Geschichte der Wissenschaft kann hier durchaus im Sinne von Geschichte erzählen
verstanden werden. Moderner würde man vielleicht sagen: Eine Story erzählen. So
soll im Rahmen dieses Artikels die Story der Erkenntnis- und damit auch
Wissenschaftstheorie erzählt werden. Dass es sich dabei nur um einen kleinen
Ausschnitt handeln kann, versteht sich von selbst. Ein solcher Artikel über
Wissenschaft kann somit nur ein unvollständiges Extrakt sein und beinhaltet eine
Wertung, welche durch die exemplarisch ausgewählten Theorierichtungen zum
Ausdruck kommt.
Angefangen vom unsäglichen Staunen der Antike und dem Versuch zu beschreiben,
was das Auge erblickte oder was man glaubte vor dem geistigen Auge zu sehen.
Weiter über die Einflüsse von Kirche und Glauben auf die Inhalte der Erkenntnis oder
zumindest dessen, was als Erkenntnis zugelassen wurde. Dann das Aufflammen der
Neugierde im Verständnis der Gier nach Neuem und der neuen Freiheit im Geiste bis
hin zu der Erkenntnis, dass mehr als zweitausend Jahre des Forschens und
Nachdenkens wieder zum Ausgang führen und zu der Einsicht, dass wir weniger
wissen als wir glauben zu wissen. 2 Letztendlich werden wir feststellen, dass die
Geschichte der Wissenschaft auch und gerade die Geschichte der Philosophie und
der Menschheit ist. Dabei ist allerdings zu beachten:
1
Meinen Studierenden des ersten und zweiten Semesters gewidmet.
2
Vgl. hierzu Abbildung 1
1
wir sind Teil seiner Entwicklung. Begriffe werden ‚gegoogelt’ und ‚Wikipedia’
erscheint uns als Datenbank unerschöpflichen Wissens. Das
Selbstverständnis der Verfügbarkeit von Wissen ist aber ein Prozess, welcher
die Menschheit in ihrer gesamten Entwicklung begleitet hat. Wissen in der
heutigen Zeit ist ein quasi öffentliches Gut, dessen Macht man sich zueigen
machen kann.
2. Dieses Wissen nehmen wir bisweilen als gegeben hin. D.h., dass wir häufig
nicht unsere eigenen Erfahrungen für den Erkenntnisgewinn nutzen sondern
uns auf Hörensagen verlassen und so anfällig für Meinungsmacher, Sophisten
und Demagogen werden. 3 Wissenschaftlicher formuliert würden wir sagen,
dass wir Sekundärquellen 4 vertrauen. Gerade deswegen ist es wichtig, mit
wissenschaftlicher Vorgehensweise vertraut zu werden.
3. Francis Bacon formulierte dereinst trefflich, dass Wissen Macht sei. Und
gerade hierin sind heute wie gestern Chance und Risiko zu sehen. Denn dem
Nutzen der Informationsmedien, welche scheinbar unerschöpflich und nahezu
kostenfrei sind, stehen auch Gefahren gegenüber: Information vermag zu
manipulieren. Wenn wir Begriffe ‚googeln’, ist bereits das Ergebnis des
Suchprozesses gefiltert. Wer kann da noch objektiv feststellen, ob die
Erkenntnis der Internetrecherche umfassend und wahr ist? Und eine offene
Plattform wie ‚Wikipedia’ kann auch von ihren Nutzern verändert werden und
birgt die Gefahr der Manipulation in sich.
Sokrates:
Ich weiß, dass ich nichts weiß
3
vgl. Hoerster, Norbert (Klassiker, 2003), S.49
4
Sekundärquellen haben durchaus vor dem Hintergrund der Wissenschaftlichkeit ihre Berechtigung.
Entsprechend muss aber eine hohe qualitative Anforderung an diese Sekundärquellen gestellt
werden.
