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„ Alt- Finstermünz „

Die Revolution brauste über das Land der Russen wie der Sturm über die Taiga !
Unter schrecklichen Geburtswehen sollte die russische Bärin ein neues, mächtiges
Reich gebären.
Ungezügelte Horden durchstreiften plündernd und mordend die Weite der Steppen
und Wälder- als Jäger und Gejagte !
Die Zukunft war dabei, die Vergangenheit zu verschlingen!

Schüsse peitschen über die Lichtung. Schreie, Flüche.... einer der zahllosen
Weltuntergänge jener unglückseligen Zeit !
Ein junger, drahtiger Mann stürmt mit aufgepflanztem Bajonett in die feudale Halle
des Herrenhauses ---sieht um sich, hält jäh inne und steht wie versteinert vor einem
Gemälde an der Wand !
Ungläubig wischt er sich mit dem Ärmel der verschlissenen Uniform über die Augen..
„Das ist doch, das gibt`s doch nicht ! Das ist doch“- er traut seinen Augen nicht-„ das
ist doch die Alt-Finstermünz ! Unverkennbar die Alt-Finstermünz !“ Ein Bild aus der
Heimat- hier in der Taiga !
Und er betrachtet das Bild- die schier endlos in den Himmel ragenden Berge, den
finsteren Bergwald an steilen Lehnen. Senkrechter Fels zu beiden Seiten der
Schlucht, in deren Enge der grüne, schäumende Fluß !
Ihm ist, als vernehme er das Donnern des Wassers, das Rauschen des Windes in
den Kronen der Bäume !...Das Lied der Heimat !
Da steht das mächtige, verfallende Mauerwerk der Burg am Ufer des Flusses, die
Reste der Festungsanlage drücken sich wie graues Spukwerk an den Fels.
Inmitten verwilderter Pflaumenbäume träumt die Kapelle vor sich hin, und in der
tobenden Gischt steht noch immer der Turm- Brückenpfeiler und Wehrturm zugleich,
mit seiner klobigen Gestalt und seinem mürrischen Ausdruck an einen grimmigen
Krieger erinnernd— einen Krieger aus grauer Vorzeit, von bösem Zauber in die
eisigen Fluten gebannt, von der davoneilenden Zeit vergessen, verzweifelt darauf
wartend, daß –um Gottes Willen- doch endlich der Tag komme, an dem irgendwer
das erlösende Wort spreche, das den unheilvollen Fluch von ihm nehme und ihn
von
seiner Pein erlöse.
Mit den beiden überdachten Holzbrücken, die ihn zur einen Seite mit dem tirolischen,
zur andern hin mit Graubünden verbinden, scheint er sich mit Mühe am glitschigen
Gestein festzuhalten, damit er nicht von der anstürmenden Flut mitfortgerissen wird.

„Die Alt-Finstermünz ! Wie kommt dieses Bild , dieses wundervolle Stück Heimat
hierher in diese gottverlassene sibirische Gegend , tausende Kilometer von zuhause
entfernt! ?!
„Dawai, Tawarischtsch ! Dawai ! Vorwärts Kamerad, vorwärts !“! ruft einer der
Männer durch die Tür .
Tawarischtsch nimiezki , der „ Deutsche“ , aber überhört die Aufforderung, sich aus
dem Staub zu machen. Die Vergangenheit hat ihn eingeholt, von ihm Besitz
ergriffen.
Die Erinnerung reiht Bild für Bild vor seine Augen - farbenprächtig und lebendig, als
wäre er eben erst dort gewesen !
Da sitzt er als Hüterbübchen hoch droben überm Fluß, in der Fensternische des
Gemäuers, das wohl Wohnung, Aussichtspunkt und in Augenblicken äußerster
Bedrängnis, dem Burgkommandanten als letzter Zufluchtsort gedient haben mag,
absolut uneinnehmbar inmitten der senkrechten Felswand und nur durch einen
versteckten, engen, steilen und finsteren, aus dem Fels gehauenen Schliefgang zu
erreichen. Da sitzt das Bübchen mit dem grünen Hütchen am Wuschelkopf, den
unentbehrlichen Haselnußstock neben sich
und schaut verträumt den fliegenden Wolken nach und den flinken Forellen tief
unter sich im Wasser. Und auf den Blumenhängen hinter dem zerfallenden Gemäuer
jagt es auf Schwalbenschwanz und Pfauenauge, stöbert es schillernde Eidechsen
auf, stellt es Fröschen und Kreuzottern nach, oder plündert die Nester der Krähen in
den Wipfeln der Erlen—statt wie ihm aufgetragen, auf Kühe und Geißen zu achten !

