gesamtsubjekts, auf das er alle Kunst bezieht. Die Worte, die er, abschiednehmend, der Dichtung und Malerei der impressionistischen Ära widmet, können in Deutschland vielleicht am ehesten verstanden werden, wenn man sie auf Richard Wagner und Strauss anwendet, deren Signalement sie ungewollt entwerfen: »Eine Beschreibung setzt sich aus Sätzen zusammen, die man, im allgemeinen, miteinander vertauschen kann: ich vermag ein Zimmer vermittels einer Reihe von Sätzen zu schildern, deren Aufeinanderfolge beinahe belanglos ist. Der Blick schweift, wie er will. Nichts ist natürlicher und der ›Wahrheit‹ näher als dieses Schweifen, denn ... die ›Wahrheit‹ ist das vom Zufall Gegebene ... Aber wenn dieses unverbindliche Ungefähr, samt der daraus sich ergebenden Gewöhnung zur Leichtigkeit, in den Werken vorzuherrschen beginnt, so dürfte es die Schriftsteller schließlich dazu bringen, aller Abstraktion zu entsagen, ebenso wie es den Leser noch der geringsten Verpflichtung zur Aufmerksamkeit entbinden wird, um ihn einzig und allein für Augenblickswirkungen empfänglich zu machen, für die überzeugende Gewalt des Schocks ... Diese Art von Kunstschaffen, die prinzipiell wohl zu verantworten ist und der wir so manche wunderschönen Dinge zu danken haben, führt indessen gleicherweise wie der mit der Landschaft getriebene Mißbrauch zu einer Schwächung der geistigen Seite der Kunst.« (135) Und kurz danach noch grundsätzlicher: »Die moderne Kunst sucht fast ausschließlich die sinnenhafte Seite unseres Empfindungsvermögens auszuwerten auf Kosten der allgemeinen oder gemüthaften Sensibilität, auf Kosten auch unserer konstruktiven Kräfte, sowie unserer Befähigung, Zeitintervalle zu addieren und mit Hilfe des Geistes Umformungen zu vollziehen. Sie versteht es ausgezeichnet, Aufmerksamkeit zu erregen, und verwendet alle Mittel, um sie zu erregen: Höchstspannungen, Kontraste, Rätsel, Überraschungen. Bisweilen gewinnt sie dank ihren subtilen Mitteln oder der Kühnheit der Ausführung sehr kostbare Beute: höchst verwickelte oder höchst flüchtige Zustände, irrationale Werte, eben erst aufkeimende Empfindungen, Resonanzen, Übereinstimmungen, Ahnungen von ungewisser Tiefe ... Aber diese Gewinne wollen bezahlt sein.« (136/7) Hier erst enthüllt sich ganz der objektive gesellschaftliche Wahrheitsgehalt Valérys. Er setzt die Antithese zu den anthropologischen Veränderungen unter der spätindustriellen, von totalitären Regimes oder Riesenkonzernen gesteuerten Massenkultur, die die Menschen zu bloßen Empfangsapparaten, Bezugspunkten von conditioned reflexes reduziert und damit den Zustand blinder Herrschaft und neuer Barbarei vorbereitet. Die Kunst, die er den Menschen, wie sie sind, entgegenhält, meint Treue zu dem möglichen Bilde vom Menschen. Das Kunstwerk, welches das äußerste von der eigenen Logik und der eigenen Stimmigkeit wie von der Konzentration des Aufnehmenden verlangt, ist ihm Gleichnis des seiner selbst mächtigen und bewußten Subjekts, dessen, der nicht kapituliert. Nicht umsonst zitiert er mit Enthusiasmus eine Äußerung von Degas gegen die Resignation. Sein Gesamtwerk ist ein einziger Protest gegen die tödliche Versuchung, es sich leicht zu machen, indem man dem ganzen Glück und der ganzen Wahrheit entsagt. Lieber am Unmöglichen zugrunde gehen. Die dicht organisierte, lückenlos gefügte und gerade durch ihre bewußte Kraft ganz versinnlichte Kunst, der er nachhängt, läßt sich kaum realisieren. Aber sie verkörpert die Resistenz gegen den unsäglichen Druck, den das bloß Seiende übers Menschliche ausübt. Sie steht ein für das, was wir einmal sein könnten. Sich nicht verdummen, sich nicht einlullen lassen, nicht mitlaufen: das sind die sozialen Verhaltensweisen, die im Werk Valérys sich niedergeschlagen haben, das sich weigert, das Spiel der falschen Humanität, des sozialen Einverständnisses mit der Entwürdigung des Menschen, mitzuspielen. Kunstwerke konstruieren heißt ihm: dem Opiat sich verweigern, in das die große sinnliche Kunst seit Wagner, Baudelaire und Manet sich verwandelt hat; die Schmach abzuwehren, welche die Werke zu Medien und die Konsumenten zu Opfern psychotechnischer Behandlung macht. Es geht um das gesellschaftliche Recht des als Esoteriker rubrizierten Valéry, um das, womit sein Werk einen jeglichen betrifft, auch und gerade weil er es verschmäht, irgend jemandem nach dem Munde zu reden. Aber einen Einwand erwarte ich und ich möchte ihn nicht leicht nehmen. Man kann fragen, ob nicht in Valérys Werk und Philosophie, nach dem was geschehen ist und weiter droht, Kunst selber maßlos überschätzt sei; ob er nicht deswegen doch jenem neunzehnten Jahrhundert angehöre, für dessen ästhetische Unzulänglichkeit er ein so hellsichtiges Organ hatte. Weiter kann man fragen, ob er nicht, trotz der objektiven Wendung der Interpretation des Kunstwerks, eine Künstlermetaphysik oktroyiere, etwa wie Nietzsche. Ob Valéry, oder auch Nietzsche, die Kunst überschätzt haben, wage ich nicht zu entscheiden. Wohl aber möchte ich, zum Ende, etwas sagen über die Frage der Künstlermetaphysik. Das ästhetische Subjekt Valérys, mag es nun er selber sein oder Lionardo oder Degas, ist nicht Subjekt in dem primitiven Sinn des Künstlers, der sich ausdrückt. Die ganze Valérysche Konzeption richtet sich gegen diese Vorstellung, gegen die Inthronisierung des Genies, wie sie insbesondere in der deutschen Ästhetik seit Kant und Schelling so tief eingewurzelt ist. Das, was er vom Künstler verlangt, die technische Selbsteinschränkung, die Unterwerfung unter die Sache, gilt nicht der Einschränkung sondern der Erweiterung. Der Künstler, der das Kunstwerk trägt, ist nicht der je Einzelne, der es hervorbringt, sondern durch seine Arbeit, durch passive Aktivität wird er zum Statthalter des gesellschaftlichen Gesamtsubjekts. Indem er der Notwendigkeit des Kunstwerks sich unterwirft, eliminiert er aus diesem alles, was bloß der Zufälligkeit seiner Individuation sich verdanken könnte. In solcher Stellvertretung des gesamtgesellschaftlichen Subjekts aber, eben jenes ganzen, ungeteilten Menschen, an den Valérys Idee vom Schönen appelliert, ist zugleich ein Zustand mitgedacht, der das Schicksal der blinden Vereinzelung tilgt, in dem endlich das Gesamtsubjekt gesellschaftlich sich verwirklicht. Die Kunst, die in der Konsequenz von Valérys Konzeption zu sich selbst kommt, würde Kunst selber übersteigen und sich erfüllen im richtigen Leben der Menschen. Fußnoten
1 Vgl. Paul Valéry, Tanz, Zeichnung und Degas, übertr. von Werner Zemp, Berlin, Frankfurt a.M.o.J. [1951]. – Die im folgenden in Klammern gesetzten Ziffern beziehen sich auf die Seiten dieses Bandes.
Noten zur Literatur II Zur Schlußszene des Faust Für den Alexandrinismus, die auslegende Versenkung in überlieferte Schriften, spricht manches in der gegenwärtigen geschichtlichen Lage. Scham sträubt sich dagegen, metaphysische Intentionen unmittelbar auszudrücken; wagte man es, so wäre man dem jubelnden Mißverständnis preisgegeben. Auch objektiv ist heute wohl alles verwehrt, was irgend dem Daseienden Sinn zuschriebe, und noch dessen Verleugnung, der offizielle Nihilismus, verkam zur Positivität der Aussage, einem Stück Schein, das womöglich die Verzweiflung in der Welt als deren Wesensgehalt rechtfertigt, Auschwitz als Grenzsituation. Darum sucht der Gedanke Schutz bei Texten. Das ausgesparte Eigene entdeckt sich in ihnen. Aber beide sind nicht Eines: das in den Texten Entdeckte beweist nicht das Ausgesparte. In solcher Differenz drückt sich das Negative, die Unmöglichkeit aus; ein O wär' es doch, gleich weit von der Versicherung, daß es so sei, wie von der, es sei nicht. Die Interpretation beschlagnahmt nicht, was sie findet, als geltende Wahrheit und weiß doch, daß keine Wahrheit wäre ohne das Licht, dessen Spur in den Texten sie folgt. Das färbt sie als die Trauer, von welcher die Behauptung des Sinnes nichts ahnt und welche von der Insistenz auf dem, was der Fall sei, krampfhaft verleugnet wird. Der Gestus des interpretierenden Gedankens gleicht dem Lichtenbergischen »Weder leugnen noch glauben«, den verfehlte, wer ihn einebnen wollte auf bloße Skepsis. Denn die Autorität der großen Texte ist, säkularisiert, jene unerreichbare, die der Philosophie als Lehre vor Augen steht. Profane Texte wie heilige anschauen, das ist die Antwort darauf, daß alle Transzendenz in die Profanität einwanderte und nirgends überwintert als dort, wo sie sich verbirgt. Blochs alter Begriff der Symbolintention zielt wohl auf diese Art des Interpretierens. Dem heute unversöhnlich klaffenden Widerspruch zwischen der dichterisch integren Sprache und der kommunikativen sah bereits der alte Goethe sich gegenüber. Der zweite Teil des Faust ist einem Sprachverfall abgezwungen, der vorentschieden war, seitdem einmal die dinghaft geläufige Rede in die des Ausdrucks eindrang, die jener darum so wenig zu widerstehen vermag, weil die beiden feindlichen Medien doch zugleich eins sind, nie ganz gelöst voneinander. Was an Goethes Altersstil für gewaltsam gilt, sind wohl die Narben, die das dichterische Wort in der Abwehr des mitteilenden davontrug, diesem selber zuweilen ähnlich. Denn tatsächlich hat Goethe keine Gewalttat an der Sprache begangen. Er hat nicht, wie es am Ende unvermeidlich ward, mit der Kommunikation gebrochen und dem reinen Wort eine Autonomie zugemutet, wie sie, durch den Gleichklang mit dem vom Kommerz besudelten, allzeit prekär bleibt. Sondern sein restitutives Wesen trachtet, das besudelte als dichterisches zu erwecken. An keinem einzelnen könnte das gelingen, so wenig wie in der Musik ein verminderter Septimakkord, nach der Schande, die ihm die Vulgarität des Salons antat, je wieder klingt wie jener mächtige am Anfang von Beethovens letzter Klaviersonate. Wohl aber flammt die heruntergekommene und zur Metapher verschlissene Wendung dort noch einmal auf, wo sie buchstäblich genommen ist. Dieser Augenblick birgt die Ewigkeit der Sprache am Schluß des Faust in sich. Der Pater profundus preist, als »liebevoll im Sausen«, den »Blitz, der flammend niederschlug, / Die Atmosphäre zu verbessern, / Die Gift und Dunst im Busen trug« (11876–81). Auf den Vorsatz, die Atmosphäre zu verbessern, redet unterdessen das armseligste Konferenzkommuniqué sich heraus, wenn es den verängstigten Völkern vertuschen will, daß wieder nichts erreicht wurde. Schlachtet der scheußliche Brauch nicht selber bereits einen Goethevers aus, dessen Kenntnis freilich den zitierfreudigen Herren schwerlich zuzutrauen ist, so war an der eingängigen Phrase schon zu Goethes Zeiten kaum viel Segen. Er aber fügt sie in die Darstellung von Abgrund und Wasserfall ein, die mit ungeheurem Bogen den Ausdruck der permanenten Katastrophe in einen des Segens umschafft. »Die Atmosphäre zu verbessern« ist Werk der furchtbaren Liebesboten, die den in der Schwüle Erstickenden den Atem des ersten Tages zurückerstatten. Sie retten die Banalität, die es bleibt, und sanktionieren zugleich das Pathos der dröhnenden Naturbilder als eines erhabener Zweckmäßigkeit. Ruft wenige Verse vorm Finis die Mater gloriosa aus: »Komm! hebe dich zu höhern Sphären!« (12094), so verwandelt ihr Stichwort die eitle Klage der bürgerlichen Mutter über den mangelnden Realitätssinn ihres Sprößlings, der allzu gern dort verweile, in die sinnliche Gewißheit einer Szenerie, deren Bergschluchten zur »höheren Atmosphäre« geleiten. – »Weichlich« ist ein pejoratives Wort, war es wohl auch damals. Fleht aber die Magna peccatrix »Bei den Locken, die so weichlich / Trockneten die heil'gen Glieder« (12043/4), so erfüllt sich die Form mit der wörtlichen Kraft der adverbiellen Bestimmung, empfängt die Zartheit des Haares, Zeichen der erotischen Liebe, in der Aura der himmlischen. Das Unzulängliche, hier wird's Ereignis, in der Sprache.
Berührung der Extreme: man ergötzt sich an dem Vers der Friederike Kempner, die anstelle des selber schon unmöglichen Miträupchens vom Miteräupchen spricht, um durch das souverän eingefügte e die ihren Trochäen fehlende Silbe einzubringen. So hält ein ungeschickter Knabe, wider die Regel, beim Eierlauf das Ei fest, um es ungefährdet ans Ziel zu tragen. Aber die Schlußszene des Faust kennt das gleiche Mittel, dort wo der Pater Seraphicus vom Wasserstrom, der »abestürzt« (11911) redet; auch in der Pandora braucht Goethe »abegewendet«. Die sprachgeschichtliche Begründung, daß es um die mittelhochdeutsche Form der Präposition sich handle, mildert nicht den Schock, den der Archaismus, Spur einer metrischen Not, bereiten könnte. Wohl aber die unermeßliche Distanz eines Pathos, das mit dem ersten Ton so weit weg ist vom Trug der natürlichen Rede, daß keinem diese einfiele und keinem das Lachen. Der Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen, welcher der kleinste sein soll, entscheidet über den hohen Stil; nur was an den Abgrund der Lächerlichkeit gezogen wird, hat soviel Gefahr in sich, daß daran das Rettende sich mißt und daß es gelingt. Wesentlich ist der großen Dichtung das Glück, das sie vorm Sturz bewahrt. Das Archaische der Silbe jedoch teilt sich mit, nicht als vergeblich romantisierende Beschwörung einer unwiederbringlichen Sprachschicht, sondern als Verfremdung der gegenwärtigen, die sie dem Zugriff entzieht. Dadurch wird sie zum Träger jener ungeselligen Moderne, von der Goethes Altersstil bis heute nichts einbüßte. Der Anachronismus wächst der Gewalt der Stelle zu. Sie führt die Erinnerung an ein Uraltes mit sich, welche die Gegenwart der leidenschaftlichen Rede als eine des Weltplans offenbart; als wäre es von Anbeginn so und nicht anders beschlossen gewesen. Der so schrieb, durfte auch den Chor der seligen Knaben ein paar Verse weiter singen lassen: »Hände verschlinget / Freudig zum Ringverein« (11926/7) – ohne daß, was danach mit dem Wort Ringverein geschah, dem Namen Unheil brächte. Paradoxe Immunität gegen die Geschichte ist das Echtheitssiegel jener Szene.
In der Strophe der johanneischen Mulier Samaritana heißt es – abermals dem Vers zuliebe, abermals äußerste Tugend aus Not – anstatt Abraham Abram (12046). Im Lichtfeld des exotischen Namens wird aus der vertrauten, von zahllosen Assoziationen überdeckten Figur aus dem Alten Testament jäh der östlich-nomadische Stammesfürst. Die treue Erinnerung an ihn wird mit mächtigem Griff der kanonisierten Tradition entrissen. Das allzu gelobte Land wird gegenwärtige Vorwelt. Ausgeweitet über die zur Idylle geschrumpften Patriarchenerzählungen hinaus, gewinnt sie Farbe und Kontur. Das auserwählte Volk ist jüdisch wie das Bild der Schönheit im dritten Akt griechisch. Sagt die mit Bedacht gewählte Bezeichnung Chorus mysticus in der Schlußstrophe mehr als das vage Cliché einer Sonntagsmetaphysik, dann zitieren die Sachgehalte, mochte Goethe es wollen oder nicht, jüdische Mystik herbei. Der jüdische Tonfall der Ekstase, rätselhaft in den Text verschlagen, motiviert die Bewegung der Sphären jenes Himmels, der über Wald, Fels und Einöde sich eröffnet. Er ahmt die göttliche Gewalt in der Schöpfung nach. Der Ausruf des Pater ecstaticus: »Pfeile, durchdringet mich, /Lanzen, bezwinget mich, / Keulen, zerschmettert mich, / Blitze, durchwettert mich!« (11858–61); vollends die Verse des Pater profundus: »O Gott! beschwichtige die Gedanken, / Erleuchte mein bedürftig Herz!« (11888/9) sind die einer chassidischen Stimme, aus der kabbalistischen Potenz der Gewura. Das ist der »Bronn, zu dem schon weiland / Abram ließ die Herde führen« (12045/6), und daran hat Mahlers Komposition in der Achten Symphonie sich entzündet.
Wer Goethe nicht unter die Gipsplastiken geraten lassen möchte, die in seinem eigenen Weimarer Haus herumstehen, darf der Frage nicht ausweichen, warum seine Dichtung mit Grund schön genannt wird, trotz der prohibitiven Schwierigkeiten, welche der Riesenschatten der geschichtlichen Autorität seines Werkes einer Antwort bereitet. Die erste wäre wohl eine eigentümliche Qualität von Großheit, die nicht mit Monumentalität zu verwechseln ist, aber der näheren Bestimmung zu spotten scheint. Am ähnlichsten ist sie vielleicht dem Gefühl des Aufatmens im Freien. Es ist kein unvermitteltes vom Unendlichen, sondern geht dort auf, wo es ein Endliches, Begrenztes überschreitet; das Verhältnis zu diesem bewahrt sie vorm Zerfließen in leeren kosmischen Enthusiasmus. Großheit selber wird erfahrbar an dem, was von ihr überflügelt wird; nicht zuletzt darin ist Goethe Wahlverwandter von Hegels Idee. In der Schlußszene des Faust ist diese rein in der Sprachgestalt gegenwärtige Großheit nochmals die von Naturanschauung wie in der Jugendlyrik. Ihre Transzendenz aber läßt konkret sich nennen. Die Szene beginnt sogleich mit der Waldung, die heranschwankt, der unvergleichlichen Modifikation eines Motivs aus Shakespeares Macbeth, das seinem mythischen Zusammenhang entrückt wird: der Gesang der Verse läßt Natur sich bewegen. Bald darauf hebt der Pater profundus an: »Wie Felsenabgrund mir zu Füßen / Auf tiefem Abgrund lastend ruht, /Wie tausend Bäche strahlend fließen / Zum grausen Sturz des Schaums der Flut, / Wie strack mit eignem kräftigen Triebe / Der Stamm sich in die Lüfte trägt: /So ist es die allmächtige Liebe, / Die alles bildet, alles hegt« (11866–73). Die Verse gelten der Szenerie, einer hierarchisch gegliederten, in Stufen aufsteigenden Landschaft. Was aber in ihr sich zuträgt, der Sturz des Wassers, erscheint, als spräche die Landschaft ihre eigene Schöpfungsgeschichte allegorisch aus. Das Sein der Landschaft hält inne als Gleichnis ihres Werdens. Es ist dies in ihr verschlossene Werden, welches sie, als Schöpfung, der Liebe anverwandelt, deren Walten im Aufstieg von Faustens Unsterblichem verherrlicht wird. Indem das naturgeschichtliche Wort das verfallene Dasein als Liebe anruft, öffnet sich der Aspekt der Versöhnung des Natürlichen. Im Eingedenken ans eigene Naturwesen entragt es seiner Naturverfallenheit.
Das Begrenzte als Bedingung der Großheit hat bei Goethe wie bei Hegel seinen gesellschaftlichen Aspekt: das Bürgerliche als Vermittlung des Absoluten. Hart prallt beides zusammen. Nach den emphatischen Versen »Wer immer strebend sich bemüht, / Den können wir erlösen« (11936/7), die nicht umsonst von Anführungszeichen eingefaßt werden wie ein Zitat, Maxime innerweltlicher Askese, fahren die Engel fort: »Und hat an ihm die Liebe gar / Von oben teilgenommen, / Begegnet ihm die selige Schar / Mit herzlichem Willkommen« (11938–41): wie wenn das Äußerste, wonach die Dichtung tastet, zum Streben nur als ergänzendes Akzidens hinzukäme; lehrhaft streckt das »gar« den Zeigefinger in die Höhe. Vom gleichen Geist ist die karge und herablassende Belobigung Gretchens als der »guten Seele, / die sich einmal nur vergessen« (12065/6). Um die eigene Weitherzigkeit unter Beweis zu stellen, meint der Kommentator dazu, die Zahl der Liebesnächte werde im Himmel nicht nachgerechnet, und markiert so erst das Philiströse des Passus, der klügelnd die entschuldigt, welche alle Schmach der männlichen Gesellschaft zu erdulden hatte, während mit ihrem Geliebten, dem Meuchelmörder ihres Bruders, weit großzügiger verfahren wird. Lieber als bürgerlich das Bürgerliche vertuschen sollte man es begreifen in seinem Verhältnis zu dem, was anders wäre. Dies Verhältnis vielleicht definiert Goethes Humanität und die des objektiven Idealismus insgesamt. Die bürgerliche Vernunft ist die allgemeine und eine partikulare zugleich; die einer durchsichtigen Ordnung der Welt und eines Kalküls, der dem Vernünftigen sicheren Gewinn verspricht. An solcher partikularen Vernunft bildet sich die allgemeine, welche jene aufhöbe; das gute Allgemeine realisierte sich nur durch den bestimmten Zustand hindurch, in dessen Endlichkeit und Fehlbarkeit. Die Welt jenseits des Tausches wäre zugleich die, in welcher kein Tauschender mehr um das Seine gebracht würde; überspränge Vernunft die Einzelinteressen abstrakt, ohne Aristotelische Billigkeit, so frevelte sie gegen Gerechtigkeit, und Allgemeinheit selber reproduzierte das schlechte Partikulare. Das Verweilen beim Konkreten ist unauslöschliches Moment dessen, was von der Partikularität sich befreit, während doch deren Bestimmtsein in solcher Bewegung ebenso als beschränkt bestimmt wird wie die blinde Herrschaft eines Totalen, das der Partikularität nicht achtet. Hat der junge Goethe, in einem Entwurf zum ersten Auftreten Gretchens, »das anmuthige beschränkte des bürgerlichen Zustands« gerühmt, so ist dies früh geliebte Beschränkte in die Sprache des alten eingedrungen. So wenig verschmilzt es mit ihr wie in der bürgerlichen Gesellschaft das Einzelne mit dem Ganzen. Aber an ihm nährt sich die Kraft des Übersteigens. Nämlich als Nüchternheit. Das Wort, das dissonierend noch inmitten des äußersten Überschwangs, sich selbst prüfend und abwägend, seiner mächtig bleibt, entgeht dem Schein von Versöhnung, der diese hintertreibt. Erst das Besonnene, Einschränkende, etwa im Sprachgestus der vollendeteren Engel, die von ihrem Erdenrest sagen »Und wär' er von Asbest, / Er ist nicht reinlich« (11956/7), sättigt die Elevation mit der Schwere des bloßen Daseins. Sie erhebt sich darüber, indem sie es mitnimmt, anstatt ohnmächtig, losgelöste Idee, es unter sich zu belassen. Human läßt die Sprache das Nichtidentische, in den protestierenden Worten des jungen Hegel Positive, Heteronome stehen, opfert es nicht der bruchlosen Einheit eines idealischen Stilisationsprinzips: im Eingedenken der eigenen Grenze wird der Geist zum Geist, der über jene hinwegträgt. Das Pedantische, dessen Einschlag der Schlußszene insgesamt nicht fehlt, ist nicht nur Eigenheit, sondern hat seine Funktion. Es giriert die Verpflichtungen, welche die Handlung umschreiben, ebenso wie die, welche die Dichtung selbst eingeht, indem sie die Handlung entfaltet. Nur dadurch aber, daß der Ausdruck Schuldverschreibung seine schwere Doppelbedeutung, die einer zu begleichenden Rechnung und die der Schuldhaftigkeit des Lebenszusammenhangs behält, bewegt sich das Irdische dergestalt, wie das Gleichnis der heranschwankenden Waldung es erheischt. Der Bodensatz des Pedestren, nicht vollends Spiritualisierten will durch seine Differenz vom Geiste dessen Vermögen zur Rettung verbürgen. Eingebracht wird die Dialektik des Namens aus dem Prolog im Himmel, wo Faust dem Mephistopheles der Doktor heißt, dem Herrn aber sein Knecht. Die Nüchternheit ist die des Geheimrats und die heilige in eins.
Das fiktive Zitat »Wer immer strebend sich bemüht« bezieht sich, wie man weiß, gleich den darauffolgenden Versen der jüngeren Engel auf die Wette, über die freilich bereits in der Grablegungsszene entschieden ist, wo die Engel Faustens Unsterbliches entführen. Was hat man nicht alles angestellt mit der Frage, ob der Teufel die Wette nun gewonnen oder verloren habe. Wie sophistisch hat man an den Potentialis »Zum Augenblicke dürft' ich sagen« sich geklammert, um herauszulesen, daß Faust das »Verweile doch, du bist so schön« des Studierzimmers gar nicht wirklich spreche. Wie hat man nicht, mit der erbärmlichsten largesse, Buchstaben und Sinn des Paktes unterschieden. Als wäre nicht die philologische Treue die Domäne dessen, der auf der Unterschrift mit Blut besteht, weil es ein ganz besonderer Saft sei; als hätte in einer Dichtung, die wie kaum eine andere deutsche dem Wort den Vorrang erteilt vorm Sinn, die dümmlich sublime Berufung auf diesen die geringste Legitimation. Die Wette ist verloren. In der Welt, in der es mit rechten Dingen zugeht, in der Gleich um Gleich getauscht wird – und die Wette selbst ist ein mythisches Bild des Tauschs – hat Faust verspielt. Nur rationalistisches, nach Hegels Sprachgebrauch reflektierendes Denken möchte sein Unrecht in Recht verbiegen inmitten der Sphäre des Rechts. Hätte Faust die Wette gewinnen sollen, so wäre es absurd, Hohn auf die künstlerische Ökonomie gewesen, ihm im Augenblick seines Todes eben die Verse in den Mund zu legen, die ihn dem Pakt zufolge dem Teufel überantworten. Vielmehr wird Recht selber suspendiert. Eine höhere Instanz gebietet der Immergleichheit von Credit und Debet Einhalt. Das ist die Gnade, auf welche das trockene »gar« verweist: wahrhaft jene, die vor Recht ergeht; an der der Zyklus von Ursache und Wirkung zerbricht. Der dunkle Drang der Natur steht ihr bei, aber gleicht ihr nicht ganz. Die Antwort der Gnade auf das Naturverhältnis, wie immer auch in diesem vorgedacht, springt doch umschlagend als neue Qualität hervor und setzt in die Kontinuität des Geschehenden die Zäsur. Diese Dialektik hat die Dichtung sichtbar genug gemacht mit dem alten Motiv des betrogenen Teufels, dem nach seinem Maß, dem rechtenden Verstande, der wie Shylock auf dem Schein besteht, das Verbriefte vorenthalten wird. Ginge die Rechnung so bündig auf, wie jene es wollen, welche die Gnade vorm Teufel verteidigen zu müssen glauben, der Dichter hätte sich den kühnsten Bogen seiner Konstruktion ersparen können: daß der Teufel, bei ihm schon der von Kälte, übertölpelt wird von der eigenen Liebe, die Negation der Negation. In der Sphäre des Scheins, des farbigen Abglanzes, erscheint Wahrheit selber als das Unwahre; im Licht der Versöhnung jedoch verkehrt diese Verkehrung sich abermals. Noch das Naturverhältnis der Begierde, das dem Zusammenhang der Verstrickung angehört, enthüllt sich als das, was dem Verstrickten entrinnen hilft. Die Metaphysik des Faust ist nicht jenes strebende Bemühen, dem im Unendlichen die neukantische Belohnung winkt, sondern das Verschwinden der Ordnung des Natürlichen in einer anderen.
Oder ist es auch das noch nicht? Ist nicht gar die Wette »im höchsten Alter« Faustens vergessen, samt aller Untat, die der Verstrickte beging oder gestattete, selbst noch der letzten gegen Philemon und Baucis, deren Hütte dem Herrn des neu den Menschen unterworfenen Bodens so wenig erträglich ist wie aller naturbeherrschenden Vernunft, was ihr nicht gleicht? Ist nicht die epische Gestalt der Dichtung, die sich Tragödie nennt, die des Lebens als eines Verjährens? Wird nicht Faust darum gerettet, weil er überhaupt nicht mehr der ist, der den Pakt unterschrieb; hat nicht das Stück in Stücken seine Weisheit daran, wie wenig mit sich selbst identisch der Mensch ist, wie leicht und winzig jenes »Unsterbliche«, das da entführt wird, als wäre es nichts? Die Kraft des Lebens, als eine zum Weiterleben, wird dem Vergessen gleichgesetzt. Nur durchs Vergessen hindurch, nicht unverwandelt überlebt irgend etwas. Darum wird der Zweite Teil präludiert vom unruhigen Schlaf des Vergessens. Der Erwachende, dem »des Lebens Pulse frisch lebendig schlagen«, der »wieder nach der Erde blickt«, vermag es nur, weil er nichts mehr weiß von dem Grauen, das zuvor geschah. »Dieses ist lange her.« Auch im Anfang des zweiten Akts, der ihn nochmals im engen gotischen Zimmer, »ehemals Faustens, unverändert«, zeigt, naht er der eigenen Vorwelt nur sich als Schlafender, gefällt von der Phantasmagorie des Künftigen, der Helenas. Daß im Zweiten Teil so spärlich der Realien des ersten gedacht wird; daß die Verbindung sich lockert, bis die Deutenden nichts in Händen halten als die dünne Idee fortschreitender Läuterung, ist selber die Idee. Wenn aber, mit einem Verstoß gegen die Logik, dessen Strahlen alle Gewalttaten der Logik heilt, in der Anrufung der Mater gloriosa als der Ohnegleichen das Gedächtnis an Gretchens Verse im Zwinger wie über Äonen heraufdämmert, dann spricht daraus überselig jenes Gefühl, das den Dichter mag ergriffen haben, als er kurz vor seinem Tod auf der Bretterwand des Gickelhahns das Nachtlied wieder las, das er vor einem Menschenalter darauf geschrieben hatte. Auch jene Hütte ist verbrannt. Hoffnung ist nicht die festgehaltene Erinnerung sondern die Wiederkunft des Vergessenen. Balzac-Lektüre
Für Gretel
Kommt der Bauer in die Stadt, so sagt ihm alles: verschlossen. Die mächtigen Türen, die Fenster mit Rouleaus, die ungezählten Menschen, die er nicht kennt und zu denen er, bei der Strafe der Lächerlichkeit, nicht sprechen darf, selbst die Geschäfte mit unerschwinglichen Waren weisen ihn ab. Eine derbe Novelle von Maupassant weidet sich an der Blamage des Unteroffiziers, der im fremden Milieu einen respektablen Familienkreis mit einem Bordell verwechselt: diesem, dem Heimlichen und lockend Verbotenen, ähnelt in den Augen des Zugereisten jegliches Versperrte. Cooleys soziologische Unterscheidung primärer und sekundärer Gruppen danach, ob es Beziehungen von Angesicht zu Angesicht gibt oder nicht, bekommt schmerzhaft am eigenen Leib zu spüren, wer jäh von der einen in die andere verschlagen ist. Literarisch war Balzac wohl der erste solche paysan de Paris und behielt seinen Habitus, als er gründlich Bescheid wußte. Aber zugleich inkarnierten sich in ihm die Produktivkräfte des Bürgertums auf der Schwelle zum Hochkapitalismus. Als erfinderisches Ingenium reagiert er aufs Verschlossensein: gut, so werd ich mir ausdenken, was dahinter vorgeht, und da soll die Welt einmal etwas zu hören bekommen. Die Rancune des Provinzialen, der mit empörter Ignoranz an dem sich berauscht, was sie seiner Vorstellung zufolge selbst in jenen allerersten Kreisen treiben, wo man es am letzten erwarte, wird zum Motor exakter Phantasie. Zuweilen kommt die Groschenromantik heraus, mit deren kommerziellem Betrieb Balzac in seiner Frühzeit Kompagnie hatte; zuweilen der Kinderspott von Sätzen des Typus: jedesmal, wenn man freitags gegen elf Uhr vormittags an dem Haus rue Miromesnil 37 vorbeigeht und die grünen Läden des ersten Stocks noch nicht geöffnet sind, kann man sicher sein, daß in der Nacht vorher dort eine Orgie stattfand. Zuweilen aber treffen die kompensatorischen Phantasien des Weltfremden die Welt genauer denn der Realist, als den man ihn pries. Die Entfremdung, die ihn zum Schreiben veranlaßte, wie wenn jeder Satz der emsigen Feder eine Brücke ins Unbekannte schlüge, ist selber das geheime Wesen, das er erraten möchte. Was die Menschen voneinander reißt und sie dem Dichter fernrückt, hält auch die Bewegung der Gesellschaft in Gang, deren Rhythmus Balzacs Romane nachahmen. Das abenteuerlich erdachte und unwahrscheinliche Schicksal des Lucien de Rubempré wird ins Rollen gebracht von den sachverständig beschriebenen technischen Veränderungen des Druckverfahrens wie des Papiers, die Literatur als Massenproduktion ermöglichten; Cousin Pons, der Sammler, ist außer Mode auch darum, weil er als Komponist hinter den gleichsam industriellen Fortschritten der Instrumentationstechnik zurückblieb. Solche Durchblicke Balzacs wiegen so viel an Forschung auf, weil sie aus einem Begriff der Sache kommen und ihn wiederum rekonstruieren, den die Forschung verblendet auszumerzen sich bemüht. Seiner intellektuellen Anschauung ist aufgegangen, daß im Hochkapitalismus die Menschen, nach dem späteren Ausdruck von Marx, Charaktermasken sind. Verdinglichung erstrahlt in morgendlicher Frische, den leuchtenden Farben des Ursprungs, schauerlicher als die Kritik der politischen Ökonomie am hohen Mittag. Den Agenten eines Beerdigungsinstituts um 1845, der dem Genius des Todes gleicht – den hat keine Satire des Amerikanismus in den hundert Jahren danach, auch die Evelyn Waughs nicht überboten. Desillusion, wie sie einem seiner größten Romane und einer literarischen Gattung den Namen schenkte, ist die Erfahrung, daß die Menschen und ihre gesellschaftliche Funktion auseinander klaffen. Den Totalitätscharakter der Gesellschaft, den zuvor die klassische Ökonomie und die Hegelsche Philosophie theoretisch dachten, hat er schlagend aus dem Ideenhimmel zur sinnlichen Evidenz hinabzitiert. Keineswegs bleibt jene Totalität bloß extensiv, die Physiologie des gesamten Lebens in seinen verschiedenen Sparten, welche das Programm der Comédie humaine bilden mochte. Sie wird intensiv als Funktionszusammenhang. In ihr tobt die Dynamik: daß nur als ganze, durchs System hindurch, die Gesellschaft sich reproduziert, und daß es des letzten Mannes als Kunden dazu bedarf. Wohl erscheint das perspektivisch verkürzt, allzu unmittelbar wie stets, wenn Kunst die abstrakt gewordene Gesellschaft anschaulich zu beschwören sich vermißt. Aber die individuellen Schandtaten, mit denen sie sich gegenseitig, sichtbar, den unsichtbar bereits angeeigneten Mehrwert abjagen, lassen das Unwesen so plastisch hervortreten, wie es sonst einzig durch die Vermittlungen des Begriffs hindurch gelingen könnte. Die Présidente braucht zu ihrem Erbmanöver den Winkeladvokaten und die Concierge: Gleichheit ist verwirklicht insofern, als das falsche Ganze alle Klassen einspannt in seine Schuld. Selbst das Hintertreppenhafte, über das literarischer Geschmack wie Weltkenntnis die Nase rümpfen, hat seine Wahrheit: allein am Rande entblößt sich, was in den Schächten der Gesellschaft, der Unterwelt ihrer Produktionssphäre sich zuträgt, und woraus in einer späteren Phase die totalitären Greuel aufstiegen. Balzacs Stunde war solcher exzentrischen Wahrheit günstig, eine ursprünglicher Akkumulation 1 , altertümlicher Conquistadorenwildheit inmitten der französischen industriellen Revolution des früheren neunzehnten Jahrhunderts. Kaum je wohl hat überhaupt die Aneignung fremder Arbeit rein nach den Marktgesetzen sich vollzogen. Das Unrecht, das jenen Gesetzen selbst innewohnt, vermehrt sich in dem jeder einzelnen Handlung, ein Surplusprofit der Schuld. Versierte mögen Balzac der schlechten Psychologie von Filmen überführen. Es gibt gute genug bei ihm. Jene Concierge ist kein Ungeheuer schlechthin, sondern war, was ihre Mitbürger eine rührende Person nennen, ehe sie von deren social disease, der Gier, befallen wird. Ebensogut weiß Balzac, wie Kennerschaft – die Sache – das bloße Profitmotiv überflügelt, wie die Produktivkraft über die Produktionsverhältnisse hinausschießt; er weiß auch, wie die bürgerliche Individuation als Wucherung idiosynkratischer Züge zugleich die Individuen, eingefleischte Fresser oder Geizhälse, zerstört; er ahnt das Mütterliche als Geheimnis der Freundschaft; hat den Instinkt dafür, daß dem Edlen die geringste Schwäche zum Verhängnis gereicht, so wie Pons in die Maschinerie des Untergangs durch seine Gourmandise gerät. Daß Madame de Nucingen Dritten gegenüber von einer Aristokratin mit dem Vornamen spricht, um den Anschein zu erwecken, sie verkehre bei ihr, könnte bei Proust stehen. Wo aber Balzac wirklich seinen Personen marionettenhafte Züge leiht, legitimieren sich diese jenseits der psychologischen Sphäre. Im tableau économique der Gesellschaft agieren die Menschen wie die Marionetten auf dessen mechanischem Modell im Schloß von Hellbrunn. Nicht umsonst ähneln viele von Daumiers Karikaturen dem Polichinell. In seinem Geist demonstrieren Balzacs Geschichten die soziale Unmöglichkeit von Wohlgeratenheit und Integrität. Sie grinsen: wer kein Verbrecher ist, muß zugrunde gehen; manchmal schreien sie es heraus. Darum fällt das Licht des Humanen auf Verfemte, die Hure, fähig zur großen Passion und zur Selbstaufopferung, den Galeerensträfling und Mörder, der als interesseloser Altruist handelt. Weil dem physiologischen Verdacht Balzacs die Bürger Verbrecher sind; weil jeder, der unbekannt und undurchdringlich über die Straße flaniert, aussieht, als habe er die Erbsünde der gesamten Gesellschaft begangen – deshalb sind ihm die Verbrecher und Ausgestoßenen Menschen. Das erklärt vielleicht, daß er die Homosexualität, der die Novelle Sarrasine gewidmet ist und auf der die Konzeption Vautrins basiert, der Literatur entdeckte. Angesichts des unwiderstehlich sich durchsetzenden Tauschprinzips mochte er von der geächteten, vorweg hoffnungslosen Liebe etwas wie deren unverstümmelte Gestalt sich erträumen: er traut sie dem falschen Kanonikus zu, der als Banditenhäuptling den Äquivalententausch aufgekündigt hat.
Balzac hegte eine besondere Liebe zu den Deutschen, zu Jean Paul, zu Beethoven; sie wurde ihm von Richard Wagner entgolten und von Schönberg. Trotz des visuellen Penchant hat sein Werk überhaupt etwas Musikalisches. Erinnert viele Symphonik des neunzehnten und des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts in ihrem Hang zu großen Situationen, in leidenschaftlichem Anstieg und Sturz, in der ungebärdigen Fülle von Lebendigem an Romane, so sind dafür die Balzacschen, Archetypen der Gattung, musikhaft im Strömenden, Gestalten Hervorbringenden und wiederum in sich Hineinsaugenden, in Setzung und Abwandlung von Charakteren, die auf dem Band des Traums dahintreiben. Scheint die romanhafte Musik wie im Finstern, abgeblendet gegen die Konturen der Gegenständlichkeit, im Kopf deren Bewegung zu wiederholen, so schwirrt der Kopf dem, der, auf die Fortsetzung spannend, Balzacs Seiten umwendet, als wären all ihre Beschreibungen und Aktionen der Vorwand für ein wildes und buntes Getön, das ihn durchflutet. Sie gewähren, was dem Kind die Zeilen der Flöten, Klarinetten, Hörner und Pauken verhießen, ehe es recht Partitur lesen konnte. Ist Musik die im Innenraum entgegenständlichte Welt noch einmal, dann ist der als Welt nach außen projizierte Innenraum von Balzacs Romanen die Rückübersetzung von Musik ins Kaleidoskop. An seiner Beschreibung des Musikers Schmucke läßt sich denn auch entnehmen, worauf seine Germanophilie ging. Sie ist desselben Wesens wie die Wirkung der deutschen Romantik in Frankreich, vom Freischütz und von Schumann bis zum Antirationalismus des zwanzigsten Jahrhunderts. Nicht allein jedoch verkörpert gegenüber dem lateinischen Terror der clarté das deutsche Dunkle im Labyrinth von Balzacs Sätzen ebensoviel an Utopie, wie umgekehrt die Deutschen an der Aufklärung verdrängten. Darüber hinaus mag Balzac auf die Konstellation von Chthonischem und Humanität angesprochen haben. Denn Humanität ist das Eingedenken der Natur im Menschen. Er folgt ihr dorthin, wo Unmittelbarkeit vorm Funktionszusammenhang der Gesellschaft sich verkriecht und an ihm zuschanden wird. So archaisch ist aber auch die poetische Kraft, die in ihm das grimmige Scherzo der Moderne entbindet. Der Allmensch, das transzendentale Subjekt gleichsam, das hinter Balzacs Prosa zum Schöpfer, dem der in zweite Natur verhexten Gesellschaft sich aufwirft, ist wahlverwandt dem mythischen Ich der großen deutschen Philosophie und der ihr korrespondierenden Musik, das alles was ist aus sich selbst heraus setzt. Während solcher Subjektivität das Menschliche beredt wird durch die Kraft ursprünglicher Identifikation mit dem Anderen, als das sie sich selbst weiß, ist sie zugleich immer auch unmenschlich in der Gewalttat, die damit umspringt, es ihrem Willen untertan macht. Balzac rückt der Welt um so näher auf den Leib, je weiter er von ihr sich entfernt, indem er sie schafft. Die Anekdote, der zufolge er in den Tagen der Märzrevolution von den politischen Begebenheiten sich abkehrte und an den Schreibtisch ging mit den Worten: »Kehren wir zur Wirklichkeit zurück«, beschreibt ihn treu, auch wenn sie erfunden sein sollte. Sein Gestus ist der des späten Beethoven, der im Hemd, wütend vor sich hinbrummend, Noten des cis-moll-Quartetts riesenhaft vergrößert an die Wand seines Zimmers malte. Wie in der Paranoia spielen Wut und Liebe ineinander. Nicht anders treiben die Elementargeister ihren Schabernack mit den Menschen und helfen den Armen.
Freud ist nicht entgangen, daß der Paranoiker ein System hat wie die Philosophen. Alles hängt zusammen, überall walten Beziehungen, alles dient einem geheimen und sinistren Zweck. Was aber heranreift in der realen Gesellschaft, von der Balzac zuweilen redet, wie jene Gräfinnen, die bien, bien sagen, weil sie ein fließendes Französisch sprechen, ist davon nicht gar zu verschieden. Es formiert sich ein System universaler Abhängigkeiten und Kommunikationen. Die Konsumenten bedienen die Produktion. Können sie die Waren nicht bezahlen, so gerät das Kapital in die Krise, die jene vernichtet. Das Kreditwesen kettet das Schicksal des einen an das des anderen, mögen sie es wissen oder nicht. Das Ganze bedroht die, aus denen es sich zusammensetzt, mit dem Untergang, indem es sie reproduziert, und öffnete, solange seine Oberfläche noch nicht ganz dicht gefügt ist, den Durchblick auf dessen Potential. An den unerwartetesten Stellen der Comédie humaine tauchen als Passanten der Stollen wohlbekannte Personen wieder auf, die Gobsecks, Rastignacs und Vautrins, in Konstellationen, die nur der Beziehungswahn erdenken, nur das Dictionnaire biographique des personnages fictifs de la Comédie humaine ordnen kann. Aber die fixen Ideen, die überall dieselben Mächte am Werk vermuten, bewirken Kurzschlüsse, in denen für einen Augenblick der Gesamtprozeß aufleuchtet. Deshalb schlägt die Entfernung des Subjekts von der Wirklichkeit durch Obsession mit ihr um in exzentrische Nähe.
Am frühen Industrialismus gewahrt Balzac, der mit der Restauration sympathisierte, Symptome, die man erst der Phase der Entartung zuzuschreiben pflegt. In den Illusions perdues antezipiert er den Angriff von Karl Kraus auf die Presse; dieser hat auf ihn sich berufen. Gerade die restaurativen Journalisten haben es bei ihm am schlechtesten; der Widerspruch zwischen ihrer Ideologie und dem a priori demokratischen Medium zwingt sie zum Zynismus. Derlei objektive Sachverhalte vertragen sich nicht mit Balzacs Gesinnung. Die Konflikte in der sich durchsetzenden neuen Produktionsweise sind so ungemildert wie seine Phantasie und setzen sich fort in der Struktur seiner Gebilde. Romantischer und realistischer Aspekt überblenden sich in Balzac geschichtlich. Die Financiers, Pioniere der noch nicht etablierten Industrie, sind Abenteurer aus dem Epos, dessen Kategorien der noch im achtzehnten Jahrhundert geborene Dichter ins neunzehnte hinüberrettet. Vor dem Hintergrund der erschütterten, aber fortbestehenden vorbürgerlichen Ordnung nimmt die losgelassene Rationalität etwas Irrationales gleich dem universalen Schuldzusammenhang an, der jene ratio bleibt; in ihren ersten Beutezügen präludiert sie die Irrationalität ihrer Spätphase. Die Normen des homo oeconomicus sind noch nicht zu standardisierten Verhaltensweisen der Menschen geworden; die Jagd nach dem Profit ähnelt noch der Blutgier undomestizierter Jäger, das Ganze der unerbittlich blinden Verkettung von Schicksal. Adam Smith's invisible hand wird bei Balzac zur schwarzen Hand an der Kirchhofsmauer. Wovor Hegels Spekulation in der Rechtsphilosophie ebenso erschrak wie der Positivist Comte, die sprengenden Tendenzen des Systems, das die naturwüchsigen Strukturen verdrängt, das flammt Balzacs hingerissener Betrachtung als chaotische Natur auf. Seine Epik berauscht sich an dem, was die Theoretiker so wenig vertragen konnten, daß Hegel als Schiedsrichter den Staat beschwor und Comte die Soziologie. Balzac braucht beides nicht, weil in ihm das Kunstwerk selber als jene Instanz auftritt, welche mit weiter Gebärde die zentrifugalen Kräfte der Gesellschaft umfängt.
Der Balzacsche Roman lebt von der Spannung zwischen den Leidenschaften der Menschen und einer Verfassung der Welt, die tendenziell Leidenschaft, als Störung des Betriebs, bereits nicht mehr toleriert. Die Leidenschaften steigern sich an den Verboten und Versagungen, denen sie damals wie je unterworfen sind, zur Manie. Unerfüllt, werden sie deformiert zugleich und unersättlich, pathische Eigenheiten. Noch aber verschwinden die Triebe nicht durchaus in den gesellschaftlichen Schemata. Sie heften sich an die weithin noch unerreichbaren Güter, solche zumal, auf denen ein natürliches Monopol liegt, oder treten als Geiz, Geldgier und Gründerwut in den Dienst des expansiven Kapitalismus, der, solange er nicht ganz eingespielt ist, zusätzlicher Energien der Individuen bedarf. Die Parole enrichissez-vous bringt die Figuren Balzacs zum Tanzen. Während die frühindustrielle Welt den an sie noch nicht Adaptierten den Doppelsinn des Wortes Bazar, den von Tausendundeiner Nacht und Warenhaus, von Märchen und Kommerz bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein entgegenkehrt – so ließ der Zufall den Namen eines der wichtigsten von Saint-Simons Schülern klingen –, tummeln davor die Leute sich wie Agenten und Irrfahrer zugleich, Agenten des Mehrwerts und Don Quixoten eines Reichtums, von dessen Erweiterung sie, wie Feudale ohne viel Arbeit, etwas zu ergattern hoffen, Glücksritter, anstürmend gegen die Windmühlen der Fortuna, die sie nach dem Gesetz der Durchschnittsprofitrate zu Boden schlägt. So bunt ist der Einbruch des Graus, so bezaubernd die Entzauberung der Welt, so viel läßt von dem Prozeß sich erzählen, dessen Prosa dafür sorgt, daß es bald nichts mehr zu erzählen gibt. Wie der Lyriker der Epoche hat auch ihr Epiker die Blumen des Bösen gepflückt, dort, wo auf dem sozialistischen Volksatlas »Sumpf des Kapitalismus« verzeichnet steht. Mag immer der romantische Aspekt von Balzacs Werk subjektiv von geschichtlicher Zurückgebliebenheit, vom vorkapitalistischen Blick dessen herrühren, der als Opfer der liberalen Gesellschaft sehnsüchtig zurückschaut und dennoch an ihren Prämien partizipieren möchte – er entstammt gleichwohl ebenso der gesellschaftlichen Realität: und einer realistischen Formgesinnung, welche auf diese zielt. Balzac braucht nur mit ernüchtert verbissenem »So fürchterlich ist die Welt« sie zu schildern, und die katastrophischen Prätuberanzen werden zur Aureole.
Welcher deutsche Leser Balzacs, der gewissenhaft zum französischen Original greift, wäre nicht schon in Verzweiflung geraten über die unzähligen ihm unbekannten Vokabeln für spezifische Differenzen von Gegenständen, die er im Wörterbuch suchen muß, wenn nicht die Lektüre schwimmen soll; bis er dann resigniert und beschämt den Übersetzungen sich anvertraut. Die handwerkliche Genauigkeit des Französischen selber, der Respekt für Nuancen des Materials wie der Bearbeitung, in dem so viel von Kultur sich niederschlägt, mag dafür verantwortlich sein. Aber Balzac outriert das. Zuweilen setzt er die Kenntnis ganzer technischer Terminologien von Spezialgebieten voraus. Das fällt in einen umfassenderen Kontext seines Werkes. Dieser reißt oft mit den ersten Sätzen einer Erzählung den Leser in sich hinein. Präzision fingiert äußerste Nähe zu den Sachgehalten und damit leibhaftige Gegenwart. Balzac übt die Suggestion des Konkreten aus. Sie ist aber so überwertig, daß man ihr nicht arglos nachgeben, sie nicht der ominösen Fülle epischer Anschauung gutschreiben soll. Viel eher ist jene Konkretheit, worauf ihr Eifer verweist: Beschwörung. Um durchschaut zu werden, kann die Welt nicht mehr angeschaut werden. Dafür, daß der literarische Realismus überholt ward, weil er als Darstellung der Realität diese verfehlt, ist kein besserer Zeuge zu zitieren als derselbe Brecht, der dann in die Zwangsjacke des Realismus schlüpfte, als wäre sie ein Maskenkostüm. Er hat gesehen, daß das ens realissimum Prozesse sind, keine unmittelbaren Tatsachen, und sie lassen sich nicht abbilden: »Die Lage wird dadurch so kompliziert, daß weniger denn je eine einfache ›Wiedergabe der Realität‹ etwas über die Realität aussagt. Eine Photographie der Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht. Die Verdinglichung der menschlichen Beziehungen, also etwa die Fabrik, gibt die letzteren nicht mehr heraus.« 2 Zu Balzacs Zeit war das noch nicht zu erkennen. Er rekonstruiert die Welt aus den Verdachten des Outsiders. Dazu bedarf er, reaktiv, der permanenten Versicherung, eben so sei es und nicht anders. Konkretion ersetzt jene reale Erfahrung, die nicht bloß den großen Dichtern des industriellen Zeitalters fast unvermeidlicher Weise mangelt, sondern dessen eigenem Begriff inkommensurabel wird. Die Absonderlichkeit Balzacs wirft Licht auf einen Zug der Prosa des neunzehnten Jahrhunderts insgesamt seit Goethe. Der Realismus, dem auch idealisch Gesonnene nachhängen, ist nicht primär, sondern abgeleitet: Realismus aus Realitätsverlust. Epik, die des Gegenständlichen, das sie zu bergen trachtet, nicht mehr mächtig ist, muß es durch ihren Habitus übertreiben, die Welt mit exaggerierter Genauigkeit beschreiben, eben weil sie fremd geworden ist, nicht mehr in Leibnähe sich halten läßt. Jener neueren Gegenständlichkeit, die dann in Werken wie Zolas Ventre de Paris zur Auflösung von Zeit und Aktion, zu einer sehr modernen Konsequenz getrieben ward, wohnt schon in Stifters Verfahrungsweise, ja in den Sprachformeln des späteren Goethe ein pathogener Kern inne, der Euphemismus. Analog setzen Zeichnungen Schizophrener nicht aus dem isolierten Bewußtsein eine Phantasiewelt. Vielmehr kritzeln sie die Details der verlorenen Objekte mit einer Akribie, die Verlorenheit selber ausdrückt. Das, keine ungebrochene Ähnlichkeit mit den Dingen, ist die Wahrheit des literarischen Konkretismus. Nach der Sprache der analytischen Psychiatrie wäre er ein Restitutionsphänomen. Darum ist es so töricht, realistische Stilprinzipien der Literatur einem – nach dem Cliché des Ostbereichs – gesunden, nicht dekadenten Verhältnis zur Wirklichkeit gleichzusetzen. Normal, das Wort emphatisch genommen, wäre dies Verhältnis, wo das dichterische Subjekt das gesellschaftliche Unwesen bannt, indem es die verhärtete und darum entfremdete Fassade der Empirie durchbricht.
Marx belegt eine Bemerkung über die kapitalistische Funktion des Geldes im Gegensatz zum altertümlichen Horten mit Balzac: »Verschluß des Geldes gegen die Zirkulation wäre gerade das Gegenteil seiner Verwertung als Kapital, und Warenakkumulation im schatzbildnerischen Sinn reine Narrheit. So ist bei Balzac, der alle Schattierungen des Geizes so gründlich studiert hatte, der alte Wucherer Gobseck schon verkindischt, als er anfängt, sich einen Schatz aus aufgehäuften Waren zu bilden.« 3 Der Weg aber, der Balzac zu jener »tiefen Auffassung der realen Verhältnisse« geleitet, die Marx anderswo 4 ihm attestiert, verläuft in der Gegenrichtung der ökonomischen Analyse. Wie ein Kind fasziniert ihn das Schreckbild und die Narretei des Wucherers. Sein Emblem ist der Schatz, mit dem er infantil sich umgibt. Zur Narretei ist er erst geschichtlich geworden, das vorkapitalistische Rudiment im Herzen des Freibeuters der Zirkulation. Solche blinde Physiognomik, nicht theoretisch orientierte Dichtung genügt der dialektischen Theorie und trifft die Tendenz. Kein legitimes Verhältnis von Kunst und Erkenntnis wird dadurch gestiftet, daß die Kunst der Wissenschaft Thesen abborgt, sie illustriert, ihr vorausläuft, um von ihr eingeholt zu werden. Erkenntnis wird sie, wo sie ohne Vorbehalt der Arbeit an ihrem Material sich anvertraut. Das war aber bei Balzac die Anstrengung einer Phantasie, die nicht rastet, bis ihre Produkte so sehr sich selbst gleichen, daß sie auch der Gesellschaft gleichen, vor der sie retirieren.
Von der bürgerlichen Illusion, das Individuum sei wesentlich für sich, und die Gesellschaft oder das Milieu wirke von außen auf es ein, ist Balzac noch, oder schon, frei. Seine Romane stellen nicht nur die Übermacht gesellschaftlicher, zumal ökonomischer Interessen über die private Psychologie dar, sondern auch die gesellschaftliche Genese der Charaktere in sich selber. Vorab werden sie motiviert von ihren Interessen, denen von Karriere und Erwerb, dem Mischprodukt aus feudal-hierarchischem Status und bürgerlich-kapitalistischer Verfügung. Dabei jedoch ist die Divergenz zwischen menschlicher Bestimmung und sozialer Rolle agnostiziert. Die kraft ihrer Interessen als Räder des Getriebes Fungierenden behalten ein Residuum an Eigenschaften, das sie in der späteren Entwicklung einbüßen. Es geht mit den Interessen und der Interessenpsychologie nicht zusammen. Die gleichen Personen, die als Wirtschaftsführer ihre Konkurrenten gleichermaßen mit ökonomischen und kriminellen Mitteln ruinieren, ruinieren bei Balzac sich selbst, wenn der Sexus sie übermannt, für den die Interessen ihnen keine Zeit ließen. Täppisch verfällt der ältliche, brutale und gewissenlose Nucingen der blutjungen Esther, die ihn nach Hurenart und besten Kräften um sich selber betrügt, weil sie der Engel ist, der vergebens unter die Glücksräder sich wirft, den Geliebten zu erretten.
Den von einem Tag zum anderen als Journalisten arrivierten Lucien Chardon sucht der Herzog de Rhétoré für die Sache des Royalismus zu gewinnen mit den Worten: »Vous vous êtes montré un homme d'esprit, soyez maintenant un homme de bon sens.« Er hat damit die bürgerliche Ansicht von Vernunft und Verstand kodifiziert. Sie ist das Gegenteil dessen, was Kant darüber verkündet. Geist – die »Ideen« – leiten, »regulieren« nicht den Verstand, sondern behindern ihn. Balzac diagnostiziert jene Gesundheit, die tödliche Angst davor hat, einer könne zu gescheit sein. Wer vom Geist beherrscht wird, anstatt ihn als Mittel zu beherrschen, dem geht es um die Sache als Zweck. Immer wieder unterliegt er, etwa in Gremien, solchen, denen diese gleichgültig ist, er hält sie nur auf. Sie können ihre ungeschmälerte Energie der Taktik widmen, etwas zu erreichen. Ihren Erfolgen gegenüber wird der Geist zur Dummheit. Reflexion, die in den je gegebenen Situationen, Forderungen, Notwendigkeiten nicht sich bescheidet, Unnaivetät also, versagt als Naivetät. Nicht bloß sind bon sens und esprit nicht dasselbe, sondern zwischen ihnen herrscht eine Antinomie. Wer esprit hat, wird die Desiderate des bon sens kaum recht kapieren: »Die Sprache der Menschen verstand ich nie.« Der bon sens aber ist allemal auf dem Quivive, den esprit als Versuchung zu eitler Ausschweifung von sich abzuwehren. Was der Psychologe Lipps die Enge des Bewußtseins nannte, die keinem Menschen allseitig, über den beschränkten Vorrat seiner libidinösen Kräfte hinaus sich zu aktualisieren erlaubt, das sorgt dafür, daß man nur das eine haben kann oder das andere. Die unangekränkelt mitspielen, verachten die anima candida als Trottel. Jene Unfähigkeit der Menschen, über ihre unmittelbare, von Aktionsobjekten angefüllte Interessensituation sich zu erheben, liegt nicht primär am bösen Willen. Der Blick, der das Nächste übersteigt, läßt es als Schlechtes hinter sich und erschwert zu funktionieren. Heutzutage fehlt es nicht an Studenten, die fürchten, durch Theorie allzu viel über die Gesellschaft zu lernen: wie sollten sie dann noch die Berufe ausüben, zu denen ihr Studium sie qualifiziert. Sie gerieten in das, was sie soziale Schizophrenie zu nennen lieben. Als wäre es die Aufgabe des Bewußtseins, damit es besser zurecht kommt, für sich Widersprüche wegzuräumen, die gar nicht im Bewußtsein ihren Ort haben sondern in der Realität. Ebensowohl stellt diese, als Reproduktion des Lebens, legitime Forderungen an die Individuen, wie sie durch die gleiche Reproduktion sich selbst und alle tödlich bedroht. Dem selbsterhaltenden Verstand gereicht zu viel Vernunft zum Schaden. Umgekehrt befleckt jegliche Konzession an den Betrieb der herrschenden Praxis nicht nur den Geist, der sich nicht beirren lassen will, sondern sistiert seine Bewegung, verdummt ihn.
Engels hat in jenem Altersbrief an Margaret Harkness, den man in der marxistischen Ästhetik verhängnisvoll kanonisierte, den Balzacschen Realismus verherrlicht 5 . Er mag ihn dabei für realistischer genommen haben, als sein oeuvre siebzig Jahre später sich liest. Das dürfte der Doktrin des sozialistischen Realismus einiges von der Autorität entziehen, die sie mit dem Engelsschen Votum begründet. Wesentlicher jedoch ist, wieweit Engels selbst von der später offiziellen Theorie abweicht. Wenn er Balzac »allen vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Zolas« vorzieht, kann er schwerlich etwas anderes gemeint haben als jene Momente, durch die der Ältere weniger realistisch ist als der szientifisch gesonnene Nachfahre, der nicht umsonst den Begriff des Realismus durch den des Naturalismus ersetzte. Wie in der Geschichte der Philosophie jeder Positivist dem auf ihn folgenden nicht positivistisch genug, sondern ein Metaphysiker ist, so geht es auch in der Geschichte des literarischen Realismus zu. In dem Augenblick aber, in dem der Naturalismus auf die protokollarische Darstellung der Fakten sich vereidigen ließ, schlug der Dialektiker sich auf die Seite dessen, was die Naturalisten nun als Metaphysik verfemten. Er sträubt sich gegen die automatisierte Aufklärung. Geschichtliche Wahrheit selber ist am Ende nichts anderes als jene im permanenten Zerfall des Realismus hervortretende, sich erneuernde Metaphysik. Gerade die Fassadentreue eines von den Balzacschen Deformationen gereinigten Verfahrens harmoniert wie in der Kulturindustrie so im sozialistischen Realismus mit eingelegten Intentionen, durch die Balzacs Erzählertum für keine Sekunde sich ablenken läßt: Planung bestätigt sich an entstrukturierten Daten, das literarisch Geplante aber ist die Tendenz. Gegen diese, und damit implizit gegen alle seit Stalin im Osten tolerierte Kunst, kehrt sich die Spitze der Sätze von Engels. Ihm bewährt die Größe von Balzac sich eben an den Darstellungen, die dessen eigenen Klassensympathien und politischen Vorurteilen entgegenlaufen, die legitimistische Tendenz desavouieren. Der Dichter ist mit dem Weltgeist, weil die Kraft ursprünglicher Erzeugung, die seine Prosa durchwaltet, kollektiv ist, eins mit der geschichtlichen. Engels nennt das den größten Triumph von Balzacs Realismus, die »revolutionäre Dialektik in seiner poetischen Gerechtigkeit« 6 . Dieser Triumph aber war daran gebunden, daß Balzacs Prosa vor den Realien nicht sich beugt, sondern sie anstarrt, bis sie transparent werden aufs Unwesen. Lukács hat das zaghaft angemeldet 7 . Um so weniger handelt es sich bei Engels, wie jener sogleich wieder beteuert, »um die Rettung der unvergänglichen Größe seines« – des Balzacschen – »Realismus«. Dessen eigener Begriff ist keine konstante Norm: Balzac hat um der Wahrheit willen an ihr gerüttelt. Invarianten sind auch dann unvereinbar mit dem Geist von Dialektik, wenn der Hegelsche Klassizismus sie vindiziert.
Als Zirkulationsmittel, Geld, erreicht und modelt der kapitalistische Prozeß die Personen, deren Leben die Romanform einfangen will. In dem Hohlraum zwischen den Vorgängen an der Börse und den tragenden der Wirtschaft, von der jene temporär sich ablöst, sei's, daß sie ihre Bewegungen diskontiert, sei's, daß sie nach eigener Dynamik sich verselbständigt, drängt individuelles Leben inmitten der totalen Fungibilität sich zusammen und besorgt doch durch seine Individuation hindurch die Geschäfte des Funktionszusammenhangs: das ist das Klima der Rothschildfigur des Barons Nucingen. Aber die Zirkulationssphäre, von der Abenteuerliches zu erzählen ist – Wertpapiere stiegen und fielen damals wie die Tonfluten der Oper –, verzerrt zugleich die Ökonomie, mit der der Schriftsteller Balzac so leidenschaftlich sich engagierte wie in seiner Jugend als homme d'affaires. Die Inadäquanz seines Realismus datiert schließlich darauf zurück, daß er, der Schilderung zuliebe, den Geldschleier nicht durchbrach, kaum schon ihn durchbrechen konnte. Wo die paranoide Phantasie überwuchert, ist er denen verwandt, welche die Formel des über den Menschen waltenden gesellschaftlichen Schicksals in Machenschaft und Verschwörung von Bankiers und Finanzmagnaten in Händen zu halten wähnen. Balzac ist Glied einer langen Reihe von Schriftstellern, die von Sade, in dessen Justine die Balzacsche Fanfare »insolent comme tous les financiers« 8 vorkommt, bis zu Zola und dem früheren Heinrich Mann reicht. Im Ernst reaktionär an ihm ist nicht die konservative Gesinnung sondern seine Komplizität mit der Legende vom raffenden Kapital. In Tuchfühlung mit den Opfern des Kapitalismus, vergrößert er zu Monstren die Exekutoren des Urteils, die Geldleute, die den Wechsel präsentieren. Die Industriellen aber werden, soweit sie überhaupt vorkommen, Saint-Simonistisch der produktiven Arbeit zugerechnet. Entrüstung über die auri sacra fames ist ein Stück aus dem ewigen Vorrat bürgerlicher Apologetik. Sie lenkt ab: die wilden Jäger teilen bloß die Beute. Auch dieser Schein aber ist nicht aus dem falschen Bewußtsein Balzacs zu erklären. Die Relevanz des Geldkapitals, das die Expansion des Systems bevorschußt, ist im Frühindustrialismus unvergleichlich viel größer als später, und dem entsprechen die Usancen, solche von Spekulanten und Wucherern. Dort kann der Romancier besser zupacken als in der eigentlichen Sphäre der Produktion. Eben weil in der bürgerlichen Welt vom Entscheidenden nicht sich erzählen läßt, geht das Erzählen zugrunde. Die immanenten Mängel des Balzacschen Realismus sind potentiell bereits das Verdikt über den realistischen Roman.
Was Hegel für den Weltgeist galt, die große geschichtliche Bewegung, war der Aufstieg des kapitalistischen Bürgertums. Ihn malt Balzac als Bahn der Verwüstung. Die Traumata, welche der ökonomische Sieg der Bourgeoisie in der traditionalistischen Ordnung zurückläßt, prophezeien in seinen Romanen die düstere Zukunft, welche das Unrecht, das die junge Klasse von der gestürzten alten ererbt hat und weiterträgt, an jener wiederum ahndet. Das hat die Comédie humaine noch im Veralten jung erhalten. Ihr Elan, ihre Dynamik aber ist die neugeborene des wirtschaftlichen Aufschwungs. Er verleiht dem Zyklus seinen symphonischen Atem. Noch der Widerstand gegen die Tendenz ist von dieser inspiriert. Was De Coster, der manche Züge mit Balzac teilt, freilich sie schon ins saftig Affirmative verdarb, seinem Hauptwerk als Untertitel beigab: ein fröhliches Buch trotz Tod und Tränen, darf auch der Autor der Contes drôlatiques reklamieren. Der gesamtgesellschaftliche Fortschritt, der die Comédie humaine durchfährt, ist nicht eins mit der Kurve des individuellen Lebens. Er überglänzt noch die Opfer all der Ränke derart, wie es heute selbst Glücklichen, falls solche in irgendeine Darstellung sich verirrten, nicht mehr zukäme. Die pubertäre Lust, Balzac zu lesen, nährt sich daran, daß über der Qual alles Einzelnen wortlos das Versprechen einer Gerechtigkeit des Ganzen regenbogenhaft sich wölbt. Das materielle Fundament der beiden Rubempré-Romane wird in der Geschichte von David Séchards Erfindung gelegt. Provinzielle Gauner betrügen ihn um deren Frucht. Aber die Erfindung setzt sich durch, und der Anständige erlangt nach allen Katastrophen durch Erbschaft doch noch bescheidenen Wohlstand. Ulrich von Hutten, der verfolgt und syphilitisch zugrunde geht und ausruft, es sei eine Freude zu leben, ist wie das Urbild von Balzacs Figuren, aus jener bürgerlichen Vorwelt, deren Schründe und Schroffen der Blick des Romanciers vom Gipfel herab wiedererkennt. Lucien de Rubempré beginnt als schwärmerischer Jüngling mit hohen literarischen Ambitionen. Balzac mag zweifeln am Rang der Begabung dessen, der mit Blumensonetten und einer Nachahmung der bestseller-Romane von Walter Scott debutiert. Aber er ist zart, verletzlich, all das, was später differenziert und introvertiert heißt. Soviel Talent hat er jedenfalls, um einen neuen Typus feuilletonistischer Theaterkritik zu kreieren. Aus ihm wird ein Gigolo, der Komplize seines Retters, des großen Verbrechers, den er schließlich selber verrät. Wer naiv, ohne die Hände sich zu beschmutzen, mit dem Geist umgeht, der ist, nach den mores der Welt, die er sich nicht hat lehren lassen, verwöhnt. Er weigert sich der Trennung von Glück und Arbeit. Noch in dieser und ihrer Anstrengung sucht er nicht mit dem sich zu besudeln, womit paktieren muß, wer es zu etwas bringen will. Sehr präzis wählt der Markt aus zwischen dem, was ihm als geistige Selbstbefriedigung des Intellektuellen anrüchig ist, und dem Geschätzten, gesellschaftlich Nützlichen, das den Geist von Herzen anwidert, der es leistet; belohnt wird sein Opfer im Tausch. Wer nicht bereit ist, es zu bringen, will es auch sonst gut haben: das macht ihn anfällig. Die Konfiguration von Reinheit und Egoismus läßt ins Bereich des Weltfremden die Welt ein. Weil er den bürgerlichen Eid verweigerte, tendiert sie dazu, ihn unters Bürgerliche hinabzustoßen, den Bohémien zum feilen Schreiberling, zum Lumpen zu degradieren. Leichter versumpft er als die anderen, bemerkt es nicht einmal recht, und das nutzt der Weltlauf als strafverschärfenden Umstand. Vertrauensselig schliddert Lucien in Verhältnisse hinein, deren Implikationen der Trunkene nur halb durchschaut. Sein Narzißmus wähnt, Liebe und Erfolg gelte ihm selber, wo er von vornherein bloß als fungible Figur eingesetzt wird. Sein Glücksverlangen, noch nicht von realitätsgerechter Anpassung gedämpft und gemodelt, verschmäht die Kontrollen, die ihm anzeigen könnten, daß die Bedingungen seiner Befriedigung die geistiger Existenz – Freiheit – zerstören. Bewußtlos gewinnt in ihm das parasitäre Moment die Oberhand, das allen Geist verunstaltet: von dem, was die Bürger Idealismus nennen, ist nur ein Schritt zur Soldknechtschaft dessen, der, sei's auch zu Recht, sich zu gut ist, sein Leben durch bürgerliche Arbeit zu erwerben, und blind sich abhängig macht von dem Gleichen, wovor er zurückzuckt. Selbst die Grenze zwischen dem ihm Erlaubten und dem Verrat verwischt sich ihm: ihr Bewußtsein kräftigt sich allein in dem Treiben, über das er sich erhaben dünkt. Zwischen der enthusiastischen Liebschaft mit Coralie und der Korruption vermag Lucien nicht zu unterscheiden. Gar zu offen und plötzlich jedoch stürzt der Naive sich hinein, als daß es gut ausgehen könnte; die Abkürzung wird als Verbrechen gerächt, weil sie sozusagen unschuldig einbekennt, was auf den Dschungelpfaden bürgerlicher Äquivalenz sich versteckt. Dem Talent, das, anstatt in der Stille sich zu bilden, den Kopfsprung in den Strom der Welt wagt, winkt der Strick. Aus Antonio aber ist der zynische Moralist Vautrin geworden. Er klärt den gescheiterten Jüngling auf, der nicht nur seine Illusionen verlieren mußte, sondern zu dem Abscheulichen werden, worüber die Illusionen ihn betrogen.
Zu den Trouvailles des Literaten Balzac rechnet die Nichtidentität von Geschriebenem und Schreibendem. Ihre Kritik war seit Kierkegaard eines der bestimmenden Motive des Existentialismus. Balzac ist diesem überlegen. Er installiert nicht den Schreiber als Maß des Geschriebenen. Zu tief ist sein Ingenium mit Handwerk durchtränkt, zu genau weiß der Schriftsteller, daß Dichtung im reinen Ausdruck eines vermeintlich unmittelbaren Selbst nicht sich erschöpft, als daß er anachronistisch den Dichter mit der Pythia verwechselte, deren Stimme einzig von der Inspiration aus der eigenen Tiefe tönt. Von dem Muffigen einer solchen ideologischen Ansicht vom Dichter – der gleichen, die dann zur Hetze gegen den Literaten taugte – war der Katholik so frei wie vom sexuellen Vorurteil und jeglichem Puritanismus. Er gönnt dem Gedanken den Luxus, über die Person hinweg auszuschweifen, die ihn denkt. Lieber nehmen seine Romane das Wort des Seiltänzerkindes Mignon sich zur Richtschnur: So laßt mich scheinen, bis ich werde. Die gesamte Comédie humaine ist eine mächtige Phantasmagorie, ihre Metaphysik die des Scheins. In dem Augenblick, in dem Paris zur ville lumière wird, ist es die Stadt eines anderen Sterns. Die Bedingungen dafür, als solche sie zu erkennen, sind gesellschaftlich. Sie reißen den Geist hoch über die Zufälligkeit und Fehlbarkeit dessen, der zu seinem Besitzer wird; auch die geistige Produktivkraft multipliziert sich vermöge der Arbeitsteilung, welche die Existentialisten ignorieren. Was Lucien überhaupt an Talent hat, blüht hektisch auf im Widerspruch zu dem, was er ist, und zu seinem Ideal. Einzig dank dessen, was die Gediegenen als Windigkeit des Literaten in Wut versetzt, ist er ein paar Monate lang wirklich ein Schriftsteller. Die Nichtidentität des Geistes mit seinen Trägern ist dessen Bedingung und dessen Makel in eins. Sie bekundet, daß er nur inmitten des Bestehenden, von dem er sich loslöst, das vertritt, was anders wäre, und daß er es schändet, indem er es bloß vertritt. Im arbeitsteiligen Betrieb ist er der Statthalter der Utopie und verhökert sie, macht sie dem Existierenden gleich. Allzu existentiell ist der Geist, nicht zu wenig. Fußnoten
1 Vgl. Georg Lukács, Balzac und der französische Realismus, Berlin 1953, S. 59.
2 Bertolt Brechts Dreigroschenbuch, Frankfurt a.M. 1960, S. 93f.
3 Karl Marx, Das Kapital, Erster Band, Buch 1, Der Produktionsprozeß des Kapitals, Berlin 1957, S. 618.
4 Vgl. Karl Marx, a.a.O., Dritter Band, Buch III, Der Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion, S. 60.
5 Vgl. Engels an Margaret Harkness, London April 1888; in: Karl Marx – Friedrich Engels, Über Kunst und Literatur, Berlin 1953, S. 121ff.
6 Engels an Laura Lafargue, 13. 12. 1883; in: Correspondance Friedrich Engels – Paul et Laura Lafargue, Paris 1956, S. 154.
