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Patrick Hofmann
Phänomen
und Beschreibung
Zu Edmund Husserls
Logischen Untersuchungen
Bayerisch«
Staatsbibliothek
MOnchan
ISBN 3-7705-4044-1
© 2004 Wilhelm Fink Verlag, München
Gesamterstellung: Ferdinand Schöningh GmbH, Paderborn
pM fAf
INHALT
I. Einführung 9
1. Das alltagssprachliche Verständnis 12
Das Phänomen! 15
Die Beschreibung 20
Vorbegriff des Zusammenhangs 25
Sachregister 235
Namensregister 237
!
I. EINFÜHRUNG
J. G. Hamann, Aestetica in nuce. In: SW, Bd. II, Wien 1950, 195-217, S. 196.
In methodischer Hinsicht hat Paul Ricceur (L originaire et la question-en-retour
dans la Krisis de Husserl. In: P. Ricceur, A l ecole de la Phänomenologie. Paris
1986, 285-295.) Marx' Praxis- und Husserls Lebensweltbegriff zusammengerückt
und zu zeigen versucht, daß es beiden Denkern darum geht, die Selbstverdunke-
lung des ökonomisch-praktischen bzw. des geistigen Leistens in seinen Produkten
aufzudecken.
EINFÜHRUNG 11
2
E. W. Orth, Beschreibung in der Phänomenologie Edmund Husserls. In: Perspek-
tiven und Probleme der Husserlschen Phänomenologie. Beiträge zur neueren Hus-
serl-Forschung. Hrsg. v. E. W. Orth, Freiburg; München 1991, 8-45, S. 17 f. Das
deiktische gilt hier sogar als das ursprüngliche Moment der Beschreibung. Diese
Auffassung ist beeinflußt von Heideggers Bestimmung des Logos als Sehenlassen.
3
Siehe Jochen Gerz, Die Beschreibung des Papiers. Darmstadt; Neuwied 1973.
14 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
Das Phänomen!
5
Deutsches Fremdwörterbuch. Bd. IV, Berlin; New York 19992, S. 374.
6
Sport-Bild. 27. Januar 1999, S. 8.
16 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
Die Beschreibung...
9
H.-G. Gadamer, Sprache und Verstehen. In: GfV, Bd. II, Tübingen 19932, 184-198,
S. 185.
DAS ALLTAGSSPRACHLICHE VERSTÄNDNIS 21
10
J. Bobrowski, Levins Mühle 34 Sätze über meinen Großvater. Berlin 1964, S. 75.
11
Ebd.
12
Bei Husserl ist unschwer ein verbreiteter abschätziger Ton herauszuhören, wenn er
in dem beschwörerischen Wiener Vortrag von 1935 >Die Krisis des europäischen
Menschentums und die Philosophie< (In: Die Krisis der europäischen
schaften und die transzendentale Phänomenologie Eine Einleitung in die
menologische Philosophie. Husserliana, Bd. VI, Den Haag 19762. 314-348, S. 318
f.) „die Zigeuner, die dauernd in Europa herumvagabundieren" genauso wie „die
Eskimos oder Indianer der Jahrmarktsmenagerien" „im geistigen Sinn" nicht zu
Europa gehörig erklärt.
22 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
14
R. Möhrlen; F. Kokot, SAP R/5-Kompendium. Haarb. München 1998, S. 21 a 31
DAS ALLTAGSSPRACHLICHE VERSTÄNDNIS 25
Bei der Bestimmung der Herkunft und der Bedeutungen der alltags-
sprachlich gebrauchten Begriffe von Phänomen und Beschreibung
gaben sich die gegenseitigen Bezüge deutlich zu erkennen. Im Sinne
der eingangs aufgestellten Behauptung vom wesentlichen Zusammen-
hang zwischen Phänomenen und Beschreibungen, können die üblichen
Begriffsbedeutungen nunmehr selbst ins Verhältnis gebracht werden.
Von Phänomenen wird in einem nachdrücklichen Sinn als von et-
was Außerordentlichem oder Besonderem geredet. Das Spektrum der
Betonungen reicht hier vom Ans-Wunder-Grenzenden bis zum ledig-
lich Eigenartigen. Mit der Bezeichnung des Phänomens als einer ei-
genartigen Sache, ist fast noch gar nichts gesagt. In diesem schwachen
Sinn läßt sich von Phänomenen als bloß bestimmten Erscheinungen
nahezu beliebig sprechen. Der Minimalbegriff der eigenartigen Sache
ist das X, das Etwas, das irgendwie bestimmt ist. Dieses X ist auch
noch für den Maximalbegriff der ganz besonderen Sache maßgeblich,
der nichts beliebiges mehr, sondern in ihrer Unvergleichlichkeit sogar
etwas Mysteriöses anhaftet. Seine Eigenart allein reicht also nicht aus,
ein Phänomen als Phänomen zu qualifizieren. Es kommt darauf an,
wie sie festgestellt und aufgefaßt wird.
Wenn es hieß, das Phänomen sei die in ihrer Eigenart gesehene
und im Maße dieses Sehens verstandene und für gewichtig erachtete
Sache, so stand das Sehen einerseits für die entwickeltste Form sinn-
licher Erfahrung. Es korrespondierte andererseits mit dem ursprüng-
lichen Sinn von Phänomen als Erscheinung. Obwohl sich der Phäno-
menbegriff im gleichen Maße aus der Bindung an den Gesichtssinn
löst, wie sich sein Gebrauch und seine Bedeutung erweitern, bleibt
die visuelle Erscheinung das Paradigma des Phänomens. Das Phäno-
men kann im erweiterten Sinn als die in ihrer Eigenart erfahrene, im
zulässigen Maße dieser Erfahrung verstandene und für gewichtig er-
achtete Sache gelten.
26 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
Was sich unter der Hand der alltagssprachlichen Begriffe von Phäno-
men und Beschreibung als naturwüchsige Ideologie verbreitet, offen-
bart sich und seine Bedingungen im Streit philosophischer Positionen
und der Geschichte dieses Streits. Als philosophische Termini erfahren
sie erkenntnistheoretische und methodische Begründung. Dabei er-
langen gewisse Aspekte einzeln oder im Zusammenhang Bedeutsam-
keit. Die kritische Arbeit, die philosophisch an den beiden Begriffen
geleistet wird, geht aus dem alltagssprachlichen Konfliktstoff hervor,
wirkt darauf zurück und muß auch darauf zurückbezogen werden,
wenn Wissenschaft verständlich bleiben soll.
Nicht nur hat der Verweis auf Phänomene eine lange philoso-
phisch-wissenschaftliche Tradition, sondern die Rettung der Phänome-
ne kann seit den Anfängen antiker Wissenschaft bis in die Gegenwart
als ein allgemeines wissenschaftliches Programm angesehen werden.
Der Sinn der Rettung und die Definition der Phänomene verwandelt
sich in der Geschichte der Wissenschaft mehrfach. Alltagssprachlich
und philosophisch stehen der Phänomen- und der Beschreibungsbe-
griff zumeist in einem Gegensatz oder sind deutlich voneinander ge-
trennt. In Husserls Phänomenologie und den psychologisch-deskrip-
tiven Ansätzen seiner Vorgänger verschwindet dieser Gegensatz. Das
macht gerade Husserl so interessant für eine philosophische Untersu-
chung des Zusammenhangs.
Seit sich Philosophen und Naturforscher auf Phänomene berufen,
wird über deren Scheinbarkeit und Verläßlichkeit gestritten. Steht die
Rettung der Phänomene auf den Fahnen, geht es darum, die Phäno-
mene aus ihrem Schattendasein herauszuholen und ins rechte Licht zu
rücken. Sind die Phänomene gerettet, besteht das Problem des Scheins
nicht mehr. Über die Berge des Scheins gelangen die Phänomene in
die fruchtbaren Ebenen der Beschreibung. Wo die Rettung von Phä-
nomenen verkündet wird, kommt im Namen des Bewahrens die Er-
neuerung zum Zuge. Die Rettung spielt sich verwandelnd die Figuren
der Hegeischen Aufliebung durch.
Id)^eiv rd <paivö[ieva- die Phänomene zu retten, ist nicht nur die
Losung der antiken Astronomen im Umkreis von Piaton, die die beo-
bachteten ungleichförmigen Bewegungen der Planeten weder in der
Dunkelheit des Mythos von der göttlichen Willkür belassen, noch aus
DIE RETTUNGEN DER PHÄNOMENE 29
Zum Einfluß Piatons auf die Entstehung der antiken Astronomie vgl. einerseits J.
Mittelstraß, Die Reitung der Phänomene. Ursprung und Geschichte eines antiken
Forschungsprinzips. Berlin 1962, S. 142 ff., andererseits G. E. R. Lloyd, Saving
the Appearances. In: ders., Methods and Problems in Greek Science. Cambridge;
New York u. a. 1991, 248-277. S. 252 u. 274 f.
30 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
ten.2 Das hat zur Folge, daß die Phänomene schließlich wieder hinter
den sie erklärenden Gesetzen verschwinden.
In der wissenschaftlichen Perspektive finden die Phänomene nicht
um ihrer selbst willen Beachtung, sondern wegen der theoretischen
Einsichten, die sie versprechen. In diesem Sinn muß sich das Ver-
hältnis von Phänomenen und theoretischen Modellen oder Gesetzen
stets als problematisch erweisen. Es besteht die Gefahr, daß die Phä-
nomene nach den Theorien, die sie erklären sollen, ausgerichtet wer-
den und mit ihrer Rettung eine Verzerrung einhergeht. Die Verein-
nahmung der Phänomene durch die Theorie erweist sich einerseits als
ein allgemeines Problem der Wissenschaft. Sie ist andererseits die
Kehrseite des wissenschaftlichen Strebens, sich gegenüber mythischen
Erklärungen zu behaupten.
Als die mathematisch-experimentelle Wissenschaft in der Neuzeit
die Wege der Erkenntnis zu beherrschen begann, stand die Rettungs-
parole für die unbedingte Freiheit der Wissenschaft ein, die danach
strebte, sich aller religiösen und scholastischen Vorgaben zu entledi-
gen. In ihrem universalen Anspruch auf Erkenntnis eroberte sie sich
immer weitere Erfahrungsbereiche. Die Methode der Beschreibung
gewann in diesem Zuge ihre grundlegende wissenschaftliche Bedeu-
tung. Sie versprach einen vorurteilslosen und selbst vortheoretischen
Zugang zu allen möglichen Erscheinungen, die die neue Wissenschaft
mit zunehmender Energie ihrer Auffassung unterwarf. Das Buch der
Natur wurde wissenschaftlich aufgearbeitet.
Die Dominanz der Naturwissenschaft verwandelte den Sinn der Pa-
role abermals. In dem Moment, wo das wissenschaftliche Erkenntnis-
streben die Trägheitsgesetze ihrer eigenen Dynamik entdeckte, mußte
sie sich selbst gegenüber kritisch werden. Die Phänomene waren im-
mer wieder aus etablierten Interpretationszusammenhängen zu befrei-
en, um sich ihrer „ursprünglichen" Erscheinung zu versichern. Dies
geschah in kleineren revisionistischen und größeren revolutionären
Zyklen der Wissenschaft. Alternative wissenschaftliche Zugänge auf
alte und neue Phänomene wurden im Namen der Unvoreingenommen-
heit immer wieder eröffnet. Die verwandelte Losung der kritischen
Wissenschaft, in dem das Programm der antiken Astronomie aufge-
hoben wurde, lautet seitdem: Zu den Sachen selbst!
Da die neuzeitliche im Unterschied zur antiken Wissenschaft sich
nicht nur kritisch gegen überkommene mystische oder religiöse, son-
betont werden. Es kommt dann nicht so sehr auf die Sachen, als viel-
mehr darauf an, den Weg dahin immer wieder zu eröffnen. Die Sa-
chen selbst werden durch den kritischen, vorurteilslosen Weg der
Forschung bestimmt und deshalb auch nie etwas Festes, Stehendes,
ein für alle Mal Gewonnenes. In diesem Sinn gilt Beschreibung als
eine Methode ursprünglicher, fortgesetzter Vergewisserung.
In dem Maße, wie aus dem allgemeinwissenschaftlichen Rahmen
der Philosophie thematisch und methodisch bestimmte Einzelwissen-
schaften hervorgehen, entziehen sich die empirischen Phänomenbe-
reiche und ihre konkreten Beschreibungen der Philosophie. Ihrerseits
mag die Philosophie kaum noch empirische Zweige unter ihrem Dach
und Namen dulden. Deswegen schrumpft sie jedoch nicht zur Ethik
und Wissenschaftstheorie, im übrigen aber zur Bedeutungslosigkeit
zusammen. Ihre übergeordnete wissenschaftliche Rolle behauptet sie,
indem sie als Erkenntnistheorie, Fundamentalontologie, Hermeneutik
oder Sprachphilosophie etc. die Vor- und Hinterhöfe der Erkenntnis,
der Erfahrung, des Verstehens, Sprechens und Handelns erschließt.
Daß die impliziten, selbstverständlich schon in Anspruch genom-
menen Bedingungen der Grundweisen menschlichen Seins selbst in ei-
nem herkömmlichen Sinn erfahren werden, daß sie in irgendwie selbst
als Phänomene gegeben sein könnten, ist zuerst einmal überhaupt nicht
einzusehen, genauso wenig wie die Rolle, welche die so eng mit den
empirischen Wissenschaften verknüpften Beschreibungen im Rahmen
philosophischer Grundlagenfragen spielen sollten. Den Nachweis, daß
Phänomenen der inneren Wahrnehmung und ihrer Beschreibung bei
der Grundlegung der Wissenschaften eine ausgezeichnete Rolle zu-
kommt, versuchten Brentano, Dilthey und dann vor allem Husserl im
Rahmen einer Fundamentalpsychologie zu erbringen.
Daß gerade die phänomenologische Philosophie zur Rettung nicht
nur der Phänomene, sondern, mit der Erneuerung ihres rationalen
Fundaments, zur Rettung der europäischen Menschheit insgesamt be-
rufen sei, diesen übersteigerten Gedanken trug Husserl in seinem Spät-
werk vor. Bei aller vorherrschenden Nüchternheit des sich auf einen
langen und sogar unvollendbaren Weg der Forschung begebenden
Phänomenologen finden sich mit Blick auf die zu gewinnende For-
schergemeinschaft bei Husserl schon früh gelegentlich verheißungs-
volle Worte, die von einem rationalistischen und universalistischen
Selbstverständnis getragen sind. Die idealistisch-humanistische Ver-
klärung der Wissenschaft am Vorabend der totalitären Katastrophe ist
der verzweifelte Ausläufer seiner Wissenschaftsgläubigkeit.
Die schon im ausgehenden 19. Jahrhundert wahrgenommene, nach
dem Ersten Weltkrieg allgemein empfundene Krise der europäischen
DIE RETTUNGEN DER PHÄNOMENE 33
Husserls Vorläufer
6
Eine größere Untersuchung liegt vor von R. Stevens, James and Husserl: The
Foundation ofMeaning. Den Haag, 1974.
E. Husserl, Logische Untersuchungen. Zweiter Band: Untersuchungen zur Phä-
nomenologie und Theorie der Erkenntnis. Erster Teil. Husserliana, Bd. XIX/1, Den
Haag 1984, S. 211. Dieser Husserlianateilband wird mit seiner Nummer und der
jeweiliger Seitenzahl fortan in Klammem im laufenden Text ausgewiesen, also:
(XDC/1,211).
8
Vgl. hierzu M. Herzog, William James and the Development of Phenomenological
Psycholog}- in Europe. In: History of Human Sciences, 8/1 (1995), S. 29-46. Das
Hauptaugenmerk dieses Artikels gilt Husserl.
9
E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Phi-
losophie. Erstes Buch. Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. Hus-
serliana, Bd. m / 1 , Den Haag 1976, S. 51.
36 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
Brentano
Den zweifellos größten Einfluß auf Husserl übte Brentano aus. Von
ihm greift er unter anderem den Phänomen- sowie den Beschrei-
bungsbegriff auf. Brentano steht durch seinen Lehrer Trendelenburg
in einer neoaristotelischen Tradition.10 Der von ihm in die Philosophie
wiedereingeführte Intentionalitätsbegriff hat nicht allein mittelalterli-
che Ursprünge. Er verweist ebenfalls auf Aristoteles' Lehre von der
„mentalen Inexistenz des Objektes"." Husserl selbst würdigte die Lei-
stung seines Lehrers gebührend:
Unter den Reaktionen gegen die physikalistische und physiologische
Psychologie, die die innere Erfahrung möglichst herabzudrücken such-
te und doch Psychologie sein wollte und sogar die exakte, war von be-
sonderer Bedeutung der geniale und energische Versuch einer Reform
der Psychologie durch Brentano, eine Psychologie ernstlich auf dem
Grunde innerer Erfahrung, zunächst innerer Wahrnehmung beruhend,
also auf dem Grund einer rein deskriptiven Analyse der seelischen In-
nerlichkeit. Geradezu epochemachend war die Einführung des scholasti-
schen Begriffs der Intentionalität als Wesensmerkmal des Psychischen.
Es war jedenfalls evident, daß alle von außen her zustande kommenden
psychophysischen Feststellungen psychologischen Sinn erst gewinnen
aufgrund einer innengewendeten, aus der Selbstbefragung der Seele
gewonnenen Deskription.12
In Brentanos >Psychologie vom empirischen Standpunkt kommen
vielfältige Methoden zum Zug. Diejenige der Beschreibung gewinnt
erst im Fragment gebliebenen dritten Teil >Über die Eigentümlichkeit
und Gesetze der Vorstellungen ein deutliches Profil. Der Titel weist
bereits auf die zweifache Behandlung der Vorstellungen hin. Sie sind
10
Über Trendelenburgs Philosophieverständnis als Fundamentalwissenschaft und als
Theorie der Wissenschaft, sowie Lotzes Ansätze zu einer Phänomenologie als de-
skriptiver Psychologie siehe E. W. Orth, Metaphysische Implikationen der Inten-
tionalität. Trendelenburg. Lotze. Brentano. In: Brentano Studien, Bd. VII (1997),
S. 15-30. Zur Vorbildung einer deskriptiven Philosophie bei Lotze und dessen Ein-
fluß auf Brentano und Dilthey siehe E. W. Orth, Brentanos und Ddtheys Konzepti-
on einer beschreibenden Psychologie in ihrer Beziehung auf Lotze. In: Brentano
Studien, Bd. VI (1995/96), S. 13-29.
1
' Diesen Hinweis gibt Oskar Kraus in seiner Einleitung zu F. Brentano, Psychologie
vom empirischen Standpunkt. Bd. I, Leipzig, 1924, XV-XCIII, S. XXIV. Zu den
Philosophie- und wissenschaftsgeschichtlichen, gerade auch aristotelischen Kon-
texten von Brentanos Denken siehe K. Hedwig, Deskription. Die historischen Vor-
aussetzungen und die Rezeption Brentanos. In: Brentano Studien, Bd. I (1988), 31-
45, S. 31 ff.
12
E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale
Phänomenologie Ergänzungsband: Texte aus dem Nachlaß 1934-1937. Husserl-
iana, Bd. XXIX, Dordrecht; Boston; London 1993, S. 124.
DIE RETTUNGEN DER PHÄNOMENE 37
Dilthey
17
E. W. Orth. Brentanos undDilthevs Konzeption.. , a.a.O., S. 26, s. a. 20 f.
18
K. Hedwig, a.a.O., S. 38.
19
Eine umfassende Würdigung seines Werkes findet sich bei M. Kaiser-El-Safti
Carl Stumpfs Wirken für die deskriptive Psychologie. In: Brentano Studien, Bd
VI, (1995/96), S. 67-102. Zu Stumpfs Einfluß auf Husserl siehe ebd., S. 81 ff.
DIE RETTUNGEN DER PHÄNOMENE 39
diesen Plan nie verwirklichen konnte, ergibt sich daraus die allgemeine
Zielstellung seiner >Ideen<, das Gebiet und insbesondere die Methode
der Geisteswissenschaft gegenüber derjenigen der Naturwissenschaf-
ten zu bestimmen.
Bei Dilthey gerät der Beschreibungsbegriff erstmals in eine kriti-
sche Position zu denjenigen Wissenschaften, aus denen er stammt
und die sich seiner traditionellerweise bedienen. Daß Dilthey ver-
sucht, die deskriptive Methode von der kausal-erklärenden abzuset-
zen, ist zwar nicht neu, wohl aber, daß er die Unterscheidung der
Methode mit der Einteilung der Wissenschaften in Natur- und Gei-
steswissenschaften verbindet. Obwohl einerseits in der phänomenali-
stischen sowie positivistischen Tradition des Empirismus selbst eine
nachhaltige Kritik am Kausalitätsprinzip geübt und der Beschrei-
bungsbegriff methodisch beansprucht wird, andererseits die Psycho-
logie sich selbst auch der erklärenden Methode bedient, weist Dilthey
das kausale Erklärungsprinzip den Naturwissenschaften zu und stellt
ihm das deskriptiv-nachvollziehende Verstehen als Grundprinzip der
so von ihm erstmals unterschiedenen Geisteswissenschaften gegen-
über. „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir."20
Die Übertragung der methodischen Verfahren zwischen Natur- und
Geisteswissenschaften ist Dilthey zufolge unstatthaft. Er räumt zwar
ein, daß in den Naturwissenschaften der Gegensatz von erklärendem
und deskriptivem Verfahren traditionell eine Rolle spielt, macht jedoch
geltend, daß das beschreibende Verfahren durch den Verstehenscharak-
ter inneren Erlebens in der Psychologie und den so begründeten Gei-
steswissenschaften einen viel tieferen Sinn erfährt. Gegenstand der
gleichermaßen beschreibenden wie zergliedernden, betrachtend ver-
gleichenden wie experimentierenden Psychologie sind die „gleichför-
mig auftretenden Bestandteile und Zusammenhänge [...] des inneren
Lebens in einem typischen Menschen"21.
Erst durch den Verweis auf die Eigenart des Geistig-Seelischen
und der darauf bezogenen Untersuchungen rechtfertigt Dilthey die Ver-
einnahmung des Beschreibungsbegriffs für die Geisteswissenschaften.