Ein Tawarischtsch reißt den in sich versunkenen Mann gewaltsam mit sich fort, und
der süße Traum entschwindet im Trubel der Ereignisse und Gefahr

Klirrende Frostnacht ! Einsame Taiga. Die Tawarischtschi wärmen sich am


Lagerfeuer. Tawarischtsch nimiezki schiebt Wache.
An den Stamm eines Baumes gelehnt, starrt er in die schwarze Nacht und lauscht
dem Heulen der Wölfe..

Zum hundertsten Mal betrachtet er das Gesicht des Mondes, als dieser wie ein
großer, leuchtender Ball hinter den bizarren, pechschwarzen Wipfeln des Waldes
emporsteigt—und da kommt ihm ein gar sonderbarer Gedanke :
„ Mond, lieber, guter, alter Mond----gestern nacht warst du bei mir zuhause ! Du hast
auf die Dächer meines Dörfchens hinabgeschaut, in die stillen, verschneiten
Gassen, auf die Wiesen und Felder rundum----, wohl auch in meine tiefe, versteckte
Schlucht: mit der alten Burg ! Erzähl`,. was hast du dort gesehen ?!“
Reglos und rätselhaft bleibt das Gesicht des Mondes. Er schweigt.—und dennoch
hört Tawarischtsch nimiezki ihn sagen:
„Knirps, verwegener ! Weißt du denn mit wem du redest ? Weist du denn wie alt ich
bin? –was ich schon alles gesehen habe, was ich mir Nacht für Nacht mitansehen
muß ?! Und da meinst du, ich hätte nichts Besseres zu tun, als in deine Schlucht
hinunter zu schauen ?!
Nun, meinetwegen- die Bitte sei dir gewährt ! Wisse aber, meine Augen sind nicht
mehr die besten; auch mit dem Hören ist das so eine Sache, und gar manches
bringe ich einfach durcheinander ! Es ist ja auch alles so furchtbar weit von mir
entfernt, und du weißt so gut wie ich, wie tief und eng die Schlucht ist, wie nah`die
Berge dort beisammmen stehen! Da bleibt mir meist nur wenig Zeit, in diesen Spalt
hinunterzuschauen!“
„Nun, die Wolken haben mich geneckt und mir die Sicht versperrt! Um es kurz zu
machen, der Herbststurm war dort. In höllischer Eile preschte er von der Paßhöhe
nieder- du kennst das ja - zwängte sich unterhalb des Dörfchens , das die Leute
Nauders nennen, durchs enge Felsentor. Tosend stürzte er sich den Stillebach
hinunter, um sich im Graben der Kitzmais mit seinem Bruder aus dem Engadin zu
vereinen. Einem Heer entfesselter Furien gleich, tobten die beiden durch den
Felsenkessel, aufheulend vor Zorn und Wut, weil ihnen der Turm im Wasser, der
Fels zur einen, der Wald zur andern Seite, den Weg versperrten, so daß sie sich
genarrt und gefangen glaubten, ehe es ihnen doch letztlich gelang, sich aus der
Umklammerung zu befreien !
So zausten sie die Wipfel der Bäume, brachten gar manchen Alten und Müden zu
Fall und schüttelten ganze Wolken gelber Blätter und Nadeln aus Espen und
Lärchen Das pfiff und pfauchte, johlte und heulte in den Nischen und Höhlen der
Felsen, brüllte und rumorte den Wänden entlang, daß es sich wie das Grollen des
Donners anhörte.!
Mann, war das eine Nacht ! Und mit einem Mal wurde die Vergangenheit lebendig !
Alle, die jemals hier gelebt, gejagt, geschuftet oder gekämpft hatten, die staunend
oder bangen Herzens hier durchgezogen waren, waren urplötzlich wieder da ! Der
