Sie sind auf Seite 1von 7

1

Die öffentliche Stimme der Religion Säkularer Staat und


Glaubenspluralismus

von Jürgen Habermas

Das Thema „Säkularer Staat und Glaubenspluralismus“ erinnert uns an eine der
geschichtlichen Wurzeln des modernen Staats. Die Säkularisierung staatlicher
Macht, die wir verkürzt als „die Trennung von Kirche und Staat“ bezeichnen, war die
angemessene Antwort auf die Religionskriege und Konfessionskämpfe der Frühen
Neuzeit. Seine zunehmende Unabhängigkeit von geistlichen Autoritäten befähigte
den Staat, eine konfessionell gespaltene Gesellschaft zu befrieden und Sicherheit zu
stiften. Schritt für Schritt übertrug die Regierung den religiösen Minderheiten
Rechte – zunächst die Freiheit, überhaupt einer anderen Glaubensrichtung
anzuhängen als der etablierten Kirche (also Glaubensfreiheit), danach die Freiheit,
ihren Glauben öffentlich zu bekennen (Bekenntnisfreiheit), und schließlich auch das
Recht, ihre abweichenden religiösen Überzeugungen in aller Form zu praktizieren
(freie Religionsausübung).

Doch der säkulare Charakter des Staates war zwar eine notwendige, aber noch keine
hinreichende Bedingung dafür, allen gleiche religiöse Freiheitsrechte zu
garantieren. Für gläubige Bürger war es nicht genug, sich auf das Wohlwollen einer
säkularisierten Staatsmacht zu verlassen, die sich dazu herablässt, Minderheiten zu
dulden. Nur ein liberaler Staat gewährleistet Religionsfreiheit als Menschenrecht.

Die unparteiische Anwendung des Toleranzprinzips erfordert sogar noch mehr.


Wenn das Prinzip über jeden Verdacht erhaben sein soll, reicht die Unterordnung
der säkularen Staatsgewalt unter die Herrschaft des Rechts (also der Rechtsstaat)
nicht aus. Zwingende Gründe für die Definition dessen, was im Einzelfall toleriert
werden soll oder nicht zu dulden ist, lassen sich nur durch ein demokratisches
Verfahren ermitteln – Gründe nämlich, die alle Seiten gleichermaßen akzeptieren
können. Die Konfliktparteien selbst müssen zur Verständigung untereinander
2

gelangen, beispielsweise über die stets umstrittenen Grenzlinien zwischen der


positiven Religionsfreiheit, also dem Recht, den eigenen Glauben auszuüben, und
dem negativen Freiheitsrecht, von den religiösen Praktiken Andersgläubiger
verschont zu bleiben. (Einen derartigen Konflikt erleben wir derzeit in Köln und
Frankfurt, wo man über die Errichtung großer Moscheen streitet.)

Säkularer Staat, Liberalismus und Demokratie

Aus den beiden Revolutionen am Ende des 18. Jahrhunderts ist dann der voll
ausgebildete Verfassungsstaat hervorgegangen, der die säkularisierte Staatsgewalt
mit Liberalismus und Demokratie verbindet. Die Demokratie bedarf allerdings nicht
nur der Bereitschaft ihrer Bürger, Gesetze zu befolgen. Der anspruchsvolle Typus
der demokratischen Selbstgesetzgebung erwartet von den Bürgern über
Gesetzesgehorsam hinaus die Anerkennung der Verfassung, also eine Identifikation,
die nicht gesetzlich erzwungen werden kann, sondern auf guten Gründen und
Überzeugungen basieren muss. Eine solche Ordnung darf den Bürgerinnen und
Bürgern nicht auferlegt werden, sie muss in deren Gesinnung Wurzeln schlagen.
(Bei uns besteht deshalb keine Wahlpflicht. Ob man an politischen Wahlen
teilnimmt, muss der Entscheidung jedes Einzelnen überlassen bleiben.)