Damit ist ein Wendepunkt in der wissenschaftlichen Geschichte des
Beschreibungsbegriffs markiert. In der mit Dilthey enger faßbaren na-
turwissenschaftlichen Handhabung blieb Beschreibung immer bloße
Beschreibung. Selbst auf dem phänomenalistisch-positivistischen Gip-
felpunkt war Beschreibung das Prinzip kritischer Bescheidenheit der
20
W. Dilthey, Ideen über eine beschreibende und eine zergliedernde Psychologie. In:
GS, Bd. V, Leipzig; Berlin 1924, 139-240, S. 144.
21
Ebd., S. :52.
40 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
Husserls Wesensbeschreibungen
24
W. Dilthey, Ideen..., a.a.O., S. 221.
25
W. Dilthey, Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften. In: GS, Bd. VII,
Leipzig; Berlin 1927, 1-75, S. 14.
42 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
26
K. Kuypers, a.a.O., S. 234.
27
K. Rosen, Evidenz in Husserls deskriptiver Transzendentalphilosophie. Meisen
heim a. Glan 1977, S. 153.
28
Husserliana Bd. HI/1, a.a.O., S. 163. Siehe hierzu E. W. Orth, Edmund Husserls
>Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenolo
gier Vernunft und Kultur. Darmstadt 1999, S. 26.
DIE RETTUNGEN DER PHÄNOMENE 43
Kuypers' Problemaufriß
2
K. Kuypers, a.a.O., S. 232
3
Ebd., S. 235.
REZEPTION UND AUFGABENSTELLUNG 47
4
Th. W. Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Studien über Husserl und
die phänomenologischen Antinomien. In: GS, Bd. V, Frankfurt a. M. 1971, 7-245,
S. 131.
5
K. Kuypers, a.a.O., S. 236.
6
Ebd.
48 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
rangezogen. Mit Bezug auf eine weitere Stelle aus den >Ideen I<, wo-
nach die Aufgabe der rein deskriptiven Wesenswissenschaft darin be-
steht, „den einsichtigen Wesenszusammenhängen nachzugehen, das
jeweils Geschaute in getreu begriffliche Ausdrücke zu fassen, die sich
ihren Sinn rein durch das Geschaute, bzw. generell Eingesehene vor-
schreiben lassen"8, schlußfolgert Orth: „beschreiben beruht auf einem
Vorschreiben'"9. Der Beschreibung ist durch das Phänomen, genauer
gesagt, durch das in der reflexiven phänomenologischen Einstellung
Geschaute, nicht nur vorgegeben, sondern vorgeschrieben, was zu be-
schreiben ist. In diesem Sinn versteht Orth das Vorschreiben nicht al-
lein als strenge, sondern selbst schon als literarische Vorgabe, wie den
Wesensphänomenen „durch bloße Explikation und genau sich anmes-
sende Bedeutungen Ausdruck zu verleihen"10 ist. Der Vorgang der lite-
rarischen Anmessung wird von ihm gleichwohl kritisch betrachtet."
Es gilt hinsichtlich des Zusammenhangs von Phänomen und Be-
schreibung, Vorgeschriebenem und Angemessenem zu prüfen, inwie-
fern die phänomenale Vorschrift selbst schon sprachlich verfaßt ist,
bzw. in welchem Maße Beschreibung allererst Übersetzung ist. Geht
die Vorschrift lediglich auf ein Was, oder auch auf ein Wie? Stellt die
Wahrnehmung das Gegebene gewissermaßen schon unausdrücklich
dar, so daß die explizite Beschreibung daran anschließen kann? Läßt
sich hier mit Orth von einer anonymen, elementaren Ausdrücklichkeit
sprechen'2, die der eigentlichen Beschreibung jeweils zugrunde liegt?
Wenn hingegen von Vorschrift nur in einem übertragenen Sinn die
Rede ist, bleibt die geforderte Bedeutungsanmessung Aufgabe und
Leistung allein der Beschreibung. Ihr wäre dadurch nicht nur eine
größere Unabhängigkeit vom reflexiven Erleben zuzugestehen. Ihre
Position müßte gegenüber der reflexiven Einsicht deutlich aufgewer-
tet und im Gegenzug das phänomenologische Ideal der Evidenz rela-
tiviert werden.
Neben den Hinweisen auf ein literarisches Moment in der Vorge-
gebenheit des Phänomens hat Orth die viel näher liegende literarische
Struktur der Beschreibung selbst untersucht. Angesichts der Wirksam-
keit der Phänomenologie in der hermeneutischen und der neueren fran-
zösischen Philosophie sowie der an Roman Ingardens phänomenolo-
gisches Werk anschließenden Rezeptionsästhetik bemühte er sich, die
Aufgaben einer Sprachphänomenologie, einer Phänomenologie vor al-
8
Husserliana Bd. HI/1, a.a.O., S. 138.
9
E. W. Orth, Beschreibung in der Phänomenologie.., a.a.O., S. 30.
10
Husserliana, Bd. Dl/1, a.a.O., S. 51.
11
Siehe E. W. Orth, EdmundHusserls >Krisis<... a.a.O., S. 23 ff.
12
E. W. Orth, Beschreibung in der Phänomenologie:.., a.a.O., S. 36.
50 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
13
E. W. Orth, Zur Phänomenologie des philosophischen Textes. In: Zur Phänomeno-
logie des philosophischen Textes. Hrsg. v. E. W. Orth, Freiburg; München 1982, 7-
20, S. 14.
14
Ebd., S. 14 f.
15
Ebd., S. 16.
16
J. Derrida, La voix et le phenomene Introduction au probleme du signe dans la
Phänomenologie de Husserl. Paris 1967, S. 6.
17
Siehe hierzu J.-Cl. Höfliger, Jacques Derridas Husserl-Lektüren. Würzburg 1995,
S. 11 ff.
18
E. W. Orth, Das Phänomen der Sprache und die Sprachlichkeit des Phänomens.
In: Studien zur Sprachphänomenologie. Hrsg. v. E. W. Orth, München; Freiburg
1979, 7-30, S. 12. Auf „das Problem einer Verwandlung des Sagens im spekulati-
ven Satz" verweist aber gerade auch E. Fink, Operative Begriffe in Husserls Phä-
nomenologie. In: Zeitschrift für philosophische Forschung, 11 (1957), 321-337, S.
334.
REZEPTION UND AUFGABENSTELLUNG 51
Herbert Schnadelbach versuchte Ende der siebziger Jahre, mit dem für
die neuzeitliche Philosophie zentralen Reflexions- auch den Beschrei-
bungs- als grundlegenden philosophischen Methodenbegriff sprach-
20
Ebd., S. 28.
21
Ebd., S. 41 f. - Hinsichtlich der hermeneutischen Transformation der Phänomeno-
logie sei hier zumindest auf einige Forschungsbeiträge verwiesen, die sich explizit
mit der Beschreibungsthematik befassen. In seiner leider nie als Buch veröffent-
lichten Dissertation >Deskription und Auslegung in der phänomenologischen Phi-
losophie< (Göttingen 1950) ging Harald Delius der Frage nach, wie phänomeno-
logische Deskription als Auslegung zu vollziehen und zu rechtfertigen sei. Er kam
zu dem negativen Schluß, daß deskriptive Auslegung nur durch eine Modifikation
der schlicht deskriptiven Einstellung möglich ist (ebd., S. 263 f.). Zur Kritik von
Delius siehe K. Rosen, a.a.O., S. 156. - Zwischen Phänomenologie und Herme-
neutik, deskriptiver und interpretativer Methode zu vermitteln versucht J. N. Mo-
hanty, Beschreibung und Auslegung als Möglichkeiten für die Phänomenologie.
In: Sprache. Wirklichkeit, Bewußtsein. Studien zum Sprachproblem in der
menologie. Hrsg. v. E. W. Orth, Freiburg; München 1988. S. 11-30. Er unterschei-
det zwischen beschreibender und hermeneutischer Phänomenologie und stellt ihre
gegenseitige Durchdringung und Komplementarität heraus (S. 24). Die hermeneu-
tische Kritik an Husserls Phänomenologie und den Stellenwert, den die Interpreta-
tion darin hat. bespricht umfassender Antonio F. Aguirre, Die Phänomenologie
Husserls im Licht ihrer gegenwärtigen Interpretation und Kritik. Darmstadt 1982,
insbesondere S. 49-85.
REZEPTION UND AUFGABENSTELLUNG 53
22
H. Schnädelbach, Reflexion und Diskurs Fragen einer Logik der Philosophie.
Frankfurt a. M. 1977, S. 104.
23
Ebd., S. 107 f.
54 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
24
Ebd., S. 105.
25
Eine nichtkomplementäre Unterscheidung von Reduktion und Deskription würde
das mentalistische Problem verstärken, wie der reflexiv-reduzierte Gegenstandsbe-
reich als Vorstellungsinhalt vorliegt, um hernach beschrieben werden zu können.
Die Beschreibung würde so von der Reflexion abgesondert. Die Frage wäre dann,
was vom Typ phänomenologischer Reflexion übrig bliebe, wenn die Beschreibung
nur sprachliche Darstellung bereits gewonnener Gegenstände wäre.
REZEPTION UND AUFGABENSTELLUNG 55
28
Ebd., S. 207
REZEPTION UND AUFGABENSTELLUNG 57
29
Ebd.,S. 199.
58 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
30
Ebd., S. 192.
REZEPTION UND AUFGABENSTELLUNG 59
34
L. Althusser; E. Balibar, Das Kapital lesen. Bd. I, Reinbek b. Hamburg 1972, S. 46.
62 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
Zur Methode
37
Ebd., S. 55.
38
H.-G. Gadamer, Selbstdarstellung. In: GW, Bd. II, a.a.O., 479-508, S. 506.
39
E. Husserl, Logische Untersuchungen. Erster Band. Prolegomena zur reinen
gik. Husserliana, Bd. XVIII, Den Haag 1975, S. 53. Dieser Husserlianaband wird
ebenfalls mit seiner Nummer und der jeweiliger Seitenzahl fortan im laufenden
Text ausgewiesen.
REZEPTION UND AUFGABENSTELLUNG 65
schiedlichem Sinn spricht, ist die Rede vom Text selbst, in Anleh-
nung an die von der Sache selbst, höchst fragwürdig, wenn nicht ge-
radezu paradox. Anders als bei der Erscheinung der Sache selbst, die
auf ihrer Einzigartigkeit besteht, spricht der Text nur in einem Ge-
spräch. Ein solches Gespräch muß vom Lesenden selbst dort entwik-
kelt werden, wo der Text sich den strengen Bedingungen
wissenschaftlicher Argumentation unterwirft.
Das Gebiet, in dem wir zu tun haben, ist der philosophische Text,
als „der langnachrollende Donner" blitzhafter Erkenntnis41, wie sie
auch von der Phänomenologie behauptet wird. Aus dem genauen Le-
sen, das ein Gespräch im Stillen entfaltet, geht ein ausführliches, das
heißt schriftliches Erklären hervor. Über philosophische Texte läßt
sich nicht einfach huschen; sie ergeben sich nur langsam. Gerade die
Eindring- und Nachdrücklichkeit des Denkens, die Husserls Werk
(ganz gegen die Bedeutung seines Namens: kleiner Huscher42) aus-
zeichnet, soll im Ausrollen und -legen seines Texte überprüft werden.
Wenn Blitz und Donner, Erkenntnis und Text sich auch mit unter-
schiedlicher Geschwindigkeit und Intensität ausbreiten und einprägen,
so sind sie doch gleichursprünglich wie Phänomen und Beschreibung.
Der point d exclamation, den das Ausrufezeichen aus der Vertikalen
setzt, ist der erste Punkt der sich horizontal entrollenden Beschrei-
bung.
41
W. Benjamin, Das Passagen-Werk. In: GS, Bd. V/1, Frankfurt a. M. 1982, S. 570.
42
Vgl. N. Wagner, Der Familienname von Edmund Husserl. In: Husserl Studien, 9
(3), 1992, S. 217-218.
II. ZU DEN >LOGISCHEN UNTERSUCHUNGEN
Die vorliegende Arbeit ist auf die erste Auflage der >Logischen Un-
tersuchungen konzentriert. Die Auflage von 1900/1901 wird für sich
betrachtet, fast ohne daß Bezüge zur zweiten Auflage von 1913 her-
gestellt werden. Dafür gibt es mehrere Gründe. Abgesehen von der
gebotenen Beschränkung des Untersuchungsfeldes, enthält die erste
Auflage den Stoff für eine Untersuchung der Phänomenologie in ihrer
Anfangsphase als deskriptive Psychologie. Die Änderungen, die Hus-
serl mehr als ein Jahrzehnt später in der zweiten Auflage vornahm,
stehen im Zeichen des transzendentalen Umbaus der phänomenologi-
schen Theorie.
Die beiden Auflagen unterscheiden sich deutlich gerade hinsicht-
lich der Theorie phänomenaler Beschreibung. Husserl sah sich bei der
Revision der ersten Auflage allenthalben dem Problem gegenüber, die
Neuausrichtung der Phänomenologie in dem alten Text zur Geltung zu
bringen und dabei dessen ursprüngliche Gestalt zu bewahren. Die
zweite Auflage der >Logischen Untersuchungen, auf die in der Regel
Bezug genommen wird, stellt somit einen von Husserl selbst einge-
standenen Kompromiß dar, was oftmals übersehen wird.
Wegen der rasanten Entwicklung, die die Phänomenologie seit
dem Erscheinen der >Logischen Untersuchungen nahm, unterbleibt
im Rahmen unserer Untersuchung ein Vergleich der Phänomen- und
Beschreibungsthematik in der ersten und zweiten Auflagen. Es würde
dafür nicht ausreichen, die beiden Auflagen gegenüberzustellen. Um
die Veränderungen zu erklären und die Auswirkungen zu verstehen,
welche die Ausgestaltung der Phänomenologie zu einer transzenden-
tal-idealistischen Wissenschaft auf den Phänomenbegriff und die Be-
schreibungsmethode haben, müßte zumindest auf einige relevante
Stellen in den Husserlschen Schriften und Vorlesungen der Zwischen-
zeit eingegangen werden: auf die Rezension von 1903 im > Archiv für
systematische Philosophie^ auf die Vorlesung im Wintersemester
1902/03 über >Erkenntnistheorie< sowie diejenige vom Sommerseme-
ster 1904 über >Hauptstücke der deskriptiven Psychologie der Er-
kenntnis^ auf die kleine Programmschrift von 1911 >Philosophie als
strenge Wissenschaft und vor allem auf das erste Buch der >Ideen
zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Wissen-
68 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
schaft<, das kurz vor der zweiten Auflage der >Logischen Untersu-
chungen erschien.
Statt die erste Entwicklungsetappe der Phänomenologie bis zur
zweiten Auflage der > Logischen Untersuchungen in Hinsicht auf den
Phänomen- und Beschreibungsbegriff zu untersuchen, gehen wir
vielmehr auf das Frühwerk Husserls zurück. Indem wir im Anschluß
daran konsequent die erste Auflage der >Logischen Untersuchungen
für sich betrachten, wird auch nahegelegt, die beiden Auflagen kon-
sequenter als es gemeinhin geschieht, auseinanderzuhalten. Ob die er-
ste Auflage gegenüber der zweiten tatsächlich aufgewertet und jeweils,
wie es etwa bei Kants >Kritik der reinen Vernunft< üblich ist, für sich
oder im Vergleich betrachtet werde sollte, kann hier nicht beantwortet
werden, eben weil wir einen solchen Vergleich nicht anstellen und
uns zudem thematisch sehr beschränken.
Das Vorgehen im Hauptteil der vorliegenden Untersuchung hält
sich in etwa an den Aufbau der >Logischen Untersuchungen. Vor den
>Prolegomena zur reinen Logik< wird Husserls Erstlingswerk, die
>Philosophie der Arithmetik<, betrachtet (Kapitel 4). Hinsichtlich des
Phänomen- und Beschreibungsbegriffs lassen sich hier die psycholo-
gischen Ursprünge seines Denkens aufweisen. Gerade insofern diese
Ansätze in der >Prolegomena< fortgeschrieben werden, ist es geboten,
näher darauf einzugehen.
Die >Prolegomena zur reinen Logik<, der von Husserl gleicherma-
ßen grundsätzlich wie vorbereitend angelegte erste Teil der l o g i -
schen Untersuchungen, bietet selbst noch keine phänomenologischen
Analysen (Kapitel 5). Phänomene und Beschreibungen spielen darin
sogar eine geringere Rolle als in der >Philosophie der Arithmetik<. In
beiden Abhandlungen ist noch kein echter phänomenologischer Phä-
nomen- und Beschreibungsbegriff entfaltet. Es finden sich dazu je-
doch einige Ansätze.
In der >Einleitung< des zweiten Teils der >Logischen Untersuchun-
gen endlich wird ein dezidiert phänomenologisches Programm vor-
gestellt (Kapitel 6). Nunmehr werden als die Gegenstände der Phäno-
menologie die Denk- und Erkenntniserlebnisse gekennzeichnet und
wird die deskriptiv-psychologische Methode gerechtfertigt. Der ein-
leitende Entwurf der Phänomenologie ist durch ein hohes methodi-
sches Problembewußtsein, gleichzeitig aber auch durch eine traditio-
nelle metaphysische Auffassung der Sprache gekennzeichnet.
Der Phänomenbegriff selbst wird im Zusammenhang mit der
Wahrnehmung ausführlich in der >Beilage< ganz am Ende der l o g i -
schen Untersuchungen behandelt (Kapitel 7). In der Auseinander-
setzung mit natürlichen, philosophischen und psychologischen Phä-
ZU DEN LOGISCHEN UNTERSUCHUNGEN 69
Husserl studierte von 1876 bis 1881 zuerst in Leipzig dann in Berlin
die klassischen Naturwissenschaften Physik, Mathematik und Astro-
nomie, deren strenge Gesetze allen übrigen Wissenschaften ein Vor-
bild abgaben, sowie Philosophie. Sein starkes erkenntnistheoretisches
Interesse ging von der logischen Mathematik aus und richtete sich un-
ter dem Einfluß Brentanos auf die Psychologie, die zu seiner Zeit all-
gemein als Grundlage jeglicher Theorie der Erkenntnis galt. Husserls
philosophische Bemühungen zielten darauf ab, dem naturwissen-
schaftlichen ein ebenso strenges philosophisches Erkenntnisideal zur
Seite zu stellen.
1887 habilitierte er sich mit einer Arbeit >Über den Begriff der
Zahl<. Daraus ging im Jahre 1891 seine erste Buchveröffentlichung,
die Brentano gewidmete >Philosophie der Arithmetik<, hervor. War
im Untertitel der Habilitationsschrift lediglich von psychologischen
Analysen die Rede, so lautete der Untertitel des Buches alsbald > Lo-
gische und psychologische Analysen<, was einen Richtungswandel
der Husserlschen Bemühungen um eine philosophische Begründung
der Arithmetik andeutet. Im ersten Teil der Abhandlung geht es um
die Analyse und Aufklärung der arithmetischen Grundbegriffe Zahl
bzw. Anzahl, Einheit und Vielheit, die als „Fundamentalbegriffe der
menschlichen Erkenntnis überhaupt"1 geltend gemacht werden, im
zweiten Teil allein um den symbolischen Anzahlbegriff.
Diese Passage wird als eine der frühesten, wo Husserl von Phänomenen spricht,
von Wolfgang Kienzier in seiner chronologischen Stellenkommentierung erwähnt,
ohne daß mehr zu erfahren wäre, als daß der Begriff des Phänomens hier als psy-
chologischer terminus technicus auftritt (What Is a Phenomenon? The Concept of
Phenomenon in Husserl 's Phenomenology. In: Analecta Husserliana, Bd. XXXIV
(1991), 517-528, S. 518.).
DER PSYCHOLOGISCHE ANSATZ 73
Begriff von Verbindung bzw. Vielheit. Danach ist Vielheit „ganz ein
fach und ohne jede Umschreibung" nichts weiter als etwas und etwas
und etwas usw. (XII, 80). Husserl versucht auch hier wieder, Inhalt
und Entstehung des Begriffs der Vielheit psychologisch zu erläutern.
Mit der Beschreibung von Phänomenen ist die Reflexion auf Vor
stellungen verbunden. Husserl gelangt darüber zu der Einsicht, daß
die Inhaltslosigkeit des Begriffs des Etwas dem Vielheitsbegriff ent
scheidend zu seiner Allgemeinheit verhilft. Im gleichen Zuge werden
die Begriffe Etwas, Eins, Vielheit, Anzahl als inhaltsleere und allge
meinste, mithin als Formbegriffe oder Kategorien dargestellt. Damit
vollzieht Husserl einen wichtigen Schritt weg von der psychologi
schen hin auf eine rein logische Fundierung der Mathematik.
Weil Husserl den von Brentano übernommenen Phänomenbegriff
so erweitert, daß damit auch abstrakte Momente des Denkens und der
Anschauung erfaßbar werden, muß er die Korrespondenz von physi
schen und psychischen Phänomenen aufgeben, von der Brentano im
Rahmen eines eingeschränkten Phänomenbegriffs ausging (vgl. hier
zu Fußnote XII, 70). Wenn nicht mehr nur eine Ähnlichkeitsanschau
ung, sondern Ähnlichkeit selbst ein psychisches Phänomen darstellt,
kann der Ähnlichkeit kein physisches Phänomen mehr entsprechen.
Bei Husserl zeichnet sich so eine Klasse höherer, abstrakter psychi
scher Phänomene ab, die als Reflexionsphänomene bezeichnet werden
können. In solchen Reflexionsphänomenen finden selbst die logischen
Bedeutungen eine phänomenale Grundlage.
Beispielhaft für Husserls Erweiterung des Phänomenbegriffs ist die
Bestimmung der Relation als ,jenes komplexe Phänomen, welches die
Grundlage für die Bildung der relativen Attribute bildet." (XII, 67)
Relationen unterscheidet er nicht über den Umweg ihrer Inhalte, ei
nerseits primären Inhalten bzw. physischen Phänomenen, andererseits
psychischen Akten und Phänomenen. Anders als Brentano klassifi
ziert er Relationen direkt „nach ihrem eigenen phänomenalen Charak
ter" (XII, 68). Im ersten Fall ist das Relationsphänomen im Inhalt der
Vorstellung selbst bewußt, weshalb von einer Primärrelation gespro
chen werden kann. Im zweiten Fall stellt sich eine Verbindung nicht
in der Vorstellung, sondern erst in der Reflexion darauf her.