2
Abbildung 1: Wissenschaftstheoretische Grundpositionen
Wenn ein Kind die Welt entdeckt, dann erfolgt dies ohne Scheuklappen und
Vorurteile. Die Sinne sind aufnahmebereit und das unsägliche Staunen beginnt.
Kinder sind die wahren Wissenschaftler und Philosophen, denn sie wollen hinter die
Dinge blicken und saugen Wissen auf, wie ein Schwamm. Erkenntnis entsteht hierbei
im wahrsten Wortsinne durch erkennen (auch erfühlen, ertasten, erschmecken,
erhören). Ein Kind staunt, grabscht, steckt in den Mund, riecht, hört und ‚begreift’
wahrlich seine Umwelt. Sinn macht, was die Sinne erfassen können und der noch
junge wissenschaftliche Arbeiter setzt alle ihm zur Verfügung stehenden
Forschungsinstrumente vorbehaltlos und konsequent ein. Das Kind philosophiert
ohne dass es sich der Wissenschaft bewusst ist. Philosophieren als Grundlage der
Wissenschaft ist also möglich, vielleicht sogar eine Voraussetzung derselben. Der
Umkehrschluss gilt hingegen nicht. 5
Aber die Entwicklung ging weiter. Pythagoras löste sich von dem einen Gegenstand
(des Wassers) und suchte nach dem, was den Stoff gestaltet und im eigentlichen
Sinne ordnet. Er kam zu der Erkenntnis, dass dies nur die Zahl sein könne. Die
mathematische Zahl sah er als die Form des Kosmos an, die das unbegrenzte
messbar macht. Die gesamte Welt wird als Harmonie und Zahl angesehen und die
ordnende Kraft schien gefunden. Die Welt wird objektiv beschreibbar, sie kann exakt
mathematisch quantifiziert werden. Mit Mathematik und Physik scheint der
5
Für weitere Ausführungen zu Philosophie und Wissenschaft vgl. Jaspers, Karl (Einführung
Philosophie, 1992), S, 9ff.
6
Eine komprimierte Darstellung der im folgenden Verlauf ausgewählten Philosophen findet sich etwa
bei Spierling, Volker (Kleine Geschichte der Philosophie, 2007)
3
Ordnungsrahmen der Welt beschreibbar; warum die Natur aber der Mathematik und
Physik folgt, ist dadurch aber nicht geklärt!7
Erstaunlich und spannend zugleich ist jedoch, dass sich die Denker in den Anfängen
der Philosophie und Wissenschaft nicht mit den beobachtbaren Dingen zufrieden
geben. Erkenntnis scheint ganz offensichtlich von erkennen im Sinne von mit den
Sinnen wahrnehmen abgeleitet zu sein. Erkenntnis ist aber auch völlig losgelöst von
Augen, Ohren, riechen, schmecken oder tasten möglich. Erkenntnis findet auch in
der Vorstellungskraft und dem Logos statt. Nur so ist zu verstehen, dass
wissenschaftstheoretisch das Seiende (z.B. durch Parmenides) auch ins Zentrum
der Betrachtung rückte. 8 – Das Seiende betrifft wiederum jeden selbst. Denn
Erkenntnis ist nur dann möglich, wenn ich meiner selbst bewusst bin und dadurch
überhaupt erst erkennen kann!
Aber zurück zur Erkenntnis im eigentlichen Sinne. Warum vermögen die Sinne nicht
alleine zu Erkenntnis verhelfen? Hier gibt Platon die Antwort: Frei interpretiert kann
man seine Ideenlehre etwa so übersetzen, dass das Auge uns auch fehlleiten kann
und der Mensch nach dem Muster suchen müsse, um daraus Erkenntnis abzuleiten.