7 Vgl. Georg Lukács, Karl Marx und Friedrich Engels als Literaturhistoriker, Berlin 1952, S. 65.
8 Marquis des Sade, Histoire de Justine, Tome I, en Hollande 1797, p. 13.
Valérys Abweichungen Für Paul Celan
Kurz nacheinander sind auf deutsch zwei Bände mit Prosa von Paul Valéry erschienen. Der Insel-Verlag bringt, in einer vorzüglichen Übersetzung von Bernhard Böschenstein, Hans Staub und Peter Szondi, eine Auswahl aus den Merkbüchern. Der Titel ›Windstriche‹ gibt das ›Rhumbs‹ des Originals wieder, Teilstriche auf der Windrose, sodann die Winkel zwischen einem dieser Striche und dem Meridian, also die Abweichung eines Kurses von der Nordrichtung; von Valéry gemeint sind »Abweichungen von einer bestimmten, von meinem Geist bevorzugten Richtung« (W 9) 1 . – Die Bibliothek Suhrkamp hat die ›Pièces sur l'art‹ aufgenommen und nennt sie verkürzt ›Über Kunst‹. Die Übertragung stammt von Carlo Schmid, vermutlich dem ersten und einzigen deutschen Politiker von den front benches, der Valérys Rang und Namen kennt und heroisch die Zeit für derlei schwierige und anspruchsvolle Texte sich abringt. Die beiden Bände sind angesiedelt an den Gegenpunkten der Prosaschriftstellerei des Lyrikers. Der eine enthält Einfälle, deren er als Mann der Ordnung, einem Passus des Vorworts zufolge, kokett sich schämt; der andere offizielle Äußerungen bei Gelegenheit von Ausstellungen und Ähnlichem. In ihnen zeigt Valéry zuweilen den Gestus des Mitglieds der Akademie; ihm gefährlicher vielleicht denn der »Schein des Lebens« von Notizen, deren unterirdischer Zusammenhang ihnen mehr an Einheit und Form verleiht, als Außenarchitektur ihnen hätte verschaffen können. Die späte Stunde der Publikation mag den beiden Büchern in Deutschland günstig sein. Nicht nur vereinen sie, gleich Proust, das Fortgeschrittene mit einer heute hierzulande seltenen Autorität des Gelingens. Sondern das Spannungsfeld Valérys nimmt um dreißig Jahre das der gegenwärtigen Kunst: das von Emanzipation und Integration, vorweg. Hochmütig spricht Valéry gelegentlich sich selbst die Qualifikation zum Ästhetiker ab (K 114), will damit freilich das Versagen der Schulphilosophie vor den Fragen der aktuellen Produktion treffen, ähnlich wie er der Literarhistorie die sachliche Zuständigkeit abstreitet (K 161). Wohl ist er viel zu gescheit, um nicht einem Ressentiment sich verdächtig zu machen, dem er auf den Grund sah: »Man nennt den andern einen Sophisten, wenn man fühlt, daß man dümmer ist als er. Wer das Denken nicht angreifen kann, greift den Denkenden an.« (W 99) Aber sein Gedanke schärft sich durch rückhaltlose Preisgabe ans Objekt, nie durchs Spiel mit sich selber. Darüber zergehen ihm die Clichés, deren Demontage mittlere Intellektuelle der Eitelkeit dessen aufzubürden pflegen, der es um jeden Preis besser wissen wolle. Die Fähigkeit, Kunstwerke von innen, in der Logik ihres Produziertseins zu sehen – eine Einheit von Vollzug und Reflexion, die sich weder hinter Naivetät verschanzt, noch ihre konkreten Bestimmungen eilfertig in den allgemeinen Begriff verflüchtigt, ist wohl die allein mögliche Gestalt von Ästhetik heute. Sie bewährt sich daran, daß Valérys Formulierungen kaum andere Kritik dulden als eine, die sie weiterdenkt. Das Wort Ästhetik hat mittlerweile jenen leise archaischen Klang angenommen, den Valérys Sensorium an so vielem anderen, wie der Tugend, als erster registrierte. Als Lehre vom Schönen, die dessen Gesetze ein für allemal aufrichten möchte – und der Wille dazu war Valéry nicht fremd, so wenig er auch ihm sich verschrieb –, ist sie so reaktionär geworden wie das mit jener Konzeption von Kunst verschwisterte Pathos, das sie über die empirische Realität, die Gesellschaft, ins Absolute erhöht. Dies Pathos hat Valéry von Mallarmé ererbt, obwohl der Essay über Manets Triumphzug in den Stücken über die Kunst gebietend auch über die Parole l'art pour l'art sich erhebt, die man ihm so einfältig zuschiebt; er preist und deutet den Maler als den, welchen Zola nicht weniger geliebt habe als Mallarmé. Aber es ist in der französischen Avantgarde üblich geworden, Valéry unter die Reaktionäre einzureihen, und das wird gewiß seine deutsche Rezeption beeinträchtigen. Nach Bemerkungen von Pierre Jean Jouve gehörte er auf die Baudelairesche Rechte. Dorthin verweise ihn der herrschaftlich-klassizistische Kultus der Form, der samt seinen finsteren politischen Implikationen schon einen Aspekt Baudelaires selber abgab und dann in Mallarmé von den sozialrevolutionären Impulsen der Fleurs du mal sich schied, während der linke Baudelaire über Rimbaud in den Surrealismus mündete. Die Surrealisten haben Valéry in Verruf gebracht. Er muß es sich schon gefallen lassen, daß man auf ihn selber eine Nietzsches würdige Stelle der Windstriche anwendet: »Der Haß bewohnt den Gegner, erforscht seine Tiefen und zergliedert die feinsten Wurzeln der Absichten, die er in seinem Herzen hegt. Wir erkennen ihn besser als uns selbst und besser, als er sich selber erkennt. Er vergißt sich, wir vergessen ihn nicht. Denn wir nehmen ihn durch eine Wunde wahr, und keiner unserer Sinne ist so stark, keiner vergrößert so sehr und bestimmt so genau, wovon er getroffen wird, wie ein verletzter Teil unseres Wesens.« (W 98) Den Büchern mangelt es nicht an schlicht Reaktionärem, von einer Verbeugung vor Mussolini als dem machtvollen Willen, »der jenseits der Berge das Regiment führt« (K 146), über die sich anbiedernde Behauptung, es bedürfe »gesellschaftlicher Ordnungen, die eine Aristokratie gelten lassen und erhalten, der es weder an Reichtum noch an Geschmack gebricht und die den Mut zu dem Gepränge in sich fühlt, das zu ihr gehört« (K 60), bis zur fatalen Moltkeschen Befriedigung: »Diese Welt süßer Beglückung ist nicht unsere Welt, und ich behaupte, daß man dessen im Grunde froh sein muß.« (K 67) Antipolitisch war Valéry wie der Thomas Mann der ›Betrachtungen‹. Pointiert jedoch hat er seine Haltung eher in Worten, die bei Karl Kraus stehen könnten: »Politik ist die Kunst, die Leute daran zu hindern, sich um das zu kümmern, was sie angeht.« (W 32) Die antipolitische Intention ist leicht genug der reaktionären des Privatiers gleichzusetzen. Aber der Vorwurf wäre zu kurzatmig. Valéry beschreibt eine politische Versammlung: »Einer besteigt die Tribüne, Tumult, tierische Schreie, die ›verstimmte‹ Opposition, usw. Er beginnt ... Ist es eine Rede? Doch nach und nach tritt, eindringlich, die Arbeit des Denkens hervor, beginnt zu wirken. Das Denken selbst zeigt sich an der Arbeit. Es gibt keine billigen Lösungen mehr, keine einfachen Formeln, keine politischen Programme, keine parlamentarische Taktik, keine überraschenden Vergleiche, keine schlagkräftigen Entgegnungen ... Sondern die ungeheure schöpferische Verlegenheit, die sich vortastet, unbekannte Zukunft, unvertraute Gegenwart, mangelhafte Logik, ungestaltetes Wissen, Verfolgung falscher Fährte, der ungreifbare Gegenstand, das grobschlächtige Wort, die Entscheidung immer in der Schwebe ... Alles, was die Kunst des Redners verdeckt, alles, worin das Denken ursprünglich mit der wirklichen Wirrnis der Dinge übereinstimmt, wird sichtbar ...« (W 32f.) Den gleichen Widerwillen gegen das Überredende zeigt Valéry auch als Ästhetiker, etwa gegen Wagner. Er findet es allgemein »unwürdig, zu verlangen, daß die andern unserer Meinung seien« (W 67). Seine Aversion gegen Politik als Herrschaftstechnik und als Gestalt von Ideologie schießt hinaus über jenes engagement, das man dem Artisten so pharisäisch predigt. Was sich gebärdet wie das ça ne me regarde pas des Pariser Individualisten, sympathisiert insgeheim mit der Anarchie. Dennoch affiziert Valérys antipolitisch-politischer parti pris auch sein künstlerisches Urteil. Dann geht er unter das Niveau; so wenn er bewundert, »daß man es einmal fertig gebracht hat, zwanzig menschliche Gestalten auf die Leinwand oder den Kalk zu werfen und dies in den mannigfaltigsten Haltungen, und daß es um sie her weder an Früchten, noch an Blumen, noch an Bäumen, noch an Baulichkeiten mangelte« (K 98). Weil man es heute so gut nicht mehr habe, passieren sogar Sätze wie: »Der ausschließliche Geschmack am Neuen verrät eine Entartung des kritischen Sinns, denn nichts ist einfacher, als über die Neuheit eines Werks zu urteilen.« (W 121) Oder: »Die Künste halten mit dem Hasten nicht Schritt. Zehn Jahre dauern unsere Ideale! Der abgeschmackte Wahnglaube an das Neue – der unheilvollerweise an die Stelle des alten und wohltätigen Glaubens an das Urteil der Nachwelt getreten ist – richtet vor dem eifernden Fleiße das trügerischste aller Ziele auf und mißbraucht ihn dazu, das Allervergänglichste zu schaffen, zu schaffen, was schon seinem Wesen nach vergänglich sein muß: den Reiz des Neuen.« (K 148) Veraltet auch an den Kunstwerken genau der »Reiz des Neuen«, so werden doch die, welche eines solchen Reizes entraten; welche nicht in ihm das eingeschliffene Bewußtsein ihrer Epoche durchbrechen, zu dem auch das dubiose Vertrauen aufs Urteil der Nachwelt rechnet, schwerlich alt werden. Aber nur an den reaktionären Momenten ist abzulesen, was in Valéry weitertreibt. Denn über seine Bücher ist nicht Progressives und Regressives ausgestreut, sondern das Progressive wird dem Regressiven abgezwungen und transformiert dessen Schwerkraft in den eigenen Elan. Der Theoretiker Valéry hat, wie man es wohl auszudrücken pflegt, zwischen den Extremen Descartes und Bergson die Brücke geschlagen. Aber dem Cartesianer in ihm, dem Hüter eingeborener ewiger Ideen, ebenso wie dem Bergsonianisch aufs Fließende, »Unbestimmte« Horchenden, das der begrifflichen Fixierung spottet, muß Hegel ursprünglich überaus fern gewesen sein, der bewegt denkt und doch in harten Umrissen, ohne jeglichen schwebenden oder fließenden Übergang. Um so nachdrücklicher das Plaidoyer für die Dialektik, zu der Valéry gegen Bildung und Temperament, lediglich durch die »Freiheit zum Objekt« genötigt wird, dem er denkend gerecht zu werden trachtet. Sein philosophisches Wesen, hartnäckig wie anschlagende Wellen, unterspült das Gemeinsame der beiden philosophischen Erzfeinde, die Illusion des Unmittelbaren als eines schlechterdings sicheren Ersten. Die Kritik am Ausgang vom je eigenen Bewußtsein als solcher Unmittelbarkeit und die implizite Wendung gegen die Reinheit dessen, der nicht sich zu entäußern vermag, hat Valéry selbst vollzogen in einem Gedankenexperiment, das man in der Phänomenologie, vielleicht auch in der Rechtsphilosophie des seit Cousin bis zur jüngsten deutschen Welle in Frankreich vergessenen Hegel vermutete: »Ein Mensch, der alles nur nach seiner Erfahrung einschätzen würde, der über nichts urteilen würde, was er nicht gesehen und erlebt hat, der sich nur selbständig entschiede, der sich ausschließlich aus den Tatsachen geschöpfte, vorläufige und begründete Meinungen erlaubte, der bei jedem Gedanken, der ihm käme, gleich hinzusetzte, er habe ihn selber erzeugt oder gelesen oder gehört (der eine sei zufälliger und unbekannter Herkunft, der andere nur ein Echo); und was er irgend denke oder verstehe, sei alles nur durch Zufall oder Widerhall vermittelt, – der wäre wohl der ehrlichste, selbständigste und wahrhaftigste Mensch auf Erden. Doch seine Reinheit würde ihn hindern sich mitzuteilen, und seine Wahrhaftigkeit verurteilte ihn zum Nichtsein.« (W 33f.) So wenig in der unmittelbaren Gewißheit des ego cogitans autarkisch sich leben läßt, so wenig stichhaltig ist der Glaube an Natur als Unmittelbarkeit: »Keine Anschauung ist naiver als diejenige, die alle dreißig Jahre zur Entdeckung der ›Natur‹ führt. Es gibt keine Natur. Oder genauer: was man als gegeben annimmt, ist allemal, früher oder später, hergestellt worden. Der Gedanke, daß man Dinge wieder in ihrer Ursprünglichkeit erfaßt, ist von erregender Kraft. Man stellt sich vor, es gebe ein solches Ursprüngliches. Doch das Meer, die Bäume, die Sonnen – und gar das Menschenauge –, all das ist Kunst.« (W 35) In den Essays ›Über Kunst‹ erweitert sich das zu einer Denunziation jenes ästhetischen Wald- und Wiesenbegriffs vom Einfachen, den der Philister als Winckelmannsches Erbe hütet: »Der Wille zum Einfachen in der Kunst ist immer tödlich, wo er sich selbst genug sein will und uns verführt, uns um eine anfallende Mühsal zu drücken.« (K 78) Unmittelbares, Einfaches ist für Valéry wie für Hegel nicht das Erste sondern Resultat einer Vermittlung. Das erläutert er an einer Anekdote von chinesischer Schönheit: »Einer der ruhmvollsten Meister der Reitkunst aller Zeiten erhielt, arm und alt geworden, vom Zweiten Kaiserreich eine Stallmeisterstelle in Saumur. Dorthin kam eines Tages, ihn zu besuchen, sein Lieblingsschüler, ein junger Rittmeister und glanzvoller Reiter. Baucher sagte zu ihm: ›Ich will für Sie ein wenig in den Sattel steigen‹. Man hebt ihn auf ein Pferd; er durchquert die Bahn im Schritt, kommt zurück ... Der andere, geblendet, sieht einen vollkommenen Kentauren daherkommen. ›So‹, sprach der Meister zu ihm, ›ich mag keine Wichtigtuerei. Ich stehe auf dem Gipfel meiner Kunst: Reiten im Schritt und dies fehlerlos.‹« (a.a.O.) Wie er das Unmittelbare als vermittelt durchschaut, so ist er offen fürs Unmittelbare als telos der Vermittlung. Das ist ihm Kultur. Die Kunst der Renaissance habe dem italienischen Volk »nicht als Dreingabe« gegolten, nicht »als etwas, das nur in Ausnahmefällen zum Dasein gehört, sondern als eine seiner natürlichen und so gut wie notwendigen Bedingungen, deren Fehlen ihm eine spürbare Entbehrung bedeuten würde« (K 155). Von dem ist nicht weit zur Hegelschen Definition von Kunst als einer Erscheinung der Wahrheit. Die Wahlverwandtschaft reicht bis in die Logik hinein. In der Hegelschen des Wesens würden Analysen keine üble Figur machen wie: »Aussagen haben stets mehrere Bedeutungen, deren bemerkenswerteste sicherlich der Grund selber ist, warum die Aussage getan wurde. So bedeutet ›Quia nominor Leo‹ durchaus nicht ›Denn Löwe heiße ich‹, sondern: ›Ich bin ein grammatikalisches Beispiel‹.« (W 111) Dafür hat Hegel in Sätzen wie »Je schlechter der Künstler ist, desto mehr sieht man ihn selbst, seine Partikularität und Willkür« Valéry prophetisch plagiiert. Früh nahmen sie die Dynamik der Idee jenes Fortschritts vorweg, dessen Spätzeit noch Valéry, zumindest ästhetisch, zugehörte, der subjektivistischen. Ihre Träger sind ihm Manet, Baudelaire und Wagner, in denen sensuelle Reizsamkeit und Differenziertheit, wie Impressionismus und Symbolismus sie teilten, zum Prinzip geworden und aufs höchste gesteigert seien. Als einer der ersten verbuchte Valéry, was darüber an Kräften der Objektivation und Verbindlichkeit verlorenging. Selber vom Symbolismus geprägt, war er vor der laudatio temporis acti gefeit, schätzte jedoch den Preis ein, den die Stimmigkeit der Gebilde für ihre subjektive Durchdringung zu zahlen hat. Die nach-Valérysche moderne Kunst hat unabhängig von ihm daraus die Konsequenz gezogen. Was in Malerei und Plastik von der Ähnlichkeit mit dem Gegenstand, in der Musik von der Tonalität sich lossagt, wird wesentlich motiviert von dem Drang, dem Gebilde rein von sich aus etwas von jener Objektivität wieder anzuschaffen, deren es enträt, solange es beim subjektiven Reflex auf ein wie immer auch Vorgegebenes sein Bewenden hat. Je mehr das Kunstwerk all der Bedingungen kritisch sich entäußert, die seiner je eigenen Gestalt nicht immanent sind, desto mehr nähert es mittlerweile einer Objektivität zweiter Potenz sich an. Insofern hat die Radikalisierung der Kunst eingebracht, was Valéry retrospektiv am Fortschritt seiner eigenen Epoche noch bemängelte. Dazu stimmt, daß inmitten einer fortdauernd gefesselten Gesellschaft die Entfesselung des Subjekts, seine Pflicht und sein Glück, zugleich auch Schein bleibt und am allgemeinen Schein mitwirkt. Dem ästhetischen Subjekt ging die Autorität alles Traditionalen unwiederbringlich verloren. Es muß auf sich selbst rekurrieren, darf nur auf das sich verlassen, was es aus sich herauszuspinnen vermag; ihm wahrhaft ist der kritische Weg allein offen. Auf keine andere Objektivität kann es hoffen. Zurückverwiesen auf sich, ist es künstlerisch notwendig sich selbst das Nächste und Unmittelbarste. Gesellschaftlich aber bleibt es abgeleitet, bloßer Agent des Wertgesetzes. Je tiefer es seine je eigene Wahrheit als ihm allein erreichbare, von ihm allein zu füllende ausdrückt, desto mehr verstrickt es sich in die Unwahrheit. Diese Antinomie bezeugt Valérys gesellschaftlich bewußtlose Trauer ums Vergangene ebenso treu, wie die ästhetische Eigenständigkeit, die er im Gedanken an die authentischen Werke von einst verficht, durch ihre hermetische Abdichtung vom kommunikativen Unwesen mit Tendenzen solcher übereinkommt, denen Valéry anathema ist und die er selbst wohl ohne Zögern als Verfall verdammt hätte. Wenn in der Phase des Tachismus und der Experimente mit aleatorischer Musik Mallarmés Würfeltheorie aktuell geworden ist, so manifestiert darin sich ein Zusammenhang, in den das oeuvre seines Schülers Valéry insgesamt fällt. Wie nach ihm die Spannung zwischen dem konstruktiven Gesetz und der Kontingenz in der Kunst bis zum Bersten sich steigerte, so wird schon seiner eigenen anachronistischen Insistenz auf Begriffen wie Ordnung, Regelhaftigkeit und Dauer die Abweichung konstitutiv beigesellt. Sie ist ihm Bürgschaft der Wahrheit. Schroff widerspricht er der Ansicht des common sense von Erkenntnis: »Jede Sicht der Dinge, die nicht befremdet, ist falsch. Wird etwas Wirkliches vertraut, so kann es nur an Wirklichkeit verlieren. Philosophische Besinnung heißt vom Vertrauten auf das Befremdende zurückkommen, im Befremdenden sich dem Wirklichen stellen.« (W 144) In einer Gesellschaft, deren Totale sich fugenlos zur Ideologie abgedichtet hat, kann wahr nur sein, was der Fassade nicht gleicht. Das kritische Bewußtsein des konservativen Artisten vom Banalen als Trug geht über in Brechts Verfremdungseffekt. In seinen Gedanken so wenig wie in der Praxis der Künstler läßt das Allgemeine dem Besonderen so bruchlos sich versöhnen, wie es der traditionellen Kunst und Ästhetik vor Augen stand. Indem der Reaktionär Valéry dessen gedenkt, was auf dem Weg des Fortschritts vergessen wird; was der großen Tendenz sich entzieht, deren Fürsprecher er doch als einer der ästhetischen Naturbeherrschung selber ist, muß er auf die Seite der Differenz, des nicht Aufgehenden sich schlagen. Daher der nautische Name seiner Merkbücher. Keine Interpretation könnte das präziser herausstellen als seine eigene Formulierung vom »Akzidens, das meine Substanz ist« (W 80). Dem hätte Valérys deklarierter Antipode Proust zugestimmt, dem klassische Rationalität und Ordnungsgefüge vorweg verdächtig sind: wozu Valéry widerstrebend sich nötigen läßt, ist das Formgesetz des Proustischen Gesamtwerks. Aber Prousts enthusiastisches Vertrauen auf den Wahrheitsgehalt des Inkommensurablen, der unwillkürlichen Erinnerung ist bei Valéry schwermütig gebrochen: »Die richtigen Gedanken sind immer unerwartet. Jeder unerwartete Gedanke ist einige Augenblicke lang richtig.« (W 108) Die Evidenz des Unwillkürlichen, der Zeitkern der Wahrheit als eines jeweils Neuen, die plötzlich erscheinende Wahrheit hat den Aspekt des Trügerischen und Hinfälligen. Das ist der Grund des Schmerzes, den die unwiderleglich jähe Einsicht Valéry wie Proust bereitet. Der Nachfahre Baudelaires, der die Lüge der Geliebten verherrlichte, bringt dessen spleen ein in eine leidvolle Physiognomik, wie Proust nicht anders an Albertine sie hätte entwerfen können. »Die Menschen flehen schweigend die Menschen an, ihnen zu sagen, was sie nicht denken. ›Sagt uns, was wir hören möchten!‹ ›Sag mir etwas Freundliches!‹ singen die Augen.« (W 137) Larochefoucauldsche Aufklärung und neuromantische Sensibilität verschränken sich in der Beobachtung. Gleich Proust hat Valéry die verhärtete Scheidung von Denken und Intuition widerrufen, an welche das verdinglichte Bewußtsein befriedigt sich klammert: »... es sei denn, man verstehe unter Inspiration eine so bewegliche, geordnete, scharfsinnige, unterrichtete und berechnende Kraft, daß man sie ebensogut Intelligenz oder Kenntnis nennen könnte« (W 48). Zuweilen reicht die Übereinstimmung bis in die philosophische These: »Die Vergangenheit ist ganz und gar nicht, was man dafür hält. Die Vergangenheit ist nicht, was einmal war; sie ist nur, was von dem, was einmal war, übrigblieb. Das sind Spuren und Erinnerungen. Sonst ist einfach nichts vorhanden.« (K 163) Die Besinnung über den klassischen Begriff des Dauernden und Bleibenden, den Valéry nicht antastet, führt zur Verneinung des monumentum aere perennius. In Valérys Geschichtsphilosophie öffnet sich ein Spalt im Gefüge der vérités éternelles. Der Generalnenner für Proust und Valéry ist aber kein anderer als jener Bergson, dem Valéry, unter der nationalsozialistischen Besetzung, die Totenrede hielt. Nirgends kann man den Zwang, antithetisch über jene Art Position hinauszugehen, welche alle traditionelle Philosophie mit Besitzerstolz hütet, in Valéry deutlicher wohl erkennen, als an seinem Verhältnis zur Musik. Er hat sich unmusikalisch genannt, wenn nicht antimusikalisch: »Musik langweilt mich nach kurzer Zeit.« (W 118) Der einem mittleren Komponisten wie Honegger seinen »mächtigen Atem« (K 34) nachrühmt, beschreibt die opernhaften Züge jenes Racine, »dessen Tragödien Lulli sich so beflissen anzuhören pflegte und dessen Linienführung und Themen sich anhören, als seien sie unmittelbar in die schönen Formgebilde und die reinsten Durchführungen Glucks übergegangen« (K 31), nicht wissend, daß es bei Gluck kaum »Durchführungen« gibt und daß die Primitivität von dessen Formgestaltung ihn zum blutigen Hohn reizen müßte, wenn er ihr in der Malerei begegnete. Dennoch charakterisiert er unmittelbar danach Unmanieren beim Sprechen von Versen so, wie es wörtlich auf schlechte musikalische Interpretationen angewendet werden könnte: »Man zerschlägt sie, man unterschlägt sie; andere Male scheint es, als ob man nur ihre Zwänge zur Geltung bringen wolle: man unterstreicht, man übertreibt die Zeilenfügung, die Ecksilben der Alexandriner, eingebürgerte Formelemente, die meiner Meinung nach durchaus ihren Nutzen haben, die aber zu grobschlächtigen Wirkungsmitteln werden, wenn die Sprechweise sie nicht in die Gewänder ihrer Anmut hüllt.« (a.a.O.) So fern und nah war Valéry der Musik. Er fügte sich zunächst dem Schema, welches das Visuelle als statisch rational in einfachen Gegensatz rückt zum Fließenden und Chaotischen der begriffslosen Zeitkunst. Im Gegensatz zu Dichtung und Musik schreibt er der Malerei ein dinghaft positivistisches Moment zu. Daher seine Reservate gegen die magische Wirkung des Bildes. Der Symbolist Valéry hat es denn auch mit den Impressionisten gehalten und nicht mit Puvis de Chavannes: »Die Malerei darf, bei Vermeidung von Gefahren, sich nicht herausnehmen, uns den Traum vorzutäuschen. Die Einschiffung nach Kythera scheint mir nicht vom Besten Watteaus zu sein. Die Zauberwelten Turners bringen es bisweilen fertig, mich zu entzaubern.« (K 90) Nicht wenn Kunst desperat ihr magisches Erbe hütet, nur wenn sie es sich versagt, durch die Ernüchterung hindurch, kann sie überleben und übergehen in jene Sprache, als welche Valéry sie las. Darin terminiert seine Interpretation Manets. Die »Naturalisten«, denen er ihn in diesem Zusammenhang zuzählt, haben, analog zu Baudelaire, »ein wirkliches Verdienst: sie haben in Gegenständen oder Vorwürfen, die bis auf ihre Zeit für schmählich oder bedeutungslos galten, Poesie entdeckt (oder vielmehr darein eingebracht) und bisweilen solche vom höchsten Range« (K 110). Aber er war nicht so intransigent gegen Musik wie gegen die Pseudomorphose an sie. Schon zu Beginn der Windstriche ist, in erstaunlicher Parallele zu Kierkegaard, vom »philosophischen Ohr« die Rede (W 16). Valéry besaß es selber. Der den musikalischen Sinn sich aberkannte, konnte als Lyriker nicht darüber sich täuschen, daß »die Wege der Musik und der Dichtung« sich kreuzen (W 57). »Es war die Zeit des Symbolismus: wir waren, ein jeder wie es seiner Anlage und seiner Schule entsprach, reichlich damit beschäftigt, nach besten Kräften das Maß an Musik zu mehren, das die französische Sprache in die Aussage einzuführen erlaubt.« (K 35) Aber er beharrt nicht auf dem synästhetischen Programm von Verlaines Art Poétique, sondern legt seine widerspruchsvolle Erfahrung auseinander. Den Witz: »Gute Verse vertonen heißt ein Gemälde durch ein Kirchenfenster beleuchten« (W 61), meint er boshaft gegen die Musik. Er zielt zu kurz: kaum sonst könnte die Qualität von Liedern so sehr abhängen von der der Gedichte; jene siedeln sich eher in deren Hohlräumen an, stehen ihnen eher in ihrer Fehlbarkeit bei, als daß sie sie verdoppelten. Dafür aber ist die Verfremdung eines Bildes durch den Strahl, der durch gemalte Scheiben bricht, kein schlechtes Gleichnis für die Transfiguration guter Verse in einem guten Lied. Valéry gesteht sich denn auch zu, was Goethe nicht Wort haben mochte: seine antimusikalische Haltung wehrt eine bedrohliche Lockung ab, der er dann doch unerschrocken folgt. »Meine ›Ungerechtigkeit‹ gegen die Musik kommt vielleicht von dem Gefühl, eine solche Macht wäre imstande, selbst dem Absurden Leben zu verleihen« (W 63), Sinnzusammenhänge jenseits des rationalen zu stiften: »... habt vor allem keine Eile, an die Schwelle des Sinnes zu gelangen« (K 32). Danach umschreibt Valérys Postulat jener reinen Dichtung, welche den Sinn der Sprache unter sich lasse, die Kriterien eines seiner selbst bewußten Musikers: »Welche Schande, zu schreiben, wenn man nicht weiß, was Sprache, Wort, Metapher sind, Gedankenübergänge und Wechsel im Ton; wenn man die Struktur der zeitlichen Folge eines Werks und die Voraussetzungen für seinen Schluß nicht begreift, kaum das Warum kennt und schon gar nicht das Wie! Die Scham darüber, eine Pythia zu sein ...« (W 166) Die Sehnsucht, daß der Sinn im Vers verschwinde, ist beheimatet in der Musik, die Intentionen kennt nur als untergehende. Das Korrelat dazu bemerkt Valéry an der Sprache: »Wenn der Klang, der Rhythmus dem Sinn zum Bewußtsein kommen, machen sie sich nur für einen Nu geltend: als eine sich im Augenblick aufbrauchende Notwendigkeit, als Hilfsorgan der Sinnbedeutung, die sie herführen, und die sie dann unverzüglich aufzehrt« (K 29) 2 . Es zeugt für die gegensätzliche Einheit der beiden Medien, daß, wo in der Lyrik musikalische Strukturen die meinende Sprache überflügeln, die Musik strukturell der Prosa sich anähnelt, vor deren Spuren Valéry den Vers schützen möchte. Die Ästhetik des Antimusikalischen klingt zuzeiten wie eine Musikästhetik: »Alle Teile eines Werks müssen ›arbeiten‹.« (W 169) Nicht anders verwendet die musikalische Terminologie den Begriff thematischer Arbeit. Dies bewußtlose Einverständnis Valérys mit der Musik kommt manchmal Werken zugute, die er nie hörte. »In sehr kurzen Werken erreicht die Wirkung des geringsten Details die Größenordnung der Gesamtwirkung« (W 170) – das ist die Physiognomik Anton von Weberns. Dem optisch-kristallinischen Valéry verwandelt am Ende jegliche Kunst sich in die von ihm gefürchtete Musik; nicht bloß ist ihm, wie in Benjamins Jugendwerk, alle Kunst Sprache, sondern es gibt »Schauseiten, Formen, Zustände auch in der Welt des Sichtbaren, die Gesang sind« (K 83). Ihn entdeckt der saugende Blick des Dichters auf Farben und Formen. Seine diffizile Stellung zur Musik ist aber relevant nicht bloß für die allgemeine Abgrenzung der Künste gegeneinander und ihre Einheit. Ein Fragenkomplex, um den Valéry kreist, rückte heute ins Zentrum des Komponierens: die Beziehung integraler Konstruktion, wie sie den Gedanken der Autonomie des Werks, seine Unabhängigkeit vom je Aufnehmenden zu Ende denkt, zum Zufall. In der Idee des integralen, in sich lückenlos geschlossenen und bloß seiner immanenten Logik verpflichteten Kunstwerks, welche aus der Gesamttendenz der abendländischen Künste zur fortschreitenden Naturbeherrschung, konkret: zur vollkommenen Verfügung über ihr Material folgt, ist etwas ausgelassen. Kunst, die dem zivilisatorisch-rationalen Zug sich einfügt und ihm die historische Entfaltung ihrer Produktivkräfte verdankt, meint doch zugleich auch den Einspruch gegen ihn, das Eingedenken dessen, was in ihm nicht aufgeht und was er eliminiert; eben das Nichtidentische, worauf das Wort Abweichung anspielt. Sie verschmilzt darum nicht bruchlos mit der totalen Rationalität, weil sie dem eigenen Begriff nach Abweichung ist, nur als solche in der rationalen Welt ihr Lebensrecht hat und die Kraft, sich zu behaupten. Wäre sie bloß identisch mit der Rationalität, sie verschwände in dieser und stürbe ab, während sie ihr doch nicht ausweichen darf, wenn sie nicht hilflos Reservate besiedeln will, ohnmächtig gegenüber der unaufhaltsamen Naturbeherrschung und ihren gesellschaftlichen Verlängerungen, und gerade als geduldete erst recht jener hörig. Die ästhetisch aktuelle Figur solcher Paradoxie ist der Zufall, das mit ratio Nichtidentische, Inkommensurable als Moment der Identität selber, einer rationalen Gesetzlichkeit von eigenem Typus, der statistischen, deren Valéry häufig gedenkt. Als Zufall schlägt die sich selbst entfremdete Gestalt der Subjektivität im objektiven Kunstwerk durch, dessen Objektivität nie eine an sich sein kann, sondern durchs Subjekt vermittelt wird, während es keinen unmittelbaren Eingriff des Subjekts mehr dulden möchte. Zugleich bekundet der Zufall die Ohnmacht eines Subjekts, das zu nichtig wurde, um legitimiert zu sein, im Kunstwerk überhaupt unmittelbar noch von sich zu reden. Er negiert das Gesetz der ästhetischen Freiheit zuliebe und bleibt doch in seiner Heteronomie Widerspiel der Freiheit. Das bestätigt Valéry, als spräche er wider den gegenwärtigen Traum total determinierter und vom Subjekt schlechterdings unabhängiger Musik: »In allen Künsten – und darum gerade sind sie ja Künste – kann das Aus-Notwendigkeit-so-geworden-sein, das uns ein glücklich zu Ende gebrachtes Werk glaubhaft machen muß, nur durch einen Akt freier Schöpfung ins Leben gerufen werden. Der Fug und der abschließende Zusammenklang der voneinander unabhängigen Eigenschaften, die es zu verweben gilt, werden nie durch ein Rezept oder einen Automatismus erzielt, sondern durch das Wunder oder schließlich und endlich durch Bemühung – durch Wunder im Verein mit Bemühungen, die ein Wille trägt.« (K 18f.) Darum bleibt nach seinem Willen wie dem der jüngsten Kunst der Zufall gesteuert, der Rationalität des Ganzen unterworfen. Aber er markiert doch auch die Grenze der Rationalität an dem Material, das sie zurichtet; nur ist es von jener schon so ausgelaugt, daß seine Abstraktheit wiederum mit der bloßen Gesetzmäßigkeit, der formalen Einheit des Begriffs, zusammenfällt, der der Zufall opponiert: das Nichtidentische als Identisches. Was der Zufall an Sinnfremdheit in jedes Gebilde hineinträgt, ahmt die des Zeitalters nach; indem er unbeschönigt die Sinnfremdheit der Totale einbekennt, erhebt er Einspruch gegen sie. Die Erfahrungen alles dessen hat Valéry gemacht. Dabei sympathisiert er wie Mallarmé ohne apologetische Vorbehalte, großartig unbekümmert um den Widerspruch zu seiner primären Neigung, mit dem Zufall, obgleich sein ganzes Pathos daher rührt, daß der Geist seiner selbst mächtig werde, indem das Kunstwerk seiner mächtig wird. Die Konstellation beider Momente ist entworfen in dem Essay der Pièces sur l'art über die Würde der künstlerischen Verfahrungsweisen, an denen das Feuer beteiligt ist. »Doch all die Wachsamkeit des erlauchten Handwerkers am Feuerofen, alles, was seine Erfahrung, seine Wissenschaft von der Hitze, den gefährlichen Zuständen, den Temperaturen für die Schmelze und die Reaktion der Stoffe vorauszusehen erlauben, lassen die adelnde Ungewißheit in ihrer Unermeßlichkeit bestehen. Sie alle schaffen den Zufall nicht ab. Seine hohe Kunst bleibt unter der Herrschaft des Wagnisses und wird dadurch gleichsam geheiligt.« (K 12) Was der Notwendigkeit entschlüpft, schlägt er nicht geringer an als diese und vom Zufall erhofft er sich die Indifferenz von beidem. Gerade das sinnfremde Moment des Zufalls, wahrhaft eines Grenzwertes im temps espace, assoziiert er mit dem Bergsonschen temps durée, dem unwillkürlichen Eingedenken als der einzigen Gestalt des Überlebens. Denn in der Anarchie der Geschichte ist dies Eingedenken selbst zufällig: das definiert bei Valéry die Würde des Zufalls. Von einer Keramikausstellung sagt er: »Nichts gleicht dem bis zum heutigen Tage angehäuften Kapital unserer Kenntnisse, unserem Haben im Buche der Geschichte so, wie diese Sammlung von Dingen, die der Zufall uns erhalten hat. All unser Wissen ist wie sie ein Rückstand. Unsere Geschichtsurkunden sind Strandgut, das ein Zeitalter einem anderen überläßt, wie es der Zufall will, und in vollem Durcheinander.« (K 164) Gleichwohl mildert diese Rettung nicht sein Mißtrauen gegen die unmittelbare Zufälligkeit des künstlerischen Produktionsprozesses, gegen das Zu leicht. Der Nachdruck, den er auf widerstrebende Materialien legt, die den Zufall ins Kunstwerk tragen, rührt her von eben diesem Mißtrauen gegen den Zufall bloßer Subjektivität. »Darum befällt in allen Künsten, deren zugeordneter Stoff nicht schon durch sein bloßes So-sein gegenwirkende Widerstände häuft, die wahren Künstler das Gefühl der Gefahren und der Langeweile allzu großer Leichtigkeit des Schaffens.« (K 9f.) Mag der Zufall, als ein dem schaltenden Künstler Entzogenes, mit der freilich heute bereits ein wenig antiquierten Vorstellung vom »Akt freier Schöpfung« unvereinbar sein – ihre Unvereinbarkeit definiert die Frage, wie Kunst überhaupt noch möglich sei. Valérys Widersprüche insgesamt haben ihre gesellschaftlich-historische Seite. Wie die Essays über die italienische Malerei der Renaissance, zumal Veronese, nach neuromantischer Sitte Herrschaft schlechthin, die große Allüre, die souveräne Verfügung adorieren, die im bürgerlichen Individualismus zur Formlosigkeit zersplittert dünkt, so mag Valéry in den Musikanten windige Leute beargwöhnt haben, deren flüchtige Spektakel so wenig fest, verbindlich, zuverlässig im Raum angesiedelt und der Ordnung immanent sind wie die Herumziehenden selber. Unter seinen Idealen ist nicht das letzte das einer Kunst, die des Vagantentums sich entäußert hätte, ihres wie immer auch sublimierten gesellschaftlichen Odiums, während doch dies Vagantische, der Kontrolle seßhafter Ordnung nicht gänzlich Unterworfene allein der Kunst erlaubt, inmitten von Zivilisation zu überleben. Aber die Lauterkeit eines Gedankens, der von der Ideologie nicht sich fesseln läßt, auf die er vereidigt ist, hält auch vor diesem Motiv nicht inne. Valéry, der als Kind des rationalen Zeitalters die säuberliche Scheidung von Produktion und Reflexion in der Kunst nicht anerkennt, ist viel zu reflektiert, um sich darüber zu täuschen, daß auch solche Künstler, welche die Rücksicht auf den Markt verschmähen, an die prekäre Stellung des Geistes in der herrschaftlichen Gesellschaft gekettet bleiben, der sie noch als opponierende willfahren müssen. Künstler heute sind Intellektuelle, sie mögen es akzeptieren oder nicht, und als solche das, was die Theorie der Gesellschaft dritte Personen nennt: sie leben von abgezweigtem Profit. Während sie selber keine »gesellschaftlich nützliche Arbeit« leisten, nichts zur materiellen Reproduktion des Lebens beitragen, repräsentieren sie allein die Theorie und alles Bewußtsein, das über den blinden Zwang der materiellen Verhältnisse hinausweist; so wehrlos gegen das Mißtrauen des Bestehenden, von dem sie leben, ohne ihm zuverlässig zu dienen, wie gegen das seiner Feinde, denen sie nichts sind als ohnmächtige Agenten der Macht. Sie ziehen darum als neuralgischer Punkt der Gesellschaft den Haß der ganzen Welt auf sich. Nicht aber sind sie durch die abstrakte Anpreisung des Geistes zu verteidigen, sondern einzig dadurch, daß auch ihr Negatives ausgesprochen wird. Erst wenn die ideologische Hülle ihrer eigenen Existenz fällt; erst in der schonungslosen Selbstreflexion, die zugleich eine der Gesellschaft wäre, gelangten sie zu ihrer gesellschaftlichen Wahrheit. Dazu hilft Valéry. Den Makel, der jeden Gedanken befleckt, nimmt Valéry in diesen hinein: »Ohne ihre Schmarotzer, Diebe, Sänger, Mystiker, Tänzer, Helden, Dichter, Philosophen, Geschäftsleute wäre die Menschheit eine Gesellschaft von Tieren; oder nicht einmal eine Gesellschaft: eine Gattung; die Erde wäre ohne Salz.« (W 36) Die gleiche Liste der dritten Personen könnte bei Marx stehen, dessen Namen Valéry kaum über die Lippen gebracht hätte. Auch der Zusammenhang des Geistes und der geistigen Produktion mit dem, was in der Sprache der politischen Ökonomie Zirkulationssphäre heißt, ist ihm nicht fremd. »Wenn ›Handel treiben‹ bedeutet, daß man einkauft, mit der Absicht wiederzuverkaufen, so ist der Künstler oder Autor ein Handelsmann, der nur darum anschaut, reist, liest, ja lebt, um zu produzieren, um seinen Eindruck auf den Markt zu bringen. – Statt für sich selber zu erwerben. – Aber, wer weiß, für sich selber erwerben ist vielleicht sinnlos.« (W 41f.) Der unbestechlich auf der Reinheit des Werkes um seiner selbst willen insistiert, durchschaut zugleich, wie sehr diese Reinheit des ästhetischen An sich einem Für anderes, dem Markt, sich verdankt; wo mesquine Künstler vom Schöpfertum schwafeln und gerade, indem sie es ideologisch anpreisen, des allgemeinen Einverständnisses auf dem Markt sicher sind, gesteht Valéry den paradoxen Zusammenhang des autonomen Werks mit seinem Warencharakter zu. Es wird überhaupt erst zu einem Objektiven, indem der Produzierende nicht unmittelbar zu seinen Erfahrungen ist, sondern diese vergegenständlicht; die sich selbst entfremdete Wahrheit wird zum eingestandenen Modell des absoluten Gebildes. Was sich selbst Ursprünglichkeit und Genius ist, ist gesellschaftlich ein natürliches Monopol. Darauf spielt eine jener witzigen Bemerkungen an, die, laut Nietzsche, das kaum bemerkbare Lächeln erzeugen: »Wie, könnte ein Genie zu sich selber sagen, – so bin ich also ein Kuriosum ... Und was mir so natürlich erscheint, das Bild, das mir da einfiel, ein unmittelbar einleuchtendes Wort, eines, das mich nichts gekostet hat, flüchtiges Ergötzen meines inneren Auges, meines heimlichen Hörens, meiner Stunden, und dann die Zufälle beim Denken und Reden ... machen sie aus mir ein Ungeheuer? – Seltsam ist meine Seltsamkeit. So wäre ich nur eine Rarität? Und ohne daß ich mich im geringsten zu ändern brauchte, genügten hunderttausend meinesgleichen, und ich würde nicht mehr auffallen ... Und bei einer Million wäre ich gar irgendein Trottel ... Ein Millionstel meines früheren Wertes ...« (W 68f.) Derlei Erwägungen kulminieren in einer erstaunlichen Gleichung von Geist, Selbstentfremdung und Warencharakter: »Je ›bewußter‹ ein Bewußtsein ist, desto mehr scheinen ihm seine Person, seine Meinungen, seine Taten, seine Eigenheiten und seine Gefühle befremdlich, – fremd. So neigt es dazu, über seinen eigensten und persönlichsten Besitz als über etwas Äußeres und Zufälliges zu verfügen.« (W 146) Eine selbstzerstörerische Spitze ist dabei unverkennbar. Anti-intellektuelle Motive fehlen neben exponierten Rettungen des Anfälligsten am Geist so wenig wie bei Nietzsche. Stimmgeräusche aus der Ära des Vorfaschismus lassen sich vernehmen: »Das Geschäft der Intellektuellen ist es, mittels Zeichen, Namen, Symbolen alles aufzurühren, ohne das Gegengewicht wirklicher Handlungen. Das macht ihre Reden verblüffend, ihre Politik gefährlich, ihr Vergnügen oberflächlich. Es sind soziale Reizmittel, mit den Vorteilen und Gefahren aller Reizmittel.« (W 37) Aber wo Valérys spezifische Erfahrung sitzt, in der künstlerischen Produktion, gewährt er derlei Flausen keinen Raum. Intuition, der Markenartikel der Anti-Intellektuellen, kommt bei ihm schlecht weg. Er polarisiert sie in die Extreme von Bewußtsein und Zufall und heftet spottend den gelben Fleck der dritten Personen gerade an die offiziell Begnadeten: »Unerträglich ist oder sollte den Dichtern die Vorstellung sein, wonach sie das Beste ihrer Werke von erdichteten Mächten empfangen haben. Mittelsmänner – eine demütigende Auffassung. Ich, für mein Teil, will davon nichts wissen. Ich berufe mich nur auf den Zufall, der allen Menschen zugrunde liegt; und dann auf eine zähe Arbeit, die gegen eben diesen Zufall wirkt.« (W 95) Was in solchen Modellen sich zuspitzt, aber insgesamt den Rhythmus von Valérys denkender Bewegung definiert, wäre, nach dem Brauchtum der offiziellen Philosophiegeschichte, der Widerstreit von rationalistischen und irrationalistischen Motiven. Ihr Stellenwert in Frankreich jedoch ist umgekehrt als in Deutschland. Hier ist man gewohnt, den Rationalismus dem Fortschritt zuzurechnen und den Irrationalismus, als romantisches Erbe, der Restauration. Bei Valéry aber ist das traditionale Moment eins mit dem Cartesianisch-rationalistischen, und irrationalistisch die Selbstkritik des Cartesianismus. Das rational-konservative Moment bei Valéry ist das herrisch-zivilisatorische, die deklarierte Verfügung des autonomen Ichs übers Unbewußte. »Die Träume abschütteln, die Schlacken, die Dinge, denen Abwesenheit und Nachlässigkeit erlaubt hat, zuzunehmen und sich breit zu machen; die Naturprodukte, Unrat, Irrtümer, Torheiten, Schrecken, Bedrängnisse. Die Tiere kriechen wieder in ihr Loch. Der Meister kehrt von der Reise zurück. Der Hexenspuk ist gestört. Weggang und Rückkehr.« (W 17) Nach wie vor wird solche Herrschaft Cartesianisch gerechtfertigt durch clara et distincta perceptio. Valérys Zweifel noch an den bündigen Antworten, Ferment seiner irrationalen Abweichungen, mißt sich an jener Bündigkeit: »Aber unsere richtigen Antworten sind überaus selten. Die meisten sind schwach oder nichtig. Wir spüren das so genau, daß wir uns zuletzt gegen unsere Fragen wenden. Damit aber sollte man gerade beginnen. Man sollte eine Frage in sich ausbilden, die allen andern vorausgeht und jede auf ihren Wert hin befragt.« (W 70) Der Cartesianismus überschlägt sich kraft seines eigenen methodischen Motors, des Zweifels: »Ich stelle mir oft einen Menschen vor, dem alles zur Verfügung stände, was wir an genauen Verfahren und Vorschriften kennen, dem aber alle Begriffe und Bezeichnungen unbekannt wären, die keine klaren Vorstellungen erwecken, die nicht zu einheitlichen und wiederholbaren Handlungen führen. Er hat nie von Geist, von Denken, von Substanz reden hören, nie von Freiheit und Willen, von Zeit und Raum, von Kräften, von Leben, Instinkt, Gedächtnis, Ursache, von Göttern, nie von Moral, nie von Ursprüngen; kurz: er weiß alles, was wir wissen und kennt nicht, was uns unbekannt ist, aber er kennt nicht einmal die Namen davon. So setze ich ihn den Schwierigkeiten aus und den Gefühlen, die sich aus ihnen ergeben; so lasse ich ihn entstehen. Jetzt setze ich ihn in Bewegung und liefere ihn den Umständen aus.« (W 148f.) Das Beharren auf der Forderung des absolut Gewissen endet im Offenen, nach Descartes' Kriterien Ungewissen. Das sum cogitans wird der Zufälligkeit seiner bloßen Existenz überführt, auf die bei jenem nicht reflektiert war und die den Meditationen den Boden unter den Füßen weggezogen hätte. Ausdrücklich wird daraus die volle erkenntnistheoretische Konsequenz gezogen, die der Nichtidentität des Seienden mit seinem Begriff: »Die kleinen, unerklärten Fakten enthalten in sich immer genug, um alle Erklärungen der großen Fakten zu entkräften.« (W 140) Valéry bringt den Rationalismusstreit, ohne Entscheidung sich anzumaßen, auf die mathematisch elegante Formel: »Was nicht festgehalten wird, ist nichts. Was festgehalten wird, ist tot.« (W 112) Darf etwas den Namen von Philosophie überhaupt noch beanspruchen, dann solche Antithesen. Indem sie unversöhnt stehenbleiben, drückt der Gedanke die eigene Grenze aus: die Nichtidentität des Gegenstandes mit seinem Begriff, der ebenso jene Identität fordern, wie ihre Unmöglichkeit begreifen muß. Auch der Rationalismusstreit hat bei Valéry seine geschichts-philosophische Dimension, die einer Dialektik der Aufklärung. Von ihr hat er ein Zentrales gewahrt, das Heraufkommen eines bloß noch instrumentellen Denkens, den Triumph subjektiver über objektive Vernunft vermöge des Fortschritts von Rationalität als solcher: »Hinzu kommt, daß die Ideen, selbst die grundlegenden, allmählich den Charakter von Wesenheiten verlieren und zu Werkzeugen werden.« (W 38) Er zögert nicht vor der Folgerung, daß damit die entfesselte Vernunft sich gegen sich selbst wendet: »Die Wissenschaft hat das Gewissen der Vernunft und des gesunden Menschenverstandes zerstört.« (a.a.O.) Den Schauder, der ihn befällt, hat seitdem das Grauen der Praxis schon überboten: »Mit dem Einwand des gesunden Menschenverstandes weicht der Mensch vor dem Unmenschlichen zurück, denn im gesunden Menschenverstand liegt nichts als der Mensch, seine Vorfahren, die Maßstäbe des Menschen und die menschlichen Fähigkeiten und Beziehungen. Doch die Forschung und selbst die Mächte rücken vom Menschen ab. Die Menschheit wird sich daraus retten, so gut sie kann. Die Unmenschlichkeit hat vielleicht eine große Zukunft.« (W 39) Die Verschränktheit der losgelassenen subjektiven Rationalität und der Selbstentfremdung des Subjekts ist ihm so wenig entgangen wie der Zusammenhang dieser Tendenz mit der totalitären: »Eine zu genaue Vorstellung vom Menschen, eine zu deutliche Wahrnehmung seines Mechanismus, das vollständige Fehlen von Aberglauben in menschlichen Dingen, die kategorische Weigerung, den Menschen als Ding an sich, als sein eigenes Ziel zu betrachten, eine zu statistische Sicht der Lebenden, eine zu genaue Voraussicht ihrer Reaktionen, der heute schon feststehenden Wandlungen und Rückfälle, die ihre Gefühle in einigen Wochen oder Jahren erfahren werden, ein zu starkes Gefühl für Ordnung und für das Staatsideal – all dies ist an der Spitze vielleicht nicht am richtigen Platz. Wenn der Verstand herrschen sollte? ...« (W 100f.) Vom neuen Staatsideal redet er in Gleichnissen wie Karl Kraus: »Der Staat ist ein riesengroßes, furchtbares und schwaches Wesen. Ein Zyklop von berüchtigter Kraft und Ungeschicklichkeit, das mißgestaltete Kind der Gewalt und des Rechts, die es aus ihren Widersprüchen gezeugt haben. Er lebt nur dank den unzähligen Männlein, die linkisch seine trägen Hände und Füße bewegen, und sein großes Glasauge sieht nur Pfennige und Milliarden. Der Staat ist jedermanns Freund und jedes Einzelnen Feind.« (W 100) So heikel steht es um Valérys Konservativismus. Bei aller Aversion gegen die verwaltete Welt verschmäht er es, hinter Invektiven gegen Dekadenz und Perversion sich zu verschanzen. Was der Vernunft, den Menschen als deren Trägern, dem Subjekt widerfährt, ist ihr eigenes Prinzip: »Das Denken ist brutal, es kennt keine Schonungen. Was ist brutaler als ein Gedanke?« (W 109), oder gar: »Das Gemeinste auf der Welt, ist es nicht der Geist? Der Körper weicht vor Schmutz und Untat zurück. Der Geist rührt gleich einer Fliege an alles. Weder Abscheu noch Ekel, weder Bedauern noch Reue stammen von ihm; sie sind ihm nur ein Gegenstand der Neugier. Die Gefahr spricht ihn an, und wäre der Körper nicht so mächtig, der Geist führte ihn mit einer Art Torheit und einer absurden und drängenden Gier nach Erkenntnis ins Feuer.« (W 144) Reiner Geist beichtet in Valéry die eigene Unwahrheit. Seine Komplizität mit dem Abscheulichen ist aber nichts anderes als die Erbschaft der Gewalt, die er seit Jahrtausenden all dem widerfahren läßt, was ist, indem er es dem Prinzip seiner eigenen Selbsterhaltung unterwirft. Bei Valéry ist Geist gestählt genug, um seinem Geheimnis ins Auge zu sehen. Dem, der soviel riskiert, ist auch die Kunst nicht tabu. Als vergeistigte ist sie in Fortschritt und Wissenschaft zum Guten und zum Unheil verstrickt. »Es gibt in allen Künsten einen Naturgesetzen unterworfenen Bereich, den man nicht mehr betrachten und behandeln kann wie ehedem: es ist nicht möglich, ihn den Unternehmungen des Erkenntnisvermögens und der Schaffenskraft von heute vorzuenthalten.« (K 46) Valérys Stolz richtet in keinem Elba von Irrationalität wie in einem Fürstentum sich ein: »Weder die Materie, noch der Raum, noch die Zeit sind in den letzten zwanzig Jahren geblieben, was sie vordem seit jeher waren. Man muß damit rechnen, daß so bedeutsame Neuerungen die ganze Technik der Künste umwandeln, damit auf den schöpferischen Vorgang selbst wirken – so sehr, daß sie vielleicht in erstaunlicher Weise bestimmen könnten, was künftig unter Kunst zu verstehen sein wird.« (a.a.O.) Der Erzfeind des Naturalismus schont nicht die Romantiker: »Ihr Geist suchte sich eine Fluchtburg in einem Mittelalter, das sie sich zurechtmachten; an der Esse des Alchimisten brachten sie sich vor dem Chemiker in Sicherheit. Wohl fühlten sie sich nur in der Welt der Sage oder der Geschichte, das heißt bei den Gegenfüßlern der Physik. Sie retteten sich vor den Bedingtheiten eines durch die Mechanismen der Gesellschaft geprägten Daseins durch die Flucht in die Leidenschaft und die Wallungen des Gemüts, deren Pflege und Ausbeutung sie zu einer Institution ausbauten (und sogar zu einer Komödie). Auf die Vergötzung des Fortschritts antwortete man mit der Vergötzung der Verdammung des Fortschritts; das war alles und ergab zwei Gemeinplätze.« (K 118f.) Freilich gelangt in dem fast Max Weberschen Gestus, mit dem der Artist für die Rationalität der Kunst Partei nimmt, das reaktionäre Element nach oben als Einverständnis mit Entwicklungen, deren Träger bis heute die Kulturindustrie war. Wahr ist, daß der Geist und was ihm nicht gleicht in der Kunst von Anbeginn sich verbanden und dichter stets sich durchdrangen: »Nun hat der Gang der Zeit, oder, wenn man lieber will, der Dämon der unverhofften Verkettungen (jener, der aus dem, was ist, die überraschendsten Folgerungen zieht und münzt und daraus zusammenbraut, was sein wird), sich damit vergnügt, zwei einstmals genau entgegengesetzte Begriffe in wunderlicher Weise durcheinander zu werfen.« (K 120) Definiert aber Valéry jene »Begriffe« als »das Wunderbare und das Gegebene« (a.a.O.) und hofft er darauf, »daß diese beiden Feinde von ehedem sich verschworen haben, um unsere Lebensordnungen in eine unbegrenzte Abfolge von Wandlungen und Überraschungen zu verwickeln« (a.a.O.), so ähnelt dies Vertrauen allzusehr der Begeisterung von Poeten für die Möglichkeiten des Visionären, die der Film eröffnen werde. Die Übermacht der mechanischen Massenmedien verschlägt manchmal selbst Valéry den Gedanken, ob der Fortschritt der rationalen Naturbeherrschung nicht in Ideologie sich verkehrt, wenn er ausgespitzt als Kunst Zauber destilliert. Auch Valéry zollt einem Zeitalter Tribut, in welchem das positivistisch »Gegebene«, von dessen Kultus seine Meditationen mehr als bloß die Spur tragen, mit der Verzauberung der Welt mühelos übereinkommt: die Übermacht dessen, was der Fall ist, wird ihr zur magischen Aura. Valéry ist nicht blind gegen die Untaten der Kulturindustrie und ihren gesellschaftlichen Grund: »Von der Herstellung der Wunderwelt-Fabriken leben Tausende und Abertausende von Menschen. Der Künstler jedoch hat an dieser Herstellung von Wunderdingen keinerlei Anteil genommen. Sie ist Tochter der Wissenschaft und des Kapitals. Der Bürger hat sein Geld in Traumfabriken angelegt und spekuliert auf den Untergang des gesunden Menschenverstandes.« (K 121) Aber die Kritik bleibt zweideutig. Sie wappnet Valéry nicht gegen eine Banalität, wie sie ihm sonst als Index des Unwahren gilt: »Schließlich sind dann fast alle Träume, die die Menschheit geträumt hatte und die in unseren Märchen verschiedenster Ordnung ihren Niederschlag gefunden haben, nunmehr aus dem Gehege des Unmöglichen und des Gedachten herausgetreten.« (a.a.O.) Er vergißt hinzuzufügen, daß, wie in den Märchen selbst, bis heute die Erfüllung der Wünsche einer Menschheit nicht zum Segen geriet, die inmitten aller utopischen Abschlagszahlungen im Bann von Versagung verharrt. Valéry meint: »Ludwig XIV. hat auf dem Gipfel seiner Macht nicht den hundertsten Teil der Macht über die Natur und die Mittel besessen, sich ein Vergnügen zu verschaffen, seinen Geist zu bilden oder ihm Erlebnisse zu bieten, die heutzutage so vielen Menschen recht mittelmäßigen Herkommens zu Gebote stehen.« (a.a.O.) Derlei Vergleiche sind prekär. Was in verschiedenen Zeiten Glück war, läßt kaum sich vergleichen. Aber man möchte doch glauben, daß die Lust des Roi Soleil die vor dem Fernsehschirm einigermaßen übertraf. 1928, als Valéry jene Gedanken niederschrieb, mochte in Europa noch nicht abzusehen gewesen sein, wohin es mit der Konsumentenkultur hinauswollte. Sicherlich hat seitdem der Weltlauf Valéry widerlegt, wenn er den »Menschen unserer Zeit« verherrlicht, der hinfliegen kann, wohin er will, sich »jeden Abend in einem Palaste zum Schlafe« (K 122) niederlegt, sich hundert Lebensformen zu eigen machen könne und in einem jeden Augenblick in einen glücklichen Menschen sich verwandeln. Denn die hundert Lebensformen verstecken nicht länger das Skelett ihrer standardisierten Einheit. Sie sind auch gar nicht das einheimische Reich dessen, dem sie aufgezwungen werden; sein Glück ist bloß dessen subjektives Zerrbild und vielfach nicht einmal das. So preiswert war die Einheit von Kunst und Wissenschaft nicht zu haben, wie Valéry sardonisch es ausmalt. Freilich betrachtete er als Modelle rationaler Kunst wohl eher die technischen Utopien von Futuristen und Konstruktivisten als das juste milieu von Radio und Kino. »Ein schönes Buch ist vor allem eine vollkommene Lesemaschine, deren Bedingtheiten recht genau durch die Gesetze und Methoden der physiologischen Optik bestimmt werden können; gleichzeitig ist es ein Kunstgegenstand, ein Ding.« (K 21) Klee taufte ein berühmtes Bild ›Zwitschermaschine‹. Um so unbestechlicher hat Valéry visiert, was die jüngsten Entwicklungen für die traditionellen Kulturgüter bedeuten: »Geben wir doch zu, daß wir nur noch aus Pflichtgefühl bewundern, was uns zwingt, der Vielschichtigkeit des Vorwurfs, den scharfen Bedingungen, denen ein Künstler sich unterworfen hat, unsere Achtung zu zollen.« (K 98) Denn »alle Werke vergehen« (W 92). Anstatt den Verfall der traditionellen Werke larmoyant zu beklagen, läßt er von der eigenen Erfahrung dessen Unausweichlichkeit sich mitteilen. Genug vom fin de siécle dauerte in ihm fort, um ihn vor Krokodilstränen über den Verlust der Mitte durch die Moderne zu behüten: »All das – ich habe es gesagt – ist nur durch das Vorangehen einiger Männer vom ersten Range möglich geworden. Nur solche sind es, die je und je die Wege bahnen: um einen Verfall einzuleiten, bedarf es nicht geringeren Könnens als erforderlich ist, um etwas seinen möglichen Höhepunkten zuzuführen.« (K 103) Jener Verfall, der der Werke selbst wie ihrer Rezeption, ist objektiv diktiert durchs Schrumpfen historischen Bewußtseins, des Sinnes für Kontinuität überhaupt. Valéry gibt davon wohl als der erste, vor Huxleys Brave New World, Rechenschaft: »Angenommen, die maßlose Umwandlung, deren Zeugen wir sind, die wir erleben und die uns umtreibt, entwickle sich weiter, richte vollends zugrunde, was noch an Bräuchen übriggeblieben ist, bringe Bedürfnisse und Mittel des Lebens in völlig anderen Fug – dann wird das zu etwas ganz Neuem gewordene Zeitalter bald Menschen in seinem Schoße austragen, die durch keinerlei Gewöhnung des Geistes mehr mit der Vergangenheit verbunden sein werden. Die Geschichtsbücher werden ihnen Berichte zur Verfügung stellen, die ihnen fremd, ja unverständlich vorkommen werden, denn für kein Ding ihrer Zeit wird die Vergangenheit ein Musterbild gestellt haben, und nichts aus der Vergangenheit wird in ihre Gegenwart hinein überleben.« (K 123) Zugestanden wird, daß Kultur die heraufziehende Barbarei verdiente. Als schuldhaft entblößt sie sich durch ihre beginnende Komik: »So ist es eine der sichersten und grausamsten Wirkungen des Fortschritts, daß er dem Tod eine Nebenstrafe beigibt, die sich in dem Maße, in dem der Umsturz der Bräuche und der Denkbilder deutlichere Formen annimmt und sich überstürzt, ganz von selber immer weiter verschärft. Es war nicht genug zu vergehen: man muß darüber hinaus unverständlich, ja lächerlich werden, und – möge man Racine oder Bossuet gewesen sein – seinen Platz bei den wunderlichen, buntscheckigen, tätowierten, dem Grinsen preisgegebenen und ein wenig grauslichen Gestalten einnehmen, die in den Galerien umherstehen und übergangslos an die zu Menschen erklärten Endprodukte der Stammesgeschichte des Tierreichs anschließen ...« (K 124) Was die Kultur ereilt, enthüllt sie als das, worüber sie noch nicht hinauskam, bloße Naturgeschichte. Valéry verifiziert den Satz Kafkas, ein Fortschritt habe noch gar nicht angefangen. Das wirft Licht auf seine Lehre von der Zeit. Sie weist unmittelbar auf Baudelaire zurück, den Kultus des Todes als le Nouveau, als des schlechthin Unbekannten, der einzigen Zuflucht des spleen, der die Vergangenheit verlor und dem der Fortschritt den Makel der Immergleichheit trägt. Mit Kierkegaardscher Paradoxie vermummt die Utopie sich in das X: »Man rettet sich in das Unbekannte. Man verbirgt sich in ihm vor dem Bekannten. Das Unbekannte ist die Hoffnung der Hoffnung. Im Unbestimmten hätte das Denken ein Ende. Die Hoffnung ist jener innerste Akt, der Unwissenheit schafft, die Mauer zur Wolke wandelt, – und kein Skeptiker, kein Zweifler zerstört Urteil und Vernunft, Evidenz und Wahrscheinlichkeit, wie dieser rasende Dämon Hoffnung.« (W 27) Aber noch diese wolkige Stelle wird von Valéry zerdacht. Er bestimmt sie als Augenblick, als einzig Erfülltes; als das Differential, das die verlorene Vergangenheit und die hoffnungslose Zukunft um ein Geringes überragt. Valérys Passion für den Impressionismus gilt der Verewigung des Augenblicks in künstlerischen Verfahrungsweisen, die zur obersten Tugend des Geistes Geistesgegenwart erheben: »Das Genie hängt an einem Augenblick. Liebe entsteht auf einen Blick; und ein Blick genügt, ewigen Haß zu erzeugen. Und wir sind nichts, wenn wir nicht imstande waren und imstande wären, einen Augenblick außer uns zu sein.« (W 28) Das äußerste Gegenbild dieser Idee ist der bürgerliche Begriff der abstrakten Arbeitszeit, nach der die Waren sich tauschen lassen. Idiosynkratisch sträubt Valéry sich gegen das Heraufdämmern eines Zeitalters ohne Zeit: »Die Meinung ›Zeit ist Geld‹ ist der Gipfel der Gemeinheit. Zeit ist Reifung, Einteilung, Ordnung, Vollendung. Die Zeit schafft den Wein und die Güte des Weins, solcher Weine, die sich langsam verändern und die man trinken soll, wenn sie ein bestimmtes Alter erreicht haben, wie eine Frau eines bestimmten Typus ihr Alter hat, das man abwarten muß, oder nicht verpassen darf, um sie zu lieben. Dieselben großen Nationen, denen der verfeinerte Sinn fehlt für die reiche Zusammensetzung der Weine, für das verborgene Gleichgewicht ihrer Qualitäten, für die Jahre, die sie brauchen und für die, die für sie ausreichen, haben auch jene unmenschliche ›Zeitgleichung‹ eingeführt und der Welt aufgenötigt. Ihnen fehlt auch der Sinn für Frauen und für die Nuancen der Frauen.« (W 28f.) Eindringlicheres ist selten zur Verteidigung des verurteilten Europa gesagt worden. Zeitbewußtsein konstituiert sich zwischen den Polen der Dauer und des hic et nunc; was droht, kennt beides nicht mehr, die Dauer wird kassiert, das Jetzt vertauschbar, fungibel. Dem wirft Valéry, Enkel von Baudelaires vieux capitaine, als heroisch Scheiternder sich entgegen: »Der Geist verabscheut die unendliche Wiederkehr, und nun grüßen ihn die Wellen, die untergehen werden, den ganzen Tag ...« (W 81) Solchem Geist wird Sonnenuntergang zur Baudelaireschen Allegorie seines eigenen: »Das Gefühl einer Enthauptung liegt in der Tiefe, die dieser Dauer innewohnt. Langsam fällt das Haupt dieses Tages. Die Scheibe ertrinkt.« (a.a.O.) Todverfallener Geist sympathisiert mit dem Stofflichen, nicht selber Geistigen mitten im Geist. In einem Materialismus zweiten Grades trifft Valéry sich mit Walter Benjamin, dessen Ästhetik mehr wohl von ihm lernte als von irgendeinem anderen. Ihm sind die Stoffe Gegengift gegen den sich selbst zerstörenden Geist, den er ohnehin, wie Nietzsche, als »Schallverstärker« beargwöhnt, der Erfahrung durch Steigerung fälsche. Einer verwegenen Meditation sind Stoffe, Brot und Wein, Bedingungen der Logosreligion, des Christentums: »Wo Brot und Wein selten sind oder gar fehlen, wirkt die Religion, die sie heiligt, entwurzelt, wie eine Fremde, die nur von ungewohnten, fernher kommenden Speisen leben kann. Im Lande des Reises, der Bataten, der Bananen, des Biers, der sauren Milch und des klaren Wassers sind Brot und Wein exotische Produkte, und die heilige Handlung, die auf dem Eßtisch das Einfachste ergreift, um es zum Erhabensten zu machen, ist dem Leben entfremdet, dessen Hunger nach Übersinnlichem sie in Gestalt dessen stillen wollte, was das Leben physisch erneuert und verlängert.« (W 30) Er rührt damit an ein Moment der unwiderstehlichen Auflösung von innen her, das der Enthusiasmus für Bindungen eifrig übertäubt: daß der Gehalt des Christentums so wenig wie der der anderen großen Religionen isoliert werden kann von Sachgehalten des Lebens, die geschichtlich dahin sind. Sagt es von allem Stofflichen, in Raum und Zeit Bestimmten sich los, wird es reiner Geist, überantwortet es sich wahrhaft der Entmythologisierung: dann zieht es sich nicht nur die Autorität unter den eigenen Füßen weg, sondern verflüchtigt sich, durch bloße Symbolik hindurch, schließlich in Menschliches und büßt jene Substantialität ein, vor deren Schrumpfen durch die liberale Theologie die dialektische warnte, ohne doch den Prozeß aufhalten zu können. Daß Valéry, der Ästhetiker, all das verschweigt, steigert bloß die Spannkraft von Denkmodellen wie dem von Brot und Wein. Das Stoffliche ehrt er als die Schicht, in der allein der künstlerische Geist seiner selbst mächtig wird. Je tiefer dieser produzierend in das sich versenkt, woran er sich abarbeitet, je mehr seine eigene Form dem sich anbildet, was ihm widerstrebt, um so höher erhebt er sich selber: »Dichter ist, wer durch die eigentümliche Schwierigkeit seiner Kunst auf Einfälle kommt – und der ist es nicht, bei dem sie ihretwegen ausbleiben.« (W 46) Gerade der spirituelle Artist hat die Naivetät verloren, in der Kunst irgend etwas zu tolerieren, was nicht auswendig geworden wäre; Pathos der Objektivation und Sympathie mit dem Stoff werden eines. Mit dem Gestus des Justament nimmt er im Gedicht lieber fürs Schriftbild Partei als für den Sinnzusammenhang: »Der Geist des Schriftstellers blickt sich im Spiegel an, den ihm die Druckerpresse liefert.« (K 21; vgl. K 17) Dabei glorifiziert Valéry, der Anti-Idealist, keineswegs die Stoffe Fichteanisch als Vehikel des Geistes, um sie damit wiederum zu erniedrigen. Trauernd vielmehr spricht er ihnen den Sieg zu, den Geist bloß usurpiert. So ephemer ist er, daß alle Artefakte Opfer der zerstörenden Gewalt der Stoffe ebenso wie der eigenen Insuffizienz werden: »Bücher haben dieselben Feinde wie der Mensch: das Feuer, die Feuchtigkeit, Tiere, die Zeit – und den eigenen Inhalt.« (W 161) Solche Trauer macht jedoch insgeheim gemeinsame Sache mit der Hinfälligkeit. Geist wird zum Geist erst, wo er der eigenen Naturwüchsigkeit innewird: »Die einen Denker haben das Verdienst klar zu sehen, was alle übrigen undeutlich sehen; die andern, undeutlich zu sehen, was noch keiner sieht. Sehr selten findet man diese Verdienste vereint. Die einen werden schließlich von jedermann eingeholt. Die andern gehen in diesen auf oder werden völlig vernichtet, spurlos und für immer. Die einen verschwinden in der Menge, in der sie sich auflösen; die andern in diesen oder einfach in der Zeit. Das ist das Los der Denker.« (W 65) Es zu denken, anstatt mitleidlos von Essen und Trinken sich loszureißen, wäre ihre humane Freiheit. Dies Äußerste spricht Valéry epigrammatisch, als Witz aus in Betrachtungen über die Töpferkunst: »Eine bestimmte Gattung der Dichtkunst könnte es darauf anlegen, vom Grunde unserer Teller abgelesen zu werden.« (K 162) Für Valérys ästhetische Erfahrung bewähren Kraft und Spontaneität des Subjekts sich nicht in seiner Bekundung sondern, Hegelisch, in seiner Entäußerung: je gründlicher das Gebilde vom Subjekt sich ablöst, desto mehr hat das Subjekt darin vollbracht. »Ein Werk dauert gerade insofern es ganz anders zu erscheinen vermag, als es sein Verfasser geplant hat.« (W 175) Schneidend kritisiert Valéry, was zu schwach ist, sich zu objektivieren, die bloßen Intentionen; was immer Dichter sich bei Werken denken oder in Werke legen, ohne daß es von ihnen sich emanzipierte und zu einem an sich Beredten und Verbindlichen würde. »Wenn ein Werk erschienen ist, hat die Deutung, die ihm sein Verfasser gibt, nicht mehr Gewicht als die eines andern ... Meine Absicht ist nur meine Absicht, und das Werk ist das Werk.« (W 171) Er, in dem das dichterische Vermögen und das philosophische sich wie kaum bei einem anderen wechselseitig produzierten, haßte die »philosophischen Dichter«, die »einen Maler von Seestücken mit einem Schiffskapitän verwechseln« (W 61); »in Versen philosophieren hieß und heißt immer noch, nach den Regeln des Damespiels Schach spielen zu wollen« (W 92). Seine Selbstreflexion der Kunstwerke wird kontrapunktiert von dem, was am schwersten begreift, der jene von außen betritt: daß sie nicht ihrem Autor gehören, nicht wesentlich dessen Abbild sind, sondern daß er mit dem ersten Zug der Konzeption an diese und sein Material gebunden ist, zum Vollzugsorgan dessen wird, was das Gebilde will: »Ganz andere Kräfte als ein ›Verfasser‹ arbeiten an einem Werk.« (W 48) Künstlerische Produktivkraft ist die der Selbstauslöschung. »Wir schreiben immer, selbst in der Prosa, notwendig solches, was wir nicht schreiben wollten. Was wir wollten, will es.« (W 167) Schließlich wird das Convenu vom schöpferischen Künstler antithetisch berichtigt: »Das Werk verändert den Autor. Bei jeder Bewegung, die es aus ihm herausholt, erfährt er eine Veränderung. Ist es vollendet, wirkt es nochmals auf ihn. Er wird dann, zum Beispiel, derjenige, der fähig war, es zu erzeugen. Hinterher wird er irgendwie zum Erbauer des verwirklichten Ganzen – das ein Mythus ist.« (W 90) Verschlüsselt ist damit erreicht, daß das ästhetische Subjekt nicht das produzierende Individuum in seiner Zufälligkeit ist sondern ein latentes gesellschaftliches, als dessen Stellvertreter der einzelne Künstler agiert. Daher Valérys Verachtung für die Lehren von der Inspiration: ihm ist das Werk kein dem Subjekt als Privateigentum Geschenktes sondern ein Forderndes, das ihm Glück verweigert und es zu unbegrenzter Anstrengung anspornt. Einen großen Künstler läßt er von seinem Werk sagen: »... die unmittelbare Gesamtwirkung, die plötzliche Erschütterung, die Entdeckung und am Ende die Geburt des Ganzen, die vielfältige Stimmung, all dies ist mir verwehrt, all dies ist nur für die Menschen, die dieses Werk nicht kennen, die nicht mit ihm zusammengelebt haben, die nichts ahnen von langsamen Tastversuchen, von Widerwillen und Zerfall ... die nur einen großartigen Plan auf einmal erfüllt sehen.« (W 90f.) Als Geburtshelfer solcher Objektivität ist der Künstler das Gegenteil dessen, wozu die bürgerliche Kunstreligion ihn stilisiert: »Jeder Dichter wird schließlich soviel taugen, wie er als Kritiker (seiner selbst) getaugt hat.« (W 126) Implizit erteilt das dem ästhetischen Relativismus Bescheid. Die Objektivität der Kunst, die von der Gestalt des Problems vorgezeichnet ist und nicht von der Intention des Autors, zeitigt jeweils verbindliche Maßstäbe, ohne daß diese doch auf abstrakte Regeln, auf apriorische Kategorien zu bringen wären: »Das Ziel der Malerei ist unbestimmt.« (W 117) Der Valérysche Künstler ist ein Bergmann ohne Licht, aber die Schächte und Stollen seines Baus schreiben ihm im Dunkeln seine Bewegung vor: der Künstler als Kritiker seiner selbst ist bei Valéry der, welcher »ohne Maßstäbe« urteilt (K 36). Indem der Produktionsprozeß zu dem der Reflexion auf das wird, was das sich entäußernde Werk von seinem Urheber ebenso wie vom Rezipierenden will, legitimiert sich das Denken über Kunst, dessen Fusion mit dem künstlerischen Prozeß bei Valéry das Normalbewußtsein permanent herausfordert. Das Werk entfaltet sich in Wort und Gedanken; Kommentar und Kritik sind ihm notwendig: »Alle Künste leben von Worten. Jedes Kunstwerk verlangt, daß man ihm antworte; und zu dem, was den Menschen treibt, Werke zu schaffen, gehört ebenso wie zu den Geschöpfen dieses absonderlichen Instinkts untrennbar eine ›Literatur‹, sei diese nun zu Papier gebracht oder nicht, entspringe sie der Unmittelbarkeit des Erlebens oder denkerisch bewältigter Verinnerlichung.« (K 72) Was für divergent gilt, ästhetische Irrationalität und ästhetische Theorie, erkennt Valéry, geschichtsphilosophisch, in seiner Einheit: »Dies veranlaßt mich, darauf aufmerksam zu machen, daß die Künstler, die versucht haben, aus den Mitteln, die ihnen eigneten, die kräftigste Wirkung auf die Sinne herauszuholen; die von der Eindringlichkeit, den Kontrasten, dem Mitschwingenlassen, den Klangwirkungen einen Gebrauch gemacht haben, der an Mißbrauch grenzt; die die schärfsten Reize mischten, die auf die Tiefenschichten des Empfindungsvermögens und ihre Allgewalt, die auf die irrationalen Entsprechungen der oberen Nervenzentren mit dem Vagus und dem Sympathikus setzten – unsere unbeschränkten Herren –, daß diese Künstler zugleich die ›intellektuellsten‹, am meisten theoretisierenden, am eifrigsten auf Gesetze der Ästhetik versessen gewesen sind. Delacroix, Wagner, Baudelaire – insgesamt sind sie große Theoretiker, insgesamt sind sie darauf aus, die Seelen auf dem Wege über die Sinne in ihre Gewalt zu bekommen.« (K 75) Organon dieser Einheit ist die künstlerische Technik, die über die unwillkürliche Regung und das heteronome Material gleichermaßen verfügt. »Der Künstler hat ... durch sein ›Handwerk‹ und seiner Art gemäß darzutun, was er will und was er denkt.« (K 180) Der schwere Akzent, den bei Valéry das Werk trägt, die Absage an die Dichtung als Erlebnis, richtet schließlich auch das ideologische Bedürfnis von Kunden, Kunst müsse ihnen etwas geben. Valérys Humanismus denunziert den vulgären Anspruch, Kunst solle menschlich sein: »Gewisse Leute glauben, die Lebensdauer eines Werks hänge von seiner ›Menschlichkeit‹ ab. Sie bemühen sich, wahr zu sein. Doch welche Werke sind älter als Wundergeschichten? Das Falsche und das Wunderbare ist menschlicher als der wahre Mensch.« (W 124) Der Abhebung des objektivierten Kunstwerks von der menschlichen Unmittelbarkeit verdankt Valéry eine bedeutende Einsicht, die er mit Benjamin abermals teilt, bei dem sie in der Kritik der Goetheschen Wahlverwandtschaften in metaphysischem Zusammenhang auftritt: daß die Kunst zur Darstellung des Moralischen überhaupt nicht und kaum zur Psychologie fähig ist; von all dem zu reden, wäre Valéry zufolge so sinnvoll, wie wenn man Betrachtungen über die Leber der Venus von Milo anstellen wollte (W 61). Die Objektivation des Kunstwerks geht auf Kosten der Abbildung von Lebendigem. Leben gewinnen die Kunstwerke erst, wo sie auf Menschenähnlichkeit verzichten. »Der Ausdruck eines unverfälschten Gefühls ist immer banal. Je unverfälschter um so banaler. Um es nicht zu sein, muß man sich anstrengen.« (W 127) »Literarischen Aberglauben« nennt er »jede Überzeugung, die nicht von der Einsicht in die sprachliche Bedingtheit der Literatur ausgeht. Das gilt etwa für die Eigenexistenz und Psychologie von Figuren, Geschöpfen ohne Eingeweide.« (W 180) Aber die imaginären Geschöpfe haben dafür ein Leben eigener Struktur mit Entfaltung, Blüte und Absterben: »Erst sind sie zur Freude da, dann zur Unterweisung, zuletzt als Dokument.« (W 93) Die Morphologie solchen Lebens terminiert in einer geschichtsphilosophischen Bestimmung des Klassischen, die leicht alles aufwiegen dürfte, was über den verbrauchtesten Begriff der Ästhetik je gedacht wurde: »Die klassischen Werke sind vielleicht jene, die erkalten können, ohne zu vergehen, ohne sich zu zersetzen, und es lohnte, einmal den Willen zur Bewahrung, den die Begriffe ›Vollendung‹ und ›geschlossene Form‹ enthalten, in den Prinzipien, Regeln, im Kanon und in den Gesetzen der Kunst jener Epochen aufzudecken, welche man die klassischen nennt.« (W 121) Das aber sprengt Valérys Klassizismus. Denn klassische Werke überleben durch ihre Autorität, durch Ruhm, und der ist überschattet vom blinden Zufall: »Der Ruhm von heute geht bei der Vergoldung älterer Werke nicht planvoller vor als ein Brand oder ein Holzwurm bei ihrem Zerstörungswerk in einer Bibliothek.« (W 52) Der tödliche Autoritätsverlust so vieler traditioneller Kunst heute hat Valérys Verdacht gründlich bestätigt. Dafür hat alle Kunst, auch die avancierte, an sich bereits etwas Konservatives angenommen, den Gestus des Überwinterns. Noch wer zum Äußersten geht, und vielleicht er am ehesten, arbeitet, unter höchst ungewissen Auspizien, an einem Vorrat, über den erst eine versöhnte Menschheit verfügte; was er tut, ist nicht so aktuell, wie er vermeint, sondern möchte an besseren Tagen einmal erwachen. Auch das ist Valéry nicht entgangen: »Dichtung ist Fortleben. In einer Epoche, da sich die Sprache vereinfacht, da die Formen vernachlässigt und entstellt werden, in einer Zeit der Spezialisierung ist Dichtung ein Bewahrtes. Heute, heißt das, würde man den Vers nicht erfinden.« (W 163) Trotz alledem jedoch verstockt Valérys objektivistische Ästhetik sich nicht dogmatisch. Seine Reflexion ereilt die fetischhaften Züge ihrer Baudelaireschen Ursprünge: noch die Entmenschlichung des Kunstwerks wird aufs Subjekt reduziert, auf seine Naturwüchsigkeit und Sterblichkeit. Das objektivierte Kunstwerk will Dauer, die wie immer auch ohnmächtige, selber sterbliche Utopie des Überlebens; insofern führt Valéry Nietzsches Programm einer zugleich antimetaphysischen und ästhetischen Philosophie aus. Ihr zuliebe stellt er anthropologische Spekulationen an: »Es gibt jedoch andere Auswirkungen unserer Wahrnehmungen, die jenen ganz und gar entgegengesetzt sind: sie erregen in uns das Verlangen, das Bedürfnis, die Zustandsänderungen, denen eigen ist, die auslösenden Wahrnehmungen bewahren oder neu finden oder auch nachvollziehen zu wollen. Wenn ein Mensch Hunger hat, wird dieser Hunger ihn tun lassen, was es braucht, um ihn so rasch wie möglich zu beseitigen; wenn aber die Speise ihm köstlich dünkt, wird dieses Köstlichsein in ihm weiterdauern, sich fortsetzen und neu erstehen wollen. Der Hunger drängt uns, eine Empfindung abzukürzen; das Köstlichsein, eine zweite sich entfalten zu lassen; und diese zwei Strebungen werden sich bald selbständig genug gemacht haben, um den Menschen lernen zu lassen, auf die Verfeinerung seiner Nahrung Bedacht zu nehmen und zu essen, ohne Hunger zu haben. Was ich vom Hunger sagte, läßt sich leicht auf das Liebesbedürfnis erstrecken – und im übrigen auf alle Arten von Empfindungen, auf alle Erscheinungsformen des Empfindungsvermögens, in die bewußtes Handeln einzugreifen vermag, um das wiederherzustellen, zu verlängern oder auch zu steigern, zu dessen Beseitigung das Handeln aus dem Reflex allein ausdrücklich geschaffen zu sein scheint. Sehen, Tasten, Riechen, Hören, Bewegen, Sprechen führen uns insgesamt ein Mal ums andere in die Versuchung, uns in den Eindrücken häuslich einzurichten, die sie uns bescheren, sie am Leben zu erhalten oder sie neu entstehen zu lassen.« (K 142f.) Daraus springt die Theodizee der Kunst hervor: »Der Inbegriff dieser von mir eben herausgeschälten Auswirkungen, deren Wesen darin besteht, auf Un-endlichsein auszugehen, könnte die Ordnung der Dinge bestimmen, die dem Bereich des Ästhetischen zugehören. Um diesem Wort ›Un-endlichsein‹ sein Recht und seine scharf umrissene Bedeutung zu geben, braucht man nur daran zu erinnern, daß innerhalb dieser Ordnung die Befriedigung das Bedürfnis wiedererstehen läßt, die Antwort die Frage zu neuem Leben ruft, das Dasein in seinem Schoße das Nichtdasein austrägt und das Besitzen das Verlangen.« (K 143) »Denn alle Lust will Ewigkeit.« Kein anderes Motiv hat Proust zur Konstruktion des Lebens aus der gewaltlosen, unwillkürlichen Erinnerung bewogen. Ein Moment des Desperaten, Jugendstilhaften; der Gestus des sich selbst aus dem Sinnverlassenen herausprojizierenden Sinnes ist dabei unverkennbar. Ästhetisches Bewußtsein, das den Sturz der Religionen – ausdrücklich bei Baudelaire, implizit auch bei Valéry – voraussetzt, kann nicht Kategorien aus dem theologischen Bereich wie die der Ewigkeit umstandslos zur Kunst säkularisieren, als ob solche Transposition deren Anspruch und Wahrheitsgehalt nicht selber berührte. Die Kritik, die Valéry an der Gottähnlichkeit des künstlerischen Selbst übte, dürfte auch vor der Idee der Dauer der Werke nicht verstummen, an deren Realität er ohnehin zweifelte. Seitdem hat die moderne Kunst Grenzen überschritten, die Valérys Generation respektierte und in denen seine Ästhetik veraltete. Unter den Idealen seines in sich reflektierten, gebrochenen Klassizismus fehlen auch die etwas gipsernen Attribute der Reife und Vollkommenheit nicht (vgl. W 57), während doch die exemplarischen Werke keineswegs die runden und vollkommenen sind sondern jene, in denen der Konflikt zwischen der Intention auf Vollkommenheit und ihrer Unerreichbarkeit die tiefsten Spuren hinterließ. An archaischen Gebilden sieht Valéry wohl Ähnliches: »Wenn große Epen schön sind, so sind sie es trotz ihrer Größe und nur bruchstückweise ... Zu Beginn einer Literatur gibt es keine reinen Dichter, wie ja auch die ersten Handwerker keine reinen Metalle kannten.« (W 59) Ihm ist gleich Nietzsche gegenwärtig, wie sehr Ordnung, der Kanon von Klassizität, dem Chaotischen abgezwungen ist; den Alten kam, Valéry zufolge, »die irdische Welt ... sehr wenig geordnet vor« (W 176). »Unrein«, heißt es darum, »ist kein Tadel.« (W 60) »Ein Gedicht zu fügen, das nur Dichtung enthielte, ist unmöglich. Wenn es nur Dichtung enthält, ist es nicht gefügt, ist es kein Gedicht.« (W 167) Das kommt auch der Moderne zugute. »An den Exzessen der Neuerer von gestern verwundert uns immer ihre Ängstlichkeit.« (W 46) Tatsächlich erweisen sich heute die Werke der Generation von Schönberg und Picasso als durchsetzt von Elementen, die ihrer reinen Konsequenz und Durchbildung sich widersetzen; von Rudimenten dessen, wovon sie abstießen. Aber das beeinträchtigt nicht die Qualität. Die Authentizität solcher Produkte könnte gerade in dem Prozeß zwischen dem noch nicht Gewesenen und dem Gewesenen ihre Substanz haben, an dem das Neue sich reibt und seine Gewalt vermehrt. Diese Spannung haben die Gebilde etwa aus dem Dezennium vor dem Ersten Weltkrieg vor den stimmigeren nach dem Zweiten voraus, und sie erlaubt ihnen zu überleben; der Spannungsverlust in so vielem Späteren könnte eine Funktion sein von dessen eigener Konsequenz. Trotz dieser Verteidigung des Stilbrüchigen aber war für Valéry Dauer, das bürgerliche Rudiment in seinem Denken, eine nach dem Modell des Besitzes vorgestellte Wahrheit, eins mit Ordnung. Als einzige Macht, die den Menschen »über die Geschehnisse« gegeben sei, »denen gegenüber sein direktes Handeln nichts ausrichtet«, ist ihm, wie allen Klassizisten, »Ordnen göttlich« (W 177). Seinen Klassizismus stützt er mit dem kräftigen Argument, daß ans gelungene Kunstwerk der herkömmliche Stilunterschied von klassisch und romantisch nicht heranreiche 3 . »Der Unterschied zwischen klassisch und romantisch ist ganz einfach der zwischen einem, der sein Handwerk versteht, und einem, der es nicht versteht. Ein Romantiker, der seine Kunst gelernt hat, wird zum Klassiker. Deshalb führte die Romantik schließlich zur Schule der Parnassiens.« (W 179) Die Dauer verleihende Ordnung heißt ihm Form. Sie rückt, durch Valérys Kritik alles Inhaltlichen, und wäre es auch selber geistig, nämlich die vom Werk vermeinte Philosophie, ins Zentrum seiner Ästhetik. Aber ihr eigener Begriff bleibt schwächlich. »Man gelangt zur Form, wenn man danach strebt, dem Leser sowenig Mitarbeit wie nur möglich einzuräumen und auch sich selber möglichst wenig Unsicherheit und Willkür.« (W 169) So wahr es ist, daß jede bewältigte künstlerische Form Zwang auf den Rezipierenden ausübt, der als das Authentische des Gebildes erfahren wird, so wenig verbürgt er allein dessen Rang. Gerade Valéry hat darauf bestanden, daß im ästhetischen Formbegriff keine wie immer geartete Rücksicht auf den Empfangenden oder den Produzierenden enthalten sei. Aber er gleitet darüber hinweg; vielleicht weil sonst die Kunstmetaphysik selbst gefährdet würde. »Form«, sagt er im Einverständnis mit dem abgestandenen Formalismus, »ist wesentlich an Wiederholung gebunden« (a.a.O.); als hätten nicht schon zu seiner Zeit die authentischesten Kunstwerke ihr Formgesetz am Ausschluß des äußerlichen und regressiven Formmittels der Wiederholung gesucht; als schriebe er nicht ein paar Seiten später: »Der Geist aber erträgt keine Wiederholung.« (W 172) Nur einen akademischen Formbegriff kann er wirksam vorgeblicher Neuerungssucht kontrastieren: »Die Anbetung des Neuen ist demnach dem Bemühen um die Form entgegengesetzt.« (W 169) Form, die über ihre Parodie, das Schulstück, sich erhebt, wäre schwerlich noch von der Obsession mit dem Neuen zu trennen. Aber Valéry zeigt sich darin mit dem Neoklassizismus verschworen, daß er von außen gesetzte Formen rechtfertigt, unabhängig von der Immanenz der Form in der Gesetzmäßigkeit des je einzelnen Gebildes. Der nichts einem anderen als dem Ingenium verdanken möchte, läßt von masochistischer Freude an Typen sich verlocken, die heteronome und unbestätigte Autorität ausüben; vergafft in den Reiz zweideutiger, als Gesetz maskierter Zufälligkeit, der so schnell sich verbrannte zur Asche der Langeweile. Manches aus den Windstrichen könnte in Strawinskys musikalischer Poetik stehen: »Ein großer Erfolg des Reims ist es, die einfältigen Leute zu ärgern, die naiv genug sind zu meinen, es gebe auf der Welt Wichtigeres als eine Übereinkunft. Sie haben den arglosen Glauben, irgendein Gedanke könne tiefer und dauerhafter sein – als jede beliebige Konvention ...« (W 167) Den ästhetischen Objektivismus Valérys trägt, genetisch-literarisch und auch sachlich, ein Subjekt, das der Substantialität der Formen sich unwiderruflich entfremdet weiß und gleichwohl das Bedürfnis danach bewahrt. Es zitiert sie als disziplinierendes Mittel, als Schwierigkeit herbei, welche die Kunst sich selber bereiten müsse, um vollkommen zu werden; als wäre nicht die künstlerische Praxis durch jene Mittel allzu bequem geworden. Ihn verleitet die Willkür einer Subjektivität, die weder an jene Formen noch wesentlich gebunden ist, noch kraft der eigenen Arbeit und Anstrengung, die Valéry sonst zu fordern nicht müde wird, Form aus sich selbst, ihrer Selbstversenkung, unbekümmert um Muster und vergangene gesellschaftliche Übereinkunft, konstituierte. In solcher Gesinnung preist Valéry, nicht ohne die Ironie des Provokativen, eine dichterische Form, die vor andern den Verdacht des mechanisch Klappernden erregt: »Zuweilen bin ich einer, der, falls er in der Unterwelt dem Erfinder des Sonetts begegnete, ihm mit viel Hochachtung sagen würde (gesetzt den Fall, daß davon in der anderen Welt etwas übrigbleiben sollte): ›Lieber Herr Kollege, ich begrüße Sie in aller Demut. Ich weiß nicht, was Ihre Verse, die ich nie gelesen habe, taugen, und ich wette, daß sie nichts taugen, weil schon immer viel dafür gesprochen hat, darauf zu wetten, daß Verse schlecht sind. Doch so schlecht, so flach, so blöd, so durchsichtig, so einfältig, so kindlich sie auch gefügt sein mögen – ich stelle Sie unter allen Umständen in meinem Herzen über alle Dichter der Erde und der Unterwelt! Sie haben eine Form erfunden, und im Gesetz dieser Form fanden die Größten ihr Maß.‹« (K 24f.) Wohl möchte man fragen, wie der Gedanke an die Erfindung einer Form mit ihrer Würde sich verträgt, welche doch diesen Gedanken erweckte. Das ist die Schwelle, die Valéry von deutschen Erfahrungen trennt, mit denen sonst seine Spekulation konvergiert. Damit Kunst ihm das Oberste bleibe, muß er krampfhaft die Augen verschließen. Sie ist ihm am Ende doch nicht, wie für Hegel, eine Entfaltung der Wahrheit, sondern, mit jenem zu reden, ein angenehmes Spielwerk. Das Moment des weltläufig Zivilisatorischen darin ist unverächtlich genug gegenüber der Befangenheit in einem Reich des Geistes, das der Befangene buchstäblich nimmt und verabsolutiert. Gleichwohl verhindert es Valéry daran, den vollen Begriff des Kunstwerks als eines Kraftfeldes von Subjekt und Objekt zu erreichen. Noch das hat er empfunden. Er versichert sich, im Gegensatz zur Toleranz fürs nicht ganz Ernste, der Unvereinbarkeit der geistigen Gebilde miteinander, die doch widerstrebend aufeinander verwiesen sind: »Keinen von ihnen« – den bedeutenden Künstlern – »kann ich mir einzeln vorstellen; und dabei hat sich doch jeder verzehrt, damit keiner neben ihm bestehe.« (W 95) Darum demontiert er ein Cliché, das, heruntergekommen aus der großen Philosophie, nur noch zum Vorwand jener bürgerlichen Kultur taugt, die, wo Notwendigkeit sein sollte, Freiheit verhimmelt, weil Notwendigkeit herrscht, wo Freiheit sein sollte: »Über Geschmack und Farben soll man streiten.« (W 34) Keineswegs verläßt er sich auf die in Frankreich sakrosankte Kategorie des Geschmacks: »Wer nie den guten Geschmack verletzt, hat sich nie sehr weit in sich vorgewagt. Wer gar keinen Geschmack hat, hat es getan, ohne daraus Nutzen zu ziehen.« (W 169) Er hätte schwerlich, wie der Musicien Français Debussy, die Pariser Erstaufführung von Mahlers Zweiter Symphonie protestierend verlassen. Dennoch behält bei ihm das Kunstwerk etwas Unverbindliches. Seine oberste ästhetische Kategorie, das Formgesetz, gründet sich auf Wahl, Entschluß und Reminiszenz. Er sperrte sich dagegen, daß eben durch den Überschuß einer im Subjekt nicht eingeschmolzenen Objektivität, an dem sein Objektivismus sich orientiert, Objektivität selber herabgesetzt wird zum Trug, zur bloßen subjektiven Veranstaltung. Und damit zu einem ideologisch Schmückenden. Trotz aller Polemik gegen Kommunikation und Wirkungszusammenhänge fügt sich das Valérysche Kunstwerk zustimmend in den Bannkreis der Gesellschaft, den romanisches Denken zögert zu überschreiten, nach Cocteaus Wort stets dessen eingedenk, wie weit man zu weit gehen darf. »Ein Gedicht muß ein Fest des Intellekts sein. Es kann nichts anderes sein. Ein Fest: das heißt ein Spiel, aber ein hohes, geregeltes, voller Bedeutung; ein Bild dessen, was man gewöhnlich nicht ist, eines Zustandes, in dem die Anstrengung im Rhythmus erlöst ist. Man feiert etwas, indem man es in seiner reinsten und schönsten Form vollendet darstellt.« (W 162) Man darf durch die Spiritualisierung der Idee vom Fest nicht darüber sich täuschen lassen, daß das festliche Kunstwerk eingeschworen bleibt auf die Bejahung dessen, was ist. Der ästhetische Konformismus der Valéryschen Lehre von der Form ist gesellschaftlich zugleich. Selbst sein Neoklassizismus jedoch enträt nicht des Gärstoffs. Die neoklassizistische Bewegung in Frankreich war insgesamt, wie man weiß, kunststrategisch ein Gegenschlag gegen Wagner. Die stipulierte Ordnung sollte dem rauschhaften Wesen, der trüben Vermischung der Künste, dem deutschen Hang zum Superlativ (W 49) widerstehen. Diesem Programm hat Valéry auch als Dichter sich verschrieben in dem Plan des musikalischen Dramas Amphion, das, nachdem Debussy spröde sich gezeigt hatte, schließlich von Honegger vertont wurde. Neoklassizistisch ist nicht nur der griechische Stoff sondern die Idee. Sie beruht auf jener scharfen Distinktion der Künste durch Valéry, die das Wagnerische Musikdrama vorweg negiert. Er hat sie an der eigenen Entwicklung erfahren als die der Architektur, der seine erste Liebe gehörte, und der Musik; hat es aber nicht bei der Distinktion sein Bewenden haben lassen und damit auch nicht bei Stilkopien des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts. In seinem Medium, der Sprache, das ihm musikalisch war und keines der begrifflichen Signifikation, hielt er der Architektur die Treue. Dazu inspirierte ihn, daß beide Kunstgattungen insofern verwandt sind, als sie nichts Gegenständliches nachahmen oder bezeichnen. Er spricht an auf die coincidentia oppositorum: »Die Komposition – das heißt die Verknüpfung des Ganzen mit dem Einzelnen – ist in den Werken der Musik und der Architektur viel spürbarer und gebotener als bei den Künsten, deren Gegenstand die Wiedergabe sichtbarer Dinge ist: da diese ihre Elemente und ihre Musterbilder der Welt außer uns entnehmen – der Welt der ganz und gar schon zu Ende geschaffenen Dinge und der schon festgelegten Schicksale – entspringt daraus ein gewisser Mangel an Reinheit der Form, einige Anspielung auf jene andersartige Welt, manch ein Eindruck, der mehrdeutig bleibt und zufällig ist.« (K 38) Das erst spezifiziert seine Idee von Form: die Wiederkunft des Architektonischen im Musikhaften. »Noch bei den ungewichtigsten Stücken muß man an das denken, was Dauer verleiht, und das heißt an das, was in der Erinnerung zu bleiben vermag, an die Form also, so wie die Erbauer der mit ihrem Filigran schwerelos in den Himmel ragenden Turmspitzen an die Gesetze denken, die den Halt des Baues verbürgen.« (K 37) Der Künstler, dem die Reflexion auf Kunst und diese eins sind, zieht daraus den Impuls seines Musikdramas. Sein Vorwurf ist die Urgeschichte der Musik in ihrem Gegensatz zur Architektur, die zugleich in der dramatischen Einheit durcheinander vermittelt sind. Gleichgültig jedoch, ob das Projekt gelang oder nicht: nachdem einmal Valéry auf das Abenteuer solcher Vermittlung sich einließ, geht es Kategorien wie der säuberlichen Trennung der Künste, dem an der Optik orientierten Primat von Ordnung, schließlich dem Neoklassizismus ans Leben. Enthusiastisch grüßt er die Beschreibung eines von Musik Besessenen durch E.T.A. Hoffmann, der »glaubt, einen Ton von außerordentlicher Eindringlichkeit und Reinheit zu vernehmen, den er den Euphon nennt und der ihm das unendliche und eigene Weltbild des Gehörsinns aufschließt ... So erlebt sich innerhalb der Ordnungen der Bildenden Kunst der Mensch, der sieht, unversehens als Seele, die singt, und dieser Zustand – ›Ich singe ja!‹ – läßt in ihm einen Durst nach Schöpfung entstehen, der das Geschenk des Augenblicks festhalten und verewigen möchte.« (K 94) Er verfällt darauf, »daß einer den Plan fassen könnte, die Notenschrift zu diesem Tanze aufzuzeichnen. So könnte man einer gegebenen Plastik ein bestimmtes Musikstück zuordnen, das ganz auf dem Rhythmus der Hantierung des Künstlers aufgebaut wäre.« (K 174) Das Baudelairisch-neuromantische Motiv der Synästhesie wird sublimiert: nicht länger verschwimmen Töne und Düfte in der Luft des Abends, sondern das Getrennte wird synthesiert kraft seiner harten Getrenntheit. Auch das wäre mit einem dogmatischen Begriff von Form unvereinbar. Ihn sprengt Valérys verzehrendes Bewußtsein, das bei keiner festen Bestimmung sich ausruht, durch die Interpretation der Kunst als einer Sprache eigenen Wesens. Sie ist Nachahmung; nicht eines Gegenständlichen, sondern mimetisches Verhalten. Noch die ästhetische Kategorie, welche als die subjektive schlechthin erscheint, die des Ausdrucks, wird im Namen solcher Nachahmung zu einem Objektiven: zur Nachahmung der Sprache der Dinge selber. Sie ist daran gebunden, daß das Gebilde der Ähnlichkeit mit jenen sich entschlägt. »Dichtung ist der Versuch, mit den Mitteln der artikulierten Sprache das darzustellen oder wiederherzustellen, was Schreie, Tränen, Liebkosungen, Küsse, Seufzer usw. dunkel auszudrücken versuchen, und was die Dinge scheinbar ausdrücken wollen in dem, was wir für ihr Leben und ihre Absicht nehmen.« (W 163) Der musikalische Sprachgebrauch kennt in der Vortragsbezeichnung espressivo, die gleichgültig ist gegen das Ausgedrückte wie gegen das ausdrückende Subjekt, etwas nah Verwandtes. Als Metaphysik der Nachahmung tastet Valérys Ästhetik am Ende des Essays über die Würde der Künste, an denen das Feuer teilhat, nach dem Äußersten: »Die Künste, die das Feuer wirkt, wären damit die verehrungswürdigsten von allen, ahmen sie doch so genau das überirdische Wirken eines Weltenschöpfers nach.« (K 14) Kunst ist Nachahmung nicht von Geschaffenem sondern des Aktes der Schöpfung selber. Diese Spekulation steht hinter Valérys provokatorischer, entschlossen alexandrinischer Ansicht, der künstlerische Produktionsprozeß sei zugleich der wahre Gegenstand der Kunst: »Warum sollte man denn die Ausführung eines Kunstwerkes nicht auch als Kunstwerk ansehen dürfen?« (K 174) Das zerstört wie kaum eine andere Theorie die Illusion vom Kunstwerk als einem Sein. Gerade als objektives verwandelt es sich ins Werden, während die vulgäre These es statisch vorstellt und sein dynamisches Moment dem vermeintlichen Schöpfungsakt des Künstlers zumißt, der bei Valéry in jener höchsten Nachahmung erlischt. Die Paradoxie erhellt sich damit, daß die objektiv gerichtete Ästhetik Valérys, die das Werk so wenig als Nachahmung eines Äußeren wie als die eines Inneren, der Seele des Autors, dulden möchte, gleichwohl nicht so sehr von dem »unmittelbaren Vergnügen«, das die Werke der Kunst ihm geben, berührt wird, »als durch die Vorstellung, die sie mir vom Tun dessen, der sie schuf, eingeben« (K 170). Nach der abgründigen Passage von jenem Menschen der Vorwelt, der, »gedankenabwesend ein beliebiges grobes Gefäß liebkosend, in sich den Gedanken keimen fühlte, ein anderes Gefäß auszuformen, nur um es liebkosen zu können« (K 13), wäre Kunst vielleicht Nachahmung der schöpferischen Liebe selber. Als Nachahmung eines Schöpfungsaktes anstatt der geronnenen Gegenstände gerät Kunst in Gegensatz zur Natur: »Wir spüren in uns gewisse Sehnsüchte, denen die Natur nicht zu genügen vermag, und uns sind Vermögen eigen, die ihr abgehen.« (K 67) So kommen Baudelaires paradis artificiels nach Hause, Mimesis dessen, was aller Dinglichkeit vorausgeht, durch die künstlerische Freiheit, die dem Bann der Dinge entrückt ist. Diese Theorie der Nachahmung verbindet vollends mit dem Ideal des l'art pour l'art, daß die Ähnlichkeit des Kunstwerks – nicht länger eine mit etwas – zur Funktion seiner immanenten Form gemacht wird. »Man darf nicht vor jeglichem Dinge die Ähnlichkeit wollen; diese muß vielmehr aus der Übereinstimmung einander zugewandter Beobachtungen und Verrichtungen hervorgehen, die in die Form des Ganzen eine ständig sich mehrende Vielheit von Bezogenheiten der einzelnen Teile speichern, die der Künstler wahrgenommen hat. Es kennzeichnet die Güte einer Arbeit, daß man sie immer weiter der Genauigkeit zu vorantreiben kann, ohne daß man ihre Anlage oder die Bezugspunkte zu ändern brauchte.« (K 176) Kunstwerke wären um so ähnlicher, je vollkommener sie durchgebildet sind bei sich selber: »Für sie gab es eben richtigerweise die Ähnlichkeit nur in ihrer Bezogenheit auf das allgemeine Prinzip der Kunst und deren eigentlichen Gegenstand.« (K 177) Es wird nicht genannt und ist zugehängt, aber sein Gleichnis ist der Schöpfungsakt, und das Kunstwerk rangiert um so höher, je mehr es diesem gleicht; je ähnlicher, ließe pleonastisch sich sagen, es sich selber ist. Denn in der Ähnlichkeit mit sich selbst wird es zum Gleichnis des Absoluten, dem es unmittelbar, in seiner Partikularität, nicht zu ähneln vermag. »Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst« – das ist die Utopie in ihrer ästhetischen Gestalt. Auf sie, die reine Möglichkeit, zielt Valérys denkende Bewegung. »In meinen Gedanken suche ich mit all dieser Zaubermacht des Meeres zurechtzukommen, indem ich mir sage, daß es nicht aufhöre, meinen Augen das Mögliche vorzuführen.« (K 130) Nur durch die verblendete Besessenheit mit sich selber, nicht durch die durchsichtige Intention auf das, was mehr wäre, wird das Kunstwerk mehr, als es ist. Seine Ähnlichkeit mit sich selber macht es zur Sprache. Allein in solcher Sprachähnlichkeit hat alle Kunst ihre Einheit. Ihre Idee ist von der meinenden Sprache so geschieden wie ästhetische Ähnlichkeit überhaupt von der mit den Dingen. Die Inkommensurabilität der Sprachen gerade verweist auf diese Schicht: »Es gibt Lehren, die es nicht vertragen, in eine fremde Sprache übersetzt zu werden, die nicht die ihrer ursprünglichen Formulierung ist. Das Vertrauen darauf, daß man ihnen Glauben schenkt, der Zauber, die Scheu gehen dabei verloren, die ihnen eigen waren, seitdem sie sich in Worte kristallisierten; in Worte, die sich verschleiert und nur ihnen geweiht haben.« (W 147) In der Konzeption ungegenständlicher Ähnlichkeit wird der neuromantische Kultus der Nuance theoretisch heimgebracht. »Das Schöne erfordert vielleicht die sklavische Nachahmung dessen, was in den Dingen unbestimmbar ist« (W 94), lautet der schönste Satz der Windstriche. Das Unbestimmbare ist das Unnachahmliche, und die ästhetische Mimesis wird zu einer des Absoluten, indem sie im Bedingten solches Unnachahmliche nachahmt. Daran haftet das utopische Versprechen: »Merk auf dieses feine, unaufhörliche Geräusch; es ist die Stille. Horch auf das, was man hört, wenn man nichts mehr vernimmt.« (W 76) Valérys Utopie geht über in die Prousts: »Die Blumen, die das Blumenmädchen gegenüber, unter dem großen Palasttor, verkauft, bringen allen Menschen Botschaften und Träume der Liebe. Was nie eintreffen, niemals geschehen kann, duftet, riecht gut.« (W 20f.) An sie heftet sich die Sehnsucht des Denkers nach einem Denken, das des eigenen Zwangscharakters ledig wäre: »Am schönsten wäre es, in einer selbsterfundenen Form zu denken.« (W 72) Unbegrenzte Mühsal des Denkens will auf dessen Untergang in der Erfüllung hinaus; die intellektuelle Anstrengung auf die Abschaffung der Gewalt von »selbstgegebenen Gesetzen« (K 74). Wohl ist unstillbar Valérys Drang, seiner selbst mächtig zu werden, und seine Kunsttheorie möchte Autonomie dorthin noch ausdehnen, wo ihr sonst bloß Kontingenz sich entgegensetzt. »Weder das Neue noch das Geniale verlocken mich – sondern die Herrschaft über sich selbst.« (W 69) Aber dies Ideal transzendiert den eigenen Subjektivismus. »Wer arbeitet, sagt sich: Ich will mächtiger, gescheiter, glücklicher sein – als – Ich.« (W 128) Schrankenloses Verfügen des Subjekts über es selber meint dessen Aufhebung in einem Objektiven. Das Werk, das die Sprache der Dinge als Ebenbildlichkeit mit dem Schöpfungsakt nachahmt, bedarf der Herrschaft des Produzierenden, den es wiederum unterjocht. So wird es für Valéry zugleich Strafe: »Und zu deiner Strafe wirst du sehr schöne Dinge herstellen. Dies hat ein Gott, der keineswegs Jehova ist, dem Menschen nach dem Sündenfall in Wahrheit gesagt.« (W 89) Aber mit Strafe will er sich nicht gemein machen. Sie untergrabe, heißt es, abermals in Nietzsches Tonfall, »die Moral, denn sie schafft für das Verbrechen einen deutlich begrenzten Ausgleich. Aus dem Grauen vor dem Verbrechen macht sie ein bloßes Grauen vor der Strafe; – eigentlich spricht sie frei; sie macht das Verbrechen zu etwas Verkäuflichem und Meßbarem: feilschen wird möglich.« (W 151) Valéry, der Denkende, durchschaut die Befleckung von Denken selber als einem Kalkül durch den Tausch: »Das Wertvollste darf nichts kosten. Und den andern (Gedanken): darauf am meisten stolz sein, wofür man am wenigsten kann.« (W 165) So wird im Denken dessen Prinzip, Herrschaft selber, widerrufen. Der alles an seine Macht als Künstler setzt, denunziert die Kunstwerke, insoweit sie Macht ausüben. »Nichts liegt Corot ferner als die Sorge dieser gewaltigen und umgetriebenen Geister, die so angstvoll sich mühten, an diesen gebrechlichen und verborgenen Punkt des Wesens heranzukommen und zu etwas von ihnen Besessenem (im diabolischen Verstand dieses Wortes) zu machen, der es auf dem Umwege über die Tiefenschichten des Organismus und die Eingeweide ganz und gar ausliefert. Sie wollen verknechten. Corot will zu dem von ihm Erfühlten hinverführen. Er denkt nicht daran, sich zum Herren über einen Sklaven zu machen. Doch hofft er, aus uns sich Freunde zu schaffen, Gefährten seines glückhaften Schauens an einem schönen Tage vom silbernen Morgen bis an die Schwelle der Nacht.« (K 76) Die Idee der unversöhnlichen Anstrengung von Kunst ist Versöhnung als ihr Ende. Fußnoten
1 Im folgenden steht W für Paul Valéry, Windstriche. Aufzeichnungen und Aphorismen, Wiesbaden 1959, und K für Paul Valéry, Über Kunst. Essays, Frankfurt a.M. 1959.