Sturm, der über die Pässe , durch die Wälder fegte, hatte sie mitgebracht. Keiner
versäumte das alljährliche Stelldichein, in der jeweils ersten Sturmnacht vor
Allerseelen !
Alle waren sie gekommen, alle- für diese eine und einzige Nacht des Jahres mit des
Lebens frischem Odem beseelt! die Bärenjäger, die dem weichenden Eis folgten,
fremdes Volk aus fernen Steppen und die hellhäutigen, hochgewachsenen Gestalten
der Nordmänner, die mit Weibern und Kindern über den zugefrorenen Fluß stapften,
sich tags darauf mit ohrenbetäubendem Geheul den Weg freischlugen, um in das
Land der Sonne zu gelangen.
Auf der silbernen Wasserfläche des Flusses tanzten in schier endloser Reihe die
Schatten schwerbewaffneter Krieger---römische Legionen auf dem Marsch nach
Germanien. Man vernahm das Klirren von Schild und Speer, das Knirschen der
Räder ihrer Streitwagen im Sand und das Klatschen der Peitschen auf den Rücken
der Gefangenen, die , dürstend und unter den Schlägen ihrer Aufseher verblutend,
für Rom die Heerstraße bauten- die via claudia augusta !
Und wieder und immer wieder schwer bewaffnete Männer aus dem Süden, Männer
ohne Zahl. Waren wohl die, für deren Ende in Germaniens Wäldern Gevatter Tod
soeben die Vorbereitungen traf, keiner von allen ahnend, daß er nie wieder ins Land
der Sonne zurückkehren würde.
Da wurde gesägt, gehackt, gezerrt und geschoben- in panischer Eile, mußte die
Burg doch bis zum ersten Tageslicht vollendet sein !
Auf der holprigen Straße knarrten und ächzten die Ochsenwagen, hallten die Flüche
der Fuhrleute, knallten ihre Peitschen durch die Nacht. Wagen an Wagen, mühten
sich Mensch und Tier, die schweren Lasten von Nord nach Süd, von Süd nach Nord
über den Paß zu schleppen., und vom Fluß herauf hörte man die Rufe der Männer,
die die schweren Holzstämme zu tausenden den Fluß hinunter flößten.
War`s nun ein Fensterladen am Herrenhaus, der vom Sturm fortwährend aufgerissen
und zugeschlagen wurde, oder waren`s wieder einmal die verrückten Kerle, die sich,
hoch zu Roß, in Eisenkleider gehüllt, mit Schild und Lanze duellierten_ ich weiß es
nicht, ich konnt`es nicht erkennen !
Im Innern der Gebäude ging es wieder hoch her ! Die Räume schienen leer, ein
seltsam kalter Hauch, der Geruch aufgebrochener Erde, Todeskälte wehte durch die
Stuben- du kennst das ja, sagte der Mond zum einsamen Mann- und der erinnerte
sich und ein kalter Schauer rieselte über seinen Rücken- ja, du kennst das ja, das
unerklärliche Etwas, nicht wahrnehmbar, und doch zugegen- es huscht an dir vorbei,
dich prüfend, bei dir verweilend, dir tastend über Haar und Wangen streichend- ein
Etwas im scheinbar leeren Raum, etwas, das du nicht siehst, nur ahnst und fühlst,
das dir die Haare sträubt, den kalten Schauer über den Rücken jagt, das Blut in den
Adern erstarren läßt !
Da saßen sie nun, von keines Lebendigen Auge erfaßbar, von keines Menschen Ohr
zu vernehmen, um die klobigen Tische : Fürsten und Grafen, kaiserliche Soldaten
Landsknechte, Stallknechte, Fuhrleute, Wegelagerer- Tiroler, Franzosen, Baiern und
Engadiner !- in buntem Durcheinander !