Diesen Zug eines demokratischen Staatsbürgerethos betone ich deshalb, weil er


insbesondere gläubige Menschen und religiöse Vereinigungen mit einer
anspruchsvollen Erwartung konfrontiert. In einem Verfassungsstaat wird von
Religionsgemeinschaften nicht lediglich erwartet, sich anzupassen und auf einen
fragilen Modus vivendi einzulassen. Sie sollen sich vielmehr die säkulare
Legitimation des Gemeinwesens unter Prämissen des eigenen Glaubens (!) zu Eigen
machen. (Vor allem darum geht es John Rawls in Political Liberalism.) Die
katholische Kirche hat sich bekanntlich erst während des Zweiten Vaticanums im
Jahre 1965 zu Liberalismus und Demokratie bekannt, und in den deutschsprachigen
Ländern haben es die protestantischen Kirchen auch nicht anders gehalten.

Um den schmerzhaften Charakter dieses Lernprozesses besser verstehen zu


können, sollten wir uns in Erinnerung rufen, dass sich die Legitimation des
3

Verfassungsstaates im Laufe der vernunftrechtlichen Tradition von Locke über


Rousseau bis Kant entwickelt hat. Dieser Strang der Aufklärung verlässt sich
ausschließlich auf die „natürliche“ oder säkulare Vernunft, anders gesagt: einzig und
allein auf Argumente, die allen gleichermaßen zugänglich sind. Das ganze Mittelalter
hindurch und noch in der Frühen Neuzeit hatten lediglich die theoretischen
Aussagen der griechischen Metaphysik und der modernen Naturwissenschaft die
Frage der Kompatibilität von „Glauben und Vernunft“ aufgeworfen. Aber seit der
Aufklärung sahen sich religiöse Überlieferungen durch die praktischen Ansprüche
des modernen Humanismus herausgefordert. Erstmals hatten sie sich nun damit
auseinanderzusetzen, dass Politik und Gesellschaft von autonom begründeten
säkularen Vorstellungen getragen wurden.

Die Säkularisierung der Gesellschaft

Bis jetzt habe ich lediglich die rechtliche Bedeutung dessen erläutert, was wir als
„die Trennung von Kirche und Staat“ bezeichnen. Wir dürfen aber die Säkularisation
der Staatsmacht keinesfalls mit der Säkularisierung der Gesellschaft verwechseln.
Der soziologische Mainstream geht zu Recht von der Annahme aus, dass sich
Kirchen und Religionsgemeinschaften zunehmend auf die Kernfunktion der
seelsorgerischen Praxis beschränkt haben und ihre umfassenden Kompetenzen in
anderen gesellschaftlichen Bereichen aufgeben mussten. Gleichzeitig haben sich
Religionsausübung und Glaubenspraxis in abgeschirmte und intimere Bereiche
zurückgezogen. Der funktionalen Spezifizierung des Religionssystems entspricht
eine Individualisierung der Religionspraxis.

Funktionsverlust und Privatisierung müssen jedoch keinen Bedeutungsverlust der


Religion zur Folge haben – weder in der politischen Öffentlichkeit und der Kultur
einer Gesellschaft, noch in der persönlichen Lebensführung. Das öffentliche
Bewusstsein in den Ländern Europas lässt sich heutzutage in den Kategorien einer
„post-säkularen Gesellschaft“ beschreiben, die sich bis auf weiteres auf den
Fortbestand religiöser Gemeinschaften in einer immer stärker säkularisierten
Umgebung einstellen muss.
4

Unabhängig von ihrem quantitativen Gewicht können Religionsgemeinschaften


einen „Sitz“ im Leben moderner Gesellschaften behaupten. Sie können mit
relevanten, ob nun überzeugenden oder anstößigen Beiträgen zu einschlägigen
Themen auf die öffentliche Meinungs- und Willensbildung Einfluss gewinnen.
Unsere weltanschaulich pluralistischen Gesellschaften bilden für solche
Interventionen einen empfindlichen Resonanzboden, weil sie in politisch
regelungsbedürftigen Wertekonflikten immer häufiger gespalten sind.
Religionsgemeinschaften können sich im politischen Leben säkularer Gesellschaften
als Interpretationsgemeinschaften behaupten. Im Streit über die Legalisierung von
Abtreibung oder Sterbehilfe, über bioethische Fragen der Reproduktionsmedizin,
über Fragen des Tierschutzes und des Klimawandels – in diesen und ähnlichen
Bereichen ist die Argumentationslage so unübersichtlich, dass keineswegs von
vornherein ausgemacht ist, welche Partei sich auf die richtigen moralischen
Intuitionen berufen kann.