2 Vgl. Th. W. Adorno, Musik, Sprache und ihr Verhältnis im gegenwärtigen Komponieren, in: Jahresring 56/57. Ein Querschnitt durch die deutsche Literatur und Kunst der Gegenwart, Stuttgart 1956, S. 99 [GS 16, s. S. 653f.].
3 Vgl. Th. W. Adorno, Klangfiguren, Berlin, Frankfurt a. M. 1959, S. 182ff. [GS 16, s. S. 126ff.]
Kleine Proust-Kommentare Gegen kleine Kommentare zu einigen Abschnitten aus der ›Suche nach der verlorenen Zeit‹ ließe sich sagen, daß bei dem verwirrend reichen und krausen Gebilde der Leser mehr der orientierenden Überschau bedürfe, als daß er noch tiefer ins Einzelne verstrickt werden möchte, aus dem ohnehin nur schwer und mühsam der Weg zum Ganzen sich bahnen ließe. Der Einwand scheint mir der Sache nicht gerecht zu werden. An großen Übersichten fehlt es nicht länger. Das Verhältnis des Ganzen zum Detail jedoch bei Proust ist nicht das eines architektonischen Gesamtplans zu seiner Ausfüllung durchs Spezifische: eben dagegen, gegen das gewalttätig Unwahre einer subsumierenden, von oben her aufgestülpten Form hat Proust revoltiert. Wie die Gesinnung seines Werkes die herkömmlichen Vorstellungen von Allgemeinem und Besonderem herausfordert und ästhetisch ernst macht mit der Lehre aus Hegels Logik, das Besondere sei das Allgemeine und umgekehrt, beides sei durcheinander vermittelt, so kristallisiert sich das Ganze, allem abstrakten Umriß abhold, aus den ineinandergewachsenen Einzeldarstellungen. Eine jede birgt Konstellationen dessen in sich, was am Ende als Idee des Romans hervortritt. Große Musiker der Epoche, Alban Berg etwa, wußten, daß die lebendige Totale gerät nur durchs vegetabilisch wuchernde Gerank hindurch. Die produktive Kraft zur Einheit ist identisch mit dem passiven Vermögen, schrankenlos, ohne Rückhalt ans Detail sich zu verlieren. Der inneren Formzusammensetzung des Proustschen Werkes aber, das den Franzosen seiner Zeit nicht bloß um der langen und dunklen Sätze willen so deutsch dünkte, wohnt trotz seiner vorwiegend optischen Begabung, und ohne alle billige Analogie mit dem Komponieren, ein musikalischer Impuls inne. Er bewährt sich am eindringlichsten in der Paradoxie, daß der große Vorwurf, die Rettung des Vergänglichen, durch die eigene Vergängnis, die Zeit hindurch gerät. Die Dauer, der das Gebilde nachfragt, konzentriert sich in ungezählten, vielfach voneinander isolierten Augenblicken. Einmal verherrlicht Proust mittelalterliche Meister, die in ihren Kathedralen Zierate so verborgen angebracht hätten, daß sie wissen mußten, es werde nie ein Mensch sie erblicken. Die Einheit ist keine fürs menschliche Auge veranstaltete, sondern unsichtbar mitten im Zerstreuten, und erst einem göttlichen Betrachter würde sie offenbar. Im Gedanken an jene Kathedralen ist Proust zu lesen, beharrend vorm Konkreten und ohne vorwitzigen Griff nach dem, was bloß durch die tausend Facetten hindurch, nicht unmittelbar sich gibt. Darum will ich weder bloß auf vorgebliche Glanzstellen hinweisen noch eine Interpretation des Ganzen vorbringen, die noch im glücklichsten Fall bloß wiederholte, was der Autor von sich aus an Intentionen ins Werk hineintat. Sondern ich hoffe, durch Versenkung ins Bruchstück etwas von jenem Gehalt aufleuchten zu lassen, der sein Unverlierbares von nichts anderem empfängt als von der Farbe des hic et nunc. Mit solchem Verfahren glaube ich Prousts eigener Intention besser die Treue zu halten, als wenn ich sie abzudestillieren versuchte.
ZU ›IN SWANNS WELT‹, 115–123 1
Henri Bergson, Prousts Verwandter nicht nur im Geist, vergleicht in der ›Einleitung in die Metaphysik‹ die klassifizierenden Begriffe der kausal-mechanischen Wissenschaft Konfektionskleidern, welche um den Leib der Gegenstände schlotterten, während die Intuitionen, die er preist, so genau auf der Sache säßen wie Modelle der haute couture. Könnte ein wissenschaftliches oder metaphysisches Verhältnis ebenso bei Proust in einem Gleichnis aus der Sphäre der mondanité ausgesprochen sein, so hat er umgekehrt nach der Bergsonschen Formel sich gerichtet, mochte er sie kennen oder nicht. Freilich nicht durch bloße Intuition. Deren Kräfte balancieren sich in seinem Werk mit denen französischer Rationalität, einer gehörigen Portion welterfahrenen Menschenverstandes. Erst die Spannung und Zusammensetzung beider Elemente macht das Proustische Klima aus. Wohl aber ist ihm eigentümlich die Bergsonsche Allergie gegen die Konfektion des Gedankens, das vorgegebene und etablierte Cliché: unerträglich ist seinem Takt, was alle sagen; solche Empfindlichkeit ist sein Organ für die Unwahrheit, und damit für die Wahrheit. Während er in den alten Chor über gesellschaftliche Heuchelei und Unwahrhaftigkeit miteinstimmte, aber gleich jenem Chor am gesellschaftlichen Grund nirgends ausdrückliche Kritik übte, ist er dennoch gegen seinen Willen, und darum um so authentischer, zum Kritiker der Gesellschaft geworden. Er respektierte weithin ihre Normen und Inhalte; als Erzähler indessen hat er ihr Kategoriensystem suspendiert, und damit ihren Anspruch auf Selbstverständlichkeit, den Trug, sie wäre Natur, durchbrochen. Nur der wird Proust begreifen, gefeit dagegen, ihn als den verzärtelt in sich selbst Verliebten zu verkennen, der er freilich auch war, wer die ungemessene Energie des Widerstandes gegen die Meinung spürt, der tendenziell jeder Satz des Platonikers Proust abgerungen ist. Dieser Widerstand, die zweite Entfremdung der entfremdeten Welt als Mittel zu ihrer Restitution, verleiht dem Raffinierten seine Frische. Er macht ihn so untauglich zum literarischen Vorbild wie nur Kafka, denn jede Nachahmung seines Verfahrens setzte diesen Widerstand als bereits geleistet voraus, dispensierte sich von ihm und verfehlte damit vorweg, was Proust traf. Die Anekdote von jenem alten Mönch, der in der ersten Nacht nach seinem Tod einem befreundeten Ordensbruder im Traum erscheint und ihm »Alles ganz anders« zuflüstert, könnte Prousts Recherche zur Maxime dienen, als einem corpus von Recherchen darüber, wie es denn nun im Gegensatz zu dem, worin alle einig sind, wirklich gewesen sei: der ganze Roman ist ein einziger Revisionsprozeß des Lebens gegen das Leben. Die Episode von der Entzweiung mit dem bewunderten Onkel Adolf enthüllt am Schluß die völlige Disparatheit von subjektiven Motiven und objektiv Geschehendem. Die Kokotte aber, die ohne Schuld das Unheil auslöst, bleibt trotz jenes Bruchs dem Roman unverloren. Sie wird als Odette Swann eine seiner Hauptfiguren und bringt es zu den größten gesellschaftlichen Ehren, so wie der Sohn des Kammerdieners jenes Onkels, Morel, Tausende von Seiten später den Sturz des hochmögenden Barons Charlus herbeiführt. In Prousts Werk ist eine der sonderbarsten Erfahrungen aufgefangen, eine, die jeglicher Verallgemeinerung sich zu entziehen scheint und darum im Sinne der Recherche das Urbild wahrer Allgemeinheit ist: daß die Menschen, mit denen wir im Leben entscheidend zu tun haben, wie von einem unbekannten Autor designiert und abgezählt auftreten, als hätten wir sie an dieser und keiner anderen Stelle erwartet; und daß sie, auch aufgeteilt zwischen mehrere Personen, uns immer wieder begegnen. Diese Erfahrung aber läuft wohl darauf hinaus, daß gegen ihr Ende die liberale Gesellschaft, die sich noch als offene verkennt, nach Bergsons Begriffen zu einer geschlossenen wird, einem System prästabilierter Disharmonie.
ZU ›IN SWANNS WELT‹, 259–265 ZU ›DIE WELT DER GUERMANTES‹, 37–39; 113–114
Unter den verhärteten Vorstellungen, welche das allgemeine Bewußtsein wie einen Besitz hütet und welche Prousts Eigensinn, der eines Kindes, das es sich nicht ausreden läßt, zerstört, ist die wichtigste vielleicht die von der Einheit und Ganzheit der Person. An kaum einer Stelle speichert sein Werk so heilsames Gegengift gegen falsche Heiltümer von heutzutage auf als an dieser. Die Vormacht der Zeit holt ästhetisch den von Hume abgeleiteten Satz Ernst Machs ein, das Ich sei nicht zu retten; aber haben jene es nur als Einheitsprinzip der Erkenntnis verworfen, so präsentiert er dem vollen empirischen Ich die Rechnung seiner Nichtidentität. Der Geist jedoch, in dem das geschieht, ist dem des Positivismus nicht nur verwandt sondern auch entgegengesetzt. Wohl führt Proust konkret durch, was die Poetik sonst nur als formale Forderung aufstellt, die Entwicklung der Charaktere, und dabei zeigt sich, daß die Charaktere keine sind; eine Hinfälligkeit des Festen, die vom Tod ratifiziert, keineswegs aber erst hervorgebracht wird. Diese Auflösung jedoch ist gar nicht so sehr psychologisch als eine Flucht der Bilder. Mit ihr greift Prousts psychologisches Werk die Psychologie selber an. Was an den Menschen sich ändert, entfremdet wird bis zur Unkenntlichkeit, und wie in musikalischer Reprise wiederkehrt, sind die imagines, in die wir sie versetzen. Proust weiß, daß es ein An sich der Menschen, jenseits dieser Bilderwelt, nicht gibt; daß das Individuum eine Abstraktion ist, daß sein Fürsichsein allein so wenig Wirklichkeit hat wie sein bloßes Fürunssein, wie es dem vulgären Vorurteil für Schein gilt. Das unendlich komplexe Gefüge des Romans ist unter diesem Aspekt der Versuch, durch eine Totalität, welche Psychologie, Beziehungen zwischen Personen, und Psychologie des intelligiblen Charakters, also Verwandlung der Bilder, zusammennimmt, jene Wirklichkeit zu rekonstruieren, die durch jeglichen aufs bloß tatsächlich Psychologische oder Soziologische gerichteten Blick um dessen Vereinzelung willen nicht zu gewinnen wäre. Auch darin ist sein Werk das Ende des neunzehnten Jahrhunderts, das letzte Panorama. Die oberste Wahrheit aber sieht Proust in den Bildern der Menschen, die über ihnen sind, jenseits ihres Wesens und jenseits ihres zum Wesen selber gehörigen Erscheinens. Der Entwicklungsprozeß des Romans ist die Beschreibung der Bahn dieser Bilder. Sie hat Stationen wie die drei Stellen, die sich auf Oriane Guermantes beziehen; die erste Konfrontation ihres Bildes mit der Empirie in der Kirche von Combray, dann ihre Wiederentdeckung und Modifikation, als die Familie des Erzählers im Pariser Haus der Herzogin, in ihrer unmittelbaren Nähe wohnt, schließlich das Erstarren ihres Bildes in der Photographie, die der Erzähler bei seinem Freund Saint-Loup bemerkt.
ZU ›DIE WELT DER GUERMANTES‹, 54–56
Eine von den Formulierungen, die zur Charakteristik Prousts taugen, könnte in seinem wie ein Spiegelsaal in sich reflektierten Werk ganz wohl selber stehen. Es ist die, daß der 1871 Geborene die Welt bereits mit den Augen der dreißig oder fünfzig Jahre Jüngeren sah; daß er also, auf einer neuen Stufe der Romanform, auch die einer neuen Weise von Erfahrung repräsentiere. Das setzt sein mit so vielen Modellen aus der französischen Tradition, etwa den Memoiren des Herzogs von Saint-Simon und der Comédie humaine Balzacs spielendes Werk in die unmittelbare Nähe einer traditionsfeindlichen Bewegung, deren Anfänge er eben noch miterlebte, des Surrealismus. Diese Affinität beschließt Prousts Moderne in sich. Ihm wird das Zeitgenössische mythisch wie für Joyce. Surrealistische Störungsaktionen, wie die Dalis, der eine Abendgesellschaft im Taucheranzug besuchte, hätten, als Metapher verbrämt, durchaus ihren Ort in einer Beschreibung wie der der großen Soirée der Princesse de Guermantes in ›Sodom und Gomorra‹. Prousts mythologisierender Zug will aber keine Reduktion des Gegenwärtigen aufs Uralte und sich Gleichbleibende; ganz gewiß zeitigt ihn keine Gier nach psychologischen Archetypen. Sondern er ist surrealistisch insofern, als er mythische Bilder der Moderne entlockt, wo sie am modernsten ist; darin verwandt der Philosophie Walter Benjamins, seines ersten großen Übersetzers. Im Guermantes-Teil wird ein Theaterabend beschrieben. Der von einem Publikum in großer Toilette besuchte Zuschauerraum verwandelt sich in eine Art jonischer Seelandschaft, ja ähnelt sich dem Unterwasserreich maritimer Naturgottheiten an. Der Erzähler selbst aber spricht davon, daß »Gestalten der Meeresungeheuer«, mythische Bilder sich fügen einzig nach den Gesetzen der Optik und dem jeweiligen Einfallswinkel – – also einer dem Bewußtsein äußerlichen, naturwissenschaftlichen Notwendigkeit gehorchend. Was wir um uns erblicken, blickt vieldeutig, rätselhaft auf uns zurück, weil wir in nichts das Erblickte mehr als Unseresgleichen wahrnehmen: Proust redet von »den Mineralien und Leuten, zu denen wir keine Beziehung haben«. Die gesellschaftliche Entfremdung der Menschen voneinander in der hochliberalen bürgerlichen Gesellschaft, wie sie im Theater sich zur Schau stellte und genoß; die Entzauberung der Welt, welche den Menschen Dinge und Menschen zu bloßen Dingen werden ließ, verleiht dem Unverständlichen zweite Bedeutung. Daß sie wahnhaft sei, daran erinnert Proust mit der Wendung, wir zweifelten in solchen Augenblicken an unserem Verstande. Dennoch ist sie Wahrheit. Durch die vollendete Entfremdung hindurch enthüllt sich das gesellschaftliche Verhältnis als blind naturwüchsiges, so wie die mythische Landschaft es war, zu deren allegorischem Bild das Unerreichbare und Unansprechbare gerinnt; und die Schönheit, welche die Dinge in solchen Beschreibungen annehmen, ist die hoffnungslose ihres Scheinens. Im geschichtlichen Einstand drücken sie die Naturverfallenheit von Geschichte aus.
ZU ›DIE WELT DER GUERMANTES‹, 56–59
Die Beschreibung des Theaters als vorweltlich mediterraner Landschaft leitet einige Seiten über die Prinzessin von Guermantes-Bayern ein, welche, dank jener Beschreibung, als Große Göttin eingeführt werden kann. Was von ihr gesagt wird und von der Wirkung, die sie auf die Anwesenden ausübt, ist ein Exempel jener durchs ganze Werk hindurch verstreuten Passagen, die unsympathische Leute veranlassen, über Prousts Snobismus zu zetern, und die den Schwachsinn des mittleren Fortschritts herausfordern, der fragt, warum man für eine schon zu Prousts Zeiten ihrer realen Funktion enteignete und statistisch keineswegs repräsentative Hocharistokratie sich interessieren solle. Auch André Gide, der von Haus aus in gewissem Sinn gesellschaftlich mehr dazugehörte als Proust, scheint zunächst an den Proustschen Prinzessinen sich geärgert zu haben, und noch André Maurois, dessen Buch in manchen subtilen Details über die Vermittlersphäre hinausweist, aus der es stammt, weiß vom Snobismus als einer Gefahr Prousts zu melden, die er überwunden habe. Statt dessen stünde es an, Proust gegenüber nach dem Satz von Hofmannsthal zu verfahren, der eine ihm vorgeworfene Schwäche lieber gut erklären wollte als verleugnen. Denn daß Proust selber von seinem Swann sich imponieren ließ, weil dieser, wie der Erzähler nicht müde wird zu wiederholen, tatsächlich dem Jockeyklub angehörte und als Sohn eines Börsenmaklers in der großen Gesellschaft reçu war, ist so offenbar, daß Proust es darauf angelegt haben muß, die eigene provokatorische Neigung hervorzukehren. Man wird aber ihrem Sinn am ehesten auf die Spur kommen, wenn man der Provokation folgt. Snobismus, so wie der Begriff Prousts Recherche durchherrscht, ist die erotische Besetzung gesellschaftlicher Tatbestände. Darum verletzt er ein gesellschaftliches Tabu, das an dem gerächt wird, der auf die heikle Sache zu sprechen kommt. Bekennt der Antipode des Snobs, der Zuhälter, durch seinen Beruf die Verflochtenheit des Sexus mit dem Erwerb ein, welche die bürgerliche Gesellschaft zudeckt, so demonstriert umgekehrt der Snob, was nicht minder allgemein gilt, die Ablenkung der Liebe von der Unmittelbarkeit der Person auf die sozialen Verhältnisse. Der Zuhälter vergesellschaftet den Sexus, der Snob sexualisiert die Gesellschaft. Gerade weil diese die Liebe eigentlich nicht duldet, sondern dem Reich ihrer Zwecke unterwirft, wacht sie wütend darüber, daß Liebe mit ihr nichts zu tun habe, daß diese Natur, reine Unmittelbarkeit sei. Der Snob verschmäht die approbierte Neigungseinheirat, aber verliebt sich in die hierarchische Ordnung selbst, die ihm die Liebe austreibt und die solche Gegenliebe schlechterdings nicht ertragen kann. Er läßt die Katze aus dem Sack, der dann das Proustsche oeuvre die Schelle anhängt: nicht umsonst wird ihm, wie vor vierzig Jahren Carl Sternheim, automatisch der Vorwurf gemacht, daß er als Kritiker des Snobismus jenem von ihm übrigens harmlos genannten Laster verfallen gewesen sei, während doch bloß der dem gesellschaftlichen Verhältnis die eigene Melodie vorzuspielen vermag, der ihm idiosynkratisch verfallen war, anstatt mit der Rancune des Ausgeschlossenen es zu verleugnen. Was ihm aber an den vorgeblich überflüssigen Luxusexistenzen aufging, rechtfertigt seine Vernarrtheit. Dem Hingerissenen wird die gesellschaftliche Ordnung ins Märchenbild transfiguriert wie einmal die Geliebte dem wahren Liebenden. Den Proustschen Snobismus entsühnt, was ihm die Instinkte der nivellierten Mittelstandsgesellschaft insgeheim vorwerfen: daß die angebeteten Erzengel und Mächte kein Schwert mehr haben, selbst schutzlose Nachbilder ihrer liquidierten Vergangenheit wurden. Wie jede Liebe möchte der Snobismus aus der Verstrickung bürgerlicher Verhältnisse hinaus in eine Welt, die nicht länger durch universale Nützlichkeit übertüncht, daß sie die Bedürfnisse der Menschen nur akzidentell befriedigt. Prousts Regression ist ein Stück Utopie. Wie die Liebe scheitert er daran, aber im Scheitern denunziert er die Gesellschaft, die befiehlt, daß es nicht sein soll. Jene Unmöglichkeit der Liebe, die er an seinen society-Leuten, allen voran an der eigentlichen Zentralfigur der Recherche, dem Baron Charlus, darstellte, dem am Ende nur noch ein Zuhälter die Freundschaft wahrt, hat sich unterdessen als Kältetod über die gesamte Gesellschaft ausgebreitet, in der die Totalität des Funktionierens selbstvergessene Liebe, wo sie sich noch regt, erstickt. Darin war Proust, was er einmal den Juden zuschreibt, prophetisch. Demütig hat er um die Gunst von Stockreaktionären wie Gaston Calmette und Léon Daudet geworben; aber einer, der an gewissen Tagen das Monokel trug, hieß Karl Marx.
ZU ›IM SCHATTEN JUNGER MÄDCHENBLÜTE‹, 475–478
Baron de Charlus ist der Bruder des Herzogs von Guermantes. Die Szene seines ersten Auftritts bezeugt das Verhältnis Prousts zur französischen Décadence, die er verkörpert zugleich und unter sich läßt, indem sein Werk sie geschichtlich beim Namen ruft. Ein berühmter Roman aus jener Epoche heißt A Rebours, Gegen den Strich: Proust hat die Erfahrung gegen den Strich gekämmt. Aber das »Alles ganz anders« bliebe geschlagen mit der Ohnmacht des Aparten, wäre nicht seine Kraft auch die des »So ist es«. Aufmerksam machen möchte ich auf Prousts Bemerkung, daß manche Leute einen Laut ausstoßen, als wäre es ihnen übermäßig schwül, ohne daß sie doch so empfänden. Ihre Evidenz kommt ihrer Abseitigkeit gleich. Das schlechte Allgemeine zersetzt sich unter Prousts süchtigem Blick, aber was für zufällig gilt, gewinnt dafür eine quere, irrationale Allgemeinheit. Einem jeden, der überhaupt die Voraussetzungen zur Lektüre Prousts mitbringt, wird es vielerorten zumute sein, als wäre es ihm so, eben so ergangen. Mit der Tradition des großen Romans teilt Proust die vom jungen Lukács herausgearbeitete Kategorie des Kontingenten. Er schildert das sinnverlassene, vom Subjekt her nicht als Kosmos zu rundende Leben. Trotzdem aber ist seiner Beharrlichkeit, welche die der Romanciers des neunzehnten Jahrhunderts übertrifft, der Zufall nicht gänzlich sinnverlassen. Er führt einen Schein von Notwendigkeit mit sich: als wäre doch ins Dasein, wirr, äffend, geisternd in seinen dissoziierten Bruchstücken, ein Bezug auf Sinn eingesprengt. Diese Konstellation einer bloß negativ zu spürenden Notwendigkeit in dem ganz Zufälligen – auch sie vorweisend auf Kafka – reißt das besessen individuierte Werk Prousts hoch über die eigene Individuation: in deren Kern legt er das Allgemeine frei, durch das sie vermittelt ist. Solche Allgemeinheit aber ist die des Negativen. Proust hat, wie seine Antipoden, die Naturalisten vor ihm, mit der entlegensten Beobachtung Recht, aber dies Recht ist das der Desillusion und verweigert jeden tröstlichen Zuspruch. Er gibt, wo er nimmt: wo er Recht hat, ist Schmerz. Sein Medium ist der Verfolgungswahn, dem Prousts Triebstruktur nahe verwandt war und der auch in der Physiognomik seines Charlus nicht fehlt. Der hinter sich die Brücken abbrach, besetzt das Sinnlose mit Sinn und Bedeutung, aber gerade sein Wahn reicht an das heran, was die Welt gemacht hat aus sich und aus uns.
ZU ›DIE GEFANGENE‹ 101–104
Der fünfte Band der Recherche, Die Gefangene, ist, wie schon der zweite Teil des ersten, eine Darstellung der Eifersucht. Der Erzähler hat Albertine zu sich genommen, mißtraut all ihren Worten und Handlungen und hält sie unter einer Kontrolle, der sie sich schließlich durch die Flucht entzieht; danach erleidet sie einen tödlichen Unglücksfall. Nicht müde wird der Autor zu versichern, daß er, während er alle Qualen um Albertine auskostet, sie schon gar nicht mehr liebe. Liebe und Eifersucht sind nicht so miteinander verbunden, wie die gängige Vorstellung es möchte. Eifersucht pocht allemal auf ein Besitzverhältnis, das die Geliebte zum Ding macht, und frevelt so gegen die Spontaneität, an der Liebe ihre Idee hat. Aber Prousts Eifersucht ist nicht bloß der ohnmächtige Versuch, die Flüchtige festzuhalten, die er liebt um ihrer Flüchtigkeit, um des nie ganz zu Haltenden willen. Sondern es möchte diese Eifersucht, wie Proust das Leben, Liebe wiederherstellen. Das gelingt ihr aber nur um den Preis der Individuation der Geliebten. Sie muß, um unbeschädigt zu sein von der eigenen Lüge, in Natur sich zurückverwandeln, ins Gattungswesen. Indem sie ihre psychologische Individualität einbüßt, empfängt sie jene andere und bessere, der Liebe gilt, die des Bildes, das jeder Mensch verkörpert und das ihm selber so fremd ist wie, der Kabbala zufolge, der mystische Name dem, der ihn trägt. Das geschieht im Schlaf. In ihm legt Albertine ab, wodurch sie nach der Ordnung der Welt zum Charakter wird. Sich lösend ins Amorphe, gewinnt sie die Gestalt ihres unsterblichen Teils, an welche Liebe sich heftet: die blickloser, bilderloser Schönheit. Es ist, als wäre die Beschreibung von Albertines Schlaf die Exegese des Baudelaireschen Verses von der, welche die Nacht schön macht. Diese Schönheit gewährt, was das Dasein verweigert, Geborgenheit, aber im Verlorenen. Die arme, hinfällige, verwirrte Liebe findet Unterschlupf, wo die Geliebte dem Tode sich anähnelt. Seit dem zweiten Akt des Tristan ist, im Zeitalter des Verfalls von Liebe, diese nicht inniger verherrlicht worden als in der Beschreibung von Albertines Schlaf, die mit erhabener Ironie den Erzähler Lügen straft, der seine Liebe verleugnet.
ZU ›DIE GEFANGENE‹, 276–278
Von den letzten Dingen ist nicht unmittelbar mehr zu reden. Das ohnmächtige Wort, das sie selber nennt, schwächt sie selbst; Naivetät sowohl wie trotzige Unbekümmertheit im Ausdruck metaphysischer Ideen verrät deren Mangel an Verbürgtheit. Aber Prousts Geist war metaphysisch ganz und gar inmitten einer Welt, welche die Sprache von Metaphysik verbietet: diese Spannung bewegt sein gesamtes Werk. Einmal nur, in der Gefangenen, öffnet er einen Spalt, so hastig, daß das Auge keine Zeit hat, an solches Licht sich zu gewöhnen. Selbst das Wort, das er findet, läßt nicht beim Wort sich nehmen. Hier, in der Darstellung des Todes Bergottes, findet wirklich sich ein Satz, dessen Ton zumindest in der deutschen Version an Kafka anklingt. Er lautet: »Der Gedanke, Bergotte sei nicht für alle Zeiten tot, ist demnach nicht völlig unglaubhaft.« Die Reflexion, die darauf führt, ist die, daß die moralische Kraft des Dichters, dem er das Epitaph schreibt, einer anderen Ordnung als der natürlichen angehöre und darum verheiße, diese sei nicht die letzte. Vergleichbar wäre diese Erfahrung der an großen Kunstwerken: daß ihr Gehalt unmöglich nicht wahr sein könne; daß ihr Gelingen und ihre Authentizität selber auf die Realität dessen verwiesen, wofür sie einstehen. Tatsächlich möchte man die Stellung der Kunst im Proustschen Werk, sein Vertrauen in die objektive Macht von dessen Gelingen, mit jenem Gedanken zusammenbringen, dem letzten, blassen, säkularisierten und dennoch unauslöschlichen Schatten des ontologischen Gottesbeweises. Der, an dessen Tod im Werke Prousts einzig die Hoffnung sich knüpft, ist nicht nur der Zeuge von »Güte und Gewissenhaftigkeit«, sondern selber ein großer Schriftsteller. Sein Modell war Anatole France. Erinnerung ans ewige Leben entzündet sich an dem Voltairianischen Skeptiker: Aufklärung, der Prozeß von Entmythologisierung soll umschlagend die ihrer selbst eingedenkende Natur hinausführen über den eigenen Zusammenhang. Authentisch ist das Proustsche Werk, weil seine auf Rettung abzielende Intention frei ist von aller Apologie, allem Versuch, irgendeinem Seienden Recht zu geben, irgend Dauer zu verheißen. Aus non confundar hofft er in der schutzlosen Preisgabe an den Zusammenhang von Natur; der Rest ist ihm noch einmal, mit dem äußersten Hintersinn, Schweigen. Darum wird Zeit, die Macht von Vergängnis selber, die oberste Wesenheit, zu der Prousts Werk, in seinen tausend Brechungen auch ein Roman philosophique wie die Voltaireschen und die Franceschen, aufblickt. Sein Gehalt ist dem theologischen so viel näher als der der Lehre Bergsons, wie er ferner sich hält von jeglicher Positivität. Die Idee von Unsterblichkeit wird nur geduldet an dem, was selber, wie er wohl wußte, vergänglich ist, den Werken als den letzten Gleichnissen von Offenbarung in der wahren Sprache. So träumt an einer späteren Stelle Proust in der Nacht, nachdem sein erstes Feuilleton im Figaro erschien, von Bergotte, als wäre er noch am Leben – als erhöbe das gedruckte Wort Einspruch gegen den Tod, bis der erwachende Dichter der Vergeblichkeit noch dieses Trostes innewird. Jede Interpretation der Stelle bleibt hinter ihr zurück; nicht, wie das Cliché es will, weil ihre künstlerische Würde höher stünde als der Gedanke, sondern weil sie selbst an der Grenze angesiedelt ist, auf die auch der Gedanke stößt. Fußnoten
1 Die Seitenangaben beziehen sich auf die siebenbändige, 1953 bis 1957 zuerst erschienene Ausgabe der Übersetzung von Eva Rechel-Mertens (Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M., und Rascher Verlag, Zürich).
Wörter aus der Fremde Für Gertrud von Holzhausen
Zum ersten Male seit meiner Jugend haben mich Protestbriefe wegen des angeblich übertriebenen Gebrauchs von Fremdwörtern nach der Radiosendung der Kleinen Proust-Kommentare erreicht. Ich sah das Gesprochene daraufhin durch und fand gar keinen besonderen Aufwand an Fremdwörtern darin, es sei denn, man hätte mir einige französische Ausdrücke verübelt, die der französische Gegenstand nahe genug gelegt hatte. So kann ich mir die empörten Zuschriften zunächst kaum anders erklären als durch den Gegensatz zwischen dichterischen Texten und ihrer Auslegung. Angesichts großer darstellender Prosa nimmt wohl leicht deren Deutung die Farbe des Fremdworts an. Fremd mochten eher die Sätze klingen als das Vokabular. Versuche der Formulierung, die, um die gemeinte Sache genau zu treffen, gegen das übliche Sprachgeplätscher schwimmen und gar sich bemühen, verzweigtere gedankliche Zusammenhänge getreu im Gefüge der Syntax aufzufangen, erregen durch die Anstrengung, die sie zumuten, Wut. Der sprachlich Naive schreibt das Befremdende daran den Fremdwörtern zu, die er überall dort verantwortlich macht, wo er etwas nicht versteht; auch wo er die Wörter ganz gut kennt. Schließlich geht es vielfach um die Abwehr von Gedanken, die den Wörtern zugeschoben werden: der Sack wird geschlagen, wo der Esel gemeint ist. In Amerika habe ich einmal darauf die Probe gemacht, als ich in einer Emigrantenorganisation, der ich angehörte, einen unbequemen Vortrag hielt, in dem ich vorsorglich jedes Fremdwort ausgemerzt hatte. Dennoch begegnete er genau dem gleichen Widerstand, auf den ich jetzt wieder in Deutschland getroffen bin. Solche Erfahrung geht bis auf meine Kindheit zurück, als mich in der Trambahn, wo ich mich auf dem Schulweg mit einem Kameraden harmlos unterhielt, der alte Dreibus, ein Nachbar aus unserer Straße, wütend anfuhr: Du verdammter Lausbub, hör auf mit deim Hochdeutsch und lern erst einmal richtig deutsch sprechen. Der Schreck, den Herr Dreibus mir zufügte, wurde kaum gemildert, als er nicht lange danach gänzlich betrunken auf einem Schubkarren nach Hause gefahren wurde, wohl auch wenig später verstarb. Er hatte mich zum ersten Male gelehrt, was Rancune sei, eine Sache, für die es kein rechtes einheimisches Wort gibt, es sei denn, man verwechselte sie mit dem heute in Deutschland so fatal beliebten Ressentiment, das doch ebenfalls von Nietzsche nicht erfunden, sondern importiert wurde. Kurz, der Zorn über die Fremdwörter erklärt sich zunächst aus dem Seelenzustand der Zornigen, denen irgendwelche Trauben zu hoch hängen. Nun will ich mich nicht besser machen, als ich war. Wenn wir, mein Freund Erich und ich, auf dem Gymnasium mit einiger Freude Fremdwörter verwandten, so verhielten wir uns dabei schon als bevorrechtigte Traubenbesitzer. Ob dieses Verhalten der Rancune vorausging oder umgekehrt, wäre heute nur schwer auszumachen; beides paßte jedenfalls recht genau ineinander. Zelotentum oder Paränese anzubringen, war darum so lustvoll, weil wir fühlten, daß einige der Herren, denen wir zu unserer Erziehung während des Ersten Krieges überantwortet waren, nicht so recht wußten, was das sei. Zwar konnten sie uns mit roten Strichen ermahnen, überflüssige Fremdwörter zu meiden, sonst aber uns so wenig Schlimmes zufügen wie damals, als Erich in einem Hausaufsatz »Meine Sommerferien, Brief an einen Freund« die Anrede »Lieber Habakuk« wählte, während ich, vorsichtiger und gesetzter, aber ebensowenig willens, den Namen meines wirklichen Freundes dem Oberlehrer preiszugeben, über meinen Aufsatz zum gleichen Thema das altkluge »Lieber Freund« setzte. Ich will nicht leugnen, daß ich zuweilen dem bösen Beispiel einer hochbetagten Großtante folgte, von der die Familienchronik berichtete, sie habe als Kind in ihrem französischen Diktionär nachgeschlagen, was die Backmulde auf französisch heiße, dann ihren armen Hauslehrer eben danach gefragt, und als er die Antwort schuldig blieb, hämisch triumphierend geantwortet: ätsch, ätsch, ätsch, la huche. Trotz dieses finsteren Ahnenerbes jedoch fühlten wir uns als Rächer Hanno Buddenbrooks und meinten, in unseren aparten Fremdwörtern den unabkömmlichen Patrioten Pfeile entgegenzuschleudern aus unserem geheimen Königreich, das weder vom Westerwald erreicht werden konnte, noch auf andere Art, wie jene es zu nennen liebten, eingedeutscht. Unser Instinkt war nicht einmal so schlecht. Die Fremdwörter bildeten winzige Zellen des Widerstands gegen den Nationalismus im Ersten Krieg. Der Druck der vorschriftsmäßigen Gesinnung drängte den Widerstand ins Abseitige und Gefahrlose, aber in großen Zeiten gewinnen oft derlei an sich gleichgültige Gebärden unverhältnismäßige symbolische Bedeutung. Daß wir jedoch dabei gerade an die Fremdwörter gerieten, rührte kaum von politischen Erwägungen her. Sondern wie, zumindest für den Typus des ausdrucksfähigen Menschen, die Sprache in ihren Wörtern erotisch besetzt ist, so treibt Liebe zu den Fremdwörtern. Die Empörung über deren Gebrauch entzündet sich in Wahrheit an jener Liebe. Der frühe Drang zu den Wörtern aus der Fremde ähnelt dem zu ausländischen, womöglich exotischen Mädchen; es lockt eine Art Exogamie der Sprache, die aus dem Umkreis des Immergleichen, dem Bann dessen, was man ohnehin ist und kennt, heraus möchte. Fremdwörter ließen damals erröten wie die Nennung eines verschwiegen geliebten Namens. Diese Regung ist Volksgemeinschaften, die sich auch in der Sprache das Eintopfgericht wünschen, verhaßt. Erst in dieser Schicht entspringt die affektive Spannung, die den Fremdwörtern jenes Fruchtbare und Gefährliche leiht, von dem ihre Freunde sich verführen lassen und das ihre Feinde besser ahnen als die Indifferenten. Diese Spannung scheint aber dem Deutschen eigentümlich zu sein, wie es denn zu den stereotypen, wenngleich kaum ganz aufrichtig gemeinten Vorwürfen des deutschen Nationalismus gegen den deutschen Geist rechnet, daß er vom Ausländischen gar zu servil sich beeindrucken lasse. Daß Zivilisation als Latinisierung in Deutschland nur halb gelang, bezeugt auch die Sprache. Im Französischen, wo das gallische und das römische Element so frühzeitig und gründlich sich durchdrangen, fehlt das Bewußtsein von Fremdwörtern wohl ganz; in England, wo die sächsische und die normannische Sprachschicht sich übereinander schoben, gibt es zwar eine Tendenz zur sprachlichen Verdopplung, in der die sächsischen Elemente den altertümlich-konkreten, die lateinischen den zivilisatorisch-modernen Charakter vertreten, aber die letzteren sind viel zu ausgebreitet, sind zudem auch viel zu sehr Male eines historischen Sieges, als daß sie von anderen denn ausgepichten Romantikern irgend als fremdartig empfunden würden. In Deutschland dagegen, wo die lateinisch-zivilisatorischen Bestandteile nicht mit der älteren Volkssprache verschmolzen, sondern durch Gelehrtenbildung und höfische Sitte eher von jener abgegrenzt wurden, stechen die Fremdwörter unassimiliert heraus und bieten dem Schriftsteller, der sie mit Bedacht wählt, so sich dar, wie Benjamin es beschrieb, als er von der silbernen Rippe eines Fremdworts sprach, das der Autor in den Sprachleib einsetzt. Dabei ist freilich, was unorganisch scheint, in Wahrheit selber nur geschichtliches Zeugnis, das des Mißlingens jener Vereinheitlichung. Solche Disparatheit bedeutet nicht nur in der Sprache Leiden zugleich und den von Hebbel so genannten »Riß zur Schöpfung«, sondern auch in der Wirklichkeit; man mag unter diesem Aspekt den Nationalsozialismus als den gewalttätigen, verspäteten und dadurch vergifteten Versuch erblicken, die versäumte bürgerliche Integration Deutschlands nachträglich zu erzwingen. Keine Sprache, auch die alte Volkssprache nicht, ist, wozu restaurative Lehren sie machen möchten, ein Organisches, Naturhaftes; aber in jedem Sieg eines zivilisatorisch fortgeschrittenen sprachlichen Elements schlägt etwas vom Unrecht sich nieder, das dem Älteren und Schwächeren angetan ward. Das fühlte Karl Kraus, als er einem wegrationalisierten Laut die Elegie schrieb. Die westlichen Sprachen haben jenes Unrecht gemildert, etwa wie politisch der englische Imperialismus mit den unterworfenen Völkern verfuhr. Ausgleich als Schonung des Unterjochten definiert überhaupt wohl Kultur im prägnanten Sinn; in Deutschland jedoch ist es zu diesem Ausgleich nicht gekommen, eben weil das römisch-rationale Prinzip nie unangefochten zur Herrschaft gelangte. Daran erinnern im Deutschen die Fremdwörter: daß keine pax romana geschlossen ward, daß das Ungebändigte überlebte, ebenso wie daran, daß der Humanismus, wo er die Zügel ergriff, nicht als die Substanz der Menschen selber erfahren wurde, die er meinte, sondern als ein Unversöhntes und ihnen Auferlegtes. Insofern ist das Deutsche weniger und mehr als die westlichen Sprachen; weniger durch jenes Brüchige, Ungehobelte und darum dem einzelnen Schriftsteller so wenig Sicheres Vorgebende, wie es in älteren neuhochdeutschen Texten so kraß hervortritt und heute noch im Verhältnis der Fremdwörter zu ihrer Umgebung; mehr, weil die Sprache nicht gänzlich vom Netz der Vergesellschaftung und Kommunikation eingefangen ist. Sie taugt darum zum Ausdruck, weil sie ihn nicht vorweg garantiert. Zu diesem Sachverhalt stimmt es, daß in kulturell geschlosseneren Bereichen der deutschen Sprache, wie dem Wienerischen, wo vorbürgerlichhöfische, elitäre Züge durch Kirche und Aufklärung mit der Volkssprache vermittelt sind, die Fremdwörter, von denen dieser Dialekt wimmelt, jenes exterritorialen und aggressiven Wesens entraten, das ihnen sonst im Deutschen eignet. Man braucht nur einmal von einem Portier etwas von einem rekommendierten Brief gehört zu haben, um des Unterschieds innezuwerden, einer sprachlichen Atmosphäre, in der das Fremde fremd ist und zugleich vertraut, so wie im Gespräch jener beiden Grafen über Hofmannsthals Schwierigen, in dem der eine beanstandet, »er läßt uns doch gar zu viele Worte auf -ieren sagen«, worauf der andere antwortet: »Ja, da hätt' er sich schon ein bisserl menagieren können.« Keine solche Versöhnung ist im Deutschen gelungen, keine kann durch den individuellen Willen des Schriftstellers herbeigeführt werden. Dafür jedoch vermag er die Spannung zwischen Fremdwort und Sprache, indem er sie in die eigene Reflexion und die eigene Technik einbezieht, sich zunutze zu machen. Das konformistische Moment der Sprache, den trüben Strom, in dem die spezifische Absicht des Ausdrucks ertrinkt, vermag er durchs Fremdwort helfend zu unterbrechen. Seine Härte und Konturiertheit, eben das, was es aus dem Sprachkontinuum hinaushebt, taugt dazu, was vorschwebt und was von der schlechten Allgemeinheit des Sprachgebrauchs zugedeckt wird, genau hervorzutreiben. Mehr noch. Die Diskrepanz zwischen Fremdwort und Sprache kann in den Dienst des Ausdrucks der Wahrheit treten. Sprache hat teil an der Verdinglichung, der Trennung von Sache und Gedanken. Der übliche Klang des Natürlichen betrügt darüber. Er erweckt die Illusion, es wäre, was geredet wird, unmittelbar das Gemeinte. Das Fremdwort mahnt kraß daran, daß alle wirkliche Sprache etwas von der Spielmarke hat, indem es sich selber als Spielmarke einbekennt. Es macht sich zum Sündenbock der Sprache, zum Träger der Dissonanz, die von ihr zu gestalten ist, nicht zuzuschmücken. Wogegen man sich beim Fremdwort sträubt, ist nicht zuletzt, daß es an den Tag bringt, wie es um alle Wörter steht: daß die Sprache die Sprechenden nochmals einsperrt; daß sie als deren eigenes Medium eigentlich mißlang. Die Probe darauf läßt sich an gewissen Neologismen machen, deutschen Ausdrücken, die, der Schimäre des Urtümlichen zuliebe, anstelle von Fremdwörtern erfunden werden. Stets klingen sie fremder und gewaltsamer als die ehrlichen Fremdwörter selber. Diesen gegenüber nehmen sie etwas Verlogenes an, einen Anspruch der Identität von Rede und Gegenstand, der doch durch das allgemeinbegriffliche Wesen jeglicher Rede widerlegt wird. An den Fremdwörtern erweist sich die Unmöglichkeit von Sprachontologie: noch den Begriffen, die sich geben, als wären sie der Ursprung selber, halten sie ihr Vermitteltsein vor, das Moment des subjektiv Gemachten, der Willkür. Terminologie, als Inbegriff der Fremdwörter in den einzelnen Disziplinen, zumal in der Philosophie, ist nicht nur dinghafte Verhärtung sondern zugleich auch deren Gegenteil, die Kritik des Anspruchs der Begriffe, sie seien an sich, während ihnen durch Sprache selber ein Festgesetztes, das auch anders sein könnte, einbeschrieben ist. Die Terminologie vernichtet den Schein der Naturwüchsigkeit in der geschichtlichen Sprache, und darum neigt die restaurative ontologische Philosophie, die ihre Worte als absolutes Sein unterschieben möchte, in besonderem Maß dazu, die Fremdwörter auszumerzen. In jedem Fremdwort steckt der Sprengstoff von Aufklärung, in seinem kontrollierten Gebrauch das Wissen, daß Unmittelbares nicht unmittelbar zu sagen, sondern nur durch alle Reflexion und Vermittlung hindurch noch auszudrücken sei. Nirgends bewähren die Fremdwörter im Deutschen sich besser als gegenüber dem Jargon der Eigentlichkeit, jenen Termini vom Schlag des Auftrags, der Begegnung, der Aussage, des Anliegens, und wie sie sonst heißen mögen. Sie alle möchten darüber täuschen, daß sie Termini sind. Sie vibrieren menschlich wie die Wurlitzer-Orgeln, denen das Vibrato der Stimme technisch eingelegt ist. Fremdwörter aber demaskieren jene Wörter, indem erst, was aus dem Jargon der Eigentlichkeit ins Fremdwort zurückübersetzt wird, das bedeutet, was es bedeutet. An Fremdwörtern läßt sich lernen, daß die Sprache nicht länger als Nachahmung der Natur von der Spezialisierung heilen kann, sondern nur indem sie die Spezialisierung auf sich nimmt. Unter den deutschen Schriftstellern hat Gottfried Benn wohl als erster dies Element der Fremdwörter, das szientifische, als literarisches Kunstmittel gebraucht. Aber gerade dagegen richtet sich der triftigste Einwand wider die Fremdwörter. In Wissenschaft als Branche, Spezialisierung, Arbeitsteilung verschanzt sich das Privileg; in den Fremdwörtern stets noch das der Bildung. Je weniger deren Begriff heute mehr substantiell ist, um so mehr nehmen die Fremdwörter, deren viele einmal zur Moderne gehörten und sie in der Sprache vertraten, etwas Archaisches, zuweilen Hilfloses an, als wären sie ins Leere gesprochen. Unverkennbar neigte Brecht, der an der Sprache auf jenes Moment aus war, durch das sie, als allgemeine, dem Privileg des Besonderen widersteht, dazu, Fremdwörter zu vermeiden; freilich nicht ohne ein geheimes Archaisieren, den Willen, Hochdeutsch wie einen Dialekt zu schreiben. Benjamin hat diese implizite Feindschaft gegen die Fremdwörter insofern zuweilen sich zu eigen gemacht, als er die philosophische Terminologie eine Zuhältersprache nannte. In der Tat ist die offizielle philosophische Sprache, die irgendwelche terminologischen Erfindungen und Festsetzungen behandelt, als wären sie reine Beschreibungen von Sachverhalten, nicht besser als die puristischen Neologismen des metaphysisch geweihten Neudeutschen, das übrigens unmittelbar von jener Unsitte der Schule sich herleitet. Vorzuwerfen bleibt den Fremdwörtern, daß sie solche, die nicht die Möglichkeit hatten, sie frühzeitig zu lernen, draußen halten; als Bestandstücke einer Augurensprache ist ihnen bei aller Aufgeklärtheit ein schnarrender Klang beigesellt; dessen Einheit mit dem von Aufklärung bildet geradezu ihr Wesen. Die Nationalsozialisten haben denn auch, sei's im Gedanken ans Militär, sei's, um sich selber als feine Leute vorzustellen, die Fremdwörter geduldet. Gegen die Sozialkritik an den Fremdwörtern läßt wenig Überzeugendes sich vorbringen außer ihrer eigenen Konsequenz. Denn wird die Sprache dem Maß des »An alle«, der Verständlichkeit schlechthin unterworfen, so sind unter den Schuldigen Fremdwörter, denen man eben doch meist nur aufbürdet, was man dem Gedanken verübelt, längst nicht die einzigen und kaum die wichtigsten. Reinigungsaktionen volksdemokratischen Stils könnten sich nicht mit den Fremdwörtern begnügen, sondern müßten den größten Teil der Sprache selbst umlegen. Folgerecht hat Brecht einmal im Gespräch mich provoziert mit der These, es solle die kommende Literatur in Pidgin English abgefaßt werden. An dieser Stelle der Diskussion versagte Benjamin ihm die Gefolgschaft und ging auf meine Seite über. Der barbarische Futurismus solcher Proklamationen, die übrigens von Brecht selber wohl nicht gar zu ernst gemeint waren, bestätigt im Sprachbereich erschreckend die Tendenz losgelassener positivistischer Aufklärung zur Regression. Die Wahrheit, die als bloßes Mittel für Zwecke nur noch eine Wahrheit für Anderes ist, schrumpft selber ebenso ein wie das basische und das Pidgin English und schickt sich damit erst recht zu dem, wogegen der Impuls jenes neuen Typus von Fremdwörterfeindschaft zunächst sich kehrte, zur Erteilung von Befehlen, wie sie etwa einmal Europäer ihren Farbigen zukommen ließen, indem sie zum Spott auch noch so sprachen, wie sie sich wünschten, daß jene sprächen. Das kommunikative Ideal, zu dessen Gunsten eine sich als progressiv verkennende Kritik an den Fremdwörtern geübt wird, ist in Wahrheit eines der Manipulation; das Wort, das darauf berechnet ist, vernommen zu werden, wird heute durch eben diese Berechnung zu einem Mittel, die, an die es sich wendet, zum bloßen Objekt von Behandlung herabzusetzen und für Zwecke einzuspannen, die nicht ihre eigenen, nicht die objektiv verbindlichen sind. Was einmal Agitation hieß, läßt sich mittlerweile von der Propaganda nicht mehr unterscheiden, und deren Name trachtet plump, Reklame durch Berufung auf höhere, vom Einzelinteresse unabhängige Zwecke zu verklären. Das universale System der Kommunikation, das scheinbar die Menschen miteinander verbindet und von dem behauptet wird, es sei um ihretwillen da, wird ihnen aufgezwungen. Nur das Wort, das, ohne auf seine Wirkung zu schielen, sich anstrengt, seine Sache genau zu nennen, hat die Chance, eben dadurch die Sache der Menschen zu vertreten, um die sie betrogen werden, solange jede Sache ihnen vorgespiegelt wird, als wäre es jetzt, hier die ihre. Nicht länger ist es die Funktion der Fremdwörter, gegen einen Nationalismus zu protestieren, der im Zeitalter der großen Machtblöcke nicht mehr mit den einzelnen Sprachen der einzelnen Völker zusammenfällt. Aber als zum zweiten Mal entfremdete Überbleibsel einer Bildung, die mit der hochliberalen Gesellschaft zerging, einst aber das Humane im selbstvergessenen Ausdruck der Sache, nicht im Dienst am Menschen als einem potentiellen Kunden meinte, können sie helfen, daß etwas von der unnachgiebigen und weiterdrängenden Erkenntnis überwintere, die mit der Rückbildung des Bewußtseins und dem Verfall der Bildung gleichermaßen zu verschwinden droht. Dabei dürfen sie freilich keiner Naivetät sich schuldig machen; nicht so auftreten, als vertrauten sie noch darauf, vernommen zu werden. Sondern sie müssen mit ihrer Sprödigkeit selber die Einsamkeit des intransigenten Bewußtseins ausdrücken, durch ihre Hartnäckigkeit schockieren: ohnehin ist der Schock vielleicht die einzige Möglichkeit, durch Sprache heute die Menschen zu erreichen. Fremdwörter, richtig und verantwortlich gebraucht, müßten auf verlorenem Posten wie Griechen im kaiserlichen Rom einer Biegsamkeit, Eleganz und Geschliffenheit der Formulierung beistehen, die verlorenging und an die gemahnt zu werden den Menschen ein Ärgernis ist. Sie müßten ihnen vorhalten, was allen einmal möglich wäre, wenn es kein Bildungsprivileg mehr gäbe, auch nicht mehr dessen jüngste Inkarnation, die Nivellierung aller auf die unterrichtete Halbbildung. Damit könnten die Fremdwörter etwas von jener Utopie der Sprache, einer Sprache ohne Erde, ohne Gebundenheit an den Bann des geschichtlich Daseienden bewahren, die bewußtlos in ihrem kindlichen Gebrauch lebt. Hoffnungslos wie Totenköpfe warten die Fremdwörter darauf, in einer besseren Ordnung erweckt zu werden. Dazu freilich schicken sie sich nicht durch wahllose und unbesonnene Verwendung; was einmal unmittelbar von ihnen versprochen schien, ist unwiederbringlich dahin. Ihr Recht gegen den Positivismus einer allgemein verständlichen und eben damit ihrem eigenen Gehalt entfremdeten Umgangssprache, der sie geschichtlich heute unterliegen, weist einzig dort sich aus, wo sie dem sprachlichen Positivismus nach dessen eigener Spielregel überlegen sind, der der Genauigkeit. Nur von dem Fremdwort kann der Funke überspringen, das, in der Konstellation, in der es eingeführt wird, den Sinn besser, treuer, konzessionsloser gibt als die deutschen Synonyma, die sich anbieten. Die Arbeit des Schriftstellers, der frei abwägt, wo ein Fremdwort hin soll und wo nicht, tut Ehre nicht nur diesem an, sondern sogar noch der roten Tinte unterm Schulaufsatz. Die abstrakte Verteidigung der Fremdwörter bliebe hilflos. Sie bedarf, nicht zur Illustration sondern zur Legitimation, der Analyse von Stellen, an denen Fremdwörter überlegt eingeführt sind. Die Modelle dafür wähle ich aus einem eigenen Text, nicht weil ich ihn für exemplarisch hielte, sondern weil die tragenden Überlegungen mir näher sind, weil ich sie besser erklären kann als die anderer Autoren. Ich beziehe mich dabei mit Absicht auf jene kleinen Proust-Kommentare, die mir Vorwürfe eintrugen. Ich greife also eine Reihe von Stellen heraus und teile Ihnen die Erwägungen mit, die mich veranlaßt haben, etwas entlegenere Fremdwörter zu gebrauchen, oder daran verhindert, einigermaßen entsprechende deutsche Ausdrücke zu benutzen. Da heißt es etwa von Proust (S. 205), er habe als Erzähler das Kategoriensystem der bürgerlichen Gesellschaft »suspendiert«, der er selbst nach Ursprung, Lebensform und Verhaltensweise zugehörte. Man könnte anstelle von suspendiert »außer Kraft gesetzt« vorschlagen. Aber das wäre viel stärker als »suspendiert«, ließe schroffe Kritik dort vermuten, wo behutsam in der Schwebe gehalten wird. »Außer Aktion setzen« käme dem schon näher, enthielte aber selbst ebenfalls ein Fremdwort und führte jenen Gedanken an das Schwebende, gewissermaßen Aufgehängte nicht ebenso mit sich. Vor allem aber denkt man bei »suspendiert« an einen Urteilsspruch, der ausgesetzt, nicht widerrufen ist. Damit wird man in die Sphäre von Prousts Roman als einer Verhandlung über das Glück geleitet, die durch unendlich viele Instanzen hindurchgeht – ein Moment, das von keiner der deutschen Alternativen gefaßt wäre. Seite 205 ist von der »Disparatheit« zwischen subjektiven Motiven und objektiv Geschehendem die Rede, und gewiß ist der Klumpen von Fremdwörtern nicht schön. Ich suchte, das ungebräuchlichste von ihnen, »Disparatheit«, zu vermeiden, das aus Latein und Deutsch geklittert und darum besonders anstößig ist. Aber es bot sich statt dessen nur das »völlige Auseinanderweisen« an, und die Substantivierung eines verbalen Ausdrucks dünkte mir nicht bloß häßlicher als der geradeswegs zuständige Ausdruck, sondern das »Auseinanderweisen« gäbe auch den Gedanken nicht genau wieder. Denn das Phänomen in Prousts Roman, auf das aufmerksam gemacht werden sollte, wird als eine Gegebenheit, ein Zuständliches gedacht, nicht als ein Aktives. Vollends bewog mich zur Wahl des Wortes die Besinnung auf das Ganze meines Textes, in dem Bildungen mit »weisen« häufiger sind, als mir lieb war. Ich mußte solche opfern, die dem Gemeinten am wenigsten entsprachen. Weiter: es wird von Proust gesagt, sein Roman bezeuge die Erfahrung, daß Menschen, mit denen wir im Leben entscheidend zu tun haben, wie von einem unbekannten Autor »designiert« auftreten (S. 206). Die wörtliche Übersetzung von »designiert« wäre »bezeichnet«. Aber sie verfehlt den Sinn. Sie besagte lediglich, es wären die betreffenden Menschen wie von einem unbekannten Autor charakterisiert, nicht aber: für uns ausgewählt, gleichsam planvoll auf unser Leben bezogen; die Illusion einer verborgenen Absicht hinter dem Zufall, der uns Menschen über den Weg führt, die für uns wichtig werden, käme dann überhaupt nicht heraus, und die Stelle würde eigentlich unverständlich. Sagte man aber statt »designiert« »geplant«, so wäre ein Moment von Rationalität und Endgültigkeit in die Beschreibung des Phänomens hineingekommen, die das Vage, Verstellte grob festnagelte, das zu der Sache gehört. Überdies ist das Wort »geplant« heute in einem Vorstellungsbereich zuständig, der in den hochliberalen Proustischen einen ganz falschen Ton brächte, den der verwalteten Welt. Ein Satz auf S. 206f. behauptet, daß bei Proust schließlich der Tod die Hinfälligkeit des Festen der Person »ratifiziere«, »Bestätigen« wäre dafür zu schwach, bliebe im bloßen Erkenntnisbereich, dem der Bewahrheitung einer Hypothese. Ausgedrückt jedoch wollte sein, daß wie ein Urteilsspruch der Tod den Verfall, der das Leben selber ist, sich zueignet. Zugleich ist das Moment des Endgültigen, das der Proustschen Desillusionsromantik erst ihre Schwere leiht, in »ratifiziert« viel deutlicher als in dem matteren »bestätigen«. Lehrreich ist der Fall der »imagines« (S. 207). »Bilder« ist ein viel zu allgemeiner Ausdruck, um jene Transposition aus der Erfahrungswelt in die intelligible irgend zu treffen, die Prousts Blick auf die Menschen vollzieht. »Urbilder« aber ließen an Platon denken, ein Unveränderliches, sich selbst Gleiches, während die Proustsche Bilderwelt im Vergänglichsten gerade ihre Substanz hat. Dies Befremdende an der Sache – vielleicht das innerste Geheimnis Prousts – konnte nicht anders als durch die Fremdheit eines der Psychoanalyse entlehnten, durch den Zusammenhang aber umfunktionierten Terminus beschworen werden. Die Wahl des Wortes »Soireé«, anstelle von »Abendgesellschaft« (S. 208), führt auf einen Sachverhalt, der in jeglicher Übersetzung wichtig ist, aber zumindest theoretisch kaum die nötige Aufmerksamkeit fand. Es geht um das Gewicht der Worte in verschiedenen Sprachen, um ihren Stellenwert im Zusammenhang, der unabhängig von der Bedeutung des einzelnen Wortes variiert. Das deutsche »schon« heißt auf englisch »already«. Aber »already« ist weit schwerer, belasteter als »schon«. Man wird im allgemeinen, wenn nicht ein besonderer Akzent auf dem unerwartet frühen Zeitpunkt liegt, »hier bin ich schon« nicht mit »I am already here« sondern etwa mit »Here I am« übersetzen; in angelsächsischen Ländern können Deutsche untereinander sich leicht an dem allzu häufigen already erkennen. Solche Unterschiede dürfen aber auch bei minder formalen Ausdrücken, bei Substantiven konkreten Inhalts nicht überhört werden. »Abendgesellschaft« ist schwerer als »Soireé«, ermangelt der Selbstverständlichkeit, die das französische Wort im Französischen hat, so wie im Deutschen gesellschaftliche Formen überhaupt nicht so selbstverständlich, so sehr zweite Natur sind wie jenseits der westlichen Grenze. Das Wort »Abendgesellschaft« führt etwas Gezwungenes, Gekünsteltes mit sich, als wäre es die Nachahmung einer »Soireé«, nicht diese selbst; darum ist das Fremdwort vorzuziehen. Wollte man aber einfach »Gesellschaft« sagen, so wären zwar die Gewichtsverhältnisse ungefähr richtig, etwas Wesentliches am Sachgehalt des französischen Wortes jedoch, die Beziehung auf den Abend, verloren; ebenso auch die auf den einigermaßen offiziellen Charakter der Veranstaltung. Überall dort ist das Fremdwort besser, wo aus welchem Grunde auch immer die wörtliche Übersetzung nicht wörtlich ist. »Sexus«, an einer etwas späteren Stelle (S. 210), heißt »Geschlecht«. Aber dies deutsche Wort ist erheblich weiteren Umfangs als das lateinische; schließt mit ein, was im Lateinischen gens heißt, die Sippe. Und vor allem: es ist viel pathetischer als das Fremdwort, unsinnlicher, möchte man sagen. Geschlechtliche Liebe ist nicht identisch mit sexueller, sondern läßt einem erotischen Element Raum, demgegenüber der Ausdruck »sexuell« einen gewissen Gegensatz hervorhebt. Wenn Freud, in seinem Versuch, den Begriff des Sexuellen zu erläutern und von dem allgemeineren und weniger anstößigen der Liebe zu unterscheiden, auf das »Unanständige«, Verbotene aufmerksam macht, so wird das im deutschen »Geschlecht« nicht ohne weiteres mitgedacht; wohl aber im Fremdwort. Gerade dies Verbotene jedoch ist an der betreffenden Stelle wesentlich. Paradox stellt sich das Problem hinter dem Ausdruck »society-Leute«, den ich für eine maßgebende Gruppe von Proustschen Romanfiguren wählte (S. 211). Denn im Deutschen wie im Englischen hat »society« Doppelbedeutung: die der Gesellschaft als ganzer, wie sie etwa den Gegenstand der Soziologie bildet, und die der sogenannten guten Gesellschaft, die derer, die akzeptiert sind, Aristokratie und großes Bürgertum. Das umständliche »Leute aus der Gesellschaft« wäre zumindest nicht ganz klar gewesen; man hätte an Leute aus einer gerade versammelten Gesellschaft denken können. »Gesellschaftsleute« vollends wäre unmöglich. Überdies hat das deutsche »die Gesellschaft« im Vergleich zu »society« ein ähnlich Krampfhaftes, Gekünsteltes wie »Abendgesellschaft« im Vergleich zu »Soireé«: die Überschrift der Spalte einer Frauenzeitschrift: »Aus der Gesellschaft« liest sich gegenüber der »society column« wie töricht beflissene Nachahmung. Um die Nuance hervorzuheben, an der mir lag, mußte ich, der deutschen Umgangssprache folgend, »society« verwenden. Obwohl der englische Ausdruck in sich so äquivok ist wie der deutsche, nimmt er im Deutschen jene Bestimmtheit an, die dem einheimischen Wort mangelt; zu schweigen von einer Aura, die jeder wahrnimmt, der versteht, wie Proust seine Odette plappern läßt. Der Ausdruck »kontingent« dann (a.a.O.), fraglos im Deutschen nicht eingebürgert und zahlreichen Hörern unverständlich, stammt aus der Philosophie. Sein Gebrauch reißt das Problem der Terminologie auf. »Kontingent« heißt »zufällig«; aber nicht das einzelne Zufällige, nicht einmal die davon abstrahierte allgemeine Zufälligkeit, sondern Zufälligkeit als wesentlicher Charakter des Lebens. So kommt denn auch der Ausdruck bei mir vor: »Mit der Tradition des großen Romans teilt Proust die ... Kategorie des Kontingenten.