Denn das Abbild, welches sich vor unserem Auge formt, wenn wir Dinge betrachten,
ist eben nur ein Abbild und nicht die Sache selbst! - Mit dem Höhlengleichnis hat
Platon seinen Ansatz eindrücklich erläutert: Es sei angenommen, die Menschen
sitzen mit dem Rücken vor einer Mauer. Hinter der Mauer brennt ein Feuer und
zwischen Feuer und Mauer verläuft ein Weg. Wenn nun auf dem Weg ein Pferd
entlang schreitet, sehen die Menschen den Schatten des Pferdes an der ihnen
gegenüberliegenden Wand und schlussfolgern, dass sich hinter ihnen ein Pferd
befindet. Würde auf dem Weg ein Elefant trotten, würde von den Menschen auch
dieses Tier erkannt. Aber was erkennen die Menschen? Nur das Abbild. Und so geht
es den Menschen in allen Dingen. Platon machte sich nun auf die Suche, warum der
Mensch das Pferd oder den Elefanten erkennt. Selbst wenn wir das Pferd direkt
betrachten würden wir, egal ob das Tier ein Rappe, ein Schimmel, ein Araber oder
ein Haflinger ist, es als Tier der Gattung Pferd zuordnen. Es muss folglich das Wesen
sein, welches uns zur Erkenntnis führt. Platon nannte es dann auch die Wesenheit,
welche es zu erkennen gilt. Also nicht das alleinige Abbild sondern das Wesen führt
uns zur Erkenntnis! (Aristoteles wird es später die Form nennen). 9
Gehen wir also auch sorgsam mit unseren Sinneswahrnehmungen um! Sie können,
müssen uns aber nicht zu mehr Erkenntnis führen!
Jeder von uns kennt sicherlich die Widersprüche, die bei Zeugenaussagen
festzustellen sind. Wir stellen uns hierzu vor, dass es an einer Kreuzung zu einem
Auffahrunfall gekommen ist. Nichts schlimmes, nur Blechschaden. Die hinzu geeilten
Polizisten nehmen nun die Zeugenaussagen auf und müssen erkennen, dass sich
diese widersprechen. Der eine Zeuge sieht den einen Wagen als Unfallverursacher,
ein anderer Zeuge schwört genau das Gegenteil. Beide Zeugen waren aber zur
gleichen Zeit am gleichen Ort und beide verfügen mit Ohren und Augen über gleiche
Voraussetzungen. Wie sieht es jetzt mit der Erkenntnis aus? Die Polizisten müssen
7
vgl. Feynman, Richard P. (Denkanstöße, 2000), S. 30
8
Weitere Ausführungen zu Parmenides und seiner Seinslehre (Ontologie) findet sich bei Spierling,
Volker (Kleine Geschichte der Philosophie, 2007), S. 34ff.
9
Vgl. Störig, Hans Joachim (Weltgeschichte Philosophie, 1999), S.161ff.
4
kombinieren und aus den ihnen zur Verfügung stehenden Informationspuzzle die
Erkenntnis konstruieren.
Von der reinen Sinneserfahrung weg und hin zum Logos war auch der weitere Weg
der Philosophie und Wissenschaft. Vorstellungsvermögen und in gewisser Weise
Kreativität führen folglich auch zum Ziel. So ist etwa nicht minder revolutionär, dass
die Wissenschaft der Antike bereits Atome als kleinste Bauteile der Welt vermutete
(Demokrit). 10 Und dies ohne Rasterelektronenmikroskop oder andere, für uns aus
heutiger Sicht selbstverständliche Hilfsmittel der Wissenschaft.
Dass die Wissenschaft einen Zweck verfolgte, erscheint offensichtlich. Dieser Zweck
allerdings wurde nicht ausschließlich im Erkennen und Beschreiben gesehen.