In Husserls frühem Ansatz zur philosophischen Begründung der
arithmetischen Grundbegriffe verbinden sich mit dem Verweis auf
konkrete Phänomene und deren Charakterisierung auf eine noch recht
vage Weise psychologische Reflexionen sowohl auf psychische Akte,
als auch auf Inbegriffe. Die konkreten Phänomene werden sowohl
psychologisch hinsichtlich ihrer Entstehung, als auch logisch hin
sichtlich ihrer Bedeutung beschrieben. Hierbei spielt der Begriff des
DER PSYCHOLOGISCHE ANSATZ 75
Ohne Bezug auf Husserls frühe Begriffsverwendung, hat Haardt dessen Rede von
Wesen zu relativieren versucht, indem er das Wesen einer Sache als „Inbegriff der
für sie wesentlichen Eigenschaften" (Von den bloßen Worten , a.a.O., S. 326) in-
terpretierte. Er bemühte sich ebenso darum. Husserls Konzept der Wesensschau im
Ausgang von Sprachanalysen und in maßgeblicher Verbindung mit dem Verfahren
der freien Variation der Bestimmungen und Eigenschaften einer Sache den gemä-
ßigten, hermeneutischen Sinn eines möglicherweise unabschließbaren Analysepro-
zesses zu geben (siehe ebd., S. 330). Husserl selbst kommt auf den Inbegriffs-
begriff in der 3. LU zurück und definiert ihn im Unterschied zum Begriff des in-
haltlich bestimmten Ganzen als bloßes, nichteinheitlich fundiertes, gleichgültiges
Zusammensein von Inhalten als Teilen, bzw. als kategoriale Einheitsform des
Denkens. Mit den jeweiligen Inbegriffen ist „das Fundament für eine systemati-
sche Theorie der Verhältnisse von Ganzen und Teilen nach ihren reinen Formen
gegeben, nach ihren kategorial definierbaren und von der »sinnlichen« Materie der
Ganzen abstrahierenden Typen." (XIX/1, 290)
76 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
Daten für die Gesetze der Logik selbst eine Rolle spielen. Den logi
schen Elementarbegriffen sollen ebenso elementare psychische Daten
entsprechen. Durch eine strikte Zuordnung beansprucht die Psycho
logie die logischen Grundbegriffe aufzuklären. Aber selbst wenn sie
diese Entsprechung nachweisen kann, bleibt fraglich, welchen Beitrag
zur Bedeutungsbestimmung der logischen Begriffe sie damit leistet.
Die psychologischen Analysen und Darstellungen sind auf die Bil
dung, weniger auf die Bedeutung der Begriffe gerichtet, und so lange
beides nicht verwechselt wird, wäre der Psychologismus nicht pro
blematisch.
Psychologische Beschreibung soll angesichts der Undefinierbarkeit
des logisch Elementaren die Aufgabe einer Elementardefinition erfül
len. Die Beschreibung bietet sich als Ausweg an, solchen Begriffen
immerhin einen psychologischen Ausweis zu verschaffen. Wo logisch
nicht mehr weiterzukommen ist, soll wenigstens die psychologische
Grundlage des Logischen beschrieben werden. Zwischen dem Begriffs
logischen und dem Psychologischen wird eine Verbindung hergestellt,
ohne deren kausalen Charakter explizit zu kennzeichnen. Konkrete
Phänomene bilden die Grundlage für die logischen Begriffsabstrak
tionen. Aus diesem Grundsatz ergibt sich für die psychologische Be
schreibung eine zweifache Aufgabe.
Erstens sollen die konkreten Phänomene selbst beschrieben wer
den. Beschreibung tritt dabei als bloße Beschreibung auf. Sie ist lo
gisch allerdings solange ohne Bedeutung, wie die psychologische
Verbindung zwischen den konkreten Phänomenen, den psychischen
Daten, und den Begriffen unberücksichtigt bleibt. Die bloße Beschrei
bung der psychischen Phänomene kann allein keinen Beitrag zur
Aufklärung logischer Begriffe leisten. Die Verbindung zwischen psy
chischen Daten und logischen Begriffen ist hier ganz lose und der
psychologistische Ansatz ebenso schwach wie logisch unerheblich.
Zweitens kommt deshalb der Beschreibungen die Aufgabe zu, die
Art des Abstraktionsvorgangs klarzulegen, in der die logischen Be
griffe aus konkreten Phänomenen hervorgehen. Die Abstraktion selbst,
d.h. die Begriffsbildung im psychologistischen Sinne, soll beschrie
ben werden. Diese Aufgabe reicht über die bloße Beschreibung so
weit hinaus, daß es als fraglich gelten muß, inwiefern sie überhaupt
von der Beschreibung bewältigt werden kann. Husserl selbst spricht
vage genug von „klarlegen". Die Antwort, die Husserl im ersten Teil
seiner Schrift anhand des Inbegriffsbegriffs entwickelte, läßt sich nun
so verstehen, daß es bei der Beschreibung des Abstraktionsvorgangs
um Beschreibungen von Reflexionen auf psychische Akte geht. Die
psychologische Beschreibung ist auf diesem Niveau an die Reflexion
^8 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
gebunden. Inwiefern sich die Gegebenheit der Akte, auf die reflektiert
wird, und damit ihre Beschreibung von derjenigen konkreter Phäno-
mene unterscheidet, bleibt unklar.
Dem Versuch, die logischen Begriffe im Verweis auf Phänomene
und abstraktive Akte zu begründen, stellt Husserl sprachliche Bemü-
hungen zur Seite, die vom Namen des Begriffs ausgehen, sofern er
dessen Bedeutung nicht eindeutig zum Ausdruck bringt. Name und
Begriff treten hier als Ausdruck und Bedeutung auf. Entweder ist der
Begriff mehrdeutig, so daß mit dem Namen allein nicht geklärt ist,
welche von seinen Bedeutungen gemeint ist. In diesem Fall spricht
Husserl von Äquivokation. Oder der Begriff ist überhaupt mißver-
ständlich und verlangt allererst eine Ausdeutung. In beiden Fällen
hält Husserl eine sprachliche Aufklärung für sinnvoll.
„Verschiedene Umschreibungen" der Begriffe zu geben und so ih-
re Grenzen schärfer zu bestimmen, heißt für Husserl nicht lediglich,
genauere Begriffe einzuführen. Von der „sprachlichen Darlegung" ei-
nes Begriffs als einer erläuternden Beschreibung wird die Aufklärung
des Abstraktionsvorgangs verlangt. Die Umschreibungen gehen über
bloße Ausdrucksverfeinerungen und psychologische Erklärungen hin-
aus. Sie zielen darauf ab und werden daran gemessen, daß sie den
Nachvollzug der Begriffsabstraktion selbst ermöglichen.
Begriffsbeschreibung wird als Begriffsbildung verstanden. Tat-
sächlich erweist sich eine Begriffsdefinition dann als gelungen, wenn
sie die eigenständige Erzeugung erlaubt. Erzeugung aber wozu? Hus-
serl antwortet: zum Verständnis des Begriffs, wenn dazu dessen Na-
me nicht hinreicht. Aufgrund von Äquivokationen und Mißdeutungen
des Begriffs wird aber der Name nicht nur falsch verstanden, sondern
vor allem falsch gebraucht. Husserl heißt es gut, „wenn Mathematiker
an der Spitze ihres Systems anstatt eine logische Definition der Zahl-
begriffe zu geben, »die Weise beschreiben, wie man zu diesen Begrif-
fen kommt«". Die richtigen Beschreibungen, „die ihren Zweck auch
erfüllen", wären dann aber diejenigen, die angäben, wie Begriffe rich-
tig gebraucht werden.
Daß sich ein richtiges oder falsches Verständnis gar nicht anders
zeigt, als am richtigen oder falschen Gebrauch der Wörter, hat erst
Wittgenstein zum Grundsatz seiner pragmatischen Theorie der Be-
deutung gemacht. Er kürzte konsequent die ganze Psychologie als
unüberprüfbar und als genauso selbstverständlich wie überflüssig aus
der Begriffsverwendung heraus. So ließ sich der Lernerfolg einer Be-
griffsvermittlung behavioristisch allein am richtigen Wortgebrauch
bemessen und überprüfen. Im Gegensatz dazu verklärt Husserl seine
Rede vom rechten Begriffsverständnis immer wieder durch den Ver-
DER PSYCHOLOGISCHE ANSATZ 79
Daß in dieser Richtung, als Resultat von Husserls frühen semiotischen Überlegun-
gen gerade zu den uneigentlichen Vorstellungen, ein Grundmotiv von Husserls
späterem phänomenologischen Programm liegt, auf die Sachen selbst zurückzuge-
hen, merkt Tobias Trappe an: Zur Vorgeschichte der transzendentalen Erfahrung.
In: Archiv für Begriffsgeschichte, 39 (1995), 178-200, S. 193.
DER PSYCHOLOGISCHE ANSATZ 81
5
„Thus we can say that the subject-matter of the descriptive-psychological analysis
in Philosophie der Arithmetik is consciousness as empirical psyche, i.e., as a cer-
tain part of nature. Accordingly the description itself is to be defined as that de-
scription appropriate to empirical theory: the simple expression is a notion of the
factual matters as they are." (T. Sodeika, Psychologism and Description in Husserl's
Phenomenology. In: Analecta Husserliana, Bd. XXXIV (1991), 219-230, S. 222.)
6
Siehe E. W. Orth, Beschreibung in der Phänomenologie..., a.a.O., S. 31.
7
E. W. Orth, Zu Husserls Wahrnehmungsbegriff. In: Paragrana, 4 (1995) 1, 104-
119, S. 108.
82 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
aber aufeinander auf. So vertiefen die zweite, dritte und vierte Unter-
suchung das Thema jeweils der vorangehenden Untersuchung in einer
bestimmten Hinsicht. Die zweite Untersuchung nimmt die Rede von
den idealen Einheiten der Bedeutung aus der ersten Untersuchung auf
und diskutiert deren Eigenständigkeit. Die dritte behandelt die idealen
Bedeutungen und abstrakten Momente des Bewußtseins unter dem
Gesichtspunkt der Teil-Ganze-Beziehung, die vierte wiederum diese
Beziehung als eine von selbständigen und unselbständigen Bedeutun-
gen.
Rechnet man die vielfältigen philosophiegeschichtlichen Bezüge
und Auseinandersetzungen in der zweiten Untersuchung ab, läßt sich
im Zuge der Themeneinengung die beständige Abnahme des Umfangs
der ersten vier Untersuchungen feststellen. In Anbetracht ihrer thema-
tischen und äußerlichen Beziehungen bilden diese Untersuchungen
eine Einheit. Die 5. und die 6. LU heben sich davon deutlich sowohl
durch die relative Eigenständigkeit ihres Themas als auch ihres grö-
ßeren Umfangs wegen ab. Sie beanspruchen fast die Hälfte des Ge-
samtwerkes. Die ersten vier Untersuchungen erscheinen ihnen gegen-
über als Vorarbeiten. Die Bedeutungsanalyse der ersten Untersuchung
wird in der fünften für eine allgemeine Bewußtseinsanalyse fruchtbar
gemacht, die in der sechsten wiederum als Erkenntnistheorie ausge-
formt wird.
Daß Husserl insgesamt fast tausend Seiten vorlegte, ist weniger ein
Zeichen dafür, daß er sich bei seinem zweiten, lange erwarteten Buch
nicht hatte lumpen lassen wollen, als dafür, daß er sich mit dem The-
ma schwer tat. Sein aufgewühltes Denken widersetzte sich der ge-
bündelten Darstellung. Daran sollte sich in seinem späteren Schaffen
wenig ändern. Nur ausnahmsweise gelang ihm wie mit den >Ideen I<
1913, oder der >Formalen und transzendentalen Logik< 1929 die Nie-
derschrift und Veröffentlichung eines Werkes binnen kurzer Zeit. Mit
dem universalen Anspruch auf Begründung der Wissenschaften ei-
nerseits und der sich ständig verfeinernden Praxis der Analyse und
Beschreibung andererseits war ein Forschungsunternehmen entfes-
selt, das Husserl kaum zu bändigen wußte.
Die >Prolegomena zur reinen Logik< stellte Husserl bewußt in die
Tradition Kants, der mit seinen 1783 erschienenen >Prolegomena zu
einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten
können< die zwei Jahre zuvor erschienene >Kritik der reinen Vernunft*
erläutern und den apriorischen Ursprung der Naturwissenschaften in
den reinen Verstandesbegriffen erweisen wollte. Ebenso wollte Hus-
serl, die idealen Grundlagen der Logik beweisen und darüber zu einer
allgemeinen Wissenschaftstheorie gelangen. Den Großteil seiner Zeit-
DER WEG IN DIE PHÄNOMENOLOGIE 85
genossen, welche die Logik auf Psychologie und der von ihr unter-
suchten Gesetzmäßigkeiten des Denkens aufbauten, bezichtigte er des
Psychologismus. Der Vorwurf, Psychologie am falschen Ort zu trei-
ben, war gegen ihn selbst in Freges Rezension seines ersten Buches
erhoben worden. Seitdem hatte sich Husserl um eine alternative Be-
gründung der Logik und damit des ganzen Systems der Wissenschaf-
ten bemüht.2
Im folgenden soll gezeigt werden, in welchem Sinn in den >Prole-
gomena< von Phänomenen gesprochen wird, welche Rolle sie in dem
Entwurf einer reinen Logik spielen, und inwiefern dabei von Beschrei-
bung die Rede ist. Darauf wird die Evidenztheorie genauer unter-
sucht, in der am deutlichsten zum Ausdruck kommt, welche Phäno-
mene in einer reinen Logik und wie sie behandelt werden. Schließlich
wird das Programm der Aufklärung und Fixierung von Kategorien mit
dem Programmentwurf der >Philosophie der Arithmetik< verglichen.
2
Der Einfluß Freges auf Husserls Psychologismuskritik ist allgemein anerkannt. Im
Gegensatz zu den meisten Interpreten wirft jedoch, Manfred Sommer zufolge, Fre-
ge Husserl nicht direkt einen Psychologismus vor, sondern diagnostiziert einen
psychologischen Idealismus, welche Diagnose Husserl in einem Maße beeindruck-
te, daß er fortan das Getadelte im vollen Bewußtsein tat: „die Überführung des
Wirklichen ins Vorgestellte und die Deskription dessen, was sich an diesem Vor-
gestellten - den Phänomenen - ablesen läßt." (Husserl und derfrühePositivismus.
Frankfurt a. M. 1985, S. 101) Diese Interpretation ist keineswegs abwegig. Husserl
hält jedoch über die Unterscheidung einer genetischen von einer rein deskriptiven
Psychologie in den >Logischen Untersuchungen von 1900/01 hinaus nicht am prä-
zisierten Psychologie-, wohl aber am Beschreibungsbegriff fest und steuert darüber
auf einen transzendentalen Idealismus zu.
86 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
gischen Behandlung, daß sie in seinem Ansatz fast keine Rolle spie-
len. Die einsichtige Gegebenheit und Erfaßbarkeit logischer Gesetze
wird zwar in einer Theorie der Evidenz reflektiert. Daß die Erlebnis-
haftigkeit der Evidenz etwas einzigartig Phänomenales sein könnte,
wird in der Auseinandersetzung mit dem Psychologismus noch nicht
deutlich.
Die >Prolegomena< stellen eine heftige Reaktion auf den Psycholo-
gismus dar. Insofern sich Husserl entschieden vom Psychologismus
abzusetzen sucht, der sein eigenes Denken maßgeblich geleitet hatte,
geraten selbst die psychischen Phänomene in Mißkredit. Dabei läuft
sein Logizismus stellenweise Gefahr, das Kind mit dem Bade auszu-
schütten. Nach Husserls Widerlegung des Psychologismus finden in
den letzten Kapiteln der >Prolegomena< Phänomene keine weitere Be-
achtung. Die Logik wird strikt von der Psychologie abgegrenzt. Die-
sem Unternehmen den Titel Phänomenologie zu geben, muß Husserl
anfangs gänzlich ferngelegen haben. Von Phänomenologie ist in den
>Prolegomena< überhaupt nur an einer einzigen Stelle die Rede. In ei-
ner Fußnote, deren rückblickender Charakter sie als eine späte An-
merkung, bzw. einen Nachtrag ausweist, wird kurz auf „die deskriptive
Phänomenologie der inneren Erfahrung" verwiesen, „welche der em-
pirischen Psychologie und, in ganz anderer Weise, zugleich der Er-
kenntniskritik zugrunde liegt" (XVIII, 215).
Vom Phänomen her lassen sich die logischen Fundamentalbetrach-
tungen der >Prolegomena< nicht nur nicht verstehen, sie treten gera-
dezu in einem Gegensatz dazu auf. Am Beispiel der Vorstellungen
wird ausgeführt, daß es in der Logik nicht auf die psychologischen,
erlebnishaften oder phänomenalen, sondern auf die formalen oder spe-
zifischen Momente ankommt. „Die bezüglichen Analysen sind Bedeu-
tungsanalysen, also nichts weniger als psychologische Analysen. Nicht
individuelle Phänomene, sondern Formen intentionaler Einheiten wer-
den analysiert, nicht Erlebnisse des Schließens, sondern Schlüsse."
(XVIII, 178) Daß sich dieses logisch-ideale Projekt gleichwohl zu ei-
ner Phänomenologie ausformt, hängt zusammen mit Husserls Ziel-
stellung, Erkenntnistheorie nicht abstrakt, sondern auf der Grundlage
ausweisbarer Tatsachen zu betreiben, womit eine Vertiefung des Phä-
nomen- und Beschreibungsbegriffs einhergeht.
In der Auseinandersetzung mit der psychologistischen Begründung
der Logik prägt Husserl in den >Prolegomena< keinen eigenen, positiv
besetzten Begriff des Phänomens aus. Ebensowenig stellt er eine Be-
ziehung zwischen dem psychologischen Begriff des Phänomens und
denjenigen Begriffen her, welche die Gegenstände einer reinen Logik
bezeichnen. Hier macht Husserl vor allem vom Begriff des Wesens
88 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
3
Vgl. hierzu M. Sukale, Denken. Sprechen und Wissen. Logische Untersuchungen
zu Husserl undQuine. Tübingen: Mohr, 1988, S. 160 ff. u. 221 ff.
4
Siehe hierzu weiter unten S. 208 ff.
90 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
5
Vgl. M. Sukale, a.a.O., S. XIII. Ins andere Extrem der Entwertung des Idealen ver-
fällt die Gegenseite ebenso notorisch, nicht nur Quine, wie Sukale zeigt, sondern
auch der späte Wittgenstein. Siehe hierzu P. M. S. Hacker, Einsicht und Täuschung
Wittgenstein über Philosophie und die Metaphysik der Erfahrung. Frankfurt a. M.
1978, S. 237.
92 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
Beim Versuch, die Psychologie mit ihren eigenen Waffen auf dem
fremden Feld der Logik zu schlagen, werden die empirisch-psycholo-
gischen Beschreibungen ansatzweise in Werkzeuge einer ideal-apo-
diktischen Wissenschaft verwandelt. Die Gültigkeit der Aussagen und
Gesetzmäßigkeiten der Psychologie soll auf den Bereich der Empirie
beschränkt, die Gesetze der reinen Logik hingegen durch apodikti-
sche Evidenz und absolute Exaktheit charakterisiert und grundsätzlich
davon unterschieden werden. Bei Beschreibungen kommt es Husserl
auf Exaktheit an, selbst wenn diese, wie im Fall der Beschreibung der
Übergänge zwischen allgemeinem Wissen und individuellen Wissens-
akten, mit Weitläufigkeiten einhergeht (XVIII, 28).
Der unterschiedliche Gebrauch, der von Beschreibung gemacht
werden kann, kommt bei der Diskussion des Charakters des Satzes
vom Widerspruch als eines Naturgesetzes zum Vorschein. Husserl
wirft den „verschiedenen gelegentlichen Formulierungen des vermeint-
lichen Gesetzes" vor, nur „sehr nachlässige Ausdrücke" (XVIII, 104)
der psychologischen Tatsachen, beispielsweise der Unverträglichkeit
sich widersprechender Urteile, zu sein. Statt dessen müßte die Kritik
des Gesetzescharakters psychischer Phänomene anhand „einer begriff-
lich genauen Beschreibung und Umgrenzung der uns wohl vertrauten
Erfahrung unternommen" werden. Ohne diese „streng wissenschaftli-
che Haltung" bleiben die empirischen Verallgemeinerung „mit einer
DER WEG IN DIE PHÄNOMENOLOGIE 93
Das zwiespältige Anliegen der >Prolegomena< ist es, die völlige Un-
abhängigkeit der Wahrheiten der Logik von der Psychologie zu er-
weisen und ihnen gleichwohl eine Grundlage in einer speziellen
Erfahrung zu verschaffen. Hiermit befindet sich Husserl im Wider-
spruch zur Mehrzahl seiner Zeitgenossen. Die Kritik von deren Auf-
fassungen bleibt jedoch solange negativ, bis der Beweis erbracht ist,
daß die Idealität der logischen Wahrheiten auf spezifische Weise er-
fahrbar ist. Den konkreten phänomenologischen Beweis diesbezüglich
tritt Husserl erst in der 6. LU mit der Theorie kategorialer Erfahrung
an. Die Argumentation wird in den >Prolegomena< vorbereitet, wo
Husserl versucht, die mögliche Erfahrbarkeit des Idealtheoretischen
durch eine Evidenztheorie der Wahrheit zu erweisen.