« Sagte man statt dessen: die Kategorie des »Zufälligen«, so wäre das ungenau; man könnte etwa darauf verfallen, der Roman als ganzer, oder die Weise der Darstellung, habe etwas Zufälliges. Das Wort »kontingent« jedoch meint kraft der philosophischen Tradition, die ihm innewohnt, was ich immerhin erläuternd im nächsten Satz hinzufügte, das »sinnverlassene, vom Subjekt her nicht als Kosmos zu rundende Leben«. Daran reicht keine wörtliche Übersetzung heran. Streiten läßt sich darüber, ob philosophische Termini außerhalb dessen ihr Recht haben, was unter dem abscheulichen, der Sache selbst widersprechenden Namen der Fachphilosophie geht. Verwirft man aber diesen Begriff von Fachphilosophie; denkt man Philosophie als eine Weise von Bewußtsein, die sich die Grenzen einer besonderen Wissensdisziplin nicht aufnötigen läßt, dann gewinnt man eben damit auch die Freiheit, im philosophischen Bereich entsprungene Ausdrücke dort zu verwenden, wo das Herkommen keine Philosophie vermutet. Hier freilich nimmt der Gebrauch des Fremdworts, das, um seiner Herkunft aus einer Fremdsprache willen, wirklich kaum mehr recht verstanden wird, eben jenen verzweifelten und provokativen Charakter an, den in Freiheit wollen muß, wer nicht doch zum naiven Opfer seiner Bildungsbranche werden will. Aus der philosophischen Tradition, zumal der Kantischen, stammt auch das Wort »Spontaneität« (S. 212). So viel ist in es zusammengedrängt, daß keine Übersetzung leistete, was es leistet, wenn sie es nicht breit entfaltet hätte; oft aber fordert ein literarischer Text ein Wort und verbietet die Entfaltung, weil diese die Gewichtsverteilung störte. Das hat mich zur Wahl veranlaßt. Mag auch dem nicht philosophisch Geschulten nicht alles gegenwärtig sein, was der Terminus »Spontaneität« in sich birgt – ich habe mich doch des Vertrauens nicht ganz entschlagen können, daß solche Termini eine gewisse Suggestivkraft sich bewahren; auch für den, dem sie nicht ganz durchsichtig sind, etwas von dem Reichtum mit sich führen, der objektiv in ihnen sich verbirgt. »Spontaneität« heißt einerseits, und zunächst, die Fähigkeit zum Tun, Hervorbringen, Erzeugen; andererseits aber, daß diese Fähigkeit unwillkürlich, nicht mit dem bewußten Willen des je Einzelnen identisch sei. Ohne weiteres leuchtet ein, daß diese Doppelheit im Begriff der »Spontaneität« in keinem deutschen Wort erscheint. Die Rede ist an der betreffenden Stelle von der Eifersucht, welche Liebe in ein Besitzverhältnis verwandelt und die Geliebte damit zum Ding macht: deshalb frevle Eifersucht an der »Spontaneität« der Liebe. Sagte man statt dessen, sie frevle an der »Unwillkürlichkeit«, so gäbe das keinen Sinn, und auch »Unmittelbarkeit«, an sich der Sache schon näher, reichte nicht aus, weil, wie keiner besser wußte als Proust, alle Liebe mittelbare Elemente enthält. So mußte es denn bei »Spontaneität« bleiben. Wird an einem Menschen gerühmt, er habe in einer Situation sich spontan verhalten, so beschreibt das sein Verhalten drastischer als alle Umschreibungen, nach denen ich suchte. Das Bedürfnis nach Verkürzung veranlaßt überhaupt zur Wahl von Fremdwörtern. Dichte und Gedrängtheit als Ideal der Darstellung, der Verzicht auf das Selbstverständliche, das Verschweigen des im Gedanken zwingend bereits Angelegten und darum nicht verbal zu Wiederholenden, all das ist unvereinbar mit weitläufigen Worterklärungen oder Umschreibungen, wie sie vielfach notwendig wären, wo man Fremdwörter vermeiden und doch von ihrem Sinn nichts opfern möchte. Ich habe im Zusammenhang mit Proust, und auch sonst zuweilen, von »Authentizität« gesprochen (S. 214). Nicht nur ist das Wort ungebräuchlich; die Bedeutung, die es in dem Zusammenhang annimmt, in den ich es zog, ist keineswegs durchaus sichergestellt. Es soll der Charakter von Werken sein, der ihnen ein objektiv Verpflichtendes, über die Zufälligkeit des bloß subjektiven Ausdrucks Hinausreichendes, zugleich auch gesellschaftlich Verbürgtes verleiht. Hätte ich einfach »Autorität« gesagt, also ein wenigstens eingebürgertes Fremdwort, so wäre dadurch zwar die Gewalt bezeichnet worden, die solche Werke ausüben, nicht aber das Moment von deren Berechtigung kraft einer Wahrheit, die schließlich auf den gesellschaftlichen Prozeß zurückverweist. Jener Unterschied des seinem Gehalt nach Verbürgten von dem usurpatorisch Gewalttätigen wäre verfehlt worden, auf den es mir ankam. Nun hätte sich gewiß ein heute in Deutschland sehr beliebtes Wort angeboten: »Gültigkeit«. Hier jedoch ist zu bedenken, daß Wörtern nicht nur ein Stellenwert im Zusammenhang, sondern auch ein geschichtlicher eignet. Das Wort gültig ist durch Figuren wie »gültige Aussage« heute überaus kompromittiert. An ihm gibt sich eine gewisse Art des Kernigen, salbungsvoll-schlicht Bejahenden zu erkennen, die in der gegenwärtigen Ideologie ihre böse Rolle spielt. Um keinen Preis hätte ich mich damit einlassen dürfen. Man kann nicht den Jargon der Eigentlichkeit angreifen und selbst von gültigen Werken reden, in deren Begriff ebenso Vorstellungen vom unveräußerlichen alten Wahren mitschwingen wie schließlich doch auch solche vom öffentlichen Anerkanntsein. Gewiß ist nicht zu erwarten, daß all diese verzweigten Überlegungen und kritischen Reflexionen, die mitzuteilen einen auf die Sache gerichteten Text völlig aus dem Gleichgewicht gebracht hätte, in das eine Wort »Authentizität« zusammengepreßt wären. Aber in der Stockung, die es bewirkt, flammen all jene Begriffe auf, an die es mahnt und die dennoch vermieden worden sind. Sie bringt mehr vielleicht herüber als ein umgänglicherer, dafür aber der gemeinten Sache unangemessener Ausdruck. Die Hoffnung, daß auf diese Weise die Intention doch sich durchsetze, ist darum nicht gar zu abwegig, weil jene »Authentizität« nicht ein isolierter Klecks ist, sondern weil der Zusammenhang vielfältig gebrochenes Licht auf das Zauberwort wirft. Bei einigem schriftstellerischen Vermögen und Glück läßt sich in das fremde Wort hineindrängen, was das anscheinend weniger ausgefallene nie vermöchte, weil es zu viele eigene Assoziationen mitschleppt, als daß es vom Ausdruckswillen ganz ergriffen werden könnte. Bei meinem Versuch, die Fremdwörter zu rechtfertigen, konnte ich weder die Kritik unterschlagen, der sie heute sich aussetzen, noch einen Standpunkt beziehen, der so starr wäre, wie es der der Gegner zu sein pflegt. Auch der Schriftsteller, der sich einbildet, rein auf die Sache zu gehen und nicht auf deren Kommunikation, kann sich nicht blind machen gegen die geschichtlichen Veränderungen, denen die Sprache selbst durch den kommunikativen Gebrauch unterliegt. Er muß gleichsam von innen und von außen her zugleich formulieren. Dieser Widerspruch betrifft auch sein Verhältnis zu den Fremdwörtern. Noch wo sie ihm objektiv richtig klingen, muß er spüren, was ihnen in der gegenwärtigen Gesellschaft widerfährt. Oft mögen sie in ihr zu toten Hülsen werden, so wie jenes Wort Authentizität, betrachtete man es rein für sich, eine wäre. Noch das Ansichsein der Sprache ist nicht unabhängig von ihrem Füranderessein. Die Verblendung dagegen, deren der Schriftsteller bedarf, dem es mit der Sprache überhaupt ernst ist, kann in die Dummheit dessen umschlagen, der sich im Besitz reiner Mittel sicher wähnt, während diese gerade um ihrer Reinheit willen schon nichts mehr taugen. Das Problem der Fremdwörter ist wahrhaft eines, ohne Phrase. Was ich am Modell des Wortes »Authentizität« zeigte, bei dem es mir nicht wohl zumute ist und auf das ich doch nicht verzichten kann, gilt wohl für den Gebrauch der Fremdwörter insgesamt: über ihn entscheidet keine sprachliche Weltanschauung, kein abstraktes Für oder Gegen, sondern ein Prozeß zahlloser ineinander verflochtener Regungen, Innervationen und Erwägungen. Wie weit dieser Prozeß gelingt, darüber hat das beschränkte Bewußtsein des einzelnen Schriftstellers kaum Macht. Aber er ist unumgänglich: er wiederholt, sei's auch unzulänglich, jenen Prozeß, den die Fremdwörter als solche, ja die Sprache selbst gesellschaftlich insgesamt durchmachen und in den der Schriftsteller verändernd eingreift nur, indem er ihn zugleich als Objektives erkennt. Blochs Spuren
Zur neuen erweiterten Ausgabe 1959 Der Titel Spuren mobilisiert primäre Erfahrungen beim Lesen von Indianergeschichten für die philosophische Theorie. Ein geknickter Zweig, ein Abdruck drunten im Boden spricht zu dem knabenhaft kundigen Auge, das sich nicht bei dem bescheidet, was jeder sieht, sondern spekuliert. Hier steckt etwas, hier ist etwas verborgen, mitten in der normalen, unauffälligen Alltäglichkeit: »Der Fall hat es in sich.« (15) 1 Was es ist, weiß keiner so recht, und Bloch plaudert einmal aus der gnostischen Schule, vielleicht wäre es noch gar nicht da, werde erst, aber il y a quelque chose qui cloche, und je unbekannter das, wovon die Spur herrührt, desto nachdrücklicher will das Gefühl, eben dies sei es. Daran heftet sich die Spekulation. Wie zum Spott auf die gelassene, wissenschaftlich besonnene Phänomenologie sucht sie es als begriffslos Erscheinendes und experimentiert tastend mit der Deutung. Unermüdlich flattert der philosophische Falter gegen die Scheibe vorm Licht. An den Rätselfiguren dessen, was Bloch einst die Gestalt der unkonstruierbaren Frage nannte, soll zusammenschießen, was sie sekundenweise als ihre eigene Lösung suggerieren. Die Spuren stammen aus dem Unsäglichen der Kindheit, das einmal alles sagte. Viel Freunde werden in dem Buch zitiert. Man möchte wetten, es seien solche aus der Pubertät, Ludwigshafener Verwandte von Brechts Spezis aus Augsburg, dem George Pflanzelt und dem Müllereisert. So rauchen Halbwüchsige die erste Pfeife, als wäre es die des ewigen Friedens: »Wunderbar ist das Heraufkommen des Abends / und schön sind die Gespräche der Männer unter sich.« Es sind aber die Männer der Stadt Mahagonny aus Traumamerika, dazu Old Shatterhand und Winnetou aus Leonhard Franks Würzburger Räuberbande, ein Geruch, beizender zwischen Buchdeckeln denn je selbst am fischigen Fluß und in der verräucherten Kneipe. Der Erwachsene jedoch, der an all das sich erinnert, will die ehmals ausgespielten Steine zum Sieg führen, ohne doch deren Bild an die allzu erwachsene Vernunft zu verraten; fast jede Deutung nimmt die rationalistische erst in sich hinein und rüttelt dann daran. So wenig esoterisch sind die Erfahrungen wie das, was einst an Weihnachtsglocken ergriff und was nie ganz sich tilgen läßt: was jetzt und hier ist, das kann nicht alles sein. Das Versprochene gibt sich, sei's auch trügend, als verbürgt wie sonst nur in den großen Kunstwerken, von denen Blochs Buch, ungeduldig mit der Kultur, nicht viel wissen will. Unterm Zwang ihrer Form ist alles Glück noch zu wenig, eigentlich ist überhaupt noch kein Glück: »Auch hier wächst etwas tropischer als es die bekannten Breiten unsres Subjekts (und der Welt) bereits zulassen; übermäßiger Schreck wie ›grundlose‹ Freude haben ihren Anlaß versteckt. Sie sind im Menschen versteckt und in der Welt noch nicht heraus; die Freude ist am wenigsten heraus und wäre doch die Hauptsache.« (169) Ihr Versprechen möchte Blochs Philosophie, mit den Enterhaken des literarischen Seeräubers, der Kleinbürgerei, der heimeligen Geborgenheit entreißen, verwerfend, was es an Ort und Stelle will, das Nächste auf das Nichtgewesene und Oberste projizierend. Das zweigeteilte Goethesche Glück, das der nächsten Nähe und der höchsten Höhe, wird bis zum Brechen zusammengebogen; das der nächsten Nähe sei nur eines, wenn es das der höchsten Höhe meint, und nirgendwo sei die höchste Höhe anwesend als in der nächsten Nähe. Die ausfahrende Geste will über die Schranke hinaus, die ihr der Ursprung im Nächsten bereitet, in der unmittelbaren einzelmenschlichen Erfahrung, der psychologischen Zufälligkeit, dem bloßen subjektiven Gestimmtsein. Hochmut des Eingeweihten desinteressiert sich daran, was das permanente Staunen über den Staunenden sagt, und kehrt dem sich zu, was im Staunen sich anmeldet, gleichgültig, wie das arme und fehlbare Subjekt dazu kam: »Das Ding an sich ist die objektive Phantasie.« (89) Seine Fehlbarkeit selber aber wird in die Konstruktion mit hineingenommen. Die Unzulänglichkeit des endlichen Bewußtseins macht das Unendliche, an dem es doch teilhaben soll, zum Ungewissen und Rätselhaften, aber es wird als zwingend und bestimmt bestätigt, weil seine Ungewißheit nichts sei als jene subjektive Unzulänglichkeit. Denken, das Spuren verfolgt, ist erzählend wie das apokryphe Modell, dessen leuchtendes Abziehbild Bloch herstellen möchte, die Abenteuergeschichte von der Reise zum utopischen Ende. Zum Erzählen wird er von seiner Konzeption nicht weniger als von seinem Naturell bewogen. Nur das Mißverständnis läse die Blochsche Erzählung einfach als Parabel. Deren Eindeutigkeit brächte sie um jene Farbe, die nach ihrer Optik so wenig im Spektrum steht wie das Drommetenrot eines genialen Spannungsromans von Leo Perutz. Vielmehr möchte sie in Abenteuer und außerordentlicher Begebenheit jene Wahrheit konstruieren, die man nicht in der Tasche hat. Selten wird mit bündigen Interpretationen aufgewartet; als säßen die Zuhörer von Hauffs Märchen zusammen, um Einen aus jenem süddeutschen Orient, wo eine Stadt Backnang heißt und eine Sprachgeste ha no, wird das eine und andere vorgebracht; fortschreitend freilich in einer Bewegung des Begriffs, die ihren Hegel verschweigt, aber gut intus hat. Über den Bruch zwischen einem Konkreten, das doch selbst das Konkrete nur erst vertritt, und einem Gedanken, der dessen Zufälligkeit und Blindheit übersteigt, dafür aber das Beste vergißt, schallt der Ton dessen hinweg, der emphatisch etwas Besonderes zu vermelden hat, das anders wäre als das Immergleiche. Der erzählende Ton bietet das Paradoxon einer naiven Philosophie; Kindheit, unverwüstlich durch alle Reflexionen hindurch, verwandelt noch das Vermittelteste in Unmittelbares, das berichtet wird. Diese Affinität zum Gegenständlichen, vorab zu sinnverlassenen Stoffschichten, bringt Blochs Philosophie in Kontakt mit dem Unteren, von Kultur Ausgeschiedenen, offen Schäbigen, worin sie, Spätprodukt antimythologischer Aufklärung, allein noch das Rettende erhofft. Man könnte sie insgesamt als die des gleich dem armen B.B. in die großen Städte Verschlagenen lokalisieren, der verspätet dort erzählt, was nie sich erzählen ließ. Unmöglichkeit des Erzählens selber, wie sie die Nachkömmlinge der Epik zum Kitsch verdammt, wird zum Ausdruck des Unmöglichen, das erzählt und als Möglichkeit bestimmt werden soll. Im Augenblick, da man sich hinsetzt, gibt man dem Erzähler etwas vor, unwissend, ob er die Erwartung befriedigt. So muß man solcher Philosophie etwas vorgeben als einer gesprochenen, nicht geschriebenen. Der vortragende Gestus verwehrt die verantwortliche Prägung von Texten, und nur wer die Blochschen nicht als Texte liest, dem werden sie beredt. Der Fluß erzählenden Denkens strömt mit allem, das er mitführt, menschenfängerisch übers Argument hinweg, ein Philosophieren, in dem in gewissem Sinn gar nicht gedacht wird; eminent gescheit, gar nicht scharfsinnig nach Schulbrauch. Was in der erzählenden Stimme widerhallt, ist ihr kein Material der Überlegung, sondern wird ihr anverwandelt, auch und gerade das, was sie nicht stilisierend durchdringt und einschmilzt; zu fragen, woher die Erzählungen kämen oder was der Erzähler damit anstelle, wäre läppisch angesichts seiner Intention auf zweite Anonymität, aufs Verschwinden in der Wahrheit: »Ist diese Geschichte nichts, sagen die Märchenerzähler in Afrika, so gehört sie dem, der sie erzählt hat; ist sie etwas, so gehört sie uns allen.« (158) Kritik daran darf denn auch nicht Fehler bemäkeln, als wären es die korrigibeln eines Einzelnen, sondern muß die Wunden von Blochs Philosophie buchstabieren wie der Kafkasche Delinquent die seinen. Authentisch ist diese Erzählerstimme aber keineswegs in dem, was dem Cliché echt heißt. Blochs Gehör, außerordentlich differenziert noch inmitten seiner tosenden Prosa, verzeichnet genau, wie wenig das, was anders wäre, in jenem biedern Begriff, dem purer Identität mit sich selber, sich erschöpfte. »Eine weiche, gefühlreiche Geschichte im schummrigen Muff des neunzehnten Jahrhunderts, mit all der romantischen Kolportage, die das Motiv des Scheidens braucht. Im halb-echten Gefühl färbt sich seine Schwebung am reinsten; das Scheiden ist selber sentimental. Aber sentimental mit Tiefe, es ist ein ununterscheidbares Tremolo zwischen Schein und Tiefe.« (90) Dies Tremolo überlebt in großen Volkskünstlern einer Epoche, die Volkskunst nicht mehr duldet; so übertrieb sich die Stimme Alexander Girardis, wehleidig, unwahrhaftig wie das heulende Elend; Unechtes, Nichtdomestiziertheit und Echo der eigenen Unmöglichkeit, war ihr Echtes. Gerade Massen werden, nicht stets zu ihrem Heil, ergriffen vom exaggerierten Ausdruck, dessen Übertreibung die schlechte Mitte an das erinnert, worauf es ankäme. So hat ein Dienstmädchen das Scheffelsche »Das ist im Leben häßlich eingerichtet« variiert in »entsetzlich eingerichtet«. Wie dieser Trompeter bläst Bloch. Naive Philosophie wählt das Inkognito des Schwadroneurs, des Wirtshausspielers mit falschen Bässen, der, arm, verkannt, den Staunenden, die ihm das Glas Bier bezahlen, weismacht, eigentlich wäre er der Paderewski. Einer jener geschichtsphilosophischen Durchblicke, die Blochs Ruhm sind, zündet in diese Atmosphäre: »Auch der junge Musikant Beethoven, der plötzlich wußte oder behauptete, ein Genie zu sein, wie es noch kein größeres gab, trieb Hochstapelei skurrilsten Stils, als er sich Ludwig van Beethoven gleich fühlte, der er doch noch nicht war. Er gebrauchte diese durch nichts gedeckte Anmaßung, um Beethoven zu werden, wie denn ohne die Kühnheit, ja Frechheit solcher Vorwegnahmen nie etwas Großes zustande gekommen wäre.« (47) Gleich dem Wirtshausspieler hat Philosophie als Kolportage bessere Tage gesehen. Seitdem sie damit renommierte, sie besitze den Stein der Weisen und sei in einem Geheimnis, das den vielen auf ewig verborgen bleiben müsse, enthält sie ein Element der Scharlatanerie. Es wird von Bloch entsühnt. Er wetteifert mit dem Schreier des unvergessenen Jahrmarkts, dröhnt wie ein Orchestrion aus der noch leeren Gaststätte, die auf die Gäste wartet. Er verschmäht die arme Klugheit, die all das versteckt, und lädt die ein, welche hohe idealistische Philosophie aussperrte. Korrektiv bekennt die orale Übertreibung ein, daß sie selber nicht weiß, was sie sagt; daß ihre Wahrheit Unwahrheit sei nach dem Maß dessen, was ist. Untrennbar der auftrumpfende Ton des Erzählers vom Gehalt seiner Philosophie, der Rettung des Scheins. Im Hohlraum zwischen diesem und dem bloß Seienden nistet Blochs Utopie. Vielleicht läßt, was er meint, Erfahrung, die noch von keiner Erfahrung honoriert ward, überhaupt nur outriert sich ausdenken. Die theoretische Rettung des Scheins ist zugleich Blochs eigene Verteidigung. In ihr ähnelt er abgründig der Musik Mahlers. Von der Totale des deutschen Idealismus ist eine Art von Lärm übriggeblieben, an dem Bloch, der Musikalische und Wagnerianer, sich berauscht. Die Worte werden erhitzt, als sollten sie noch einmal aufglühen in der entzauberten Welt; als wäre die in ihnen verborgene Verheißung zum Motor des Gedankens geworden. Zuweilen embrouilliert sich Bloch mit »allem Starken« (39), schwärmt für »offene und kollektive Schlacht«, die da »zu dem Unsren zwingen soll«. Das dissoniert zum antimythologischen Tenor, dem Revisionsprozeß in Sachen Ikarus, den er anstrengt. Aber sein Impuls wider das Recht der Immergleichheit von Schicksal und Mythos, wider die Verstricktheit im Naturzusammenhang, nährt sich von diesem selber, von der Gewalt eines Triebs, dem selten Philosophen so ungebändigt zu sprechen erlaubten. Blochs Parole vom Durchbruch der Transzendenz ist nicht spiritualistisch. Nicht will er Natur vergeistigen, sondern der Geist der Utopie möchte den Augenblick herbeiziehen, in dem Natur, als gestillte, selber frei wäre von Herrschaft, ihrer nicht mehr bedarf und dem Raum schafft, was anders wäre als sie. In den Spuren, die von der Erfahrung des individuellen Bewußtseins her sich entfalten, hat die Rettung des Scheins ihr Zentrum in dem, was das Utopiebuch Selbstbegegnung nannte. Das Subjekt, der Mensch, sei noch gar nicht er selbst; scheinhaft als Unwirkliches, aus der Möglichkeit noch nicht Hervorgetretenes, aber auch als Widerschein dessen, was er sein könnte. Nietzsches Idee vom Menschen als etwas, das überwunden werden muß, wird ins Gewaltlose abgewandelt: »denn der Mensch ist etwas, was erst noch gefunden werden muß« (32). Die meisten Erzählungen des Bandes sind solche von der Nichtidentität des Menschen mit sich, mit verständnisinnigem Seitenblick auf fahrende Leute, Märchenburschen, Hochstapler und all die, welche vom Traum eines besseren Lebens sich verführen lassen. »Hier ist viel weniger Eigennutz anzutreffen als Putzsucht, unbeschwichtbares Selbstgefühl und Narretei. Greift das Selbstgefühl zu aristokratischen Formen, so nicht, um nach untenhin zu treten wie der Parvenu oder gar der Diener als Herr; auch wird die Aristokratie nicht eigentlich bejaht, der selbstsuggerierte Seigneur ist nicht klassenbewußt.« (44) Vielmehr rüttelt Utopie an den Ketten der Identität: sie wittert in ihr das Unrecht, gerade dieser zu sein und nur dieser. Zwei Aspekte solcher Nichtidentität setzt Bloch auf der Stufe des vor dreißig Jahren geschriebenen Buches willentlich-unvermittelt nebeneinander. Der eine ist der materialistische: daß die Menschen in einer universalen Tauschgesellschaft nicht sie selber sind sondern Agenten des Wertgesetzes; denn in der bisherigen Geschichte, die Bloch nicht zögern würde, Vorgeschichte zu nennen, war die Menschheit Objekt, nicht Subjekt. »Aber keiner ist, was er meint, erst recht nicht, was er darstellt. Und zwar sind alle nicht zu wenig, sondern zuviel von Haus aus für das, was sie wurden.« (33) Der andere Aspekt ist der mystische: daß das empirische Ich, das psychologische, auch der Charakter nicht das jedem Menschen gemeinte Selbst, der geheime Name sei, dem allein der Gedanke von Rettung gilt. Blochs Lieblingsgleichnis fürs mystische Selbst ist das Haus, in dem man bei sich selbst wäre, drin, nicht länger entfremdet. Geborgenheit ist nicht zu haben, keine ontologisch verbrämte Befindlichkeit, in der sich's leben ließe, sondern ein Notabene dessen, wie es sein sollte und doch nicht ist. Die Komplizität der Spuren mit dem Glück macht sich nicht fest in dessen Positivität, sondern hält diese offen auf eine, die sich erst verspricht; und alles positive Glück bleibt des Wortbruchs verdächtig. Schutzlos bietet solcher Dualismus dem Einwand sich preis. Die Unvermitteltheit des Kontrasts zwischen dem metaphysischen Selbst und dem herzustellenden gesellschaftlichen schert sich nicht darum, daß alle Bestimmungen jenes absoluten Selbst dem Umkreis menschlicher Immanenz, dem gesellschaftlichen entstammen; leicht wäre der Hegelianer Bloch dessen zu überführen, daß er an zentraler Stelle die Dialektik mit theologischem Gewaltstreich abschneidet. Aber die eilfertige Konsequenz glitte darüber hinweg, ob Dialektik überhaupt, ohne an einem Punkt noch sich selber zu negieren, möglich sei; auch die Hegelsche hatte ihren eingekapselten »Spruch«, die Identitätsthese. Jedenfalls befähigt Blochs Gewaltstreich ihn zu einer Verhaltensweise des Geistes, die sonst im Klima von Dialektik, der idealistischen wie der materialistischen, nicht zu gedeihen pflegt: nichts, was ist, wird um seiner Notwendigkeit willen vergötzt, Spekulation geht gegen Notwendigkeit selber als eine Figur des Mythos an. Daß Erzählung und Erörterung in den Spuren um den Schein kreisen, rührt daher, daß die Grenze zwischen endlich und unendlich, zwischen Phänomenalem und Noumenalem, beschränktem Verstand und unverbindlichem Glauben, nicht respektiert wird. Hinter jedem Wort steht der Wille, den Block zu durchstoßen, den seit Kant der common sense zwischen Bewußtsein und Ding an sich schiebt; die Sanktionierung dieser Grenze wird selbst der Ideologie zugerechnet als Ausdruck des sich Bescheidens der bürgerlichen Gesellschaft in der von ihr zugerichteten, verdinglichten Welt, der Welt für sie, der von Waren. Das war die theoretische Koinzidenz von Bloch und Benjamin. Indem jener aus purem Freiheitsdrang die Grenzpfähle einreißt, entledigt er sich der philosophie- und landesüblichen, erstarrten »ontologischen Differenz« von Wesen und bloßem Dasein. Das Daseiende selber wird, unter Wiederaufnahme von Motiven des deutschen Idealismus und schließlich Aristotelischen, zur Kraft, zur Potenz, die aufs Absolute hintreibt. Blochs Neigung zur Kolportage hat, wenn man so reden mag, ihre systematische Wurzel im Einverständnis mit dem Unteren, als dem stofflich Ungeformten ebenso wie als dem, was gesellschaftlich die Last zu tragen hat. Das Obere jedoch, Kultur, Form, nach Blochs Sprachgebrauch »polis«, ist ihm hoffnungslos mit Herrschaft, Unterdrückung, Mythos verfilzt, wahrhaft Überbau: nur was hinabgestoßen ward, enthält das Potential dessen, was darüber wäre. Darum fahndet er im Kitsch nach jener Transzendenz, welche die Immanenz der Kultur versperrt. Sein Denken wirkt als Korrektiv des zeitgenössischen nicht zuletzt darum, weil es nicht gegen die Faktizität vornehm tut. Er entzieht sich dem neudeutschen Brauch, der Philosophie das Sein als Branche zuzuweisen und sie damit zur Irrelevanz eines auferstandenen Formalismus zu verdammen. Genauso wenig aber hilft er bei der Degradation des Gedankens zur bloß nachkonstruierenden Ordnungsinstanz mit. Das Untere wird weder verflüchtigt noch, wie vom klassifikatorischen Denken, übersponnen und an Ort und Stelle gelassen, sondern mitgerissen wie die thematischen Elemente von mancher Musik. Deren Sphäre beansprucht in seinem Denken so viel Raum wie in kaum einem zuvor, selbst dem Schopenhauers und Nietzsches nicht. Sie tönt herein wie in Träumen ein Bahnhofsorchester; für technischmusikalische Logik hat Blochs Ohr so wenig Geduld wie für ästhetische Wahl. Auch zwischen der infantilen Lust am Karussell und dessen metaphysischer Rettung ist kein Übergang, keine »Vermittlung«: »Vor allem, wenn das Schiff mit Musik ankommt; dann verbirgt sich in dem Kitsch (dem nicht kleinbürgerlichen) etwas vom Jubel der (möglichen) Auferstehung aller Toten.« (165) Noch in solchen verwegenen Extrapolationen ist stillschweigend Hegels Kant-Kritik vorausgesetzt: daß Grenzen setzen diese immer bereits überschreitet; daß Vernunft, um sich selber als endlich einzuschränken, des Unendlichen schon mächtig sein müsse, in dessen Namen sie einschränkt. Der Hauptstrom der philosophischen Überlieferung scheidet das Unbedingte vom Denken, aber wer nicht mitschwimmt, möchte von dessen Erkenntnis nicht ablassen: um seiner Verwirklichung willen. Er duckt sich nicht resigniert. Das »Es ist gelungen« der letzten Faustszene, der Kantische Gedanke vom ewigen Frieden als realer Möglichkeit überfliegt das kritische Element der Philosophie als Vertagung und Versagung. Erfüllung stellt dies Denken nach dem Modell leibhafter hdonh vor, nicht als Aufgabe oder Idee. Insofern ist es anti-idealistisch und materialistisch. Sein Materialismus verhindert die bruchlose Hegelsche Konstruktion einer wie immer auch vermittelten Identität von Subjekt und Objekt, die verlangt, daß schließlich doch alle Objektivität ins Subjekt hineingenommen, zu bloßem »Geist« reduziert werde. Während Bloch ketzerisch die Grenze leugnet, beharrt er indessen, wider Hegels spekulativen Idealismus, auf dem unversöhnten Unterschied von Immanenz und Transzendenz, im großen Entwurf so wenig zur Vermittlung geneigt wie in der Einzelinterpretation. Das Hier wird historisch-materialistisch bestimmt, das Drüben gebrochen, nach seinen Spuren, die hier sich fänden. Ohne zu glätten, philosophiert Bloch utopisch und dualistisch zugleich. Weil er die Utopie nicht in der metaphysischen Konstruktion des Absoluten, sondern in jener theologischen Drastik konzipiert, um welche das hungernde Bewußtsein der Lebendigen durch den Trost der Idee nur betrogen sich fühlt, kann er sie anders nicht als scheinhaft ergreifen. Weder ist es wahr noch ist es nicht: »Selbst das offensichtliche Blendwerk äfft wenigstens nach oder nimmt mit ruchloser Setzung einen Glanz vorweg, in lügenhafter Weise, der dennoch irgendwie in der Tendenz des Lebens, in seinen bloßen, aber immerhin noch vorhandenen ›Möglichkeiten‹ angelegt sein muß; denn an sich selber ist das Blendwerk unfruchtbar, es gäbe nicht einmal Fata Morgana ohne Palmen in der zeiträumlichen Ferne.« (240) Die Ausgangserfahrungen, die Bloch vorträgt, sind plausibel genug: »Beim Einschlafen drehen sich die meisten der Wand zu, obwohl sie dadurch dem dunklen, unbekannt werdenden Zimmer den Rücken zukehren. Es ist, als ob die Wand plötzlich anzöge und das Zimmer paralysierte, als ob der Schlaf etwas an der Wand entdeckte, was sonst nur dem besseren Tod zukommt. Es ist, als ob außer Stören und Fremde auch der Schlaf aufs Sterben einschulte; dann scheint die Bühne allerdings anders auszusehen, sie eröffnet den dialektischen Schein von Heimat. In der Tat hat darüber ein Sterbender, der im letzten Augenblick gerettet wurde, folgende Aufklärung gegeben: ›Ich legte mich der Wand zu und fühlte, das da draußen, das im Zimmer ist nichts, geht mich nichts mehr an, aber in der Wand ist meine Sache zu finden.‹« (163) Aber Bloch selber nennt das Geheimnis der Wand dialektischen Schein. Er läßt sich nicht dazu verlocken, jenes Einleuchtende buchstäblich zu nehmen. Nur ist ihm der Schein nicht, psychologisch, subjektive Illusion sondern objektiv. Seine Plausibilität soll dafür einstehen, daß, ähnlich wie bei Benjamin und auch bei Proust, die spezifischesten Erfahrungen, die ganz ans Besondere sich verlieren, in Allgemeinheit umschlagen. Den erzählenden Duktus von Blochs Philosophie inspiriert die Ahnung, daß solcher Umschlag den dialektischen Vermittlungen entgleite. So sehr ihr Lehrgehalt der Dialektik sich verpflichtet weiß, so undialektisch ist jener Duktus. Erzählt wird von Daseiendem, wäre es auch erst zukünftig; die Form ignoriert das Werden, das der Inhalt verkündet, sucht ihm nur gleichsam durch ihr Tempo nachzueifern. Aber die Möglichkeit, das Versprochene herzustellen, bleibt unsicher so wie nur je im dialektischen Materialismus. Bloch ist Theolog und Sozialist, aber kein religiöser Sozialist; was in der Immanenz als versprengter Sinn, als »Funke« des messianischen Endes der Geschichte umgeistert, wird weder ihr noch selbst ihrer vernunftgemäßen Einrichtung als Sinn gutgeschrieben; weder soll positiv religiöser Gehalt das bloß Seiende rechtfertigen noch transzendent herrschen. Mystiker ist Bloch in der paradoxen Einheit von Theologie und Atheismus. Die mystischen Meditationen jedoch, in denen die Überlieferung des Funkens beheimatet ist, setzten dogmatische Lehrgehalte voraus, um sie durch Deutung zu vernichten: sei es die jüdischen der Thora als heiligen Textes, sei es die christologischen. Mystik ohne den Anspruch eines Offenbarungskerns exponiert sich als bloße Bildungsreminiszenz. Blochs Philosophie des Scheins, der solche Autorität unwiederbringlich dahin ist, schreckt davor so wenig zurück wie die mystischen Ausläufer der großen Religionen in deren aufgeklärter Endphase; er postuliert nicht Religion aus Religionsphilosophie. Auf das Vertrackte, das damit in die Spekulation gerät, reflektiert diese selber. Aber lieber nimmt sie es in den Kauf, lieber bekennt sie sich selber als Schein, als daß sie zum Positivismus resignierte oder zur Positivität des Glaubens. Die Verwundbarkeit, die sie geflissentlich hervorkehrt, ist Konsequenz ihres Gehalts. Wäre dieser rein durchgebildet und dargestellt, so wäre der Schein eskamotiert, an dem sie ihr eigenes Lebenselement hat. Daß von Bedingtem Unbedingtes nicht sich erkennen lasse, kann ihr bequem vorgerechnet werden: sie ist selber nicht gefeit vor jenem Apokryphen, das ihre Intention hochzureißen sich vermißt. Was erzählt wird, verbrennt im Erzählen; die Zündung des nicht gedachten Gedankens ist der Kurzschluß. Daher, nicht aus mangelnder Denkkraft, bleiben die Interpretationen des Erzählten vielfach hinter diesem zurück, eine antinomistische Predigt über den Text: Sehet, ich will euch Steine statt Brot geben. Je höher sie hinaus will, um so mehr verstärkt ihr angespannter Wille das Gefühl der Vergeblichkeit. Die Vermischung der Sphären, dieser Philosophie nicht weniger eigentümlich als die Sphärendichotomie, fügt ihr selber ein Getrübtes bei, alle etablierten Ideen eines reinen An sich, allen Platonismus herausfordernd. Will Bloch, das Äußerste und das Trivialste sei eins, so klafft es oft genug auseinander, und das Äußerste wird trivial: »Ists gut? fragte ich. Dem Kind schmeckt es bei andern am besten. Sie merken nur bald, was dort auch nicht recht ist. Und wäre es zuhause so schön, dann gingen sie nicht so gern weg. Sie spüren oft früh, hier wie dort könnte viel anders sein.« (9) Das ist die gnostische Lehre von der Insuffizienz der Schöpfung als Binsenwahrheit. Blochs Souveränität wird nicht gestört von unfreiwilliger Komik: »Es ist jedenfalls nicht immer das Erwartete, das an die Tür klopft.« (161) Kultur ist dieser Philosophie zuwenig, aber zuweilen ist sie weniger als jene und kippt aus den Pantinen. Denn wie es nichts zwischen Himmel und Erde gibt, was nicht psychoanalytisch als Symbol für Sexuelles beschlagnahmt werden könnte, so gibt es nichts, was nicht ebenso zur Symbolintention, zur Blochschen Spur taugte, und dies Alles grenzt ans Nichts. Am verfänglichsten sind die Spuren dort, wo sie zum Okkulten tendieren: wird einmal das Ausschweifen in intelligible Welten zum Prinzip, so ist auch kein Kraut gewachsen gegen die Träume des Geistersehers. Eine Fülle abergläubischer Geschichten wird erzählt; das Powere des Hintertreppenklatschs aus der Geisterwelt schleunigst zwar unterstrichen, aber keine Distinktion des metaphysisch Intendierten von der aufs Faktum heruntergebrachten Metaphysik theoretisch vollzogen. Gleichwohl spricht noch dort etwas für Bloch, wo der Kitsch seinen Retter zu verschlingen droht. Denn ein anderes ist es, an Gespenster glauben, ein anderes, Gespenstergeschichten erzählen. Fast möchte man nur dem das wahre Vergnügen an solchen Geschichten zutrauen, der nicht an sie glaubt, sondern, indem er auf sie sich einläßt, daran gerade die Freiheit vom Mythos genießt. Auf sie zielt dessen Reflexion durch den Bericht und Blochs Philosophie insgesamt. Der Rest der ungeglaubten Geistergeschichten ist jenes Staunen über das Zuwenig der unfreien Welt, das zu paraphrasieren er nicht müde wird. Sie sind Mittel des Ausdrucks: dessen von Verfremdung. Unterm Primat des Ausdrucks über die Signifikation, nicht sowohl darauf bedacht, daß die Worte die Begriffe deuten, wie darauf, daß die Begriffe die Worte nach Hause bringen, ist Blochs Philosophie die des Expressionismus. Ihn bewahrt sie auf in der Idee, die verkrustete Oberfläche des Lebens zu durchbrechen. Unvermittelt will menschliche Unmittelbarkeit laut werden: gleich dem expressionistischen Subjekt protestiert das philosophische Blochs gegen die Verdinglichung der Welt. Er darf sich nicht, wie Kunst, mit der Formung dessen begnügen, was Subjektivität zu füllen vermag, sondern denkt über diese hinaus und macht deren Unmittelbarkeit selber als gesellschaftlich vermittelte, entfremdete transparent. Dabei jedoch löscht er, sein ganzes Werk hindurch, nicht wie sein Jugendfreund Lukács bei solchem Übergang das subjektive Moment aus in der Fiktion eines schon erreichten versöhnten Standes. Das schützt ihn vor Verdinglichung zweiten Grades. Seine geschichtsphilosophische Innervation hält den Standpunkt der subjektiven Erfahrung auch dort fest, wo er ihn theoretisch, im Hegelschen Sinn, überschreitet. Objektiv ist seine Philosophie intendiert und redet doch unverändert expressionistisch. Als Gedanke kann sie nicht reiner Laut der Unmittelbarkeit bleiben, kann aber auch Subjektivität, als Erkenntnisgrund und sprachliches Organon, nicht durchstreichen, denn keine objektive Ordnung des Seienden ist gegenwärtig, die substantiell, ohne Widerspruch das Subjekt in sich einschlösse, und deren Sprache eins wäre mit seiner eigenen. Blochs Denken erspart sich nicht das Bittere, daß zur gegenwärtigen Stunde der philosophische Schritt übers Subjekt hinaus ins Vorsubjektive zurückfällt und einer kollektiven Ordnung zugute kommt, in der Subjektivität nicht aufgehoben ist, sondern bloß niedergehalten von heteronomem Druck. Schrill antwortet sein perennierender Expressionismus darauf, daß Verdinglichung perenniert und daß ihre Abschaffung dort, wo sie behauptet wird, zur bloßen Ideologie sich verhärtet hat. Die Brüche in seiner Rede sind Echo des Stundenschlags, der eine Philosophie des Subjekt-Objekts dazu verhält, den fortwährenden Bruch von Subjekt und Objekt einzubekennen. Ihr innerstes Motiv hat sie mit dem literarischen Expressionismus gemeinsam. Von Georg Heym existiert der Satz: »Man könnte vielleicht sagen, daß meine Dichtung der beste Beweis eines metaphysischen Landes ist, das seine schwarzen Halbinseln weit hinein in unsere flüchtigen Tage streckt«: des gleichen wohl, dessen Topographie das Werk Rimbauds entwarf. In Bloch möchte der Anspruch eines solchen Beweises wörtlich genommen, jenes Land mit Gedanken eingeholt werden. Dadurch ist seine Philosophie Metaphysik anders als die traditionelle. Sie wäre nicht auf die freilich allerorten auch in ihr noch durchklingende Frage nach dem Sein, nach dem wahren Wesen der Dinge, nach Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zu bringen, sondern möchte den andern Raum beschreiben oder, nach Schellings Wort, »konstruieren«: Metaphysik als Phänomenologie des Imaginären. Transzendenz, eingewandert in Profanität, wird als ein »Raum« vorgestellt. Von der spiritistischen Kolportage aus der vierten Dimension ist er darum so schwer abzuheben, weil er, eines jeglichen Moments von Seiendem ledig, zum Symbol würde, die Blochsche Transzendenz zur Idee; und damit seine Philosophie zu jenem Idealismus, aus dessen Gefängnis auszubrechen sie überhaupt gedacht ward. »Dieser Raum, scheint mir, ist immer um uns, auch wenn wir nur an seinen Rändern saugen und nicht mehr wissen, wie dunkel die Nacht ist.« (183) In ihn wollen die Blochschen »Motive des Verschwindens« geleiten. Sterben wird zum Tor wie in manchen Augenblicken Bachs. »Selbst das Nichts, das die Ungläubigen zudiktieren, ist unvorstellbar, ja im Grund noch dunkler als ein Etwas, das bliebe.« (196) Blochs Obsession mit dem Imaginären als einem gleichwohl Seienden bedingt jenes merkwürdig Statische inmitten aller Dynamik, das Paradoxon des Expressionisten als Epikers; auch den Überschuß an blindem, ungelöstem Stoff. Gelegentlich liest es sich mehr wie Schelling denn wie Hegel, mehr wie eine Pseudomorphose an Dialektik denn wie diese selbst. Dialektik bräche kaum ab vor einer Zweiweltentheorie, die zuweilen an Schichten-Ontologie mahnt; vor der chiliastischen Antithese immanenter Utopie und enthüllter Transzendenz. Bloch aber schreibt zu einer Anekdote von einem jungen Arbeiter, den ein Wohltäter temporär mit dem schönen Leben beglückt und dann wieder ins Bergwerk schickt, worauf jener ihn umbringt: »Ist das Leben, das mit uns spielt, anders als der reiche Mann, der gute? Zwar er selber ist aufzuheben und der Arbeiter erschoß ihn; das bloß soziale Schicksal, das die reiche Klasse der armen setzt, ist aufzuheben. Aber der reiche Mann steht noch wie ein Götze des andern Schicksals da, unsres naturhaften mit dem Tod am Ende, dessen Roheit der reiche Teufel ja kopiert und sinnfällig gemacht hat, bis es sein eignes wurde.« (50f.) Oder variiert: »... im Tod, der keinem sein eigener Tod ist, per definitionem sein kann (denn unser Raum ist immer das Leben oder was mehr, aber nicht was weniger als dieses ist) – auch im Tod ist etwas von jener reichen Katze, die die Maus erst laufen läßt, bevor sie sie frißt. Kein Mensch könnte es dem ›Heiligen‹ verübeln, wenn er diesen Gott abschösse wie der Arbeiter den Millionär.« (51f.) Zwischen der gesellschaftlichen Unterdrückung und der mythischen Todverfallenheit des Lebens konstruiert Bloch eine antinomistisch grinsende analogia entis, aber der Platonische Chorismos klafft doch weiter, und die Herstellung einer vernünftigen Ordnung auf der Erde wäre ein Tropfen auf den heißen Stein von Schicksal und Tod. Die hartgesottene Naivetät, die das nicht sich ausreden läßt, ermuntert zur billigen Belehrung von beiden Seiten, vom Diamat und vom Sein als Sinn des Seienden. Wie alles Avancierte immer auch hinter dem zurückbleibt, was es hinter sich ließ, so sticht Bloch durch einen Erdenrest ab von der Geschliffenheit der offiziellen Philosophie, durch ein Dschungelhaftes von der administrativen Blankheit der zonalen. Damit sabotiert er seine Rezeption als Kulturgut, erleichtert freilich auch die apokryphe, sektenhafte. Das allzu architektonische Schema prägt dem Gedanken selber sich sein. Während Blochs Philosophie überquillt von Materialien und Farben, entrinnt sie doch nicht dem Abstrakten. Ihr Buntes und Besonderes dient in weitem Maß als Beispiel des Einen Gedankens von Utopie und Durchbruch, den sie hegt wie Schopenhauer den Seinen: »Denn schließlich ist alles, was einem begegnet und auffällt, dasselbe.« (16) Sie muß Utopie auf den Allgemeinbegriff abziehen, der jenes Konkrete subsumiert, das allein doch die Utopie wäre. Die »Gestalt der unkonstruierbaren Frage« wird zum System und läßt vom Grandiosen sich imponieren, das so schlecht zu Blochs Aufbegehren gegen Macht und Herrlichkeit paßt. System und Schein stimmen zusammen. Der Allgemeinbegriff, der die Spur wegwischt und sie kaum wahrhaft in sich aufzuheben vermag, muß doch, um seiner eigenen Intention willen, reden, als wäre sie in ihm gegenwärtig. Er verurteilt sich zur Überforderung auf Lebenszeit. Das übertäubt der expressionistische Schrei: die Gewalt des Willens, ohne den keine Spur entdeckt würde, arbeitet dem Gewollten entgegen. Denn die Spur selbst ist das Unwillkürliche, Unscheinbare, Intentionslose. Ihre Nivellierung auf Intention frevelt an ihr, so wie, nach Hegels Einsicht in der Phänomenologie, Beispiele an der Dialektik freveln. Die Farbe, die Bloch meint, wird grau als Totale. Hoffnung ist kein Prinzip. Philosophie kann aber nicht vor der Farbe verstummen. Sie kann nicht im Medium des Gedankens, der Abstraktion sich bewegen und Askese gegen die Deutung üben, in der jene Bewegung terminiert. Sonst sind ihre Ideen Rätselbilder. Dafür hat Benjamin in der in vielem den Spuren verwandten ›Einbahnstraße‹ sich entschieden. Wie diese sympathisieren die Spuren, im Titel schon, mit dem Kleinen, aber im Unterschied zu Benjamin verschenkt Bloch sich nicht daran, sondern benutzt es, in ausdrücklicher Absicht (vgl. S. 66ff.), als Kategorie. Noch das Kleine bleibt abstrakt, nach dem eigenen Maß zu groß. Er weigert sich dem Fragmentarischen. Dynamisch geht er wie Hegel weiter, hinweg über das, woran seine Erfahrung ihr Substrat hat; insofern ist er Idealist malgré lui. Seine Spekulation will, nach einer älteren Formulierung, Luftwurzeln treiben, ultima philosophia sein und hat doch die Struktur von prima philosophia, ambitioniert das große Ganze. Sie denkt das Ende als Weltgrund, der das Seiende bewegt, dem es als telos schon innewohnt. Sie macht es zum Ersten. Das ist seine innerste, unaufhebbare Antinomie. Auch sie teilt er mit Schelling. Die Konzeption des Unterdrückten, von unten Treibenden, das dem Unwesen ein Ende setzt, ist politisch. Auch davon wird erzählt wie von einem Vorentschiedenen, die Veränderung der Welt gleichsam supponiert, unbekümmert darum, was in den dreißig Jahren seit der Erstausgabe der Spuren aus der Revolution wurde und was ihrem Begriff und ihrer Möglichkeit unter den veränderten technologischen und gesellschaftlichen Bedingungen widerfuhr. Seinem Urteil genügt die Absurdität des Bestehenden; er rechtet nicht über das, was geschehen soll. »In der rue Blondel lag ein betrunkenes Weib, der Schutzmann packt an. Je suis pauvre, sagt das Weib. Deshalb brauchst du doch nicht die Straße zu verkotzen, brüllt der Schutzmann. Que voulez vous, monsieur, la pauvreté, c'est déjà à moitié la saleté, sagt das Weib und säuft. So hat sie sich beschrieben, erklärt und aufgehoben, im selben Zug. Wen oder was sollte der Schutzmann noch verhaften.« (17) Der Stärke, nicht übers Vernünftige zu vernünfteln, gesellt sich der Schatten einer politischen petitio principii, die zuzeiten dort sich ausschlachten ließ, wo die Weltgeschichte als causa judicata für beendet erklärt wird. Aber Blochs Zug läßt sich vom Autoritären und Repressiven nicht bändigen. Er ist einer der ganz wenigen Philosophen, die vorm Gedanken an eine Welt ohne Herrschaft und Hierarchie nicht zurückbeben; unvorstellbar, daß er aus approbierter Tiefe die Abschaffung von Übel, Sünde und Tod verleumdete. Daraus, daß es bis heute nicht gelang, liest er nicht die perfide Maxime heraus, daß es nicht gelingen könne und nicht gelingen dürfe. Das verleiht seinem Versprechen, der Transfiguration des happy end, trotz allem die Resonanz des nicht Vergeblichen. Unter den Spuren fehlt gänzlich die von Muff. Häretiker der Dialektik, läßt er auch mit der materialistischen These nicht sich abspeisen, keine klassenlose Gesellschaft dürfe ausgemalt werden. Mit unbeirrter Sinnlichkeit freut er sich an ihrem Bild, ohne es trügerisch breit zu walzen. An dem Hummer essenden französischen Arbeiter oder dem Volksfest vom 14. Juli schimmert »ein gewisses Später auf, wo das Geld nicht mehr um die Güter bellt oder in ihnen wedelt« (19). Er betet auch nicht das Abrakadabra der unmittelbaren Einheit von Theorie und Praxis nach. Auf die Frage »Soll man tun oder denken?« antwortet er: »Keinen Hund, sagt man, lockt die Philosophie hinterm Ofen hervor. Aber wie Hegel dazu bemerkt, ist das auch nicht ihre Aufgabe. Und sodann könnte die Philosophie auch ohne diese Aufgabe bestehen, aber nicht einmal diese Aufgabe ohne Philosophie. Das Denken schafft selbst erst die Welt, in der verwandelt werden kann und nicht bloß gestümpert.« (261) Kein schrofferer Bescheid wäre dem Vulgärmaterialismus zu erteilen von realer Humanität, die dem Denken das Seine läßt, während es allerorten zur Ancilla des Tuns herabgedrückt wird. Solche Humanität erlaubt auch heute noch, was Benjamin einmal von Bloch sagte: er könne an seinen Gedanken sich wärmen. Sie gleichen dem mächtigen grünen Kachelofen, der von außen geheizt wird und für die ganze Wohnung ausreicht, tröstlich stark, ohne Ofenbank im Zimmer, und ohne daß er es verräucherte. Der Märchen erzählt, behütet sie vorm Verrat, ihre Zeit habe schon geschlagen. Die Erwartung, daß es werde, paart sich mit abgründiger Skepsis. Beides vereint sich im Witz aus einer jüdischen Legende: einer berichtet ein Wunder und dementiert es im Augenblick der höchsten Spannung: »›Was tut Gott? die ganze Geschichte ist nicht wahr.‹« (253) Bloch spart die Deutung aus, fügt aber hinzu: »Kein übler Satz für einen Lügner, kein schlechtes Weltmotto, würden es Bessere sagen.« (a.a.O.) Was tut Gott? – in die saloppe Frage vermummt sich der unbeschwichtigte Zweifel an seiner Existenz, weil »die ganze Geschichte nicht wahr«, weil, wider Hegel und alle Dialektik, die Weltgeschichte noch nicht die der Wahrheit ist. Indem durch den Witz Philosophie sich als Trug durchschaut, ist auch sie mehr, als sie ist: »Man muß sowohl witzig wie transzendierend sein.« (a.a.O.) Der Witz reißt die ungeheure Perspektive der Verse von Karl Kraus auf: »Nichts ist wahr, / Und möglich, daß sich anderes ereignet«; daß der Schein, den er zerstört, doch nicht das letzte Wort behält. Was der Philosophie nicht gelungen ist, braucht sie nicht darum sich abmarkten zu lassen, weil es den Menschen noch nicht gelang. Fußnoten
1 Die in Klammern gesetzten Seitenzahlen beziehen sich auf die Ausgabe Ernst Bloch, Spuren. Neue erweiterte Ausgabe, Berlin, Frankfurt a.M. 1959.