Vielmehr wurde Wissenschaft in Verbindung mit ethischen Überlegungen gebracht,
da Wissen auch damals bereits als Mittel der Macht erkannt wurde. So etwa ist zu
verstehen, dass Platon in der Wissenschaft nicht nur Erkenntnis und Wahrheit
rühmte, sondern gleichermaßen auf der Suche nach dem Guten war. 11
Letztendlich wurde die Basis für heutiges wissenschaftliches Arbeiten in der Antike
gelegt. Methode und Vorgehensweise, Qualität und Quantität an Wissen führen uns
aber auch vor Augen, dass je intensiver wir uns mit einzelnen Fragestellungen
beschäftigen, wir doch immer an die Grenzen stoßen. Die Grenzen verschieben sich
ständig, das Wissen wächst. Aber letztendlich bleiben die Grenzen dennoch
bestehen. Der Masterplan ist bis heute nicht entschlüsselt, alles zu durchschauen
und zu verstehen scheint unmöglich. Aber bereits diese Erkenntnis bringt uns weiter.
Oder wie Sokrates es formulierte: Ich weiß, dass ich nichts weiß.
Die Patristik 15 , als Lehre der Kirchenväter, setzt sich kritisch mit den Ansätzen der
Antike auseinander. Anfänglicher Ablehnung der Gedanken von Platon oder
Aristoteles folgt, nachdem eine Vereinbarkeit mit christlichen Glaubensgrundsätzen
10
Vgl. Spierling, Volker (Kleine Geschichte der Philosophie, 2007), S. 41
11
vgl. Hoerster, Norbert (Klassiker, 1985), S. 19
12
Vgl. Störig, Hans Joachim (Weltgeschichte Philosophie, 1999), S.177
13
Auf eine detaillierte Darstellung wird an dieser Stelle verzichtet.
14
Zur Bedeutung des Klerus sowie eine wissenschaftstheoretische Einordnung des Mittelalters findet
sich bei Schülein; Johann August; Reitze, Simon (Wissenschaftstheorie, 2005), S. 53ff.
15
Zu den Anfängen der christlichen Philosophie und ihre Auswirkung auf die Gesellschaft vgl. etwa
Weischedel, Wilhelm (Gott der Philosophen, 1994), S. 69ff.
5
gelingt, Anerkennung und Verehrung. Aber auch die Weiterentwicklung mit
religiösem Fundament wird vorangetrieben. Das Finden und Erkennen der Wahrheit
sei, so Augustinus, mit reiner Vernunft nicht zu erlangen. Hierfür scheint die heilige
Schrift und die Kirche unabdingbar. „Der Glaube geht voran, die Einsicht folgt
nach.“ 16
Diese strikte Verknüpfung von Glaube und Wissenschaft führt zu einer Einengung
der Erkenntnis. Erkenntnis war weniger das vorherrschende Ziel dieser Form von
Wissenschaft sondern vielmehr der Weg zur Erlösung. Die Schöpfungsgeschichte
etwa bildete lange die Basis für das herrschende Weltbild. Während in der Antike die
Geschichte der Menschheit als wiederkehrender Kreislauf ohne Anfang und Ende
verstanden wurde, diese Sichtweise herrschte beispielsweise auch in der vor
Jahrtausenden sich gebildeten chinesischen Philosophie 17 vor, durchbricht die
christliche Schöpfungsgeschichte diese Sichtweise. Durch die göttliche Fügung ist
ein klarer Anfang (Schöpfung) und ein definiertes Ende (jüngstes Gericht)
vorgegeben. Wissen und Glauben führen aber bisweilen zu Widersprüchen.
Abbildung 2: Weltbilder
In der Scholastik sollen Wissen und Glauben miteinander verbunden werden. Die
Konsequenz dabei zeigt sich, indem Denk- und Theorierichtungen institutionalisiert
werden. Waren während der Patristik ausschließlich Einzelpersonen prägend, bricht
nun das Zeitalter der großen Schulen und später der Universitäten an. An diesen
Universitäten (Bologna, Paris, Oxford) lehrten anfangs ausschließlich Kleriker, die
kirchlichen Einrichtungen verfügten über ein Schrift- und Bildungsmonopol. Die
geistige Beherrschung der Welt durch die christliche Kirche ward offensichtlich. 18
Aber auch das Mittelalter führte zu einer Weiterentwicklung der Wissenschaft. Form
und Logik von Theorien rückten ins Zentrum der Forschung sowie die Forderung
nach einer ‚Verschlankung’ der Theorien. Wilhelm von Ockham forderte etwa, dass
Theorien sich auf wenige grundlegende Annahmen stützen sollten, um die
16
Spierling, Volker (Kleine Geschichte der Philosophie,2007), S. 92
17
vgl. etwa Störig, Hans Joachim (Weltgeschichte Philosophie, 1999), S. 110 ff.