Durch die Wand hörte man aus dem Nebenraum Rede und Widerrede der Freien,
die sich hier zum jährlichen Gerichtstag zusammenfanden.
In den Stuben wurde gezecht. Man gröhlte, hieb mit den Fäusten auf die Tische,
spielte Würfel und Karten um alles, was man besaß, und wohl ein Dutzend
Raufhändel, der Wirklichkeit nachvollzogen, endeten mit Messer oder Axt ,.und
zwischen den Stiefeln der Männer trieb der Sturm, von niemandem beachtet, seinen
Schabernack mit allerlei Gerümpel aus Blech und Eisen !
Kaiser Max schritt schweren Schrittes über die ächzenden Dielen, voller böser
Vorahnung dessen, was ihn morgen, jenseits des Passes, bei Glurns, an der Calba
erwarten würde ! Landsknechte , zu tausenden in seinem Gefolge, marschierten
über die Brücken, lachend und scherzend die einen, bangen Herzens die andern.
Der Münzreiche hockte am oberen Tischende, einen riesigen Bauplan in Händen,
anhand dessen er die Erweiterung der Feste studierte, und Papst Johannes, vom
Konzil zu Konstanz zutiefst enttäuscht, stand am Fenster und betrachtete zerstreut
die Gräfin von Tirol, boshafterweise die Maultasche genannt, die soeben mit
schwerbewaffnetem Gefolge, der eine war wohl der Matscher Graf, der andere ein
Schrofensteiner, durchs Festungstor ritt.
Der Festungskommandant, der mit dem ausgestochenen Auge und dem
abgehauenen Arm, brüllte barsch ein „Ruhe !“ in die Stube, und der glatzköpfige
Mauteinnehmer kratzte sich schuldbewußt hinter den Ohren !
Drunten am Fluß saß Drusus, der Römer. Zum 1.91o ten Mal verfaßte er seinen
Bericht für den Kaiser in Rom, für Augustus, seinen Stiefvater. Und zum
ebensovielten Male begann er seinen Bericht:_“ Schon glaubten wir, hier, inmitten
dieser ungeheuerlichen Wildnis, den himmelhohen Bergen, müßte die Welt zu Ende
sein....!“
Welf, der Baier, stand am Ufer jenseits des Flusses. In Gedanken versunken, blickte
er zu den rauchenden Trümmern der geschleiften Burg auf, und im Vorhof der Burg
jammerte der Schleinser Hirte, bleich vor Angst und Entsetzen, um sein Leben. Die
französischen Bajonette auf der Brust, verriet er nun schon zum weiß Gott wievielten
Mal den geheimen Pfad zur Talsperre.
Längst erloschenes Leben brandete und wogte mit geballter Wucht und Kraft durch
die sonst so stille Schlucht. Der Chor, der zutode Geschundenen, der Erschlagenen
und Ertrunkenen , mischte sich in das Brüllen des Sturmes, in den Donner der
französischen Kanonen und ins Geschrei der wieder und wieder anstürmenden
Baiern und Engadiner.
Aus dem Türmchen der Kapelle holte die Windbraut das jämmerliche Flehen eines
Glöckleins, trug sein Stimmchen über Tumult und Lärm hinweg, die Felswände
hinan- gen Himmel ....War wohl die unerlöste Seele eines Verruchten, die am
Stricklein zerrte, für sich und all die Nichterhörten um Vergebung ihrer Sünden
bettelnd.
Beim ersten Morgengrauen setzte Schneegestöber ein. Weiße Schleier wehten
durch die Lüfte und als es tagte, der Lärm verstummt, das gespenstische Treiben
verflogen war, bedeckten bleiche Linnen die Spuren der wildbewegten Nacht ! „