96 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
Da die vorliegende Arbeit auf die erste Auflage der >Logischen Untersuchungen
beschränkt ist, beziehen sich auch alle Zitate auf diese Ausgabe. Einen Hinweis
darauf, daß eine zitierte Stelle von der zweiten und den ihr, von einigen Druckfeh-
lerkorrekturen abgesehen, folgenden beiden zu Husserls Lebzeiten erschienenen
deutschen Ausgaben abweicht, geben die in diesen Fällen neben dem Stellennach-
weis der Husserliana-Ausgabe zusätzlich vemierkten Seitennachweise der ersten
Auflage (in diesem Fall: A 101). In den wenigen Fällen, wo wir auf die zweite
Auflage verweisen, wird dies ebenfalls kenntlich gemacht.
DER WEG IN DIE PHÄNOMENOLOGIE 91
7
Th. W. Adorno, a.a.O., S. 123.
8
E. Ströker; P. Jansen, Phänomenologische Philosophie. Freiburg (Breisgau); Mün-
chen 1989, S. 86 f. Das Binnenzitat stammt aus E. Husserl, Erste Philosophie
(1923/4) Zweiter Teil: Theorie der phänomenologischen Reduktion. Husserliana,
Bd. VIII. Den Haag 1959, S. 383. - An Haardts Relativierung des Wesens zum In-
begriff wesentlicher Eigenschaften einer Sache, auf die weiter oben hingewiesen
wurde, ist bezeichnend, daß das Verfahren freier Variation, das zur Ermittlung sol-
cher Eigenschaften herangezogen wird, den eidetischen Charakter des Husserl-
schen Vorbildes preisgibt. _ .
StMtebibttottwk |
\ München }
98 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
9
R. Bernet; I. Kern; E. Marbach, Edmund Husserl. Darstellung seines Denkens
Hamburg 19962, S. 39.
DER WEG IN DIE PHÄNOMENOLOGIE 99
Vgl. U. Melle, Husserls Kritik und Reform der Psvchologie. In: Brentano Studien,
Bd. VI, 103-123, S. 108.
100 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
die betonte ideale Geltung der Ideen selbst relativiert. Solche psycho-
logistischen Züge der Ideation bleiben nicht ohne Einfluß auf Hus-
serls Bestimmung des Phänomens, worauf wir bei der Betrachtung
der phänomenologischen Fundierungskonzeption im Kapitel 9 genau-
er eingehen.
Am Beispiel der Zahl Fünf unterscheidet Husserl in den >Prolego-
mena< die empirischen Tatsachen des Zählens, Rechnens und Operie-
rens, die als psychische Akte in den Bereich der Psychologie fallen,
von der idealen Spezies. Bei dieser strikten Trennung bleibt Husserl
jedoch nicht stehen. Er versucht darüber hinaus, das Bewußtsein der
Idee selbst auszuweisen. Die Beschreibung, wie wir zu idealen Ge-
genständen gelangen, ist jedoch selbst keine Beschreibung eines idea-
len Gegenstandes. Es geht hier darum, wie die Ideation zu vollziehen
ist.
Vergegenwärtigen wir uns voll und ganz, was die Zahl Fünf eigentlich
ist, erzeugen wir also eine adäquate Vorstellung von der Fünf, so wer-
den wir zunächst einen gegliederten Akt kollektiver Vorstellung von
irgendwelchen fünf Objekten bilden. In ihm ist, als seine Gliederungs-
form, ein Einzelfall der genannten Zahlenspezies anschaulich gegeben.
In Hinblick auf dieses anschauliche Einzelne vollführen wir nun eine
„Abstraktion", d.h. wir heben nicht nur das Einzelne, das unselbständi-
ge Moment der Kollektionsform heraus, sondern wir erfassen in ihm
die Idee: Die Zahl Fünf als Spezies tritt in das meinende Bewußtsein.
Das jetzt Gemeinte ist nicht dieser Einzelfall, es ist nicht die kollektive
Vorstellung als Ganzes, noch die ihr innewohnende, obschon für sich
nicht lostrennbare Form; gemeint ist vielmehr die ideale Spezies, die
im Sinne der Arithmetik schlechthin eine ist, in welchen Akten sie
auch gegenständlich werden mag, und die somit ohne jeden Anteil ist
an der individuellen Einzelheit des Realen mit seiner Zeitlichkeit und
Vergänglichkeit. (XVIII, 174 f.)
Einzelfall und Idee stehen sich gegenüber; beide werden in realen
Bewußtseinsakten erfaßt. Die Auffassung der Idee hat ihre psycholo-
gischen Grundlagen; sie baut auf Einzelerfahrungen auf. Aber dieser
Zusammenhang und die abstraktive Grundlage sind nicht wesentlich
für die Idee als solche. Es kommt Husserl zuerst darauf an, zu zeigen,
daß tatsächlich die Idee gemeint ist, nicht bloß ein Begriff, der sie
vertritt.
Verhilft die Ideation im empirischen Bereich lediglich zu einem
Ideal der Erkenntnis, so realisiert sie sich im mathematisch-logischen
Bereich rein begrifflicher Erkenntnis. Dieser beschränkte Bereich, in
dem Begriffe wie Wahrheit, Satz, Gegenstand, Beschaffenheit, Be-
ziehung, Verknüpfung, Gesetz und Tatsache eine entscheidende Rolle
spielen, erlaubt die Einsicht in allgemeingültige Zusammenhänge und
DER WEG IN DIE PHÄNOMENOLOGIE 101
Sofern die in der Evidenz erlebte Wahrheit mehr sein will als phä-
nomenale Wahrheit, sofern sie faktische Wahrheit zu sein vorgibt,
sind ihre radikalen Ansprüche berechtigterweise als phantastisch zu-
rückzuweisen." „Daß der Vollzug der identifizierenden Deckung noch
keine aktuelle Wahrnehmung der gegenständlichen Übereinstimmung
ist, sondern daß sie dazu erst wird durch einen eigenen Akt objekti-
vierender Auffassung, durch ein eigenes Hinsehen auf die vorhandene
Wahrheit"12, sieht Husserl selbst.
Zum einen kann die Unterscheidung von vier Wahrheitsbegriffen
im § 39 der 6. LU die in den >Prolegomena< vertretene Evidenztheo-
rie der Wahrheit entscheidend vertiefen. Zum anderen kann diese
Wahrheitstheorie ihre Geltung dort behaupten, wo phänomenale und
reale Ebene zusammenfallen, bzw. neben der phänomenalen Ebene die
reale Ebene wegfällt, an der sich sonst alles Phänomale, insbesondere
alle phänomenal erlebte Evidenz ausweisen müßte.
In diesem Grenzfall, wo der intendierte Gegenstand zum reellen Inhalt
des Erlebnisses selbst gehört, tritt zugleich auch die Evidenz der „in-
neren Wahrnehmung" in Aktion, wir haben nicht nur die Evidenz der
Unterschiedenheit der intendierten Data, sondern auch die von ihrem
wirklichen Dasein. (XIX/1, 203 (A 197))
Es handelt sich dabei um in der Reflexion auf Bewußtseinserlebnisse
zum Gegenstand gemachte Phänomene und die Evidenz bei ihrer Be-
stimmung. Bei den Bewußtseinserlebnissen, die sich als Reflexions-
phänomene des Bewußtseins bezeichnen lassen, kann mit der Evidenz
Wahrheit im absoluten Sinn beansprucht werden. Hier ist das eigent-
liche Feld der Phänomenologie, das Husserl durch die Methode der
phänomenologischen Reflexion und später derjenigen der Reduktion
systematisch erschließt. Die Methode kündigt sich in den >Logischen
Untersuchungen an, wenn Husserl bei der Analyse der Bewußtseins-
erscheinungen und Empfindungsinhalte davon spricht, willkürlich
von jeder Deutung abzusehen (XIX/1, 203).
Als „Erinnerung aus zweiter Hand" berichtet Hans Jonas, Philosophie. Rückschau
und Vorschau am Ende des Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1993. S. 12: „Jemand -
ein Außenstehender - fragte einmal Husserl persönlich, ob die Phänomenologie
auch etwas über Gott zu sagen habe. Die Antwort soll gewesen sein: »Wenn wir
ihn als Datum im Bewußtsein antreffen, werden wir ihn eben beschreiben.«"
6. Gegenstand und Methode der Phänomenologie
1
U.Melle, a.a.O., S. 106.
2
A. Haardt, Von den bloßen Worten..., a.a.O., S. 326.
110 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
3
I. Kant, KrV. AA, Bd. III, Berlin 1904, S. 75 (A/B 75).
4
Trappe weist in seinem Aufsatz >Zur Vorgeschichte der transzendentalen Erfah-
rung< (a.a.O., S. 193) daraufhin, daß Husserls Forderung „Zu den Sachen selbst"
mit Brentanos Kritik an sogenannten „Surrogatphilosophien-' und Fichtes Postulat
„Weg mit Zeichen und Wort" zusammengeht, wobei die Kantische Formel von
den anschauungslosen Begriffen gegen gewisse mythisch-spekulative Konstruk-
tionen Kants selbst gewendet wird.
5
E. Ströker; P. Jansen, a.a.O., S. 39.
6
Die Solidität der Phänomenologie streicht Husserl auch später heraus. „Hat man
die rechte Einstellung gewonnen und durch Übung befestigt, vor allem aber, hat
man den Mut gewonnen, in radikaler Vorurteilslosigkeit, um alle umlaufenden und
angelernten Theorien unbekümmert, den klaren Wesensgegebenheiten Folge zu
leisten, so ergeben sich alsbald feste Resultate, und bei allen gleich Eingestellten
die gleichen; es ergeben sich feste Möglichkeiten, das selbst Gesehene anderen zu
vermitteln, ihre Deskriptionen nachzuprüfen, die unbemerkten Einmengungen von
leeren Wortmeinungen zur Abhebung zu bringen, Irrtümer, die auch hier, wie in
112 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
10
Ebd., S. 117. Münch verweist hier auf W. Wundt, Grundriß der Psychologie.
Leipzig 1896, §§ 1 u. 2.
'' Vgl. P. Bieri, Generelle Einfiihrung. In: Analytische Philosophie des Geistes. Hrsg.
v. P. Bieri. Bodenheim 19932, 1-28, S. 13.
12
R. Rorty, Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie. Frankfurt a. M.
1981, S. 278.
114 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
13
Wenn es später heißt, „daß die Aufmerksamkeit eine auszeichnende Funktion ist,
die zu Akten in dem oben präzisierten Sinne von intentionalen Erlebnissen gehört,
und daß somit von ihrem deskriptiven Verständnis so lange keine Rede sein kann,
als man das Erlebtsein, im Sinne des schlichten Daseins eines Inhaltes im Bewußt-
sein, mit der intentionalen Gegenständlichkeit vermengt." (XLX/1, 423), so geht
das deskriptive Verständnis noch deutlicher aus der fortgeschrittenen Analyse und
Unterscheidung der Erlebnismomente hervor.
GEGENSTAND UND METHODE DER PHÄNOMENOLOGIE 1 15
14
Th. W. Adorno. a.a.O., S. 119.
15
Der Unmöglichkeit, die gegenständlichen Momente aus der Reflexion auf die Akte
ganz auszuklammern, trägt Husserl später mit der reduktiven Methode der ijioxi)
als einer Einklammerung Rechnung.
16
E. Fmk, a.a.O., S. 329.
17
Vgl. hierzu weiter unten S. 217 f.
118 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
18
Siehe R. Cristin, Die Phänomenologie zwischen Husserl und Heidegger. In: E. Hus-
serl; M. Heidegger, Phänomenologie (1927). Hrsg. v. R. Cristin, Berlin 1999, 7-32,
S. 18.
19
E. Fink, a.a.O., S. 332.
GEGENSTAND UND METHODE DER PHÄNOMENOLOGIE 119
vorbringung eben jener Wesen und Wesenheiten, die sie den Akten zu
entnehmen meint, oder mit jenen Objektivierungen, die jene Akte her-
vorgebracht haben. Die Phänomenologie als aktive Veränderung der
seelischen Innerlichkeit ist die Gegenthese zu ihrem Anspruch, hin-
nehmende, hinschauende Wesensbetrachtung zu sein. [...] Indem die
Phänomenologie den Akt überschreitet, die Einstellung ändert, verliert
sie nicht das aktive seelische Leben, beendet es nicht - sondern macht
es erst zum Inhalt, gewinnt es erst in seinem Wesen. Etwas in seinem
Wesen fassen, heißt dann, es in seinem Akt-sein fassen, es reflexiv be-
trachten, außer ihm sein. Das Wesen des Aktes, bestimmter Akte gibt
sich erst frei dem meditativen und distanzierten Blick. [...] Indem diese
Einstellung des Denkens sich ereignet, wird das Wesen erblickt. Die
Phänomenologie ist das Ereignis einer geistigen Änderung, die aber
eben das Ganze des seelischen intentionalen Lebens unverändert als ihr
eigen gewinnen will.20
Enger als Husserl meint, ist mit dem Problem der phänomenologi-
schen Einstellung dasjenige der Darstellung und Übermittlung der
phänomenologischen Einsichten verbunden. Bei deren Diskussion
kommen, im Unterschied zum Reflexionsproblem, stärker die sprach-
lich-kommunikativen, deskriptiven Probleme der Phänomenologie zum
Vorschein. Husserl stellt die Probleme nicht in einen inneren Zusam-
menhang. Er rückt sie vielmehr auseinander, indem er phänomenolo-
gisch evidente Einsicht als haltbare und wiederholt identifizierbare
anstrebt, die der Sprache vorhergeht. Die Evidenz der Analyse wird
dadurch zu einer frei schwebenden ungreifbaren Denkleistung, die nur
auf sich selbst verweisen kann. Sucht sie außer sich Halt in sprachli-
cher Darstellung und Vermittlung, untergräbt sie ihren Evidenzcha-
rakter.
Für Husserl ist nicht die Trennung reflexiver Einsichten von ihrer
ausdrücklichen Darstellung das Problem, sondern lediglich die An-
gemessenheit der letzteren. Hierbei werden zwei Seiten unterschieden.
Einerseits seien alle verfügbaren Ausdrücke der „primären Objektivi-
tät" (XIX/1, 15 (A 11)) angepaßt, die der Phänomenologe auf ihre in-
tentionalen Aktleistungen hin untersucht. Der Bereich der subjektiven
Erlebnisse hingegen kann demzufolge „direkt nur mittels ein paar
sehr vieldeutiger Worte wie Empfindung, Wahrnehmung, Vorstellung
u. dgl. bezeichnet werden" (XIX/1, 15). Andererseits räumt Husserl
ein, daß die meinenden Akte unmöglich beschrieben werden können,
ohne im Ausdruck auf die gemeinten Sachen zu rekurrieren. Wir be-
dürfen der uns geläufigen Ausdrücke für das Gegenständliche zur Her-
H. Hülsmann, Zur Theorie der Sprache bei Edmund Husserl. München 1964, S
57.
120 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
da ich hoch hinaufgeklettert bin u. nach 3-4 Jahrzehnten steter Arbeit zu den lich-
ten Höhen emporgedrungen, zu viel. Ich kann nicht glauben, daß ich abberufen wer-
den soll, so ich viel zu sagen habe, u. gerade das, was zu sagen meine Mission war."
(ebd., S. 31 f.) Eine Seite dieses Problems des alten Husserls und seiner Phänome-
nologie hat Edith Stein in einem Brief von 1926 ebenfalls an Ingarden beschrieben.
Zwar „hat sich alles bei ihm zu einer großartigen Einheit zusammengeschlossen,
alle einzelnen Untersuchungen, die ich früher kannte, fügen sich hinein und haben
darin ihren teleologischen Sinn. Aber - nun kommt das wirklich Tragische an der
Sache - dieses Ganze lebt wohl in ihm und er kann in guten Stunden davon spre-
chen, doch ich bezweifle, daß er es je zu Papier, geschweige denn in den Druck
bringen wird, und er hat schlechterdings keinen Schüler, der ganz in seinem Sinne
arbeitet." (ebd., S. 149) Abgesehen von der persönlichen Tragik des Philosophen,
der zu viel sieht, besteht das andere, im Entwurf der Phänomenologie selbst ange-
legte Problem in der systematischen Bevorzugung des Sehens vor dem Sprechen.
Husserl sah sich jedenfalls dem Darstellungsproblem bis zuletzt gegenüber. In den
späten, aus dem Nachlaß bekannten Schriften zur >Krisis<-Abhandlung (Husserlia-
na, Bd. XXIX, a.a.O., S. 193 f.) schreibt er, daß sich ,jeder Versuch, die Lebens-
welt [...] systematisch zur deskriptiven Auslegung zu bringen - als eine Systematik
von Selbstverständlichkeiten - sehr bald in ungewohnte und unbehagliche Um-
ständlichkeiten verwickelt und daß sehr bald auch die alltägliche Allgemeinspra-
che versagt, deren vorwissenschaftliche Begrifflichkeit eben nicht weiter reicht als
ein allgemeines Bedürfnis besteht, auf das subjektive Leben, in dem Welt für uns
seinsgewiß ist, und auf die subjektiven Modi, in denen sie sich jeweils darin dar-
stellt, zu reflektieren. [...] Schließlich wird sogar das Verständnis der Beschreibungen
schwierig, gerade, weil es sich um anschauendes Erfassen handelt - von solchem,
was eben nie thematisch herausgehoben, nie für sich beachtet, zur Abhebung ge-
bracht worden war. Aber ich darf diese Unbequemlichkeiten und Schwierigkeiten
dem Leser nicht ersparen." Die sprachlichen Schwierigkeiten betreffen sowohl den
phänomenologischen Forscher als auch den Leser. Das phänomenologische
Sprachproblem ist also gleichermaßen eines der Darstellung, Übermittlung und des
Nachvollzugs. Wird es indessen als systematische Form derjenigen „Sprachnot"
angesehen, die das philosophischen Denken „angesichts der verfügbaren sprachli-
chen Ausdrucksmöglichkeiten" stets empfindet (H.-G. Gadamer, Begriffsgeschichte
als Philosophie. In: GW, Bd. II, a.a.O., 77-91, S. 85.), dann muß die phänomeno-
logische Erkenntnis selbst aus dieser Not eine Tugend machen und immer auch
Phänomenologie der Sprache sein. Siehe hierzu weiter unten S. 220 ff.
122 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
H. Hülsmann, a.a.O., S. 58
GEGENSTAND UND METHODE DER PHÄNOMENOLOGIE 123
Auf die Tradition dieser sprachkritischen Haltung von Aristoteles über Locke zu
Kant weist Schnädelbach hin, um sie in sprachanalytischer Perspektive als Menta-
lismus zu kritisieren. Siehe Phänomenologie und Sprachanalyse. In: ders.,
sophie in der modernen Kultur. Vorträge und Abhandlungen. Bd. III, Frankfurt a.
M. 2000, 230-255, S. 235 ff.
124 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
„Der wichtigste Ertrag von Husserls frühen Analysen der Urteilswahrheit ist wohl
der Hinweis auf die notwendige Fundierung sprachlicher Erkenntnisakte durch
nicht-sprachliche kognitive Leistungen. [...] Es ist zwar richtig, daß diese vor-
sprachlichen Akte nur im Medium der Sprache wissenschaftlich erforscht werden
können, doch Husserl weigert sich (im Gegensatz zu einer breiten Strömung des
heutigen philosophischen Denkens), daraus zu folgern, daß alle kognitiven Lei-
stungen wesensmäßig die Sprache bereits voraussetzen und somit als sprachliche
Leistungen zu bezeichnen sind. Eine Überprüfung dieser Hypothese unter Berück-
sichtigung der neueren Ergebnisse der kognitiven Psychologie ist ein wichtiges
Desiderat der Aktualisierungen von Husserls erkenntnistheoretischer Problemstel-
lung." (R. Bernet; I. Kern; E. Marbach, a.a.O., S. 179 f.)
In seinen späteren Schriften führt Husserl im Sinne seiner Theorie der Horizontin-
tentionalität für die Reflexion und die Evidenz, damit aber auch für die Beschrei-
bung Stufen ein, die ihre Gültigkeit begrenzen. „Damit wird auch der phänomeno-
logische Wesensbegriff bemerkenswert verflüssigt." E. W. Orth, Beschreibungen
in der Phänomenologie.. a.a.O., S. 33.
GEGENSTAND UND METHODE DER PHÄNOMENOLOGIE 12 5
Husserls Ziel in den >Prolegomena< bestand darin, der Logik die Psy-
chologie auszutreiben. Sofern er der reinen Logik nur mit ebenso rei-
nen Begriffsanalysen beizustehen gedachte, kam er sich mit der Psy-
chologie nicht ins Gehege. Konsequent ist sie in den >Prolegomena<
der reinen Logik entgegengesetzt. In der Skizze der Idee einer reinen
Logik am Schluß der kritischen Betrachtungen der >Prolegomena<
wird deren Unabhängigkeit von jeglicher empirischen und damit auch
psychologischen Wissenschaft erklärt. Sofern nun in den logischen
Untersuchungen über bloße Begriffsanalyse hinausgegangen und der
phänomenologische Weg konkret anschaulicher Aufweisung beschrit-
ten wird, gerät die Phänomenologie mit dem Empirischen unweiger-
lich in einen Bezug zur Psychologie. Indem sich die Phänomenologie
herausbildet, muß sie ihr gespanntes Verhältnis zur Psychologie er-
klären. Die Frage dabei ist, ob diese Spannung die Phänomenologie
charakterisiert oder nicht.
Zwischen dem Erscheinen der >Prolegomena< und den logischen
Einzeluntersuchungen veröffentlicht Husserl 1900 in der >Vierteljah-
resschrift für wissenschaftliche Philosophie< eine >Selbstanzeige< des
ersten Teils seiner >Logischen Untersuchungen^ Darin beruft er sich
auf Brentanos Unterscheidung einer genetischen von einer rein de-
skriptiven Psychologie. Als solche wird die Phänomenologie vorge-
stellt, von deren erkenntnistheoretischen Untersuchungen er die Auf-
klärung der reinen Logik verspricht. Unter einem rein beschreibenden
Vorgehen im Bereich der Logik versteht Husserl die Beschreibung
„ihrer wesentlichen Begriffe und Theorien, ihrer Beziehung zu allen
anderen Wissenschaften und der Art, wie sie diese regelt" (XVIII,
262). Damit bleibt die deskriptive Psychologie weitgehend im Schat-
ten des Programms begrifflicher Fixierungen. Erst in der >Einleitung<
des zweiten Teils der >Logischen Untersuchungen< geht Husserl einen
entscheidenden Schritt weiter, indem er den Rückgang auf die Sachen
selbst zur Aufgabe der Phänomenologie macht. Prompt fällt auf die
Phänomenologie der Verdacht des Psychologismus.26
Im >3. Zusatz< der >Einleitung< kommt Husserl auf den Einwand zu
sprechen, die Phänomenologie würde als deskriptive Psychologie ih-
rer eigenen Psychologismuskritik unterliegen. Sein Versuch, von der
Siehe H.-G. Gadamer, Die phänomenologische Bewegung. In: GW, Bd. III, Tübin-
gen 1987, 105-146, S. 107.