18
vgl. Schülein, Johann August; Reitze, Simon (Wissenschaftstheorie, 2005), S. 55
6
Komplexität in Grenzen zu halten. Der Begriff des ‚Ockhamschen Rasiermessers’
geht auf diesen Denker zurück. 19
Aus heutiger Sicht ist das Thema Forschung allgegenwärtig. Historisch betrachtet ist
festzustellen, dass der Typus des Forschers im Mittelalter entstand.
Mit dem Beginn der Neuzeit fand erneut eine Revolution in der Wissenschaft statt.
Während das Mittelalter stark vom Wissensmonopol der Kirchen geprägt war und der
Austausch wissenschaftlicher Ansätze und Theorien in dafür vorgesehenen Zirkeln
erfolgte, sollte nun die Erfindung eines für uns heute selbstverständlichen Mediums
zu einem echten Quantensprung für die wissenschaftlichen Disziplinen führen: Die
Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg um ca. 1450 eröffnete die
wissenschaftliche Diskussion einem breiteren Publikum. Natürlich ist die Verbreitung
wissenschaftlicher Sachverhalte weiterhin nur einem begrenzten Personenkreis
zugänglich, denn das Lesen war keine Fähigkeit der breiten Masse. Der Fortschritt
hingegen war nicht weiter aufzuhalten und die Möglichkeit der Vervielfältigung
jedweden Gedankenguts bildete hierfür die Grundlage.
Worin unterscheidet sich aber das Denken der Neuzeit von den Ansätzen aus der
Antike und dem Mittelalter? Überlieferungen und Mythen, mit deren Hilfe
Sachverhalte, die auf anderem Wege nicht erklärbar waren, gedeutet wurden, sollten
überworfen werden. Weniger die reine scholastisch-aristotelische Lehre wurde weiter
gepflegt als mehr die praktische Anwendbarkeit des Wissens rückten in den
Vordergrund. Wissen sollte fortan nützlich angewendet werden können.
19
vgl. Störig, Hans Joachim (Weltgeschichte Philosophie, 1999), S. 267f.
20
vgl. Schülein, Johann August; Reitze, Simon (Wissenschaftstheorie, 2005), S. 57
7
Das Denken im Mittelalter etwa kann aus heutiger Sicht als deduktiv beschrieben
werden. D.h., dass aus bereits vorhandener Erkenntnis etwas abgeleitet werden soll.
Wissenschaftliche Erklärung erfolgt vom Allgemeinen zum Besonderen. Die bedeutet
aber auch unweigerlich, dass überlieferte und sich über die Zeit verfestigte
Grundsätze hingenommen und die Basis für die deduktive Vorgehensweise bilden.
Durch Beobachtung der Wirklichkeit (Empirie) könnten sich aber Widersprüche
ergeben. Somit bedürfe es neuer Instrumente / Methoden, um durch Beobachtung
und Experiment von der Empirie zu lernen. Gleichwohl müsse aber auch die Vernunft
(Ratio) mit einbezogen werden, um die Wirklichkeit erkennen zu können. Für die
Wissenschaftstheorie war dies die Geburtsstunde von Rationalismus und
Empirismus sowie der Anfang des Streits zwischen Idealismus und Materialismus.