Erpreßte Versöhnung Zu Georg Lukács: ›Wider den mißverstandenen Realismus‹ Den Nimbus, der den Namen von Georg Lukács heute noch, auch außerhalb des sowjetischen Machtbereiches, umgibt, verdankt er den Schriften seiner Jugend, dem Essay-Band ›Die Seele und die Formen‹, der ›Theorie des Romans‹, den Studien ›Geschichte und Klassenbewußtsein‹, in denen er als dialektischer Materialist die Kategorie der Verdinglichung erstmals auf die philosophische Problematik prinzipiell anwandte. Ursprünglich etwa von Simmel und Kassner angeregt, dann in der südwestdeutschen Schule gebildet, setzte Lukács bald dem psychologischen Subjektivismus eine objektivistische Geschichtsphilosophie entgegen, die bedeutenden Einfluß ausübte. Die ›Theorie des Romans‹ zumal hat durch Tiefe und Elan der Konzeption ebenso wie durch die nach damaligen Begriffen außerordentliche Dichte und Intensität der Darstellung einen Maßstab philosophischer Ästhetik aufgerichtet, der seitdem nicht wieder verloren ward. Als, schon in den frühen zwanziger Jahren, der Lukácssche Objektivismus sich, nicht ohne anfängliche Konflikte, der offiziellen kommunistischen Doktrin beugte, hat Lukács nach östlicher Sitte jene Schriften revoziert; hat die subalternsten Einwände der Parteihierarchie unter Mißbrauch Hegelscher Motive sich gegen sich selbst zu eigen gemacht und jahrzehntelang in Abhandlungen und Büchern sich abgemüht, seine offenbar unverwüstliche Denkkraft dem trostlosen Niveau der sowjetischen Denkerei gleichzuschalten, die mittlerweile die Philosophie, welche sie im Munde führte, zum bloßen Mittel für Zwecke der Herrschaft degradiert hatte. Nur um der unterdessen widerrufenen und von seiner Partei mißbilligten Frühwerke willen aber wurde, was Lukács während der letzten dreißig Jahre veröffentlichte, auch ein dickes Buch über den jungen Hegel, überhaupt diesseits des Ostblocks beachtet, obwohl in einzelnen seiner Arbeiten zum deutschen Realismus des neunzehnten Jahrhunderts, zu Keller und Raabe, das alte Talent zu spüren war. Am krassesten wohl manifestierte sich in dem Buch ›Die Zerstörung der Vernunft‹ die von Lukács' eigener. Höchst undialektisch rechnete darin der approbierte Dialektiker alle irrationalistischen Strömungen der neueren Philosophie in einem Aufwaschen der Reaktion und dem Faschismus zu, ohne sich viel dabei aufzuhalten, daß in diesen Strömungen, gegenüber dem akademischen Idealismus, der Gedanke auch gegen eben jene Verdinglichung von Dasein und Denken sich sträubte, deren Kritik Lukács' eigene Sache war. Nietzsche und Freud wurden ihm schlicht zu Faschisten, und er brachte es über sich, im herablassenden Ton eines Wilhelminischen Provinzialschulrats von Nietzsches »nicht alltäglicher Begabung« zu reden. Unter der Hülle vorgeblich radikaler Gesellschaftskritik schmuggelte er die armseligsten Clichés jenes Konformismus wieder ein, dem die Gesellschaftskritik einmal galt. Das Buch ›Wider den mißverstandenen Realismus‹ nun, das 1958 im Westen, im Claassen-Verlag herauskam, zeigt Spuren einer veränderten Haltung des Fünfundsiebzigjährigen. Sie dürfte zusammenhängen mit dem Konflikt, in den er durch seine Teilnahme an der Nagy-Regierung geriet. Nicht nur ist von den Verbrechen der Stalin-Ära die Rede, sondern es wird in früher undenkbarer Formulierung sogar von einer »allgemeinen Stellungnahme für die Freiheit des Schrifttums« positiv gesprochen. Lukács entdeckt posthum Gutes an seinem langjährigen Gegner Brecht und rühmt dessen Ballade vom toten Soldaten, die den Pankower Machthabern ein kulturbolschewistisches Greuel sein muß, als genial. Gleich Brecht möchte er den Begriff des sozialistischen Realismus, mit dem man seit Jahrzehnten jeden ungebärdigen Impuls, alles den Apparatschiks Unverständliche und Verdächtige abwürgte, so ausweiten, daß mehr darin Raum findet als nur der erbärmlichste Schund. Er wagt schüchterne, vorweg vom Bewußtsein der eigenen Ohnmacht gelähmte Opposition. Die Schüchternheit ist keine Taktik. Lukács' Person steht über allem Zweifel. Aber das begriffliche Gefüge, dem er den Intellekt opferte, ist so verengt, daß es erstickt, was immer darin freier atmen möchte; das sacrifizio dell' intelletto läßt diesen selbst nicht unberührt. Lukács' offenbares Heimweh nach den frühen Schriften gerät dadurch in einen tristen Aspekt. Aus der ›Theorie des Romans‹ kehrt die »Lebensimmanenz des Sinnes« wieder, aber heruntergebracht auf den Kernspruch, daß das Leben unterm sozialistischen Aufbau eben sinnvoll sei – ein Dogma, gerade gut genug zur philosophisch tönenden Rechtfertigung der rosigen Positivität, die in den volkssozialistischen Staaten der Kunst zugemutet wird. Das Buch bietet Halbgefrorenes zwischen dem sogenannten Tauwetter und erneuter Kälte. Den subsumierenden, von oben her mit Kennmarken wie kritischer und sozialistischer Realismus operierenden Gestus teilt Lukács, trotz aller entgegenlautenden dynamischen Beteuerungen, nach wie vor mit den Kulturvögten. Die Hegelsche Kritik am Kantischen Formalismus in der Ästhetik ist versimpelt zu der Behauptung, daß in der modernen Kunst Stil, Form, Darstellungsmittel maßlos überschätzt seien (s. insbes. S. 15) – als ob nicht Lukács wissen müßte, daß durch diese Momente Kunst als Erkenntnis von der wissenschaftlichen sich unterscheidet; daß Kunstwerke, die indifferent wären gegen ihr Wie, ihren eigenen Begriff aufhöben. Was ihm Formalismus dünkt, meint, durch Konstruktion der Elemente unterm je eigenen Formgesetz, jene »Immanenz des Sinnes«, der Lukács nachhängt, anstatt, wie er selber es für unmöglich hält und doch objektiv verficht, den Sinn von außen dekretorisch ins Gebilde hineinzuzerren. Er mißdeutet willentlich die formkonstitutiven Momente der neuen Kunst als Akzidentien, als zufällige Zutaten des aufgeblähten Subjekts, anstatt ihre objektive Funktion im ästhetischen Gehalt selber zu erkennen. Jene Objektivität, die er an der modernen Kunst vermißt und die er vom Stoff und dessen »perspektivischer« Behandlung erwartet, fällt jenen die bloße Stofflichkeit auflösenden und damit erst sie in Perspektive rückenden Verfahrungsweisen und Techniken zu, die er wegwischen möchte. Gleichgültig stellt er sich gegen die philosophische Frage, ob in der Tat der konkrete Gehalt eines Kunstwerks eins sei mit der bloßen »Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit« (S. 108), an deren Idol er mit verbissenem Vulgärmaterialismus festhält. Sein eigener Text jedenfalls mißachtet all jene Normen verantwortlich geprägter Darstellung, die er durch seine Frühschriften zu statuieren geholfen hatte. Kein bärtiger Geheimrat könnte kunstfremder über Kunst perorieren; im Ton des Kathedergewohnten, der nicht unterbrochen werden darf, vor keinen längeren Ausführungen zurückschreckt und offensichtlich jene Möglichkeiten des Reagierens einbüßte, die er an seinen Opfern als ästhetizistisch, dekadent und formalistisch abkanzelt, die allein aber ein Verhältnis zur Kunst überhaupt erst gestatten. Während der Hegelsche Begriff des Konkreten bei Lukács nach wie vor hoch im Kurs steht – insbesondere, wenn es darum geht, die Dichtung zur Abbildung der empirischen Realität zu verhalten –, bleibt die Argumentation selber weithin abstrakt. Kaum je unterwirft sich der Text der Disziplin eines spezifischen Kunstwerks und seiner immanenten Probleme. Statt dessen wird verfügt. Der Pedanterie des Duktus entspricht Schlamperei im einzelnen. Lukács scheut sich nicht vor abgetakelten Weisheiten wie: »Eine Rede ist keine Schreibe«; er verwendet wiederholt den aus der Sphäre des Kommerzes und Rekords stammenden Ausdruck »Spitzenleistung« (S. 7); er nennt das Annullieren des Unterschieds von abstrakter und konkreter Möglichkeit »verheerend« und erinnert daran, wie »eine solche Diesseitigkeit ... etwa ab Giotto das Allegorisieren der Anfangsperiode immer entschiedener überwindet« (S. 41). Wir nach Lukács' Sprache Dekadenten mögen ja Form und Stil arg überschätzen, aber vor Prägungen wie »ab Giotto« hat uns das bislang ebenso bewahrt wie davor, Kafka zu loben, weil er »glänzend beobachte« (S. 47). Auch von der »Reihe der außerordentlich vielen Affekte, die zusammen zum Aufbau des menschlichen Innenlebens beitragen« (S. 90), dürften Avantgardisten nur selten etwas vermeldet haben. Man könnte angesichts solcher Spitzenleistungen, die sich jagen wie auf einer Olympiade, fragen, ob jemand, der so schreibt, unkundig des Metiers der Literatur, mit der er souverän umspringt, überhaupt das Recht hat, in literarischen Dingen im Ernst mitzureden. Aber man fühlt bei Lukács, der einmal gut schreiben konnte, in der Mischung aus Schulmeisterlichkeit und Unverantwortlichkeit die Methode des Justament, den rancuneerfüllten Willen zum Schlechtschreiben, dem er die magische Opferkraft zutraut, polemisch zu beweisen, wer es anders hält und sich anstrengt, sei ein Taugenichts. Stilistische Gleichgültigkeit ist übrigens stets fast ein Symptom dogmatischer Verhärtung des Inhalts. Die forcierte Uneitelkeit eines Vortrags, der sich sachlich glaubt, wofern er nur die Selbstreflexion versäumt, bemäntelt einzig, daß die Objektivität aus dem dialektischen Prozeß mit dem Subjekt herausgenommen ward. Der Dialektik wird Lippendienst gezollt, aber sie ist für solches Denken vorentschieden. Es wird undialektisch. Dogmatisch bleibt der Kern der Theorie. Die gesamte moderne Literatur, soweit auf sie nicht die Formel eines sei's kritischen, sei's sozialistischen Realismus paßt, ist verworfen, und es wird ihr ohne Zögern das Odium der Dekadenz angehängt, ein Schimpfwort, das nicht nur in Rußland alle Scheußlichkeiten von Verfolgung und Ausmerzung deckt. Der Gebrauch jenes konservativen Ausdrucks ist inkompatibel mit der Lehre, deren Autorität Lukács durch ihn, wie seine Vorgesetzten, der Volksgemeinschaft angleichen möchte. Die Rede von Dekadenz ist vom positiven Gegenbild kraftstrotzender Natur kaum ablösbar; Naturkategorien werden auf gesellschaftlich Vermitteltes projiziert. Eben dagegen jedoch geht der Tenor der Ideologiekritik von Marx und Engels. Selbst Reminiszenzen an den Feuerbach der gesunden Sinnlichkeit hätten schwerlich dem sozialdarwinistischen Terminus Einlaß in ihre Texte verschafft. Noch im Rohentwurf der Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie von 1857/58, also in der Phase des ›Kapitals‹, heißt es: »Sosehr nun das Ganze dieser Bewegung als gesellschaftlicher Prozeß erscheint, und sosehr die einzelnen Momente dieser Bewegung vom bewußten Willen und besondern Zwecken der Individuen ausgehn, sosehr erscheint die Totalität des Prozesses als ein objektiver Zusammenhang, der naturwüchsig entsteht; zwar aus dem Aufeinanderwirken der bewußten Individuen hervorgeht, aber weder in ihrem Bewußtsein liegt, noch als Ganzes unter sie subsumiert wird. Ihr eigenes Aufeinanderstoßen produziert ihnen eine über ihnen stehende, fremde gesellschaftliche Macht; ihre Wechselwirkung als von ihnen unabhängigen Prozeß und Gewalt ... Die gesellschaftliche Beziehung der Individuen aufeinander als verselbständigte Macht über den Individuen, werde sie nun vorgestellt als Naturmacht, Zufall oder in sonst beliebiger Form, ist notwendiges Resultat dessen, daß der Ausgangspunkt nicht das freie gesellschaftliche Individuum ist.« 1 Solche Kritik hält nicht inne vor der Sphäre, in der der Schein der Naturwüchsigkeit von Gesellschaftlichem, affektiv besetzt, am hartnäckigsten sich behauptet und in der alle Indignation über Entartung beheimatet ist, der der Geschlechter. Marx hat, etwas früher, die ›Religion des neuen Weltalters‹ von G.F. Daumer rezensiert und spießt einen Passus daraus auf: »Natur und Weib sind das wahrhaft Göttliche im Unterschiede von Mensch und Mann ... Hingebung des Menschlichen an das Natürliche, des Männlichen an das Weibliche ist die ächte, die allein wahre Demuth und Selbstentäußerung, die höchste, ja einzige Tugend und Frömmigkeit, die es gibt.« Dem fügt Marx den Kommentar hinzu: »Wir sehen hier, wie die seichte Unwissenheit des spekulierenden Religionsstifters sich in eine sehr prononcierte Feigheit verwandelt. Herr Daumer flüchtet sich vor der geschichtlichen Tragödie, die ihm drohend zu nahe rückt, in die angebliche Natur, d.h. in die blöde Bauernidylle, und predigt den Kultus des Weibes, um seine eigene weibische Resignation zu bemänteln.« 2 Wo immer gegen Dekadenz gewettert wird, wiederholt sich jene Flucht. Lukács wird zu ihr gezwungen durch einen Zustand, in dem gesellschaftliches Unrecht fortwährt, während es offiziell für abgeschafft erklärt ist. Die Verantwortung wird von dem von Menschen verschuldeten Zustand zurückgeschoben in Natur oder eine nach ihrem Modell konträr ausgedachte Entartung. Wohl hat Lukács versucht, den Widerspruch zwischen Marxischer Theorie und approbiertem Marxismus zu eskamotieren, indem er die Begriffe gesunder und kranker Kunst krampfhaft in soziale retrovertiert: »Die Beziehungen zwischen den Menschen sind historisch veränderlich, und es verändern sich dementsprechend auch die geistigen und emotionalen Bewertungen dieser Beziehungen. Diese Erkenntnis beinhaltet jedoch keinen Relativismus. In einer bestimmten Zeit bedeutet eine bestimmte menschliche Beziehung den Fortschritt, eine andere die Reaktion. So können wir den Begriff des sozial Gesunden finden, eben und zugleich als Grundlage aller wirklich großen Kunst, weil dieses Gesunde zum Bestandteil des historischen Bewußtseins der Menschheit wird.« 3 Das Unkräftige dieses Versuchs ist offenbar: wenn es sich schon um historische Verhältnisse handelt, wären Worte wie gesund und krank überhaupt zu vermeiden. Mit der Dimension Fortschritt / Reaktion haben sie nichts zu tun, sie werden mitgeschleppt einzig um ihres demagogischen Appells willen. Überdies ist die Dichotomie von gesund und krank so undialektisch wie die vom auf- und absteigenden Bürgertum, die ihre Normen selbst einem bürgerlichen Bewußtsein entlehnt, das mit der eigenen Entwicklung nicht mitkam. – Ich verschmähe es, darauf zu insistieren, daß Lukács unter den Begriffen Dekadenz und Avantgardismus – beides ist ihm dasselbe – gänzlich Heterogenes zusammenbringt, nicht nur also Proust, Kafka, Joyce, Beckett, sondern auch Benn, Jünger, womöglich Heidegger; als Theoretiker Benjamin und mich selber. Der heute beliebte Hinweis darauf, daß eine angegriffene Sache gar keine sei, sondern in divergentes Einzelnes auseinanderfalle, liegt allzu bequem zur Hand, um den Begriff aufzuweichen und dem eingreifenden Argument mit dem Gestus: »das bin ich gar nicht« sich zu entziehen. Ich halte mich also, auf die Gefahr hin, durch den Widerstand gegen die Simplifizierung selbst zu simplifizieren, an den Nerv der Lukács'schen Argumentation und differenziere innerhalb dessen, was er verwirft, nicht viel mehr, als er es tut, außer wo er grob entstellt. Sein Versuch, dem sowjetischen Verdikt über die moderne, nämlich das naiv-realistische Normalbewußtsein schockierende Literatur das philosophisch gute Gewissen zu machen, hat ein schmales Instrumentarium, insgesamt Hegelschen Ursprungs. Für seine Attacke auf die avantgardistische Dichtung als Abweichung von der Wirklichkeit bemüht er zunächst die Unterscheidung von »abstrakter« und »realer« Möglichkeit: »Zusammengehörigkeit, Unterschied und Gegensatz dieser beiden Kategorien ist vor allem eine Tatsache des Lebens selbst. Möglichkeit ist – abstrakt, bzw. subjektiv angesehen – immer reicher als die Wirklichkeit; Tausende und aber Tausende Möglichkeiten scheinen für das menschliche Subjekt offenzustehen, deren verschwindend geringer Prozentsatz verwirklicht werden kann. Und der moderne Subjektivismus, der in diesem Scheinreichtum die echte Fülle der menschlichen Seele zu erblicken vermeint, empfindet ihr gegenüber eine mit Bewunderung und Sympathie gemischte Melancholie, während der Wirklichkeit, die die Erfüllung solcher Möglichkeit versagt, mit einer ebenfalls melancholischen Verachtung entgegengetreten wird.« (S. 19) Über diesen Einwand ist, trotz des Prozentsatzes, nicht hinwegzugleiten. Hat Brecht etwa versucht, durch infantilistische Abkürzung gleichsam reine Urformen des Faschismus als eines Gangstertums auszukristallisieren, indem er den aufhaltsamen Diktator Arturo Ui als Exponenten eines imaginären und apokryphen Karfioltrusts, nicht als den ökonomisch mächtigster Gruppen entwarf, so schlug das unrealistische Kunstmittel dem Gebilde nicht zum Segen an. Als Unternehmen einer gewissermaßen gesellschaftlich exterritorialen und darum beliebig »aufhaltsamen« Verbrecherbande verliert der Faschismus sein Grauen, das des großen gesellschaftlichen Zuges. Dadurch wird die Karikatur kraftlos, nach eigenem Maßstab albern: der politische Aufstieg des Leichtverbrechers büßt im Stück selbst die Plausibilität ein. Satire, die ihren Gegenstand nicht adäquat hat, bleibt auch als solche ohne Salz. Aber die Forderung pragmatischer Treue kann sich doch nur auf die Grunderfahrung von der Realität und auf die membra disjecta der stofflichen Motive beziehen, aus denen der Schriftsteller seine Konstruktion fügt; im Fall Brecht also auf die Kenntnis des tatsächlichen Zusammenhangs von Wirtschaft und Politik und darauf, daß die gesellschaftlichen Ausgangstatsachen sitzen; nicht aber auf das, was daraus im Gebilde wird. Proust, bei dem genaueste »realistische« Beobachtung mit dem ästhetischen Formgesetz unwillkürlicher Erinnerung so innig sich verbindet, bietet das eindringlichste Beispiel der Einheit pragmatischer Treue und – nach Lukács'schen Kategorien – unrealistischer Verfahrungsweise. Wird etwas von der Innigkeit jener Fusion nachgelassen, wird die »konkrete Möglichkeit« im Sinn eines unreflektierten, in starrer Betrachtung draußen vorm Gegenstand verharrenden Realismus der Gesamtanschauung interpretiert und das dem Stoff antithetische Moment einzig in der »Perspektive«, also einem Durchscheinenlassen des Sinnes geduldet, ohne daß diese Perspektive bis in die Zentren der Darstellung, bis in die Realien selber eindränge, so resultiert ein Mißbrauch der Hegelschen Unterscheidung zugunsten eines Traditionalismus, dessen ästhetische Rückständigkeit Index seiner historischen Unwahrheit ist. Zentral jedoch erhebt Lukács den Vorwurf des Ontologismus, der am liebsten die ganze avantgardistische Literatur auf die Existentialien des archaisierenden Heidegger festnageln möchte. Wohl rennt auch Lukács hinter der Mode her, es käme darauf an zu fragen: »Was ist der Mensch?« (S. 16), ohne von den Spuren sich schrecken zu lassen. Aber er modifiziert sie wenigstens durch die allbekannte Aristotelische Bestimmung des Menschen als eines gesellschaftlichen Wesens. Aus ihr leitet er die schwerlich bestreitbare Behauptung ab, »die rein menschliche, die zutiefst individuelle und typische Eigenart« der Gestalten der großen Literatur, »ihre künstlerische Sinnfälligkeit« sei »mit ihrem konkreten Verwurzeltsein in den konkret historischen, menschlichen, gesellschaftlichen Beziehungen ihres Daseins untrennbar verknüpft« (a.a.O.). »Völlig entgegengesetzt« jedoch sei, so fährt er fort, »die ontologische Intention, das menschliche Wesen ihrer Gestalten zu bestimmen, bei den führenden Schriftstellern der avantgardeistischen Literatur. Kurz gefaßt: für sie ist ›der‹ Mensch: das von Ewigkeit her, seinem Wesen nach einsame, aus allen menschlichen und erst recht aus allen gesellschaftlichen Beziehungen herausgelöste – ontologisch – von ihnen unabhängig existierende Individuum.« (a.a.O.) Gestützt wird das auf eine ziemlich törichte, jedenfalls für das literarisch Gestaltete unmaßgebliche Äußerung Thomas Wolfes über die Einsamkeit des Menschen als unausweichliche Tatsache seines Daseins. Aber gerade Lukács, der beansprucht, radikal historisch zu denken, müßte sehen, daß jene Einsamkeit selber, in der individualistischen Gesellschaft, gesellschaftlich vermittelt ist und von wesentlich geschichtlichem Gehalt. In Baudelaire, auf den schließlich alle Kategorien wie Dekadenz, Formalismus, Ästhetizismus zurückdatieren, ging es nicht um das invariante Menschenwesen, seine Einsamkeit oder Geworfenheit, sondern um das Wesen von Moderne. Wesen selbst ist in dieser Dichtung kein abstraktes An sich sondern gesellschaftlich. Die objektiv in seinem Werk waltende Idee will gerade das historisch Fortgeschrittene, Neueste als das zu beschwörende Urphänomen; es ist, nach dem Ausdruck Benjamins, »dialektisches Bild«, kein archaisches. Daher die ›Tableaux Parisiens‹. Substrat sogar von Joyce ist nicht, wie Lukács ihm unterschieben möchte, ein zeitloser Mensch schlechthin, sondern der höchst geschichtliche. Er fingiert, trotz aller irischen Folklore, keine Mythologie jenseits der von ihm dargestellten Welt, sondern trachtet deren Wesen oder Unwesen zu beschwören, indem er sie selbst, kraft des vom heutigen Lukács gering geschätzten Stilisationsprinzips, gewissermaßen mythisiert. Fast möchte man die Größe von avantgardistischer Dichtung dem Kriterium unterstellen, ob darin geschichtliche Momente als solche wesenhaft geworden, nicht zur Zeitlosigkeit verflacht sind. Lukács fertigte vermutlich die Verwendung von Begriffen wie Wesen und Bild in der Ästhetik als idealistisch ab. Aber ihre Stellung im Bereich der Kunst ist grundverschieden von der in Philosophien des Wesens oder der Urbilder, von allem aufgewärmten Platonismus. Lukács' Position hat wohl ihre innerste Schwäche darin, daß er diesen Unterschied nicht mehr festzuhalten vermag und Kategorien, die sich aufs Verhältnis des Bewußtseins zur Realität beziehen, so auf die Kunst überträgt, als hießen sie hier einfach das Gleiche. Kunst findet sich in der Realität, hat ihre Funktion in ihr, ist auch in sich vielfältig zur Realität vermittelt. Gleichwohl aber steht sie als Kunst, ihrem eigenen Begriff nach, antithetisch dem gegenüber, was der Fall ist. Das hat die Philosophie mit dem Namen des ästhetischen Scheins bedacht. Auch Lukács wird kaum überspringen können, daß der Gehalt von Kunstwerken nicht in demselben Sinn wirklich ist wie die reale Gesellschaft. Wäre dieser Unterschied eliminiert, so verlöre jegliche Bemühung um Ästhetik ihr Substrat. Daß aber die Kunst von der unmittelbaren Realität, in der sie einmal als Magie entsprang, qualitativ sich sonderte, ihr Scheincharakter, ist weder ihr ideologischer Sündenfall noch ein ihr äußerlich hinzugefügter Index, so als wiederholte sie bloß die Welt, nur ohne den Anspruch, selber unmittelbar wirklich zu sein. Eine solche subtraktive Vorstellung spräche aller Dialektik Hohn. Vielmehr betrifft die Differenz von empirischem Dasein und Kunst deren innerste Zusammensetzung. Gibt sie Wesen, »Bilder«, so ist das keine idealistische Sünde; daß manche Künstler idealistischen Philosophien anhingen, besagt nichts über den Gehalt ihrer Werke. Sondern Kunst selber hat gegenüber dem bloß Seienden, wofern sie es nicht, kunstfremd, bloß verdoppelt, zum Wesen, Wesen und Bild zu sein. Dadurch erst konstituiert sich das Ästhetische; dadurch, nicht im Blick auf die bloße Unmittelbarkeit, wird Kunst zu Erkenntnis, nämlich einer Realität gerecht, die ihr eigenes Wesen verhängt und was es ausspricht zugunsten einer bloß klassifikatorischen Ordnung unterdrückt. Nur in der Kristallisation des eigenen Formgesetzes, nicht in der passiven Hinnahme der Objekte konvergiert Kunst mit dem Wirklichen. Erkenntnis ist in ihr durch und durch ästhetisch vermittelt. Selbst der vorgebliche Solipsismus, Lukács zufolge Rückfall auf die illusionäre Unmittelbarkeit des Subjekts, bedeutet in der Kunst nicht, wie in schlechten Erkenntnistheorien, die Verleugnung des Objekts, sondern intendiert dialektisch die Versöhnung mit ihm. Als Bild wird es ins Subjekt hineingenommen, anstatt, nach dem Geheiß der entfremdeten Welt, dinghaft ihm gegenüber zu versteinern. Kraft des Widerspruchs zwischen diesem im Bild versöhnten, nämlich ins Subjekt spontan aufgenommenen Objekt und dem real unversöhnten draußen, kritisiert das Kunstwerk die Realität. Es ist deren negative Erkenntnis. Nach Analogie zu einer heute geläufigen philosophischen Redeweise könnte man von der »ästhetischen Differenz« vom Dasein sprechen: nur vermöge dieser Differenz, nicht durch deren Verleugnung, wird das Kunstwerk beides, Kunstwerk und richtiges Bewußtsein. Eine Kunsttheorie, die das ignoriert, ist banausisch und ideologisch in eins. Lukács begnügt sich mit Schopenhauers Einsicht, das Prinzip des Solipsismus lasse sich nur »in der abstraktesten Philosophie mit völliger Konsequenz durchführen«, und »auch dort nur sophistisch, rabulistisch« (S. 18). Aber seine Argumentation schlägt sich selber: wenn der Solipsismus nicht durchzuhalten ist; wenn in diesem sich reproduziert, was er zunächst, nach phänomenologischer Redeweise, »ausklammert«, dann braucht man ihn als Stilisierungsprinzip auch nicht zu fürchten. Die Avantgardisten haben sich denn auch über die ihnen von Lukács zugeschriebene Position objektiv in ihren Werken hinausbewegt. Proust dekomponiert die Einheit des Subjekts vermöge dessen eigener Introspektion: es verwandelt sich schließlich in einen Schauplatz erscheinender Objektivitäten. Sein individualistisches Werk wird zum Gegenteil dessen, als was Lukács es schmäht: wird anti-individualistisch. Der monologue intérieur, die Weltlosigkeit der neuen Kunst, über die Lukács sich entrüstet, ist beides, Wahrheit und Schein der losgelösten Subjektivität. Wahrheit, weil in der allerorten atomistischen Weltverfassung die Entfremdung über den Menschen waltet und weil sie – wie man Lukács konzedieren mag – darüber zu Schatten werden. Schein aber ist das losgelöste Subjekt, weil objektiv die gesellschaftliche Totalität dem Einzelnen vorgeordnet ist und durch die Entfremdung hindurch, den gesellschaftlichen Widerspruch, zusammengeschlossen wird und sich reproduziert. Diesen Schein der Subjektivität durchschlagen die großen avantgardistischen Kunstwerke, indem sie der Hinfälligkeit des bloß Einzelnen Relief verleihen und zugleich in ihm jenes Ganze ergreifen, dessen Moment das Einzelne ist und von dem es doch nichts wissen kann. Meint Lukács, es werde bei Joyce Dublin, bei Kafka und Musil die Habsburger Monarchie als »Atmosphäre des Geschehens« gleichsam programmwidrig fühlbar, bleibe jedoch bloß sekundäres Nebenprodukt, so macht er um seines thema probandum willen die negativ aufsteigende epische Fülle, das Substantielle, zur Nebensache. Der Begriff der Atmosphäre ist Kafka überhaupt höchst unangemessen. Er stammt aus einem Impressionismus, den Kafka gerade durch seine objektive Tendenz, die aufs geschichtliche Wesen, überholt. Selbst bei Beckett – vielleicht bei ihm am meisten –, wo scheinbar alle konkreten historischen Bestandstücke eliminiert, nur primitive Situationen und Verhaltensweisen geduldet sind, ist die unhistorische Fassade das provokative Gegenteil des von reaktionärer Philosophie vergötzten Seins schlechthin. Der Primitivismus, mit dem seine Dichtungen abrupt anheben, präsentiert sich als Endphase einer Regression, nur allzu deutlich in ›Fin de partie‹, wo wie aus der weiten Ferne des Selbstverständlichen eine terrestrische Katastrophe vorausgesetzt wird. Seine Urmenschen sind die letzten. Thematisch ist bei ihm, was Horkheimer und ich in der ›Dialektik der Aufklärung‹ die Konvergenz der total von der Kulturindustrie eingefangenen Gesellschaft mit den Reaktionsweisen der Lurche nannten. Der substantielle Gehalt eines Kunstwerks kann in der exakten, wortlos polemischen Darstellung heraufdämmernder Sinnlosigkeit bestehen und verlorengehen, sobald er, wäre es auch nur indirekt durch »Perspektive«, wie in der didaktischen Antithese richtigen und falschen Lebens bei Tolstoi seit der ›Anna Karenina‹, positiv gesetzt, als daseiend hypostasiert wird. Lukács' alte Lieblingsidee einer »Immanenz des Sinnes« verweist auf eben jene fragwürdige Zuständlichkeit, die seiner eigenen Theorie zufolge zu destruieren wäre. Konzeptionen wie die Becketts jedoch sind objektiv-polemisch. Lukács fälscht sie zur »einfachen Darstellung des Pathologischen, der Perversität, des Idiotismus als typischer Form der ›condition humaine‹« (S. 31), nach dem Usus des Filmzensors, der das Dargestellte der Darstellung zur Last schreibt. Vollends die Vermengung mit dem Seinskultus, und gar mit dem minderen Vitalismus Montherlants (a.a.O.), bezeugt Blindheit gegen das Phänomen. Sie rührt daher, daß Lukács verstockt sich weigert, der literarischen Technik ihr zentrales Recht zuzusprechen. Statt dessen hält er sich unverdrossen ans Erzählte. Aber einzig durch »Technik« realisiert die Intention des Dargestellten – das, was Lukács dem selbst anrüchigen Begriff »Perspektive« zumißt – in der Dichtung sich überhaupt. Wohl möchte man erfahren, was von der attischen Tragödie übrigbliebe, die Lukács gleich Hegel kanonisiert, wenn man zu ihrem Kriterium die Fabel erhebt, die auf der Straße lag. Nicht minder konstituiert den traditionellen, selbst den nach Lukács' Schema »realistischen« Roman – Flaubert – Komposition und Stil. Heute, da die bloße empirische Zuverlässigkeit zur Fassaden-Reportage herabsank, hat die Relevanz jenes Moments extrem sich gesteigert. Konstruktion kann hoffen, die Zufälligkeit des bloß Individuellen immanent zu bemeistern, gegen die Lukács eifert. Er zieht nicht die ganze Konsequenz aus der Einsicht, die im letzten Kapitel des Buches durchbricht: daß wider die Zufälligkeit nicht hilft, einen vermeintlich objektiveren Standpunkt entschlossen zu beziehen. Lukács sollte der Gedanke vom Schlüsselcharakter der Entfaltung der technischen Produktivkräfte wahrhaft vertraut sein. Gewiß war er auf die materielle, nicht auf die geistige Produktion gemünzt. Kann aber Lukács im Ernst sich dagegen sperren, daß auch die künstlerische Technik nach eigener Logik sich entfaltet, und sich einreden, die abstrakte Beteuerung, innerhalb einer veränderten Gesellschaft gälten automatisch und en bloc andere ästhetische Kriterien, reiche aus, jene Entwicklung der technischen Produktivkräfte auszulöschen und ältere, nach der immanenten Logik der Sache überholte, als verbindlich zu restaurieren? Wird nicht unterm Diktat des sozialistischen Realismus gerade er Anwalt einer Invariantenlehre, die von der von ihm mit Grund abgelehnten nur durch größere Grobheit sich unterscheidet? So rechtmäßig auch Lukács in der Tradition der großen Philosophie Kunst als Gestalt von Erkenntnis begreift, nicht als schlechthin Irrationales der Wissenschaft kontrastiert, er verfängt sich dabei in eben der bloßen Unmittelbarkeit, deren er kurzsichtig die avantgardistische Produktion zeiht: der der Feststellung. Kunst erkennt nicht dadurch die Wirklichkeit, daß sie sie, photographisch oder »perspektivisch«, abbildet, sondern dadurch, daß sie vermöge ihrer autonomen Konstitution ausspricht, was von der empirischen Gestalt der Wirklichkeit verschleiert wird. Noch der Gestus der Unerkennbarkeit der Welt, den Lukács an Autoren wie Eliot oder Joyce so unverdrossen bemängelt, kann zu einem Moment von Erkenntnis werden, der des Bruchs zwischen der übermächtigen und unassimilierbaren Dingwelt und der hilflos von ihr abgleitenden Erfahrung. Lukács vereinfacht die dialektische Einheit von Kunst und Wissenschaft zur blanken Identität, so als ob die Kunstwerke durch Perspektive bloß etwas von dem vorwegnähmen, was dann die Sozialwissenschaften brav einholen. Das Wesentliche jedoch, wodurch das Kunstwerk als Erkenntnis sui generis von der wissenschaftlichen sich unterscheidet, ist eben, daß nichts Empirisches unverwandelt bleibt, daß die Sachgehalte objektiv sinnvoll werden erst als mit der subjektiven Intention verschmolzene. Grenzt Lukács seinen Realismus vom Naturalismus ab, so versäumt er, Rechenschaft davon zu geben, daß der Realismus, wenn der Unterschied ernst gemeint ist, mit jenen subjektiven Intentionen notwendig sich amalgamiert, die er wiederum aus dem Realismus verscheuchen möchte. Überhaupt ist der von ihm inquisitorisch zum Richtmaß erhobene Gegensatz realistischer und »formalistischer« Verfahrungsweisen nicht zu retten. Erweist sich die ästhetisch objektive Funktion der Formprinzipien, die Lukács als unrealistisch und idealistisch anathema sind, so sind umgekehrt die von ihm unbedenklich als Paradigmen hochgehaltenen Romane des früheren neunzehnten Jahrhunderts, Dickens und Balzac, gar nicht so realistisch. Dafür mochten sie Marx und Engels, in der Polemik gegen die zu ihrer Zeit florierende, marktgängige Romantik halten. Heute sind an beiden Romanciers nicht nur romantische und archaistisch-vorbürgerliche Züge hervorgetreten, sondern die gesamte ›Comédie humaine‹ von Balzac zeigt sich als eine Rekonstruktion der entfremdeten, nämlich vom Subjekt gar nicht mehr erfahrenen Realität aus Phantasie 4 . Insofern ist er nicht durchaus verschieden von den avantgardistischen Opfern der Lukács'schen Klassenjustiz; nur daß Balzac, der Formgesinnung seines Werkes nach, seine Monologe für Weltfülle hielt, während die großen Romanciers des zwanzigsten Jahrhunderts ihre Weltfülle im Monolog bergen. Danach bricht Lukács' Ansatz zusammen. Unvermeidlich sinkt seine Idee von »Perspektive« zu dem herab, wovon er im letzten Kapitel der Schrift so verzweifelt sie zu differenzieren trachtet, zur aufgepfropften Tendenz oder, in seinen Worten, zur »Agitation«. Seine Konzeption ist aporetisch. Er kann des Bewußtseins nicht sich entschlagen, daß ästhetisch die gesellschaftliche Wahrheit nur in autonom gestalteten Kunstwerken lebt. Aber diese Autonomie führt im konkreten Kunstwerk heute notwendig all das mit sich, was er unterm Bann der herrschenden kommunistischen Lehre nach wie vor nicht toleriert. Die Hoffnung, rückständige, immanent-ästhetisch unzulängliche Mittel legitimierten sich, weil sie in einem anderen Gesellschaftssystem anders stünden, also von außen her, jenseits ihrer immanenten Logik, ist bloßer Aberglaube. Man darf nicht wie Lukács als Epiphänomen abtun, sondern muß selber objektiv erklären, daß, was sich im sozialistischen Realismus als fortgeschrittener Stand des Bewußtseins deklariert, nur mit den brüchigen und faden Relikten bürgerlicher Kunstformen aufwartet. Jener Realismus stammt nicht sowohl, wie es den kommunistischen Klerikern paßte, aus einer gesellschaftlich heilen und genesenen Welt, als aus der Zurückgebliebenheit der gesellschaftlichen Produktivkräfte und des Bewußtseins in ihren Provinzen. Sie benutzen die These vom qualitativen Bruch zwischen Sozialismus und Bürgertum nur dazu, jene Zurückgebliebenheit, die längst nicht mehr erwähnt werden darf, ins Fortgeschrittenere umzufälschen. Mit dem Vorwurf des Ontologismus verbindet Lukács den des Individualismus, eines Standpunkts unreflektierter Einsamkeit, nach dem Modell von Heideggers Theorie der Geworfenheit aus ›Sein und Zeit‹. Lukács übt am Ausgang des literarischen Gebildes vom poetischen Subjekt in seiner Zufälligkeit jene Kritik (S. 54), der stringent genug Hegel einst den Ausgang der Philosophie von der sinnlichen Gewißheit des je Einzelnen unterworfen hatte. Aber gerade weil diese Unmittelbarkeit in sich bereits vermittelt ist, enthält sie, verbindlich im Kunstwerk gestaltet, die Momente, die Lukács an ihr vermißt, während andererseits dem dichterischen Subjekt der Ausgang vom ihm Nächsten notwendig ist um der antezipierten Versöhnung der Gegenständlichkeit mit dem Bewußtsein willen. Die Denunziation des Individualismus dehnt Lukács bis auf Dostojewski aus. ›Aus dem Dunkel der Großstadt‹ sei »eine der ersten Darstellungen des dekadent einsamen Individuums« (S. 68). Durch die Verkopplung von dekadent und einsam wird aber die im Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft selbst entspringende Atomisierung zur bloßen Verfallserscheinung umgewertet. Darüber hinaus suggeriert das Wort »dekadent« biologische Entartung Einzelner: Parodie dessen, daß jene Einsamkeit vermutlich weit hinter die bürgerliche Gesellschaft zurückreicht, denn auch die Herdentiere sind, nach Borchardts Wort, »einsame Gemeinde«, das zoon politikon ist ein erst Herzustellendes. Ein historisches Apriori aller neuen Kunst, das sich selber nur dort transzendiert, wo sie es ungemildert anerkennt, erscheint als vermeidbarer Fehler oder gar als bürgerliche Verblendung. Sobald jedoch Lukács auf die jüngste russische Literatur sich einläßt, entdeckt er, daß jener Strukturwechsel, den er unterstellt, nicht stattfand. Nur lernt er daraus nicht, auf Begriffe wie den der dekadenten Einsamkeit zu verzichten. Die Position der von ihm getadelten Avantgardisten – nach seiner früheren Terminologie: ihr »transzendentaler Ort« – ist im Streit der Richtungen die geschichtlich vermittelter Einsamkeit, nicht die ontologische. Die Ontologen von heutzutage sind nur allzu einig mit Bindungen, die, dem Sein als solchem zugeschrieben, allen möglichen heteronomen Autoritäten den Schein des Ewigen erwirken. Darin vertrügen sie sich mit Lukács gar nicht so schlecht. Daß die Einsamkeit als Formapriori bloßer Schein, daß sie selbst gesellschaftlich produziert ist; daß sie über sich hinausgeht, sobald sie sich als solche reflektiert, ist Lukács zuzugestehen 5 . Aber hier genau wendet die ästhetische Dialektik sich gegen ihn. Nicht ist an dem einzelnen Subjekt, durch Wahl und Entschluß, über die kollektiv determinierte Einsamkeit hinauszugelangen. Wo Lukács mit der Gesinnungspoesie der standardisierten Sowjetromane abrechnet, klingt das vernehmlich genug durch. Insgesamt wird man bei der Lektüre des Buches, vor allem der passionierten Seiten über Kafka (s. etwa S. 5o f.), den Eindruck nicht los, daß er auf die von ihm als dekadent verpönte Literatur reagiert wie das legendäre Droschkenpferd beim Ertönen von Militärmusik, ehe es seinen Karren weiterzieht. Um ihrer Attraktionskraft sich zu erwehren, stimmt er in den Kontrollchor ein, der seit dem von ihm selber unter die Avantgardisten eingereihten Kierkegaard, wenn nicht seit der Empörung über Friedrich Schlegel und die Frühromantik, auf dem Interessanten herumhackt. Die Verhandlung darüber wäre zu revidieren. Daß eine Einsicht oder eine Darstellung den Charakter des Interessanten trägt, ist nicht blank auf Sensation und geistigen Markt zu reduzieren, die gewiß jene Kategorie beförderten. Kein Siegel der Wahrheit, ist sie doch heute zu deren notwendiger Bedingung geworden; das, was »mea interest«, was das Subjekt angeht, anstatt daß es mit der übermächtigen Gewalt des Vorherrschenden, der Waren, abgespeist würde. Unmöglich könnte Lukács loben, was ihn an Kafka lockt, und ihn dennoch auf seinen Index setzen, hätte er nicht insgeheim, wie skeptische Spätscholastiker, eine Lehre von zweierlei Wahrheit bereit: »Diese Betrachtungen gehen immer wieder von der historisch bedingten künstlerischen Überlegenheit des sozialistischen Realismus aus. (Es kann allerdings nicht oft genug gegen Auslegungen Verwahrung eingelegt werden, die aus dieser historischen Gegenüberstellung unmittelbare Schlüsse auf die künstlerische Qualität einzelner Werke – sei es im bejahenden, sei es im verneinenden Sinn – ziehen wollen.) Die weltanschauliche Grundlage dieser Überlegenheit liegt in der klaren Einsicht, die die sozialistische Weltanschauung, die Perspektive des Sozialismus für die Literatur besitzt: die Möglichkeit, das gesellschaftliche Sein und Bewußtsein, die Menschen und die menschlichen Beziehungen, die Problematik des menschlichen Lebens und ihre Lösungen umfassender und tiefer zu spiegeln und darzustellen, als es der Literatur auf Grundlage früherer Weltanschauungen gegeben sein konnte.« (S. 126) Künstlerische Qualität und künstlerische Überlegenheit des sozialistischen Realismus wären demnach zweierlei. Getrennt wird das literarisch Gültige an sich von dem sowjetliterarisch Gültigen, das gewissermaßen durch einen Gnadenakt des Weltgeistes dans le vrai sein soll. Solche Doppelschlächtigkeit steht einem Denker, der pathetisch die Einheit der Vernunft verteidigt, schlecht an. Erklärt er aber einmal die Unausweichlichkeit jener Einsamkeit – kaum verschweigt er, daß sie von der gesellschaftlichen Negativität, der universalen Verdinglichung vorgezeichnet ist – und wird er zugleich Hegelisch ihres objektiven Scheincharakters inne, so drängte der Schluß sich auf, daß jene Einsamkeit, zu Ende getrieben, in ihr eigenes Negat umschlage; daß das einsame Bewußtsein, indem es im Gestalteten als das verborgene aller sich enthüllt, potentiell sich selbst aufhebe. Genau das ist an den wahrhaft avantgardistischen Werken evident. Sie objektivieren sich in rückhaltloser, monadologischer Versenkung ins je eigene Formgesetz, ästhetisch und vermittelt dadurch auch ihrem gesellschaftlichen Substrat nach. Das allein verleiht Kafka, Joyce, Beckett, der großen neuen Musik ihre Gewalt. In ihren Monologen hallt die Stunde, die der Welt geschlagen hat: darum erregen sie so viel mehr, als was mitteilsam die Welt schildert. Daß solcher Übergang zur Objektivität kontemplativ bleibt, nicht praktisch wird, gründet im Zustand einer Gesellschaft, in der real allerorten, trotz der Versicherung des Gegenteils, der monadologische Zustand fortdauert. Überdies dürfte gerade der klassizistische Lukács von Kunstwerken heute und hier kaum erwarten, daß sie die Kontemplation durchbrächen. Seine Proklamation der künstlerischen Qualität ist unvereinbar mit einem Pragmatismus, der gegenüber der fortgeschrittenen und verantwortlichen Produktion sich mit dem verhandlungslosen Urteilsspruch »bürgerlich, bürgerlich, bürgerlich« benügte. Lukács zitiert, zustimmend, meine Arbeit über das Altern der neuen Musik, um meine dialektischen Überlegungen, paradox ähnlich wie Sedlmayr, gegen die neue Kunst und gegen meine eigene Absicht auszuschlachten. Das wäre ihm zu gönnen: »Wahr sind nur die Gedanken, die sich selber nicht verstehen« 6 , und kein Autor hat an ihnen Besitztitel. Aber die Argumentation Lukács' entreißt diesen mir denn doch wohl nicht. Daß Kunst sich auf der Spitze des reinen Ausdrucks, die unmittelbar identisch ist mit Angst, nicht einrichten kann, stand in der ›Philosophie der neuen Musik‹ 7 , wenngleich ich nicht den offiziellen Optimismus Lukács' teile, geschichtlich wäre zu solcher Angst heute weniger Anlaß; die »dekadente Intelligenz« brauchte sich weniger zu fürchten. Über das pure Dies der Expression hinausgehen kann jedoch weder spannungslose, dinghafte Instaurierung eines Stils meinen, wie ich sie der alternden neuen Musik vorwarf, noch den Sprung in eine im Hegelschen Sinn nicht substantielle, nicht authentische, nicht vor aller Reflexion die Form konstituierende Positivität. Die Konsequenz aus dem Altern der neuen Musik wäre nicht der Rekurs auf die veraltete, sondern ihre insistente Selbstkritik. Von Anbeginn jedoch war die ungemilderte Darstellung der Angst zugleich auch mehr als diese, ein Standhalten durchs Aussprechen, durch die Kraft des unbeirrten Nennens: Gegenteil alles dessen, was die Hetzparole »dekadent« an Assoziationen aufstachelt. Lukács hält immerhin der von ihm gelästerten Kunst zugute, daß sie auf eine negative Wirklichkeit, die Herrschaft des »Abscheulichen«, negativ antworte. »Indem jedoch«, fährt er fort, »der Avantgardeismus alldies in seiner verzerrten Unmittelbarkeit widerspiegelt, indem er Formen ersinnt, die diese Tendenzen als alleinherrschende Mächte des Lebens zum Ausdruck bringen, verzerrt er die Verzerrtheit über deren Phänomenalität in der objektiven Wirklichkeit hinaus, läßt alle Gegenkräfte und Gegentendenzen, die in ihr real wirksam sind, als unbeträchtliche, als ontologisch nicht relevante verschwinden.« (S. 84f.) Der offizielle Optimismus der Gegenkräfte und Gegentendenzen nötigt Lukács, den Hegelschen Satz zu verdrängen, die Negation der Negation – »Verzerrung der Verzerrung« – sei die Position. Dieser erst bringt den fatal irrationalistischen Terminus »Vielschichtigkeit« in der Kunst zu seiner Wahrheit: daß der Ausdruck des Leidens und das Glück an der Dissonanz, das Lukács als »Sensationslüsternheit, die Sehnsucht nach dem Neuen um des Neuen willen« (S. 113) schmäht, in den authentischen neuen Kunstwerken unauflöslich sich verschränken. Das wäre zusammenzudenken mit jener Dialektik von ästhetischem Bereich und Realität, der Lukács ausweicht. Indem das Kunstwerk nicht unmittelbar Wirkliches zum Gegenstand hat, sagt es nie, wie Erkenntnis sonst: das ist so, sondern: so ist es. Seine Logizität ist nicht die des prädikativen Urteils, sondern der immanenten Stimmigkeit: nur durch diese hindurch, das Verhältnis, in das es die Elemente rückt, bezieht es Stellung. Seine Antithese zur empirischen Realität, die doch in es fällt und in die es selber fällt, ist gerade, daß es nicht, wie geistige Formen, die unmittelbar auf die Realität gehen, diese eindeutig als dies oder jenes bestimmt. Es spricht keine Urteile; Urteil wird es als Ganzes. Das Moment der Unwahrheit, das nach Hegels Aufweis in jedem einzelnen Urteil enthalten ist, weil nichts ganz das ist, was es im einzelnen Urteil sein soll, wird insofern von der Kunst korrigiert, als das Kunstwerk seine Elemente synthesiert, ohne daß das eine Moment vom anderen ausgesagt würde: der heute im Schwang befindliche Begriff der Aussage ist amusisch. Was als urteilslose Synthesis die Kunst an Bestimmtheit im einzelnen einbüßt, gewinnt sie zurück durch größere Gerechtigkeit dem gegenüber, was das Urteil sonst wegschneidet. Zur Erkenntnis wird das Kunstwerk erst als Totalität, durch alle Vermittlungen hindurch, nicht durch seine Einzelintentionen. Weder sind solche aus ihm zu isolieren, noch ist es nach ihnen zu messen. So aber verfährt Lukács prinzipiell, trotz seines Protestes gegen die vereidigten Romanschreiber, die in ihrer schriftstellerischen Praxis so verfahren. Während er das Inadäquate an ihren Standardprodukten sehr wohl bemerkt, kann seine eigene Kunstphilosophie jener Kurzschlüsse gar nicht sich erwehren, vor deren Effekt, dem verordneten Schwachsinn, ihm dann schaudert. Gegenüber der essentiellen Komplexität des Kunstwerks, die nicht als akzidentieller Einzelfall zu bagatellisieren wäre, sperrt Lukács krampfhaft die Augen zu. Wo er einmal auf spezifische Dichtungen eingeht, streicht er rot an, was unmittelbar dasteht, und verfehlt dadurch den Gehalt. Er lamentiert über ein gewiß recht bescheidenes Gedicht von Benn, das lautet:
O daß wir unsere Ururahnen wären. Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor. Leben und Tod, Befruchtung und Gebären glitte aus unseren stummen Säften vor.
Ein Algenblatt oder ein Dünenhügel, vom Wind geformtes und nach unten schwer. Schon ein Libellenkopf, ein Mövenflügel wäre zu weit und litte schon zu sehr.
Daraus liest er »die Richtung auf ein jeder Gesellschaftlichkeit starr gegenübergestelltes Urtümliches«, im Sinn von Heidegger, Klages und Rosenberg, schließlich eine »Verherrlichung des Abnormalen; einen Antihumanismus« (S. 32), während doch, selbst wenn man das Gedicht durchaus mit seinem Inhalt identifizieren wollte, die letzte Zeile Schopenhauerisch die höhere Stufe der Individuation als Leiden anklagt und während die Sehnsucht nach der Urzeit bloß dem unerträglichen Druck des Gegenwärtigen entspricht. Die moralistische Farbe von Lukács' kritischen Begriffen ist die all seiner Lamentationen über die subjektivistische »Weltlosigkeit«: als hätten die Avantgardisten buchstäblich verübt, was in Husserls Phänomenologie, grotesk genug, methodologische Weltvernichtung heißt. So wird Musil angeprangert: »Der Held seines großen Romans, Ulrich, antwortet auf die Frage, was er tun würde, wenn das Weltregiment in seinen Händen wäre: ›Es würde mir nichts übrig bleiben, als die Wirklichkeit abzuschaffen.‹ Daß die abgeschaffte Wirklichkeit von der Seite der Außenwelt ein Komplement zur subjektiven Existenz ›ohne Eigenschaften‹ ist, bedarf keiner ausführlichen Erörterung.« (S. 23) Dabei meint der inkriminierte Satz offensichtlich Verzweiflung, sich überschlagenden Weltschmerz, Liebe in ihrer Negativität. Lukács verschweigt das und operiert mit einem wirklich nun »unmittelbaren«, gänzlich unreflektierten Begriff des Normalen, und dem zugehörigen der pathologischen Verzerrung. Nur ein von jedem Rest der Psychoanalyse glücklich gereinigter Geisteszustand kann den Zusammenhang zwischen jenem Normalen und der gesellschaftlichen Repression verkennen, welche die Partialtriebe ächtete. Eine Gesellschaftskritik, die ungeniert von normal und pervers daherredet, verharrt selbst im Bann dessen, was sie als überwunden vorspiegelt. Lukács' Hegelianische, kraftvoll-männliche Brusttöne über den Primat des substantiellen Allgemeinen vor der scheinhaften, hinfälligen »schlechten Existenz« bloßer Individuation mahnen an die von Staatsanwälten, welche die Ausmerzung des Lebensuntüchtigen und der Abweichung verlangen. Ihr Verständnis von Lyrik ist zu bezweifeln. Die Zeile »O daß wir unsere Ururahnen wären« hat im Gedicht einen völlig anderen Stellenwert, als wenn sie einen buchstäblichen Wunsch ausdrückte. Im Wort »Ururahnen« ist Grinsen mitkomponiert. Die Regung des poetischen Subjekts gibt sich – übrigens eher altväterisch denn modern – durch die Stilisierung als komisch uneigentlich, als schwermütiges Spiel. Gerade das Abstoßende dessen, wohin der Dichter sich zurückzuwünschen fingiert und wohin man sich gar nicht zurückwünschen kann, verleiht dem Protest gegens geschichtlich produzierte Leiden Nachdruck. All das will ebenso wie der montagehafte »Verfremdungseffekt« im Gebrauch wissenschaftlicher Worte und Motive bei Benn mitgefühlt werden. Durch Übertreibung suspendiert er die Regression, die Lukács geradeswegs ihm zuschreibt. Wer solche Obertöne überhört, ähnelt jenem subalternen Schriftsteller sich an, der Thomas Manns Schreibweise beflissen und geschickt nachahmte, und über den dieser einmal lachend sagte: »Er schreibt genau wie ich, aber er meint es ernst.« Simplifizierungen vom Typus des Lukács'schen Benn-Exkurses verkennen nicht Nuancen, sondern mit diesen das Kunstwerk selber, das erst durch die Nuancen eines wird. Sie sind symptomatisch für die Verdummung, die auch den Klügsten widerfährt, sobald sie Weisungen wie der zum sozialistischen Realismus parieren. Früher schon hatte Lukács, um die moderne Dichtung des Faschismus zu zeihen, triumphierend sich ein schlechtes Gedicht von Rilke ausgesucht, um darin herumzuwüten wie der Elefant in der Wiener Werkstätte. Offen bleibt, ob die bei Lukács spürbare Rückbildung eines Bewußtseins, das einmal zum fortgeschrittensten rechnete, objektiv den Schatten der drohenden Regression des europäischen Geistes ausdrückt, jenen Schatten, den die unterentwickelten Länder über die entwickelteren werfen, die bereits beginnen, an jenen sich auszurichten; oder ob darin etwas über das Schicksal von Theorie selber sich verrät, die nicht nur ihren anthropologischen Voraussetzungen, also dem Denkvermögen der theoretischen Menschen nach verkümmert, sondern deren Substanz auch objektiv einschrumpft in einer Verfassung des Daseins, in der es mittlerweile weniger auf die Theorie ankommt als auf Praxis, die unmittelbar eins wäre mit der Verhinderung der Katastrophe. Vor Lukács' Neo-Naivetät ist auch der umschmeichelte Thomas Mann selbst, den er mit einem Pharisäismus gegen Joyce ausspielt, vor dem es dem Epiker des Verfalls gegraust hätte, nicht gefeit. Die von Bergson ausgelöste Kontroverse über die Zeit wird wie der gordische Knoten traktiert. Da Lukács nun einmal ein guter Objektivist ist, muß die objektive Zeit partout recht behalten und die subjektive bloße Verzerrung aus Dekadenz sein. Die Unerträglichkeit jener dinghaft entfremdeten, sinnleeren Zeit, die der junge Lukács einmal an der Education sentimentale so eindringlich beschrieb, hatte Bergson zur Theorie der Erlebniszeit genötigt, nicht etwa, wie der staatsfromme Stumpfsinn jeglicher Observanz sich das vorstellen mag, der Geist subjektivistischer Zersetzung. Nun entrichtete aber auch Thomas Mann im Zauberberg dem Bergsonschen temps durée seinen Tribut. Damit er für Lukács' These vom kritischen Realismus gerettet wird, erhalten manche Figuren aus dem Zauberberg eine gute Note, weil sie auch »subjektiv ein normales, objektives Zeiterleben haben«. Dann heißt es wörtlich: »Bei Ziemssen ist sogar die Ahnung einer Bewußtheit vorhanden, daß das moderne Zeiterlebnis einfach eine Folge der abnormalen, von der Alltagspraxis hermetisch getrennten Lebensweise des Sanatoriums ist.« (S. 54) Die Ironie, unter der insgesamt die Figur Ziemssens steht, ist dem Ästhetiker entgangen; der sozialistische Realismus hat ihn selbst gegen den gepriesenen kritischen abgestumpft. Der beschränkte Offizier, eine Art nach-Goethischer Valentin, der als Soldat und brav, wenngleich im Bett, stirbt, wird ihm unmittelbar zum Sprecher richtigen Lebens, etwa so wie Tolstois Lewin geplant und mißlungen war. In Wahrheit hat Thomas Mann ohne alle Reflexion, aber mit höchster Sensibilität das Verhältnis der beiden Zeitbegriffe so zwiespältig und doppelbödig dargestellt, wie es seiner Art und seinem dialektischen Verhältnis zu allem Bürgerlichen gemäß ist: Recht und Unrecht sind beide geteilt zwischen dem dinghaften Zeitbewußtsein des Philisters, der vergebens aus dem Sanatorium in seinen Beruf flüchtet, und der phantasmagorischen Zeit derer, die im Sanatorium, der Allegorie von Bohème und romantischem Subjektivismus, verbleiben. Weise hat Mann weder die beiden Zeiten versöhnt noch für eine gestaltend Partei ergriffen. Daß Lukács am ästhetischen Gehalt selbst seines Lieblingstextes drastisch vorbeiphilosophiert, gründet in jenem vorästhetischen parti pris für Stoff und Mitgeteiltes der Dichtungen, den er mit ihrer künstlerischen Objektivität verwechselt. Während er sich um Stilmittel wie jenes keineswegs allzu versteckte der Ironie, geschweige denn um exponiertere, nicht kümmert, belohnt ihn für solchen Verzicht kein vom subjektiven Schein gereinigter Wahrheitsgehalt der Werke, sondern er wird mit ihrer kargen Neige abgespeist, dem Sachgehalt, dessen sie freilich bedürfen, um den Wahrheitsgehalt zu erlangen. So gern Lukács auch die Rückbildung des Romans verhindern möchte, er betet Katechismusartikel nach wie den sozialistischen Realismus, die weltanschaulich sanktionierte Abbildtheorie der Erkenntnis und das Dogma von einem mechanischen, nämlich von der unterdessen abgewürgten Spontaneität unabhängigen Fortschritt der Menschheit, obwohl der »Glauben an eine letzthinnige immanente Vernünftigkeit, Sinnhaftigkeit der Welt, ihre Aufgeschlossenheit, Begreifbarkeit für den Menschen« (S. 44) angesichts der irrevokabeln Vergangenheit einiges zumutet. Dadurch nähert er sich zwangshaft doch wieder jenen infantilen Vorstellungen von der Kunst, die ihm an den minder versierten Funktionären peinlich sind. Vergebens sucht er auszubrechen. Wie weit sein eigenes ästhetisches Bewußtsein bereits beschädigt ist, verrät etwa eine Stelle über die Allegorese in der byzantinischen Mosaikkunst: Kunstwerke dieses Typus von ähnlich hohem Rang könnten in der Literatur »nur Ausnahmeerscheinungen« (S. 42) sein. Als ob es in der Kunst, es sei denn in der von Akademien und Konservatorien, den Unterschied von Regel und Ausnahme überhaupt gäbe; als ob nicht alles Ästhetische, als Individuiertes, dem eigenen Prinzip, der eigenen Allgemeinheit nach immer Ausnahme wäre, während, was unmittelbar einer allgemeinen Regelhaftigkeit entspricht, eben dadurch als Gestaltetes bereits sich disqualifiziert. Ausnahmeerscheinungen sind demselben Vokabular entlehnt wie die Spitzenleistungen. Der verstorbene Franz Borkenau sagte nach seinem Bruch mit der Kommunistischen Partei einmal, er hätte nicht länger ertragen können, daß man über Stadtverordnetenbeschlüsse in Kategorien der Hegelschen Logik und über die Hegelschen Logik im Geist von Stadtverordnetenversammlungen verhandle. Dergleichen Kontaminationen, die freilich bis auf Hegel selbst zurückdatieren, ketten Lukács an jenes Niveau, das er so gern mit seinem eigenen ausgliche. Die Hegelsche Kritik am »unglücklichen Bewußtsein«, der Impuls der spekulativen Philosophie, das scheinhafte Ethos der isolierten Subjektivität unter sich zu lassen, wird ihm unter den Händen zur Ideologie für bornierte Parteibeamte, die es zum Subjekt noch gar nicht gebracht haben. Ihre gewalttätige Beschränktheit, Rückstand des Kleinbürgertums vom neunzehnten Jahrhundert, erhöht er zu einer der Beschränktheit bloßer Individualität enthobenen Angemessenheit ans Wirkliche. Aber der dialektische Sprung ist keiner aus der Dialektik heraus, der auf Kosten der objektiv gesetzten gesellschaftlichen und technischen Momente der künstlerischen Produktion durch bloße Gesinnung das unglückliche Bewußtsein in glückliches Einverständnis verwandelte. Der vermeintlich höhere Standpunkt muß, nach einer von Lukács kaum wohl bezweifelten Hegelschen Lehre, notwendig abstrakt bleiben. Der desperate Tiefsinn, den er wider den Schwachsinn der boy meets tractor-Literatur aufbietet, bewahrt ihn denn auch nicht vor Deklamationen, abstrakt zugleich und kindisch: »Je mehr der behandelte Stoff ein gemeinsamer ist, je mehr die Schriftsteller von verschiedenen Seiten dieselben Entwicklungsbedingungen und -richtungen derselben Wirklichkeit erforschen, je stärker sich diese, mit allen geschilderten Trennungen, in eine überwiegend oder rein sozialistische verwandelt, desto näher muß der kritische Realismus dem sozialistischen kommen, desto mehr muß sich seine negative (bloß: nicht ablehnende) Perspektive, durch viele Übergänge, in eine positive (bejahende), in eine sozialistische verwandeln.« (S. 125) Der jesuitische Unterschied zwischen der negativen, nämlich »bloß nicht ablehnenden« und der positiven, nämlich »bejahenden« Perspektive verlagert die Fragen der literarischen Qualität genau in jene Sphäre vorschriftsmäßiger Gesinnung, der Lukács entrinnen möchte. An seinem Willen dazu freilich ist kein Zweifel. Man wird dem Buch nur dann gerecht, wenn man sich vergegenwärtigt, daß in Ländern, wo das Entscheidende nicht beim Namen genannt werden darf, die Male des Terrors all dem eingebrannt sind, was anstelle jenes Entscheidenden gesagt wird; daß aber andererseits dadurch selbst unkräftige, halbe und abgebogene Gedanken in ihrer Konstellation eine Kraft gewinnen, die sie à la lettre nicht besitzen. Unter diesem Aspekt muß das gesamte dritte Kapitel gelesen werden, trotz aller Disproportion des geistigen Aufwands zu den behandelten Fragen. Zahlreiche Formulierungen brauchte man nur weiter zu denken, um ins Freie zu kommen. So die folgende: »Eine bloße Aneignung des Marxismus (gar nicht zu sprechen von einer bloßen Teilnahme an der sozialistischen Bewegung, von einer bloßen Parteizugehörigkeit) zählt allein, für sich genommen, so gut wie nichts. Für die Persönlichkeit des Schriftstellers können die auf solchen Wegen erworbenen Lebenserfahrungen, die durch sie erweckten intellektuellen, moralischen etc. Fähigkeiten sehr wertvoll werden, dazu beitragen, diese Möglichkeit in eine Wirklichkeit zu verwandeln. Aber man ist in einem verhängnisvollen Irrtum, wenn man meint, der Prozeß der Umsetzung eines richtigen Bewußtseins in eine richtige, realistische, künstlerische Widerspiegelung der Wirklichkeit sei prinzipiell direkter und einfacher als der eines falschen Bewußtseins.« (S. 101f.) Oder, gegen den sterilen Empirismus des heute überall gedeihenden Reportageromans: »Es ist ja auffallend, daß auch im kritischen Realismus das Auftreten eines Ideals der monographischen Komplettheit, etwa bei Zola, ein Zeichen der inneren Problematik war, und wir werden später zu zeigen versuchen, daß das Eindringen solcher Bestrebungen für den sozialistischen Realismus noch problematischer geworden ist.« (S. 106) Urgiert Lukács in solchem Zusammenhang, mit der Terminologie seiner Jugend, den Vorrang der intensiven Totalität vor der extensiven, so brauchte er seine Forderung nur ins Gestaltete selbst hineinzuverfolgen und würde zu eben dem genötigt, was er, solange er ex cathedra doziert, den Avantgardisten verübelt; grotesk, daß er trotzdem immer noch den »Antirealismus der Dekadenz« »besiegen« will. Er kommt sogar einmal der Einsicht nahe, die russische Revolution habe keineswegs einen Zustand herbeigeführt, der eine »positive« Literatur verlange und trage: »Vor allem darf man die sehr triviale Tatsache nicht vergessen, daß diese Machtergreifung zwar einen ungeheuren Sprung vorstellt, daß aber die Menschen in ihrer Mehrheit, also auch die Künstler, dadurch allein noch keine wesentliche Umwandlung durchmachen.« (S. 112) Gemildert zwar, als handele es sich um einen bloßen Auswuchs, plaudert er danach doch aus, was es mit dem sogenannten sozialistischen Realismus auf sich hat: »Es entsteht dabei eine ungesunde und minderwertige Variante des bürgerlichen Realismus oder wenigstens eine äußerst problematische Annäherung an seine Ausdrucksmittel, wobei naturgemäß gerade dessen größte Tugenden fehlen müssen.« (S. 127) In dieser Literatur werde der »Wirklichkeitscharakter der Perspektive« verkannt. Das will sagen, »daß viele Schriftsteller das, was zwar als eine in die Zukunft weisende Tendenz, aber nur als eine solche vorhanden ist, die eben darum, richtig aufgefaßt, den entscheidenden Standpunkt zur Bewertung der gegenwärtigen Etappe ergeben könnte, einfach mit der Wirklichkeit selbst identifizieren, die oft nur im Keime vorhandenen Ansätze als vollentfaltete Realitäten darstellen, mit einem Wort, daß sie Perspektive und Wirklichkeit einander mechanisch gleichsetzen« (S. 128). Aus der terminologischen Verschalung gelöst, heißt das nichts anderes, als daß die Prozeduren des sozialistischen Realismus und der von Lukács als deren Komplement erkannten sozialistischen Romantik ideologische Verklärung eines schlechten Bestehenden sind. Der offizielle Objektivismus totalitärer Literaturbetrachtung erweist sich für Lukács als selber bloß subjektiv. Ihm kontrastiert er einen menschenwürdigeren ästhetischen Objektivitätsbegriff: »Denn die Formgesetze der Kunst, in allen ihren komplizierten Wechselbeziehungen von Inhalt und Form, von Weltanschauung und ästhetischem Wesen etc., sind ebenfalls von objektiver Wesensart. Ihre Verletzung hat zwar keine derart unmittelbaren praktischen Konsequenzen wie das Mißachten der Gesetze der Ökonomie, sie bringt aber ebenso zwangsläufig problematische, ja einfach mißlungene, minderwertige Werke hervor.« (S. 129) Hier, wo der Gedanke die Courage zu sich selbst hat, fällt Lukács weit triftigere Urteile als die banausischen über die moderne Kunst: »Das Zerreißen der dialektischen Vermittlungen bringt dadurch sowohl in der Theorie wie in der Praxis eine falsche Polarisation hervor: auf dem einen Pole erstarrt das Prinzip aus einer ›Anleitung zur Praxis‹ zu einem Dogma, auf der anderen verschwindet das Moment der Widersprüchlichkeit (oft auch das der Zufälligkeit) aus den einzelnen Lebenstatsachen.« (S. 130) Er nennt bündig das Zentrale: »Die literarische Lösung wächst also nicht aus der widerspruchsvollen Dynamik des gesellschaftlichen Lebens heraus, sie soll vielmehr zur Illustration einer im Vergleich zu ihr abstrakten Wahrheit dienen.« (S. 132) Schuld daran sei die »Agitation als Urform«, als Vorbild von Kunst und Gedanken, die dadurch erstarren, einschrumpfen, praktizistisch-schematisch werden. »An Stelle einer neuen Dialektik steht eine schematische Statik vor uns.« (S. 135) Kein Avantgardist hätte dem etwas hinzuzufügen. Bei all dem bleibt das Gefühl von einem, der hoffnungslos an seinen Ketten zerrt und sich einbildet, ihr Klirren sei der Marsch des Weltgeistes. Ihn verblendet nicht nur die Macht, die, wenn sie überhaupt den unbotmäßigen Gedanken Lukács' Raum gewährt, sie kaum kulturpolitisch beherzigen wird. Sondern die Kritik Lukács' bleibt in dem Wahn befangen, die heutige russische Gesellschaft, die in Wahrheit unterdrückt und ausgepreßt wird, sei, wie man es in China ausgeklügelt hat, zwar noch widerspruchsvoll, aber nicht antagonistisch. All die Symptome, gegen die er protestiert, werden selber hervorgebracht von dem propagandistischen Bedürfnis der Diktatoren und ihres Anhangs danach, jene These, die Lukács mit dem Begriff des sozialistischen Realismus implizit billigt, den Massen einzuhämmern und aus dem Bewußtsein zu vertreiben, was immer sie irr machen könnte. Die Herrschaft einer Doktrin, die so reale Funktionen erfüllt, wird nicht gebrochen, indem man ihre Unwahrheit dartut. Lukács zitiert einen zynischen Satz von Hegel, der den sozialen Sinn des Prozesses ausspricht, wie ihn der ältere bürgerliche Erziehungsroman beschreibt: »›Denn das Ende solcher Lehrjahre besteht darin, daß sich das Subjekt die Hörner abläuft, mit seinem Wünschen und Meinen sich in die bestehenden Verhältnisse und die Vernünftigkeit derselben hineinbildet, in die Verkettung der Welt eintritt und in ihr sich einen angemessenen Standpunkt erwirbt.‹« (S. 122) Daran schließt Lukács die Reflexion an: »In einem bestimmten Sinn widersprechen viele der besten bürgerlichen Romane dieser Feststellung Hegels, in einem anderen, ebenso bestimmten Sinn bestätigen sie wiederum seine Aussage. Sie widersprechen, indem der Abschluß der von ihnen gestalteten Erziehung keineswegs immer eine derartige Anerkennung der bürgerlichen Gesellschaft beinhaltet. Der Kampf um eine den Jugendträumen und Überzeugungen entsprechende Wirklichkeit wird von der gesellschaftlichen Gewalt abgebrochen, die Rebellen oft auf die Knie, oft zur Flucht in die Einsamkeit etc. gezwungen, aber die Hegelsche Versöhnung wird doch nicht von ihnen erpreßt. Allerdings, indem der Kampf mit Resignation endet, kommt sein Ergebnis dem Hegelschen doch nahe. Denn einerseits siegt die objektive soziale Realität dann doch über das bloß Subjektive der individuellen Bestrebungen, andererseits ist die von Hegel proklamierte Versöhnung schon bei diesem einer Resignation keineswegs völlig fremd.« (a.a.O.) Das Postulat einer ohne Bruch zwischen Subjekt und Objekt darzustellenden und um solcher Bruchlosigkeit willen, nach Lukács' hartnäckigem Sprachgebrauch, »widerzuspiegelnden« Wirklichkeit jedoch, das oberste Kriterium seiner Ästhetik, impliziert, daß jene Versöhnung geleistet, daß die Gesellschaft richtig ist; daß das Subjekt, wie Lukács in einem anti-asketischen Exkurs einräumt, zu dem Seinen komme und in seiner Welt zu Hause sei. Nur dann verschwände aus der Kunst jenes Moment von Resignation, das Lukács an Hegel gewahrt und das er erst recht am Urbild seines Begriffs von Realismus, an Goethe, konstatieren müßte, der Entsagung verkündigte. Aber die Spaltung, der Antagonismus überdauert, und es ist bloße Lüge, daß er in den Oststaaten, wie sie das so nennen, überwunden sei. Der Bann, der Lukács umfängt und ihm die ersehnte Rückkunft zur Utopie seiner Jugend versperrt, wiederholt die erpreßte Versöhnung, die er am absoluten Idealismus durchschaut. Fußnoten
1 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf) 1857–1858, Berlin 1953, S. 111.
2 Karl Marx, Rezension der Schrift von G.F. Daumer, Die Religion des neuen Weltalters, Hamburg 1850; in; Neue Rheinische Zeitung, Nachdruck Berlin 1955, S. 107.
3 Georg Lukács, Gesunde oder kranke Kunst?, in: Georg Lukács zum siebzigsten Geburtstag, Berlin 1955, S. 243f.
4 Vgl. Balzac-Lektüre, oben S. 139f.
5 Vgl. Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1958, S. 49ff. [GS 12, s. S. 51f.]
6 Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Frankfurt a.M. 1951, S. 364 [GS 4, s. S. 218].
7 Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, a.a.O., S. 51f. [GS 12, s. S. 52f.].
Versuch, das Endspiel zu verstehen To S.B. in memory of Paris, Fall 1958
Becketts oeuvre hat manches mit dem Pariser Existentialismus gemeinsam. Reminiszenzen an die Kategorie der Absurdität, der Situation, der Entscheidung oder deren Gegenteil durchwachsen es wie mittelalterliche Ruinen Kafkas ungeheures Vorstadthaus; zuweilen fliegen die Fenster auf und öffnen den Durchblick auf den schwarzen sternlosen Himmel von etwas wie Anthropologie. Aber die Form, bei Sartre als eine von Thesenstücken einigermaßen traditionalistisch, keineswegs waghalsig, sondern auf Wirkung bedacht, holt bei Beckett das Ausgedrückte ein und verändert es. Die Impulse werden auf den Stand der avanciertesten künstlerischen Mittel gebracht, die von Joyce und Kafka. Absurdität ist ihm keine zur Idee verdünnte und dann bebilderte Befindlichkeit des Daseins mehr. Das dichterische Verfahren überläßt sich ihr intentionslos. Sie wird jener Allgemeinheit der Lehre entäußert, die sie im Existentialismus, der Doktrin von der Unauflöslichkeit des einzelnen Daseienden, gleichwohl mit dem abendländischen Pathos des Allgemeinen und Bleibenden verband. Dadurch wird der existentialistische Konformismus, man solle sein, was man ist, aufgekündigt samt der Umgänglichkeit der Darstellung. Was Beckett an Philosophie aufbietet, depraviert er selber zum Kulturmüll, nicht anders als die ungezählten Anspielungen und Bildungsfermente, die er im Gefolge der angelsächsischen Tradition der Avantgarde zumal von Joyce und Eliot verwendet. Ihm wuselt Kultur wie dem Fortschritt vor ihm das Gekröse von Jugendstilornamenten, Modernismus als das Veraltete an Moderne. Die regredierende Sprache demoliert es. Solche Sachlichkeit tilgt bei Beckett den Sinn, der Kultur war, und dessen Rudimente. So beginnt sie zu fluoreszieren. Er vollstreckt dabei eine Tendenz des neueren Romans. Was nach dem Kulturkriterium ästhetischer Immanenz als abstrakt verfemt war, die Reflexion, wird mit der reinen Darstellung zusammenmontiert, das Flaubertsche Prinzip der rein in sich geschlossenen Sache angefressen. Je weniger Geschehnisse als an sich sinnvoll supponiert werden können, um so mehr wird die Idee der ästhetischen Gestalt als einer Einheit von Erscheinendem und Gemeintem zur Illusion. Ihrer entschlägt sich Beckett, indem er beide Momente als disparate verkoppelt. Der Gedanke wird ebenso zum Mittel, einen nicht unmittelbar zu versinnlichenden Sinn des Gebildes herzustellen, wie zum Ausdruck seiner Absenz. Angewandt aufs Drama ist das Wort Sinn mehrdeutig. Es deckt gleichermaßen den metaphysischen Gehalt, der objektiv in der Komplexion des Artefakts sich darstellt; die Intention des Ganzen als eines Sinnzusammenhangs, den es von sich aus bedeutet; schließlich den Sinn der Worte und Sätze, welche die Personen sprechen, und den ihrer Abfolge, den dialogischen. Aber diese Äquivokationen verweisen auf ein Gemeinsames. Aus ihm wird in Becketts Endspiel ein Kontinuum. Geschichtsphilosophisch ist es getragen von einer Veränderung des dramatischen Apriori: daß kein positiver metaphysischer Sinn derart mehr substantiell ist, wenn anders er es je war, daß die dramatische Form ihr Gesetz hätte an ihm und seiner Epiphanie. Das jedoch zerrüttet die Form bis ins sprachliche Gefüge hinein. Das Drama vermag nicht einfach negativ Sinn oder die Absenz von ihm als Gehalt zu ergreifen, ohne daß dabei alles ihm Eigentümliche bis zum Umschlag ins Gegenteil betroffen würde. Was dem Drama wesentlich ist, war konstituiert durch jenen Sinn. Wollte es ihn ästhetisch überleben, so geriete es inadäquat zum Gehalt, würde zur klappernden Maschinerie weltanschaulicher Demonstration herabgesetzt wie vielfach in den existentialistischen Stücken. Die Explosion des metaphysischen Sinnes, der allein die Einheit des ästhetischen Sinnzusammenhangs garantierte, läßt diesen mit einer Notwendigkeit und Strenge zerbröckeln, die der des überlieferten dramaturgischen Formkanons nicht nachsteht. Einstimmiger ästhetischer Sinn, vollends dessen Subjektivierung in einer handfesten, tangiblen Intention, surrogierte eben jene transzendente Sinnhaftigkeit, deren Dementi selbst den Gehalt ausmacht. Die Handlung muß durch die eigene organisierte Sinnlosigkeit dem sich anbilden, was in dem Wahrheitsgehalt von Dramatik überhaupt sich zutrug. Solche Konstruktion des Sinnlosen hält auch nicht inne vor den sprachlichen Molekülen: wären sie, und ihre Verbindungen, rational sinnhaft, so synthesierten sie im Drama unabdingbar sich zu jenem Sinnzusammenhang des Ganzen, den das Ganze verneint. Die Interpretation des Endspiels kann darum nicht der Schimäre nachjagen, seinen Sinn philosophisch vermittelt auszusprechen. Es verstehen kann nichts anderes heißen, als seine Unverständlichkeit verstehen, konkret den Sinnzusammenhang dessen nachkonstruieren, daß es keinen hat. Abgespalten, prätendiert der Gedanke darin nicht länger, wie einst die Idee, Sinn des Gebildes selber zu sein; Transzendenz, die von seiner Immanenz erzeugt und garantiert würde. Statt dessen verwandelt er sich in eine Art Stoff zweiten Grades, so wie die Philosopheme, die in Thomas Manns Zauberberg und Doktor Faustus vorgetragen werden, gleich Stoffen ihr Schicksal haben, das jene sinnliche Unmittelbarkeit ersetzt, welche in dem in sich reflektierten Kunstwerk sich herabmindert. War bislang solche Stofflichkeit des Gedankens weithin unfreiwillig, die Not von Werken, die sich zwangsläufig mit der ihnen unerreichbaren Idee verwechselten, so stellt Beckett sich der Herausforderung und benutzt Gedanken sans phrase als Phrasen, Teilmaterialien des monologue intérieur, zu denen Geist selber wurde, dinghafter Rückstand von Bildung. Hat der vor-Beckettsche Existentialismus, wie wenn er der leibhaftige Schiller wäre, Philosophie als poetischen Vorwurf ausgeschlachtet, so präsentiert Beckett, gebildeter als irgendeiner, ihm die Rechnung: Philosophie, Geist selber deklariert sich als Ladenhüter, traumhafter Abhub der Erfahrungswelt, und der dichterische Prozeß als Verschleiß. Degout, seit Baudelaire künstlerische Produktivkraft, ist in Becketts historisch vermittelten Regungen unersättlich. Was alles nicht mehr geht, wird zum Kanon, der ein Motiv der Vorgeschichte des Existentialismus, Husserls universale Weltvernichtung, aus dem Schattenreich der Methodologie erlöst. Totalitäre wie Lukács, die gegen den wahrhaft schrecklichen Vereinfacher als dekadent wüten, sind vom Interesse ihrer Chefs nicht schlecht beraten. Sie hassen an Beckett, was sie verrieten. Nur die nausea der Übersättigung, das taedium des Geistes an sich selber will, was ganz anders wäre; die verordnete Gesundheit jedoch nimmt mit der angebotenen Nahrung vorlieb, mit Hausmannskost. Becketts Degout läßt sich nicht nötigen. Auf die Ermunterung mitzuhalten, antwortet er mit Parodie, der der Philosophie, die seine Dialoge ausspuckt, nicht anders als der der Formen. Parodiert ist der Existentialismus selber; von seinen Invarianten nichts übrig als das Existenzminimum. Die Opposition des Dramas gegen Ontologie als den Entwurf eines wie immer auch Ersten und Bleibenden wird unmißverständlich an einer Dialogstelle, die ungewollt dem Wort Goethes vom alten Wahren eine Fratze schneidet, das zu allbürgerlicher Gesinnung verkam: HAMM: Erinnerst du dich an deinen Vater? CLOV (überdrüssig): Dieselbe Replik. (Pause) Du hast mir diese Frage millionenmal gestellt. HAMM: Ich liebe die alten Fragen. (Schwungvoll) Ah, die alten Fragen, die alten Antworten, da geht nichts drüber! 1 Gedanken werden mitgeführt und entstellt wie Tagesreste, homo homini sapienti sat. Daher das Mißliche dessen, womit sich zu beschäftigen Beckett ablehnt, seiner Interpretation. Er zuckt die Achseln über die Möglichkeit von Philosophie heute, von Theorie überhaupt. Die Irrationalität der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Spätphase ist widerspenstig dagegen, sich begreifen zu lassen; das waren noch gute Zeiten, als eine Kritik der politischen Ökonomie dieser Gesellschaft geschrieben werden konnte, die sie bei ihrer eigenen ratio nahm. Denn sie hat diese mittlerweile zum alten Eisen geworfen und virtuell durch unmittelbare Verfügung ersetzt. Das deutende Wort bleibt deshalb unvermeidlich hinter Beckett zurück, während doch seine Dramatik gerade vermöge ihrer Beschränkung auf abgesprengte Faktizität über diese hinauszuckt, durch ihr Rätselwesen auf Interpretation verweist. Fast könnte man es zum Kriterium einer fälligen Philosophie machen, ob sie dem gewachsen sich zeigt. Der französische Existentialismus hatte die Geschichte angepackt. Diese verschlingt bei Beckett den Existentialismus. Im Endspiel entfaltet sich ein historischer Augenblick, die Erfahrung, die im Titel des kulturindustriellen Schundbuchs ›Kaputt‹ notiert war. Nach dem Zweiten Krieg ist alles, auch die auferstandene Kultur zerstört, ohne es zu wissen; die Menschheit vegetiert kriechend fort nach Vorgängen, welche eigentlich auch die Überlebenden nicht überleben können, auf einem Trümmerhaufen, dem es noch die Selbstbesinnung auf die eigene Zerschlagenheit verschlagen hat. Das wird dem Markt, als pragmatische Voraussetzung des Stücks, entrissen: CLOV (er steigt auf die Leiter und richtet das Fernglas nach draußen): Mal sehen ... (Er schaut, indem er das Fernglas hin und her schwenkt.) Nichts ... (er schaut) ... und nichts ... (er schaut) ... und wieder nichts. (Er läßt das Fernglas sinken und wendet sich Hamm zu.) Na? Beruhigt? HAMM: Nichts rührt sich. Alles ist ... CLOV: Ni ... HAMM (heftig): Ich rede nicht mit dir! (Normale Stimme.) Alles ist ... alles ist ... alles ist was? (Heftig) Alles ist was? CLOV: Was alles ist? In einem Wort? Das ist es, was du wissen willst? Moment mal. (Er richtet das Fernglas nach draußen, schaut, läßt das Fernglas sinken und wendet sich Hamm zu.) Kaputt! 2 Daß alle Menschen tot seien, ist unter der Hand eingeschmuggelt. Eine frühere Passage motiviert, warum die Katastrophe nicht erwähnt werden darf. Hamm ist vaguement selber schuld daran: HAMM: Er ist natürlich tot, der alte Arzt. CLOV: Er war nicht alt. HAMM: Aber er ist tot. CLOV: Natürlich. (Pause) Und DU fragst mich das? 3 Der im Stück gegebene Zustand aber ist kein anderer als der, in dem es »keine Natur mehr gibt« 4 . Ununterscheidbar die Phase der vollendeten Verdinglichung der Welt, die nichts mehr übrig läßt, was nicht von Menschen gemacht wäre, die permanente Katastrophe, und ein zusätzlich von Menschen eigens bewirkter Katastrophenvorgang, in dem Natur getilgt ward und nach dem nichts mehr wächst: HAMM: Sind deine Körner aufgegangen? CLOV: Nein. HAMM: Hast du ein wenig gescharrt, um zu sehen, ob sie gekeimt haben? CLOV: Sie haben nicht gekeimt. HAMM: Es ist vielleicht noch zu früh. CLOV: Wenn sie keimen müßten, hätten sie gekeimt, sie werden nie keimen. 