Dies und anderes wirres Zeug, das der junge Mann nicht verstand und nicht zu
deuten wußte, erzählte ihm der Mond in der einsamen Nacht in der Taiga.

Der Mond war verschwunden. Die Bilder ließen den Mann nicht mehr los: der
Hüterbub, der Abschied von zuhause, die Uniform, die Schlachten, die Siege und
Niederlagen und dann---der Sturmangriff der Russen, der Rauch, der Gestank, das
Bellen der Maschinengewehre, der Donner der Kanonen, die Schreie der
Verwundeten, das Hürree der Russen- das grauenhafte, unvergessliche Bild der
gefallenen Kameraden---junge Männer, Freund und Feind, tot, meterhoch
übereinanderliegend--! Schließlich die Gefangennahme und das Ultimatum: Tod
durch Erschießen oder in den Reihen der Roten Armee mitzumarschieren und
mitzukämpfen.--- und dann, das Bild im Haus in der Taiga !

Tags darauf stand die Sonne über den Wipfeln der Bäume, lachte ihn an und begann
mit ihm zu plaudern:
„ Gestern war ich bei dir zuhause ! „ begann sie, „ und ich habe in deine versteckte
Schlucht, gleich hinter dem Dörfchen, das der Fluß in zwei Teile teilt,
hinuntergeschaut ! „
Kein Wölkchen wäre dagewesen, fuhr sie lächelnd fort, und nichts hätte sie
gehindert, ganz hinunter zu sehen.
Die Schlucht, so erzählte sie, wäre völlig im Schnee versunken, und der Turm im
Wasser, die Brücken und Dächer trügen mächtige, weiße Pelzkappen !
Der Wald mit seinen dunklen Fichten, knorrigen Föhren und den noch immer
goldfarbenen Lärchen sehe aus, als hätte jemand einen riesigen, weißen Schleier
über ihn geworfen. So viel Schnee sei gefallen, daß sich Birken und Weiden tief
verneigten, oft so tief, daß ihre Äste oder gar ihre Wipfel den Boden berührten !
Die Erlen am Fluß wären kahlgefegt. Nebel und Frost hätten sie über Nacht in
märchenhaft schöne Wunderblumen verwandelt !
Wohin immer man schaue, blitze und funkle es in Miriaden blendend weißer Kristalle.
Aus dem schwer beladenen Dornengestrüpp leuchteten noch immer die Hagebutten.
Mit ihren roten Mäntelchen eiferten sie mit dem Dompfaff um die Wette, und in den
Wipfeln der Ebereschen zankten sich Scharen samtschwarzer Dohlen um die
purpurfarbenen Beeren !
Der Fluß sei größtenteils zugefroren. Spuren von Fuchs und Marder liefen seine Ufer
entlang, und das Wasser, wo man s noch sehen könne, wäre noch grüner und
gläserner als im Herbst ---überall könne man bis auf den Boden sehen und sich am
Anblick der bunten Forellen und Äsche erfreuen !
Weil der Sonne nicht verborgen geblieben war, wie sehr der junge Mann seine
Heimat liebte, mit ihr verbunden und verwachsen war, erzählte sie ihm noch manch
andere junge oder alte Geschichte,. Etwa, daß oberhalb des Turmes ein furchtbares
Unglück geschehen sei: in schwindelnder Höhe habe eine Lawine eine ganze
Gamsfamilie von den steilen Schieferplatten gefegt, über das Dach des Felsbruches
hinausgeschleudert, hunderte Meter durch die Luft gewirbelt, so daß allesamt
zerschmettert und tot im Tobel liegengeblieben wären. Die Adler, die Kolkraben,
Fuchs und Marder und sämtliches andere rauflustige Gesindel der Gegend hätten
drei Tage lang ein wahres Volksfest veranstaltet.
Ja, und die Spuren einiger Männer, die sich am Vorabend, mit schwerer Bürde
baladen, in den Schweizer Bergen herumgetrieben hätten, führe über den
zugefrorenen Fluß, um sich, auf Nimmerwiedersehen in den Tiroler Wäldern zu
verlieren..