Der Rationalismus besagt, dass mit Hilfe der Vernunft die Wirklichkeit erkannt
werden könne. Dabei tritt die Funktionsweise des Denkens in den Vordergrund und
die idealistische Denkweise des Mittelalters wird wieder aufgegriffen. Beim
Empirismus liegt jedem Wissen Erfahrung zugrunde, die Materie ist hierfür
erforderlich. Dieser materialistische Ansatz erschien für viele verständlich, da sich die
Ergebnisse unmittelbar erschlossen. Mit dem Empirismus begann der Aufschwung in
den Wissenschaften. 21
Aber ist das Beobachtete wirklich auch so, wie es erkannt wird? Bereits Platon hatte
in seinem Höhlengleichnis auf die Gefahr des Abbildes hingewiesen, so dass reine
Sinneserfahrung (empirisches Forschen) in eine Sackgasse führen kann. Descartes
greift dies auf, indem er den Zweifel als Voraussetzung für die Erkenntnis ansieht
und versucht, sich von den Sinnen zu lösen. Erfahrung und somit Empirie können
nicht zu Erkenntnis führen. Vielmehr müsse die Erkenntnis aus der Ratio heraus
entwickelt werden und hierbei führe der konsequente Zweifel zur Gewissheit.
Frei interpretiert kann man sagen, dass der Irrtum nun als legitimes Mittel in die
Forschung Einzug hält. Nicht nur was mit den Sinnen erfahrbar sei, könne zu
Erkenntnis führen. Vielmehr bestimme der Gedanke das Sein; ich denke also bin ich,
wird zu seinem Leitspruch. 22
Also kaum wurde die Erfahrung als Voraussetzung der Erkenntnis gepriesen, sollte
sie schon wieder verworfen werden. Denn Erkenntnis sei nur über die Vernunft
erreichbar und diese Vernunft dürfe nicht von der Erfahrung beeinflusst sein. Wenn
wir annehmen, alle Menschen erkranken an einer rot-Blindheit. Kein Mensch könne
fortan die Farbe rot sehen. Bedeutet dies dann, dass die rote Farbe nicht mehr
existiert? Sicherlich nicht. Die Erfahrung hingegen müsse, wie Kant sich später
ausdrückte, rein sein. Rein wird dabei also im Sinne von unabhängig bzw. vor der
Erfahrung verstanden (diese Erfahrung ist apriori). Insbesondere ethisch-moralische
Fragestellungen in den Wissenschaften sollten nach diesem Verständnis apriori
beantwortet werden. Denn eine durch Erfahrung geprägte Moral ist als solche bereits
mit einer Wertung versehen. Und eine Moral, die sich etwa auf Mehrheiten beruft und
nicht apriori entsteht, birgt weitere Gefahren in sich. Denn warum muss eine Mehrheit
richtig liegen? Die Geschichte der Menschheit hat uns eines Besseren belehrt.
21
vgl. Schülein, Johann August; Reitze, Simon (Wissenschaftstheorie, 2005), S. 59ff.
22
vgl. zu den erkenntnistheoretischen Ansätzen von Descartes etwa Ruß, Hans Günter
(Wissenschaftstheorie, 2004), S. 25ff.
8
5. Irrtum und Voraussicht - Die letzten zweihundert Jahre
Der Weg der Erkenntnis hatte bis dato viele verschlungene Pfade zu durchdringen.
Erkenntnis entstand bisweilen durch Zufall oder wurde durch mangelnde Methode
und fehlende Instrumente begrenzt. Eine wissenschaftliche Standardisierung, so wie
sie heute bekannt ist, erfolgte eher nicht. Somit rückte auch und gerade nicht nur die
eigentliche Erkenntnis sondern auch der Weg dorthin, die Vorgehensweise oder
Methode, ins Zentrum erkenntnis- und wissenschaftstheoretischer Betrachtungen.
Als Ausgangspunkt kann man die Arbeiten von Compte sehen, der im 19.
Jahrhundert ein tragendes Fundament für wissenschaftliches Vorgehen entwickelte.
Diese als Positivismus 24 bezeichnete Theorie ist dadurch gekennzeichnet, dass
eine methaphysisch bzw. transzendental 25 begründete Wissenschaft abgelehnt wird.