5 Die dramatis personae gleichen solchen, die den eigenen Tod träumen, in einem »Unterschlupf«, in dem es doch »Zeit wird, daß es endet« 6 . Der Weltuntergang ist diskontiert, als wäre er selbstverständlich. Jedes vermeintliche Drama des Atomzeitalters wäre Hohn auf sich selbst, allein schon, weil seine Fabel das historische Grauen der Anonymität, indem sie es in Charaktere und Handlungen von Menschen hineinschiebt, tröstlich verfälscht und womöglich die Prominenten anstaunt, die darüber befinden, ob auf den Knopf gedrückt wird. Die Gewalt des Unsäglichen wird nachgeahmt von der Scheu, es zu erwähnen. Beckett hält es nebulos. Über das aller Erfahrung Inkommensurable läßt nur euphemistisch sich reden, so wie man in Deutschland von der Ermordung der Juden spricht. Es ist zum totalen Apriori geworden, so daß das zerbombte Bewußtsein keinen Ort mehr hat, von dem aus es darauf sich besinnen könnte. Der desperate Stand der Dinge liefert in grausiger Ironie ein Stilisationsmittel, das jene pragmatische Voraussetzung vor der Kontamination mit kindischer Science Fiction schützt. Hätte wirklich Clov, wie sein mit common sense nörgelnder Gefährte ihm vorwirft, übertrieben, so änderte das wenig. Der partielle Weltuntergang, auf den dann die Katastrophe hinausliefe, wäre ein schlechter Witz; die Natur, von der die Eingesperrten abgeschieden sind, schon so gut, als wäre sie gar nicht mehr da; was von ihr übrig ist, verlängert bloß die Qual. Dies historische Notabene jedoch, die Parodie des Kierkegaardschen der Berührung von Zeit und Ewigkeit, verhängt zugleich ein Tabu über die Geschichte. Was nach existentialistischem Jargon die condition humaine wäre, ist das Bild des letzten Menschen, das die früheren, Humanität, frißt. Die Existentialontologie behauptet Allgemeingültiges in einem seiner selbst unbewußten Prozeß von Abstraktion. Während sie immer noch, nach der alten phänomenologischen These von der Wesensschau, sich gebärdet, als ob sie ihrer verpflichtenden Bestimmungen im Besonderen gewahr würde und dadurch Apriorität und Konkretheit mit einem Zauberschlag vereinte, destilliert sie, was ihr überzeitlich dünkt, heraus, indem sie eben jenes Besondere, in Raum und Zeit Individuierte durchstreicht, als welches Existenz Existenz ist und nicht deren bloßer Begriff. Sie wirbt um die, welche des philosophischen Formalismus überdrüssig sind und doch an das sich klammern, was einzig formal sich haben läßt. Zu solcher uneingestandenen Abstraktion setzt Beckett die schneidende Antithese durch eingestandene Subtraktion. Er läßt nicht das Zeitliche an der Existenz fort, die doch nur zeitlich eine wäre, sondern zieht von ihr ab, was die Zeit – die geschichtliche Tendenz – real zu kassieren sich anschickt. Er verlängert die Fluchtbahn der Liquidation des Subjekts bis zu dem Punkt, wo es in ein Diesda sich zusammenzieht, dessen Abstraktheit, der Verlust aller Qualität, die ontologische buchstäblich ad absurdum führt, zu jenem Absurden, in das bloße Existenz umschlägt, sobald sie in ihrer nackten sich selbst Gleichheit aufgeht. Kindische Albernheit tritt als Gehalt der Philosophie hervor, die zur Tautologie, zur begrifflichen Verdopplung der Existenz degeneriert, welche sie zu begreifen vorhatte. Lebte die neuere Ontologie von dem unerfüllten Versprechen der Konkretion ihrer Abstrakta, so wird in Beckett der Konkretismus der muschelhaft in sich verbackenen, keines Allgemeinen mehr fähigen, in purer Selbstsetzung sich erschöpfenden Existenz offenbar als das Gleiche wie der Abstraktismus, der es zur Erfahrung nicht mehr bringt. Ontologie kommt nach Hause als Pathogenese des falschen Lebens. Dargestellt wird es als Stand negativer Ewigkeit. Hat einmal der messianische Myschkin seine Uhr vergessen, weil ihm keine irdische Zeit gilt, so ist seinen Antipoden die Zeit verloren, weil sie noch Hoffnung hätte. Die gähnende Konstatierung Gelangweilter, das Wetter sei »wie gewöhnlich« 7 , öffnet ihren Höllenschlund: HAMM: Aber es ist immer so abends, nicht wahr, Clov? CLOV: Immer. HAMM: Es ist ein Abend wie jeder andere, nicht wahr, Clov? CLOV: Es scheint so. 8 Gleich der Zeit ist das Zeitliche versehrt; zu sagen, es gäbe es nicht mehr, wäre schon zu tröstlich. Es ist und ist nicht, wie für den Solipsisten der Welt, deren Existenz er bezweifelt, während er sie mit jedem Satz konzedieren muß. So schwebt eine Dialogstelle: HAMM: Und der Horizont? Nichts am Horizont? CLOV (das Fernglas absetzend, sich Hamm zuwendend, voller Ungeduld): Was soll denn schon am Horizont sein? Pause. HAMM: Die Wogen, wie sind die Wogen? CLOV: Die Wogen? (Er setzt das Fernglas an.) Aus Blei. HAMM: Und die Sonne? CLOV (schauend): Keine. HAMM: Sie müßte eigentlich gerade untergehen. Schau gut nach. CLOV (nachdem er nachgeschaut hat): Denkste. HAMM: Es ist also schon Nacht? CLOV (schauend): Nein. HAMM: Was denn? CLOV (schauend): Es ist grau. (Er setzt das Fernglas ab und wendet sich Hamm zu. Lauter.) Grau! (Pause. Noch lauter.) GRAU! 9 Geschichte wird ausgespart, weil sie die Kraft des Bewußtseins ausgetrocknet hat, Geschichte zu denken, die Kraft zur Erinnerung. Das Drama verstummt zum Gestus, erstarrt mitten in den Dialogen. Von Geschichte erscheint bloß noch deren Resultat als Neige. Was bei den Existentialisten zum Ein für allemal des Daseins sich aufplusterte, ist geschrumpft zur Spitze des Historischen, die abbricht. Der Einwand von Lukács, bei Beckett seien die Menschen auf ihre Tierheit reduziert 10 , sperrt mit offiziellem Optimismus sich dagegen, daß aus den Residualphilosophien, die nach Abzug des zeitlich Zufälligen das Wahre und Unvergängliche sich gutschreiben möchten, das Residuum des Lebens geworden ist, das Fazit der Beschädigung. So unsinnig freilich wie, mit Lukács, Beckett eine abstrakt-subjektivistische Ontologie zu unterschieben und dann diese, um ihrer Weltlosigkeit und Infantilität willen, auf den ausgekramten Index entarteter Kunst zu setzen, wäre es, ihn als politischen Kronzeugen aufzurufen. Zum Kampf gegen den Atomtod ermuntert schwerlich ein Werk, das dessen Potential schon dem ältesten Kampf anmerkt. Der Simplificateur des Schreckens weigert sich, anders als Brecht, der Simplifikation. Er ist ihm aber gar nicht so unähnlich insofern, als seine Differenziertheit zur Empfindlichkeit gegen subjektive Differenzen wird, die zur conspicuous consumption derer verkamen, welche Individuation sich leisten können. Daran ist ein sozial Wahres. Differenziertheit kann nicht absolut, unbesehen als positiv gebucht werden. Die Vereinfachung des Sozialprozesses, die sich anbahnt, relegiert sie zu den faux frais, etwa so, wie die Umständlichkeiten sozialer Formen, an denen Differenzierungsvermögen sich bildete, verschwinden. Was die Bedingung von Humanität war, Differenziertheit, gleitet in die Ideologie. Aber das unsentimentale Bewußtsein davon bildet nicht selbst sich zurück. Im Akt des Weglassens überlebt das Weggelassene als Vermiedenes wie in der atonalen Harmonik die Konsonanz. Der Stumpfsinn des Endspiels wird mit höchster Differenziertheit protokolliert und ausgehört. Die protestlose Darstellung allgegenwärtiger Regression protestiert gegen eine Verfassung der Welt, die so willfährig dem Gesetz von Regression gehorcht, daß sie eigentlich schon über keinen Gegenbegriff mehr verfügt, der jener vorzuhalten wäre. Gewacht wird darüber, daß es nur so und nicht anders sei, ein fein klingelndes Alarmsystem meldet, was zur Topographie des Stücks stimmt und was nicht. Beckett verschweigt aus Zartheit das Zarte nicht minder als das Brutale. Die Eitelkeit des Einzelnen, der die Gesellschaft anklagt, während sein Recht in die Akkumulation des Unrechts aller Einzelnen, das Unheil, selbst eingeht, manifestiert sich an peinlichen Deklamationen wie dem Deutschlandgedicht von Karl Wolfskehl. Das Zu spät, der versäumte Augenblick verdammt solche aufrufende Rhetorik zur Phrase. Nichts dergleichen in Beckett. Noch die Ansicht, er stelle negativ die Negativität des Zeitalters dar, paßte in jenes Konzept, dem zufolge man in den östlichen Satellitenländern, wo die Revolution als Verwaltungsakt durchgeführt ward, frisch-fröhlich nun der Spiegelung eines frischfröhlichen Zeitalters sich widmen muß. Das aller Spiegelbildlichkeit ledige Spiel mit Elementen der Realität, das keine Stellung bezieht und in solcher Freiheit, als der vom verordneten Betrieb, sein Glück findet, enthüllt mehr, als wenn ein Enthüller Partei nimmt. Schweigend nur ist der Name des Unheils auszusprechen. Im Grauen des letzten zündet das des Ganzen; aber einzig darin, nicht im Blick auf Ursprünge. Der Mensch, dessen allgemeiner Gattungsname schlecht in Becketts Sprachlandschaft paßt, ist ihm einzig das, was er wurde. Über die Gattung entscheidet ihr jüngster Tag wie in der Utopie. Aber im Geist muß noch die Klage darüber sich reflektieren, daß nicht mehr sich klagen läßt. Kein Weinen schmilzt den Panzer, übrig ist nur das Gesicht, dem die Tränen versiegten. Das liegt auf dem Grunde eines künstlerischen Verhaltens, wie es jene als inhuman denunzieren, deren Menschlichkeit bereits in Reklame fürs Unmenschliche übergegangen ist, auch wenn sie es noch gar nicht ahnen. Unter den Motiven von Becketts Reduktion auf den vertierten Menschen ist das wohl das innerste. Am Absurden seiner Dichtung hat teil, daß sie ihr Antlitz verhüllt. Die Katastrophen, die das Endspiel inspirieren, haben jenen Einzelnen aufgesprengt, dessen Substantialität und Absolutheit das Gemeinsame zwischen Kierkegaard, Jaspers und der Sartreschen Version des Existentialismus war. Diese hatte noch dem Opfer der Konzentrationslager die Freiheit bescheinigt, was an Marter ihm angetan wird, innerlich anzunehmen oder zu verneinen. Das Endspiel zerstört derlei Illusionen. Der Einzelne selbst ist als geschichtliche Kategorie, Resultat des kapitalistischen Entfremdungsprozesses und trotziger Einspruch dagegen, als ein wiederum Vergängliches offenbar geworden. Die individualistische Position gehörte polar zum ontologischen Ansatz eines jeglichen Existentialismus, auch dessen von ›Sein und Zeit‹. Becketts Dramatik verläßt sie wie einen altmodischen Bunker. Nirgendwoher empfing die individuelle Erfahrung in ihrer Enge und Zufälligkeit die Autorität, sie selbst als Chiffre des Seins auszulegen, es sei denn, sie behauptete sich selbst als Grundcharakter des Seins. Gerade das aber ist die Unwahrheit. Die Unmittelbarkeit der Individuation trog; das, woran einzelmenschliche Erfahrung haftet, ist vermittelt, bedingt. Das Endspiel unterstellt, daß Autonomie- und Seinsanspruch des Individuums unglaubwürdig ward. Aber während das Gefängnis der Individuation als Gefängnis und Schein zugleich durchschaut wird – das Bühnenbild ist die imago solcher Selbstbesinnung –, vermag doch Kunst den Bann der abgespaltenen Subjektivität nicht zu lösen; einzig den Solipsismus zu versinnlichen. Beckett stößt damit auf ihre gegenwärtige Antinomie. Die Position des absoluten Subjekts, einmal aufgeknackt als Erscheinung eines übergreifenden und sie überhaupt erst zeitigenden Ganzen, ist nicht zu halten: der Expressionismus veraltet. Aber der Übergang in die verpflichtende Allgemeinheit gegenständlicher Realität, die dem Schein der Individuation Einhalt geböte, ist der Kunst verwehrt. Denn anders als die diskursive Erkenntnis des Wirklichen, von der sie nicht graduell sondern kategorial getrennt ist, gilt in ihr nur das, was in den Stand von Subjektivität eingebracht, was dieser kommensurabel ist. Versöhnung, ihre Idee, vermag sie zu konzipieren einzig als die zwischen dem Entfremdeten. Fingierte sie den Stand der Versöhnung, indem sie zur bloßen Dingwelt überliefe, so negierte sie sich selbst. Was als sozialistischer Realismus ausgeboten wird, ist nicht, wie man beteuert, über dem Subjektivismus, sondern hinter ihm zurück und zugleich dessen vorkünstlerisches Komplement; das expressionistische O Mensch und die ideologisch gewürzte soziale Reportage fügen lückenlos sich ineinander. Die unversöhnte Realität duldet in der Kunst keine Versöhnung mit dem Objekt; der Realismus, der an subjektive Erfahrung gar nicht heranreicht, geschweige über sie hinaus, mimt sie bloß. Die Dignität von Kunst heute bemißt sich nicht danach, ob sie mit Glück oder Geschick jener Antinomie entschlüpft, sondern wie sie sie austrägt. Darin ist das Endspiel exemplarisch. Es beugt sich ebenso der Unmöglichkeit, in Kunstwerken noch nach der Sitte des neunzehnten Jahrhunderts darzustellen, Stoffe zu bearbeiten, wie der Einsicht, daß die subjektiven Reaktionsweisen, die anstelle von Abbildlichkeit das Formgesetz vermitteln, selber kein Erstes und Absolutes sind sondern ein Letztes, objektiv Gesetztes. Aller Gehalt der notwendig sich selbst hypostasierenden Subjektivität ist Spur und Schatten der Welt, aus der sie sich zurücknimmt, um nicht dem Schein und der Anpassung zu dienen, welche die Welt erheischt. Beckett antwortet darauf mit keinem unverlierbaren Vorrat sondern dem, was die antagonistischen Tendenzen eben noch, prekär und auf Widerruf, gestatten. Seine Dramatik ähnelt dem Spaß, den es im alten Deutschland bereiten mochte, zwischen den Grenzpfählen von Baden und Bayern sich herumzutreiben, als hegten sie ein Reich der Freiheit ein. Das Endspiel findet in einer Zone der Indifferenz von innen und außen statt, neutral zwischen den Stoffen, ohne die keine Subjektivität sich zu entäußern, keine auch nur zu sein vermöchte, und einer Beseeltheit, welche die Stoffe verschwimmen läßt, wie wenn sie das Glas angehaucht hätte, durch das jene erblickt werden. So karg sind die Stoffe, daß der ästhetische Formalismus gegen seine Widersacher drüben und hüben, die Stoffhuber des Diamat und die Dezernenten der echten Aussage, ironisch gerettet wird. Der Konkretismus der Lemuren, denen im doppelten Sinn der Horizont abhanden kam, geht unmittelbar in die äußerste Abstraktion über; die Stoffschicht selber bedingt ein Verfahren, durch das die Stoffe, indem sie eben noch als vergehende gestreift werden, geometrischen Formen sich nähern; das Engste wird zum Überhaupt. Die Lokalisierung des Endspiels in jener Zone äfft den Zuschauer mit der Suggestion eines Symbolischen, das sie gleich Kafka doch verweigert. Weil kein Sachverhalt bloß ist, was er ist, erscheint ein jeder als Zeichen eines Inneren, aber das Innere, dessen Zeichen er wäre, ist nicht mehr, und nichts anderes meinen die Zeichen. Die eiserne Ration an Realität und Personen, mit denen das Drama rechnet und haushält, ist eins mit dem, was von Subjekt, Geist und Seele im Angesicht der permanenten Katastrophe bleibt: vom Geist, der in Mimesis entsprang, die lächerliche Imitation; von der sich inszenierenden Seele die inhumane Sentimentalität; vom Subjekt seine abstrakteste Bestimmung: da zu sein und allein dadurch schon zu freveln. Becketts Figuren benehmen sich so primitiv-behavioristisch, wie es den Umständen nach der Katastrophe entspräche, und diese hat sie derart verstümmelt, daß sie anders gar nicht reagieren können; Fliegen, die zucken, nachdem die Klatsche sie schon halb zerquetscht hat. Das ästhetische principium stilisationis macht dasselbe aus den Menschen. Die ganz auf sich zurückgeworfenen Subjekte, Fleisch gewordener Akosmismus, bestehen in nichts anderem als den armseligen Realien ihrer zur Notdurft verhutzelten Welt, leere personae, durch die es wahrhaft bloß noch hindurchtönt. Ihre phonyness ist das Resultat der Entzauberung des Geistes als Mythologie. Um Geschichte zu unterbieten und dadurch vielleicht zu überwintern, besetzt das Endspiel den Nadir dessen, was auf dem Zenith der Philosophie die Konstruktion des Subjekt-Objekts beschlagnahmte: reine Identität wird zu der des Vernichteten, zu der von Subjekt und Objekt im Stand vollendeter Entfremdung. Waren bei Kafka die Bedeutungen geköpft oder verwirrt, so ruft Beckett der schlechten Unendlichkeit der Intentionen Halt zu: ihr Sinn sei Sinnlosigkeit. Das ist objektiv, ohne alle polemische Absicht, sein Bescheid an die Existentialphilosophie, welche Sinnlosigkeit selber, unterm Namen von Geworfenheit und später Absurdität, im Schutz der Äquivokationen des Sinnbegriffs zum Sinn verklärt. Beckett setzt ihm keine Weltanschauung entgegen, sondern nimmt ihn beim Wort. Was aus dem Absurden wird, nachdem die Charaktere des Sinns von Dasein heruntergerissen sind, das ist kein Allgemeines mehr – dadurch würde das Absurde schon wieder Idee – sondern trübselige Einzelheiten, die des Begriffs spotten, eine Schicht aus Utensilien wie in einer Notwohnung, Eisschränken, Lahmheit, Blindheit und unappetitlichen Körperfunktionen. Alles wartet auf den Abtransport. Diese Schicht ist nicht symbolisch, sondern die des nachpsychologischen Standes wie bei alten Leuten und Gefolterten. Verschleppt aus der Innerlichkeit, sind Heideggers Befindlichkeiten, die Situationen von Jaspers materialistisch geworden. Die Hypostasis des Individuums und die der Situation harmonierten bei jenen. Situation war Zeitdasein schlechthin und die Totalität eines lebendigen Einzelnen als des primär Gewissen. Sie setzte Identität der Person voraus. Beckett erweist darin sich als der Schüler Prousts und der Freund von Joyce, daß er dem Begriff der Situation zurückgibt, was er sagt und was die Philosophie, die ihn ausbeutet, eskamotierte, die Dissoziation der Bewußtseinseinheit in Disparates, die Nichtidentität. Sobald aber das Subjekt nicht mehr zweifelsfrei mit sich identisch, kein in sich geschlossener Sinnzusammenhang mehr ist, verfließt auch seine Grenze gegen das Auswendige, und die Situationen der Innerlichkeit werden zu solchen der Physis zugleich. Das Gericht über die Individualität, welche der Existentialismus als idealistisches Kernstück konservierte, verurteilt den Idealismus. Nichtidentität ist beides, der geschichtliche Zerfall der Einheit des Subjekts und das Hervortreten dessen, was nicht selbst Subjekt ist. Das verändert, was mit Situation gemeint sein kann. Von Jaspers wird sie definiert als »eine Wirklichkeit für ein an ihr als Dasein interessiertes Subjekt« 11 . Er ordnet den Situationsbegriff ebenso dem als fest und identisch vorgestellten Subjekt unter, wie er unterstellt, der Situation wachse aus der Beziehung auf dies Subjekt Sinn zu; unmittelbar danach nennt er sie denn auch »eine nicht nur naturgesetzliche, vielmehr eine sinnbezogene Wirklichkeit«, die übrigens, merkwürdig genug, bereits bei ihm »weder psychisch noch physisch, sondern beides zugleich« 12 sein soll. Indem jedoch der Anschauung Becketts die Situation tatsächlich beides wird, verliert sie ihre existentialontologischen Konstituentien: personale Identität und Sinn. Eklatant wird das am Begriff der Grenzsituation. Auch der stammt von Jaspers: »Situationen wie die, daß ich immer in Situationen bin, daß ich nicht ohne Kampf und ohne Leid leben kann, daß ich unvermeidlich Schuld auf mich nehme, daß ich sterben muß, nenne ich Grenzsituationen. Sie wandeln sich nicht, sondern nur in ihrer Erscheinung; sie sind, auf unser Dasein bezogen, endgültig.« 13 Die Konstruktion des Endspiels nimmt das auf mit einem sardonischen: Wie bitte? Weisheiten wie die, daß »ich nicht ohne Leid leben kann, daß ich unvermeidlich Schuld auf mich nehme, daß ich sterben muß«, verlieren ihre Plattheit in dem Augenblick, in dem sie aus ihrer Apriorität herunter- und in die Erscheinung zurückgeholt werden; dann zerspringt das Edle und Affirmative, womit Philosophie die schon nach Hegel faule Existenz verziert, indem sie das nicht Begriffliche unter einen Begriff subsumiert, der die hochtrabend ontologisch genannte Differenz wegzaubert. Beckett stellt die Existentialphilosophie vom Kopf auf die Füße. Sein Stück reagiert auf Komik und ideologisches Unwesen von Sätzen wie: »Tapferkeit ist in der Grenzsituation die Haltung zum Tode als unbestimmte Möglichkeit des Selbstseins« 14 , mag Beckett sie kennen oder nicht. Das Elend der Teilnehmer am Endspiel ist das der Philosophie. Die Beckettschen Situationen, aus denen sein Drama sich komponiert, sind das Negativ sinnbezogener Wirklichkeit. Sie haben ihr Modell an jenen des empirischen Daseins, die, sobald sie isoliert, ihres zweckrationalen und psychologischen Zusammenhangs durch den Verlust personeller Einheit entäußert werden, von sich aus spezifischen und zwingenden Ausdruck annehmen, den von Grauen. Sie begegnen schon in der Praxis des Expressionismus. Das Entsetzen, das Leonhard Franks Volksschullehrer Mager verbreitet, die Ursache seiner Ermordung, wird evident in der Beschreibung der umständlichen Art, in der Herr Mager vor der Schulklasse einen Apfel schält. Das Bedächtige, das so unschuldig aussieht, ist Figur des Sadismus: das Bild dessen, der sich Zeit nimmt, gleicht dem, der auf gräßliche Strafe warten läßt. Becketts Behandlung der Situationen, panisches und artifizielles Derivat der einfältigen Situationskomik von anno dazumal, verhilft aber einem Sachverhalt zur Sprache, der schon an Proust bemerkt wurde. Heinrich Rickert, der in der posthumen Schrift ›Unmittelbarkeit und Sinndeutung‹ die Möglichkeit einer objektiven Physiognomik des Geistes, der nicht bloß projektiven »Seele« einer Landschaft oder eines Kunstwerks erwägt 15 , zitiert eine Stelle von Ernst Robert Curtius. Dieser hält es »nur für bedingt richtig ..., wenn man in Proust lediglich oder vorwiegend einen großen Psychologen sieht. Ein Stendhal ist mit dieser Bezeichnung zutreffend charakterisiert. Er ... steht damit in der kartesianischen Tradition des französischen Geistes. Aber Proust erkennt die Trennung zwischen der denkenden und der ausgedehnten Substanz nicht an. Er zerschneidet die Welt nicht in Psychisches und Physisches. Man verkennt die Bedeutung seines Werkes, wenn man es aus der Perspektive des ›psychologischen Romans‹ betrachtet. Die Welt der Sinnendinge nimmt in Prousts Büchern denselben Raum ein wie die des Seelischen.« Oder: »Wenn Proust Psychologe ist, so ist er es in einem ganz neuen Sinne: indem er alles Wirkliche, auch die sinnliche Anschauung, in ein seelisches Fluidum taucht.« Dafür, »daß der übliche Begriff des Psychischen hier nicht paßt«, führt Rickert abermals Curtius an: »Aber damit hat der Begriff des Psychologischen seinen Gegensatz verloren – und eben darum taugt er nicht mehr zur Charakterisierung.« 16 Die Physiognomik des objektiven Ausdrucks behält indessen allemal ein Enigmatisches. Die Situationen sagen etwas – aber was?; insofern konvergiert Kunst selber als Inbegriff von Situationen mit jener Physiognomik. Sie vereint äußerste Bestimmtheit mit deren radikalem Gegenteil. Bei Beckett wird dieser Widerspruch nach außen gestülpt. Was sonst hinter kommunikativer Fassade sich verschanzt, ist zum Erscheinen verurteilt. Proust hängt jener Physiognomik, aus einer unterirdischen mystischen Tradition, noch affirmativ nach, als öffnete die unwillkürliche Erinnerung eine Geheimsprache der Dinge; bei Beckett wird sie zu der des nicht länger Menschlichen. Seine Situationen sind die Gegenbilder des Unauslöschlichen, das in denen Prousts beschworen wird, abgerungen der Flut dessen, wogegen verängstigte Gesundheit mit Mordiogeschrei sich wehrt, der Schizophrenie. In ihrem Reich bleibt Becketts Drama seiner selbst mächtig. Es setzt noch sie in Reflexion: HAMM: Ich habe einen Verrückten gekannt, der glaubte, das Ende der Welt wäre gekommen. Er malte Bilder. Ich hatte ihn gern. Ich besuchte ihn oft in der Anstalt. Ich nahm ihn an der Hand und zog ihn ans Fenster. Sieh doch mal! Da! Die aufgehende Saat! Und da! Sieh! Die Segel der Sardinenboote. Wie schön das alles ist! (Pause) Er riß seine Hand los und kehrte wieder in seine Ecke zurück. Erschüttert. Er hatte nur Asche gesehen. (Pause) Er allein war verschont geblieben. (Pause) Vergessen. (Pause) Der Fall ist anscheinend ... der Fall war gar keine ... keine Seltenheit. 17 Die Wahrnehmung des Verrückten träfe mit der Clovs zusammen, der auf Geheiß durchs Fenster späht. Mit nichts anderem bewegt das Endspiel sich weg vom Tiefpunkt, als dadurch, daß es sich wie einen Schlafwandler anruft: Negation der Negativität. In Becketts Gedächtnis haftet etwa ein apoplektischer Mann mittleren Alters, der seinen Mittagsschlaf hält, ein Tuch über die Augen, um sich vor Licht oder Fliegen zu schützen; es macht ihn unkenntlich. Das durchschnittliche, kaum nur optisch ungewohnte Bild wird Zeichen erst dem Blick, der den Identitätsverlust des Gesichts, die Möglichkeit, seine Verhülltheit sei die eines Toten, das Abstoßende der physischen Sorge gewahrt, die den Lebendigen, indem sie ihn auf seinen Körper herunterbringt, schon unter die Leichen einreiht 18 . Beckett stiert auf solche Aspekte, bis der Familienalltag, aus dem sie stammen, zur Irrelevanz verblaßt; am Anfang ist das Tableau des mit einem alten Laken verhüllten Hamm, am Ende nähert er seinem Gesicht das Taschentuch, den letzten Besitz: HAMM: Altes Linnen! (Pause) Dich behalte ich. 19 Solche von ihrem Zusammenhang und dem Charakter der Person emanzipierten Situationen werden in einen zweiten, autonomen Zusammenhang hineinkonstruiert, ähnlich wie Musik die in ihr untertauchenden Intentionen und Ausdruckscharaktere zusammenfügt, bis ihre Folge ein Gebilde eigenen Rechtes wird. Eine Schlüsselstelle des Stücks – Wenn ich schweigen kann und ruhig bleiben, wird es aus sein mit jedem Laut und jeder Regung 20 – verrät das Prinzip, vielleicht als Reminiszenz daran, wie Shakespeare mit dem seinen in der Schauspielerszene des Hamlet verfuhr. HAMM: Dann sprechen, schnell, Wörter, wie das einsame Kind, das sich in mehrere spaltet, in zwei, drei, um beieinander zu sein, und mit einander zu sprechen, in der Nacht. (Pause) Ein Augenblick kommt zum anderen, pluff, pluff, wie die Hirsekörner des ... (er denkt nach) ... jenes alten Griechen, und lebenslänglich wartet man darauf, daß ein Leben daraus werde. 21 Im Schauer des keine Eile Habens spielen solche Situationen auf die Gleichgültigkeit und Überflüssigkeit dessen an, was das Subjekt überhaupt noch tun kann. Erwägt Hamm, die Deckel der Mülleimer vernieten zu lassen, in denen seine Eltern hausen, so widerruft er den Entschluß dazu mit den gleichen Worten wie den zum Urinieren, der der Quälerei des Katheters bedarf: HAMM: Es eilt nicht. 22 Der leise Abscheu vor Medizinfläschchen, zurückdatierend auf den Augenblick, da man der Eltern als physisch hinfällig, sterblich, auseinanderfallend inneward, scheint wider in der Frage: HAMM: Muß ich jetzt meine Pillen einnehmen? 23 Miteinander Sprechen ist durchweg zum Strindbergischen Nörgeln geworden: HAMM: Fühlst du dich in deinem normalen Zustand? CLOV (gereizt): Ich sagte doch, daß ich mich nicht beklage 24 , und ein anderes Mal: HAMM: Ich fühle mich etwas zu weit links. (Clov schiebt den Sessel unmerklich weiter. Pause.) Jetzt fühle ich mich etwas zu weit rechts. (Dasselbe Spiel.) Jetzt fühle ich mich etwas zu weit vorn. (Dasselbe Spiel.) Jetzt fühle ich mich etwas zu weit zurück. (Dasselbe Spiel.) Bleib nicht da! (d.h. hinterm Sessel.) Du machst mir angst. Clov kehrt an seinen Platz neben dem Sessel zurück. CLOV: Wenn ich ihn töten könnte, würde ich zufrieden sterben. 25 Die Neige der Ehe aber ist die Situation, wo man sich kratzt: NELL: Ich werde dich verlassen. NAGG: Kannst du mich vorher noch kratzen? NELL: Nein. (Pause) Wo? NAGG: Am Rücken. NELL: Nein. (Pause) Reib dich am Eimerrand. NAGG: Es ist tiefer. Am Kreuz. NELL: An welchem Kreuz? NAGG: Am Kreuz. (Pause) Kannst du nicht? (Pause) Gestern hast du mich da gekratzt. NELL (elegisch): Ah, gestern! NAGG: Kannst du nicht? (Pause) Willst du nicht, daß ich dich kratze? (Pause) Weinst du schon wieder? NELL: Ich versuchte es. 26 Nachdem der abgedankte Vater und Präzeptor seiner Eltern den als metaphysisch berühmten jüdischen Witz von der Hose und der Welt erzählt hat, bricht er selber in Lachen darüber aus. Die Scham, die einen ergreift, wenn jemand über die eigenen Worte lacht, wird zum Existential; Leben ist Inbegriff bloß noch als der alles dessen, wessen man sich zu schämen hätte. Subjektivität bestürzt als Herrschaft in der Situation, wo einer pfeift und der andere herbeikommt 27 . Wogegen aber die Scham sich sträubt, das hat seinen sozialen Stellenwert: in den Momenten, da Bürger als rechte Bürger sich benehmen, beflecken sie den Begriff der Humanität, auf dem ihr eigener Anspruch ruht. Geschichtlich sind Becketts Urbilder auch darin, daß er als menschlich Typisches einzig die Deformationen vorzeigt, die den Menschen von der Form ihrer Gesellschaft angetan werden. Kein Raum bleibt für anderes. Die Unarten und Ticks des normalen Charakters, die das Endspiel unausdenkbar steigert, sind jene längst alle Klassen und Individuen prägende Allgemeinheit eines Ganzen, das bloß durch die schlechte Partikularität, die antagonistischen Interessen der Subjekte hindurch sich reproduziert. Weil aber kein anderes Leben war als das falsche, wird der Katalog seiner Defekte zum Widerspiel der Ontologie. Die Aufspaltung in Unverbundenes und Unidentisches ist jedoch an Identität gekettet in einem Theaterstück, das aufs traditionelle Personenverzeichnis nicht verzichtet. Nur gegen Identität, in ihren Begriff fallend, ist Dissoziation überhaupt möglich; sonst wäre sie die pure, unpolemische, unschuldige Vielfalt. Die geschichtliche Krisis des Individuums hat einstweilen ihre Grenze an dem biologischen Einzelwesen, ihrem Schauplatz. So endet der ohne Widerstand der Individuen hingleitende Wechsel der Situationen bei Beckett an den hartnäckigen Körpern, auf welche sie regredieren. An solcher Einheit gemessen, sind die schizoiden Situationen komisch wie Sinnestäuschungen. Daher die prima vista zu bemerkende Clownerie der Verhaltensweisen und Konstellationen von Becketts Figuren 28 . Erklärt die Psychoanalyse den Clownshumor als Regression auf eine überaus frühe ontogenetische Stufe, dann steigt das Beckettsche Regressionsstück dort hinab. Aber das Lachen, zu dem es animiert, müßte die Lacher ersticken. Das wurde aus Humor, nachdem er als ästhetisches Medium veraltet ist und widerlich, ohne Kanon dessen, worüber zu lachen wäre; ohne einen Ort von Versöhnung, von dem aus sich lachen ließe; ohne irgend etwas Harmloses zwischen Himmel und Erde, das erlaubte, belacht zu werden. Ein intentioniert vertrotteltes double entendu vom Wetter lautet: CLOV: Es wird wieder heiter. (Er steigt auf die Leiter und richtet das Fernglas nach draußen. Es entgleitet seinen Händen und fällt. Pause.) Ich tat es absichtlich. (Er steigt von der Leiter, hebt das Fernglas auf, prüft es und richtet es auf den Saal.) Ich sehe ... eine begeisterte Menge. (Pause) Na so was, dazu kann man wohl Fernrohr sagen. (Er läßt das Fernglas sinken und schaut Hamm an.) Na? Keiner lacht? 29 Humor selbst ist albern: lächerlich geworden – wer könnte über komische Grundtexte wie den Don Quixote oder den Gargantua noch lachen –, und das Urteil über ihn wird von Beckett exekutiert. Noch die Witze der Beschädigten sind beschädigt. Sie erreichen keinen mehr; die Verfallsform, von der freilich aller Witz etwas hat, der Kalauer, überzieht sie wie Ausschlag. Wird Clov, der mit dem Fernglas Schauende, nach der Farbe gefragt und erschreckt Hamm durch das Wort grau, so korrigiert er sich durch die Formulierung »ein helles Schwarz«. Das verkleckst die Pointe aus Molières Geizhals, der die angeblich gestohlene Kassette als grau-rot beschreibt. Wie den Farben ist dem Witz das Mark ausgesogen. Einmal sinnen die beiden Unhelden, ein Blinder und ein Lahmer – der stärkere schon beides, der schwächere wird es erst werden – auf einen »Trick«, einen Ausweg, »irgendeinen Plan« à la Dreigroschenoper, von dem sie nicht wissen, ob er Leben und Qual nur verlängern, oder beides mit der absoluten Vernichtung beenden soll: CLOV: Ach so. (Er beginnt mit auf den Boden gerichtetem Blick und den Händen auf dem Rücken hin- und herzugehen. Er bleibt stehen.) Meine Beine tun mir weh, es ist nicht zu glauben. Ich werde bald nicht mehr denken können. HAMM: Du wirst mich nicht verlassen können. (Clov geht wieder.) Was machst du? CLOV: Ich plane. (Er geht wieder.) Ah! (Er bleibt stehen.) HAMM: Was für ein Denker! (Pause) Na und? CLOV: Warte mal. (Er konzentriert sich. Nicht sehr überzeugt.) Ja ... (Pause. Überzeugter.) Ja. (Er richtet den Kopf auf.) Ich hab's. Ich ziehe den Wecker auf. 30 Das ist an den ursprünglich wohl ebenfalls jüdischen Witz des Zirkus Busch assoziiert, wo der dumme August, der seine Frau mit dem Freund auf dem Sofa ertappt hat, sich nicht entschließen kann, die Frau oder den Freund hinauszuwerfen, weil ihm beide zu lieb sind, und auf den Ausweg verfällt, das Sofa zu verkaufen. Aber noch die Spur dämlich sophistischer Rationalität wird weggewischt. Komisch ist nur noch, daß mit dem Sinn der Pointe Komik selber evaporiert. So zuckt zusammen, wer bereits die oberste Stufe einer Treppe erklommen hat, weiter steigt und ins Leere tritt. Äußerste Roheit vollstreckt den Richtspruch übers Lachen, das längst teilhat an ihrer Schuld. Hamm läßt die Rümpfe der Eltern, die in den Mülltonnen zu Babies geworden sind, vollends verhungern, Triumph des Sohns als Vater. Dazu wird geschwatzt: NAGG: Meinen Brei! HAMM: Verfluchter Erzeuger! NAGG: Meinen Brei! HAMM: Ah! Keine Haltung mehr, die Alten. Fressen, fressen, sie denken nur ans Fressen. (Er pfeift. Clov kommt herein und bleibt neben dem Sessel stehen.) Sieh mal an! Ich dachte, du wolltest mich verlassen. CLOV: Oh, noch nicht, noch nicht. NAGG: Meinen Brei! HAMM: Gib ihm seinen Brei. CLOV: Es gibt keinen Brei mehr. HAMM: Es gibt keinen Brei mehr. Du wirst nie wieder Brei bekommen. 31 Noch dem unwiderruflichen Schaden fügt der Unheld den Spott hinzu, die Entrüstung über die Alten, die keine Haltung mehr hätten, so wie diese sonst über die zuchtlose Jugend sich zu entrüsten pflegen. Was in diesem Ambiente an Humanität fortwest: daß die beiden Alten den letzten Zwieback miteinander teilen, wird durch den Kontrast zur transzendentalen Bestialität abstoßend, der Rückstand der Liebe zur schmatzenden Intimität. Soweit sie noch Menschen sind, menschelt es: NELL: Was ist denn, mein Dicker? (Pause) Willst du wieder mit mir schäkern? NAGG: Schliefst du? NELL: Oh nein. NAGG: Küßchen! NELL: Geht doch nicht. NAGG: Mal versuchen. Die Köpfe nähern sich mühsam einander, ohne sich berühren zu können, und weichen wieder auseinander. 32 Wie mit dem Humor wird mit den dramatischen Kategorien insgesamt umgesprungen. Alle sind parodiert. Nicht aber verspottet. Emphatisch heißt Parodie die Verwendung von Formen im Zeitalter ihrer Unmöglichkeit. Sie demonstriert diese Unmöglichkeit und verändert dadurch die Formen. Die drei Aristotelischen Einheiten werden gewahrt, aber dem Drama selbst geht es ans Leben. Mit der Subjektivität, deren Nachspiel das Endspiel ist, wird ihm der Held entzogen; von Freiheit kennt es nur noch den ohnmächtigen und lächerlichen Reflex nichtiger Entschlüsse 33 . Auch darin beerbt Becketts Stück die Romane Kafkas, zu dem er ähnlich steht wie die seriellen Komponisten zu Schönberg: er reflektiert ihn nochmals in sich und krempelt ihn um durch Totalität seines Prinzips. Becketts Kritik an dem Älteren, welche die Divergenz zwischen dem Geschehenden und der gegenständlich reinen, epischen Sprache unwiderleglich hervorhebt, birgt dieselbe Schwierigkeit wie das Verhältnis der gegenwärtigen integralen Komposition zu der in sich antagonistischen Schönbergs: was ist die raison d'être der Formen, sobald ihre Spannung zu einem ihnen Inhomogenen getilgt ist, ohne daß doch darum der Fortschritt ästhetischer Materialbeherrschung zu bremsen wäre? Das Endspiel zieht sich aus der Affäre, indem es jene Frage sich zu eigen: thematisch macht. Was die Dramatisierung von Kafkas Romanen verwehrt, wird zum Vorwurf. Die dramatischen Konstituentien erscheinen nach ihrem Tod. Exposition, Knoten, Handlung, Peripetie und Katastrophe kehren einer dramaturgischen Leichenbeschau als Dekomponierte wieder: für die Katastrophe etwa tritt die Mitteilung ein, daß es keine Nährpillen mehr gebe 34 . Jene Konstituentien sind gestürzt mit dem Sinn, zu dem einmal das Drama sich entlud; das Endspiel studiert wie im Reagenzglas das Drama des Zeitalters, das nichts von dem mehr duldet, worin es besteht. Zum Exempel: die Tragödie kannte auf der Höhe der Handlung, als Quintessenz der Antithese, äußerste Straffung des dramatischen Fadens, die Stichomythie; Dialoge, in denen ein Trimeter der einen Person auf den der anderen folgt. Die Form hatte dieses Mittels, als eines durch Stilisierung und offenbaren Anspruch der säkularen Gesellschaft allzu fernen, sich begeben. Beckett bedient sich seiner, als hätte die Detonation freigesetzt, was unterm Drama vergraben ward. Das Endspiel enthält Dialoge Zug um Zug, einsilbig, wie einst das Frage- und Antwortspiel zwischen verblendetem König und Schicksalsboten. Aber worin dort die Kurve sich spannte, darin erschlaffen hier die Interlokutoren. Kurzatmig bis zum Verstummen bringen sie die Synthesis sprachlicher Perioden nicht mehr zustande und stammeln in Protokollsätzen, man weiß nicht ob solchen der Positivisten oder Expressionisten. Der Grenzwert des Beckettschen Dramas ist jenes Schweigen, das schon im Shakespeareschen Beginn des neueren Trauerspiels als Rest definiert war. Daß als eine Art Epilog aufs Endspiel eine Acte sans paroles folgt, ist dessen eigener terminus ad quem. Die Worte klingen wie Notbehelfe, weil das Verstummen noch nicht ganz glückte, wie Begleitstimmen zum Schweigen, das sie stören. Was im Endspiel aus der Form wurde, läßt literarhistorisch fast sich nachzeichnen. In Ibsens Wildente vergißt der verkommene Photograph Hjalmar Ekdal, potentiell selber schon ein Unheld, der halbwüchsigen Hedwig, wie er es versprach, eine Delikatesse des üppigen Diners beim alten Werle mitzubringen, zu dem er, wohlweislich ohne seine Familie, eingeladen war. Das ist psychologisch motiviert aus seinem schlampig-egoistischen Charakter, zugleich aber symbolisch für Hjalmar, für den Handlungsgang, für den Sinn des Ganzen: das vergebliche Opfer des Mädchens. Die spätere Freudische Theorie der Fehlhandlung ist antezipiert, welche diese auslegt durch ihre Beziehung auf vergangene Erlebnisse der Person ebenso wie auf ihre Wünsche, also auf ihre Einheit. Freuds Hypothese, daß »all unsere Erlebnisse einen Sinn haben«, 35 übersetzt die überlieferte dramatische Idee in einen psychologischen Realismus, aus dem Ibsens Tragikomödie von der Wildente unvergleichlich noch einmal den Funken der Form schlug. Emanzipiert sich die Symbolik von ihrer psychologischen Determination, so verdinglicht sie sich zu einem an sich Seienden, das Symbol wird symbolistisch wie in Ibsens Spätwerken, etwa dem von der sogenannten Jugend überfahrenen Buchhalter Foldal im John Gabriel Borkmann. Der Widerspruch zwischen solchem konsequenten Symbolismus und dem konservativen Realismus wird zur Unzulänglichkeit der letzten Stücke. Damit aber zum Gärstoff des expressionistischen Strindberg. Dessen Symbole reißen sich los von den empirischen Menschen und werden zu einem Teppich verwoben, in dem alles symbolisch ist und nichts, weil alles alles bedeuten kann. Das Drama braucht nur des unausweichlich Lächerlichen solcher Pansymbolik innezuwerden, die sich selbst erledigt; es verwertend aufzugreifen, und die Beckettsche Absurdität ist auch der immanenten Dialektik der Form nach erreicht. Das nichts Bedeuten wird zur einzigen Bedeutung. Der tödlichste Schrecken der dramatischen Personen, wenn nicht des parodierten Dramas selber, ist der verstellt komische darüber, daß sie irgend etwas bedeuten könnten. HAMM: Wir sind doch nicht im Begriff, etwas zu ... zu ... bedeuten? CLOV: Bedeuten? Wir, etwas bedeuten? (Kurzes Lachen.) Das ist aber gut! 36 Mit dieser Möglichkeit, die längst von der Übermacht einer Apparatur erdrückt ward, in der die Einzelnen auswechselbar oder überflüssig sind, verschwindet auch die Bedeutung der Sprache. Hamm, den die zum Taprigen verkommene Regung des Lebens im Gespräch der Eltern in der Mülltonne aufbringt und der nervös wird, weil »es also kein Ende nimmt«, fragt: »Worüber können sie denn reden, worüber kann man noch reden?« 37 Dahinter bleibt das Stück nicht zurück. Es ist errichtet auf dem Grunde eines Sprachverbots und spricht es durch sein eigenes Gefüge aus. Dabei weicht es der Aporie des expressionistischen Dramas nicht aus: daß Sprache, selbst wo sie tendenziell zum Laut sich verkürzt, ihr semantisches Element nicht abschütteln, nicht rein mimetisch 38 oder gestisch werden kann, etwa wie die von der Gegenständlichkeit emanzipierten Formen der Malerei die Ähnlichkeit mit Gegenständlichem nicht ganz loswerden. Die mimetischen Valeurs, einmal von den signifikativen endgültig gesondert, geraten an Willkür und Zufall und schließlich eine zweite Konvention. Wie das Endspiel damit sich abfindet, unterscheidet es von Finnegans Wake. Anstatt zu trachten, das diskursive Element der Sprache durch den reinen Laut zu liquidieren, schafft Beckett es um ins Instrument der eigenen Absurdität, nach dem Ritual der Clowns, deren Geplapper zu Unsinn wird, indem er als Sinn sich vorträgt. Der objektive Sprachzerfall, das zugleich stereotype und fehlerhafte Gewäsch der Selbstentfremdung, zu dem den Menschen Wort und Satz im eigenen Munde verquollen sind, dringt ein ins ästhetische Arcanum; die zweite Sprache der Verstummenden, ein Agglomerat aus schnodderigen Phrasen, scheinlogischen Verbindungen, galvanisierten Wörtern als Warenzeichen, das wüste Echo der Reklamewelt, ist umfunktioniert zur Sprache der Dichtung, die Sprache negiert 39 . Darin berührt Beckett sich mit der Dramatik Eugène Ionescos. Ordnet ein späteres Stück von ihm sich um die imago des Tonbands, dann ähnelt die Sprache des Endspiels der aus dem abscheulichen Gesellschaftsspiel geläufigen, daß man den Unsinn, der während einer party geredet wird, insgeheim auf Band aufnimmt und dann den Gästen zur Demütigung vorspielt. Auskomponiert wird der Schock, über welchen bei solcher Gelegenheit das blöde Gekicher hinweghüpft. Wie die wache Erfahrung nach intensiver Lektüre Kafkas allerorten Situationen aus seinen Romanen zu beobachten meint, so bewirkt Becketts Sprache eine heilsame Erkrankung des Erkrankten: wer sich selbst zuhört, bangt, ob er nicht ebenso redet. Längst schon schien dem, der das Kino verläßt, in den zufälligen Vorgängen auf der Straße die geplante Zufälligkeit des Films sich fortzusetzen. Zwischen den montierten Phrasen der Alltagssprache gähnt das Loch. Fragt einer der beiden mit der eingeschliffenen Gebärde des Abgebrühten, der der unverbrüchlichen Langeweile des Daseins sicher ist, »Was soll denn schon am Horizont sein?« 40 , so wird das sprachgewordene Achselzucken apokalyptisch, erst recht durch seine Allvertrautheit. Der glatten und aggressiven Regung des gesunden Menschenverstands, »Was soll denn schon sein?«, wird das Eingeständnis des eigenen Nihilismus abgepreßt. Etwas später befiehlt Hamm, der Herr, dem soi-disant Diener Clov, zu einem Zirkuszweck, dem vergeblichen Versuch, einen Sessel hin- und herzuschieben, »den Bootshaken« zu holen. Dem folgt ein kleiner Dialog: CLOV: Tu dies, tu das, und ich tu's. Ich weigere mich nie. Warum? HAMM: Du kannst es nicht. CLOV: Bald werde ich es nicht mehr tun. HAMM: Du wirst es nicht mehr können. (Clov geht hinaus.) Ah, die Leute, die Leute, man muß ihnen alles erklären. 41 Daß man »den Leuten alles erklären muß«, bläuen jeden Tag Millionen von Vorgesetzten Millionen von Untergebenen ein. Durch den Nonsens, den es an der Stelle begründen soll – Hamms Erklärung dementiert seinen eigenen Befehl –, wird aber nicht nur der von der Gewohnheit zugedeckte Aberwitz des Clichés grell beleuchtet, sondern zugleich der Trug des miteinander Sprechens ausgedrückt; daß die voneinander ohne Hoffnung Entfernten, indem sie konversieren, so wenig sich erreichen wie die beiden alten Krüppel in den Mülltonnen. Kommunikation, das universale Gesetz der Clichés, bekundet, daß keine Kommunikation mehr sei. Die Absurdität allen Sprechens ist nicht unvermittelt gegen den Realismus, sondern aus diesem entwickelt. Denn die kommunikative Sprache postuliert durch ihre bloße syntaktische Form schon, durch Logizität, Schlußverhältnisse, festgehaltene Begriffe, den Satz vom zureichenden Grunde. Dieser Forderung jedoch wird kaum mehr genügt: die Menschen, so wie sie miteinander reden, werden teils von ihrer Psychologie, dem prälogischen Unbewußten motiviert, teils verfolgen sie Zwecke, die, als solche ihrer bloßen Selbsterhaltung, von jener Objektivität abweichen, welche die logische Form vorspiegelt. Jedenfalls heute kann man ihnen das mit ihren Tonbändern beweisen. Im Freudischen wie im Paretoschen Verstande ist die ratio der verbalen Kommunikation immer auch Rationalisierung. Ratio entsprang aber selber im selbsterhaltenden Interesse, und deshalb wird sie von den zwangsläufigen Rationalisierungen ihrer eigenen Irrationalität überführt. Der Widerspruch zwischen rationaler Fassade und unabdingbar Irrationalem ist selber bereits das Absurde. Beckett braucht ihn nur zu markieren, als Auswahlprinzip zu handhaben, und der Realismus, des Scheins rationaler Stringenz entkleidet, kommt zu sich selbst. Sogar die syntaktische Form von Frage und Antwort ist unterminiert. Sie setzt eine Offenheit des zu Sagenden voraus, die, wie es schon Huxley nicht sich hat entgehen lassen, nicht mehr existiert. Der Frage ist die vorgezeichnete Antwort anzuhören, und das verdammt das Spiel von Frage und Antwort zum nichtig Wahnhaften des untauglichen Versuchs, durch den Sprachgestus der Freiheit die Unfreiheit der informativen Sprache zu verschleiern. Beckett reißt ihr den Schleier herunter, auch den philosophischen. Was sich da dem Nichts gegenüber alles radikal in Frage stellt, verhindert durch das der Theologie entwendete Pathos vorweg die erschrecklichen Folgen, auf deren Möglichkeit es pocht, und infiltriert durch die Gestalt der Frage die Antwort mit eben dem Sinn, den jene bezweifelt; nicht umsonst konnten im Faschismus und Vorfaschismus solche Destrukteure den destruktiven Intellekt so wacker schmälen. Beckett jedoch entziffert die Lüge des Fragezeichens: die Frage ist zur rhetorischen geworden. Gleicht die existentialphilosophische Hölle einem Tunnel, in dessen Mitte von der anderen Seite schon wieder das Licht hineinscheint, so reißt Becketts Dialog die Schienen des Gesprächs auf; der Zug gelangt nicht mehr dorthin, wo es hell wird. Die alte Wedekindsche Technik des Mißverständnisses wird total. Der Verlauf der Dialoge selbst nähert dem Zufallsprinzip des literarischen Produktionsprozesses sich an. Er klingt, als wäre das Gesetz seines Fortgangs nicht die Vernunft von Rede und Gegenrede, nicht einmal deren psychologisches Ineinandergehaktsein, sondern ein Aushören, verwandt dem von Musik, die von den vorgegebenen Typen sich emanzipiert. Das Drama lauscht, was nach einem Satz wohl für ein anderer kommt. Von der eingängigen Unwillkürlichkeit solcher Fragen hebt die inhaltliche Absurdität erst recht sich ab. Auch das hat sein infantiles Modell an denen, die im zoologischen Garten darauf warten, was nun wohl im nächsten Augenblick das Nilpferd oder der Schimpanse anstellen werden. Im Stande ihrer Zersetzung polarisiert sich die Sprache. Hier wird sie zum Basic English, oder Französisch, oder Deutsch einzelner Wörter, archaisch herausgestoßener Befehle im Jargon universaler Nichtachtung, der Zutraulichkeit unversöhnlicher Kontrahenten; dort zum Ensemble ihrer Leerformen, einer Grammatik, die aller Beziehung auf ihren Inhalt und damit ihrer synthetischen Funktion sich begeben hat. Den Interjektionen gesellen sich Übungssätze, Gott weiß wofür. Auch das hängt Beckett an die große Glocke: es ist eine der Spielregeln des Endspiels, daß die asozialen Partner, und mit ihnen die Zuschauer, sich immerzu in die Karten sehen. Hamm fühlt sich als Künstler. Er hat sich das Neronische qualis artifex pereo zur Maxime seines Lebens erkoren. Aber seine projektierten Erzählungen stranden an der Syntax: HAMM: Wo war ich stehengeblieben? (Pause. Trübsinnig.) Es ist zerbrochen, wir sind zerbrochen. (Pause) Es wird zerbrechen. 42 Zwischen den Paradigmata taumelt die Logik. Hamm und Clov unterhalten sich auf ihre autoritäre, gegenseitig sich abschneidende Weise: HAMM: Öffne das Fenster. CLOV: Wozu? HAMM: Ich will das Meer hören. CLOV: Du wirst es nicht hören. HAMM: Selbst nicht, wenn du das Fenster öffnest? CLOV: Nein. HAMM: Es lohnt sich also nicht, es zu öffnen? CLOV: Nein. HAMM (heftig): Öffne es also! (Clov steigt auf die Leiter und öffnet das Fenster. Pause.) Hast du es geöffnet? CLOV: Ja. 43 Wenig fehlt, und man möchte in dem letzten »Also« Hamms den Schlüssel des Stücks suchen. Weil es sich nicht lohnt, das Fenster zu öffnen, weil Hamm das Meer nicht hören kann – vielleicht ist es ausgetrocknet, vielleicht bewegt es sich nicht mehr –, beharrt er darauf, daß Clov es öffne: der Unfug einer Handlung wird zum Grund, sie zu begehen, nachträgliche Legitimation von Fichtes freier Tathandlung um ihrer selbst willen. So sehen die zeitgemäßen Aktionen aus und wecken den Verdacht, daß es nie viel anders war. Die logische Figur des Absurden, die den kontradiktorischen Gegensatz des Stringenten als stringent vorträgt, verneint jeglichen Sinnzusammenhang, wie ihn die Logik zu gewähren scheint, um diese der eigenen Absurdität zu überführen: daß sie mit Subjekt, Prädikat und Kopula das Nichtidentische so zurichtet, als ob es identisch wäre, in den Formen aufginge. Nicht als Weltanschauung löst das Absurde die rationale ab; jene kommt in diesem zu sich selbst. Die prästabilierte Harmonie von Verzweiflung herrscht zwischen den Formen und dem residualen Inhalt des Stücks. Das zusammengeschmolzene Ensemble zählt nur vier Köpfe. Zwei davon sind übermäßig rot, als wäre ihre Vitalität eine Hautkrankheit; die beiden Alten dafür übermäßig weiß wie schon keimende Kartoffeln im Keller. Recht funktionierende Körper haben sie alle nicht mehr, die Alten bestehen nur noch aus Rümpfen, die Beine haben sie übrigens nicht bei der Katastrophe sondern offenbar bei einem privaten Unfall mit dem Tandem in den Ardennen, »am Ausgang von Sedan« 44 verloren, wo regelmäßig eine Armee die andere zu vernichten pflegt; man soll sich nicht einbilden, gar so viel hätte sich geändert. Noch die Erinnerung an ihr bestimmtes Unglück jedoch wird beneidenswert angesichts der Unbestimmtheit des allgemeinen, sie lachen dabei. Im Unterschied zu den expressionistischen Vätern und Söhnen haben zwar alle Eigennamen, alle vier jedoch sind einsilbig, four letter words gleich den obszönen. Die praktischen und familiären Abkürzungen, die in angelsächsischen Ländern beliebt sind, werden als Stümpfe von Namen entblößt. Einigermaßen gebräuchlich, wenn auch obsolet, ist nur der der alten Mutter, Nell; Dickens verwendet ihn für das rührende Kind der Old Curiosity Shop. Die drei anderen Namen sind erfunden wie für Litfaßsäulen. Der Alte heißt Nagg, nach Assoziation von nagging, vielleicht auch einer deutschen: das traute Paar ist es durchs Nagen. Sie diskutieren darüber, ob man das Sägemehl in ihren Mülleimern erneuert hat; es ist aber kein Sägemehl mehr sondern Sand. Nagg konstatiert, früher sei es Sägemehl gewesen, und Nell antwortet überdrüssig: »Früher« 45 , wie eine Frau eingefroren wiederholte Aussagen ihres Gatten hämisch preisgibt. So mesquin der Streit über Sägemehl oder Sand, so entscheidend ist der Unterschied in der Residualhandlung, Übergang vom Minimum zum Nichts. Was Benjamin an Baudelaire rühmte, die Fähigkeit, mit äußerster Diskretion ein Äußerstes zu sagen 46 , kann Beckett reklamieren; der Allerweltstrost, es könne immer noch schlimmer kommen, wird zum Verdammungsurteil. In dem Reich zwischen Leben und Tod, wo nicht einmal mehr leiden sich läßt, ist der Unterschied von Sägemehl und Sand der ums Ganze; Sägemehl, kümmerliches Nebenprodukt der Dingwelt, wird Mangelware und sein Entzug Verschärfung der lebenslänglichen Todesstrafe. Daß die beiden in Mülleimern logieren – ein analoges Motiv kommt übrigens in Camino Real von Tennessee Williams vor, sicherlich ohne daß eines der Stücke vom anderen abhängig wäre –, nimmt wie Kafka die Konversationsphrase buchstäblich. »Heute werden die Alten in den Mülleimer geworfen«, und es geschieht. Das Endspiel ist die wahre Gerontologie. Die Alten sind nach dem Maß der gesellschaftlich nützlichen Arbeit, die sie nicht mehr leisten, überflüssig und wären wegzuwerfen. Das wird dem wissenschaftlichen Brimborium einer Fürsorge entrissen, die unterstreicht, was sie negiert. Das Endspiel schult für einen Zustand, wo alle Beteiligten, wenn sie von der nächsten der großen Mülltonnen den Deckel abheben, erwarten, die eigenen Eltern darin zu finden. Der natürliche Zusammenhang des Lebendigen ist zum organischen Abfall geworden. Unwiderruflich haben die Nationalsozialisten das Tabu des Greisenalters umgestoßen. Becketts Mülleimer sind Embleme der nach Auschwitz wiederaufgebauten Kultur. Die Nebenhandlung aber geht weiter als zu weit, zum Untergang der beiden Alten. Verweigert wird ihnen die Kinderspeise, ihr Brei, ersetzt durch einen Zwieback, den die Zahnlosen nicht mehr kauen können, und sie ersticken, weil der letzte Mensch zu sensibel ist, um den vorletzten ihr Leben zu gönnen. Verklammert ist das mit der Haupthandlung dadurch, daß das Verenden der beiden Alten vorwärts treibt zu jenem Ausgang des Lebens, dessen Möglichkeit das Spannungsmoment bildet. Hamlet wird variiert: Krepieren oder Krepieren, das ist hier die Frage. Den Namen des Shakespeareschen Helden kürzt grimmig der des Beckettschen ab, der des liquidierten dramatischen Subjekts den des ersten. Assoziiert wird dabei auch einer der Söhne Noahs und damit die Sintflut: der Stammherr der Schwarzen, der in einer Freudischen Negation die weiße Herrenrasse substituiert. Endlich bedeutet ham actor auf Englisch den Schmierenkomödianten. Becketts Hamm, Schlüsselgewaltiger und ohnmächtig in eins, spielt, was er nicht mehr ist, als hätte er jene jüngste soziologische Literatur gelesen, die das zoon politikon als Rolle definiert. Persönlichkeit war, wer mit Geschick so sich aufspielte wie nun der hilflose Hamm. Sie mag bereits im Ursprung Rolle gewesen sein, Natur, die sich als Übernatur geriert. Der Wechsel der Situationen des Stücks veranlaßt eine von Hamms Rollen; drastisch empfiehlt ihm gelegentlich eine Regiebemerkung, er solle »mit der Stimme des vernunftbegabten Wesens« reden; in seiner umständlichen Erzählung posiert er den »Erzählerton«. Erinnerung ans Unwiederbringliche wird zum Schwindel. Retrospektiv verdammt der Zerfall die Kontinuität des Lebens, durch die es Leben allein ward, als selber fiktiv. Die Differenz des Tonfalls von Menschen, die erzählen, und solchen, die unmittelbar reden, hält Gericht übers Identitätsprinzip. Beides alterniert in Hamms großer Rede, einer Art eingeschobener Arie ohne Musik. Bei den Bruchstellen pausiert er, mit den Kunstpausen des ausgedienten Heldendarstellers. Zur Norm der Existentialphilosophie, die Menschen sollten, weil sie schon gar nichts anderes mehr sein können, sie selber sein, setzt das Endspiel die Antithese, daß genau dies Selbst nicht das Selbst sondern die äffische Nachahmung eines nicht Existenten sei. Hamms Verlogenheit bringt die Lüge an den Tag, die darin steckt, daß man Ich sagt und damit jene Substantialität sich zuschreibt, deren Gegenteil der Inhalt dessen ist, was vom Ich zusammengefaßt wird. Bleibendes ist als Inbegriff des Ephemeren dessen Ideologie. Von dem aber, was der Wahrheitsgehalt des Subjekts war, vom Denken, wird nur noch die gestische Hülse konserviert. Die beiden tun, als ob sie sich etwas überlegten, ohne daß sie überlegen: HAMM: Das ist alles drollig, in der Tat. Sollten wir uns mal halb tot lachen? CLOV (nachdem er überlegt hat): Ich könnte mich heute nicht mehr halb tot lachen. HAMM (nachdem er überlegt hat): Ich auch nicht. 47 Hamms Gegenspieler ist schon dem Namen nach, was er ist, der nochmals lädierte Clown, dem man den Endbuchstaben abgeschnitten hat. Gleich klingt ein wohl veralteter Ausdruck für den Pferdefuß des Teufels, ähnlich das kurrente Wort für Handschuh. Er ist der Teufel seines Meisters, den er mit dem Schlimmsten bedroht: ihn zu verlassen, und gleichzeitig dessen Handschuh, mit dem jener die Dingwelt berührt, zu der er nicht unmittelbar mehr gelangt. Aus solchen Assoziationen ist nicht nur Clovs Gestalt, sondern ihr Zusammenhang mit der anderen konstruiert. Auf der alten Klavierausgabe von Strawinskys Ragtime für elf Instrumente, einem der bedeutendsten Stücke aus dessen surrealistischer Phase, stand eine Picassozeichnung, die, angeregt wohl vom Titel »Rag«, zwei verlumpte Figuren zeigt, Vorfahren der Vagabunden Wladimir und Estragon, die auf Herrn Godot warten. Die virtuose Graphik ist in einer einzigen Linie verschlungen. Von ihrem Geist ist der Doppel-Sketch des Endspiels, ebenso wie die ramponierten Wiederholungen, die Becketts gesamtes Werk unwiderstehlich herbeizieht. In ihnen ist Geschichte storniert. Wiederholungszwang ist der regressiven Verhaltensweise des Eingesperrten abgesehen, der es immer wieder versucht. Beckett trifft sich mit jüngsten Tendenzen der Musik nicht zuletzt darin, daß er, der Westliche, Züge aus Strawinskys radikaler Vergangenheit, die beklemmende Statik der zerfällten Kontinuität, mit avancierten expressiven und konstruktiven Mitteln aus der Schönbergschule amalgamiert. Auch die Umrisse von Hamm und Clov sind die einer einzigen Linie; die Individuation zur säuberlich selbständigen Monade wird ihnen versagt. Sie können nicht ohne einander leben. Die Macht Hamms über Clov scheint darauf zu beruhen, daß nur er weiß, wie der Speiseschrank aufgeht, etwa wie nur ein Prinzipal die Kombination kennt, auf die das Schloß eines Kassenschranks eingestellt ist. Er wäre bereit, ihm das Geheimnis zu verraten, wenn Clov schwüre, ihn – oder »uns« – »zu erledigen«. In einer fürs Gewebe des Stücks überaus charakteristischen Wendung antwortet Clov: »Ich könnte dich nicht erledigen«, und als mokierte das Stück sich über den Mann, der Vernunft annimmt, sagt Hamm: »Dann wirst du mich nicht erledigen.« 48 Auf Clov ist er angewiesen, weil dieser allein noch verrichten kann, was beide am Leben erhält. Das aber ist von fraglichem Wert, weil beide wie der Kapitän des Gespensterschiffs fürchten müssen, nicht sterben zu können. Das bißchen, das zugleich alles ist, wäre, daß daran doch vielleicht etwas sich ändert. Diese Bewegung, oder ihr Ausbleiben, ist die Handlung. Sie wird freilich nicht viel expliziter als das motivisch wiederholte »Irgend etwas geht seinen Gang« 49 , so abstrakt wie die reine Form der Zeit. Eher wird die Hegelsche Dialektik von Herr und Knecht, an die Günther Anders schon bei Gelegenheit von Godot erinnerte, verlacht, als daß sie, nach den Sitten der traditionellen Ästhetik, gestaltet wäre. Der Knecht kann nicht mehr die Zügel ergreifen, um Herrschaft abzuschaffen. Der Verstümmelte wäre dazu kaum fähig, und für die spontane Aktion ist es, nach der geschichtsphilosophischen Sonnenuhr des Stückes, sowieso zu spät. Clov bleibt nichts übrig, als auszuwandern in die für die Abgeschiedenen nicht vorhandene Welt, mit einigen Chancen, dabei zu sterben. Selbst auf die Freiheit zum Tode darf er sich nicht verlassen. Zwar bringt er den Entschluß zu gehen auf, kommt auch wie zum Abschied herein: »Panama, Tweedrock, hellgelbe Handschuhe, Regenmantel überm Arm, Schirm und Koffer« 50 , mit einer musikalisch starken Schlußwirkung. Aber man sieht nicht seinen Abgang, sondern er bleibt »regungslos und teilnahmslos mit auf Hamm gerichtetem Blick bis zum Ende stehen« 51 . Das ist eine Allegorie, aus der die Intention verpuffte. Von Unterschieden abgesehen, die entscheiden mögen oder ganz gleichgültig sein, ist sie identisch mit dem Anfang. Kein Zuschauer und kein Philosoph wüßte zu sagen, ob es nicht wieder von vorn beginnt. Dialektik pendelt aus. Musikhaft ist die Handlung des Stücks insgesamt komponiert, über zwei Themen wie vormals Doppelfugen. Das erste Thema ist, daß es zu Ende gehen soll, die unscheinbar gewordene Schopenhauersche Verneinung des Willens zum Leben. Hamm stimmt es an; die Personen, die keine mehr sind, werden zu Instrumenten ihrer Situation, als hätten sie Kammermusik zu spielen. »Hamm, der im Endspiel blind und unbeweglich im Rollstuhl sitzt, ist von allen bizarren Instrumenten Becketts das mit den meisten Tönen, dem überraschendsten Klang.« 52 Hamms Unidentität mit sich selbst motiviert den Verlauf. Während er das Ende will, als das der Qual schlecht unendlicher Existenz, ist er besorgt um sein Leben wie ein Herr in den ominösen besten Jahren. Überwertig sind ihm die minderen Paraphernalien von Gesundheit. Er fürchtet aber nicht den Tod, sondern daß er mißlingen könnte; das Kafkasche Motiv des Jägers Grachus hallt nach 53 . So wichtig wie die eigene Notdurft ist ihm, daß der zum Schauen bestellte Clov kein Segel, keine Rauchfahne erspäht; daß keine Ratte und kein Insekt mehr sich regt, mit denen das Unheil von vorn anheben könne; auch nicht das vielleicht überlebende Kind, das doch die Hoffnung wäre und auf das er lauert wie Herodes der Metzger auf den agnus dei. Das Insektenvertilgungsmittel, das vom Anbeginn auf die Vernichtungslager hinauswollte, wird zum Endprodukt der Naturbeherrschung, die sich selbst erledigt. Inhalt des Lebens ist nur noch: daß nichts Lebendiges sei. Alles was ist, soll einem Leben gleichgemacht werden, das selber der Tod ist, die abstrakte Herrschaft. – Das zweite Thema ist Clov zugeordnet, dem Diener. Nach einer freilich sehr verdunkelten Geschichte lief er Schutz suchend Hamm zu; aber er hat auch manches vom Sohn des wütend impotenten Patriarchen. Dem Ohnmächtigen den Gehorsam kündigen, ist das Allerschwerste, unwiderstehlich sträubt sich das Geringfügige, Überholte gegen die Abschaffung. Kontrapunktiert sind die beiden Handlungen dadurch, daß der Todeswille Hamms eins ist mit seinem Lebensprinzip, während der Lebenswille Clovs den Tod beider herbeiführen dürfte; Clov sagt: »Draußen ist der Tod.« 54 Die Antithese der Helden ist denn auch nicht fixiert, sondern ihre Regungen vermischen sich; gerade Clov redet zuerst vom Ende. Schema des Verlaufs ist das Endspiel des Schachs, eine typische, einigermaßen normierte Situation, durch Zäsur vom Mittelspiel und seinen Kombinationen getrennt; diese fehlen auch im Stück. Intrige und plot werden stillschweigend suspendiert. Nur Kunstfehler oder Unglücksfälle wie der, daß irgendwo noch Lebendiges wächst, könnten Unvorhergesehenes stiften, nicht der findige Geist. Fast leer ist das Feld, und was zuvor geschah, ist kümmerlich nur aus den Stellungen der paar Figuren abzulesen. Hamm ist der König, um den alles sich dreht und der selber nichts vermag. Das Mißverhältnis zwischen dem Schach als Zeitvertreib und der unmäßigen Anstrengung, die es involviert, wird auf der Bühne zu dem zwischen athletisch sich Gebärdenden und dem Gummigewicht dessen, was sie tun. Ob die Partie mit einem Patt oder einem ewigen Schach ausgeht, oder ob Clov siegt, wird, als wäre die Gewißheit darüber schon zuviel Sinn, nicht eindeutig; übrigens ist es wohl auch gar nicht so wichtig, im Patt käme alles zur Ruhe wie im Matt. Sonst entragt dem Kreis einzig das flüchtige Bild jenes Kindes 55 , hinfälligste Reminiszenz an Fortinbras oder den Kinderkönig. Es könnte gar Clovs eigenes, verlassenes Kind sein. Aber das schräge Licht, das von dorther in den Raum fällt, ist so schwach wie die hilflos helfenden Arme, die am Ende von Kafkas Prozeß zum Fenster sich hinausstrecken. Thematisch wird die Endgeschichte des Subjekts in einem Intermezzo, das seine Symbolik sich gestatten kann, weil es die eigene Hinfälligkeit, und damit die seines Sinnes, vor Augen stellt. Die Hybris des Idealismus, die Inthronisation des Menschen als Schöpfers im Zentrum der Schöpfung, hat sich in dem »Innenraum ohne Möbel« verschanzt wie ein Tyrann in seinen letzten Tagen. Dort wiederholt er mit winzig verkleinerter Imagination, was einmal der Mensch gewesen sein wollte; was ihm der gesellschaftliche Zug nicht anders als die neue Kosmologie entwand, und wovon er doch nicht loskommt. Clov ist seine male nurse. Von ihm läßt Hamm im Rollsessel in die Mitte jenes Interieurs sich schieben, zu dem die Welt wurde und zugleich der Innenraum seiner eigenen Subjektivität: HAMM: Laß mich eine kleine Runde machen. (Clov stellt sich hinter den Sessel und schiebt ihn ein Stück voran.) Nicht zu schnell. (Clov schiebt den Sessel weiter.) Eine kleine Runde um die Welt. (Clov schiebt den Sessel weiter.) Scharf an der Wand entlang. Dann wieder zurück in die Mitte. (Clov schiebt den Sessel weiter.) Ich stand doch genau in der Mitte, nicht wahr? 56 Der Verlust der Mitte, den das parodiert, weil jene Mitte selbst schon Lüge war, wird zum armseligen Gegenstand nörgelnder und kraftloser Pedanterie: CLOV: Wir haben die Runde noch nicht beendet. HAMM: Zurück an meinen Platz. (Clov schiebt den Sessel wieder an seinen Platz und hält ihn an.) Ist das hier mein Platz? CLOV: Ja, dein Platz ist hier? HAMM: Stehe ich genau in der Mitte? CLOV: Ich werde nachmessen. HAMM: Ungefähr! Ungefähr! CLOV: Da. HAMM: Stehe ich ungefähr in der Mitte? CLOV: Es scheint mir so. HAMM: Es scheint dir so! Stell mich genau in die Mitte! CLOV: Ich hole den Zollstock. HAMM: Ach was! So in etwa. So in etwa. (Clov schiebt den Sessel unmerklich weiter.) Genau in die Mitte! 57 Was aber in dem blöden Ritual vergolten wird, ist nichts, was das Subjekt erst verübt hätte. Subjektivität selbst ist die Schuld; daß man überhaupt ist. Ketzerisch fusioniert sich die Erbsünde mit der Schöpfung. Sein, das Existentialphilosophie als Sinn von Sein ausposaunt, wird zu dessen Antithesis. Panische Angst vor Reflexbewegungen des Lebendigen peitscht nicht nur zu unermüdlicher Naturbeherrschung an: sie heftet sich ans Leben selbst als den Grund des Unheils, zu dem Leben wurde: HAMM: Alle, denen ich hätte helfen können. (Pause) Helfen! (Pause) Die ich hätte retten können. (Pause) Retten! (Pause) Sie krochen aus allen Ecken. (Pause. Heftig.) Überlegen Sie doch, überlegen Sie! Sie sind auf der Erde, dagegen ist kein Kraut gewachsen! 58 Daraus zieht er das Fazit: »Das Ende ist am Anfang, und doch macht man weiter.« 59 Das autonome Sittengesetz schlägt antinomistisch um, reine Herrschaft über Natur in Pflicht zum Ausrotten, die stets schon dahinter lauerte: HAMM: Schon wieder Komplikationen! (Clov steigt von der Leiter.) Wenn es nur nicht wieder losgeht! Clov rückt die Leiter näher ans Fenster, steigt hinauf und setzt das Fernglas an. Pause. CLOV: Oh je, oh je, oh je, oh je! HAMM: Ein Blatt? Eine Blume? Eine Toma ... (er gähnt) ... te? CLOV (schauend): Du kriegst gleich Tomaten! Jemand! Da ist jemand! HAMM (hört auf zu gähnen): Na ja, geh ihn ausrotten. (Clov steigt von der Leiter. Leise.) Jemand! (Mit bebender Stimme.) Tu deine Pflicht! 60 Über den Idealismus, dem solcher totale Pflichtbegriff entstammt, urteilt eine Frage des verhinderten Rebellen Clov an seinen verhinderten Herrn: CLOV: Gibt es Sektoren, die dich besonders interessieren? (Pause) Oder bloß alles? 61 Das klingt wie die Probe auf Benjamins Einsicht, eine angeschaute Zelle Wirklichkeit wiege den Rest der ganzen übrigen Welt auf. Das Totale, reine Setzung des Subjekts, ist das Nichts. Kein Satz klingt absurder als dieser vernünftigste, der das Alles zum Nur kontrahiert, dem Trugbild der anthropozentrisch beherrschbaren Welt. So vernünftig jedoch dies Absurdeste, so wenig läßt der absurde Aspekt von Becketts Stück sich wegdisputieren, nur weil seiner die eilfertige Apologetik und die Begierde des Abstempelns sich bemächtigte. Ratio, vollends instrumentell geworden, bar der Selbstbesinnung und der auf das von ihr Entqualifizierte, muß nach dem Sinn fragen, den sie selber tilgte. In dem Stand aber, der zu dieser Frage nötigt, bleibt keine Antwort als das Nichts, das sie als reine Form bereits ist. Die geschichtliche Unausweichlichkeit dieser Absurdität läßt sie ontologisch erscheinen: das ist der Verblendungszusammenhang der Geschichte selbst. Becketts Drama durchschlägt ihn. Der immanente Widerspruch des Absurden, der Unsinn, in dem Vernunft terminiert, öffnet emphatisch die Möglichkeit eines Wahren, das nicht einmal mehr gedacht werden kann. Er untergräbt den absoluten Anspruch dessen, was nun einmal so ist. Die negative Ontologie ist die Negation von Ontologie: Geschichte allein hat gezeitigt, was die mythische Gewalt des Zeitlosen sich aneignete. Die geschichtliche Fiber von Situation und Sprache bei Beckett konkretisiert nicht more philosophico ein Ungeschichtliches – eben dieser Usus der existentialistischen Dramatiker ist so kunstfremd wie philosophisch rückständig. Sondern das Ein für allemal Becketts ist die unendliche Katastrophe; erst »daß die Erde erloschen ist, obgleich ich sie nie brennen sah« 62 begründet Clovs Antwort auf Hamms Frage: »Meinst du nicht, daß es lange genug gedauert hat?«: »Seit jeher schon.« 63 Vorgeschichte dauert fort, das Phantasma von Ewigkeit ist selber nur deren Fluch. Nachdem Clov dem ganz Gelähmten über das berichtete, was er von der Erde sieht, nach der zu schauen jener ihm gebot 64 , vertraut Hamm ihm als sein Geheimnis an: CLOV (vertieft): Hmm. HAMM: Weißt du was? CLOV (dergleichen): Hmm. HAMM: Ich bin nie dagewesen. 65 Die Erde ward noch nie betreten; das Subjekt ist noch keines. Bestimmte Negation wird dramaturgisch durch konsequente Verkehrung. Die beiden Sozialpartner qualifizieren ihre Einsicht, es gebe keine Natur mehr, mit dem bürgerlichen »Du übertreibst« 66 . Besonnenheit ist das probate Mittel, Besinnung zu sabotieren. Sie veranlaßt zur melancholischen Reflexion: CLOV (traurig): Niemand auf der Welt hat je so verdreht gedacht wie wir. 67 Wo sie der Wahrheit am nächsten kommen, fühlen sie in gedoppelter Komik ihr Bewußtsein als falsches; so spiegelt sich der Zustand, an den Reflexion nicht mehr heranreicht. Mit der Technik von Verkehrung ist aber das ganze Stück gewoben. Sie transfiguriert die empirische Welt in das, als was sie desultorisch schon beim späten Strindberg und im Expressionismus benannt war. »Das ganze Haus stinkt nach Kadaver ... Das ganze Universum.« 68 Hamm, der danach auf »das Universum pfeift«, ist ebenso der Urenkel Fichtes, der die Welt verachtet, weil sie nichts als Rohmaterial und Produkt ist, wie der, welcher keine Hoffnung weiß denn die kosmische Nacht, die er mit Poesiezitaten erfleht. Zur Hölle wird die Welt als absolute: nichts anderes ist als sie. Graphisch hebt Beckett den Satz Hamms hervor: »Jenseits ist ... die ANDERE Hölle.« 69 Er läßt eine vertrackte Metaphysik des Diesseits durchscheinen, mit Brechtischem Kommentar: CLOV: Glaubst du an das zukünftige Leben? HAMM: Meines ist es immer gewesen. (Clov geht und schlägt die Tür hinter sich zu.) Peng! Das saß! 70 In seiner Konzeption kommt Benjamins Idee einer Dialektik im Stillstand nach Hause: HAMM: Es wird das Ende sein, und ich werde mich fragen, durch was es wohl herbeigeführt wurde, und ich werde mich fragen, durch was es wohl ... (Er zögert.) ... warum es so spät kommt. (Pause) Ich werde da sein, in dem alten Unterschlupf, allein gegen die Stille und ... (Er zögert.) ... die Starre. Wenn ich schweigen kann und ruhig bleiben, wird es aus sein mit jedem Laut und jeder Regung. 71 Jene Starre ist die Ordnung, die Clov angeblich liebt und die er als Zweck seiner Verrichtungen definiert: CLOV: Eine Welt, in der alles still und starr wäre und jedes Ding seinen letzten Platz hätte, unterm letzten Staub. 72 Wohl wird das alttestamentarische Zu Staub sollst du werden übersetzt in: Dreck. Zur Substanz des Lebens, das der Tod ist, werden dem Stück die Exkretionen. Aber das bilderlose Bild des Todes ist eines von Indifferenz. In ihm verschwindet der Unterschied zwischen der absoluten Herrschaft, der Hölle, in der Zeit gänzlich in den Raum gebannt ist, in der schlechterdings nichts mehr sich ändert, – und dem messianischen Zustand, in dem alles an seiner rechten Stelle wäre. Das letzte Absurde ist, daß die Ruhe des Nichts und die von Versöhnung nicht auseinander sich kennen lassen. Hoffnung kriecht aus der Welt, in der sie so wenig mehr aufbewahrt wird wie Brei und Praliné, dorthin zurück, woher sie ihren Ausgang nahm, in den Tod. Aus ihm zieht das Stück seinen einzigen Trost, den stoischen: CLOV: Es gibt so viele schreckliche Dinge. HAMM: Nein, nein, es gibt gar nicht mehr so viele. 73 Bewußtsein schickt sich an, dem eigenen Untergang ins Auge zu sehen, als wollte es ihn überleben wie die beiden ihren Weltuntergang. Proust, über den Beckett in seiner Jugend einen Essay schrieb, soll versucht haben, den eigenen Todeskampf in Notizen zu protokollieren, die der Beschreibung von Bergottes Tod hätten eingefügt werden sollen. Das Endspiel führt diese Absicht aus wie das Mandat aus einem Testament. Fußnoten
1 Samuel Beckett, Endspiel und Alle die da fallen, übertr. von Elmar Tophoven, Frankfurt a.M. 1957, S. 33.
2 a.a.O., S. 27.
3 a.a.O., S. 23f.
4 a.a.O., S. 14.
5 a.a.O., S. 15f.
6 a.a.O., S. 9.
7 a.a.O., S. 25.
8 a.a.O., S. 16.
9 a.a.O., S. 28.
10 Vgl. Erpreßte Versöhnung, oben S. 263, und Georg Lukács, Wider den mißverstandenen Realismus, Hamburg 1958, S. 31.
11 Karl Jaspers, Philosophie. Bd. 2: Existenzerhellung. 3. Aufl., Berlin, Göttingen, Heidelberg 1956, S. 201f.
12 a.a.O., S. 202.
13 a.a.O., S. 203.
14 a.a.O., S. 225.
15 Vgl. Heinrich Rickert, Unmittelbarkeit und Sinndeutung, Tübingen 1939, S. 133f.
16 Ernst Robert Curtius, Französischer Geist im neuen Europa, 1925, S. 74ff.; zitiert bei Heinrich Rickert, a.a.O., S. 133ff., Fußnote.
17 Beckett, a.a.O., S. 37.
18 Vgl. Max Horkheimer und Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Amsterdam 1947, S. 279 [GS 3, s. S. 267f.].
19 Beckett, a.a.O., S. 67.
20 a.a.O., S. 55.
21 a.a.O.
22 a.a.O., S. 23.
23 a.a.O., S. 11.
24 a.a.O., S. 10.
25 a.a.O., S. 25.
26 a.a.O., S. 20.
27 Vgl. a.a.O., S. 44.
28 Vgl. etwa Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, München 1956, S. 217.
29 Beckett, a.a.O., S. 26f.
30 30 a.a.O., S. 39.
31 a.a.O., S. 13.
32 a.a.O., S. 16f.
33 Vgl. Th. W. Adorno, Prismen, Berlin, Frankfurt a.M. 1955, S. 329, Fußnote (Aufzeichnungen zu Kafka) [GS 10.1, s. S. 276].
34 Vgl. Beckett, a.a.O., S. 56.
35 Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Bd. 11: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, London 1940, S. 33.
36 Beckett, a.a.O., S. 29.
37 a.a.O., S. 22.
38 Vgl. Th. W. Adorno, Voraussetzungen, in: Akzente 8 (1961), S. 463ff. [GS 11, s. S. 431ff.] und dazu Max Horkheimer und Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 37ff. [GS 3, s. S. 41ff.]
39 Vgl. Th. W. Adorno, Dissonanzen, 2. Aufl., Göttingen 1958, S. 34 und 44 [GS 14, s. S. 39f. und S. 49f.].
40 Beckett, a.a.O., S. 28.
41 a.a.O., S. 36.
42 a.a.O., S. 41.
43 a.a.O., S. 51f.
44 a.a.O., S. 18.
45 a.a.O.
46 Vgl. Walter Benjamin, Schriften, Frankfurt a.M. 1955, Bd. 1, S. 457.
47 Beckett, a.a.O., S. 48.
48 a.a.O., S. 33.
49 a.a.O., S. 16; vgl. S. 29.
50 a.a.O., S. 66.
51 a.a.O., S. 66.
52 Marie Luise Kaschnitz, Zwischen Immer und Nie. Gestalten und Themen der Dichtung, Frankfurt a.M. 1971, S. 207.
53 Vgl. Th. W. Adorno, Prismen, a.a.O., S. 341.
54 Beckett, a.a.O., S. 13.
55 Vgl. a.a.O., S. 62.
56 a.a.O., S. 24.
57 a.a.O., S. 25.
58 a.a.O., S. 54.
59 a.a.O.
60 a.a.O., S. 61.
61 a.a.O., S. 57.
62 a.a.O., S. 65.
63 a.a.O., S. 38.
64 Vgl. a.a.O., S. 56.
65 a.a.O., S. 58.
66 a.a.O., S. 14.
67 a.a.O.
68 a.a.O., S. 39.
69 a.a.O., S. 24.
70 a.a.O., S. 41.
71 71 a.a.O., S. 54f.
72 72 a.a.O., S. 46.
73 73 a.a.O., S. 38.
Noten zur Literatur III Titel Paraphrasen zu Lessing Für Marie Luise Kaschnitz
» ›Nanine?‹ fragten sogenannte Kunstrichter, als dieses Lustspiel im Jahre 1747 zuerst erschien. Was ist das für ein Titel? Was denkt man dabei? – Nicht mehr und nicht weniger, als man bei einem Titel denken soll. Ein Titel muß kein Küchenzettel sein. Je weniger er von dem Inhalt verrät, desto besser ist er.« 1 So Lessing, der Titelfragen häufig erörtert, im einundzwanzigsten Stück der Hamburgischen Dramaturgie. Seine Abneigung gegen Titel, die etwas bedeuten, war die gegen den Barock; der Theoretiker des bürgerlichen deutschen Dramas will durch nichts mehr an die Allegorie erinnert werden, obwohl der Autor der Minna die Alternative ›Oder das Soldatenglück‹ nicht verschmäht. Tatsächlich hat der Stumpfsinn begrifflicher Titel später, im deutschen Klassizismus, ihm recht gegeben; der, unter dem die Louise Millerin seitdem gespielt wird, geht nicht Schiller zu Lasten. Aber wollte man Stücke, oder Romane, heute noch, wie Lessing vorschlug, nach Hauptfiguren nennen, man wäre schwerlich besser daran. Nicht nur ist bei den eingreifenden Produkten der Epoche fraglich, ob sie so etwas wie Hauptfiguren noch haben, oder ob diese mit den Helden hinab mußten. Darüber hinaus unterstreicht die Zufälligkeit eines Eigennamens über einem Text die Urfiktion, daß es um einen Lebendigen ginge, bis zum Unerträglichen. Konkrete Namenstitel klingen bereits ein wenig wie die Namen in Witzen, »Bei Pachulkes ist ein Kleines angekommen«. Der Held wird herabgewürdigt, indem man ihm einen Namen gibt, wie wenn er noch eine leibhafte Person wäre; weil er den Anspruch nicht erfüllen kann, wird der Name lächerlich, wofern es nicht, bei prätentiösen Namen, unverschämt ist, sie überhaupt zu tragen. Was aber sollen vollends bei Abstraktionen von der empirischen Realität Titel, die so tun, als ob sie aus dieser geradenwegs entlehnt wären. Stoffe von der Dignität des Namens gibt es erst recht nicht mehr. Die abstrakten jedoch sind nicht besser als in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, da Lessing sie ins Archiv der gelehrten Poesie hinabstieß. Regelmäßig reden sie sich auf ihre jeweils verwendete Technik heraus, latente Gattungsbezeichnungen zu einer Stunde des Geistes, in der keine Gattung so verbürgt ist, daß man bei ihr Unterschlupf suchen dürfte, während doch ›Konstruktion 22‹ oder ›Texturen‹ so sich gebärden, als eignete ihnen samt der hermetischen Kühnheit die Verbindlichkeit von Universalia ante rem. Verfahrungsweisen sind Mittel, nicht Zweck. Dieser jedoch, das Gedichtete, dürfte um keinen Preis, bei der Strafe sofortigen Untergangs des Gebildes, im Munde geführt werden, selbst wenn je ein Dichter es vermöchte. Titel müssen wie Namen es treffen, nicht es sagen. So wenig das aber der abdestillierte Gedanke leistet, so wenig leistet es auch das bloße Diesda. Die Aufgabe eines jeden Titels ist paradox; sie entzieht sich ebenso der rationalen Allgemeinheit wie der in sich verschlossenen Besonderung. Das wird als Unmöglichkeit der Titel heute offenbar. Eigentlich wiederholt sich im Titel die Paradoxie des Kunstwerks, drängt sich zusammen. Der Titel ist der Mikrokosmos des Werkes, Schauplatz der Aporie von Dichtung selbst. Können Dichtungen, die nicht mehr heißen können, noch sein? Einer von Beckett, ›L'innommable‹, ist nicht bloß der Sache gemäß sondern auch die Wahrheit über die Namenlosigkeit gegenwärtiger Dichtung. Kein Wort mehr taugt darin, das nicht das Unsägliche sagte, daß es nicht sich sagen läßt.
Sicherlich ist Unwillkürlichkeit nur ein Moment an den Dichtungen. Zu verlangen aber wäre sie von den Titeln. Diese müssen entweder der Konzeption so tief eingesenkt sein, daß das eine nicht ohne das andere gedacht werden kann, oder sie müssen einem einfallen. Nach Titeln suchen ist so hoffnungslos, wie wenn man sich auf ein vergessenes Wort besinnt, von dem man zu wissen glaubt, alles hänge daran, daß man seiner sich erinnere. Denn jedes Werk, wenn nicht jeder fruchtbare Gedanke, ist sich verborgen; nie sich selbst durchsichtig. Der gesuchte Titel aber will immer das Verborgene hervorzerren. Das verweigert das Werk zu seinem Schutz. Die guten Titel sind so nahe an der Sache, daß sie deren Verborgenheit achten; daran freveln die intentionierten. Deshalb ist es soviel leichter, Titel für die Arbeiten anderer zu finden als für die eigenen. Der fremde Leser weiß nie die Intention des Autors so gut wie dieser; dafür kristallisiert sich ihm leichter das Gelesene zur Figur wie ein Vexierbild, und mit dem Titel antwortet er auf die Rätselfrage. Den wahren Titel aber weiß das Werk selbst so wenig wie der Zadik seinen mystischen Namen.
Peter Suhrkamp hatte für Titel eine unvergleichliche Begabung. Sie war vielleicht das Siegel der verlegerischen. Als Verlegertugend wäre die Fähigkeit zu definieren, dem Text seinen Titel zu entlocken. Er entscheidet über die Publikation danach, ob aus dem Text einer hervorspringt. Eine von Suhrkamps Idiosynkrasien richtete sich gegen Titel mit Und. Ein solcher war wohl schon das Verhängnis von Kabale und Liebe. Wie in der Allegorese erlaubt das Und alles mit allem zu verbinden und ist darum ohnmächtig zum Meisterschuß. Aber wie alle ästhetischen Präskripte ist auch das Tabu übers Und nur eine Stufe zur eigenen Aufhebung. In manchen Titeln, und am Ende den höchsten, saugt das blasse Und begriffslos die Bedeutung in sich hinein, die als begriffene zerstäubte. In Romeo und Julia ist das Und das Ganze, dessen Moment es ist. In ›Sittlichkeit und Kriminalität‹ von Kraus wirkt das Und als verschluckte Pointe. Arglistig banal werden die beiden antithetischen Worte miteinander verkoppelt, als handelte es sich einfach um ihre Differenz. Durch die Beziehung auf den Inhalt des Buches jedoch schlägt ein jedes ins Gegenteil um. Der Titel Tristan und Isolde aber, gotisch gedruckt, gleicht der wehenden schwarzen Flagge vom Bug eines Segelschiffs.
Das Buch ›Prismen‹ war ursprünglich ›Kulturkritik und Gesellschaft‹ genannt. Suhrkamp hatte das wegen des Und beanstandet, es ist zum Untertitel relegiert worden. Da der ursprüngliche von Anbeginn, mit dem Aufbau des Ganzen, feststand, bereitete es die größte Mühe, einen anderen zu finden. In einem täuschte Lessing sich gewiß, der rhetorischen Frage »Was ist leichter zu ändern als ein Titel?« 2 ›Prismen‹ war ein Kompromiß. Dafür läßt sich anführen, daß das Wort wenigstens in handfestem Sinn das Gemeinsame der Teile richtig charakterisiert. Die meisten der Essays außer dem quasi-einleitenden handeln von bereits vorgeformten geistigen Phänomenen. Nirgends aber bildet, wie es sonst der Essayform wohl gemäß wäre, deren Dechiffrierung die Aufgabe, sondern durch jeden Text, jeden Autor hindurch soll etwas von der Gesellschaft schärfer erkannt werden; die behandelten Werke sind Prismen, durch die man auf Wirkliches hindurchblickt. Trotzdem bin ich mit dem Titel unzufrieden. Denn das, wofür er begrifflich steht, ist nicht abzutrennen von einem Unbegrifflichen, dem geschichtlichen Stellenwert des Wortes Prismen, seinem Verhältnis zur zeitgenössischen Sprache. Allzu willig läßt das Wort von deren Strom sich treiben, wie Zeitschriften, die modernistisch aufgemacht sind, damit man auf dem Markt sie bemerkt. Das Wort ist einverstanden durchs Aparte, das nichts kostet; schon am ersten Tag hört man ihm an, wie rasch es veraltet. Solche Affichen benutzen Leute, die den Jazz für moderne Musik halten. Der Titel ist Denkmal einer Niederlage im permanenten Prozeß zwischen Gebilde und Autor. Ich spreche das aus, hoffend, dem Titel dadurch einen Giftstoff beizumengen, der ihm mumienhafte Dauer verleiht, so daß er dem Buch nicht gar zuviel schadet.
Auch den ›Noten zur Literatur‹ war es nicht an der Wiege gesungen, daß sie das wurden. Ich hatte sie, nach der Überschrift einer Aphorismenfolge, die ich vor der Zeit des Hitler in der Frankfurter Zeitung veröffentlichte, ›Worte ohne Lieder‹ getauft. Mir gefiel das, und ich hing daran; Suhrkamp fand es zu feuilletonistisch und zu billig. Er grübelte und stellte eine Liste zusammen, aus der ich nichts annehmen wollte, bis er verschmitzt als letzten Vorschlag ›Noten zur Literatur‹ anmeldete. Das war unvergleichlich viel besser als mein etwas dümmliches Bonmot. Was mich aber daran entzückte, war, daß Suhrkamp, indem er meine Idee kritisierte, sie festhielt. Die Konstellation von Musik und Wort ist ebenso gerettet wie das leise Altmodische einer Form, deren Glanzperiode der Jugendstil war. Mein Titel zitierte Mendelssohn, der Suhrkampsche, einige Etagen höher, die Goetheschen Noten zum Diwan. An der Kontroverse habe ich gelernt, daß anständige Titel solche sind, in welche die Gedanken einwanderten, um darin unkenntlich zu verschwinden. Mit ›Klangfiguren‹ ging es nicht viel anders. Suhrkamp beanstandete, womit ich an den Anfang der ›Prismen‹ anknüpfen wollte: ›Mit den Ohren gedacht‹. Dazu assoziiere man »mit dem Schwanz gewackelt«. Zu ›Klangfiguren‹ gelangte ich, nach Schönbergs Wort, durch entwickelnde Variation. Sollte ›Mit den Ohren gedacht‹ die sinnliche Wahrnehmung von Kunst als zugleich geistige bestimmen, so sind Klangfiguren Spuren, welche das Sinnliche, die Schallwellen in einem anderen Medium, dem reflektierenden Bewußtsein, hinterlassen. Ist einem einmal ein Titel eingefallen, so läßt er sich auch verbessern; was besser an ihm wird, ist ein Stück eingesickerter Geschichte.
Zwei Titel von Kafkas Romanen, Prozeß und Schloß, stammen, soviel mir bekannt, nicht von ihm; schlecht hätte zu ihm gepaßt, dem wesentlich Fragmentarischen einen Namen zu geben. Dennoch halte ich die Titel, wie die Kafkaschen durchweg, für gut. Brod zufolge waren es die Worte, mit denen er im Gespräch die Werke erwähnte. Titel solchen Typus verschmelzen mit den Werken selber; die Scheu, diese zu überschreiben, wird zum Ferment ihres Namens. Was heute, auf dem Kulturmarkt, als »Arbeitstitel« läuft, ist der Verschleiß dieser genuinen Form. – Bewunderung hege ich für den Titel von Kafkas berühmtestem Prosastück. Er ist nicht das Wort, um das es sich ordnet, Odradek, sondern einem zumindest scheinbar peripheren Motiv abgewonnen. Zur Affinität zwischen Kafka und Lessing stimmt nicht schlecht, daß dieser an Plautus rühmt, er habe »seine ganz eigene Manier in Benennung seiner Stücke« gehabt; »und meistenteil nahm er sie von dem allerunerheblichsten Umstande her« 3 . ›Die Sorge des Hausvaters‹ entspricht streng der schrägen Perspektive, die allein es dem Dichter gestattete, das Ungeheure zu behandeln, das, hätte er ihm ins Angesicht geschaut, seine Prosa mit Stummheit oder Wahnsinn hätte schlagen müssen. Man weiß, daß Klee von Zeit zu Zeit Bildertaufen veranstaltete. Einer solchen könnte der Kafkasche Titel sein Dasein verdanken. Wo die neue Kunst Dinge herstellt, deren Geheimnis daran haftet, daß sie ihren Namen verloren haben, wird die Erfindung des Namens zur Staatsaktion.
Für den Amerika-Roman wäre der Titel ›Der Verschollene‹ den Kafka im Tagebuch benutzte, besser gewesen als der, unter dem das Buch in die Geschichte einging. Schön ist auch dieser: weil das Werk soviel mit Amerika zu tun hat wie die prähistorische Photographie ›Im Hafen von New York‹, die als loses Blatt in meiner Ausgabe des Heizer-Fragments von 1913 liegt. Der Roman spielt in einem verwackelten Amerika, demselben und doch nicht demselben wie das, an dem nach langer, öder Überfahrt das Auge des Emigranten Halt sucht. – Dazu aber paßte nichts besser als ›Der Verschollene‹ Leerstelle eines unauffindbaren Namens. Diesem participium perfecti passivi kam sein Verb abhanden wie dem Andenken der Familie der Ausgewanderte, der gestorben und verdorben ist. Der Ausdruck des Wortes verschollen, weit über seine Bedeutung hinaus, ist der des Romans selber.
Die Forderung von Karl Kraus an den Polemiker, er müsse fähig sein, ein Werk in einem Satz zu vernichten, wäre auf die Titel auszudehnen. Ich kenne solche, die nicht nur die Lektüre dessen ersparen, was sie dem Leser aufschwatzen, ohne ihm nur Zeit zu lassen, die Sache zu erfahren, sondern in denen das Schlechte sich zusammendrängt wie in den guten Titeln das Gute. Dabei braucht man gar nicht in die Unterwelt hinabzusteigen, in der die Wiscottens schmoren oder der Heideschulmeister Uwe Karsten. Mir genügt schon ›Opfergang‹. Das Wort tritt ohne nähere Bestimmung auf wie »Sein« am Anfang der Hegelschen Logik, jenseits aller Syntax, als wäre es jenseits der Welt. Aber der Prozeß seiner Bestimmung findet nicht statt wie bei Hegel, es bleibt absolut. Darum dünstet es jene Atmosphäre aus, die Benjamin als Verfallsform der Aura entzauberte. Weiter suggeriert das Wort Opfergang, durch die Verbindung seiner beiden Bestandstücke, die Vorstellung edler Freiwilligkeit des Opfers. Der Zwang, unter dem ein jegliches steht, wird dadurch vertuscht, daß das Opfer, dem ohnehin nichts anderes übrig bleibt, mit seinem Schicksal sich identifiziert und sich opfert. Indem der Artikel weggelassen wird, erscheint dies Ritual als mehr denn das Unheil, das dem Besonderen widerfährt; vaguement als ein Höheres, der Ordnung des Seins Zugehöriges, ein Existential oder Gott weiß was sonst. Der bloße Titel bejaht das Opfer um des Opfers willen. Die Schale mit der Flamme, die er nachahmt, Buchschmuck aus dem Jugendstil, überredet dazu, das Opfer selbst sei dessen Sinn, auch wenn es gar keinen anderen habe, wie dann Bindings nationalsozialistische Gesinnungsfreunde nicht müde wurden zu beteuern. Die Lüge des Titels ist die der ganzen Sphäre: er macht vergessen, daß Humanität der Stand einer Menschheit wäre, die aus der Konstellation von Schicksal und Opfer sich befreit hat. Der Titel war schon jener Mythos des zwanzigsten Jahrhunderts, den in den Mund zu nehmen die Gepflegten ihre Kultur verhinderte, die sie doch mit demselben Mythos sympathisieren ließ. Wer aber des Gewimmels in einem solchen Titel gewahr wird, der weiß auch, was geschah, als jener George zu einem Titel wie ›Der Stern des Bundes‹ sich herabließ, der von der angebeteten Luft unserer großen Städte geschrieben hatte, solange sein Traum von der Moderne noch dem Babylon glich, nach dem eine Station der Pariser Metro heißt.