130 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
2
Auf die Formulierung Iso Kerns in seiner Einleitung zum Husserliana-Band XIII
vom denkenden Schreiben Husserls geht Natalie Depraz näher ein: Ecrire en
Phänomenologie «Une autre epoque de l'ecriture». Versanne 1999, S. 21, s. a. 62
f. Sie weist auf die Kluft zwischen der traditionellen logischen Konzeption einer
sinntransparenten Sprache in der Phänomenologie Husserls und seinem gedanken-
und sinnproduzierendem Sprachgebrauch hin. Ausgehend von Derridas Frage nach
der transzendentalen Sprache und der Schrift gilt ihr Interesse der Praxis und dem
Prozeß des Schreibens bei Husserl. Depraz gelingt es durch Bestimmung ver-
schiedener Schreibweisen Husserls, einer gewissen Verklärung des Denkens und
Schreibens zu begegnen, die „Husserl, der seine Gedanken mitzuschreiben pflegte"
(W. Künne, Edmund Husserl - Intentionalitäl. In: Grundprobleme der großen Phi-
losophen. Bd. IV: Philosophie der Neuzeit. Hrsg. v. J. Speck, Göttingen 1986, 165-
215, S. 172), quasi in die Nähe einer surrealistischen ecriture automatique rückt.
Die Frage, was es heißt, denkend zu schreiben, bezeichnet, wie wir gesehen haben,
gerade ein Problem der phänomenologischen Methode reflexiver Deskrip-tion. -
Die Formulierung Kerns findet sich mit Bezug auf Husserls Nachlaß wieder in
dem Gemeinschaftswerk von R. Bernet, I. Kern und E. Marbach, a.a.O., S. 225:
„Husserl hat relativ wenig veröffentlicht, aber er hat sehr viel geschrieben, so daß
sein philosophischer Nachlaß über 40.000, meist in Gabelsberger Stenographie
verfaßte Manuskriptseiten umfaßt. Diese Fülle ist zu ihrem wesentlichen Teil da-
durch entstanden, daß Husserl schreibend Probleme durchdachte. Seine Nachlaß-
manuskripte sind also größtenteils nicht für ein Publikum geschrieben, sondern
bilden »Selbstgespräche«, in denen er um Lösungen von philosophischen Proble-
men rang."
WAHRNEHMUNGEN UND PHÄNOMENE 131
4
R. Bernet; I. Kern; E. Marbach, a.a.O., S. 3.
1
R.A.Mali, a.a.O., S. 19.
WAHRNEHMUNGEN UND PHÄNOMENE 133
6
Siehe hierzu weiter unten S. 213 ff. sowie B. C. Hopkins, a.a.O., S. 129.
Von Heideggers Begriff des Vulgären ließe sich ähnliches sagen, wenngleich des-
sen pejorativer Sinn ungleich stärker ist. Mit seinen wiederholten Beteuerungen,
derlei Kennzeichnungen nicht wertend zu meinen, hielt Heidegger ein negatives
Verständnis der jeweiligen Sachen kaum zurück.
8
Husserliana, Bd. XXIX, a.a.O., S. 268.
134 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
9
Vgl. J.-P. Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen On
tologie. Reinbek b. Hamburg 1990, S. 399.
WAHRNEHMUNGEN UND PHÄNOMENE 137
äußere Selbst-
Husserl geht es in der >Beilage< vor allem um die Aufklärung der phi-
losophischen und speziell der psychologischen Wahrnehmungsbegriffe
Brentanos. Die Erwähnung der populären Wahrnehmungsbegriffe dient
ihm als passender Einstieg, ohne daß er sich genauer darauf einläßt und
damit philosophischen Bestimmungen vorgreift.
In Bezug auf die Geltungsbereiche der gewöhnlichen Wahrnehmungs-
begriffe und deren schematischer Darstellung stellt die philosophische
Gegenüberstellung von einerseits äußerer oder sinnlicher, andererseits
innerer oder reflexiver Wahrnehmung eine radikale Vereinfachung dar.
Descartes' Unterscheidung zwischen mens und corpus greift Locke
im Bereich der Wahrnehmung mit derjenigen von reflection und
sation auf. (Daß Husserl bei Locke fehlerhaft von reflexion anstatt
von reflection (XIX/2, 752) spricht, ist ein weiteres Indiz für die
nachlässige Art, in der Husserl in der Beilage vorgeht und von der al-
so nicht allein die alltagssprachlichen, sondern auch die traditionellen
philosophischen Begriffe betroffen sind.)
140 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
10
Vgl. H. Ineichen, Intentionalität und Sprache: Psychologische oder sprachliche
Charakterisierung der intentionalen Beziehung? In: Grazer Philosophische
en, 15(1982), 21-42, S. 25.
144 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
13
Daß Husserl die von ihm kritisierte Unterscheidung innerer von äußerer Wahr-
nehmung und die daraus entstehenden Probleme in der vieldeutigen Rede von
Transzendenz in der Immanenz weiter mitfuhrt, daß er auf den terminologischen
Unterschied von Immanenz und Transzendenz, den er mit der Methode transzen-
dentaler Reduktion zu unterlaufen sucht, angewiesen bleibt und deren Verhältnis
weiter kritisch bedenkt, zeigt E. W. Orth, Zu Husserls Wahrnehmungsbegriff, a.a.
O., S. 110 f.
14
Husserliana, Bd. XXIX, a.a.O., S. 129 f.
15
R. A. Mall, a.a.O., S. 15.
WAHRNEHMUNGEN UND PHÄNOMENE 147
Gegenstand bewußtseinstranszendent
Anschauungserlebnis / un thematisch
Aquivokation 1
Repräsentation / (Akt)
9
Wegen dieser Äußerung, als „a very interesting kind of argument that shows
Husserl as a philosopher practicing the analysis oflanguage to clear up conceptual
confusion!" (W. Kienzier, What is aphenomenon? a.a.O., S. 525.), muß man Hus-
serl nicht gleich Wittgenstein an die Brust drücken. Husserl betreibt von Beginn an
Begriffsanalysen mit mehr oder weniger Rücksicht auf den philosophischen und
alltäglichen Sprachgebrauch. Den Ausschlag gibt bei ihm jedoch stets ursprüngli-
che, selbst auch Sprache fundierende Erfahrung, in welcher Reinheitsform immer
sie phänomenologisch bestimmt wird.
WAHRNEHMUNGEN UND PHÄNOMENE 151
sind, aus ihren natürlichen Bezügen auf die physischen Dinge heraus-
gelöst werden, als vielmehr darin, daß ihr Sinn auf die in der psy-
chologischen Analyse der Wahrnehmung gewonnenen Gegenstände
übertragen wird.
(2) Mit dem Gebrauch eines engen und eines weiten Wahrneh-
mungsbegriffs geht ein enger und ein weiter Sinn von physischem
Phänomen einher. Im engen Begriffsgebrauch wird das äußere Ding
als physisches Phänomen aufgefaßt. Das physische Phänomen ist hier
Erscheinung in dem eigentlichen Sinn der zweiten von Husserl unter-
schiedenen Äquivokation. Im weiten Begriffsgebrauch werden auch
die Anschauungserlebnisse, die Erscheinungen vor allem im Sinn der
dritten Äquivokation, als physische Phänomene aufgefaßt.
Weil Brentano die Äquivokation zwischen angeschautem Gegen-
stand einerseits, Repräsentation, bzw. präsentierender Empfindung
andererseits als Erscheinung übersieht, erweisen sich ihm beide Er-
scheinungen im Lichte der äußeren Wahrnehmung unterschiedslos als
trügerisch. Husserl zufolge entgeht ihm, daß aus der äußeren Wahrneh-
mung psychologische Reflexion wird, wenn nicht mehr das physische
Ding, sondern das konkrete Erlebnis selbst Gegenstand der Wahrneh-
mung ist. Die Reflexion auf die konstitutiven Erlebnisse der äußeren
Wahrnehmung wird zwar Wahrnehmung in einem uneigentlichen
Sinn, kann für sich jedoch eine ausgezeichnete Evidenz beanspru-
chen.
Ausgehend von der natürlichen Wahrnehmung eines äußeren Ge-
genstandes, eines Hauses bspw., unterscheidet Husserl zwischen dem
wahrgenommenen Haus und den präsentierenden Empfindungen, die
dabei erlebt aber selbst nicht wahrgenommenen sind. Sofern sie als
Inhalte eigens betrachtet werden, wird von dem natürlichen Gegen-
stand, dem Haus, abgesehen. Die Wahrnehmung der reinen Erlebnis-
inhalte ist nicht mehr wie die Wahrnehmung des äußeren Gegen-
stands trügerisch, sondern evident. Die Evidenz der Reflexion auf den
erlebten Inhalt einer sogenannten äußeren Wahrnehmung veranlaßt
Husserl, die herkömmliche Unterscheidung von äußerer und innerer
Wahrnehmung ebenso wie diejenige von physischen und psychischen
Phänomenen in Frage zu stellen. Indem er die Phänomene anders als
Brentano einteilt, eröffnet sich ihm die Möglichkeit, deskriptive Psy-
chologie als Phänomenologie schlechthin zu betreiben.
Brentanos Unterscheidung von physischen und psychischen Phä-
nomenen ist Husserl zu grobschlächtig. Den Bereich der psychischen
Phänomene schränkt Brentano auf die reellen Akterlebnisse ein, die
in der inneren Wahrnehmung so wahrgenommen werden, wie sie da
sind. Er greift damit die von Husserl gekennzeichnete erste Äquivo-
152 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
Vgl. die Unterscheidungen am Beispiel des Zahnschmerzes weiter oben S. 137 ff.
R. Bernet; I. Kern; E. Marbach, a.a.O., S. 53.
154 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
2
Vgl. J. Derrida, La voix et lephenomene. a.a.O., S. 37.
3
Sukale hingegen, a.a.O., S. 37 f., hält an der Auffassung fest, daß sich der Sprach-
gebrauch im Denken als interne Mitteilung vollzieht. Zur Kritik an Husserls Kon-
zept des Ausdrucksgebrauchs im „einsamen Seelenleben" vgl. R. Bernet; I. Kern;
E. Marbach, a.a.O., S. 157: „Die Behauptung, daß das Wesen des bedeutsamen
160 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
Sprechens in der »einsamen Rede« am reinsten zum Ausdruck komme, stützt sich
[...] auf die Überzeugung, das sprachliche Zeichen sei ein bloß sekundär mit der
Bedeutung verknüpftes, äußerliches Kleid, die ideale Bedeutung hingegen der We-
senskern eines sprachlichen Ausdrucks. Das Wesen der Sprache besteht dieser
Auffassung zufolge also darin, sich mit solcher Wirksamkeit in den Dienst des
Denkens zu stellen, daß man sie gar nicht bemerkt bzw. ihre vermittelnde Funktion
vergißt". Sie sehen Husserls Bedeutungs- und Zeichentheorie auf dem Hintergrund
einer Philosophie der Präsenz und verweisen in ihrer Kritik auf Derridas Infrage-
stellung des traditionellen, metaphysischen Vorzugs der Identität/Anwesenheit vor
der Differenz/Abwesenheit. „Die eigentlichen Denkakte, von denen der Wahrheits-
wert der Erkenntnis wesentlich abhängt, sind vorsprachlich, und sprachliche Er-
kenntnisakte sind nur insofern möglicherweise gültig, als sie diesen vorsprachli-
chen anschaulichen Denkakten »getreulich nachfolgen« bzw. sie zu »eindeutigem
Ausdruck« bringen (§ 63 [der 6. LU]). Diese Forderung eines Verhältnisses ein-
deutiger Repräsentation der Akte vorsprachlichen Denkens durch das »System der
sie ausdrückenden ... Bedeutungen« (ebenda) ist sprachphilosophisch insofern be-
denklich, als es höchstens für die als »Kleid« des Denkens fungierende ideale
Sprache zutrifft und dem bedeutungsstiftenden normalsprachlichen Umgang mit
sprachlichen Zeichen somit nicht Rechnung zu tragen vermag. Die Ansetzung ei-
nes vorsprachlichen Wahrheitskriteriums hat auch eine gewisse Privatisierung die-
ses Kriteriums zur Folge und zwar insofern, als der Vollzug eines eigentlichen
Denkaktes bzw. einer Erfüllungssynthese ein innersubjektives Erlebnis ist. das der
intersubjektiven Sprachgemeinschaft der wissenschaftlich Forschenden erst sekun-
där zugänglich gemacht werden kann." (ebd., S. 177)
AUSDRUCKS- UND BEDEUTUNGSERLEBNISSE 161
Das Schema gliedert sich in zwei Stränge und vier Ebenen. Auf der
oberen Ebene sind die transzendenten real-objektiven Korrelate vom
psychischen Erlebnis abgesondert. Daß Ausdrücke und Zeichen wie
Gegenstände als transzendent dem Bewußtseinserleben gegenüberge-
stellt werden können, ist durch die oben erläuterte Unterscheidung
des kommunikativen und einsamen Ausdrucksgebrauchs, bzw. die Un-
terscheidung der materiellen Existenz von Wortklängen und Schrift-
zügen und der Existenz bloßer Wortvorstellungen gerechtfertigt. Das
Bewußtseinserlebnis selbst nimmt die beiden mittleren Ebenen ein.
Alle hier unterschiedenen Momente lassen sich im Bewußtsein in der
jeweiligen Einheit symbolischer oder erfüllter Ausdruckserlebnisse
finden: die konkret-erscheinenden Momente, einerseits des Ausdrucks,
andererseits des Gegenstands, die anschaulich oder in sonst einer Wei-
se vergegenwärtigt sind, darunter die konstitutiven Akte, die in der
phänomenologischen Reflexion allererst gegenständlich werden. Auf
der untersten Ebene sind deren ideale Bedeutungs- bzw. Sinnkorrelate
angeordnet. Der rein symbolische ist als der wesentliche Ausdrucks-
strang hervorgehoben. Im Fall der Anschauung korrespondieren den
eigentlichen Ausdrucksmomenten gegenständliche Momente, die mit
der Bedeutungsintention innig verschmelzen (XIX/1, 45, 103). Die bei-
den Aktstränge werden also nicht der Reihe nach vollzogen, sie bilden
vielmehr eine konkrete Erlebniseinheit, deren Momente allererst in der
phänomenologischen Reflexion und Analyse unterschieden werden.
Im Vergleich mit der Struktur einfacher Gegenstandswahrnehmung,
die im vorangegangenen Kapitel aufgewiesen wurde, indem zwischen
transzendentem Gegenstand, Erscheinung und dem Anschauungser-
lebnis als Akt und Empfindung unterschieden wurde, erweist sich die
Ausdrucks- und Bedeutungsstruktur als komplexer. Im Doppelstrang
von Intention und Erfüllung der Ausdrucksbedeutung findet sich ver-
tikal das phänomenologische Grundschema von Erlebnis - Akt - Er-
164 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
Wie das Wesen und dessen ideale Fassung noch vom subjektiv-
realen, phänomenologischen Ausgangspunkt der Analyse getragen
werden, bleibt in der 1. LU weitgehend unklar. Darauf geht Husserl
in den folgenden Untersuchungen ein. Klar ist, daß auch der Logiker
das Reich der Ideen nur vom subjektiven Boden aus leuchten sieht.
Seine ideale Auffassung ist dabei jedoch nicht bloß abstrakt, sondern
kann sich auf die objektive Intentionalitat des Meinens der Bedeutung
berufen. Der ideale Charakter solcher Intentionen soll wiederum phä-
nomenal ausgewiesen werden können, nicht im Verweis auf sinnliches
Erleben wie bei schlichten Phänomenen, sondern auf die logischen
Gehalte der Aktcharaktere. Somit zeichnet sich neben dem schlichten,
sinnlichen Phänomen ein zweiter Phänomenbegriff, etwas wie ein lo-
gisches Phänomen ab.
Die Bewegung von den sinnlich erlebten zu den logischen, idealen
Inhalten kennzeichnet die Phänomenologie, die den konkreten Grund
des Logischen selbst aufzudecken sucht. Wenngleich Gehalt und Ge-
setzlichkeit des Logischen strikt von empirisch-psychologischen Tat-
sachen und Gesetzmäßigkeiten unterschieden werden, so geht es Hus-
serl doch darum, eine Erlebnisgrundlage des Logischen und das Logi-
sche als Moment des Erlebens nachzuweisen. Ihren Ausgangspunkt
nimmt die Phänomenologie von sinnlichen Erlebnissen, schlichten
Phänomenen. Im Fortgang der Analyse treten die subjektiv-sinnlichen
Erlebnismomente jedoch immer mehr hinter den Strukturen und lo-
gisch-idealen Momenten zurück, die aus den Erlebniszusammenhän-
gen herausgelöst und in ihrer Eigenständigkeit idealisiert werden.
Die Frage ist, wie eine Bedeutung erscheinen, wie eine Idee Inhalt
eines Erlebnisses sein und beschrieben werden kann. Die Frage nach
dem idealen Inhalt von Bedeutungserlebnissen, im vierten Kapitel der
1. LU dem phänomenologischen, bzw. psychologischen Inhalt des
realen Akterlebnisses gegenübergestellt, ist gleichermaßen die nach
ihrer Gegenständlichkeit. Der ideale Inhalt wird im letzten Kapitel
der 1. LU als das Wesen der Bedeutung und näher als „eine identi-
sche intentionale Einheit" (XIX/1, 102), als ein bestimmtes Inhalts-
moment eines Aktes dargestellt. Darauf heißt es, daß dieser logische
Inhalt kein sinnlicher Teil des realen Akts ist, der als sinnliches Er-
lebnis niemals identisch ist. Ebensowenig ist damit irgendeine Veran-
schaulichung des Intendierten, erst recht kein Gegenstand in einem
engen Sinn gemeint. Ein und derselben Bedeutung entspricht jeweils
„in den zugehörigen Akten wirklich etwas Bestimmtes" (XIX/1, 104),
eine bestimmte Bedeutungsintention, ein gleichbestimmter psychischer
Charakter. „Durch ihn werden die in ihrem psychologischen Gehalt
170 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
ist. Es läßt sich nicht weiter definieren, es ist ein deskriptiv Letztes.
(XIX/1, 186 f. (A 181))
Husserl besteht auf dem Unterschied von Bewußtseinsweisen. Neben
die sinnlichen Bewußtseinsweisen des Sehens und Hörens stellt er die
Bewußtseinsweise des Meinens, d.h. hier des Bedeutens. Bedeutung
als nichtsinnliches Bewußtsein läßt sich weder sehen noch hören, sie
wird gemeint. Der allgemeine Begriff der Bedeutung liegt der Bewußt-
seinsweise des Meinens gattungsmäßig als ein Letztes zugrunde, wie
Farbe und Ton den Bewußtseinsweisen des Sehens und Hörens. Hus-
serls Behauptung, wir wüßten unmittelbar, was Bedeutung sei, ist so
zu verstehen, daß wir unmittelbar wissen, daß wir Bedeutung meinen
und nicht sehen oder hören, wie Farben und Töne. Dieses Wissen ist
immer auch ein Differenzwissen. Wir wissen was Bedeutung ist, weil
wir wissen, was nicht Bedeutung ist. Diesem differentiellen Aspekt
schenkt Husserl jedoch zu geringe Aufmerksamkeit.
Husserl geht es gegenüber Locke und Berkeley um eine neue An-
schauungsform und einen neuen Phänomenbegriff. Indem sich die
Analyse nicht länger auf das Anschaulich-Einzelne der schlichten Phä-
nomene, sondern auf die Bewußtseinsweise der Bedeutung richtet,
fängt die Phänomenologie in Husserls Sinn erst an. Die intentionalen
Charaktere der Akte, als nichtsinnliche, logische Phänomene aufgefaßt,
ergeben einen neuen Phänomenbereich. Darin werden nicht die Bedeu-
tungen selbst beschrieben, sondern die Bedeutungsarten und -formen.
Die Phänomenologie der Bedeutung verwandelt sich in eine Phäno-
menologie der Intentionalitäten, die in der 6. LU mit der Theorie ka-
tegorialer Anschauung unter Beweis gestellt wird.6
In der 1. und 2. LU zeigte sich, daß Husserl einzelne Bedeutungen
höchst selten als Gegenständlichkeiten des Bewußtseins beschreibt,
wobei er stets nur auf einen identischen Rest in diversen intentionalen
Erlebnissen verweist. Im einzelnen tritt die vielbeschworene Wesens-
schau der Phänomenologie, gerade in ihrer letzten Gestalt als Theorie
der eidetischen Variation, gewissermaßen als eine Residualtheorie der
Bedeutung auf. Um Einzelbeschreibungen ist es Husserl in den l o -
gischen Untersuchungen gar nicht zu tun. Als Erkenntnistheorie rich-
tet sich die phänomenologische Reflexion vielmehr auf die Akte von
Bedeutungserlebnissen, also auf allgemeine Strukturmomente des Be-
deutungsgeschehens.
6
Siehe hierzu weiter unten S. 201 ff.
174 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
9
Damit scheint Tugendhat in der Tradition einer Kantisch-Hegelschen Kontroverse,
„ob und inwieweit die Reflexion auf die Mannigfaltigkeit gegenstandskonstituie-
render Erlebnisse und schließlich auf das transzendentale Subjekt den Charakter
einer illegitimen Vergegenständlichung besitzt", auf der Seite Kants zu stehen.