Ressourcen der Sinn- und Identitätsstiftung

Wer die „öffentliche Stimme der Religion“ zur Debatte stellt, wirft die Frage nach
dem angemessenen Platz der Religion in der politischen Öffentlichkeit auf. Auf den
ersten Blick scheint der säkulare Charakter des Verfassungsstaates jeder politischen
Betätigung von Seiten religiöser Bürger oder Religionsgemeinschaften, die sich als
Gläubige oder als religiöse Organisationen zu Wort melden, zu widersprechen. Aus
diesem Grunde erklären Liberale wie John Rawls oder Robert Audi es zur
Bürgerpflicht, „keinerlei Gesetze oder Politiken zu verfechten oder zu unterstützen
[...], sofern man nicht über angemessene säkulare Begründungen verfügt und bereit
ist, diese einzubringen.“ Ich selbst neige dazu, die politische Kommunikation im
öffentlichen Raum für jeden Beitrag – in welcher Sprache auch immer er
vorgebracht wird – offen zu halten.

Die Zulässigkeit nicht-übersetzter religiöser Äußerungen in der Öffentlichkeit lässt


sich nicht nur im Hinblick auf Personen begründen, die weder willens noch fähig
sind, ihre Überzeugungen und ihren Wortschatz in profane und sakrale Anteile
aufzuspalten. Es gibt auch einen funktionalen Grund dafür, dass wir die polyphone
5

Komplexität der öffentlichen Stimmenvielfalt nicht vorschnell reduzieren sollten.


Der demokratische Staat sollte weder Individuen noch Gemeinschaften davon
abhalten, sich spontan zu äußern, weil er nicht wissen kann, ob sich die Gesellschaft
nicht andernfalls von Ressourcen der Sinn- und Identitätsstiftung abschneidet.

Besonders im Hinblick auf verwundbare Bereiche des sozialen Zusammenlebens


verfügen religiöse Traditionen über die Kraft, moralische Intuitionen zu
artikulieren. Warum sollten säkulare Bürger im potentiellen Wahrheitsgehalt von
Glaubensäußerungen nicht eigene, seien es verborgene oder unterdrückte,
Intuitionen wiedererkennen können? Wir müssen allerdings die
institutionalisierten Deliberations- und Entscheidungsprozesse auf der Ebene der
Parlamente, Gerichte, Ministerien und Verwaltungsbehörden klar vom informellen
Engagement der Bürger in Zivilgesellschaft und politischer Öffentlichkeit
unterscheiden. Die „Trennung von Staat und Kirche“ verlangt nach einer Art Filter
zwischen den beiden Sphären. Dieser Filter darf nur säkulare Beiträge aus dem
babylonischen Stimmengewirr der öffentlichen Kommunikation passieren lassen.
So sollte es etwa im Parlament die Regel sein, dass der amtierende Präsident
religiöse Erklärungen aus den Sitzungsprotokollen tilgen lässt.

Mögliche Wahrheitsgehalte religiöser Beiträge können nur dann wirksam in


verbindliche Entscheidungen der Politik einfließen, wenn irgendjemand sie
aufgreift und in eine allgemein zugängliche Argumentation übersetzt. Würde man
die Domäne des Staates, der über die Mittel legitimer Zwangsmaßnahmen verfügt,
für den Streit unter diversen Glaubensgemeinschaften öffnen, könnte die Regierung
zum Vollzugsorgan einer religiösen Mehrheit werden, die der Opposition ihren
Willen aufzwingt. Im Verfassungsstaat ist es ein Legitimationserfordernis, staatlich
durchsetzbare Politikentscheidungen in einer Sprache zu formulieren, die alle
Bürger verstehen können. Sie müssen darüber hinaus in einer für alle Bürger
gleichermaßen verständlichen Weise gerechtfertigt werden können. Die
demokratische Mehrheitsherrschaft schlägt in religiöse Tyrannei um, wenn eine
Mehrheit im Prozess der Gesetzgebung und der Gesetzesanwendung auf religiösen
Argumenten beharrt und sich weigert, jene Art öffentlich zugänglicher Begründung
6

zu liefern, welche die unterlegene Minderheit, sei sie nun säkular oder
andersgläubig, im Lichte allgemein gültiger Standards beurteilen kann.