Wie fatal es heute um die konkreten Titel steht, lehrt die zeitgenössische amerikanische Literatur, zumal die dramatische, die auf solche Titel geradezu versessen ist. Dort sind sie nicht länger, was sie sein sollten, die blinden Flecken der Sache. Sie haben sich dem Primat der Kommunikation angepaßt, der wie in der Wissenschaft von den geistigen Gebilden so in diesen selbst die Sache zu ersetzen beginnt. Die konkreten Titel werden durch ihre Inkommensurabilität zum Mittel, sich Konsumenten einzuprägen und damit kommensurabel, tauschbar durch Unvertauschbarkeit. Sie schlagen zurück ins Abstrakte, geschützte Warenmarken: Die Katze auf dem heißen Blechdach, Die Stimme der Schildkröte. Vorbild solcher Praxis der anspruchsvollen Literatur ist unten jene Klasse von Schlagern, die als nonsense oder novelty songs rangiert. Ihre Überschriften und Schlagzeilen entziehen sich der begrifflichen Allgemeinheit, jede ein Unikum, Reklame für das Ding, dem der Stempel aufgedrückt ward. Nach der gleichen Vernunft kann man in Hollywood verkaufskräftige Filmtitel patentieren lassen. Diese Übung aber hat beängstigend rückwirkende Kraft. Nachträglich erregt sie den Verdacht, es sei die ästhetische Konkretion in der traditionellen Dichtung, auch wo sie einmal bessere Tage sah, von der Ideologie verschluckt worden. Was aus jenen Titeln grinst, widerfuhr insgeheim all dem, was vertrauensselige Liebe als gegenständliche Fülle und körnig Angeschautes verehrt, und was die Einverstandenen nicht sich nehmen lassen wollen. Es ist gut genug nur noch dazu, vergessen zu machen, daß die erscheinende Welt selber so abstrakt zu werden sich anschickt wie längst das Prinzip, das sie im Innersten zusammenhält. Das dürfte helfen zu erklären, warum Kunst in all ihren Gattungen heute sein muß, worauf die Philister mit dem Schreckensruf »abstrakt« reagieren: um des Fluchs sich zu entschlagen, der unter der Herrschaft des abstrakten Tauschwerts das Konkrete ereilt hat, das ihn verbirgt.
In der Hamburgischen Dramaturgie meint Lessing, mit einem Satz so spezifischen Tons, wie ein Titel ihn haben müßte: »ich möchte doch lieber eine gute Komödie mit einem schlechten Titel« 4 . Er war also doch schon auf die Schwierigkeit gestoßen, die heute offenbar ist. Der Grund aber, den er angibt, lautet: »Wenn man nachfragt, was für Charaktere bereits bearbeitet worden so wird kaum einer zu erdenken sein, nach welchem besonders die Franzosen nicht schon ein Stück genannt hätten. Der ist längst dagewesen, ruft man. Der auch schon! Dieser würde vom Molière, jener vom Destouches entlehnet sein! Entlehnet? Das kömmt aus den schönen Titeln. Was für ein Eigentumsrecht erhält ein Dichter auf einen gewissen Charakter dadurch, daß er seinen Titel davon hergenommen?« 5 Es ist also der Zwang zur Wiederholung, welcher es verwehrt, gute Titel auszudenken, wofern sie nicht reine Namen sind. Lessing, Kind seines Jahrhunderts, hat das daraus abgeleitet, »daß die Sprache für die unendlichen Varietäten des menschlichen Gemüts nicht auch unendliche Benennungen hat« 6 . Aber was er entdeckte, ist in Wahrheit bedingt von der literarischen Warenproduktion. Wie die gesamte Ontologie der Kulturindustrie auf das frühe achtzehnte Jahrhundert zurückdatiert, so auch die Gepflogenheit, Titel zu wiederholen; die Neigung, an einem vorausgehenden parasitär sich festzusaugen, die schließlich als Krankheit alles Nennen überzieht. Wie heutzutage ein jeder Film, der viel Geld einträgt, ein Rudel anderer hinter sich herschleift, die davon noch profitieren möchten, so ergeht es auch den Titeln; was hat nicht alles die Reminiszenz an ›Endstation Sehnsucht‹ ausgebeutet, wieviele Philosophen haben nicht an ›Sein und Zeit‹ sich angehängt. Darin reflektiert sich, im Geist, jener Zwang der materiellen Produktion, daß Neuerungen, die irgendwo eingeführt wurden, so oder so über das Ganze sich ausbreiten, wofern sie gestatten, die Ware billiger herzustellen. Sobald dieser Zwang aber auf die Namen übergreift, vernichtet er sie unaufhaltsam. Wiederholung bringt den faulen Zauber der Konkretion zutage.
In einer Stadt des äußersten Süddeutschland wollte ich, als Geschenk, ›A l'ombre des jeunes filles en fleurs‹ kaufen. Nach der neuen deutschen Übersetzung heißt das ›Im Schatten junger Mädchenblüte‹. Ich bedaure, das haben wir leider nicht vorrätig, sagte die junge Verkäuferin, aber wenn Ihnen mit ›Mädchen im Mai‹ gedient ist –
Abergläubisch hüte ich mich, den Titel über eine Arbeit zu setzen, ehe diese wenigstens im Entwurf fertig ist; auch wenn der Titel von vornherein feststeht. Die Verwandtschaft dieses Aberglaubens mit dem trivialen, man solle nichts berufen, aus Angst vorm neidischen Schicksal nichts als vollendet hinstellen, bis es soweit ist, will ich nicht verleugnen. Aber kaum erschöpft meine Vorsicht sich darin. Der zu früh geschriebene Titel wirft sich dem Abschluß in den Weg, als hätte er die Kraft dazu absorbiert; der verschwiegene wird zum Motor zu vollbringen, was er verheißt. Die Belohnung des Autors ist der Augenblick, da er ihn schreiben darf. Titel über ungeschriebene Arbeiten sind vom Schlage des Ausdrucks »Sämtliche Werke«, nach dem vor hundertundfünfzig Jahren der Ehrgeiz eines Schriftstellers gieren mochte, während ein jeder heute ihn fürchtet, als würde er dadurch zum Theodor Körner, Brecht allenfalls ausgenommen, der ja auch die Rede vom Klassiker pervers goutierte. Oder zögert die Hand, den Titel zu schreiben, weil es überhaupt verboten ist; weil ihn erst die Geschichte schreiben könnte wie den, unter welchem Dantes Gedicht kanonisiert ward? Die Alten, die den Neid der Götter fürchteten, hielten die Titel, die sie ihren Stücken selbst beilegten, nach Lessings Bemerkung für »ganz unerheblich« 7 . Der Titel ist der Ruhm des Werkes; daß die Werke ihn sich selber verleihen müssen, ist ihr ohnmächtigvermessenes Aufbegehren gegen das, was allem Ruhm widerfuhr und ihn wohl von je entstellte. Das haucht dem Lessingschen Satz sein geheimes und schwermütiges Pathos ein: »Der Titel ist eine wahre Kleinigkeit.« 8 Fußnoten
1 Lessings Werke, Bd. 4, Leipzig und Wien o.J., S. 435f.
2 a.a.O., S. 417.
3 a.a.O., S. 380.
4 a.a.O., S. 437.
5 a.a.O.
6 a.a.O.
7 a.a.O., S. 416.
8 a.a.O.
Zu einem Porträt Thomas Manns Hermann Hesse zum 2. Juli 1962 in herzlicher Verehrung
Der Anlaß einer dokumentarischen Ausstellung, in der nur sehr mittelbar, und nur dem, der ihn bereits kennt, etwas vom Geist des Gefeierten erscheinen kann, rechtfertigt vielleicht, daß ich ein paar private Worte über ihn sage und nicht von dem Werk rede, dessen Instrument sein Leben war. Aber ich möchte nicht, wie manche wohl erwarten, Erinnerungen an Thomas Mann vortragen. Selbst wenn ich die Scheu überwinde, aus dem Glück des persönlichen Umgangs ein Eigentum zu machen und, sei's auch unfreiwillig, ein Quentchen seines Prestiges dem eigenen zuzuleiten, wäre es sicherlich noch zu früh, solche Erinnerungen zu formulieren. Ich beschränke mich also darauf, aus meiner Erfahrung einigen Vorurteilen entgegenzuarbeiten, die hartnäckig die Person des Dichters belästigen. Sie sind nicht gleichgültig gegenüber der Gestalt des Werkes, auf das sie automatisch fast sich übertragen: sie verdunkeln es, indem sie helfen, es auf Formeln abzuziehen. Ich nenne die verbreiteteste, die vom Konflikt des Bürgers mit dem Künstler in Thomas Mann, der offenkundigen Erbschaft der Nietzscheschen Antithese von Leben und Geist. Mann hat, ausdrücklich und unausdrücklich, die eigene Existenz dazu benutzt, jenen Gegensatz zu demonstrieren. Viel von dem, was an seinem Werk Intention ist, von Tonio Kröger, Tristan und dem Tod in Venedig bis zu dem Musiker Leverkühn, der nicht lieben darf, um sein Werk zu vollbringen, richtet sich nach jenem Modell. Damit aber auch nach einem Cliché von der Privatperson, die zu verstehen gibt, daß sie so es wollte und selber dem glich, was sie an Idee und Konflikt in den Romanen und Erzählungen austrug. So streng auch das oeuvre Thomas Manns, durch seine Sprachgestalt, des Ursprungs im Individuum sich entäußerte, beamtete und nicht beamtete Oberlehrer tun sich daran gütlich, weil es sie ermuntert, als Gehalt herauszuholen, was zuvor die Person hineinsteckte. Dies Verfahren ist zwar wenig produktiv, aber keiner hat dabei groß zu denken, und es versetzt noch den Stumpfsinn auf philologisch sicheren Boden, denn, wie es im Figaro heißt, der ist der Vater, er sagt es ja selbst. Statt dessen jedoch, meine ich, beginnt der Gehalt eines Kunstwerks genau dort, wo die Intention des Autors aufhört; sie erlischt im Gehalt. Die Beschreibung der kalten Funkenschwärme der Münchener Trambahn, oder des Stotterns von Kretzschmar – »so etwas können wir«, wehrte einmal der Dichter ein Kompliment ab, das ich ihm deswegen machte – dürfte alle offizielle Künstlermetaphysik seiner Texte, alle Verneinung des Willens zum Leben darin, selbst den in fetten Lettern gedruckten Satz aus dem Schneekapitel des Zauberbergs aufwiegen. Das Verständnis Thomas Manns: die wahre Entfaltung seines Werkes wird erst anfangen, sobald man um das sich kümmert, was nicht im Baedeker steht. Nicht daß ich wähnte, verhindern zu können, daß unermüdlich weiter Dissertationen über den Einfluß von Schopenhauer und Nietzsche, über die Rolle der Musik, oder über das den Fakultäten unterbreitet werden, was man wohl im Seminar als Problem des Todes behandelt. Aber ich möchte doch einiges Unbehagen an all dem erregen. Besser, dreimal das Gedichtete sich anzuschauen als immer mal wieder das Symbolisierte. Dazu soll der Hinweis helfen, wie sehr der Dichter abwich von dem Selbstporträt, das seine Prosa suggeriert. Denn daß sie es suggeriert, daran ist kein Zweifel. Um so begründeter aber der, ob er auch so war; ob nicht gerade diese Suggestion einer Strategie entsprang, die er an der Goetheschen eingeübt haben mochte, übers eigene Nachleben zu gebieten. Nur kam es ihm vermutlich weniger aufs Nachleben an als darauf, wie er den Zeitgenossen erschien. Der Autor des Joseph war nicht so mythisch, hatte auch zuviel von skeptischer Humanität, als daß er der Zukunft seine imago hätte aufzwingen wollen: gelassen, stolz zugleich und unprätentiös, hätte er sich ihr anheimgegeben; und von der Weltgeschichte als Weltgericht wäre der nicht so überzeugt gewesen, der im ›Erwählten‹ über die Haupt- und Nebenfiguren historischer Staatsaktionen Worte fand, wie sie nicht schlecht zwischen zwei Buchdeckeln von Anatole France stünden. Wohl aber hat er sich als public figure, also vor den Zeitgenossen, verstellt, und erst einmal wäre die Verstellung zu begreifen. Die Mannsche Ironie diente sicherlich nicht zuletzt dazu, Verstellung zugleich zu praktizieren und durchs sprachliche Einbekenntnis wiederum aufzuheben. Kaum waren ihre Motive bloß privat, und an einem Menschen, an dem man sehr hängt, mag man nicht seinen psychologischen Scharfsinn billig wetzen. Gewiß jedoch verlohnte es sich, einmal die Masken des Genius in der neuen Literatur zu beschreiben und dem nachzugehen, warum die Autoren sie anlegten. Dabei stieße man wohl darauf, daß die Haltung des Genialischen, die gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts spontan aufkam, rasch gesellschaftlich honoriert und damit allmählich zu einem Muster wurde, dessen Stereotypie die Spontaneität Lügen strafte, die es unterstreichen sollte. Im hohen neunzehnten Jahrhundert trug man das Genie als Kostüm. Rembrandtkopf, Samt und Barett, kurz der Archetyp des Künstlers verwandelten sich in ein verinnerlichtes Stück von dessen Mobiliar. Das wird Thomas Mann an Wagner nicht übersehen haben, den er liebte mit empfindlicher Liebe. Scham über die Selbstsetzung des Künstlers, des Genies, als das er sich drapiert, nötigt den Künstler, der eines Rests von Draperie nie ganz ledig wird, so gut es geht sich zu verstecken. Weil der Genius zur Maske geworden ist, muß der Genius sich maskieren. Er darf um nichts in der Welt als solcher auftrumpfen und tun, als wäre er, der Meister, jenes metaphysischen Sinnes mächtig, der in der Substanz der Zeit nicht gegenwärtig ist. Deshalb hat Marcel Proust, gegen den Thomas Mann eher sich sträubte, den Operettendandy mit Zylinder und Spazierstock gespielt und Kafka den mittleren Versicherungsangestellten, dem nichts so wichtig ist wie das Wohlwollen des Vorgesetzten. Dieser Impuls lebte auch in Thomas Mann: als einer zum Unauffälligen. Er, wie sein Bruder Heinrich, war Schüler der großen französischen Desillusionsromane; das Geheimnis seiner Verstellung war Sachlichkeit. Masken sind auswechselbar, und der Vielfältige hatte mehr als eine. Die bekannteste ist die des Hanseaten, des kühlen und distanzierten Lübecker Senatorensohns. Ist schon die Vorstellung vom Bürger der drei freien Reichsstädte selber abermals ein Cliché, dem wenige dort Geborene sich fügen dürften, dann hat Thomas Mann zwar mit Einzelschilderungen aus den Buddenbrooks ihm willfahrt und ist bei öffentlichen Anlässen gesetzt aufgetreten. Die Privatperson jedoch habe ich keine Sekunde lang steif gesehen, es sei denn, man verwechselte seine Begabung zum druckfertigen Sprechen und seine Freude daran, die er mit Benjamin teilte, mit würdigem Gehabe. Nach deutscher Sitte, im Bann des Aberglaubens an die pure Unmittelbarkeit, hat man seinen Sinn für Formen, der mit dem künstlerischen Wesen eins ist, als Kälte und mangelnde Ergriffenheit ihm angekreidet. Im Verhalten war er eher lässig, ohne alle Würde der Respektsperson, durchaus das, was er war und was er in seiner Reife verteidigte, ein Literat, beweglich, Eindrücken aufgeschlossen und begierig danach, gesprächig und gesellig. Zur Exklusivität neigte er weit weniger, als bei dem Berühmten und Umdrängten, der seine Arbeitskraft zu verteidigen hatte, zu erwarten gewesen wäre. Er begnügte sich mit einer Zeitordnung, die dem Primat des Schreibens unterstand und lange Nachmittagsruhe gewährte, war aber sonst weder schwer zu haben noch zimperlich im Umgang. Für gesellschaftliche Hierarchie, für Nuancen des Mondänen fehlte ihm jeder Sinn. Nicht bloß war er, sei's als Arrivierter, sei's aus frühkindlicher Sicherheit, darüber erhaben, sondern der Interessenrichtung nach indifferent dagegen, als wäre die Erfahrung von all dem gar nicht in ihn eingedrungen. Ihm und Frau Katja bereiteten etwa die Kapriolen Rudolf Borchardts, welche dieser für weltmännisch hielt, selbst die aristokratischen Neigungen Hofmannsthals ungetrübtes Vergnügen. Saß etwas tief bei ihm, dann das Bewußtsein davon, daß die Rangordnung des Geistes, falls so etwas existiert, unvereinbar ist mit der des äußeren Lebens. Nicht einmal mit Schriftstellern indessen nahm er es gar zu genau. In der Emigration jedenfalls duldete er solche um sich, die ihm kaum mehr boten als ihren guten Willen, auch Kleinintellektuelle, ohne daß diese je hätten fühlen müssen, daß sie es waren. Der Grund solcher Gleichgültigkeit unterschied ihn sehr von anderen zeitgenössischen Romanciers. Er war überhaupt kein Erzähler von breiter bürgerlicher Welterfahrung, sondern zurückgezogen auf den eigenen Umkreis. Sehr deutsch schöpfte er die gegenständliche Fülle aus derselben Phantasie wie die Namen seiner Figuren; wenig kümmerte ihn, was man angelsächsisch the ways of the world nennt. Damit mag zusammenhängen, daß von einem gewissen Zeitpunkt an – die Zäsur ist der Tod in Venedig – Ideen und ihre Schicksale in seinen Romanen mit zweiter Sinnlichkeit den Platz empirischer Menschen okkupieren; das hat dann wiederum der Clichébildung Vorschub geleistet. Wie wenig eine solche Komplexion der des Handelsherrn gleicht, leuchtet ein. Präsentiert er trotzdem vielen sich so, als wäre der Bürger zumindest die eine Seele in seiner Brust gewesen, so stellte er wohl ein Element seines Wesens, das seinem Willen widerstand, in den Dienst der Illusion, die er koboldhaft zu erwecken trachtete. Das war der Geist der Schwere, verschwistert der Melancholie, ein Brütendes, sich Versenkendes. Er hatte keine rechte Lust, im Leben so ganz mitzutun. Entscheidungen waren ihm wenig sympathisch, der Praxis mißtraute er nicht nur als Politik sondern als jeglichem Engagement; nichts an ihm paßte zu dem, was kernige Banausen sich unter einem existentiellen Menschen vorstellen. Bei aller Stärke seines Ichs hatte dessen Identität nicht das letzte Wort: nicht umsonst schrieb er zwei voneinander höchst abweichende Handschriften, die freilich dann doch wieder eine waren. Der Artistengestus des sich draußen Haltens, die Schonung, die er sich als seinem Instrument angedeihen ließ, ist eilfertig der obligaten Reserviertheit des Großkaufmanns zugeschlagen worden. Manchmal mochte ihn, in Gesellschaften, die ihn keineswegs langweilten, der Geist der Schwere bis zur Schicht wachen Schlafens geleiten. Dann konnte er glasig wirken; er selbst hat einmal, in der ›Königlichen Hoheit‹, von den Absencen einer Figur gesprochen. Aber gerade solche Viertelstunden bereiteten vor, daß er die Maske wegwarf. Hätte ich zu sagen, was mir an ihm das Charakteristischeste dünkte, ich müßte wohl den Gestus des jäh überraschenden Auffahrens zitieren, der dann von ihm zu gewärtigen war. Seine Augen waren blau oder graublau, in den Momenten aber, in denen er seiner selbst innewurde, blitzten sie schwarz und brasilianisch, als hätte in der Versunkenheit vorher geschwelt, was darauf wartete, zu entflammen; als hätte in der Schwere ein Stoffliches sich gesammelt, das er nun ergriff, um daran seine Kraft zu messen. Unbürgerlich war der Rhythmus seines Lebensgefühls: nicht Kontinuität sondern der Wechsel von Extremen, von Starre und Illumination. Freunde von mittlerer Wärme, von alter oder neuer Geborgenheit mochte das irritieren. Denn in diesem Rhythmus, dessen einer Zustand den anderen verneinte, kam die Doppelbödigkeit seines Naturells zutage. Kaum kann ich mich auf eine Äußerung von ihm besinnen, der dies Doppelbödige nicht gesellt gewesen wäre. Alles, was er sagte, klang, wie wenn es einen geheimen Hintersinn mit sich führte, den zu erraten er dem anderen mit einiger Teufelei überließ, weit über den Habitus von Ironie hinaus. Daß einen Mann dieser Art der Mythos der Eitelkeit verfolgte, ist zwar für seine Mitwelt beschämend, aber begreiflich: die Reaktion solcher, die nichts sein wollen, als was sie nun einmal sind. Man mag mir glauben, daß er so uneitel gewesen ist, wie er der Würde entbehrte. Vielleicht kann man es am einfachsten so ausdrücken, daß er im Umgang nie daran dachte, Thomas Mann zu sein; was den Verkehr mit Zelebritäten erschwert, ist meist ja nichts anderes, als daß sie ihre vergegenständlichte öffentliche Geltung auf sich selbst, ihr unmittelbares Dasein zurückprojizieren. Bei ihm aber überwog das Interesse an der Sache so sehr die Person, daß es diese gänzlich freiließ. Jene Projektion hat nicht er vollzogen, sondern die öffentliche Meinung, die falsch vom Werk auf den Autor schloß. Wahrhaft falsch. Denn was sie am Werk als Spur von Eitelkeit lesen, ist das untilgbare Mal der Anstrengung zu seiner Vollkommenheit. Zu verteidigen ist er wider die abscheuliche deutsche Bereitschaft, die Passion für das Gebilde und seine integre Gestalt dem Geltungsdrang gleichzusetzen; wider das Ethos der Kunstfremdheit, das gegen die Zumutung einer stimmig durchgebildeten Sache als unmenschliches l'art pour l'art aufmuckt. Weil die Sache die eines Autors ist, soll es dessen Eitelkeit sein, wenn er sie möglichst gut machen will; nur anachronistisch biedere Handwerker mit ledernen Schürzen und großer Weltchronik sind vor solchem Verdacht gefeit. Als ob das Werk, das gelingt, noch das seines Autors wäre; als ob nicht sein Gelingen darin bestünde, daß es von ihm sich löst, daß durch ihn hindurch ein Objektives sich realisiert, daß er darin verschwindet. Da ich nun einmal Thomas Mann bei der Arbeit kannte, darf ich bezeugen, daß nicht die leiseste narzißtische Regung zwischen ihn und seine Sache sich drängte. Mit keinem hätte die Arbeit einfacher, freier von allen Komplikationen und Konflikten sein können; es bedurfte keiner Vorsicht, keiner Taktik, keines tastenden Rituals. Niemals hat der Nobelpreisträger sei's auch noch so diskret auf seinen Ruhm gepocht oder mich die Differenz des öffentlichen Ansehens fühlen lassen. Wahrscheinlich war es nicht einmal Takt oder humane Rücksicht; es kam gar nicht erst zum Gedanken an die Privatpersonen. Die Fiktion von Adrian Leverkühns Musik, die Aufgabe, sie zu beschreiben, als wäre sie wirklich vorhanden, gewährte dem, was jemand einmal die psychologische Pest nannte, keinerlei Nahrung. Dabei hätte seine Eitelkeit Anlaß und Gelegenheit genug gehabt, sich zu zeigen, wenn sie existiert hätte. Der Schriftsteller müßte noch geboren werden, der nicht Formulierungen, an denen er weiß Gott wie lange geschliffen hat, libidinös besetzte und Angriffe darauf primär als gegen ihn gerichtet abwehrte. Ich aber war selber viel zu vertiert in der Sache, hatte mir Leverkühns Kompositionen viel zu genau ausgedacht, als daß ich in der Diskussion viel Rücksicht genommen hätte. Nachdem es mir gelungen war, dem Dichter abzuhandeln, daß wenigstens Leverkühn, wenn er schon wahnsinnig wird, das Faust-Oratorium zu Ende schreiben darf – bei Mann war es ursprünglich als Fragment geplant –, stellte sich die Frage nach dem Schluß, dem instrumentalen Nachspiel, in das unmerklich der Chorsatz übergeht. Wir hatten sie lange erwogen; eines schönen Nachmittags las mir der Dichter den Text vor. Ich rebellierte wohl ein wenig ungebührlich. Gegenüber der Gesamtanlage von Doktor Fausti Weheklag nicht nur sondern des ganzen Romans fand ich die höchst belasteten Seiten zu positiv, zu ungebrochen theologisch. Ihnen schien abzugehen, was in der entscheidenden Passage gefordert war, die Gewalt bestimmter Negation als der einzig erlaubten Chiffre des Anderen. Thomas Mann war nicht verstimmt, aber doch etwas traurig, und ich hatte Reue. Am übernächsten Tag rief Frau Katja an und bat uns zum Nachtmahl. Danach schleppte der Dichter uns in seine Höhle und las, offensichtlich gespannt, den neuen Schluß vor, den er unterdessen geschrieben hatte. Wir konnten unsere Ergriffenheit nicht verbergen, und ich glaube, sie hat ihn gefreut. Den Affekten der Freude und des Schmerzes war er fast schutzlos ausgeliefert, ungepanzert, wie nie ein Eitler es wäre. Allergisch war zumal sein Verhältnis zu Deutschland. Er konnte es sich über alles Maß zu Herzen nehmen, wenn einer ihn einen Nihilisten schalt; seine Sensibilität erstreckte sich bis ins Moralische; sein Gewissen in geistigen Dingen reagierte so fein, daß noch der plumpeste und törichteste Angriff ihn zu erschüttern vermochte. Die Rede von Thomas Manns Eitelkeit mißdeutet gänzlich das Phänomen, auf das sie sich stürzt. Unnuancierte Wahrnehmung verbindet sie mit unnuanciertem sprachlichen Ausdruck. So uneitel er war, so kokett war er dafür. Das Tabu, das über dieser Eigenschaft bei Männern liegt, hat wohl verhindert, sie und ihr Hinreißendes an ihm zu erkennen. Es war, als hätte die Sehnsucht nach Applaus, die selbst vom vergeistigten Kunstwerk nicht ganz weggedacht werden kann, die Person affiziert, die so sehr zum Werk sich entäußert hatte, daß sie mit sich spielte wie der Prosateur mit seinen Sätzen. Etwas in der Anmut der Form auch des spirituellen Kunstwerks ist der verwandt, mit der der Schauspieler sich verbeugt. Er wollte reizen und gefallen. Es ergötzte ihn, gewisse zeitgenössische Komponisten gemäßigten Genres, von denen er wußte, daß ich sie nicht eben hoch schätzte, und von denen auch er im Ernst kaum viel hielt, mit Mordent zu bewundern, die Irrationalität seines eigenen Verhaltens zu pointieren; auch die offiziellen Dirigenten Toscanini und Walter, die schwerlich Leverkühn aufgeführt hätten, wurden da herangezogen. Selten tat er des Josephromans Erwähnung, ohne hinzuzufügen: »den Sie ja, wie ich weiß, nicht gelesen haben, Herr Adorno«. Welche Frau hätte noch, unentstellt von Ziererei oder Nüchternheit, die Koketterie, die der bald Siebzigjährige, höchst Disziplinierte sich hinüberrettete, wenn er vom Schreibtisch aufstand. In seinem Arbeitszimmer hing eine entzückende Jugendphotographie seiner Tochter Erika, die ihm physiognomisch ähnelt, im Pierrotkostüm. Im Nachbild der Erinnerung gewinnt sein eigenes Gesicht etwas Pierrothaftes. Seine Koketterie war wohl nichts anderes als ein Stück unverstümmelten und unbezwinglichen mimetischen Vermögens. Aber man darf ihn danach beileibe nicht als Pierrot Lunaire, als Figur aus dem fin de siècle sich ausmalen. Das Cliché des Dekadenten ist komplementär zu dem des Bürgers, so wie es ja, wie bekannt, Bohème nur so lange gab wie solides Bürgertum. Vom Jugendstil hatte er so wenig wie vom Ehrengreis; der Tristan der Novelle ist komisch. »Laß den Tag dem Tode weichen« war ihm kein Imperativ. Nach dem Tod noch griff sein unbändiger Spieltrieb, der von nichts sich einschüchtern ließ. In dem letzten Brief, den ich von ihm erhielt, in Sils-Maria, wenige Tage ehe er starb, hat er wie mit seinem Leiden mit dem Tod selbst, über dessen Möglichkeit er sich kaum täuschte, in Rastellischer Freiheit jongliert. Wenn seine Schriften ihre Mitte im Tod zu haben scheinen, so ist daran kaum die Todessehnsucht schuld, kaum auch nur besondere Affinität zum Verfall, sondern insgeheim List und Aberglaube: das stets Angerufene und Beredete eben dadurch fortzuhalten und zu bannen. Dem Tod, dem blinden Naturzusammenhang hat sein Ingenium widerstanden wie sein Körper. Die Manen des Dichters mögen es mir verzeihen, aber er war kerngesund. Ich weiß nicht, ob er in jungen Jahren jemals krank war, aber nur eine eiserne Physis konnte die Operation überdauern, deren euphemistische Chronik der Roman eines Romans enthält. Noch die Arteriosklerose, der er erlag, ließ seinen Geist unberührt, als hätte sie keine Macht über ihn. Was sein Werk veranlaßte, die Komplizität mit dem Tod zu betonen, die man ihm gar zu gern geglaubt hat, war am Ende wohl etwas von der Ahnung der Schuld darin, daß man überhaupt ist, gleichsam ein Anderes, Mögliches um die eigene Wirklichkeit bringt, indem man seinen Platz einnimmt; er brauchte nicht erst Schopenhauer, um das zu erfahren. Wollte er den Tod überlisten, so hielt er zugleich Kompanie mit ihm aus dem Gefühl, daß es keine Versöhnung des Lebendigen gibt als Ergebung: nicht Resignation. In der Welt des selbstherrlichen und sich in sich selbst befestigenden Menschen wäre das Bessere allein, die Klammer der Identität zu lockern und nicht sich zu verhärten. Was man Thomas Mann als Dekadenz vorhält, war ihr Gegenteil, die Kraft der Natur zum Eingedenken ihrer selbst als hinfälliger. Nichts anderes aber heißt Humanität. Bibliographische Grillen
Für Rudolf Hirsch
Beim Besuch einer Buchmesse ergriff mich eine sonderbare Beklemmung. Als ich suchte zu verstehen, was sie mir anmelden wollte, ward ich dessen inne, daß die Bücher nicht mehr aussehen wie Bücher. Die Anpassung an das, was man zu Recht oder Unrecht für die Bedürfnisse der Konsumenten hält, hat ihre Erscheinung verändert. Bucheinbände sind, international, zur Reklame für das Buch geworden. Jene Würde des in sich Gehaltenen, Dauernden, Hermetischen, das den Leser in sich hineinnimmt, gleichsam über ihm den Deckel schließt wie die Buchdeckel über dem Text – das ist als unzeitgemäß beseitigt. Das Buch macht sich an den Leser heran; es tritt nicht länger auf als ein für sich Seiendes, sondern als ein für anderes, und eben darum fühlt sich der Leser ums Beste gebracht. Selbstverständlich gibt es, bei literarisch strengen Verlagen, noch Ausnahmen; es fehlt auch nicht an solchen, denen es selber unbehaglich ist, und die das gleiche Buch in doppelter Ausstattung herausbringen, einer stolz unscheinbaren und einer, die mit Männchen und Bildchen den Leser anspringt. Deren bedarf es nicht einmal stets. Manchmal genügt Übertreibung der Formate, auftrumpfend wie disproportional breite Autos, oder die Plakatwirkung allzu intensiver und auffälliger Farben, oder was auch immer; ein Unwägbares, dem Begriff sich Entziehendes, eine Gestaltqualität, durch welche die Bücher, indem sie sich als up to date, als Dienst am Kunden empfehlen, ihr Büchtertum wie etwas Rückständiges und Altmodisches abzuschütteln suchen. Keineswegs muß kraß dem Reklame-Effekt nachgejagt oder der Geschmack verletzt werden; der Ausdruck des Konsumguts, gleichgültig, woran er nun haftet, setzt das Buch in einen für solche, die mit der Buchtechnik nicht genau vertraut sind, schwer zu benennenden, aber eben um seiner Tiefe willen um so enervierenderen Widerspruch zur Form des Buches als einer materiellen und geistigen zugleich. Mitunter hat die Liquidation des Buches sogar das ästhetische Recht auf ihrer Seite, als Empfindlichkeit gegen Ornamente, Allegorien, heruntergekommenen Zierat aus dem neunzehnten Jahrhundert. All das muß weg, gewiß, aber zuweilen will es doch bedünken, als hätten Musikalien, welche die Engel, Musen und Lyren ausradierten, deren Linien einst auf den Titeln der Edition Peters oder der Universal Edition prangten, damit auch etwas von dem Glück getilgt, das dieser Kitsch einmal versprach: er verklärte sich, wenn die Musik kein Kitsch war, der die Lyra präludierte. Insgesamt drängt sich auf, daß die Bücher sich dessen schämen, daß sie überhaupt noch welche sind und nicht Trickfilme oder von Neonlicht beschienene Schaufenster; daß sie die Spuren handwerklicher Produktion auslöschen wollen, um nur ja nicht anachronistisch auszusehen, sondern mit einer Zeit mitzurennen, von der sie insgeheim befürchten, daß sie für sie selber keine Zeit mehr hat.
Das schädigt die Bücher auch als Geistiges. Ihre Form meint Absonderung, Konzentration, Kontinuität; anthropologische Eigenschaften, die absterben. Die Komposition eines Buches als Band ist unvereinbar mit seiner Verwandlung in momentan ausgestellte Reizwerte. Indem das Buch, durch seine Erscheinung, die letzte Erinnerung an die Idee des Textes abwirft, in dem Wahrheit sich darstellt, und sich dem Primat ephemerer Reaktionsweisen beugt, wendet solche Erscheinung sich gegen das Wesen, das es vor jeder inhaltlichen Bestimmung anmeldet. Durch streamlining werden die neuesten Bücher als bereits Vergangenes verdächtig. Sie trauen sich selber nicht mehr, sind sich selber nicht gut, kein Segen kann daran sein. Wer noch welche schreibt, den erfaßt, an ganz unerwarteter Stelle, ein Schrecken, der ihm sonst freilich aus der kritischen Selbstreflexion nur allzu vertraut ist, der vor der Vergeblichkeit seines Tuns. Ihm schwankt der Boden unter den Fußen, während er noch so sich verhält, als wäre ihm gegeben, wo er steht oder sitzt. Die Autonomie des Gebildes, an die der Schriftsteller all seine Energie wenden muß, wird von der physischen Gestalt des Gebildes desavouiert. Hat das Buch nicht mehr die Courage zu seiner eigenen Form, dann ist auch in ihm selbst die Kraft angegriffen, die jene Form zu rechtfertigen vermöchte.
Was es mit der auswendigen Form von Gedrucktem als einer eigenen Macht für eine Bewandtnis hat, dafür ist ein Indiz, daß Autoren größter Erfahrung wie Balzac und Karl Kraus sich gedrängt fühlten, in den Fahnen, bis zur Umbruchskorrektur, eingreifend zu ändern, wohl gar das bereits Gesetzte ganz umzuschreiben. Schuld daran ist weder Flüchtigkeit bei der vorhergehenden Niederschrift noch kleinlicher Perfektionismus. Sondern erst in den gedruckten Lettern nehmen die Texte, wirklich oder zum Schein, jene Objektivität an, in der sie von ihren Autoren endgültig sich ablösen, und das wiederum erlaubt diesen, sie mit fremden Augen anzusehen und Mängel aufzufinden, die sich ihnen verbargen, solange sie noch in ihrer Sache waren und sich als darüber Verfügende empfanden, anstatt zu erkennen, wie sehr die Qualität eines Textes gerade daran hervortritt, daß er über den Autor verfügt. So etwa sind Proportionen zwischen den Längen einzelner Stücke, einer Vorrede zu dem, was auf sie folgt, nicht früher als am Gesetzten recht kontrollierbar; die Schreibmaschinenmanuskripte, die mehr Seiten konsumieren, betrügen den Autor, indem sie ihm als weit voneinander entfernt vorgaukeln, was so dicht zusammenwohnt, daß es sich kraß wiederholt; sie tendieren überhaupt dazu, Maßverhältnisse zugunsten der Bequemlichkeit des Autors zu verschieben. Einem, welcher der Selbstbesinnung fähig ist, wird der Druck zur Kritik an der Schrift: bahnt einen Weg vom Auswendigen ins Innere. Verlegern wäre darum Konzilianz gegenüber Autorkorrekturen anzuraten.
Häufig habe ich beobachtet, daß wer eine Sache in einer Zeitschrift oder gar im Maschinenmanuskript schon gelesen hat, sie geringschätzt, wenn sie ihm wiederbegegnet im Buch. »Das kenn' ich ja schon« – was kann es da schon wert sein. Leise Selbstverachtung wird aufs Gelesene projiziert, der Autor zum Geiz mit seinen Produkten erzogen. Jene Reaktionsweise ist aber die Kehrseite der Autorität des Gedruckten. Wer dazu neigt, Gedrucktes zunächst für ein Ansichseiendes, objektiv Wahres zu halten – und ohne diese Illusion formierte sich kaum der Ernst literarischen Gebilden gegenüber, der die Voraussetzung von Kritik und damit ihres Nachlebens ist –, der rächt sich für den Zwang, den der Druck als solcher ausübt, indem er aggressiv wird, sobald er das Prekäre jener Objektivität durchschaut und bemerkt, daß ihr die Eierschalen des Produktionsprozesses oder der privaten Kommunikation anhaften. Diese Ambivalenz reicht hinein bis in die Gereiztheit jener Kritiker, die einem Autor vorrechnen, er wiederhole sich, wofern er etwas, was er in ein Buch aufnahm und was womöglich von Anbeginn dafür konzipiert war, vorher schon, weniger verbindlich, veröffentlichte. Autoren, die sich vor Wiederholungen idiosynkratisch hüten, scheinen solche Rancune besonders herauszufordern.
Die Veränderung der Buchgestalt ist kein Fassadenprozeß, der etwa dadurch aufzuhalten wäre, daß die Bücher unbeirrt sich auf ihr Wesen besinnen und nach einer Form haschen, die diesem entspräche. Versuche gar, der auswendigen Entwicklung von innen her standzuhalten durch Auflockerung des literarischen Gefüges, haben etwas vom hilflosen Bestreben, sich anzubiedern, ohne sich etwas zu vergeben. Für die Formen, die solcher Auflockerung zum Modell dienen könnten, wie das Flugblatt und das Manifest, fehlen heute die objektiven Voraussetzungen. Wer sie mimt, plustert nur als geheimer Machtanbeter die eigene Ohnmacht auf. Nicht bloß sind die Verleger unwiderleglich, wenn sie allenfalls renitente Autoren, die ja auch leben wollen, darauf aufmerksam machen, daß ihre Bücher auf dem Markt um so geringere Chancen haben, je weniger sie jenem Zug sich einfügen. Sondern die Rettungsversuche sind durchschaubar als das, was sie schon in den Theorien von Ruskin und Morris waren, die gegen die Verschandelung der Welt durch den Industrialismus sich wehrten, indem sie Massenproduziertes so präsentieren wollten, als wäre es Handwerk. Bücher, die sich weigern, nach den Regeln der Massenkommunikation mitzuspielen, trifft der Fluch des Kunstgewerbes. Was geschieht, beängstigt wegen seiner unausweichlichen Logik; tausend Argumente können dem Widerstrebenden beweisen, daß es so und nicht anders sein müsse und daß er hoffnungslos reaktionär sei. Ist es schon die Idee des Buches selber? Dennoch ist keine andere sprachliche Darstellung des Geistes sichtbar, die möglich wäre ohne Verrat an der Wahrheit.
Gegen die Haltung des Sammlers mag eingewendet werden, ihm sei Bücher zu besitzen wichtiger als ihre Lektüre. Soviel indessen bekundet er, daß die Bücher etwas sagen, ohne daß man sie liest, und daß es zuweilen nicht das Unwichtigste ist. So haben private Bibliotheken, in denen die Gesamtausgaben überwiegen, leicht etwas Banausisches. Das Bedürfnis nach Vollständigkeit, wahrhaft legitim gegenüber jenen Ausgaben, in denen ein Philologe sich anmaßt zu entscheiden, was von einem Autor daure und was nicht, verbindet sich allzu leicht mit dem Besitzinstinkt, dem Drang, Bücher zu horten, der sie der Erfahrung entfremdet, die einzelnen Bänden, und zwar kraft ihrer Zerstörung, sich einprägt. Solche Reihen von Gesamtausgaben protzen nicht nur, sondern ihre glatte Harmonie verleugnet unbillig das Schicksal, welches das lateinische Sprichwort den Büchern zuspricht und das allein von allem Toten sie mit Lebendigem gemein haben. Die einheitlichen und meist allzu geschonten Blöcke wirken, als wären sie alle auf ein Mal, geschichtslos oder, wie das zuständige deutsche Wort lautet, schlagartig erstanden worden, ein wenig schon wie jene Potemkinsche Bibliothek, die ich in der als Dépendance einem Hotel angegliederten Villa einer alten amerikanischen Familie in Maine fand. Sie kehrte mir alle erdenklichen Titel zu; als ich der Lockung folgte und hineingriff, brach die ganze Pracht leise klatschend zusammen, alles Attrappen. Beschädigte, angestoßene Bücher, die leiden mußten, sind die rechten. Hoffentlich entdecken Vandalen nicht auch das und behandeln ihre nagelneuen Vorräte, wie abgefeimte Restaurateure Flaschen, die algerisch verfälschter Rotwein füllt, mit einer synthetischen Staubschicht überziehen. Bücher, die einen das Leben lang begleiten, weigern sich überhaupt der Ordnung systematischer Plätze und insistieren auf denen, die sie selber sich suchen; wer ihnen die Unordnung gönnt, muß nicht lieblos zu ihnen sein, sondern nur ihren Launen gehorsam. Dafür wird er dann häufig bestraft, denn diese Bücher sind es, die am liebsten sich davon machen.
Die Emigration, das beschädigte Leben, hat übers Maß hinaus meine Bücher verunstaltet, die nach London, New York, Los Angeles und nach Deutschland zurück mich begleiteten oder, wenn man will, verschleppt wurden. Aus ihren friedlichen Regalen gescheucht, gerüttelt, eingesperrt in Kisten, provisorisch behaust, sind viele von ihnen aus dem Leim gegangen. Die Einbände lösten sich, rissen oft Bündel Text mit sich. Sie waren wohl immer schon schlecht hergestellt; die deutsche Qualitätsarbeit ist längst so dubios, wie im Zeitalter der Hochkonjunktur der Weltmarkt sie einzuschätzen beginnt. So lauerte im deutschen Liberalismus sinnbildlich dessen Auflösung: ein Stoß, und er zerfiel. Aber ich komme von den verwüsteten Büchern nicht los, immer wieder werden sie repariert. Manche der zerschlissenen Bände von einst finden zweite Jugend als Broschüren. Ihnen droht weniger: sie sind kein gar so festes Eigentum. Nun sind die Hinfälligen Dokumente der Einheit des Lebens, das an sie sich klammert, und seiner Brüche zugleich, mit aller Zufälligkeit der Rettung und auch der Spur einer ungreifbaren Vorsehung darin, daß dies erhalten blieb, anderes verschollen ist. Nichts von Kafka, was er selber noch herausgab, kam heil mit mir zurück.
Das Leben der Bücher ist nicht identisch mit dem Subjekt, das wähnt, es gebiete darüber. Was an Verliehenem abhanden kommt, an Geborgtem sich ansiedelte, beweist das drastisch. Aber quer steht jenes Leben auch zur Verinnerlichung, zu dem, was der Eigentümer an der Kenntnis von Disposition oder sogenanntem Gedankengang zu besitzen wähnt. Immer wieder äfft es ihn in seinen Irrtümern. Zitate, die nicht am Text überprüft sind, stimmen selten. Das richtige Verhältnis zu den Büchern wäre darum eines von Unwillkürlichkeit, die dem sich anheimgibt, was das zweite und apokryphe Leben der Bücher will, anstatt auf dem ersten zu beharren, meist nur der willkürlichen Veranstaltung des Lesers. Wer solcher Unwillkürlichkeit im Verhältnis zu Büchern fähig ist, dem schenken sie manchmal das Gesuchte unerwartet her. Die glücklichsten Belege pflegen die zu sein, die der Suche sich entziehen und aus Gnade sich gewähren. Jedes Buch, das etwas taugt, spielt mit seinem Leser. Gute Lektüre wäre die, welche die Spielregeln errät, die es dabei befolgt, und ohne Gewalt ihnen sich anbequemt.
Vergleichbar ist das Eigenleben der Bücher mit dem, das ein unter Frauen verbreiteter und affektbesetzter Glaube den Katzen zuschreibt. Sie sind undomestizierte Haustiere. Aufgestellt als Besitz, sichtbar und disponibel, entziehen sie sich gern. Verschmäht der Herr ihre Organisation zur Bibliothek – und wer den rechten Kontakt mit Büchern hat, der fühlt schwerlich in Bibliotheken sich wohl, kaum recht in der eigenen –, so werden immer wieder die Bücher, deren er am dringendsten bedarf, sich seiner Souveränität verweigern, verstecken, bloß mit dem Zufall wiederkehren; manche verschwinden wie die Spirits, meist in Augenblicken, in denen sie Besonderes bedeuten. Schlimmer noch der Widerstand, den sie bereiten, sobald man etwas in ihnen sucht: als wollten sie sich rächen für den lexikalischen Blick, der sie nach einzelnen Stellen abtastet und dadurch ihrem eigenen Zug Gewalt antut, der niemand zu willen sein möchte. Manchen Schriftsteller definiert geradezu die Sprödigkeit gegen den, welcher daraus zitieren möchte; so vor allem Marx, in dem man nur nach einem Passus zu stöbern braucht, der einem vor anderen sich einprägte, um an die Nadel im Heuhaufen gemahnt zu werden. Offenbar hat seine höchst spontane Produktionsweise – vielfach lesen sich seine Texte, als wären sie mit fliegender Hast an den Rand der Werke geschrieben, die er durchstudierte, und in den Mehrwerttheorien ist daraus beinahe eine literarische Form geworden – dagegen sich gesträubt, die Gedanken säuberlich dort vorzubringen, wo sie hingehören; Ausdruck des antisystematischen Zugs eines Autors, dessen System nichts ist als die Kritik des bestehenden; am Ende übte er dabei gar eine ihrer selbst unbewußte konspirative Technik. Daß, trotz aller Kanonisierung, kein Marxlexikon verfügbar ist, paßt dazu; der Autor, von dem eine zählbare Reihe von Sätzen hergeleiert wird wie Bibelsprüche, verteidigt sich gegen das, was man mit ihm anstellt, indem er cachiert, was nicht in jenen Vorrat fällt. Aber auch manche Autoren, zu denen fleißige Lexika existieren wie die Rudolf Eislers zu Kant und Hermann Glockners zu Hegel, benehmen sich nicht viel umgänglicher: unschätzbar die Erleichterung, welche die Lexika bieten; häufig jedoch schlüpfen die wichtigsten Formulierungen durch die Maschen, weil sie unter kein Stichwort passen oder das, welches ihnen etwa gebührte, so vereinzelt ist, daß es aufzuführen nach lexikalischer Vernunft nicht sich lohnt. Im Hegellexikon fehlt »Fortschritt«. Die Bücher, die des Zitierens würdig sind, erheben permanenten Einspruch gegen das Zitat, dessen doch nicht entraten kann, wer über Bücher schreibt. Denn jedes solche Buch ist paradox in sich selber, Vergegenständlichung des schlechthin nicht Gegenständlichen, das vom Zitat aufgespießt wird. Die gleiche Paradoxie äußert sich darin, daß der schlechteste Autor mit Grund gegen seinen Kritiker einwenden kann, die literarischen corpora delicti seien aus dem Zusammenhang gerissen, während doch ohne solchen Gewaltakt Polemik gar nicht möglich ist. Noch die dümmste Replik besteht erfolgreich auf dem Zusammenhang, jenem Hegelschen Ganzen, das die Wahrheit sei, als wären deren Momente die Kalauer. Derselbe Autor würde freilich, wenn man gegen ihn schriebe, ohne es zu belegen, mit dem gleichen Eifer erklären, so etwas habe er niemals gesagt. Philologie ist verschworen mit dem Mythos: sie versperrt den Ausweg.
Vermutlich macht es die Technik des Buchbinders, daß manche Bücher stets wieder an derselben Stelle sich aufblättern. Anatole France, über dessen Voltaireschem Anstand, den man ihm nicht verzeiht, sein metaphysisches Ingenium vergessen ward, hat daraus in der Histoire contemporaine bedeutende Wirkung gezogen. Monsieur Bergeret findet in seiner Provinzstadt Unterschlupf in der Buchhandlung des Herrn Paillot. Bei jedem Besuch des Ladens greift er, ohne alles Interesse, nach der ›Geschichte der Entdeckungsreisen‹. Hartnäckig präsentiert ihm der Band die Sätze: »... eine Durchfahrt im Norden. Gerade diesem Mißgeschick, sagt er, war es zu verdanken, daß wir noch einmal zu den Sandwichinseln zurückkehren konnten, und unsere Reise wurde dadurch um eine Entdeckung bereichert, die, obgleich die letzte, dennoch in mancher Hinsicht die wichtigste zu sein scheint, welche die Europäer überhaupt im Stillen Ozean bisher gemacht haben ...« Verflochten ist das mit Assoziationen aus dem monologue intérieur des milden Inhumanisten. Man wird bei der Lektüre der gleichgültigen, außer aller Oberflächenbeziehung zum Roman stehenden Passage, durchs Kompositionsprinzip, das Gefühl nicht los, sie wäre der Schlüssel des Ganzen, wenn man sie nur zu deuten verstünde. Die schäbige Insistenz des Buches darauf dünkt inmitten der Öde und Gottverlassenheit provinzieller Existenz das letzte Überbleibsel eines Sinnes, der verregnet ward und bloß noch ohnmächtige Winke erteilt gleich dem Wetter, dem unsagbaren Gefühl eines Tages der Kindheit, dies sei es, darauf komme es an, und dem mit einem Guß sich verdunkelt, was eben sich erhellte. Die Schwermut solcher buchbinderischen Wiederholung ist so abgründig, weil die permanente Versagung, die sie bewirkt, so nahe ist an der Einlösung eines Versprochenen. Daß Bücher sich von selbst immer wieder an der gleichen Stelle öffnen, ist ihre rudimentäre Ähnlichkeit mit den Sibyllinischen und dem Buch des Lebens selber, das nur noch als triste, steinerne Allegorie auf Gräbern des neunzehnten Jahrhunderts aufgeschlagen daliegt. Wer diese Monumente recht läse, entzifferte wahrscheinlich »eine Durchfahrt im Norden« aus der ›Allgemeinen Geschichte der Entdeckungsreisen‹. Nur im gebrauchten Exemplar wird etwas aus den Hölderlinschen Kolonien vermeldet, die keiner je betrat.
Alte Abneigung gegen Bücher, deren Titel auf dem Rücken längs gedruckt sind. Auf menschenwürdigen sollte er quer stehen. Die Begründung, man müsse, wenn ein Band aufgestellt ist, bei der Längsschrift den Kopf verdrehen, um zu merken, was es sei, ist wohl bloße Rationalisierung. In Wahrheit verleiht die Querschrift auf dem Rücken den Büchern einen Ausdruck von Beständigkeit: solid ruhen sie auf ihren Füßen, und der lesbare Titel oben ist ihr Gesicht. Die mit der Längsschrift aber sind nur dazu da, herumzuliegen, heruntergefegt zu werden, weggeworfen; schon ihrer physischen Gestalt nach darauf eingerichtet, daß sie keine Bleibe haben. Was broschiert ist vollends, kennt kaum je die Querschrift. Wo diese noch geduldet wird, ist sie nicht mehr aufgedruckt oder gar geprägt, sondern ein Schildchen wird aufgeklebt, bloß noch Fiktion. – Nur an einigen der Bücher, die ich verfaßte, hat sich der Wunsch nach der Querschrift erfüllt; wann immer aber der Längsdruck durchgesetzt ward, ließ nichts Triftiges dagegen sich einwenden. Schuld hatte wohl gar mein eigenes Widerstreben gegen dicke Bände.
Unter den Symptomen des Verfalls der Bücher ist nicht das harmloseste, daß neuerdings Erscheinungsjahr und -ort auf der Titelseite verschwiegen werden, allenfalls verschämt beim Copyright vermerkt. Vermutlich wird dadurch nicht im Ernst erschwert, Bücher in öffentlichen Bibliotheken oder antiquarisch aufzutreiben. Wohl aber wird ihnen, mit Raum und Zeit, das principium individuationis entzogen. Sie sind bloß noch Exemplare einer Gattung, schon so austauschbar wie ein Bestseller gegen den anderen. Was dem Anschein nach sie dem Ephemeren und Zufälligen ihres empirischen Hervortretens entreißt, hilft ihnen nicht sowohl zum Überleben, als daß es sie zum Wesenlosen verdammt. Auferstehen könnte nur, was sterblich war. Motiviert ist der abscheuliche Brauch vom materiellen Interesse, das die Bestimmung der Sache selbst verbieten: man soll dem Ding nicht ansehen, wann es herauskam, damit nicht der Leser, für den nur das Frischeste gut genug ist, den Verdacht schöpfe, es handle sich um einen Ladenhüter, also um etwas, was jene Dauer sucht, die in der Form des Buches selbst, als eines Gedruckten und womöglich Gebundenen, versprochen wird. Trauert man aber dem nach, daß sie auch den Ort des Verlags unterschlagen – um so prätentiöser prangt dafür der Verlegername –, so klärt einen der Sachverständige sogleich darüber auf, daß die provinzialen Zentren der Buchproduktion durch den Konzentrationsprozeß des Verlagswesens immer gleichgültiger werden und daß an sie zu erinnern selber provinziell sei. Was soll es schon nutzen, unter einen Buchtitel zu drucken: New York 1950? Nein, es nutzt nichts.
Photographische Neu-Editionen von Originalausgaben Fichtes oder Schellings gleichen den Neudrucken alter Briefmarken aus der Epoche vor 1870. Das physisch Intakte daran warnt vor Fälschung, ist aber auch sinnliches Zeichen eines geistig Vergeblichen, der Wiederbelebung von Vergangenem, das bloß durch Distanz, als Vergangenes, bewahrt werden könnte. Renaissancen sind Totgeburten. Indessen kommt man bei der zunehmenden Schwierigkeit, die Originale sich zu beschaffen, ohne die peinlichen Doubletten kaum aus und empfindet für sie die Baudelairesche Liebe zur Lüge. So war das Kind glücklich, das im Briefmarkenalbum das für die kostbare Dreißiger Orange von Thurn und Taxis reservierte Feld mit einer allzu leuchtenden Marke ausfüllen durfte, wissend, daß es hinters Licht geführt werde.
Kantische Erstausgaben stehen dem Apriori des Inhalts bei, dauerhaft für die bürgerliche Ewigkeit. Der Buchbinder hat sie als ihr transzendentales Subjekt erzeugt. – Bücher, deren Rücken wie Literatur, deren fleckige Karton-Einbände wie für den Schulgebrauch aussehen. Schiller, mit Recht. – Baudelaireausgabe, angeschmutztes Weiß, blauer Rücken, wie die Pariser Metro noch vor dem Krieg, erster Klasse, antike Moderne. – Auf zeitgenössischen Illustrationen zu Märchen von Oscar Wilde sind die Prinzen schon wie die boys abkonterfeit, nach denen der Autor begehrte, während er doch die unschuldigen Märchen als Alibi schrieb. – Revolutionäre Flugschriften und ihnen verwandte: wie von Katastrophen ereilt, selbst wenn sie nicht älter sind als 1918. Man sieht ihnen an, daß, was sie wollten, nicht sich verwirklichte. Daher ihre Schönheit, dieselbe, welche in Kafkas Prozeß die Angeklagten gewinnen, deren Hinrichtung vom ersten Tag an feststeht.
Ohne die schwermütige Erfahrung der Bücher von außen wäre keine Beziehung zu ihnen, kein Sammeln, schon gar nicht die Anlage einer Bibliothek möglich. Wie wenig liest, wer mehr besitzt, als auf einem Spind sich zusammenpressen läßt, von dem, woran er hängt. Jene Erfahrung ist physiognomisch, so gesättigt mit Sympathie und Antipathie, auch so irrlichterhaft und ungerecht wie die physiognomische an Menschen. Das Schicksal der Bücher hat seinen Grund darin, daß sie Gesichter haben, und die Trauer vor den heute erscheinenden den, daß ihr Antlitz beginnt, ihnen abhanden zu kommen. Die physiognomische Haltung zum Auswendigen der Bücher jedoch ist das Gegenteil der bibliophilen. Sie spricht an aufs geschichtliche Moment. Bibliophiles Ideal dagegen sind Bücher, die der Geschichte enthoben wären, ergattert an ihrem ersten Tag, den sie vermessen konservieren. Schönheit erhofft sich der Bibliophile von Büchern ohne Leid; sie sollen neu auch als alte sein. Ihren Wert soll das Unbeschädigte garantieren; insofern ist die bibliophile Stellung zum Buch outriert bürgerlich. Das Beste entgeht ihr. Leid ist die wahre Schönheit an den Büchern; ohne es wird sie zur bloßen Veranstaltung korrumpiert. Dauer, Unsterblichkeit, die sich selbst setzt, hebt sich auf. Wer das spürt, hat eine Aversion gegen unaufgeschnittene Bücher; die jungfräulichen gewähren keine Lust.
Vag ist, was die Bücher von außen sagen, als Versprechen: das ihrer Ähnlichkeit mit dem, was sie enthalten. Die Musik hat, in einer der Schichten ihrer Notation, dies Moment realisiert; Noten sind nicht nur Zeichen, sondern in ihren Linien, Tonköpfen, Bögen und ungezählten graphischen Momenten immer auch Bilder des Erklingenden. Sie bannen, was in der Zeit geschieht und mit ihr enteilt, in die Fläche, freilich um den Preis von Zeit selbst, der leibhaften Entwicklung. Die ist aber der Sprache ebenso wesentlich, und deshalb erwartet man von den Büchern dasselbe. Nur ward in ihr, gemäß dem Vorrang des begrifflich-signifikativen Aspekts, vom Druck das mimetische Moment gegenüber dem Zeichensystem unvergleichlich viel weiter zurückgedrängt als in der Musik. Weil jedoch das Ingenium der Sprache immer noch darauf besteht, während sie es verweigert und verstreut, enttäuscht die Auswendigkeit der Bücher, verwandt der der Embleme, deren Ähnlichkeit mit ihrer Sache vieldeutig ist. Unter denen der Melancholie figuriert das Buch schon seit Jahrhunderten, noch am Anfang von Poes Raven und bei Baudelaire fehlt es nicht: etwas Emblematisches eignet der imago aller Bücher, wartend, daß der tiefe Blick ins Äußere dessen Sprache erwecke, eine andere als die inwendige, gedruckte. Einzig in exzentrischen Zügen des zu Lesenden überlebt jene Ähnlichkeit, wie in der hartnäckigen und abgründigen Leidenschaft Prousts, ohne Abschnitte zu schreiben. Er ärgerte sich an der Forderung bequemen Lesens, die das graphische Bild nötigt, kleine Brocken zu servieren, welche der begierige Kunde leichter verschlucken kann, auf Kosten der Kontinuität der Sache. Durch die Polemik gegen den Leser bildet der Satzspiegel jener sich an, literarische Autonomie führt zurück auf die mimetische Verhaltensweise der Schrift. Sie schafft Prousts Bücher um in Noten des inneren Monologs, den seine Prosa gleichzeitig spielt und begleitet. Überall jedoch sucht das Auge, das der Fluchtbahn des Drucks folgt, solche Ähnlichkeiten. Weil keine zwingend ist, vermag ein jedes graphische Element, eine jede Beschaffenheit von Band, Papier und Druck zu ihrem Träger zu werden; wo immer nämlich der Lesende im Buch selber mimetische Impulse innerviert. Gleichwohl sind solche Ähnlichkeiten keine bloßen subjektiven Projektionen, sondern haben ihre objektive Legitimation in den Unebenheiten, Rissen, Löchern und Griffen, welche Geschichte in die glatten Wände des graphischen Zeichensystems, der materiellen Komponenten und Akzidentien der Bücher geschlagen hat. In solcher Geschichte enthüllt sich das gleiche wie in der des Inhalts: jener Baudelaireband, der aussieht wie eine klassizistische Untergrundbahn, konvergiert mit dem, was als Gehalt der Dichtungen historisch hervortritt, die er verschließt. Die Gewalt der Geschichte über die Erscheinung des Einbands und sein Schicksal ebenso wie über das Gedichtete ist aber soviel größer selbst als jede Differenz von Innen und Außen, Geist und Stoff, daß sie die Spiritualität der Werke zu überflügeln droht. Das ist das innerste Geheimnis der Trauer älterer Bücher, auch die Anweisung, wie man mit ihnen und, nach ihrem Muster, mit Büchern überhaupt umzugehen habe. Der, in dem mimetischer und musikalischer Sinn tief genug sich durchdringen, wird allen Ernstes fähig sein, nach dem Notenbild ein Werk zu beurteilen, schon ehe er es in die Vorstellung des Gehörs voll umgesetzt hat. Bücher sind dagegen spröde. Aber der ideale Leser, den sie nicht dulden, wüßte doch, indem er den Einband in der Hand fühlt, die Figur des Titelblatts wahrnimmt und die Gestaltqualität der Seiten, etwas von dem, was darin steht, und ahnte, was es taugt, ohne daß er es erst zu lesen brauchte. Rede über ein imaginäres Feuilleton
Für Z.