Husserl hingegen „wird - in kritischem Rückgriff auf Brentanos Lehre von der
»inneren Wahrnehmung« sowie in einiger Nähe zu Hegels Kant-Kritik - eben die-
se Frage verneinen, um durch Präzisierung und Differenzierung des Gegenstands-
und (korrelativ dazu) des Erfahrungsbegriffs gerade das Anliegen der alten »Trans-
cendentalpsychologie« gegenüber Kants »mythischen« »Konstruktionen« zu ver-
teidigen". (T. Trappe, a.a.O., S. 192 f.)
10
E. Tugendhat, Vorlesungen zu Einführung in die sprachanalytische Philosophie.
Frankfurt a. M. 1976, S. 51.
1
' Zu welchen Konsequenzen das führt, hat Sukale bei Quine, gerade in der Gegen-
überstellung zu Husserl, gezeigt. Vgl. M. Sukale, a.a.O., S. XIII f., 221 f.
12
E. Tugendhat, Vorlesungen... a.a.O., S. 86.
176 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
1J
In den >ldeen I< unterscheidet Husserl bspw. am Wahrnehmungsprozeß verschie-
dene Schichten: „Wir vollziehen, wie sich dergleichen normalerweise an die erste,
schlichte Wahrnehmungserfassung ohne weiteres anzuschließen pflegt, ein Expli-
zieren des Gegebenen und ein beziehendes In-eins-setzen der herausgehobenen
Teile oder Momente: etwa nach dem Schema »Dies ist weiß«. Dieser Prozeß er-
fordert nicht das mindeste von »Ausdruck«, weder von Ausdruck im Sinne von
Wortlaut, noch von dergleichen wie Wortbedeuten". (Husserliana HI/1, a.a.O., S.
285) „Mit dem rein wahrnehmungsmäßig »Gemeinten als solchem«" (ebd., S. 286)
kann durchaus eine sensuelle Wahrnehmungsschicht bezeichnet werden. Wie al-
lerdings auf der nächsten Schicht ein unausdrückliches Explizieren nach dem Sub-
jekt-Prädikat-Schema ganz ohne Zeichen und Bedeutungsintentionen möglich sein
soll, ist äußerst fraglich. E. W. Orth (Beschreibung in der Phänomenologie..., a.a.
O., S. 36) hat die Stelle so interpretiert, daß es sich bei dieser Schicht um eine
„elementare Ausdrücklichkeit oder Ausdrückbarkeit" handelt, die „die Vorausset-
zung jeder entwickelteren Beschreibung" ist. Verallgemeinernd überträgt er diesen
Gedanken auf die phänomenologische Konstitutionsthematik. „Konstitution scheint
als ein Kontinuum verstanden werden zu müssen, an dessen Anfang das anonyme
und an dessen Ende das bewußte Beschreiben steht". Damit ist zwar eine wesentli-
che Aufgabe der Phänomenologie erfaßt, die Anonymität der geistigen Vollzüge
deskriptiv aufzuklären. Es bleibt jedoch das Problem bestehen (siehe hierzu weiter
oben S. 49), wie die Übergänge des rein Wahrnehmungsmäßigen zum elementar
oder anonym Ausdrücklichen beschaffen sind, bzw. ob es sich bei letzterem Be-
griff nicht um ein hölzernes Eisen handelt.
AUSDRUCKS- UND BEDEUTUNGSERLEBNISSE 177
eben auch anders, bspw. schlicht sinnlich erfaßt sein. Das Meinen, das
Husserl in den gesamten >Logischen Untersuchungen synonym für
Intentionalität, bzw. das Intendieren, gebraucht, erlangt dadurch eine
enorme Bedeutungsbreite. Insofern der terminologische Akzent auf
der Intentionalität liegt und das Meinen daneben ein geradezu un-
scheinbares Synonym abgibt, ist dessen Gebrauch in den >Logischen
Untersuchungen< stets auch kolossal äquivok. Was mit Meinen alles
gemeint ist, wird nie aufgeklärt.
Das Spektrum des Meinens deckt sich mit dem von Husserl unter-
schiedenen Spektrum intentionaler Erlebnisse, bzw. Akte. Schlichte
Wahrnehmungen bspw., oder Phantasien müssen nicht unbedingt mit
signitiven Akten in Verbindung stehen. Die Behauptung, „daß es sach-
lich angemessen und zur Klärung sogar notwendig ist, die These von
der Intentionalität durch sprachliche Kriterien zu erläutern, denn diese
verweist selbst auf Sprache"14, ist mindestens, was den letzten Punkt
der Selbstverweisung angeht, zweifelhaft. Die bei Wahrnehmungen
oder Phantasien maßgeblichen objektivierenden oder intuitiven Akte15
werden vielmehr von einer vorsprachlichen Intentionalität getragen.
Das heißt weder, daß sie ihre Gegenstände nicht auf ihre Weise inter-
pretativ auffassen, noch, daß sie nicht mit signitiven Intentionen ver-
bunden sind und diese Verbindung gerade charakteristisch für ver-
nunftbegabte Wesen ist.
Jedes Meinen läßt sich nur im Rückgriff auf Sprache, also kom-
munikativ ausweisen und aufklären. Daß sich die Bewußtseinsphilo-
sophie jedoch zumeist in einem intuitiven Sinn auf Gegenstände als auf
vorsprachliche Bewußtseinsgegebenheiten und mithin Vorstellungen
bezieht, wäre nicht unbedingt anstoßerregend, wenn mit der maßgeb-
lichen Orientierung am Bewußtsein nicht die schwerwiegenden men-
talistischen Probleme hinsichtlich dessen repräsentativen Charakters
einhergingen.
Auf der Bedeutungsseite, die Husserl immer wieder als die für den
Ausdruck wesentliche herausstellt, vollzieht sich das Bedeuten oder
die Bedeutungsintention als Meinen. Dieses Meinen kann nicht als
vorsprachlicher Bezug auf etwas, was im weiten Sinn ein Gegenstand
ist, aufgefaßt werden. Es gibt hier kein unsprachliches Meinen. In der
14
H. Ineichen, a.a.O., S. 21. Ineichen sitzt in seiner Interpretation der Husserlschen
Unterscheidung signitiver von intuitiven Akten jener Äquivokation des Meinens
auf. wenn er aus der Zeichengebundenheit signitiver Akte, die kaum verwundern
sollte, allgemeinerweise „einen tiefen Zusammenhang zwischen Sprache und In-
tentionalität" (S. 31) schlußfolgert. Ihm gelingt es nicht, die psychologische Akt-
analyse der Intentionalität durch eine Analyse sprachlicher Ausdrücke zu ersetzen.
15
Siehe weiter unten S. 200.
178 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
Frage nach der Zugänglichkeit der Bedeutung als eines idealen Ge-
genstands steckt wohlverstanden das eigentliche Problem der Kontro-
verse um die Gegenständlichkeit der Bedeutung.
Wenn das Meinen stets als eine Relation aufgefaßt werden muß,
weil wir jeweils etwas mit etwas meinen, und das Meinen im speziel-
len Fall stets eine sprachliche Bezugnahme auf Bedeutungen darstellt,
dann müßten die Bedeutungen anders als gemeint sein, um vorsprach-
lich gegeben zu sein. Die Bedeutungen müßten schon irgendwie be-
wußt sein, bevor und daß sie überhaupt gemeint sein könnten. Sie
müßten im Bewußtsein als Vorstellungen sein. In den Vorstellungen
wären die Bedeutungen selbst nicht wiederum gemeint, sondern eben
bewußt und zwar so, wie uns bspw. Gegenstände der Wahrnehmung
bewußt sind. Das Bewußtsein der Bedeutungen könnte schließlich wie
das der Gegenstände nachträglich zum Ausdruck gebracht werden.
Solch eine überaus problematische Theorie der Bedeutung und der
Bedeutungsintentionalität vertritt Husserl keineswegs. Er faßt in ei-
nem jeweils weiten Sinn die Bedeutung als allgemeinen Gegenstand
und die Bezugnahme als sprachliches Vorstellen auf. Mit einem Aus-
druck wird etwas gemeint, ob sich das Gemeinte gegenständlich an-
schaulich machen läßt oder nicht. Hierbei müßte dann näher erläutert
werden, was als sinnvoller Ausdruck gelten kann, ob Namen, Sätze
oder selbst einzelne Wörter jeweils eine Bedeutung zum Ausdruck
bringen. Husserl ist diesbezüglich eine gewisse Nachlässigkeit, wenn
nicht gar Unklarheit vorzuhalten.
Daß mit einem Ausdruck etwas gemeint, daß ihm eine Bedeutung
beigelegt ist, bestimmt allererst, welche Gegenstände ihn anschaulich
erfüllen. Die Bedeutungsintention ist bei Husserl streng von der Bedeu-
tungserfüllung getrennt. Nicht die Gegenstände bestimmen die Bedeu-
tungen, es ist vielmehr so, „daß die Gegenstände durch die Bedeutung
aufgesogen werden."16 Die Bedeutungen sind für Husserl nur insofern
gegenständlich, als sie vermeint sind und zwar dezidiert in sprachlichen
Akten des Bedeutens. Als Aktinhalte können sie abstraktiv-ideativ re-
konstruiert werden. Zwar erweckt Husserl dadurch, daß er die Zahlen
im idealen Sinn als „bloß mögliche Bedeutungen" auffaßt, „denen das
Gedacht- und Ausgedrücktwerden zufällig ist", den Eindruck, es han-
delte sich bei Bedeutungen insgesamt um einen festen Bestand, „den
niemand vermehren und vermindern kann" (XIX/1, 110). In dieser
Ansicht steckt zweifellos ein Piatonismus, der an ein Reich der Ideen
denken läßt, das unabhängig davon besteht, ob Ideen als Bedeutungen
realisiert werden. So ist in den >Logischen Untersuchungen auch ein-
16
M. Sukale, a.a.O., S. 54.
AUSDRUCKS- UND BEDEUTUNGSERLEBNISSE 179
mal von einem „Reich der Bedeutungen" (XIX/1, 329) die Rede. Die
Idealität der Bedeutung wird von Husserl jedoch nicht ontologisiert.
Husserl verwahrt sich gegen die „metaphysische Hypostasierung"
der Bedeutung, die den Ideen irgendeinen Ort zuzuweisen sucht. „Die
Bedeutungen bilden [...] eine Klasse von Begriffen im Sinne von »all-
gemeinen Gegenständen«." (XIX/1, 106) Von allgemeinen Gegen-
ständen zu reden, faßt er „einfach als Anzeigen für die Geltung (sei es
nur für die supponierte Geltung) gewisser Urteile [...] über Zahlen,
Sätze, geometrische Gebilde u. dgl." (XIX/1, 106) auf.17 Die Idealität
der Bedeutung ist für Husserl durch nichts anderes als die semanti-
sche Möglichkeit gewährleistet, identisch auf etwas Spezifisches, et-
was, was nur gemeint, nicht aber gezeigt werden kann und allein in
diesem weiten Sinn als Gegenstand gilt, Bezug zu nehmen. Genau
dieses Moment des Meinens gilt es für Husserl in der Bewußtseins-
analyse nachzuweisen, um dadurch die Bedeurungs- als Ideenanalyse
zu fundieren. Dabei kommt es ihm auf die linguistischen oder kom-
munikativen psychologischen Momente der Ausdrucks- und Bedeu-
tungserlebnisse nicht an.
nomenology is nearer to the classical idealistic and rationalistic tradition, its con-
cern with meaning brings it closer to the empiricist tradition. The radically empi-
ricist concern of Husserlian phenomenology is on the whole more dominating."
(ebd.) Das radikal-empirizistische Motiv verweist auf James (siehe hierzu weiter
oben S. 34 f.). Mall beruft sich in seiner Skizze einer phänomenologischen Herme-
neutik der noetisch-noematischen Bedeutungskonstitution maßgeblich auf das zwei-
te Motiv. Demgegenüber kritisiert er das Motiv der Wesensbeschreibung als von
einem ontologischen Wesensbegriff verleitet. - Was die >Logischen Untersuchun-
gen angeht, so deutet sich der phänomenologische Essentialismus hier erst an. Das
Motiv der Begriffs- und Bedeutungsaufklärung spielt eine um so größere Rolle, als
der exemplarische Rückgang auf die konstitutiven Erlebnisse noch nicht durch die
Methode der Epoche als essentialistische Reinigung aufgefaßt wird.
182 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
Die Bedeutungen, die sich in der 1. LU als ideale Momente von Aus-
drücken erwiesen, werden in der 2. LU weiter als Spezies, das heißt
als allgemeine Gegenstände des Denkens behandelt. Mit dem ontolo-
gischen steht zugleich der gegenständliche Status der Spezies in Frage.
Husserl diskutiert diese Fragen in Auseinandersetzung mit den neu-
zeitlichen Abstraktionstheorien Lockes, Berkeleys und Humes sowie
daran anknüpfenden Theorien seiner Zeitgenossen. Er will die Ge-
genständlichkeit der idealen Spezies phänomenologisch unter Beweis
stellen, ohne ihre ideale Einheit ontologisch zu substantialisieren. Den
platonischen Realismus, der das Allgemeine hypostasiert, insofern er
den Spezies reale Existenz außerhalb des Denkens zuspricht, läßt er
„als längst erledigt, auf sich beruhen" (XIX/1, 128). Nicht so leicht
läßt sich dem auf Aristoteles zurückgehenden gemäßigten Realismus
begegnen, wie ihn maßgeblich Locke als psychologischen Realismus,
der den Spezies eine reale Existenz im Denken zuerkennt, ausarbeite-
te. Demgegenüber kommt in den nominalistischen Ansichten Berke-
leys und Humes allein dem individuell Einzelnen reale Existenz zu,
dem Allgemeinen jedoch ein davon abgeleiteter fiktiver oder uneigent-
licher Charakter.
Den Streit zwischen psychologischer und nominalistischer Position
um die Gegenständlichkeit der Spezies möchte Husserl im Ausgang
von erfüllten Vorstellungen spezifischer und individueller Gegenstände
aufklären.' Prinzipiell unterscheidet er individuell-empirische Einzel-
heiten (der Mensch Sokrates) von spezifischen, d.h. abstrakten Ein-
zelheiten (die Zahl 2) und dementsprechend individuelle Allgemein-,
meint ist und die Erfüllungsakte als sich erfüllende Akte des Meinens
demnach ganz unterschiedliche sind. Folgerichtig kann das Sinnlich-
Anschauliche nur noch als bloße Grundlage gelten, auf welcher sich
das abstrahierende Erfassen der Bedeutungseinheiten maßgeblich an
den Aktcharakteren der Bedeutungserfüllung und damit an einer hö-
heren Stufe der Fundierung orientieren muß.
Als bloße Grundlage sekundär ganz verschiedener Auffassungs-
weisen verliert das Sinnlich-Anschauliche seine Bedeutung für die
phänomenologische Wesensanalyse. Deren Interesse richtet sich dar-
auf, die Aktcharaktere näher zu bestimmen, ihre strukturelle und ma-
terielle Eigenart im Rückgang auf die phänomenalen Gegebenheiten
des Bewußtseins aufzuklären. Nicht um das Sinnlich-Anschauliche,
„sozusagen [...] das Greifbare des Denkerlebnisses", geht es, sondern
darum, die ungreifbaren Aktcharaktere, die sich „im schlichten Phä-
nomen nun einmal nicht zeigen", „rein phänomenal" darzustellen und
„als neue »Bewußtseinsweisen« gegenüber der direkten Anschauung"
zur Geltung zu bringen (XIX/1, 186). Das ist der Weg, den Husserl
von der Strukturanalyse der Bedeutung bis zur 6. LU als phänomeno-
logischen bahnt und theoretisch gegenüber dem realpsychologischen
Weg rechtfertigt.
Erst indem der Begriff des Phänomens als Inhalt intentionaler Er-
lebnisse in der 5. LU seine eigentliche phänomenologische Bestim-
mung erfährt, ist die Verwandlung der Abstraktionsproblematik voll-
zogen. Als bloße Grundlage tritt das Sinnlich-Anschauliche schon in
der 2. LU in den Hintergrund des Abstraktionsgeschehen. Abstraktion
vollzieht sich nicht länger im Ausgang vom Sinnlich-Anschaulichen -
das gilt nunmehr als psychologischer Kurzschluß oder nominalistische
Verwechslung der „Grundlage der Abstraktion mit dem Abstrahier-
ten" (XIX/1, 160) -, sondern im reflexiven Blick auf die sich allererst
daraufbauenden Akte und deren jeweilige phänomenalen Inhalte, die
die allgemeinen Gegenstände konstituieren. Schließlich läßt Husserl
ganz von der Ausgangsthese einer gemeinsamen Anschauungsgrund-
lage ab. Nicht nur, daß „unter Umständen eine und dieselbe Anschau-
ung als Grundlage" ganz verschiedener Auffassungsweisen fungieren
(XIX/1, 137) bzw. bei „wechselnden Aktcharakteren, die sich als ge-
dankliche darauf bauen", „Identität der Anschauungsgrundlage" be-
stehen kann (XIX/1, 136), sondern daß sogar „die fundierende Er-
scheinung ganz fortfallen kann" (XIX/1, 176), wirft die Frage auf,
welche Rolle das Sinnlich-Anschauliche tatsächlich für das jeweils
aufbauende Gedankliche spielt. Wodurch ist es überhaupt noch ge-
rechtfertigt, von der Anschauung als Grundlage zu sprechen? Wie
hängt das Sinnliche mit dem Phänomenologischen zusammen?
186 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
liehen Bild. Sie ist vielmehr vom Charakter des Aktes wesentlich geprägt. Husserl
betont, daß nicht nur jedes Anschauen mit einem bestimmten Meinen verbunden,
sondern das Anschauen selbst davon so durchdrungen, daß es nicht davon unab-
hängig lediglich sinnliche Daten liefert, die objektiv für sich Bestand hätten. Aus
genau diesen Gründen ist reine Anschauung oder Wahrnehmung als ein Mythos
anzusehen. Nicht allein das Gemeintsein des Anschaulichen ist unterschiedlich und
damit die Weise, in der die Anschauung als Grundlage eines Aktes fungiert, son-
dern eben die Anschauung eines Gegenstandes selbst je nach Art des Meinens.
188 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
es ihm auf den Nachweis an, daß sich die logischen Funktionen und
Formen als abstrakte, eigentümliche Bewußtseinsinhalte verwirkli-
chen, daß sie „nichts weiter sind als diese ins Einheitsbewußtsein er-
hobenen, also selbst wieder zu idealen Spezies objektivierten Formen
der Bedeutungsintention" (XIX/1, 154) und eben so erfaßt und be-
schrieben werden können.
Der Unterschied zwischen allgemeinen und anschaulichen Einzel-
vorstellungen besteht nicht in unterschiedlichen Funktionen psy-
chologischer Repräsentation (XIX/1, 174), sondern in dem jeweils
„phänomenal eigentümlichen Charakter" (XIX/1, 175) der Akte, den
es phänomenologisch aufzuweisen gilt. Die Akteigentümlichkeit der
Allgemeinvorstellungen darf nicht „wie eine geringfügige Beigabe
zur individuellen Anschauung behandelt" werden, „die am deskripti-
ven Inhalt des Erlebnisses nichts Erhebliches ändere." Husserl weist
vielmehr nachdrücklich darauf hin, „daß in diesem und ähnlichen
Aktcharakteren alles Logische beschlossen ist" (XIX/1, 175).
Wie die Aktcharaktere und mit ihnen das Logische wirklich phä-
nomenal ausgewiesen werden können, dazu macht Husserl in der 2.
LU nur geringe Ausführungen. Er kündigt allerdings an, „den Unter-
schied zwischen Denken und Anschauen, uneigentlichem und eigent-
lichem Vorstellen" durch umfassende Analysen in der letzten Unter-
suchung „aufzuklären, wobei sich ein neuer Anschauungsbegriff von
dem gewöhnlichen, dem der sinnlichen Anschauung, abheben wird"
(XIX/1, 178, s. a. 179). Mit dem neuen Anschauungsbegriff verbindet
sich gerade auch die Erwartung, daß der phänomenologisch maßgeb-
liche Phänomenbegriff zu seiner eigentlichen Bestimmung findet.
Husserls Kritik richtet sich nicht nur gegen die psychologische,
sondern auch gegen eine gewisse logische Behandlung der Abstrakti-
on, des Allgemeinheitsbewußtseins bzw. der Bedeutungen. Anstatt
„die Bedeutungen phänomenologisch zu analysieren" (XIX/1, 187),
erforscht die logische Bedeutungs- oder rein-logische Begriffsanaly-
se, was in gegenständlicher Hinsicht mit Bedeutungen intendiert ist
oder darunter überhaupt gedacht werden kann. Die Phänomenologie
der Bedeutung hingegen sucht das Gemeinte nicht reell in den Akten,
noch gibt es den Bedeutungen eine objektiv-gegenständliche Ausdeu-
tung. In der phänomenologischen Bedeutungsanalyse wird, ohne die
reflexive Haltung auf die aktuellen Akte zu verlassen, „nach ihren
wirklichen Teilen und Formen gefragt und nicht nach dem, was für
ihre Gegenstände gilt." (XIX/1, 188) Das Einzelne, Sachliche ist für
die Phänomenologie dabei nur ein Beispiel, auf dessen Grundlage sie
die allgemeinen „Zusammenhangsgesetze" (XIX/1, 272) von Teilen
erforscht.
DIE POLE DES PHÄNOMENALEN 191
Der verhießene Rückgang auf die Sachen selbst vollzieht sich als ein
Rückgang auf das Lebendige oder Erlebte, seien das lebendige Be-
wußtseinsfunktionen oder erlebte Bewußtseinsinhalte. Lebendig par
excellence ist das Erlebnis. Husserl unterscheidet deutlich die erlebten
Inhalte „von erscheinenden, vermeinten Gegenständen und Vorgängen.
All das, woraus sich das individuelle »erlebende« Bewußtsein reell
192 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
mit Beschreibung hinzu kommt, was dadurch dem Gegenstand zugedeutet wird.