Das Heimweh quälte den Mann. Die Sehnsucht nach der Heimat drohte ihn zu
verzehren, und eines Morgens war Tawarischtsch nimiezki nicht mehr da ! Mit dem
Bajonett an einen Baum geheftet, fanden die Tawarischtschi die Zeilen des
Abschieds :
„ Euer Krieg, Tawarischtschi, ist nicht mein Krieg ! Lebt wohl ! „
Das Gespenst der Einsamkeit heftete sich an seine Fersen und wich nicht mehr von
seiner Seite—auf dem endlosen, viele Monate dauernden Marsch durch die Gobi,
durch Wald und Steppe , durch Sumpf und Wüste ! Nur der Mond und die Sonne
trösteten ihn, hielten zuweilen mit ihm Zwiesprache und erzählten ihm von seinem
Dörfchen, seinen Bergen und seiner tiefen, versteckten Schlucht.
Dann kamen Lärm und Geselligkeit auf ihn zu: Wladiwostik, Singapur, Ceylon-
überfüllte Häfen und Schiffe, dichtgedrängte Menschenmassen.
Die Zwiesprache mit Mond und Sonne unterblieb. Die beiden Freunde gerieten in
Vergessenheit !

Eines nachts lehnte oberhalb der Burg ein einsamer Mann an einem Felsblock am
Wasser. Soeben hatte er aus den gegenüberliegenden Schweizer Bergen seine
Beute über den Fluß gebracht. Todmüde, bis auf Haut und Knochen durchnäßt,
verweilte er und lauschte in die Nacht. Über ihm schob sich der helle Ball des
Mondes über den Rand der Hohen Wand in den wolkenlosen Nachthimmel.
Haarscharf, wie mit spitzer Feder und schwarzer Tusche zeichnete die Nacht die
hageren Gestalten der Bäume auf die leuchtende Scheibe .
Neugierig und mit verschmitztem Gesicht betrachtete der Mond den nachdenklichen
Mann, der sich im Anblick des zauberhaften Bildes verloren hatte- der Wald im
fahlen Licht, das blitzende Wasser des Flusses, der Turm inmitten der weißen
Gischt, die Schattenbilder der Bäume im hell beleuchteten Ball....
So lauschte der Mann dem Donnern des Flusses und dem Raunen des Windes in
den Kronen der Bäume----dem Lied der Heimat !
Und da, mit einem Mal fiel ihm die alte Freundschaft ein --
„ Mond, lieber, guter, alter Mond ! Wie konnt` ich dich bloß vergessen ?! Schau, hier
bin ich ! Erinnerst du dich noch an mich ? An den Mann in der Taiga ? Lieber, guter,
alter Freund, kannst du mich erkennen ? Hättest du jemals gedacht, mich hier
wiederzusehen ?!
Wieviele Jahre hab` ich gebraucht, hierher zurückzukehren ! Doch, das verstehst du
wohl nicht ! Was sind für dich ein paar tausend Kilometer, ein paar Jahre ?! Du
schaffst meinen langen, mühevollen Weg Nacht für Nacht und das in ein paar
wenigen Stunden !
--- Und dann stellte er dem Mond erwartungsvoll die bange Frage:
„ Alter Freund, vor ein paar Stunden noch warst du über der Taiga ! Sag, hast du
meine Tawarischtschi gesehen ? „
Regungslos, rätselhaft bleibt das Gesicht des Mondes : „ Deine Tawarischtschi ? „
Nein, nein, die Tawarischtschi hätte er schon lange nicht mehr gesehen ! Die hätte
inzwischen wohl Mutter Erde verschluckt !

-,-

Diese Zeilen widme ich meinem alten, redlichen Freund Johann, dem Tawarischtsch
nimiezki, der mir seine Geschichte vom Bild in der Taiga erzählte---und den der
Mond seit langem vergeblich sucht.

Rudolf Permann

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