Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Das Thema „Säkularer Staat und Glaubenspluralismus“ erinnert uns an eine der
geschichtlichen Wurzeln des modernen Staats. Die Säkularisierung staatlicher
Macht, die wir verkürzt als „die Trennung von Kirche und Staat“ bezeichnen, war die
angemessene Antwort auf die Religionskriege und Konfessionskämpfe der Frühen
Neuzeit. Seine zunehmende Unabhängigkeit von geistlichen Autoritäten befähigte
den Staat, eine konfessionell gespaltene Gesellschaft zu befrieden und Sicherheit zu
stiften. Schritt für Schritt übertrug die Regierung den religiösen Minderheiten
Rechte – zunächst die Freiheit, überhaupt einer anderen Glaubensrichtung
anzuhängen als der etablierten Kirche (also Glaubensfreiheit), danach die Freiheit,
ihren Glauben öffentlich zu bekennen (Bekenntnisfreiheit), und schließlich auch das
Recht, ihre abweichenden religiösen Überzeugungen in aller Form zu praktizieren
(freie Religionsausübung).
Doch der säkulare Charakter des Staates war zwar eine notwendige, aber noch keine
hinreichende Bedingung dafür, allen gleiche religiöse Freiheitsrechte zu
garantieren. Für gläubige Bürger war es nicht genug, sich auf das Wohlwollen einer
säkularisierten Staatsmacht zu verlassen, die sich dazu herablässt, Minderheiten zu
dulden. Nur ein liberaler Staat gewährleistet Religionsfreiheit als Menschenrecht.
Aus den beiden Revolutionen am Ende des 18. Jahrhunderts ist dann der voll
ausgebildete Verfassungsstaat hervorgegangen, der die säkularisierte Staatsgewalt
mit Liberalismus und Demokratie verbindet. Die Demokratie bedarf allerdings nicht
nur der Bereitschaft ihrer Bürger, Gesetze zu befolgen. Der anspruchsvolle Typus
der demokratischen Selbstgesetzgebung erwartet von den Bürgern über
Gesetzesgehorsam hinaus die Anerkennung der Verfassung, also eine Identifikation,
die nicht gesetzlich erzwungen werden kann, sondern auf guten Gründen und
Überzeugungen basieren muss. Eine solche Ordnung darf den Bürgerinnen und
Bürgern nicht auferlegt werden, sie muss in deren Gesinnung Wurzeln schlagen.
(Bei uns besteht deshalb keine Wahlpflicht. Ob man an politischen Wahlen
teilnimmt, muss der Entscheidung jedes Einzelnen überlassen bleiben.)
Bis jetzt habe ich lediglich die rechtliche Bedeutung dessen erläutert, was wir als
„die Trennung von Kirche und Staat“ bezeichnen. Wir dürfen aber die Säkularisation
der Staatsmacht keinesfalls mit der Säkularisierung der Gesellschaft verwechseln.
Der soziologische Mainstream geht zu Recht von der Annahme aus, dass sich
Kirchen und Religionsgemeinschaften zunehmend auf die Kernfunktion der
seelsorgerischen Praxis beschränkt haben und ihre umfassenden Kompetenzen in
anderen gesellschaftlichen Bereichen aufgeben mussten. Gleichzeitig haben sich
Religionsausübung und Glaubenspraxis in abgeschirmte und intimere Bereiche
zurückgezogen. Der funktionalen Spezifizierung des Religionssystems entspricht
eine Individualisierung der Religionspraxis.
Wer die „öffentliche Stimme der Religion“ zur Debatte stellt, wirft die Frage nach
dem angemessenen Platz der Religion in der politischen Öffentlichkeit auf. Auf den
ersten Blick scheint der säkulare Charakter des Verfassungsstaates jeder politischen
Betätigung von Seiten religiöser Bürger oder Religionsgemeinschaften, die sich als
Gläubige oder als religiöse Organisationen zu Wort melden, zu widersprechen. Aus
diesem Grunde erklären Liberale wie John Rawls oder Robert Audi es zur
Bürgerpflicht, „keinerlei Gesetze oder Politiken zu verfechten oder zu unterstützen
[...], sofern man nicht über angemessene säkulare Begründungen verfügt und bereit
ist, diese einzubringen.“ Ich selbst neige dazu, die politische Kommunikation im
öffentlichen Raum für jeden Beitrag – in welcher Sprache auch immer er
vorgebracht wird – offen zu halten.
zu liefern, welche die unterlegene Minderheit, sei sie nun säkular oder
andersgläubig, im Lichte allgemein gültiger Standards beurteilen kann.
Wenden wir uns mit diesem prinzipiellen Verständnis des Verhältnisses von Staat
und Kirche den Glaubensgemeinschaften zu, die in der politischen Öffentlichkeit
eine eigene Agenda verfolgen und Politiken verhindern wollen, die ihrem Glauben
widersprechen. Untergraben sie damit die Trennung von Kirche und Staat? Es
kommt darauf an, wie diese religiösen Akteure ihre Rolle verstehen und
praktizieren. Wenn sie als eine Art „Interpretationsgemeinschaft“ innerhalb des
Verfassungsrahmens agieren, werden sie sich auf die Verbreitung von allgemein
verständlichen und einleuchtenden Argumenten beschränken, statt Argumente
dogmatischer Art zu verwenden. Sie werden es also vorziehen, solche Argumente
vorzubringen, die gleichermaßen an die moralischen Intuitionen der eigenen
Anhänger wie an die der Nicht- und Andersgläubigen appellieren. Wenn sich die
Kirchen ausdrücklich nur an die eigenen Gläubigen wenden, sollten sie diese als
religiös orientierte Bürger, also als religiös orientierte Mitglieder des politischen
Gemeinwesens ansprechen. Hingegen würden sich die Kirchen über die Grenzen
einer liberalen politischen Kultur hinwegsetzen, wenn sie ihre politischen Ziele auf
strategische Weise zu erreichen versuchten, also indem sie unmittelbar an das
religiöse Gewissen appellieren. Denn dann würden sie auf ihre Mitglieder in der
Rolle von Gläubigen und nicht von Bürgern Einfluss nehmen wollen. Sie würden
versuchen, Gewissenszwang ausüben und geistliche Autorität an die Stelle jener Art
von Begründungen setzen, die im demokratischen Prozess nur deshalb wirksam
werden können, weil sie die Schwelle zur Übersetzung in eine
allgemeinverständliche Sprache überwinden. Ich erinnere mich an das schlechte
Beispiel der Hirtenbriefe, mit denen in den 50er Jahren von der Kanzel herab zur
Stimmabgabe für Adenauer geworben wurde. Mir ist klar, dass diese abstrakte Sicht
der Dinge manchen Leuten naiv oder weltfremd erscheint. Doch Prinzipien
bedürfen immer erst der kontextbezogenen Anwendung und Umsetzung. In
westlichen Gesellschaften finden wir eine große Vielfalt gesetzlicher Regelungen,
die ein und dasselbe Prinzip durchsetzen sollen: Staat und Kirche auseinander zu
7