Der kurze Text, den ich ausgewählt habe, um einige der Gründe zu nennen, mit denen ich mir zurechtlege, warum ich ihn liebe, ist ein selbständiges Prosastück und ist es doch nicht. Er findet sich in den Verlorenen Illusionen. So heißt der erste der beiden langen Romane Balzacs, die, rauschend wie das gleichzeitig aufkommende große Orchester, Erhebung und Sturz des Jünglings Lucien Chardon schildern, der später den Namen de Rubempré trägt. Das Prosastück ist ein inmitten der Erzählung wiedergegebenes Feuilleton Luciens, nach Balzacs Worten sein erster Artikel. Er schreibt ihn nach der Première eines Boulevardstücks, die ihm Kontakt verschafft mit dem Journalismus und eine Liebschaft mit der Hauptdarstellerin. So reizvoll wird diese beschrieben, daß die Heldin des zweiten Lucien-Romans, Glanz und Elend der Kurtisanen, die von Hofmannsthal märchenhaft genannte Esther, es schwer hat, das lockende Bild zu überbieten. Die Souper-Gesellschaft, von der Lucien sich absondert, um jenes Feuilleton zu schreiben, entscheidet über sein Leben. Sie schwemmt ihn weg aus dem strengen, liberalfortschrittlichen Kreis von Intellektuellen, der um den Dichter d'Arthez – das Selbstporträt Balzacs – sich gruppiert. Lucien taumelt in den Verrat an seinen Idealen, und bald, obzwar unwillentlich, auch an seinen früheren Freunden. Aber die Verführung selbst ist so plausibel, so phantasmagorisch die nach dem Willen Balzacs korrupte Welt, die dem Jüngling sich öffnet, daß darüber der Begriff des Verrats zerrinnt wie oftmals die großen sittlichen Begriffe in den unendlich gleitenden Begebenheiten des Lebens. Sei's auch gegen die ausdrückliche Intention Balzacs, gewinnt Lucien soviel Recht, wie es der ungeschmälerten sinnlichen Erfüllung vor dem Geist zukommt. Denn dieser führt stets etwas Aufschiebendes und Vertröstendes mit sich, wo die Menschen in der widervernünftigen Gegenwart einen Anspruch aufs Glück haben, ohne den alle Vernunft nur Unvernunft wäre: dies Moment spricht für Lucien. Die Verflechtung seines Schicksals in die Gesellschaft, der er sich fremd weiß, sein eigener Glanz und sein eigenes Elend, all das sammelt sich wie in einem Brennspiegel in dem Feuilleton, das Balzac ihm so in die Feder diktiert, als teilte er den Wunsch des jungen Literaten, »vor so bemerkenswerten Personen seine Probe abzulegen«. In dem Mikrokosmos des Aufsatzes wird der Herzschlag des Romans und seines Helden von Sekunde zu Sekunde mitgezählt. Von geringeren Romanciers unterscheidet Balzac sich allein schon dadurch, daß er nicht über das Feuilleton schwatzt, sondern es hinstellt. Andere hätten mit der Versicherung sich begnügt, Lucien sei ein talentierter Journalist gewesen, und etwa mit Phrasen sich beholfen wie der, daß geistreiche Einfälle, Witzworte bei ihm einander folgten wie glitzernde Bälle. Solche Beteuerungen überläßt Balzac den Journalisten aus Luciens Milieu; an ihrer Statt beweist er die geistige Begabung konkret an ihrem Produkt. Er ist nicht, was Kierkegaard Prämissenschriftsteller nennt. Nie zehrt er von dem, was er seinen Figuren zuspricht, was sie angeblich sind, ohne es in der Sache selbst zu realisieren. Er hat im höchsten Maß jene Anständigkeit, welche die Moral bedeutender Kunstwerke ausmacht. Wie ein Komponist mit dem ersten Takt einen Vertrag unterzeichnet, den er durch Konsequenz einlöst, so honoriert Balzac den epischen Vertrag: nichts sagen, was nicht berichtet wäre. Selbst der Geist wird Erzählung. Zwar vermeldet Balzac, Luciens Feuilleton hätte im Journalismus durch seine neue, originale Art Revolution gemacht, aber er erfüllt dabei selbst den Anspruch der Neuheit und Originalität. Und zwar auf eine Weise, die wiederum dem ästhetischen Kompositionsprinzip des Romans Ehre antut. Nirgends nämlich erfährt man den Inhalt des Stücks, um das es geht; weder bei der Beschreibung des Theaterabends noch dann aus dem Feuilleton. Vielmehr wird die hispanische Komödie als vorhanden fingiert und dann die Fiktion in Luciens Bericht über die Wirkung auf ihn nochmals gespiegelt. In dieser Brechung treten die privaten Bezüge hervor, Luciens Absicht, dem Stück zu nützen und seiner Geliebten. Das Feile, Unsachliche des archaischen Journalismus, den der gesamte Roman verklagt, wird nicht beschönigt. Aber Luciens Unsachlichkeit ist zugleich Befreiung vom Zwang der Sache, die Entfaltung eines selbständigen Spiels der Einbildungskraft. Noch was der illegitimen Reklame dient, hat seine Wahrheit. Balzac weiß, daß, im Gegensatz zur offiziellen Ästhetik, die künstlerische Erfahrung nicht rein ist; daß sie es kaum sein kann, wenn sie Erfahrung werden soll. Keiner verstünde ganz, was eine Oper ist, wer nicht als Junge während der Aufführung auch in die Koloratursopranistin sich verliebt hätte; in dem Zwischenreich von Eros und interesselos betrachtetem Werk kristallisieren sich die Bilder, deren Inbegriff die Kunst ist. Lucien ist noch der große Junge, der in diesem Zwischenreich schwärmt. Daher, und nicht bloß aus schlauer Absicht, unterschiebt er seine private Reaktion auf das ästhetische Phänomen anstelle von dessen abwägender Analyse. Was immer später unter dem Namen impressionistische Kritik ging, wird von Balzac in dem Artikel, der gar keiner ist, mit einer Frische und Leichtigkeit, die nie zu überbieten war, im frühen neunzehnten Jahrhundert antezipiert. Man erlebt die Geburt des Feuilletons, als wäre es die der goldenen Aphrodite. Und das Zum-ersten-Mal verleiht der nichtswürdigen Form versöhnende Anmut. Sie gerät desto hinreißender, weil sie vor der Folie all des Verfalls entworfen ist, der dem Feuilleton schon am ersten Tag als Potential innewohnte und in den sechzig oder siebzig Jahren danach sichtbar zutage trat. Beschworen wird das Gedächtnis an Karl Kraus, der den Journalismus verdammte, ohne doch je ein abschätziges Wort zu sagen über die gleißend todgeweihte Welt der Lulu, deren Tragik in den beiden männlichen Hauptfiguren, Schön und Alwa, den zynischsten Journalismus voraussetzt. Vielleicht ist es gerade das Schamlose, um moralische Rationalisierung gänzlich Unbekümmerte in Luciens Aufsatz, das ihn rehabilitiert. Mit einem wahren Geniestreich hat Balzac dafür Sorge getragen, daß er entsühnt werde, ohne ihn zu entschuldigen. In dem Satz, wo Lucien schreibt, was man nicht alles beim Anblick der unwiderstehlichen Coralie ihr anzutragen bereit wäre, stehen, nach dem Herzen und der Rente von dreißigtausend Livres, auch die Worte »und seine Feder«. Er bekennt die eigene Korruption und widerruft sie damit, ein Falschspieler, der die Karten auf den Tisch legt –; und erklärt sie zugleich. Indem Lucien dem verlogenen Zwang, nach einem bunten Theaterabend mit geläutertem Geschmack Stellung zu nehmen und besonnen zu richten, ein Schnippchen schlägt, wird das Feuilleton frei für seine spontanen Regungen, zumal seine Verliebtheit in die, mit der er auf der gleichen Soirée, wo er das Feuilleton verfaßt, sich benimmt »wie ein fünfzehnjähriges Pärchen«. Die Welt, die eine Sekunde lang ihm zu Füßen liegt, behandelt sein Exhibitionismus, als wäre es nicht die Welt, sondern frei. Dadurch erprobt sich Lucien noch in der anrüchigen Zweideutigkeit als der höher Geartete. Coralie erwähnt er im Feuilleton nur desultorisch, in eingesprengten Sätzen, flimmernden Glanzlichtern. Mehr als von ihr selbst ist von ihren Füßen und von ihren schönen Beinen die Rede. Balzacs Genius beweist nicht zuletzt sich darin, daß seine individuelle Innervation kollektiven Reaktionsweisen entspricht, die erst in einer Zeit sich ausbreiteten, der er bereits historisch war; er hat, übrigens nicht nur in jenem Feuilleton, den Reiz von Beinen wohl überhaupt für die Literatur entdeckt. Lucien ist verblendet, aber nicht blind. Seine affektierte Gleichgültigkeit gegen Handlung, Sprache, dichterische Qualität des Stücks läßt Kritik durchschimmern. Der Schmarren ist ihm nicht der Mühe wert, darauf einzugehen, er attestiert ihm kaum mehr als die vis comica der Wirkung: daß man darüber lachen muß. Aber das Feuilleton hat zugleich auch unverkennbar das Schlechte seiner Gattung, die unverschämte Verachtung des Objekts und der Wahrheit; die Bereitschaft, durch Stimmung, Wortkunst, jonglierende und variierende Wiederholung, den Geist zu verschachern, der doch wiederum in all dem sich manifestiert. So doppeldeutig steht aber auch das Feuilleton im Gefüge des Romans. Während es Lucien emporträgt und für ein paar Monate der Misere entreißt, die damals wie heute der künstlerischen Integrität droht, macht es ihm bereits den Freund, der ihn bei den Journalisten und Schauspielerinnen einführt, zum Neider und geheimen Feind. Der Erfolg, den man ihm auf Widerruf zubilligt, wird durch eine beiläufige Konversation zum Beginn der ersten Katastrophe seines Lebens, die Coralie vernichtet und aus der ihn kein anderer rettet als ein Schwerverbrecher. Sein Feuilleton ist entzückend in eins und abscheulich. Es gestaltet, worauf sonst Autoren bloß Vorschußlorbeeren einkassieren; es begründet den Abfall des Helden, begründet das Verdikt über ihn und entlastet ihn, alles mit ein paar Sätzen, die so unabsichtlich gefügt sind, wie nur ein wirklich Hochtalentierter so etwas hätte improvisieren können. Die im wahren Sinn unerschöpfliche Fülle der Bezüge entfaltet sich ohne jeden Zwang, ohne die Spur von Willkür. Die Motive des Feuilletons strömen ihm aus dem Stoff des Romans zu; nicht ein Satz verdankt sich der Absicht des Dichters, alles dem Sachgehalt, dem Naturell des Helden und seiner Situation; so wie einzig in den großen Kunstwerken noch das scheinbar Zufällige und Bedeutungslose symbolisch wird, ohne irgend zu symbolisieren. Aber nicht einmal diese Meriten umschreiben ganz den Rang der paar Seiten. Er bestimmt sich durch ihre kompositorische Funktion. Das strikt durchgeführte Kunstwerk im Kunstwerk schlägt, inmitten der atemlos steigenden und sinkenden Handlung, die Augen auf. Es ist die Selbstbesinnung des Kunstwerks. Dieses wird seiner selbst als des Scheines inne, der auch die illusionäre Journalistenwelt bleibt, in welcher Lucien seine Illusionen verliert. Dadurch wird der Schein über sich erhoben. Ehe nur literarhistorisch der reflexionslos naturalistische Roman sich recht konsolidierte, hat Balzac, den man unter die Realisten einreiht und der nach vieler Hinsicht auch einer war, die geschlossene Immanenz des Romans durch das eingelassene Feuilleton bereits gesprengt. Seine Erben im Roman des zwanzigsten Jahrhunderts waren Gide und Proust. Sie haben die scheinhafte Grenze zwischen Schein und Realität verflüssigt und der verpönten Reflexion Raum geschaffen, indem sie es verschmähen, deren Antithese zur vorgeblich reinen Anschauung verbissen durchzuhalten. In diesem Zug ist jenes Balzacsche Stück ein exemplarisches Programm der Moderne. Es mahnt – auch das ist in der Comédie humaine nicht vereinzelt – schon an Thomas Manns Leverkühn, dessen nichtexistente Musik bis ins einzelne beschrieben wird, als lägen die Partituren vor. Das Kunstmittel schält bruchstückhaft und doch einheitlich die Bedeutungen heraus und konkretisiert sie zugleich. Anders wären sie bloße Weltanschauung, bloß äußerlich gesetzt. Solche Selbstbesinnung und Suspension aber ist wohl die Signatur großer Epik. Sie wird, was sie ist, dadurch, daß sie mehr ist, als sie ist, so wie einst die Homerischen Epen Kunstwerke wurden, indem sie von einem Stoff erzählten, der in der ästhetischen Form nicht aufgeht. Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, klar genug zu sagen, warum ich jene Seiten liebe. Ergänzen möchte ich es, indem ich auf eine eigene Impression mich beziehe. Bei der Lektüre des Feuilletons und der Romanteile, die es umgeben, fällt mir eine Musik von Alban Berg ein, und zwar gerade eine zu Wedekinds Lulu: die Variationen, die dem Salon des Marquis Casti-Piani gelten, wo alles gewonnen wird und alles verspielt, und aus dem die Schönste dem Netz von Polizei und Mädchenhändlern entrinnt ins Finstere. Etwas von dieser Schwärze und von diesem Leuchten hat Balzacs Roman. Die Seiten der Verlorenen Illusionen, welche die Mitte des Romans bilden und in denen er sich verschlüsselt, lauten in der Übersetzung Otto Flakes aus der Gesamtausgabe des Rowohlt-Verlages: »Lucien mußte lachen und betrachtete Coralie. Die reizende Schauspielerin gehörte zu jenem Typus, der nach Belieben die Männer faszinierte. Sie vereinigte alle Vorzüge der jüdischen Rasse in sich, mit ihrem ovalen Gesicht von der Farbe blonden Elfenbeins, dem granatroten Mund und dem Kinn, das fein wie ein Kelchrand war. Unter Lidern, die das Feuer hüteten, unter aufgebogenen Wimpern drang ein Blick hervor, schmachtend oder brennend, wie die Glut der Wüste. Die Augen, um die ein Kreis in den Tönen der Oliven spielte, wurden von geschwungenen, starken Brauen überwölbt. Die nachtschwarzen Flechten, die dieselben Lichter wie Lack trugen, umschlossen eine braune Stirn, auf der so erhabene Gedanken ruhten, daß man an ein Genie dachte. Aber wie viele Schauspielerinnen besaß Coralie keinen Geist trotz ihrer Kulissenironie und keine Bildung trotz ihrer Boudoirerfahrung; sie hatte den Geist der Sinne und die Güte der Frauen, die der Liebe ergeben sind. Im übrigen hielt man sich nicht lange bei der Moral auf angesichts ihrer runden, glatten Arme, der wie Spindeln auslaufenden Finger, der goldgetönten Schultern, der vom Hohen Lied besungenen Brust, dem geschmeidigen Hals und den Beinen, die von einer bewunderungswürdigen Eleganz waren und durch Strümpfe von roter Seide schimmerten. Die orientalische Poesie dieser Schönheiten wurden noch durch das herkömmliche spanische Kostüm unsrer Theater hervorgehoben. Der ganze Saal hing an ihren Hüften, die der kurze Rock fest umschloß, und an ihrer andalusischen Kruppe, die sich herausfordernd wölbte ... Lucien, den der Wunsch trieb, vor so bemerkenswerten Personen seine Probe abzulegen, schrieb an dem runden Tisch im Boudoir Florines beim Licht der rosa Kerzen, die Matifat angesteckt hatte, seinen ersten Artikel:
Der Alkade in Verlegenheit Erstaufführung im Panorama Dramatique Eine neue Schauspielerin: Fräulein Florine Fräulein Coralie Bouffé
›Man kommt, man geht, man spricht, man sucht etwas und findet es nicht, alles ist in Bewegung. Der Alkade hat seine Tochter verloren und findet seine Mütze, aber die Mütze paßt ihm nicht, es muß die Mütze eines Diebes sein. Wo ist der Dieb? Man kommt, man geht, man spricht, man sucht von neuem. Der Alkade findet zu guterletzt einen Mann ohne seine Tochter und seine Tochter ohne einen Mann, was dem Beamten genügt, aber nicht dem Publikum. Die Ruhe kehrt wieder, der Alkade will den Mann ausforschen. Der alte Alkade setzt sich in einen großen Alkadensessel und zupft seine Alkadenärmel zurecht. Spanien ist das einzige Land, wo Alkaden an so große Ärmel geknüpft sind, wo man um den Hals der Alkaden jene Krausen sieht, die auf den Theatern von Paris schon den halben Mann bedeuten. Dieser Alkade, dieser kleine trippelnde Greis, ist Bouffé, Bouffé, der Nachfolger Potiers, ein junger Schauspieler, der die ältesten Greise so gut spielt, daß er die ältesten Männer zum Lachen brachte. Seine kahle Stirn, seine meckernde Stimme, die schlotternden Spitzen auf dem schmächtigen Leib, das war die Quintessenz von hundert Greisen. Er ist so alt, der junge Schauspieler, daß er erschreckt, man hat Furcht, sein Alter möchte sich wie eine ansteckende Krankheit verbreiten. Und was für ein prächtiger Alkade, so dumm und so wichtig, so dumm und so würdig! Wie salomonisch als Richter, wie sehr weiß er, daß alles, was wahr ist, gleich darauf falsch sein kann! Er hatte ganz das Zeug, der Minister eines verfassungsmäßigen Königs zu sein! ... Die Tochter des Alkaden wurde von einer echten Andalusierin gespielt, spanisch ihre Blicke, spanisch ihr Teint, spanisch die Taille und der Gang, kurzum, eine Spanierin von Kopf zu Fuß, im Strumpfband der Dolch, im Herz die Liebe und auf der Brust das Kreuz am Band. Beim Aktschluß fragte mich jemand nach dem Gang des Stückes. Ich gab zur Antwort: sie trägt rote Strümpfe mit grünen Zwickeln, sie hat ein Füßchen, so groß, in Schuhen von Lack und das schönste Bein von Andalusien! Weiß Gott, daß jedem beim Anblick dieser Alkadentochter das Wasser im Mund zusammenlief, man war nahe daran, auf die Bühne zu springen und ihr seine Hütte und sein Herz oder dreißigtausend Livres Rente und seine Feder anzutragen. Diese Andalusierin ist die schönste Schauspielerin von Paris. Coralie, da ich ihren Namen nennen muß, ist die Frau, um Gräfin oder Grisette zu werden. Was ihr besser stände, weiß man nicht. Sie wird, was sie werden will, sie ist geboren, um alles zu tun, Besseres kann man von einer Schauspielerin am Boulevard nicht sagen. Im zweiten Akt traf eine Spanierin aus Paris ein, ein Kameengesicht mit mörderischen Augen, ich habe meinerseits gefragt, woher sie kam, man hat mir geantwortet, daß sie aus der Kulisse stammt und Fräulein Florine heißt; aber meiner Treu, ich konnte es nicht glauben, soviel Feuer war in ihren Bewegungen, soviel Glut in ihrer Liebe. Florine hatte zwar keine roten Strümpfe mit grünen Zwickeln, noch trug sie Schuhe von Lack, sie trug eine Mantille und einen Schleier und trug sie wunderbar, ganz die große Dame. Sie führte uns das vor, wie die Tigerin die Krallen einzieht und zum Kätzchen wird. An den scharfen Worten, die die beiden Spanierinnen sich zuwarfen, habe ich erraten, daß es sich um irgendein Eifersuchtsdrama handelt. Als alles in Ordnung kommen wollte, hat die Dummheit des Alkaden alles wieder durcheinandergeworfen. Diese ganze Welt von Fackelträgern, Dienern, Figaros, Herrn, Alkaden, Mädchen und Frauen begann abermals zu kommen, zu gehn, zu suchen. Die Intrige schürzte sich von neuem, und ich ließ sie sich entschürzen, denn die eifersüchtige Florine und die glückliche Coralie verwickelten mich von neuem in die Falten, die ihr Röckchen warf, zogen mich von neuem in den Kreis, den ihre Mantille beschrieb, und wenn ich etwas sah, so waren es die Spitzen ihrer kleinen Füße. Ich erlebte auch den dritten Akt, ohne ein Unglück anzurichten, ohne nach dem Polizeikommissar zu rufen, ohne den Zuschauerraum in Aufruhr zu bringen, und ich glaube seither an die Macht der öffentlichen Moral und den Einfluß der Religion, womit man sich in der Kammer der Abgeordneten soviel beschäftigt, derzufolge es keine Moral in Frankreich mehr gibt. Es wurde mir klar, daß es sich um einen Mann handelt, der zwei Frauen liebt, ohne von ihnen geliebt zu werden, oder einen Mann, der von ihnen geliebt wird, ohne sie zu lieben, oder einen Mann, der die Alkaden nicht liebt, es sei denn, daß die Alkaden ihn nicht lieben, aber gewiß ist er ein braver Mann, der jemand liebt, entweder sich selbst oder in Gottes Namen den lieben Gott, denn er wird Mönch. Wenn Sie mehr wissen wollen, müssen Sie schon ins Panorama Dramatique gehn. Das müssen Sie überhaupt tun, das erstemal, um Ihr kaltes Blut an den rotgrünen Seidenstrümpfen, an den Füßchen der Verführung, an den Glutaugen zu erwärmen und Zeuge zu sein, wie eine reizende Pariserin als Andalusierin und eine Andalusierin als Pariserin aussieht. Und dann ein zweites Mal, um das Stück zu genießen, in dem man dank jenem Greis und jenem verliebten Herrn bis zu Tränen lacht. Unter beiden Gesichtspunkten hat das Stück Erfolg gehabt.‹« Sittlichkeit und Kriminalität
Zum elften Band der Werke von Karl Kraus Für Lotte von Tobisch
Der Herausgeber der neuen Edition von ›Sittlichkeit und Kriminalität‹, Heinrich Fischer, sagt im Nachwort, kein Buch von Karl Kraus sei aktueller als dies vor bald sechzig Jahren publizierte. Das ist die pure Wahrheit. Trotz allem Geschwätz vom Gegenteil hat in der Grundschicht der bürgerlichen Gesellschaft nichts sich geändert. Böse hat sie sich vermauert, als wäre sie so naturgesetzlich-ewig, wie sie es ehedem in ihrer Ideologie positiv behauptete. Sie läßt die Verhärtung des Herzens, ohne welche die Nationalsozialisten nicht unbehelligt Millionen hätten morden können, so wenig sich abmarkten wie die Herrschaft des Tauschprinzips über die Menschen, den Grund jener subjektiven Verhärtung. Flagrant wird das Bedürfnis, zu bestrafen, was nicht zu bestrafen wäre. Die Judikatur maßt, nach der Diagnose von Kraus, mit der Verstocktheit des gesunden Volksempfindens das Recht zur Verteidigung nicht-existenter Rechtsgüter sich an, selbst wo nachgerade sogar die offizielle Wissenschaft in der Majorität ihrer Vertreter nicht länger zu dem sich hergibt, wogegen in den ersten Jahren des Jahrhunderts nur wenige, damals von Kraus gerühmte Psychologen wie Freud und William Stern anzugehen wagten. Je geschickter das fortdauernde soziale Unrecht unter der unfreien Gleichheit der Zwangskonsumenten sich versteckt, desto lieber zeigt es im Bereich nicht-sanktionierter Sexualität seine Zähne und bedeutet den erfolgreich Nivellierten, daß die Ordnung im Ernst nicht mit sich spaßen läßt. Geduldetes Freiluftvergnügen und ein paar Wochen mit einteiligem Bikini haben womöglich nur eine Wut gesteigert, die, hemmungsloser als je die von ihr verfolgten sogenannten Laster, sich zum Selbstzweck wird, seitdem sie auf die theologischen Rechtfertigungen verzichten muß, die zuzeiten auch für Selbstbesinnung, und Duldung, Raum gewährten. Der Titel ›Sittlichkeit und Kriminalität‹ wollte ursprünglich nichts, als zwei Zonen auseinanderhalten, von denen Kraus wußte, daß sie nicht bruchlos ineinander aufgehen; die der privaten Ethik, in der kein Mensch über einen anderen richten dürfe, und die der Legalität, welche Eigentum, Freiheit, Unmündigkeit zu schützen habe. »Wir können uns nicht daran gewöhnen, Sittlichkeit und Kriminalität, die wir so lange für siamesische Begriffszwillinge hielten, von einander getrennt zu sehen.« 1 Denn: »die schönste Entfaltung meiner persönlichen Ethik kann das materielle, leibliche, moralische Wohl meines Nebenmenschen, kann ein Rechtsgut gefährden. Das Strafgesetz ist eine soziale Schutzvorrichtung. Je kulturvoller der Staat ist, umso mehr werden sich seine Gesetze der Kontrolle sozialer Güter nähern, umso weiter werden sie sich aber auch von der Kontrolle individuellen Gemütslebens entfernen.« 2 Diesem Gegensatz genügt jedoch nicht einfach die Trennung verschiedener Gebiete. Er drückt den Antagonismus eines Ganzen aus, welches nach wie vor die Versöhnung des Allgemeinen und des Besonderen beiden verweigert. Zur Dialektik wird Kraus allmählich von der Gewalt der Sache gedrängt, und ihr Fortgang schafft die innere Form des Buches. Sittlichkeit, die herrschende, jetzt und hier geltende, produziere Kriminalität, werde kriminell. Berühmt wurde der Satz: »Ein Sittlichkeitsprozeß ist die zielbewußte Entwicklung einer individuellen zur allgemeinen Unsittlichkeit, von deren düsterem Grunde sich die erwiesene Schuld des Angeklagten leuchtend abhebt.« 3 Die Befreiung des Sexus von seiner juristischen Bevormundung möchte tilgen, wozu ihn der soziale Druck macht, der in der Psyche der Menschen als Hämischkeit, Zote, grinsendes Behagen und schmierige Lüsternheit sich fortsetzt. Die Libertinage des Amüsierbetriebes, die Anführungszeichen, in die ein Gerichtsreporter das Wort Dame setzt, wenn er ihr Privatleben betasten will, und die offizielle Entrüstung sind von gleichem Blute. Kraus wußte alles über die Rolle des Sexualneids, der Verdrängung und der Projektion in den Tabus. Mag er darin bloß für sich wiederentdeckt haben, was nachsichtige Skepsis von je vorbrachte – und der Parodist Kraus ist einer der wenigen in der Geschichte, der nicht, als Freund alter Sitten, ins Gezeter über Verderbnis einstimmte; quo usque tandem abutere, Cato, patientia nostra?, fragte er –: der antipsychologische Psychologe verfügt auch über Einsichten recentester Art wie die in die Gereiztheit des Glaubens, sobald er seiner selbst nicht mehr sicher ist: »Man muß die leichte Reizbarkeit des katholischen Gefühls kennen. Es gerät immer in Wallung, wenn der Andere es nicht hat. Die Heiligkeit einer religiösen Handlung hält den Religiösen nicht so ganz gefangen, daß er nicht die Geistesgegenwart hätte, zu kontrollieren, ob sie den Andern gefangen hält, und die von wachsamen Kooperatoren geführte Menge hat sich daran gewöhnt, die eigentliche Andacht nicht so sehr im Abnehmen des Hutes wie im Herunterschlagen des Hutes zu betätigen.« 4 Das verdichtet er zur Sentenz: »Gewissensbisse sind die sadistischen Regungen des Christentums. So hatte Er's nicht gemeint.« 5 Nicht nur den Zusammenhang der Tabus mit einem in sich selbst unsicheren religiösen Eifer hat er gewahrt, sondern auch jenen mit völkischer Ideologie, den die Sozialpsychologen erst ein Menschenalter später erhärten konnten. Wo er gleichwohl gegen die Wissenschaft, zumal die Psychologie, seine Pointen kehrt, bekämpft er nicht die Humanität von Aufklärung sondern ihre Inhumanität, das Einverständnis mit dem herrschenden Vorurteil, den Hang zum Schnüffeln, zum Einbruch in die Privatsphäre, die zumindest in ihren Anfängen die Psychoanalyse vor gesellschaftlicher Zensur retten wollte. Wissenschaft so wenig wie irgendeine isolierte Kategorie ist ihm als solche gut oder schlecht. Das Bewußtsein von der unseligen Verkettung des Ganzen hebt die Position von Kraus scharf von der einer Toleranz im schmählichen Ganzen ab, die auch es toleriert und ihrerseits, geschäftlichen Interessen hörig, den Puritanismus als dessen Reversbild ergänzt. Kraus hütet sich, gegen das herrschende Unwesen Freiheit frisch-fröhlich zu entwerfen. Der für Philosophie, trotz des unvergleichlichen Gedichts über Kant, schwerlich allzuviel Neigung hegte, hat auf eigene Faust das Prinzip der immanenten Kritik entdeckt, Hegel zufolge der allein fruchtbaren. Er akzeptiert es im Programm einer »rein dogmatische[n] Analyse eines strafrechtlichen Begriffes, die die bestehende Rechtsordnung nicht negiert, sondern interpretiert« 6 . Immanente Kritik ist bei Kraus mehr als Methode. Sie bedingt die Wahl des Gegenstands seiner Fehde mit dem bürgerlichen Kommerzialismus. Nicht bloß um der glanzvollen Antithese willen verhöhnt er die Käuflichkeit der Presse und verteidigt die der Prostitution: »So hoch das Freimädchen moralisch über dem Mitarbeiter des volkswirtschaftlichen Teiles steht, so hoch steht die Gelegenheitsmacherin über dem Herausgeber. Sie hat nie gleich diesem vorgeschützt, die Ideale hochzuhalten, aber der von der geistigen Prostitution seiner Angestellten lebende Meinungsvermittler pfuscht oft genug der Kupplerin auf ihrem eigensten Gebiet ins Handwerk. Nicht in puritanischem Entsetzen habe ich hin und wieder auf die Sexualinserate der Wiener Tagespresse hingewiesen. Unsittlich sind sie bloß im Zusammenhang mit der vorgeblich ethischen Mission der Presse, geradeso wie Inserate einer Sittlichkeitsliga in Blättern, die für die Sexualfreiheit kämpfen, in höchstem Grade anstößig wären. Und wie die moralistische Anwandlung einer Kupplerin auch nicht an und für sich, sondern nur im Zusammenhang mit ihrer Mission unsittlich ist.« 7 Der Haß von Kraus gegen die Presse ist gezeitigt von seiner Besessenheit von der Forderung nach Diskretion. Auch in dieser manifestiert sich der bürgerliche Antagonismus. Der Begriff des Privaten, den Kraus ohne Kritik ehrt, wird vom Bürgertum fetischisiert zum My home is my castle. Andererseits ist nichts, das Heiligste nicht und nicht das Privateste, sicher vorm Tausch. Nie zögert die Gesellschaft, die Geheimnisse, in deren Irrationalität ihre eigene sich verschanzt, auf dem Markt auszubieten, sobald verdrückte Lust am Verbotenen dem Kapital in der Sphäre der Publizität neue Investitionschancen gewährt. Erspart blieb Kraus noch der Schwindel, der heute mit dem Wort Kommunikation getrieben wird; das wissenschaftlich wertneutrale air für das, was einer dem anderen mitteilt, um zu verschleiern, daß zentrale Stellen, die zusammengeballte wirtschaftliche Macht und ihre administrativen Handlanger, die Masse durch Anpassung an sie dupieren. Das Wort Kommunikation täuscht vor, das quid pro quo wäre die natürliche Folge der elektrischen Erfindungen, die es bloß für den direkten oder indirekten Profit mißbraucht. In den Kommunikationen ist zum Gesetz des Geistes geworden, was Kraus als dessen Auswuchs vor einem Menschenalter wegschneiden wollte. Verhaßt ist ihm nicht der Kommerzialismus als solcher – das wäre nur einer Gesellschaftskritik möglich, deren Kraus sich enthielt – sondern der Kommerzialismus, der sich nicht einbekennt. Er ist Kritiker der Ideologie im genauen Sinn: er konfrontiert das Bewußtsein, und die Gestalt seines Ausdrucks, mit der Realität, die es verzerrt. Bis zu den großen Polemiken der reifen Zeit gegen Erpresserfiguren benutzte er die Prämisse, die Herrschaften sollten treiben, was sie mochten; nur sollten sie es zugeben. Ihn leitete die tiefe, wie immer auch unbewußte Einsicht, das Böse und Zerstörende höre, sobald es sich nicht mehr rationalisiert, auf, ganz böse zu sein, und möchte durch Selbsterkenntnis etwas wie zweite Unschuld gewinnen. Die Moralität von Kraus ist Rechthaberei, gesteigert bis zu dem Punkt, wo sie umschlägt in den Angriff aufs Recht selber; advokatorischer Gestus, der den Advokaten das Wort in der Kehle erstickt. Juristisches Denken nimmt er bis in die Kasuistik hinein so streng, daß das Unrecht des Rechts darüber sichtbar wird; dazu hat sich bei ihm das Erbteil des verfolgten und plädierenden Juden vergeistigt, und durch diese Vergeistigung hat zugleich das Rechthaben seine Mauern durchstoßen. Kraus ist der Shylock, der das eigene Herzblut hergibt, wo der Shakespearesche das Herz des Bürgen herausschneiden möchte. Er verbarg nicht, was er von der Jurisdiktion hielt: »›Der Richter verurteilte die Angeklagte zu einer Woche strengen Arrests.‹ Den Richter hat man.« 8 Mit desto größerem Bedacht fügte er in das Buch den Exkurs über den Begriff der Erpressung 9 ein, dem schwerlich Fachleute die Kompetenz juristischen Denkens bestritten. Der Verächter der offiziellen Wissenschaft qualifiziert sich als Wissenschaftler. Die Spur des Juridischen reicht tief bis in die Kraus'sche Sprachtheorie und -praxis hinein: er führt Prozesse in Sachen der Sprache gegen die Sprechenden, mit dem Pathos der Wahrheit wider die subjektive Vernunft. Archaisch die Kräfte, die dabei ihm zuwachsen. Sind alle Kategorien der Erkenntnis, einer wissenssoziologischen Hypothese zufolge, aus solchen der Rechtsfindung entsprungen, so desavouiert Kraus die Intelligenz, Verfallsform von Erkenntnis, ihrer Dummheit wegen, indem er sie zurückübersetzt in jene Rechtsverhältnisse, welche sie, zum formalen Prinzip ausgeartet, verleugnet. Dieser Prozeß reißt das geltende Recht in sich hinein. Kraus konstatiert: »Das Charakteristische der österreichischen Strafrechtspflege ist, daß sie Zweifel schafft, ob man mehr die richtige oder die falsche Anwendung des Gesetzes beklagen soll.« 10 Schließlich zog er die extreme Konsequenz, als er wahrhaft das Recht in die eigene Hand nahm und 1925 in einer Vorlesung, die keiner vergessen wird, der zugegen war, den Herrn der ›Stunde‹, Imre Bekessy, mit den Worten »hinaus mit dem Schuft aus Wien« von der Stätte seines Wirkens endgültig vertrieb. Seit Kierkegaards Kampf gegen die Christenheit hat kein Einzelner so eingreifend das Interesse des Ganzen gegen das Ganze wahrgenommen. Titel und fabula docet des Shakespeareschen ›Maß für Maß‹, das vor dem einleitenden Aufsatz ausführlich zitiert wird, sind für den immanenten Kritiker kanonisch. Als Künstler nährt ihn die Goethesche Tradition, daß eine Sache, die selber redet, unvergleichlich viel mehr Gewalt hat als hinzugefügte Meinung und Reflexion. Die Sensibilität des »Bilde Künstler, rede nicht« ist verfeinert bis zum Unbehagen am Bilden herkömmlichen Sinnes. Kraus argwöhnt noch in der sublimen ästhetischen Fiktion das schlechte Ornament. Gegenüber dem Schrecken der nackten, ohne Zusatz hingestellten Sache erniedrigt selbst das dichterische Wort sich zur Beschönigung. Für Kraus wird die ungestalte Sache zum Ziel der Gestaltung, Kunst so geschärft, daß sie sich kaum mehr erträgt. Dadurch assimiliert seine Prosa, die sich primär als ästhetisch empfand, sich der Erkenntnis. Wie diese darf sie keinen richtigen Zustand ausmalen, der notwendig die Schmach des falschen mitschleppte, aus dem er extrapoliert ward. Lieber überantwortet verzweifelte Sehnsucht sich einer Vergangenheit, deren eigenes Grauen durch Vergängnis versöhnt erscheint, als daß Kraus für den »Einbruch einer traditionslosen Horde« einträte: mit Grund hat er »zuweilen selbst die gute Sache aus Abscheu gegen ihre Verfechter im Stich gelassen« 11 . Halbe und ängstliche Apologie der Freiheit ist ihm womöglich noch verhaßter als die plane Reaktion. Eine Schauspielerin hat »vor Gericht ihr Verhalten mit den freieren Sitten der Theatermenschheit entschuldigt«. Kraus sagt gegen sie: »Ihre Unwahrhaftigkeit lag darin, daß sie zu ihrer Rechtfertigung sich erst auf eine Konvention, auf die Konvention der Freiheit, berufen zu müssen glaubte.« 12 So frei war Kraus auch der Freiheit gegenüber, daß er über dieselbe Frau von Hervay, die er vor den Leobener Richtern beschützt hatte, einen vernichtenden Aufsatz schrieb, als sie ihre Memoiren veröffentlichte. Nicht nur deshalb, weil sie darin eine bündige Zusicherung brach: die Unselige hatte zu schreiben begonnen, und vor Gedrucktem hörte die Solidarität von Kraus mit der verfolgten Schuld jäh auf. Die ethischen Deklamationen der Skribentin decouvrierten sie als artverwandt mit ihren Peinigern. Wenige Erfahrungen müssen für Kraus so bitter gewesen sein wie die, daß die Frauen, die permanenten Opfer patriarchalischer Barbarei, diese sich einverleibt haben und sie proklamieren, noch wo sie sich zur Wehr setzen: »Aber sogar die Protokolle der Mädchen – man sehe, wie lebensecht Protokolle sind – enthielten in allen erdenklichen Variationen die Erklärung: ›Ich habe keinen Schandlohn bekommen.‹« 13 Man kann erraten, wie danach die Frauenrechtlerinnen abschneiden, nämlich wie bei Frank Wedekind, mit dem Kraus befreundet war: »Und die Frauenrechtlerinnen? Anstatt für die Naturrechte des Weibes zu kämpfen, erhitzen sie sich für die Verpflichtung des Weibes zur Unnatur.« 14 Die wahrhaft emanzipierte Intelligenz von Kraus hebt einen Konflikt ins Bewußtsein, der seit der beruflichen Emanzipation der Frauen sich formierte, welche sie nur desto gründlicher als Geschlechtswesen unterdrückte. Unter den Saint-Simonisten, zwischen Bazard und Enfantin, wurde mit der Naivetät stur behaupteter Standpunkte ausgefochten, worüber erst Kraus sich erhob, indem er es als Antinomie bestimmte. Solche Zweideutigkeit des Fortschritts ist universal. Sie veranlaßt ihn dazu, manchmal nicht Milderung sondern Verschärfung von Strafgesetzen zu fordern. Die Sachverhalte, die das motivierten, begegnen stereotyp dem wieder, der mit jenem bösen Blick, in dem heute wie damals Güte sich zusammenzieht, die Gerichtsspalten der Zeitungen liest: »Vor einem galizischen Schwurgericht wird eine Frau, die ihr Kind totgeprügelt hat, von der Anklage des Mordes, beziehungsweise Totschlags freigesprochen und wegen ›Überschreitung des häuslichen Züchtigungsrechtes‹ zur Strafe des Verweises verurteilt. ›Sie Angeklagte, Sie haben Ihr Kind getötet. Daß mir so etwas nicht wieder vorkommt!‹ ... Und man erfährt nicht einmal, ob die Angeklagte für den Beweis ihrer Besserungsfähigkeit ein zweites Kind vorrätig hat.« 15 Das sind die wahren anthropologischen Invarianten, kein ewiges Menschenbild. Auch ›Volltrunkenheit‹ ist nach wie vor als mildernder Umstand bei denen beliebt, die sonst gar zu gern Exempel statuieren; Kraus mußte das erleben, nachdem er von einem antisemitischen Rüpel der Unterhaltungsbranche mißhandelt worden war 16 . Des Antisemitismus zeiht man ihn, den Juden, selbst. Verlogen trachtet die restaurative deutsche Nachkriegsgesellschaft den intransigenten Kritiker unter Berufung darauf loszuwerden. Das drastische Gegenteil steht in ›Sittlichkeit und Kriminalität‹: »Und ist nicht auch der Kretinismus, der die Parteinahme für eine Mißhandelte der ›jüdischen Solidarität‹ zuschreibt, seines Lacherfolges sicher? Ich allein könnte mit Leichtigkeit hundert ›Arier‹ – ohne Anführungszeichen sollte das dumme Wort gar nicht mehr gebraucht werden – aufzählen, die in und nach den Prozeßtagen ihrem Entsetzen über jeden Satz, der in Leoben gesprochen wurde, beinahe ekstatischen Ausdruck gegeben haben.« 17 Vielfach trifft das Buch jüdische Richter, Anwälte und Experten; aber nicht darum, weil sie Juden sind, sondern weil die von Kraus Inkriminierten aus assimilatorischem Eifer der Gesinnung jener sich gleichgeschaltet haben, für die im Deutschen der Sammelbegriff Pachulke existiert, während der Österreicher Kraus sie Kasmader taufte. Polemik, die zwischen ihren Objekten auswählte, Christen angriffe und Juden schonte, eignete damit bereits das antisemitische Kriterium eines wesenhaften Unterschieds beider Gruppen sich zu. Was Kraus den Juden nicht verzieh, gegen die er schrieb, war, daß sie den Geist an die Sphäre des zirkulierenden Kapitals zedierten; den Verrat, den sie begingen, indem sie, auf denen das Odium lastet und die insgeheim als Opfer auserkoren sind, nach dem Prinzip handelten, das als allgemeines das Unrecht gegen sie meint und auf ihre Vernichtung hinauslief. Wer diesen Aspekt des Abscheus von Kraus vor der liberalen Presse verschweigt, verfälscht ihn, damit das Bestehende, dessen Physiognomiker er war wie keiner sonst, ungestört weiter sein Geschäft verrichte. Denen, die gleichzeitig die Todesstrafe wieder einführen und die Folterknechte von Auschwitz freisprechen möchten, wäre es nur allzu willkommen, wenn sie, Antisemiten im Herzen, Kraus als einen solchen unschädlich machen könnten. In ›Sittlichkeit und Kriminalität‹ duldet er keinen Zweifel daran, warum er die Wiener jüdische Presse vor der nationalistischen und völkischen anprangert: »Das muß gegenüber dem Toben einer antisemitischen Presse ausgesprochen werden, die sonst schärferer Kontrolle nicht bedarf, weil sie – neben der jüdischen – einen geringeren Grad von Gefährlichkeit dem höheren Grad von Talentlosigkeit dankt.« 18 Nichts anderes wäre gegen ihn einzuwenden, als daß er über die Grade von Gefährlichkeit sich täuschte wie vermutlich die meisten Intellektuellen seiner Epoche. Er konnte nicht voraussehen, daß gerade das Moment des unterkitschig Apokryphen, das nicht weniger als den Streicherschen ›Stürmer‹ ein Wort wie ›Völkischer Beobachter‹ auszeichnet, am Ende der Ubiquität einer Wirkung half, deren Provinzialismus Kraus mit räumlicher Begrenzung gleichsetzte. Der Geist von Kraus, der einen Bann um sich legt, war auch seinerseits gebannt: auf Geist verhext. Nur als Bannender vermochte er inmitten des Verstrickten von dessen Bann zu lösen. Der Preis dafür war seine eigene Verstricktheit. Alles antezipierte er, ahndete jede Schandtat, die durch den Geist hindurch geschieht. Nicht jedoch konnte er den Begriff einer Welt fassen, in der der Geist schlechthin entmächtigt ist zugunsten jener Macht, an die er zuvor wenigstens sich verkaufen durfte. Das ist die Wahrheit des Wortes aus den letzten Lebensjahren von Kraus, ihm falle zu Hitler nichts ein.
Die bürgerliche Gesellschaft lehrt den Unterschied des öffentlichen und beruflichen Lebens vom privaten und verspricht dem Individuum, als der Keimzelle ihrer Wirtschaftsweise, Schutz. Die Methode von Kraus fragt, ironisch bescheiden, eigentlich nicht mehr, als wie weit die Gesellschaft, in der Praxis ihrer Strafgerichtsbarkeit, dies Prinzip anwende, dem Individuum den versprochenen Schutz gewähre und nicht vielmehr, im Namen fadenscheiniger Ideale, auf dem Sprung stehe, auf es sich zu stürzen, sobald es wirklich von der verheißenen Freiheit Gebrauch macht. Mit Scheuklappen als Brille insistiert Kraus auf dieser einen Frage. Darüber wird der gesellschaftliche Zustand insgesamt verdächtig. Die Verteidigung der privaten Freiheit des Einzelnen gewinnt paradoxen Vorrang vor der einer politischen, die er wegen ihrer Unfähigkeit, privat sich zu realisieren, als in weitem Maße ideologisch verachtet. Weil es ihm um die ganze Freiheit geht, nicht um die partikulare, nimmt er sich der partikularen der verlassensten Einzelnen an. Eingeschworenen Progressiven war er kein zuverlässiger Bundesgenosse. Bei Gelegenheit der Affäre der Prinzessin Coburg schrieb er: »Was wiegt – selbst dem Dreyfusgläubigen – das von einem Weltlamento beweinte Unrecht der ›Affäre‹ neben dem Fall Mattassich? Das Opfer des Staatsinteresses neben dem Staatsmartyrium privater Rache! Die scheinheilige Niedertracht, die aus jeder ›Maßnahme‹ gegen das unbequeme Liebespaar in die Nasen anständiger Menschen drang, hat dem Begriff ›Funktionär‹ für alle Zeiten eine penetrante Bedeutung verschafft, die unabänderlicher ist als das Gutachten einer psychiatrischen Kommission und als das Urteil eines Militärgerichts.« 19 Am Ende hielt er es eher noch mit Dollfuss, von dem er glaubte, daß er den Hitler hätte aufhalten können, als mit den Sozialdemokraten, denen er es nicht zutraute. Schlechthin unerträglich war ihm die Perspektive einer Ordnung, in der man ein schönes Mädchen mit kahlgeschorenem Kopf wegen Rassenschande durch die Straßen hetzt. Der Polemiker bezieht den Standpunkt des ritterlichen Feudalen, gehorsam der einfachsten und darum vergessenen Selbstverständlichkeit, daß einer, der in glücklicher Kindheit gut erzogen ward, die Normen guter Erziehung in der Welt respektiert, auf die jene vorbereiten soll und mit deren Normen sie doch zwangsläufig zusammenprallt. Das reifte in Kraus zur schrankenlosen männlichen Dankbarkeit für das Glück, das die Frau gewährt, das sinnliche, das den Geist in seiner Verlassenheit und Bedürftigkeit tröstet. Unausgesprochen wird das davon motiviert, daß die Freigabe des Glücks Bedingung richtigen Lebens ist; die intelligible Sphäre geht auf an der sinnlichen Erfüllung, nicht an Versagung. Solche Dankbarkeit steigert die idiosynkratische Diskretion von Kraus zum moralischen Prinzip. »Es ist ein Gefühl, an einer unaussprechlichen Schmach teilzuhaben, wenn man Tag für Tag Möglichkeiten und Chancen, Art und Intensität eines Liebesverhältnisses mit der Sachlichkeit einer politischen Diskussion erörtert sieht.« 20 Für ihn ist die schwerste Schuld, »mit der ein Mann und Arzt sein Gewissen belasten kann: die Verletzung der Verschwiegenheitspflicht gegen eine Frau« 21 . Als Gentleman möchte er im bürgerlichen Zeitalter wiedergutmachen, was die patriarchale Ordnung, gleichgültig fast welchen politischen Systems, an den Frauen frevelt. Mag ihm den Widerspruch zwischen Freiheitsbewußtsein und aristokratischer Sympathie vorrechnen, wer Teilhabe am Allerweltsgeblök mit autonomem Urteil verwechselt und es sich nicht beikommen läßt, daß ein Feudaler immer noch eher die Freiheit der eigenen Lebensführung als allgemeine Maxime wünschen kann denn ein dem Tauschprinzip verschriebener Bürger, der keinem anderen den Genuß gönnt, weil er ihn sich selbst nicht gönnt. Kraus überführt die Männer der Bestialität, die dort am abscheulichsten ist, wo sie im Namen jener Ehre agieren, die sie selber für die Frauen ersonnen haben und in der nur deren Unterdrückung ideologisch sich fortsetzt. Den Geist, der als naturbeherrschendes Prinzip an der Frau sich verging, will Kraus zur Integrität restituieren. Möchte er aber das Privatleben einer Frau vor der Öffentlichkeit beschützen, auch wenn sie es ihrerseits um der Öffentlichkeit willen führt, so ahnt er das Einverständnis von kochender Volksseele und Gewaltherrschaft, von plebiszitärem und totalitärem Prinzip. Der, dem die Richter Henker waren, zittert vor dem Schrecken, den der ›Unfug »Volksjustiz«‹ noch deren liberalstem Verteidiger einflößen müsse 22 . Er hält der Gesellschaft nicht die Moral entgegen; bloß ihre eigene. Das Medium aber, in dem sie sich überführt, ist die Dummheit. Zu deren empirischem Nachweis wird bei Kraus Kants reine praktische Vernunft, jener Sokratischen Lehre gemäß, welche Tugend und Einsicht als identisch ansieht und kulminiert im Theorem, das Sittengesetz, der kategorische Imperativ sei nichts anderes als die ihrer heteronomen Schranken ledige Vernunft an sich. An Dummheit erweist Kraus, wie wenig die Gesellschaft es vermochte, in ihren Mitgliedern den Begriff des autonomen und mündigen Individuums zu verwirklichen, den sie voraussetzt. Die Kritik des in den Entstehungsjahren des Buches noch konservativen Kraus am Liberalismus war eine an dessen Borniertheit. Dies Stichwort fällt in den großartigen Entwürfen zum ›Kapital‹, die Marx in der endgültigen Fassung, wohl als allzu philosophisch, zugunsten der strikt ökonomischen Beweisführung ausschied. Das falsche Bewußtsein des Kapitalismus verschandle die ihm mögliche Erkenntnis; freie Konkurrenz sei »eben nur die freie Entwicklung auf einer bornierten Grundlage – der Grundlage der Herrschaft des Kapitals« 23 . Kraus, der jene Notiz kaum kannte, hat von Borniertheit dort geredet, wo es wehtut: angesichts des konkreten bürgerlichen Bewußtseins, das sich wunder wie aufgeklärt dünkt. Er spießt die unreflektierte, mit dem Zustand einige Intelligenz auf. Sie widerspricht ihrem eigenen Anspruch auf Urteilsfähigkeit und Erfahrung von der Welt. Konformistisch fügt sie sich einer Gesamtverfassung, vor deren Convenus sie innehält und die sie unverdrossen wiederkäut. Hofmannsthal, dem Kraus zürnte, vermerkt im ›Buch der Freunde‹, wohl als eigenen Einfall: »Die gefährlichste Sorte von Dummheit ist ein scharfer Verstand.« 24 Das ist nicht plump wörtlich zu nehmen; logische Denkkraft und Subtilität sind unentbehrliche Momente des Geistes, und es mangelte Kraus wahrhaft nicht daran. Gleichwohl enthält das Aperçu mehr als bloß irrationalistische Rancune. Dummheit ist keine von außen zugefügte Beschädigung der Intelligenz zumal jenes Wienerischen Typus, an dem Hofmannsthal wie sein Widersacher sich ärgerten. In sie geht die verselbständigte instrumentelle Vernunft aus eigener Konsequenz über, formales Denken, das die eigene Allgemeinheit, und damit seine Verwendbarkeit für beliebige Zwecke, der Absage an die inhaltliche Bestimmung durch seine Gegenstände verdankt. Der törichte Scharfsinn verfügt über die Allgemeinheit der logischen Apparatur als einsatzbereite Spezialität. Der Fortschritt jener Intelligenz hat die Triumphe der positiven Wissenschaft, vermutlich auch die rationalen Rechtssysteme erst ermöglicht; die Scharfsinnigen besorgen nicht nur ihre Selbsterhaltung durch aggressives Rechtbehalten, sondern leisten überdies, was Marx, mit höchster Ironie, gesellschaftlich nützliche Arbeit nannte. Aber indem sie die Qualitäten subsumierend ausschalten, verkümmern ihnen die Organe von Erfahrung. Je ungestörter von Unterbrechungen ihr Denkmechanismus sich dem zu Denkenden gegenüber etabliert, desto mehr entfernt er zugleich sich von der Sache und substituiert sie naiv durch die abgespaltene fetischisierte Methode. Die an ihr bis in ihre Reaktionsweisen hinein sich orientieren, tun es ihr allmählich gleich. Sie kommen zu sich selbst als das gescheite Rindvieh, dem das Wie, der Modus, etwas herauszufinden und nach vorgegebenen Klassen der Begriffsbildung zu organisieren, jegliches Interesse an der sei's auch subjektiv vermittelten Sache verdrängt. Ihre Urteile und Ordnungen werden schließlich so irrelevant wie die angehäuften Fakten, die mit Methode gut sich vertragen. Die Beziehungslosigkeit zur Sache neutralisiert diese. Nichts geht ihr mehr auf; aus nichts vermöchte der sich selbst genügende Scharfsinn mehr zu lesen, daß, was ist, anders sein sollte. Der geistige Defekt wird zum moralischen unmittelbar; die herrschende Gemeinheit, der Gedanke und Sprache sich anbequemen, frißt deren Gehalt an, sie wirken bewußtlos mit am Geflecht des totalen Unrechts. Vom Moralisieren ist Kraus entbunden. Er kann darauf deuten, wie jegliche Perfidie als Schwachsinn anständiger, auch intelligenter Leute sich durchsetzt, Index seiner eigenen Unwahrheit. Darum die Witze; sie konfrontieren den herrschenden Geist mit seiner Dummheit so unversehens, daß ihm das Argumentieren vergeht, und er geständig wird als das, was er ist. Der Witz hält Gericht jenseits möglicher Diskussion. Verführte je einer, wie Kierkegaard, der Schutzpatron von Kraus, es wollte, zur Wahrheit, dann Kraus durch die Witze. Die großartigsten sind verstreut über den Aufsatz ›Die Kinderfreundes‹, ein Zentralstück des Buchs, geschrieben nach einem Prozeß, in dem ein Wiener Universitätsprofessor beschuldigt worden war, »in seinem photographischen Atelier zwei Knaben, Söhne zweier Advokaten, über geschlechtliche Dinge aufgeklärt, zur Onanie aufgefordert und ›unzüchtig berührt‹ zu haben« 25 . Der Essay verteidigt nicht den Angeklagten, sondern klagt die Ankläger, Nebenkläger und Experten an. Über den Kronzeugen, den einen jener Knaben, äußert sich Kraus: »Dies Kind – kein Engel ist so rein, aber auch keiner so ahnungsvoll – spricht von den Gefahren, die seiner Jugend drohen, etwa so, wie jener Possenfriedrich von dem siebenjährigen Krieg, in den er zu ziehen beschließt. Um im perversen Milieu des Prozesses zu bleiben: Diese kleinen Historiker sind wirklich rückwärts gekehrte Propheten ...« 26 Das stärkste Mittel jedoch, mit dem Kraus die Richter richtet, ist das strafende Zitat, nicht zu vergleichen landläufigen Belegen für irgendwelche Vorwürfe. Das Kapitel ›Ein österreichischer Mordprozeß‹ reiht auf vier Seiten wörtlich, kommentarlos Stellen aus der Verhandlung gegen eine wegen Totschlags Bezichtigte aneinander. Sie übertreffen jede Invektive. Sein Sensorium muß so früh wie 1906 vorausgefühlt haben, daß vorm Massiv der unmenschlichen Welt das subjektive Zeugnis wider sie versagt; nicht minder aber auch der Glaube, die Tatsachen sprächen rein gegen sich in einer Gesamtverfassung, der die Organe lebendiger Erfahrung abstarben. Kraus ist mit dem Dilemma genial fertig geworden. Seine Sprachtechnik hat einen Raum geschaffen, in dem er, ohne etwas hinzuzutun, Blindes, Intentionsloses und Chaotisches strukturiert wie ein Magnet eisernen Abfall, der in seine Nähe gerät. Ganz konnte diese Fähigkeit von Kraus, für die es kaum ein anderes Wort gibt als das peinliche ›dämonisch‹ 27 , nur ermessen, wer noch die originalen roten Hefte der Fackel las. Doch ist im Buch etwas davon übriggeblieben. Wenn heute die Scham des Wortes vor einem Entsetzen, das alles überbietet, was Kraus aus trivialen Sprachfiguren prophezeite, in literarischer Darstellung zum Verfahren der Montage sich gedrängt sieht, anstatt Unsagbares vergebens zu erzählen, so tastet das nach der Konsequenz dessen, was Kraus bereits gelang. Er ist vom Schlimmeren nicht überholt, weil er im Mäßigen das Schlimmste erkannte, und indem er es spiegelte, es enthüllte. Unterdessen hat sich das Mäßige als das Schlimmste deklariert, der Spießer als Eichmann, der Erzieher, welcher die Jugend anhärtet, als Boger. Was alle die befremdet, welche Kraus von sich abwehren möchten, nicht weil er unaktuell, sondern weil er aktuell ist, hängt mit seiner Unwiderstehlichkeit zusammen. Gleich Kafka macht er potentiell den Leser zum Schuldigen: nämlich wenn er nicht jedes Wort von Kraus gelesen hat. Denn nur die Totalität seiner Worte erzeugt den Raum, in dem er durch Schweigen redet. Wer jedoch nicht den Mut hat, in den Höllenkreis sich hineinzustürzen, der verfällt ohne Gnade dem Bann, den jener um sich verbreitet; Freiheit von Kraus kann nur der erlangen, der gewaltlos seiner Gewalt sich ausliefert. Was das ethische Mittelmaß ihm als Mitleidlosigkeit vorwirft, ist die Mitleidlosigkeit der Gesellschaft, die heute wie damals auf menschliches Verständnis dort sich herausredet, wo Menschlichkeit gebietet, daß das Verständnis aufhört. Das Moment mythischer Unwiderstehlichkeit zeitigt die Widerstände gegen Kraus so heftig wie vor dreißig Jahren, als er noch lebte; ungenierter, weil er starb. Wer mit schnöseliger Superiorität ihn kritisiert, braucht nicht mehr zu fürchten, sich in der Fackel zu lesen. Die Widerstände haben, wie stets, ihre Angriffspunkte im oeuvre. Wiederholungen beeinträchtigen ›Sittlichkeit und Kriminalität‹. Mythos und Wiederholung stehen in Konstellation, der des Zwanges von Immergleichem im Naturzusammenhang, aus dem nichts herausführt 28 . Soweit Kraus die Gesellschaft als Fortsetzung der verruchten Naturgeschichte diagnostiziert, werden ihm die Wiederholungen vom schuldhaften Gegenstand abverlangt, den unansprechbar stereotypen Situationen. Kraus hat sich darüber nicht getäuscht; er wiederholt auch das Motiv, man müsse wiederholen, solange das kritische Wort nicht abschafft, was doch das Wort allein nicht abzuschaffen vermag: »Es ist immer wieder, als ob man's zum erstenmal sagte: Die Zudringlichkeit einer Justiz, die den Verkehr der Geschlechter reglementieren möchte, hat stets noch die ärgste Unmoral gezeitigt; kriminelle Belastung des Sexualtriebs ist staatliche Vorschubleistung zu Verbrechen.« 29 Trotzdem nimmt es wunder, daß ein Schriftsteller, der in der sprachlichen Kraft der Einzelformulierung, der Prägnanz der Details, auch dem Reichtum an syntaktischen Formen von keinem seiner deutschen und österreichischen Zeitgenossen übertroffen ward, einigermaßen gleichgültig sich zu dem verhielt, was man, mit musikalischer Analogie, als die große Form der Prosa bezeichnen könnte. Zu erklären ist das allenfalls aus der Methode der immanenten Kritik und dem juridischen Habitus. Sein Ingenium entzündet sich überall dort, wo die Sprache feste Regeln kennt, die der Schmock verletzt, dem dann ganze Völkerschaften nachplappern. Noch jene Erhebungen seiner Prosa, die umschlagend bedeutenden, aber nach dem Schulverstand mit den Regeln unvereinbaren Werken beistehen, erreicht Kraus in Fühlung mit den Regeln. Dialektik ist der Äther, in dem, wie eine Galaxis geheimer Gegenbeispiele, die autonome Sprachkunst von Kraus gedieh. Große Prosaformen indessen verfügen über keinen Kanon, der mit den Normen der Formenlehre, der Grammatik und der Syntax irgend vergleichbar wäre; die Entscheidung über richtig und falsch im Bau umfangreicher Prosastücke oder gar Bücher vollzieht sich allein in den Gesetzen, die jeweils das Werk, aus immanenter Notwendigkeit, sich selbst auferlegt. Diesem Sachverhalt gegenüber hatte Kraus seinen blinden Fleck, den gleichen wie in seiner freilich erbittlichen Aversion gegen den Expressionismus, vielleicht auch in seinem Verhältnis zu Musik von emphatischem Anspruch. Wiederholt er gar, wider allen billigen Rat, Witze, so vollstreckt sich an ihm ein Verhängnis wie jenes, daß wir, Proust zufolge, nicht Taktlosigkeiten begehen, sondern daß diese darauf warten, begangen zu werden. So zudringlich sind, auf Kosten der eigenen Wirkung, Witze; Freud, der diesen wie den Fehlleistungen seine Aufmerksamkeit widmete, wäre um die Theorie nicht verlegen gewesen. In ihnen kristallisiert sich jäh die Sprache wider ihre Intention. Stets sind sie in der Sprache schon angelegt, und der Witzige ihr Exekutor. Er ruft die Sprache gegen die Intention zum Zeugen auf. Prästabilisiert, ist die Mannigfaltigkeit der Wortwitze zählbar. Darum verdoppeln sie sich so gern; verschiedenen Autoren fallen, ohne daß sie voneinander wüßten, dieselben ein. Die Zimperlichkeit, die an den Kraus'schen Wiederholungen leidet, mag sich entschädigen an der unerschöpflichen Fülle des Neuen, das ihm dazwischen einfällt. Diese Qualität – in der Musik heißt sie Gestaltenreichtum – teilt sich der großen Prosaform mit als Kunst der Verknüpfung. Am Ende eines Absatzes aus den ›Kinderfreunden‹ schreibt Kraus in Anführungszeichen: »›Eine Verurteilung zweier erwachsener Personen wegen homosexuellen Verkehrs ist zu bedauern; ein Mensch, der Knaben mißbraucht hat, die noch nicht das gesetzliche Alter erreicht haben, soll verurteilt werden.‹« Der nächste Absatz beginnt: »Aber die Väter sollen ihn nicht anzeigen.« 30 Die komische Kraft, Äquivalent eines Witzes, ist kaum rein auf die Gedankenführung zu bringen, die in der Anwendung des zuvor ausgesprochenen allgemeinen Grundsatzes auf den besonderen Fall die Allgemeinheit des Grundsatzes zum Wackeln bringt und verhöhnt. Vielmehr ist der Ort der vis comica der Hiatus. Er erweckt, mit unbewegtem Gesicht, den Schein bedächtigen Neubeginnens, während durch seine Gewalt das Vorausgegangene zusammenstürzt. Die pure Form des Hiatus ist die Pointe: eine des Vortrags. Die Anmut des Sprechers Kraus, zärtlich zu seinen Monstren, steckte in solchen Augenblicken mit Lachen an. Es waren die der Geburt der Operette aus dem Geist der Prosa; so müßten Operetten sein, so Musik in ihnen triumphieren wie seine Witze dort, wo er auf den Witz verzichtet. Insgesamt wirft das Buch Licht auf seine Beziehung zur Operette; Stücke wie das über Ankläger und Opfer im Falle Beer, oder das über den Prozeß gegen die Bordellwirtin Riehl sind fast schon Textbücher Wienerischer Offenbachiaden, denen in Wien der Budapester Import die Möglichkeit, geschrieben und aufgeführt zu werden, gestohlen hatte. Kraus errettete die abgetriebene Operette. In ihrem Unsinn, den er liebte, verklärt sich überweltlich der Unsinn der Welt, den der Unnachsichtige innerweltlich anprangerte. Ein Paradigma dessen, wie eine Operette auszusehen hätte, um der Gattung zurückzuerstatten, was der rationalisierte Betrieb des Schwachsinns ihr entzog, wäre etwa: »Ein Gericht also wird künftig die Frage zu entscheiden haben, ob ein Mädchen ›das Schandgewerbe‹ ergreifen darf! Freuen wir uns, daß die öffentliche Vertrottelung in sexuellen Dingen bis zu dieser Kristallform gediehen ist, in der sie auch der Trottel erkennt. Und daß der ›Beweis der völligen sittlichen Verkommenheit‹ erbracht werden muß. Szene in einem Kommissariat: ›Ja, was wollns denn?‹ ›Ich möchte das Schandgewerbe anmelden!‹ ›Ja, könnens denn (hochdeutsch) den Beweis der völligen sittlichen Verkommenheit erbringen?‹ (Verlegen:) ›Nein.‹ ›Nacher schauns, daß S'weiter kommen! – So a Schlampen!‹ Ein humaner Kommissär, der mit sich reden läßt, wird der Partei den Rat geben, vorerst ein wenig verbotene Prostitution zu treiben. Aber die ist doch gerade verboten? Natürlich ist sie verboten! Aber sie muß bewiesen sein, um das Recht auf ihre ›Ausübung‹ zu gewährleisten. Protektion hilft natürlich auch da, und der Beweis völliger sittlicher Verkommenheit wird manchmal als erbracht angesehen werden, wenn einer Petentin sogar nachgewiesen werden könnte, daß an ihr noch etwas zu verderben sei. Dagegen wird streng darauf gesehen werden, daß kein Fall von ›clandestiner Prostitution‹ der behördlichen Kenntnis entzogen bleibe, auch wenn er als Befähigungsnachweis für die Ausübung des Schandgewerbes gar nicht in Betracht kommen sollte. Die Erteilung des Büchls aber ist eine Art Prämie auf die Selbstanzeige wegen geheimer Prostitution.« 31 Die Stimme des lebendigen Kraus hat sich in der Prosa verewigt: sie verleiht dieser die mimische Qualität. Seine schriftstellerische Gewalt ist nah an der des Schauspielers. Das und der juridische Aspekt seines Werkes verbindet sich im forensischen. Das ungehemmte Pathos der gesprochenen Rede, jener ältere Burgtheaterstil, den Kraus gegen das sprachfremde, sinnlich anschauliche Theater der Regisseure der neuromantischen Ära verteidigte, verschwand von der Bühne nicht bloß, wie er dachte, weil es an sprachlicher Kultur gebrach, sondern auch, weil die tönende Stimme des Mimen nicht mehr trägt. Die verurteilte fand Unterschlupf im Geschriebenen, in eben jener objektivierten und durchkonstruierten Sprache, die ihrerseits das mimetische Moment beschämte und, bis zu Kraus, dessen Feind war. Vor der Deklamation jedoch bewahrte er das Pathos, indem er es herausbrach aus einem ästhetischen Schein, der zur unpathetischen Realität kontrastierte, und es der Realität zuwendete, die schon vor gar nichts mehr sich scheut und darum nur vom Pathos mit Namen gerufen werden kann, über das sie sich mokiert. Die aufsteigende Kurve des Buches fällt zusammen mit dem Fortschritt seines Pathos. Im Archaismus der rollenden Perioden und weitgebauten Hypotaxen von Kraus hallen die des Schauspielers nach. – Die Sympathie, die Kraus manchen Dialektdichtern und Komödianten vor der sogenannten hohen Literatur, und als Einspruch gegen diese, zollte, wird beseelt vom Einverständnis mit dem undomestizierten mimetischen Moment. Es ist auch die Wurzel der Kraus'schen Witze: in ihnen macht Sprache die Gesten von Sprache nach wie die Grimassen des Komikers das Gesicht des Parodierten. Die konstruktive Durchbildung der Sprache von Kraus ist, bei all ihrer Rationalität und Kraft, ihre Rückübersetzung in Gestik, in ein Medium, das älter ist als das des Urteils. Ihm gegenüber wird Argumentation leicht zur hilflosen Ausrede. Daraus wächst Kraus zu, wogegen die blökenden Weltfreunde vergebens aufmucken mit der Beteuerung, es sei altmodisch. Immanente Kritik ist bei ihm stets die Rache des Alten an dem, was daraus wurde, stellvertretend für ein Besseres, das noch nicht ist. Deswegen sind die Passagen, in denen seine Stimme donnert, so frisch wie am ersten Tag. In dem Aufsatz ›Ein Unhold‹, über Johann Feigl, Hofrat und Vizepräsidenten des Wiener Landesgerichts, schließt ein Absatz: »Wenn Herr Feigl einst sein tatenreiches Leben endet, das etwa zehntausend Jahre, die andere im Kerker verbrachten, umfaßt hat, so mag sich ihm in schwerer Stunde, vor der Entscheidung einer höhern Instanz, die Beichte seiner schwersten Sünde entringen: ›Ich habe mein ganzes Leben hindurch das österreichische Strafgesetz angewendet!‹« 32
Von umständlichen Beweisführungen für die Aktualität von ›Sittlichkeit und Kriminalität‹ dispensieren die Schlußabsätze eines Artikels »Alle jagen ›gute Onkels‹«, die 1964 im Lokalblatt einer großen Tageszeitung standen. In ihnen kehren, gewiß ohne daß der Reporter im Verdacht stünde, Kraus gelesen und plagiiert zu haben, wörtlich und bar aller Ironie Motive wieder, welche dieser in den Operettenpartien des Aufsatzes über die Kinderfreunde polemisch erfand: »Wie beschlagen die Kinder geworden sind, hat vor kurzem ein zwölfjähriger Junge bewiesen. Nachdem er mit Freunden das Jugendkino im Zoo besucht hatte, schlenderte er noch durch den Tierpark. In einer Ecke des Affenhauses entblößte sich vor ihm plötzlich ein Mann, der sich dem Kind schon vorher genähert hatte. Als der Fremde den Zwölfjährigen zu unsittlichen Handlungen bewegen wollte, antwortete ihm der Bub: ›Sie sind wohl ein Sittlichkeitsverbrecher!‹ Daraufhin suchte der Unhold eilig das Weite. Die Eltern des Jungen informierten die Kriminalpolizei; auf einer Karte des Verbrecheralbums im Polizeipräsidium erkannte das Kind den Täter wieder, der einschlägig vorbestraft ist. Er wurde noch am gleichen Tag an seinem Arbeitsplatz festgenommen und legte ein Geständnis ab. – In diesen Tagen ist ein 35 Jahre alter Schriftsetzer im Hauptbahnhof in eine Falle gegangen, die ihm ein erst zwölf Jahre alter Schüler gestellt hatte. Der Homosexuelle hatte sich im Aktualitätenkino neben den Jungen gesetzt und ihm ein Eis gegeben. Aus Furcht vor dem Fremden nahm das Kind das Geschenk an, warf es aber gleich unauffällig unter seinen Sitz. Später vereinbarte der Schüler auf Drängen des Mannes für den nächsten Morgen einen Treffpunkt. Dort nahmen ihn Kriminalisten in Empfang.« Angesichts der Gefahr, zu der sich ihre präsumtiven Opfer ausgewachsen haben, wird für die, welche die Sprache des nach-Hitlerschen Deutschland, fortgeschritten über die von Kraus gegeißelte, zu Sittenstrolchen erklärte, nichts übrigbleiben, als sich zu organisieren und die Gefahr für ihre Opfer wiederum zu vermehren, eine Schraube ohne Ende. Über die unfreiwillig nachgedichteten Zitate von Zitaten der Fackel hinaus sind nicht wenige Sätze des Buches auf Ereignisse der jüngsten Deutschland anzuwenden. 1905 hat Kraus den Fall Vera Brühne resümiert: »Und siehe, der Mangel an Beweisen dafür, daß Frau Klein gemordet hat, ward reichlich wettgemacht durch den Überfluß an Beweisen für ihren unsittlichen Lebenswandel.« 33 Unterdessen sind allerdings die Fachmenschen weitsichtiger geworden. Sind sie schon vom menschlichen Recht der Paragraphen nicht mehr durchdrungen, so haben sie es desto besser gelernt, die von den aufs Privatleben gemünzten Paragraphen Anbetroffenen aus dem öffentlichen auszuschalten; im Syndrom jener totalen Lust des verwalteten Deutschland, durch formalrechtliche Reflexionen und Geschäftsordnungsdenken alles dem Inhalt nach Bessere fernzuhalten, ohne dabei mit den abstrakten Spielregeln der Demokratie in Konflikte zu geraten, die ihrerseits juristisch zu greifen wären. »Ob das neue Strafgesetz solche Siege unmöglich machen wird?« 34 Fußnoten
1 Karl Kraus, Sittlichkeit und Kriminalität, München, Wien o.J. [1963] (Elfter Band der Werke), S. 66.
2 a.a.O.
3 a.a.O., S. 173.
4 a.a.O., S. 223f.
5 a.a.O., S. 249.
6 a.a.O., S. 52, Fußnote.
7 a.a.O., S. 33.
8 a.a.O., S. 337.
9 Vgl. a.a.O., S. 52ff.
10 a.a.O., S. 71.
11 a.a.O., S. 12.
12 a.a.O., S. 157.
13 a.a.O., S. 241.
14 a.a.O., S. 252.
15 a.a.O., S. 328f.
16 Vgl. a.a.O., S. 211ff.
17 a.a.O., S. 118.
18 a.a.O., S. 116f.
19 a.a.O., S. 86f.
20 a. a, O., S. 140.
21 a.a.O., S.173.
22 Vgl. a.a.O., S. 41.
23 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf), 1857–1858, Berlin 1953, S. 545.
24 Hugo von Hofmannsthal, Aufzeichnungen, Frankfurt a.M. 1959, S. 44.
25 Kraus, a.a.O., S. 164, Fußnote.
26 a.a.O., S. 178.
27 Vgl. dazu Walter Benjamin, Schriften, Frankfurt a.M. 1955, Bd. 2, S. 159ff. Das zweite Kapitel der Kraus-Arbeit ist ›Dämon‹ betitelt.
28 Vgl. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947, S. 23 [GS 3, s. S. 28f.].
29 Kraus, a.a.O., S. 180.
30 a.a.O., S. 183.
31 a.a.O., S. 262f.
32 a.a.O., S. 45.
33 a.a.O., S. 160.
34 a.a.O., S. 315.
Der wunderliche Realist Über Siegfried Kracauer In den letzten Jahren wurden in Deutschland eine Reihe von Schriften Siegfried Kracauers wieder zugänglich. Aber das Bild des Autors ist der deutschen Öffentlichkeit aus ihnen, den vielverzweigten, bislang nicht so deutlich geworden, wie es gebührte. Einen Anfang zu machen und einiges zur Figur Kracauers zu entwerfen, mag ich qualifiziert sein aus dem einfachsten Grunde: wir sind seit meiner Jugend miteinander befreundet. Ich war Sekundaner, als ich ihn gegen Ende des ersten Weltkrieges kennenlernte. Eine Freundin meiner Eltern, Rosie Stern, hatte uns zusammen eingeladen, Studienrätin am Philanthropin, zu dessen Lehrkörper Kracauers Onkel gehörte, der Historiograph der Frankfurter Juden. Wie es wohl die Absicht unserer Gastgeberin war, stellte zwischen uns intensiver Kontakt sich her. Aus der Erinnerung an jene Zeit, im Bewußtsein der Mängel einer solchen Erkenntnisquelle, möchte ich etwas wie die objektive Idee von Kracauers geistigem Wesen zu skizzieren suchen, geleitet von seiner Möglichkeit eher als dem in handfester Leistung Verwirklichten: Kracauer selbst pointierte sich, vor Dezennien, gegen den Typus, welchen er den des werkhaften Menschen nannte. Über Jahre hindurch las er mit mir, regelmäßig Samstag nachmittags, die Kritik der reinen Vernunft. Nicht im leisesten übertreibe ich, wenn ich sage, daß ich dieser Lektüre mehr verdanke als meinen akademischen Lehrern. Pädagogisch ausnehmend begabt, hat er mir Kant zum Sprechen gebracht. Von Anbeginn erfuhr ich, unter seiner Anleitung, das Werk nicht als eine bloße Erkenntnistheorie, als Analyse der Bedingungen wissenschaftlich gültiger Urteile, sondern als eine Art chiffrierter Schrift, aus der der geschichtliche Stand des Geistes herauszulesen war, mit der vagen Erwartung, daß dabei etwas von der Wahrheit selber zu gewinnen sei. Ließ ich später, im Verhältnis zu den überlieferten philosophischen Texten, weniger von deren Einheit und systematischer Einstimmigkeit mir imponieren, als daß ich mich um das Spiel der unter der Oberfläche jeder geschlossenen Lehrmeinung aneinander sich abarbeitenden Kräfte bemühte, die kodifizierten Philosophien jeweils als Kraftfelder betrachtete, so hat dazu gewiß Kracauer mich angeregt. Er vergegenwärtigte mir die Vernunftkritik nicht einfach als System des transzendentalen Idealismus. Vielmehr zeigte er mir, wie objektiv-ontologische und subjektiv-idealistische Momente darin streiten; wie die beredtesten Stellen des Werkes die Wunden sind, welche der Konflikt in der Lehre hinterließ. Unter einem gewissen Aspekt sind die Brüche einer Philosophie wesentlicher denn die Kontinuität des Sinnzusammenhangs, welchen die meisten von sich aus betonen. Dies Interesse, an dem Kracauer um 1920 partizipierte, ging unter der Parole Ontologie gegen den erkenntniskritischen, systemwütigen Subjektivismus; zwischen eigentlich Ontologischem und Spuren von naivem Realismus bei Kant wurde dabei noch nicht recht unterschieden. Ohne daß ich mir davon hätte volle Rechenschaft geben können, gewahrte ich durch Kracauer erstmals das Ausdrucksmoment der Philosophie: sagen, was einem aufgeht. Das diesem Moment konträre der Stringenz, des objektiven Zwangs im Gedanken, trat dahinter zurück. Wie ich erst im philosophischen Betrieb der Universität darauf stieß, so dünkte es mir lange genug akademisch, bis ich herausfand, daß unter den Spannungen, an denen Philosophie ihr Leben hat, die zwischen Ausdruck und Verbindlichkeit vielleicht die zentrale ist. Kracauer bezeichnete sich gern als alogischen Menschen. Ich weiß noch, wie sehr mich solche Paradoxie an einem Philosophierenden, mit Begriff, Urteil und Schluß Operierenden beeindruckte. Was aber bei ihm philosophisch zum Ausdruck drängte, war fast unbegrenzte Leidensfähigkeit: Ausdruck und Leiden sind miteinander verschwistert. Sein Verhältnis zur Wahrheit war, daß Leiden unverstellt, ungemildert in den Gedanken einging, der es sonst verflüchtigt; auch in den Gedanken der Überlieferung entdeckte Leiden sich wieder. Das Wort Leiden drang bis in den Titel einer der ersten von Kracauers Abhandlungen. Mir schien er, obschon keineswegs sentimental, ein Mensch ohne Haut; so wie wenn alles Auswendige sein schutzloses Inneres ereilte; wie wenn er dessen nicht anders sich erwehrt hätte, als indem er seinem Preisgegebensein zum Wort verhalf. Er hatte es, aus mehr als einem Grund, in seiner Kindheit schwer gehabt; dem Schüler der Klinger-Oberrealschule wurde, recht ungewöhnlich in der Handelsstadt Frankfurt, auch antisemitisches Unrecht zugefügt, und über seinem eigenen Milieu lagerte, trotz human gelehrter Tradition, etwas wie Unfreude; sein späterer Widerwille gegen den Brotberuf des Architekten, den er hatte ergreifen müssen, stammte wohl daher. Im Rückblick will es mir scheinen, als wäre in Kracauers häuslicher Atmosphäre, bei aller Freundlichkeit, die man mir bewies, längst das Unheil antezipiert worden, das seiner Mutter und deren Schwester, die auf ihn Einfluß auszuüben schien, noch im höchsten Alter widerfuhr. Genügen mag, daß er, seiner eigenen Erzählung zufolge, in trostloser Parodie der roten Büchlein, in welche die Lehrer gern Zensuren eintrugen, eines führte, das Noten über seine Mitschüler enthielt, danach, wie sie sich zu ihm benahmen. Vieles bei ihm war reaktiv; Philosophie nicht zuletzt ein Medium der Selbstbehauptung. Verbindungslinien laufen von da zum antisystematischen Zug seines Denkens und zu seiner Aversion gegen Idealismus im weitesten Verstande, die ihn sein Leben lang nicht losließ. Idealismus war ihm verklärendes Denken, dem Diktum Georg Simmels gemäß, es sei erstaunlich, wie wenig man der Philosophie der Menschheit ihre Leiden anmerke. Dem, der an der Universität nicht Philosophie als Hauptfach studiert hatte, blieb die Gewalt ihrer großen Konstruktionen, die so gern in Lobpreisung ausarten, fremd, Hegel vor allem. Kracauers Arbeit wurde dadurch so weit geprägt, daß Benjamin ihn einmal, um 1923, einen Feind der Philosophie nannte. Etwas von liebhaberhaftem Nachdenken auf eigene Faust hat sein oeuvre begleitet, ebenso wie eine gewisse Lässigkeit die Selbstkritik dämpfte zugunsten verspielten Vergnügens am hübschen Einfall. Freilich, Gedanken, welche vor der Gefahr des Irrtums sich allzu sehr absichern, sind ohnehin verloren, und die Risiken, die Kracauer lief, entbehren darum nicht der verschlagenen Vorsicht; einmal hat er einem Traktat als Motto einen Satz Nietzsches vorangestellt des Inhalts, ein Gedanke, der nicht gefährlich ist, sei nicht wert, gedacht zu werden; nur wird das Opfer solcher Gefahren häufiger der Gedanke selbst als dessen Objekt. Andererseits verlieh Kracauers Autodidaktentum ihm einige Unabhängigkeit von der eingeschliffenen Methode. Erspart blieb ihm das Verhängnis professioneller Philosophie, als Branche, als Spezialwissenschaft jenseits der Spezialwissenschaften sich zu etablieren; so hat er von der Demarkationslinie zwischen Philosophie und Soziologie nie sich erschrecken lassen. Das Medium seines Denkens war Erfahrung. Nicht die der empiristischen und positivistischen Schulen, welche Erfahrung selbst auf ihre allgemeinen Prinzipien abdestillieren, Methode daraus machen. Er folgte geistiger Erfahrung als einem Individuellen, entschlossen, nur das zu denken, was er zu füllen vermochte, was ihm selber an Menschen und Dingen sich konkretisiert hatte. Die Tendenz zur Verinhaltlichung des Denkens gegenüber dem in seiner Jugend noch unerschütterten neukantischen Formalismus war dadurch gesetzt. Er knüpfte an Georg Simmel und Max Scheler an, welche als erste, wider die offizielle Arbeitsteilung, das philosophische mit einem gesellschaftlichen Interesse verbanden, das seit Hegels Tod zumindest in der approbierten Philosophie in Mißkredit geraten war. Beide hat er auch privat gut gekannt. Simmel, über den er eine Studie verfaßte, riet ihm, ganz zur Philosophie überzugehen. Nicht nur schulte er an ihm die Fähigkeit, spezifische, sachhaltige Phänomene auf das zu interpretieren, was, nach jener Konzeption, an allgemeinen Strukturen in ihnen erscheint. Er war ihm darüber hinaus in einer Attitude von Denken und Darstellung verpflichtet, welche mit verweilender Sorgfalt ein Glied ans andere fügt, selbst dort, wo die Bewegung des Gedankens vieler solcher Zwischenglieder eintraten, wo das Tempo sich straffen könnte: Denken mit dem Bleistift in der Hand. Dies Moment von Bedächtigkeit hat Kracauer später, während seiner Tätigkeit als Redakteur, vorm Journalismus geschützt; schwer fiel ihm, das Umständliche dessen loszuwerden, der stets wieder alles, auch das Bekannte, für sich finden muß, als wäre es frisch entdeckt. Die Wirkung Simmels auf ihn war wohl eher die des Denkgestus als Wahlverwandtschaft mit der irrationalistischen Lebensphilosophie. In Scheler dann begegnete ihm die Phänomenologie, früher als die Husserlsche. Sein Buch ›Soziologie als Wissenschaft‹ (1922) bemüht sich deutlich, das materialsoziologische Interesse mit erkenntnistheoretischen Reflexionen zu verbinden, die auf der phänomenologischen Methode basieren. Diese kam seiner spezifischen Begabung entgegen. So wenig der Reifende mit seinem Metier, der Architektur, zu tun haben mochte, der Primat des Optischen, den diese verlangt, blieb, vergeistigt, ihm erhalten. Seine Art Intellektualität hat nichts vom hochtrabenden Intuitionismus, viel vom nüchternen Sehen. Er denkt mit dem fast hilflos erstaunten, jäh dann aufleuchtenden Auge. Mit solchem Blick mögen wohl Unterdrückte ihres Leidens Herr werden. In einem nur schwer zu treffenden Sinn war sein Denken eigentlich immer mehr Anschauung als Denken, eigensinnig bestrebt, nichts von dem durch Erklärung sich abmarkten zu lassen, was die harten Dinge im Aufprall ihm eingeprägt hatten. Sein Verdacht gegen die Spekulation nährte sich nicht zuletzt an seinem Naturell, das um so spröder war gegen die Illusion, weil es diese mit soviel Mühe sich abgewöhnt hatte. Das Programm der Wesensschau, zumal die sogenannte Bildchen-Phänomenologie, schien dem schmerzlich ausdauernden Blick, der sich nicht abweisen läßt, angemessen, wie wenig auch im übrigen Kracauers skeptischer Zug den Schelerschen Anspruch billigen mochte, ein schlechthin und objektiv Gültiges unmittelbar, reflexionslos zu ergreifen. Die Phänomenologie jener Zeit enthielt noch ganz andere Potentiale als die, welche nach Scheler dominierend aus ihr hervortraten. Sie war gleichsam einem neu heraufkommenden Intellektuellentypus und seinen Nöten auf den Leib geschrieben. Das Stichwort Wesensschau bot sich als Heilmittel dar für die anwachsende Unfähigkeit des erfahrenden Bewußtseins, die komplexe und ideologisch immer dichter übersponnene gesellschaftliche Realität zu verstehen und zu durchdringen. Deren Physiognomik okkupierte den Platz der in Mißkredit geratenen Theorie. Keineswegs war sie einzig Surrogat für diese; sie lehrte das Bewußtsein, das sich zu assimilieren, was dem, der von oben her denkt, leicht entschlüpft, und doch nicht mit stumpfen Tatsachen sich abspeisen zu lassen. Phänomenologie taugte für solche, die weder von Ideologien verblendet werden mochten, noch von der Fassade dessen, was bloß konstatierbar ist. Derlei Innervationen sind in Kracauer so fruchtbar geworden wie nur in wenigen anderen. Sein zentrales und darum als solches bei ihm kaum je thematisches Thema ist die Inkommensurabilität, wie sie die Philosophie als Verhältnis von Idee und Existenz perennierend beschäftigt. In dem Soziologiebuch meldet es sich darin, daß von den obersten abstrakten Bestimmungen, zu denen jene Disziplin sich erhebt, nicht bruchlos, kontinuierlich zur Empirie zurückzukehren sei, nachdem einmal das bestimmte Seiende ausgeschieden ward. In all seinen Arbeiten erinnert Kracauer daran, daß Denken, rückblickend, das nicht vergessen dürfe, wessen es sich, um Gedanke zu werden, notwendig entledigt habe. Dies Motiv ist materialistisch; es führte Kracauer, fast gegen seinen Willen, zur Kritik der Gesellschaft, deren Geist solches Vergessen angelegentlich besorgt. Zugleich indessen fährt der Widerwille gegen den rückhaltlosen Gedanken auch der materialistischen Konsequenz in die Parade. Allemal trägt das rechte Maß seine Strafe in sich, den Moderantismus. In den politischen Berliner Jahren hat Kracauer sich einmal über sich als Derrièregarde der Avantgarde mokiert. Zum Bruch mit dieser kam es so wenig wie zum Einverständnis. Ich erinnere mich an ein etwas früheres Gespräch von großer Tragweite zwischen uns, in dem Kracauer, wider mich, den Begriff der Solidarität nicht hoch stellen wollte. Aber die pure Individualität, in der er sich zu verstocken schien, durchschaute virtuell sich in ihrer Selbstreflexion. Der Philosophie ausweichend, wird das Existentielle sich zur Clownerie, gar nicht soviel anders als Brechts Exzentrikvers: In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen. Wie Kracauers Selbstverständnis des Individuellen aussah, projizierte er auf Chaplin: er sei ein Loch. Was da die Stelle von Existenz eroberte, war der Privatmann als imago, der Sokratische Sonderling als Ideenträger, ein Ärgernis nach den Kriterien des herrschend Allgemeinen. Seinen parti pris fürs Unauflösliche – Konstante inmitten einer höchst wechselvollen Entwicklung – definierte Kracauer gelegentlich als Abneigung gegen das Hundertprozentige. Das ist aber keine andere als die gegen emphatische Theorie: diese muß, in der Interpretation ihrer Gegenstände, bis zum Äußersten gehen, wenn sie nicht ihrer eigenen Idee widerstreiten will. Zäh beharrte Kracauer demgegenüber auf einem Moment, das dem deutschen Geist, fast gleichgültig welcher Richtung, stets wieder im Begriff verdampft. Freilich hat er damit der Aufgabe sich versagt, an die sein Bewußtsein von der Nichtidentität der Sache mit ihrem Begriff dicht ihn heranführte: den Gedanken aus dem ihm Widerspenstigen zu extrapolieren, das Allgemeine aus dem Extrem der Besonderung. Dialektisches Denken war seinem Naturell nie gemäß. Er beschied sich bei genauer Fixierung des Besonderen zugunsten seines Gebrauchs als Exempel für allgemeine Sachverhalte. Das Bedürfnis nach strikter Vermittlung in der Sache selbst, nach dem Aufweis des Wesenhaften inmitten der innersten Zelle von Besonderung, war kaum das seine. Er hielt sich darin konservativ an die Umfangslogik. Die Idee geistiger Atomzertrümmerung, den unwiderruflichen Bruch mit der Erscheinung, wiese er wohl als spekulativ von sich, schlüge eigensinnig sich auf die Seite Sancho Pansas. Im Zeichen ihrer Undurchdringlichkeit läßt sein Gedanke die Realität, an die er erinnert und die er durchdringen sollte, stehen. Von da bietet sich ein Übergang zu ihrer Rechtfertigung als der des Unabänderlichen an. Dem entspricht, daß die Inthronisation einer sei's noch so queren individuellen Erfahrung, die bei sich selber zu Hause ist, gesellschaftlich akzeptabel bleibt. Das principium individuationis, wie sehr es sich auch in Opposition zur Gesellschaft fühlt, ist deren eigenes. Der Gedanke, der zögert, über seine idiosynkratische Reaktionsform hinauszuschießen, bindet damit sich auch an ein Zufälliges und verklärt es, um nur ja nicht das große Allgemeine zu verklären. Die spontane Reaktion des Individuums ist aber kein Letztes und darum auch nicht der Garant verbindlicher Erkenntnis. Sogar vermeintlich extrem individuelle Reaktionsweisen sind vermittelt durch die Objektivität, auf die sie ansprechen, und müßten dieser Vermittlung um ihres eigenen Wahrheitsgehalts willen innewerden. So motiviert das Desinteressement an allem bloß Gelernten ist, als das an der Äußerlichkeit des Wissenschaftsbetriebes, so sehr bedarf umgekehrt der Gedanke der Entäußerung dem Erfahrungsumkreis gegenüber, in dem er sich bildet. Kracauers soupçon gegen die Theorie als gegen den Übermut einer Vernunft, welche der eigenen Naturwüchsigkeit vergißt, hat Grund genug. Nicht der geringfügigste ist, wie sehr Theorie in ihrer Reinheit zum Herrschaftsmittel wurde. Der schlechte Bann, den Gedanken ausüben – auch ihr Erfolg auf dem Markt –, wird von ihrer konsequenzlogischen, systematischen Artikulation mitbewirkt. Der Gedanke jedoch, der als Antwort darauf der theoretischen Verbindlichkeit sich entzieht, die doch jeder Gedanke an sich anmeldet, wird nicht nur in der Realität ohnmächtig; das allein wäre kein Einwand. Aber er büßt auch in sich an Kraft und Evidenz ein. Der Widerstreit von Erfahrung und Theorie ist nicht nach der einen oder anderen Seite bündig zu entscheiden, sondern wahrhaft eine Antinomie, so auszutragen, daß die konträren Elemente wechselseitig sich durchdringen. Auf die Phänomenologie ließ Kracauer so wenig, sich vereidigen wie auf irgendeine andere geistige Position; Simmel am treuesten in einer Art philosophischer Treulosigkeit, der überwachen Angst gleichsam vor intellektuellen Verpflichtungen, als wären es Schulden. Die reaktive Verhaltensweise Kracauers sprang gern ab, wo er sich gebunden fühlte. Die vielen Kritiken, die er in seinem Leben schrieb und unter denen es an schneidenden nicht fehlt, sagen fast alle von Momenten seines Eigenen sich los, oder wenigstens von Eindrücken, die ihn überwältigten. Mit einer Hegelschen Wendung wäre deshalb wohl gegen ihn einzuwenden, es mangele ihm, bei aller Aufgeschlossenheit und gerade um deren Hartnäckigkeit willen, an Freiheit zum Objekt. In dem Blick, der an die Sache sich festsaugt, ist bei Kracauer, anstelle der Theorie, immer schon er selber da. Das Ausdrucksmoment gewinnt Übergewicht über die Sache, der die Erfahrung gilt. Während dies Denken vorm Denken scheut, gelangt es selten zur Selbstvergessenheit. Das Subjekt, das seine primäre Erfahrung als Eigentum hütet, wird leicht mit dem Spruch anch' io sono pittore vors Erfahrene sich stellen. Immer wieder warf er gegen andere Widerhaken aus; auch gegen Scheler, über den er trotz der nahen persönlichen Beziehung einen Aufsatz in der Frankfurter Zeitung publizierte, der die Willkür der von Scheler lancierten Ewigkeitswerte, und damit ihr Ideologisches, brüsk und aufrichtig beim Namen nannte. Nicht etwa predigt Kracauer das Individuum als Norm oder Endzweck; dazu reagiert er zu gesellschaftlich. Aber sein Denken beißt darin sich fest, daß nicht gedacht werden könne, was zu denken wäre; erkürt dies Negative als Substanz. Das, nicht eigentlich theologisches Bedürfnis, fesselte ihn an Kierkegaard und die Existenzphilosophie, der er in Abhandlungen wie der ungedruckten über den Detektivroman – das erste Kapitel daraus steht jetzt im ›Ornament der Masse‹ – sich näherte. Längst vor Heidegger und Jaspers hat er ein existentialistisches Werk entworfen, so wenig jedoch es vollendet, wie einige Jahre darauf eines über den Begriff des Menschen bei Marx. Kein Bonmot ist es, sondern simple Feststellung, es rechne zu Kracauers erheblichsten Leistungen, daß er jene anspruchsvollen Manuskripte liegen ließ, obwohl seine Kraft ihnen gewachsen gewesen wäre. Seine insistente Scheu, der Theorie anderer oder der eigenen botmäßig zu werden, wendete er produktiv. Der vom Inkommensurablen Besessene fand sich nicht bereit, gegen sein eigenes Motiv zu freveln, indem er Inkommensurabilität zur Philosophie ausgewalzt hätte. Scharfsinnig erkannte er, daß die Marxische Idee des Menschen, mag immer sie dessen Doktrin gespeist haben, zu einem Statischen herabgewürdigt, der Tenor seiner Dialektik verfehlt werde, wenn man sie positiv im Menschenwesen fundiert, anstatt sie kritisch an den von Menschen verschandelten und durch Menschen zu ändernden Verhältnissen aufgehen zu lassen. Daß Kracauer seine existentialistischen Erwägungen so wenig wie die gesellschaftlichen als solche exponierte, sondern nur indirekt, am liebsten in der Darstellung von apokryphen Phänomenen, die ihm zu geschichtsphilosophischen Allegorien wurden wie der Detektivroman, war mehr als literarische Laune. Seinem material gerichteten Denken mochte unbewußt von Anbeginn vorschweben, daß die sogenannten großen geistigen Gehalte, Ideen und ontologischen Strukturen nicht für sich, jenseits der Stoffschichten und unabhängig von ihnen sind, sondern unablöslich mit diesen verwachsen; das hat ihn dann zur Rezeption Walter Benjamins befähigt. Gegen Martin Buber, in dem ihm der Existentialismus leibhaftig entgegentrat, richtete er eine ebenfalls im ›Ornament‹ neu aufgelegte, höchst lesenswerte Polemik, in der er das restaurative Wesen der Bibelübersetzung identifizierte, eines Prototyps für den Jargon der Eigentlichkeit von heutzutage. Die Polemik wird getragen von der Einsicht, daß Theologie nicht sich wiederherstellen läßt aus dem bloßen Willen, weil es gut wäre, eine zu haben; das kettete Theologie selber an das Innermenschliche, jenseits dessen sie sich behauptet. Nach dem Tenor solcher Kritik war die energische Wendung Kracauers zur Soziologie kein Bruch mit seiner philosophischen Absicht sondern deren Konsequenz. Je blinder er an die Stoffe sich verlor, welche seine Erfahrung ihm zutrug, desto fruchtbarer das Ergebnis. So hat er den Film als soziale Tatsache recht eigentlich entdeckt. Nicht fragte er unmittelbar den Wirkungen nach; sein flair mochte ihn davor warnen, diese Wirkungen dingfest zu machen. Sie sind kaum auf einzelne Kinobesuche, vielleicht nicht einmal auf eine Vielfalt zu reduzieren, sondern nur auf die Totalität der Reize, welche im Film, jedenfalls vor dem Fernsehen, am prononciertesten waren. Kracauer hat den Film selber als Ideologie dechiffriert. Die unausgesprochene Hypothese wäre nach den Regeln der mittlerweile technisch hochentwickelten empirischen Sozialforschung anstößig, behielt aber bis heute ihre volle Plausibilität: daß nämlich, wenn ein von Massen begehrtes und konsumiertes Medium eine in sich einstimmige, fest zusammengebackene Ideologie übermittelt, diese Ideologie vermutlich ebenso den Bedürfnissen der Kunden sich anpaßt, wie sie diese umgekehrt zunehmend modelt. Die Entblätterung der Filmideologie war ihm soviel wie die Phänomenologie einer neu sich bildenden Stufe des objektiven Geistes. Die Suite ›Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino‹, die in der Frankfurter Zeitung großes Aufsehen erregte, hat diese Verfahrungsweise erstmals demonstriert. Dabei war das Interesse Kracauers an der Massenpsychologie des Films niemals bloß kritisch. Er hat in sich selbst etwas von der naiven Sehlust des Kinobesuchers; noch in den kleinen Ladenmädchen, die ihn belustigen, trifft er ein Stück seiner eigenen Reaktionsform. Nicht zuletzt darum wurde sein Verhältnis zu den Massenmedien nie so schroff, wie es seine Reflexion auf deren Wirkung hätte erwarten lassen. Seine Hinneigung zum Unteren, von der hohen Kultur Ausgeschlossenen, in der er sich mit Ernst Bloch verstand, ließ ihn dort noch über Jahrmarkt und Drehorgel sich freuen, wo längst industrielle Großplanung jene verschluckt hatte. Im Caligaribuch werden Filmhandlungen seriös, ohne Wimperzucken referiert; jüngst in der Filmtheorie von Greueln wie der sichtbaren Genese eines Musikstücks im Komponisten, dem Helden, erzählt, als waltete dabei so etwas wie die technische Vernunft des Mediums. Der kommerzielle Film, dem Kracauer zuleibe rückte, profitiert unversehens von seiner Toleranz; vorm Intoleranten – dem experimentellen Film – zeigt jene zuweilen Grenzen. Meldet der strikte soziologische Empirismus gegen die asystematische Erfahrung, die Kracauers Soziologie aufbietet, an, der Zusammenhang zwischen jenem angeblich objektiven Geist und dem tatsächlichen Bewußtsein der Massen, das in ihm sich niederschlagen solle, sei nicht bewiesen, so ist dem Einwand etwas zu konzedieren. So verhökert die sogenannte Boulevardpresse in den meisten Ländern der Erde neben ihren Sensationen rechtsextreme politische Konterbande, ohne daß das in den angelsächsischen Ländern die Millionen von Lesern gar zu sehr beeinflußt hätte. Indessen sind solche Einwände durchweg fast verschworen mit dem Film als Ware, und insgesamt dem, was sich durch die Kennmarke Massenmedien salviert. Diese werden dadurch entlastet, daß man nicht streng beweisen könne, was für Unheil sie anrichten. Die Analyse des Gebotenen selbst ergibt zumindest, daß sie anderes als Unheil schwer anrichten könnten. Ratsamer wäre der Versuch, eben die Analyse der Reize, die Kracauer inaugurierte und für die heute der Name content analysis sich eingebürgert hat, über die ursprüngliche These von der ideologischen Wunscherfüllung hinaus zu verfeinern, als einem Studium von Wirkungen nachzuhängen, das nur allzu leicht den konkreten Inhalt des Einwirkenden, das Verhältnis zur dargebotenen Ideologie versäumt. Kracauer steht zum soziologischen Empirismus ambivalent. Einerseits sympathisiert er mit ihm, im Sinne seines Reservats gegen soziale Theorie; andererseits hat er, nach dem Maß seiner Vorstellung von Erfahrung, gegen die festnagelnde, quantifizierende Methode nachdrückliche Vorbehalte. Als er schon lange Jahre in Amerika gelebt hatte, exponierte er sich durch eine scharfsinnige theoretische Verteidigung der qualitativen Analyse. Sie gewinnt ihren rechten Stellenwert erst, wenn man weiß, wie sehr sie den fast universalen Usus der institutionellen Soziologie drüben herausfordert. Kracauers erfahrendes Verhalten blieb das des Fremden, in den Geist transponiert. Er denkt, als hätte er das Kindheitstrauma problematischer Zugehörigkeit umgewandelt in eine Sehweise, der alles sich darstellt wie auf der Reise, auch das grau Gewohnte als buntes Objekt des Staunens. Solche Unabhängigkeit von der konventionellen Schale wurde durch den Brechtschen Terminus Verfremdung mittlerweile selber konventionalisiert; bei Kracauer war sie originär. Er kostümiert sich geistig gleichwie mit Sportanzug und Kappe. Im Untertitel des Angestelltenbuchs, ›Aus dem neuesten Deutschland‹, klingt das an. Gemeint ist Humanität nicht durch Identifikation, sondern durch deren Abwesenheit; sich Draußenhalten als Medium der Erkenntnis. Kracauer emanzipierte sich als Soziologe ganz in jenem Angestelltenbuch. Die Methode teilt manches mit dem, was man in den Vereinigten Staaten als Verfahren des participant observer bezeichnet, etwa dem der Lynds in Middletown; ihr Werk war 1930 Kracauer gewiß unbekannt. In