Eine solche Konzeption ist irreführend gerade in dem Sinn, daß der Gegenstand
vermeintlich schon ungedeutet besteht. Die Theorie müßte vielmehr zeigen, wie
die Beschreibung selbst die Auffassung des Gegenstands ist. Sie müßte also selbst-
kritisch oder hermeneutisch in dem Sinn sein, daß sie den grundlegenden interpre-
tativen Rahmen markierte, in dem sie sich notwendig vollzieht, und das Apriori
der Interpretation selbst zur Geltung brächte. Eine solche Beschreibungstheorie
sucht man bei Husserl vergeblich und auch wir gelangen diesbezüglich lediglich
bis zu der Skizze einer Phänomenologie, die immer auch Sprachphänomenologie
sei (siehe hierzu weiter unten S. 221 f.).
DIE POLE DES PHÄNOMENALEN 195
bezieht. Insofern die Intentionalität des Aktes nicht selbst Inhalt ist,
bemüht sich Husserl, den intentionalen Gegenstand vom intentionalen
Inhalt im engeren Sinn auszuschließen (XIX/1, 416).
Dem zweiten Begriff des intentionalen Inhalts als Materie des Ak-
tes widmet Husserl um so mehr Aufmerksamkeit, als er in den frühe-
ren Untersuchungen jeweils nur vom Aktcharakter, oder von der
Aktqualität gesprochen hatte und es die Materialität der Akte, ihre ei-
gene Inhaltlichkeit allererst zu erweisen gilt. Von den selbstverständ-
lichen Unterschieden der Aktcharaktere geht er denn auch aus. Es
bereitet jedoch keine geringe Mühe, die daran anschließenden Unter-
scheidungen und Bestimmungen im § 20 der 5. LU zu verfolgen. Die-
ser Paragraph über den unterschied der Qualität und der Materie
eines Aktes< kann überhaupt und gleichermaßen als einer der wichtig-
sten und schwierigsten der > Logischen Untersuchungen < gelten. Die
Vielzahl der vorgenommenen Unterscheidungen und ihre Überschnei-
dungen sind nicht leicht auseinanderzuhalten, zumal sie schon fixierte
Unterschiede wieder aufzuheben scheinen.
Wie bei der Unterscheidung der fundierenden Erscheinungen von
den wechselnden Aktcharakteren in der 3. LU, macht Husserl den
Sinn der Rede von Aktmaterie zuerst durch die Identität der Inhalte
gegenüber wechselnden Aktqualitäten deutlich (XIX/1, 426). Inhalt
scheint in diesem Sinn aber nichts anderes zu sein als der intentionale
Gegenstand und sich also mit dem ersten Begriff des intentionalen
Inhalts zu treffen, der ausgeschlossen bleiben sollte. Die Frage ist für
Husserl, wie solch ein Gegenstand im Akt, der sich qualitativ spezi-
fisch auf ihn bezieht, oder wie die Bezogenheit des Aktes selbst In-
halt sein kann. Genau auf diesen Punkt richteten sich die prinzipiellen
>Bedenken gegen die Annahme von Akten als einer deskriptiv fun-
dierten Erlebnisklasse<, denen Husserl im § 14 zu begegnen suchte.
Seine Antwort lautet: „Das sich auf den Gegenstand Beziehen ist eine
erlebbare Eigentümlichkeit, und die Erlebnisse, die sie zeigen, heißen
(nach Definition) intentionale Erlebnis oder Akte." (XIX/1, 427 (A
388)) Damit behauptet er nicht weniger, als daß Intentionalität selbst
erlebt und als Erlebnis ausgewiesen und beschrieben, daß sie als Phä-
nomen aufgefaßt werden kann. Die eigentümliche Erlebnishaftigkeit
und Phänomenalität der Intentionalität bemüht er sich im folgenden
zu erläutern.
Wenn es im unmittelbaren Anschluß an die gerade zitierte Stelle
heißt: „Alle Unterschiede in der Weise der gegenständlichen Bezie-
hung sind deskriptive Unterschiede der bezüglichen intentionalen Er-
lebnisse", so wird die eingangs getroffene Unterscheidung zwischen
deskriptiven und intentionalen Inhalten hinfällig. Indem die Intentio-
DIE POLE DES PHÄNOMENALEN 197
nalität selbst zum Inhalt wird, erfährt die Auffassung der deskriptiven
als der reellen, phänomenologischen Inhalte eine entscheidende Er-
weiterung. Die Materie der Akte faßt Husserl als das neben der Akt-
qualität und dem intentionalen Gegenstand dritte Element auf, das für
die Identifizierung intentionaler Erlebnisse nötig ist (XIX/1, 428 f.).
Die Materie [...] ist die im phänomenologischen Inhalt des Aktes liegen-
de Eigenheit desselben, die es bestimmt, als was der Akt die jeweilige
Gegenständlichkeit auffaßt, welche Merkmale, Formen, Beziehungen
er ihr zumißt. An der Materie des Aktes liegt es, daß der Gegenstand
dem Akte als dieser und kein anderer gilt, sie ist gewissermaßen der
die Qualität fundierende (aber gegen deren Unterschied gleichgültige)
Sinn der gegenständlichen Auffassung. (XIX/1, 430)
Sowohl die Aktqualität als auch die Aktmaterie bestimmt Husserl als
abstrakte Momente des Aktes, die nicht allein, sondern nur im Verein
vorkommen können (XIX/1, 430). Die Frage, ob Aktqualität und -
materie zusammen ohne intentionalen Gegenstand bestehen können
und ob sie in dieser gegenseitig abgestützten Abstraktheit gerade den
Akt der Bedeutungsintention ausmachen, beantwortet Husserl im § 21
positiv. Die Einheit von Aktqualität und -materie definiert er als das
intentionale Wesen des Aktes, und damit als den dritten Begriff des
intentionalen Inhalts. Diese Einheit nennt er im engeren Rahmen von
bedeutungsverleihenden Akten das bedeutungsmäßige Wesen des Ak-
tes. „Seine ideierende Abstraktion ergibt die Bedeutung in unserem
idealen Sinn." (XIX/1, 431) Damit ist ein wesentlicher Punkt der
Phänomenologie der Bedeutung berührt, wie nämlich die Bedeutung
unabhängig von gegenständlicher Erfüllung gerade als ideal vermein-
te zu erfassen ist.5
Siehe hierzu weiter oben S. 178 ff. Was Husserl in den >Logischen Untersuchun-
gen als Materie der Bedeutungsakte behandelte, faßte er später als Noema auf.
Die Interpretation des Noemas und seines Verhältnisses zur Bedeutung als einer
idealen Entität ist eines der schwierigsten Kapitels Husserls. In der sprachanalyti-
schen Philosophie versuchte zuerst Fallesdal im Verweis auf entsprechende Stellen
bei Husserl zu zeigen, wie das Noema als intensionale und gleichwohl abstrakte
Entität nicht durch irgendeine sinnliche Wahrnehmung, sondern eben durch eine
besondere phänomenologische Reflexion erfaßt wird. (Siehe D. Fallesdal, Noema
and Meaning in Husserl. In: Husserl. Intentionality and Cognilive Science. Hrsg.
v. H. L. Dreyfus, Cambridge, Ma. 1982. S. 73-80.) Hatte Tugendhat versucht, im-
merhin die reflexiv-deskriptive Methode der Phänomenologie philosophisch zu
retten, so leuchtete mit Fallesdal neuerlich die Möglichkeit auf, die phänomenolo-
gische Analyse von Bewußtseinserlebnissen als Beitrag zur Bedeutungsanalyse zu
verstehen. Im Anschluß an Fallesdal und in Bezug auf Husserls frühe Konzeption
der Aktmaterie hat Soldati >Bedeutung als phänomenale Qualität psychischer Ak-
te< dargestellt (siehe G. Soldati, a.a.O., S. 436 ff, § 8.2.) und die Frage diskutiert,
ob es nicht-intentionale Erlebnisse, nicht-intentionales Bewußtsein gibt. In seiner
198 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
Kategoriale Anschauung
6
Husserl selbst verwendet gelegentlich den Strukturbegriff. So bezeichnet er es als
„die große, für die Logik und Grammatik gleich fundamentale Arbeit, [...] das
apriorische System der formalen, d.i. alle sachhaltige Besonderheit der Bedeutun-
gen offenlassenden Strukturen in einer »Formenlehre der Bedeutungen« zu erfor-
schen." (XIX/1, 329) In der zweiten Auflage spricht er deutlicher von „einer Phä-
nomenologie, die [...] auf die Wesensstrukturen der »reinen« Erlebnisse und der zu
ihnen gehörigen Sinnesbestände gerichtet ist." (XIX/1, 27 (B 21)) In diesem Sinn
definierte Sartre die Phänomenologie als „eine Deskription der Strukturen des
transzendentalen Bewußtseins, gegründet auf der Wesenserschauung dieser Struk-
turen." (J.-P. Sartre, Die Imagination. a.a.O., S. 223.) Vor ihm hatte schon Emma-
nuel Levinas die Aufgabe der Phänomenologie nicht darin gesehen, „ausgehend
von irgendeinem Axiom das Wesen eines beliebigen Bewußtseinszustandes abzu-
leiten, sondern seine notwendige Struktur zu beschreiben." (E. Levinas, Über die
>Ideen< Edmund Husserh. In: Husserl. Hrsg. v. H. Noack, Darmstadt 1973, 87-
128, S. 110.)
202 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
fundiertes Stück, Teil oder Moment. Die weite Rede von Phänomen
wird dabei nicht uneigentlich, denn von Erscheinung kann selbst im
engen Sinn bei anschaulicher Gegenstandsauffassung nur in einem
metaphorischen Sinn gesprochen werden. Die phänomenologische
Analyse, indem sie sich eigens dem Bewußtseinsleben und seinen
Vollzügen zuwendet, ist reflexiv. Ebenso sind die in ihrem Zuge her-
ausgestellten Erlebnismomente reflexive Phänomene.
Bei der Analyse der Bewußtseinsinhalte und -Vollzüge geht es um
die Fundierungsformen, -stufen und -Verhältnisse. Die programmati-
sche Rede von Anschaulichkeit meint Fundierung im Phänomenalen.
In Hinsicht auf die Ansätze zu einer reinen Theorie der apriorischen
Denk- und Bedeutungsformen in der 3. und 4. LU bleibt zu zeigen,
inwiefern sich Allgemeines oder Formales phänomenal bekundet, oh-
ne daß es psychologisch aufgefaßt wird. Maßgeblich hierfür ist die
Theorie kategorialer Anschauung im 2. Abschnitt der 6. LU. Er-
kenntnis wird im 1. Abschnitt als ein besonderes Erfüllungsverhältnis
von Intention und Anschauung bestimmt. „In Rekurs auf die Erfül-
lungsphänomene" wird eine „für die Klärung der Erkenntnis funda-
mentale Analyse der verschiedenen Arten von Anschauung" durch-
geführt. Sie bildet die Grundlage einer „Phänomenologie der Erkennt-
nisstufen" (XIX/2, 539, 596 ff.), die mit einer Phänomenologie der Er-
füllungsstufen vom bloß Signitiven bis zum Intuitiven, sowie der
Fundierungsstufen des Kategorialen im Sinnlichen-Realen einhergeht.
Die „durchaus unentbehrliche Erweiterung der ursprünglich sinnli-
chen Begriffe, Anschauung und Wahrnehmung, [...] welche es gestat-
tet, von kategorialer und speziell von allgemeiner Anschauung zu
sprechen" (XIX/2, 541), führt zur Erweiterung des Phänomenbegriffs.
Ausgangspunkt für die Theorie der kategorialen Anschauung ist die
Frage, was sich bspw. von der Bedeutungsintention in einer sinnlichen
Anschauung erfüllt und was davon unerfüllt und sogar notwendig
unerfüllbar bleibt. Welche Erfüllung finden bspw. die Bedeutungsmo-
mente der allgemeinen Satzform oder anderer grammatischer Formen,
welche die Bedeutungsmomente der Kopula oder des Seinsprädikats?
„Die Erfüllungsleistung der schlichten Wahrnehmung kann an solche
Formen offenbar nicht hinanreichen." (XIX/2, 660)
In den >Prolegomena< hatte Husserl gelegentlich von evidenter Er-
fahrung des Idealen gesprochen, wenngleich er einräumte, daß der
überwiegende Teil der logischen Wahrheiten nicht durch Anschauung,
sondern durch Begründung anhand symbolischer Operationen zur
Einsicht gelangt. In der 6. LU kommt er zurück auf Brentanos Unter-
scheidung eigentlicher von symbolischen Vorstellungen, die ihn schon
DIE POLE DES PHÄNOMENALEN 203
7
Vgl. weiter oben S. 75 ff.
204 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
werden. Gerade im Hinblick darauf, wie wenig sich das ganze phä-
nomenologische Unternehmen von der Beschreibung trennen läßt,
kann geklärt werden, warum die Theorie der Beschreibung in der me-
thodischen Reflexion der Phänomenologie von Husserl selbst weitge-
hend vernachlässigt wird. In diesem Zusammenhang diskutieren wir
Beschreibung als operativen Begriff der Phänomenologie. Hierbei er-
fährt Beschreibung und Sprache im Rahmen der Phänomenologie eine
entschiedene Aufwertung, die in die Skizze eines sprachphänomeno-
logischen Ansatzes ausläuft. Die Betrachtungen zum Beschreibungs-
begriff münden in eine Äquivokationsanalyse. Dabei wird die Frage
beantwortet, inwiefern phänomenologische Beschreibung jeweils Be-
schreibung von Phänomenen ist. Auf die Vieldeutigkeit des Begriffs,
bzw. die Verschiedenheit seines Gebrauchs kann dessen Fruchtbarkeit
gerade auch in der Phänomenologie zurückgeführt werden.
Bei der Betrachtung der >Prolegomena< hatten wir auf Husserls zwei-
deutige Rede vom deskriptiv Gegebenen (XVIII, 207) hingewiesen,
die die Gegenstände der Phänomenologie mit dem Beschreibbaren
identifiziert.1 Der Gleichsetzung von Gegebenem und Beschreibba-
rem konnte jedoch allenfalls der Sinn einer mimetischen Angleichung
der Beschreibung an ihre Gegenstände zugestanden werden. In den
Äquivokationsanalysen des Erscheinungsbegriffs in der Beilage über
>Äußere und innere Wahrnehmung< wurde das phänomenologische
Phänomen als ein Reflexionsphänomen bestimmt.2 In der Reflexion
wird das konstitutive Erleben der Wahrnehmung selbst adäquat wahr-
genommen. Die reflexive Grundfigur phänomenologischer Analyse
erklärt zwar, wie das reflexiv Gegebene auch das adäquat Gegebene
und in diesem Sinne das phänomenologisch zu beschreibende sein
kann. Wenn aber das reflexiv Gegebene auch das zu beschreibende
ist, heißt das doch nicht, daß das Gegebene selbst schon deskriptiv ist.
Die Rede vom deskriptiv Gegebenen bleibt fragwürdig. Wie kann das
Phänomenale gleichermaßen des Deskriptive sein?
Offenbar kann das Phänomen mit seiner Beschreibung nur dann
zusammenfallen, wenn das Phänomen nicht von seiner Erscheinung
oder Wahrnehmung, sondern gleichursprünglich von seiner Beschrei-
bung her aufgefaßt wird, wenn also Reflexions- und Denkphänomene
1
Vgl. weiter oben S. 89 und S. 106
2
Siehe weiter oben S. 154 f.
DIE ARBEIT DER BESCHREIBUNG 209
3
Siehe weiter oben S. 119 ff.
4
Genauso spricht Husserl in seinen Vorlesungen vom Sommersemester 1925 von
Begriffsinhalten, die „zu Gesicht gebracht und in getreuen Beschreibungen be-
schrieben werden" sollen (Husserliana, Bd. IX, a.a.O., S. 29, zitiert bei E. W. Orth,
Beschreibung in der Phänomenologie..., a.a.O., S. 32.).
210 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
chen, indem er jene Sachlagen, Inhalte und Gehalte selbst schon als
deskriptive Gegenstände der Phänomenologie darstellt. Da sie gleich-
wohl noch zu beschreiben sind, kann es sich gewissermaßen nur um
die explizite Darstellung ihrer implizit immer schon deskriptiven Ge-
halte handeln.
Wenn die Unterscheidung impliziter und expliziter Beschreibung
in der phänomenologischen Reflexion sich nicht um den Gegensatz
von Reflexion und Deskription, von gedanklicher Einsicht und sprach-
lichem Ausdruck schummeln, sondern ihn wirklich aufheben will, dann
muß das reflexive Phänomen in dem oben erläuterten Sinn gleichur-
sprünglich von seiner Beschreibung her, bzw. als Sprachphänomen auf-
gefaßt werden. In Husserls Phänomenologie, die primär und wesent-
lich auf einer Theorie intuitiver Erkenntnis beruht, kommt eine solche
Auffassung nicht zur Geltung. Es deutet sich jedoch in den Formulie-
rungen von deskriptiven Gegebenheiten, Sachverhalten, Inhalten und
Gehalten an, daß die Beschreibung grundlegend für die Gegebenheit
der phänomenologischen Gegenstände ist.
Die eigentliche Arbeit im phänomenologischen Haushalt der Er-
kenntnis leisten Beschreibungen. Ist die Intuition die Legislative der
Phänomenologie, so ist die Beschreibung ihre Exekutive. Was nun
Beschreibung, gerade solcher deskriptiven Sachlagen, heißt, wird in
der Betrachtung weiterer Stellen deutlich. So entsteht gelegentlich der
Frage nach der Rolle der Anschauungen beim Ausdrucksverstehen
die Schwierigkeit, „die deskriptive Sachlage nach den hier nicht be-
rücksichtigten feineren Abstufungen und Verzweigungen zu analysie-
ren." (XIX/1, 81) Wenig später heißt es, daß die deskriptive Sachlage
„ein breites Feld für die phänomenologische Analyse" (XIX/1, 82)
abgibt. Bedenkt man, daß sich eine deskriptive Sachlage erst reflexiv
ergibt, so gehen in der phänomenologischen Einstellung Reflexion,
Beschreibung und Analyse innig zusammen. In der Reflexion voll-
zieht sich die Beschreibung als Analyse oder die Analyse beschreibend
„in schrittweisen Reflexionen auf die Inhalte der eben vollzogenen
Denkakte" (XIX/1, 109).
Die deskriptive Analyse kann in der phänomenologischen Einstel-
lung offenbar verschiedene Stufen erlangen. Es gibt rohe Beschrei-
bungen deskriptiver Sachlagen (XIX/1, 208), die deren wesentliche
Unterschiede verfehlen, indem sie nicht die Umständlichkeiten auf
sich nehmen, deren es „bedarf, wenn man die phänomenologische
Sachlage richtig beschreiben will." (XIX/1, 47) Wenn es in der 5. LU
bei der Analyse der Intentionalität zustimmender Urteile heißt, „nur
ein Teil der Sachlage" sei durch die Unterscheidung eines zugrun-
deliegenden Vorstellungsaktes und eines hinzukommenden Urteils-
212 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
8
E. Fink, a.a.O., S. 324.
9
Ebd., S. 325. Auf die philosophische Frage nach dem Schatten und dem Unvor-
denklichen der Philosophie bei Schelling, Kierkegaard, Heidegger und Merleau-
Ponty verweist K. Kyung Cho, Anonymes Subjekt und phänomenologische
schreibung. In: Zur Phänomenologie des philosophischen Textes. Hrsg. v. E. W.
Orth, Freiburg; München 1982, 21-56, S. 26.
10
E. Fink, a.a.O., S. 328.
DIE ARBEIT DER BESCHREIBUNG 215
Ebd., S. 336.
216 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
durchgeführt worden"12 ist. Diese Begründung holt sehr weit aus. Sie
verweist darauf, daß der Begriff der transzendentalen Subjektivität,
den Fink als den thematischen Zentralbegriff Husserls ansieht, enor-
me operative Schatten wirft, die sich als Spannungen durch alle ande-
ren Begriffe ziehen.
Wenn gewissermaßen alle Begriffe der Phänomenologie im Schat-
ten des Begriffs transzendentaler Subjektivität stehen, dann können
jeweils besondere operative Untergründe nicht für sich, d.h. ohne den
Zusammenhang zum primären thematischen Begriff zu beachten, auf-
geklärt werden. Das heißt nun nichts anderes, als daß das thematische
Nachdenken eines Denkens, welches selbst noch die scheinbar selbst-
verständlichen Grundlagen dieses Denkens kritisch aufzuklären be-
strebt ist, sich nur systematisch treiben läßt. Die Hoffnung, daß sich
im Hinblick auf bestimmte Grundbegriffe eines Denkens, von dem
ganzen Denkgebäude absehen und vielmehr nur der unthematische,
operative Untergrund betrachten ließe, erweist sich als naiv. Das phi-
losophische Nachdenken sieht sich unvermeidlich einem Denken in
seiner Gänze gegenüber und kann nicht vermeintliche Grundgedan-
ken herauslösen und einzeln auf ihre Bedeutung und ihre Grundlagen
befragen. Was heißt das für den Phänomenbegriff?
Im Horizont der „natürlichen Einstellung" begreift der Begriff des
Phänomens mindestens fünf Bedeutung in sich ein [...]: 1. das Ding im
Erscheinen überhaupt, 2. das Ding im Bereich des menschlichen Vor-
stellens, 3. das Ding, ausgelegt als Korrelat eines subjektiven Vorstel-
lungssystems (also unter Ausschaltung des „Dings an sich"), 4.
Phänomen als der intentionale Gegenstandssinn - abgesehen von den
thetischen Charakteren, 5. Phänomen als der Gegenstandssinn bei me-
thodisch geübter Neutralisierung der thetischen Charaktere. Indem
Husserl nun die fünfte Bedeutung als methodisches Leitmodell ge-
braucht, um die ganze „Natürliche Einstellung" aus den Angeln zu
heben, muß er doch offenbar diese fünfte Bedeutung spekulativ ver-
wandeln, damit sie alle anderen Bedeutungen umgreifen, ja sogar sich
selbst in ihrer naiven Form umfassen kann.13
12
Ebd., S. 331
13
Ebd., S. 333
DIE ARBEIT DER BESCHREIBUNG 217
ge hob sich eine vierte Aquivokation ab, die Husserl nicht als solche
kennzeichnet, obwohl sie für seinen Ansatz von entscheidender Be-
deutung ist.14 Ähnliches gilt für diejenigen Äquivokationen des Phä-
nomenbegriffs, welche sich in den intentionalen Erlebnisanalysen vor
allem der 5. LU ergeben.