Die Trennung von Bürger und Gläubigem

Wenden wir uns mit diesem prinzipiellen Verständnis des Verhältnisses von Staat
und Kirche den Glaubensgemeinschaften zu, die in der politischen Öffentlichkeit
eine eigene Agenda verfolgen und Politiken verhindern wollen, die ihrem Glauben
widersprechen. Untergraben sie damit die Trennung von Kirche und Staat? Es
kommt darauf an, wie diese religiösen Akteure ihre Rolle verstehen und
praktizieren. Wenn sie als eine Art „Interpretationsgemeinschaft“ innerhalb des
Verfassungsrahmens agieren, werden sie sich auf die Verbreitung von allgemein
verständlichen und einleuchtenden Argumenten beschränken, statt Argumente
dogmatischer Art zu verwenden. Sie werden es also vorziehen, solche Argumente
vorzubringen, die gleichermaßen an die moralischen Intuitionen der eigenen
Anhänger wie an die der Nicht- und Andersgläubigen appellieren. Wenn sich die
Kirchen ausdrücklich nur an die eigenen Gläubigen wenden, sollten sie diese als
religiös orientierte Bürger, also als religiös orientierte Mitglieder des politischen
Gemeinwesens ansprechen. Hingegen würden sich die Kirchen über die Grenzen
einer liberalen politischen Kultur hinwegsetzen, wenn sie ihre politischen Ziele auf
strategische Weise zu erreichen versuchten, also indem sie unmittelbar an das
religiöse Gewissen appellieren. Denn dann würden sie auf ihre Mitglieder in der
Rolle von Gläubigen und nicht von Bürgern Einfluss nehmen wollen. Sie würden
versuchen, Gewissenszwang ausüben und geistliche Autorität an die Stelle jener Art
von Begründungen setzen, die im demokratischen Prozess nur deshalb wirksam
werden können, weil sie die Schwelle zur Übersetzung in eine
allgemeinverständliche Sprache überwinden. Ich erinnere mich an das schlechte
Beispiel der Hirtenbriefe, mit denen in den 50er Jahren von der Kanzel herab zur
Stimmabgabe für Adenauer geworben wurde. Mir ist klar, dass diese abstrakte Sicht
der Dinge manchen Leuten naiv oder weltfremd erscheint. Doch Prinzipien
bedürfen immer erst der kontextbezogenen Anwendung und Umsetzung. In
westlichen Gesellschaften finden wir eine große Vielfalt gesetzlicher Regelungen,
die ein und dasselbe Prinzip durchsetzen sollen: Staat und Kirche auseinander zu
7

halten. Im Übrigen sind die Kirchen und Religionsgemeinschaften in sehr


verschiedene politische Kulturen eingebettet. Aufgrund dieser Vielfalt dürfte das,
was ich hier vorschlage, ganz unterschiedliche Reaktionen auslösen – etwa in den
Vereinigten Staaten, wo der Präsident im Amt betet, weil dort viele dezentrale
Glaubensgemeinschaften in einem vage religiösen Patriotismus übereinkommen;
oder in Frankreich, wo die Laicité fester Bestandteil einer säkularen Zivilreligion ist;
oder in Italien, wo die katholische Monokultur einer einzigen Kirche immer noch
überwältigenden Einfluss verleiht. Ich räume ein, dass mein Modell am besten zur
politischen Kultur in Deutschland passt, die heute von einem neutralen Wohlwollen
des Staates gegenüber den Glaubensgemeinschaften der Protestanten, der
Katholiken und der Juden geprägt ist (während die Haltung gegenüber dem Islam
noch umstritten ist). Aber aus dissonanten Reaktionen könnte man auch schließen,
dass ein solcher Vorschlag nicht zu abstrakt ist, sondern im Gegenteil der
weitergehenden Generalisierung bedarf.

Das könnte Ihnen auch gefallen