Um eine Zuordnung der expliziten oder impliziten Phänomenäqui-
vokationen der >Logischen Untersuchungen zu denjenigen Finks brau-
chen wir uns nicht im Einzelnen bemühen. Immerhin läßt sich noch
die vierte von Fink unterschiedene Phänomenbedeutung als Aktmate-
rie auffassen, die fünfte hingegen, obwohl sie ansonsten der vierten
gleicht, erfährt eine methodische Behandlung und allgemeine Aufwer-
tung, die sich so noch nicht in Husserls phänomenologischem Durch-
bruchswerk15 findet.
Nicht die internen Bedeutungsunterschiede des Phänomenbegriffs,
etwa zwischen dem Ding als sich Zeigenden und dem Gegenstand als
Korrelat einer Vorstellung, stellen für Fink das Hauptproblem dar, son-
dern daß sich „auch mehrere Denk-Ebenen"16 des Phänomens unter-
scheiden lassen. Damit meint Fink nichts anderes als die Einnahme
einer reflexiven oder transzendentalen Einstellung gegenüber der na-
türlichen Einstellung, die als grundlegender methodischer Schritt der
Phänomenologie allererst ihren Forschungsbereich eröffnet.
Indem Fink den Begriff des Phänomens im Zusammenhang mit
methodischen Einstellungsunterschieden betrachtet, stellt er die Ver-
14
Siehe weiter oben S. 149.
" Im >Vorwort zur zweiten Auflage< schreibt Husserl: „Die >Logischen Untersuchen<
waren für mich ein Werk des Durchbruchs, und somit nicht ein Ende, sondern ein
Anfang." (XVIII, 8 (B VIII)) Vgl. dazu auch E. Holenstein, a.a.O., S. XIII f. In ei-
ner, gerade für die Beschreibungsthematik, methodisch wichtigen Fußnote spricht
Husserl in der zweiten Auflage ebenso die notwendigen Erweiterungen der in der
5. LU „zum Durchbruch kommenden Problemsphären" (XIX/1, 411 (B 397)) an.
Vgl. hierzu U. Panzer, Einleitung der Herausgeberin. In: Husserliana, Bd. XIX/1,
a.a.O., XIX-LXV, S. LIV f. Zum „Durchbruch" kam Husserl zufolge in den l o g i -
schen Untersuchungen die Betrachtung des Gegenstandes im Verhältnis zu seiner
Gegebenheitsweise und damit die Idee dessen, was er später als Korrelationsapriori
auffaßte und in engsten Zusammenhang zur Methode der Reduktion brachte (vgl.
Husserliana, Bd. VI, a.a.O., S. 169 f.). Zu den sich in der Durchbruchsmetapher
aussprechenden psychologischen Motiven von Husserls Forschungstrieb siehe M.
Sommer, a.a.O., S. 164 f. - Mit den >Logischen Untersuchungen< gelang Husserl
nicht nur wissenschaftlich der Durchbruch, sondern auch akademisch. Im Septem-
ber 1901 wurde er als außerordentlicher Professor an die Universität Göttingen be-
rufen. Daß er damit noch nicht am Ziel seiner Wünsche war, vielmehr der außer-
ordentliche Charakter der Professur sein Ansehen unter den Kollegen schmälerte,
dazu siehe D. Münch, Edmund Husserl und die Würzburger Schule. a.a.O., S. 106,
der sich hierbei u.a. auf den weiter oben angeführten Bericht Edith Steins stützt.
16
E. Fink, a.a.O., S. 331.
218 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
17
Ebd., S. 335. Vgl. hierzu auch weiter oben S. 50 f.
18
E. Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge. Husserliana, Bd. 1,
Den Haag 1950, S. 129. Siehe auch Husserliana, Bd. XXVII, a.a.O., S. 153. M.
Sommer, a.a.O., 62 f., hat gezeigt, daß sich solchen konstitutiven Sprachschwie-
rigkeiten nicht erst Husserl, sondern schon der frühe Positivismus, insbesondere
der Empiriokritizist Avenarius gegenübersah.
DIE ARBEIT DER BESCHREIBUNG 219
19
Siehe weiter oben S. 119 ff.
20
E. Fink, a.a.O., S. 336.
21
A. I hiari.lt (Husserl in Rußland Phänomenologie der Sprache und der Kunst bei
Gustav Spet und Aleksej Losev. München 1992, S. 37) weist daraufhin, daß Spra-
che und Beschreibung Thema der Phänomenologie Husserls sind einerseits in
mehr oder weniger deutlicher hermeneutischer Hinsicht auf die Vieldeutigkeit der
Begriffe, andererseits angesichts der für phänomenologische Wesensbeschreibun-
gen bestehenden Gefahr, „im Horizont der natürlichen Einstellung bzw. im Lichte
traditioneller Denkgewohnheiten umgedeutet zu werden, so daß die von ihm origi-
när erschauten und in der Beschreibung eigentlich gemeinten Strukturen gar nicht
in den Blick des Rezipienten gelangen. So erscheint Sprache in Husserls Schriften
zwischen 1900 und 1913 nicht nur als Thema eines Spezialbereiches der Phäno-
menologie - wie in den >Logischen Untersuchungen - sondern auch als Aus-
gangspunkt und begriffliches Medium aller phänomenologischer Beschreibungen,
welches der Phänomenologe in der Reflexion auf seine Ausdrucksmittel thema-
tisch macht." Mit dieser Schlußfolgerung stimmen wir aus zwei Gründen nicht
überein. Erstens wird Sprache schon in den »Logischen Untersuchungen in beiden
Hinsichten thematisiert. Zweitens ist Fink in seiner Einschätzung zuzustimmen,
daß das Sprach- als Einstellungsproblem stets unterbelichtet bleibt. Was neben ei-
ner phänomenologischen Sprach- im besonderen eine phänomenologische Beschrei-
bungstheorie angeht, so sind in den >Ideen I< zwar einige Paragraphen (Husserlia-
na, Bd. HI/1, a.a.O., §§ 71 ff.) dem »Problem der Möglichkeit einer deskriptiven
Eidetik< gewidmet. Die Probleme, v.a. im Verhältnis von beschreibenden und er-
klärenden Wissenschaften, werden darin aber lediglich aufgeworfen, ihre eigentli-
che Klärung indessen aufgeschoben. Auch in den durch die Husserliana zugänglich
gemachten nachgelassenen Texten finden sich Bemerkungen zur Begründung der
Möglichkeit phänomenologischer Beschreibung einerseits, ihrer Handhabung an-
dererseits nur verstreut (z.B. Husserliana, Bd. XXDC, a.a.O., S. 22 f.).
22
Vgl. hierzu weiter oben sowohl S. 105 f., als auch die Kritik an Husserls Konzept
des Ausdrucksgebrauchs im „einsamen Seelenleben" S. 159, Fußnote 3.
23
E. W. Orth, Zur Phänomenologie des philosophischen Textes. a.a.O., S. 15 f. Er-
hellend ist jedoch Orths Erläuterung zu der Bemerkung Husserls, wir könnten nach
220 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
der Reduktion „ruhig fortfahren [...] als natürliche Menschen zu sprechen" (Hus-
serliana, Bd. III, a.a.O., S. 137): „Husserl will die unvermeidliche sprachliche Ver-
arbeitung, die eine noematische Intentionalitat ist (d.h. eine Fassung mittels so
oder so konstituierter Ausdrücke als Medien), lediglich nicht voreilig auf bestimm-
te etablierte Formen der Ausdrücklichkeit festlegen, sondern bis in den Ursprung
der beschreibenden und erkennenden Aktivität zurück" verfolgen (E. W. Orth, Zur
Phänomenologie des philosophischen Textes. a.a.O., S. 17).
24
Ebd.,S. 19.
DIE ARBEIT DER BESCHREIBUNG 221
mit zu tun, daß er wie Husserl vom Primat der selbstgegebenen Sache,
dem Phänomen in seiner phänomenologisch maßgeblichen Bedeutung
ausgeht und aus einer Äquivokation des Phänomenbegriffs die Mög-
lichkeit der phänomenologischen Methode entfaltet. Es muß aber auch
als eine Seite derjenigen Sprachvergessenheit angesehen werden, die
Fink selbst Husserl vorwirft. Insofern ist die Vernachlässigung des Be-
schreibungsbegriffs, der nicht bloß ein Begriff unter anderen phäno-
menologisch wichtigen Begriffen ist, durchaus symptomatisch.
Beschreibung, als in der phänomenologischen Einstellung vielmehr
nur gebrauchter denn thematisch in seiner Möglichkeit aufgeklärter
Begriff, erweist sich bei Husserl wie bei Fink als der eigentliche ope-
rative Begriff. Phänomenologisch jeweils thematisch sind Phänomene,
operativ sind Beschreibungen. Als allgemeines phänomenologisches
Medium steht Beschreibung auch begrifflich im Schatten des Phäno-
mens. Zwar wird bei Fink deutlich, daß operative Schatten zwangs-
läufig aus dem phänomenologischen EinStellungswechsel entstehen,
der sprachlich kaum abgesichert werden kann. Daß gerade phänome-
nologische Beschreibung nur im Rahmen der reflexiven Einstellung
stattfindet und sich hier zuerst das Sprachproblem stellt, kommt bei
ihm jedoch nicht heraus. Wegen der gegenseitigen Verweisung von Be-
schreibung und Reflexion, d.h. von rein deskriptiver und reflexiver
Einstellung, kann der Beschreibungsbegriff als ausgezeichneter und er-
ster operativer Begriff in der Phänomenologie angesehen werden.
Daß Beschreibung der grundlegende operative Begriff der Phäno-
menologie ist, zeigt sich daran, daß der operative Schatten, den Fink
am transzendentalen Phänomenbegriff selbst aufweist, sich gerade dort
einstellt, wo der allgemeine Operator der Phänomenologie, die Be-
schreibung, versagt. Solange die Beschreibung ihre Aufgabe erfüllt
und sich sprachlich alle Äquivokationen eines Begriffs einholen las-
sen, hat die Phänomenologie die Höhe ihrer Einstellung noch gar
nicht erreicht.
Die Tragweite operativ-begrifflicher Schatten, die Fink in einem
Denken aufweist, führt auf eine allgemeine Äquivokation nicht bloß
einzelner Begriffe, sondern des ganzen begrifflichen Vokabulars ei-
nes Denkens. In diesem Sinn zeichnen Sprach- und Beschreibungs-
probleme die Phänomenologie tatsächlich aus, d.h. sie bezeichnen den
Ort, den diese sich erobert. Dort, wo mit der Sprache und Beschrei-
bung ihre ganze Einstellung prekär wird, ist die Phänomenologie erst
in ihrem Element. Hier findet sie ihre Phänomene. Gerade in diesem
reflexiven oder transzendentalen Bereich der Wesen ist sie gezwun-
gen, ihr Beschreibungsmedium zu thematisieren, um darüber allererst
zu ihrem jeweiligen Thema zu finden. Die Beschreibung ist nunmehr
222 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
Ebenso legt Orth (Das Phänomen der Sprache..., a.a.O., S. 11) nahe, „das Phäno-
men der Sprache in einem ganz eminenten Sinne als ein Phänomen der Phänome-
nologie zu reklamieren", Sprache „als Inbegriff von Tatsachen und Tatbeständen"
und gleichzeitig als „Medium und Instanz der Sinngebung, Ort von Evidenzen und
Vollzug der Intentionalität." Er verweist darauf, daß in diesem Sinn „bereits Sche-
ler von dem Wort als Urphänomen, als »Erlebnisübergang«, »als Anfangs- und
Endpunkt einer intentionalen Bewegung«" (Die Idee des Menschen. GW, Bd. III,
Bern 19725, S. 180) spricht. Orth warnt jedoch davor, nunmehr die Sprache anstel-
le des Bewußtseins zur „Zentralinstanz" der Weltkonstitution zu machen (Das Phä-
nomen der Sprache.., a.a.O., S. 19).
Bemet, Kern und Marbach (a.a.O., S. 104) machen auf die letzten Dinge aufmerk-
sam, die die Phänomenologie entdeckt: das Jetzt des Flusses, die absolute Subjek-
tivität, der Urquellpunkt des Erlebens: „Für all das haben wir keine Namen", heißt
es bei Husserl (Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1893-1917).
Husserliana, Bd. X, Den Haag 1969, S. 371). Vgl. hierzu auch M. Sommer, a.a.O.,
S. 234 f., für den sich aus den phänomenologischen Schwierigkeiten, das ursprüng-
lich Geschaute „dem beschreibenden Blick zugänglich zu machen", der Gang ins
Gleichnishafte ergibt.
Siehe A. Haardts Vortragstitel >Von den bloßen Worten zu den Sachen selbst -
und wieder zurück< (a.a.O.).
DIE ARBEIT DER BESCHREIBUNG 223
In diesem Sinn spricht Husserl in den neu hinzukommenden Passagen der zweiten
Auflage der >Logischen Untersuchungen häufiger von Deskriptionen als von Be-
224 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
Wenn Husserl bspw. den Begriff der Bedeutung „nach dem psychi-
schen Charakter orientiert, welcher dem Ausdruck als solchem wesent-
lich ist und ihn im Bewußtsein, also deskriptiv, vom bloßen Wortlaut
unterscheidet" (XIX/1, 67), so deckt sich das im Bewußtsein vorfind-
liche mit dem Deskriptiven. Das Deskriptive steht hier viel mehr auf
Seiten des Bewußtseins als auf Seiten der Sprache. Indem es sich am
Inhaltlichen orientiert, zieht es doch die Sprache mit sich, ohne das
Husserl je aufklärte, wie genau das geschieht.
In ihrer Sachorientierung ist die Beschreibung bestrebt, der Sache
angemessenen Ausdruck zu verschaffen und den Ausdrucksbereich
durch Beschreibung zu erweitern. Die Beschreibung wird deswegen
nicht zu einer Sache, sondern die Sache zu etwas Deskriptivem. Diese
Angleichungstendenz wird deutlich in der Rede von deskriptiven
Sachlagen, Inhalten und Gehalten oder vom deskriptiv Gegebenen.
Von deskriptiven Sachen ist jedoch nie die Rede. So rückt auch die
Beschreibung nie ganz an die Stelle der Sache und deren intuitiver
Erfassung.
Durch Angemessenheit des Ausdrucks versucht die Beschreibung
dem Erlebnis so nah wie möglich zu kommen. Hierbei zeichnet sich
jedoch eine unüberwindliche Differenz zur Intuition ab. Ihre Angemes-
senheit, die niemals die Evidenz der Erkenntnis erreicht, steht durch
die entschiedene Bevorzugung der Intuition phänomenologisch im-
mer in Zweifel. Von den lebendigen inneren Erlebnissen und evidenten
Wahrnehmungsurteilen heißt es einerseits, sie lassen „sich ohne sprach-
lichen Ausdruck nicht vollziehen" (XIX/1, 8 (A 5)), andererseits, „sie
sind begrifflich nicht vollkommen faßbar und ausdrückbar, sie sind nur
in ihrer lebendigen, aber durch Worte nicht angemessen mitteilbaren
Intentionen evident." (XIX/1, 368) „Ob die Verbindung von Sprechen
und Denken [...] eine absolut notwendige ist oder nicht" (XIX/1, 7 f.
(A 5)) bleibt bei Husserl offen. Rückgang auf die Sachen selbst heißt
in erster Linie evidente Anschauung und erst in zweiter Linie Be-
schreibung solcher Sachen.29
auf die Sachen selbst aufgewiesen, denen sich Husserl gegenübersah: „Im Erlebnis
reinster Evidenz hat es »mit allem Aussagen ein Ende«. »Für all das haben wir
keine Namen«, klagt Husserl; »Man kann da nichts weiter sagen als: Siehe!« (Hus-
serliana, Bd. X, a.a.O., S. 342, 371, 374) Trost dafür, daß es ständig mißlingt,
»dem schauenden Auge das Wort zu lassen« - welch glückliche Formel! -, sucht
Husserl bei der Unaussagbarkeit mystischer Erfahrung: »Wir werden«, so endet
1907 die vierte Vorlesung, »in der Tat an die Rede der Mystiker erinnert, wenn sie
das intellektuelle Schauen ... beschreiben« (E. Husserl, Die Idee der
logie. Fünf Vorlesungen Husserliana, Bd. II, Den Haag 1973, S. 62)."
Vgl. hierzu weiter oben S. 164 f. und S. 211 f.
Die Verbindung des Beschreibungs- mit dem Analysebegriff, bzw. die Auffassung
der Beschreibung als Unterscheidung verweist auf Moltchanovs Bestimmung des
Bewußtseins und, davon abgeleitet, der Beschreibung als Unterscheidenserfahrung
(siehe oben S. 213).
DIE ARBEIT DER BESCHREIBUNG 227
2
E. Levinas, a.a.O., S. 109
ZUSAMMENFASSUNG: ARBEIT AM PHÄNOMEN 233
Reflexion. Indem sie das tut, läßt sie ihr eigenes Wesen, sofern es re-
flektiv ist, hervorkommen. [...] Die Äquivokation ist damit nichts ande-
res als die Selbstenthüllung der Sprache. Diese Selbstenthüllung erweist
sich allerdings selber als Äquivokation. Die Sprache als Sprache ist die
universale und umfassende Äquivokation überhaupt. Mit anderen Wor-
ten besagt das, daß die Sprache notwendig als äquivokes Feld, als die
Dynamik und Statik des Äquivoken selbst geschieht.3
Offenbart sich schon bei gewöhnlichen, vereinzelten Aquivokationen
das enge Sprachverständnis Husserls, so erst recht, wenn in der phä-
nomenologischen Einstellung der Begriffsgebrauch systematisch äqui-
vok wird. Zwar geht Husserl auf das Einstellungs- als Sprachproblem
ein und erkennt die hier entstehenden systematischen Schwierigkeiten
zumindest als Umständlichkeiten der Darstellung und Übermittlung,
d.h. der Beschreibung der phänomenologischen Einsichten an. Er
steht diesem Problem aber weitgehend hilflos gegenüber. Weder weiß
er es methodisch einzuholen, noch es fruchtbar zu machen in dem
Sinn, daß mit dem Rückgang auf die Sache selbst ein Rückgang auf
die Sprache einhergeht, so daß der Sache stets noch etwas ent-spricht.
Das Unvermögen der Phänomenologie, ihrer eigenen radikalen Ein-
stellung sprachtheoretisch gerecht zu werden, erweist sich gerade an
der Vernachlässigung, die die Beschreibungsmethode erfährt. Dabei
heben die phänomenologischen Beschreibungen die unzureichende
Sprachtheorie der Phänomenologie praktisch auf. Beschreibung, als
der eigentliche operative Begriff der Phänomenologie, vermittelt be-
ständig zwischen natürlicher und phänomenologischer Einstellung. Sie
versucht, die von der Intuition ausgestellten Wechsel auf Wesenser-
kenntnis einzulösen, gerade indem sie sie sprachlich ummünzt. Phä-
nomenologie zahlt sich allererst in dieser deskriptiven Münze aus.
Beschreibungen sind das Kleingeld der Phänomenologie.
3
H. Hülsmann, a.a.O., S. 156 f.
Sachregister
Alltagssprache llf, 15, 21-28, Fixierung 26, 37, 85, 93, 103-
50f, 59f, 138-140, 144 109, 126, 158, 196,214,224
Äquivokation 69, 76-79, 93, Fundierung 40, 46, 69, 74f, 81,
103-106, 123, 125, 131, 144- 100, 124, 127f, 181-205,212,
158, 161, 165f, 170, 177, 183, 224,227,231
192,201,208,216-233 Gegebenheit 9, 31, 56, 59, 61f,
Auseinanderlegen 52, 201, 207, 78, 87, 98, 106, HOf, 185,
226-231 207-211,227
Auslegung 11, 15, 29, 46, 52, -sweise 58,60, 141, 162,217
61f, 88, 95, 121, 141, 216, Geltung 18, 53-56, 72, 98-105,
220,227,229 179f, 231
Benennung 15,224,229 Genauigkeit 49, 54, 61, 65, 72f,
Beobachtung 15, 17,42,88, 136 78,92f, 106, 125,226
Bild, Abbildung 16-18, 23, 58, Gestik 14, 158
61, 89f, 131, 136, 148, 164, Hermeneutik 11, 32, 49, 52, 62,
166,174, 183-187, 205f 75, 181, 194, 214, 219, 226,
Daten 23, 76f, 153, 187 228
Definition 76-78, 94f, 104, 173, Ideation 95-100, 104, 172, 178,
227 181, 198,200,203
Deutung 56, 76-79, 95, 102, Identifizierung 13, 102, 171,
138, 148, 153f, 199, 207,212, 197,205
227f Inbegriff 70-77, 81, 97, 168,
Diskurs 33f, 47, 50-58 191,206,222
Einstellung 35, 42, 47-51, 55f, Interpretation lOf, 30, 52, 56,
65, 106, 111, 115-125, 130, 61-65, 105, 145, 177, 194,
21 lf, 216-233 212,225-232
Epoche, Reduktion 42-58, 99, InterSubjektivität 34, 48, 113,
102, 109, 117f, 146, 154, 181, 160
205,214-217,220 Intuition 15f, 35, 48-52, 62,
Erklärung 10, 16-24, 29f, 37-40, 107, 112, 120, 134, 177, 181f,
71, 78, 90-92, 110, 192, 207, 189, 193, 200-211, 222, 225,
213 233
Evidenz 35-49, 54-62, 85, 87, Kategorie 38, 69, 74f, 85, 95,
92-97, 101-104, 108, 118- 103, 120, 173, 191,201-207
124, 128, 141-145, 150-154, Kausalität 17,37-41,77,81,86,
170, 193,202, 209f, 220-227 128,186,212,231
Exaktheit 36,92-95, 103, 170 Klassifikation 37f, 74, 137
Explikation 49, 53, 62, 232 Klischee 21 f
Figur 14, 28, 164 Kommunikation 10, 13f, 54-62,
119, 123, 159-163, 177, 179
236 PHÄNOMEN UND BESCHREIBUNG
D
^ Bayerische
Staatsbibliothek
München