Vielmehr verstand er unter wissenschaftlichem Vorgehen nur Erkenntnisgewinne, die
auf empirischen und damit messbaren Ergebnissen beruhen. Nicht Mythen oder
religiös motivierte Begründungen sollten als Erklärungsmuster dienen sondern
ausschließlich auf Messwerten begründete Erkenntnis. Somit befreit sich die
Wissenschaft auch vom Einfluss weniger und wird überprüfbar.
Die Beobachtung führt die Wissenschaft nun in Richtung Wertfreiheit. Mit der
Überprüfbarkeit der Erkenntnis erfolgte denn auch die Legitimierung der
Wissenschaft. Nicht Stand, Herkunft oder Gesetz sondern empirische
Nachweisbarkeit werden zum Kern wissenschaftlichen Arbeitens. 26 Ferner sei der
Zweck der Wissenschaft nicht nur darin zu sehen, die Realität zu beschreiben
sondern aus den Kausalitäten auch die Voraussicht der Welt zu ermöglichen.
Aber schon bald sollte ein Grundproblem des Positivismus für Kritik sorgen.
Beobachtung und empirischer Nachweis als Voraussetzung der Erkenntnis sind
jedem eingängig und weisen den Charme auf, den Wissenschaft benötigt. Was
beobachtet werden kann, ist real. Damit sollte die Beobachtung auch dafür
verwendet werden können, aus der Empirie allgemeingültige Gesetze abzuleiten.
Oder vereinfacht formuliert: Wenn ich morgens beobachten kann, dass es hell wird
kann ich daraus schließen, dass es sich an jedem anderen Morgen genauso verhält?
Diese als Induktion 27 bezeichnete Vorgehensweise scheint hier auch Sinn zu
machen. Oder etwa nicht?
Versuchen wir diesen Ansatz konsequent umzusetzen. Abends beobachten wir, dass
es dunkel wird, und dies an jedem Tag. Auch hier erscheint der induktive Schluss,
23
vgl. Schülein, Johann August; Reitze, Simon (Wissenschaftstheorie, 2005), S. 108
24
Vgl. Chalmers, Alan F. (Wege der Wissenschaft, 2007), S. 7
25
Unter transzendental versteht man das jenseits der Erfahrung liegende.
26
Vgl. Schülein, Johann August; Reitze, Simon (Wissenschaftstheorie, 2005), S. 104f.
27
Zum Induktionsprinzip vgl. etwa die Ausführungen bei Ruß, Hans Günther (Wissenschaftstheorie,
2004), S. 42f.
9
von dieser empirischen Beobachtung zu einer allgemeingültigen Feststellung zu
gelangen, auf den ersten Blick sinnvoll. Die Gefahr der Induktion ist aber darin zu
sehen, dass wir in der Beobachtung der Realität nicht alles erfassen, was die Realität
ausmacht! 28
Denn können wir uns sicher sein, wenn wir durch Beobachtung nur weiße, schwarze,
graue und / oder braune Kühe finden, dass wir daraus (induktiv) schließen können,
es gebe nur diese Farbkombinationen bei Kühen? Okay. Die Lila-Kuh ist
offensichtlich ein Produkt der Werbung. Aber wer schützt uns davor, dass nicht durch
Evolution weitere Farbzusammensetzungen bei Kühen hervorgebracht werden? Ist
dann die Allgemeingültigkeit der durch Induktion gewonnenen Erkenntnis nicht
falsch?
Letztendlich erwies sich aber auch der Positivismus nicht als Königsweg in den
Wissenschaften, was sich in den folgenden Kritikpunkten widerspiegelt 30 :
2. Auf Karl Marx geht die Aussage zurück, dass es nicht nur darauf ankomme
eine Gesellschaft zu beschreiben, vielmehr sei es von Bedeutung, die
Gesellschaft zu verändern. Folglich müsse auch einem
wissenschaftskritischen Gesellschaftsbild Rechnung getragen werden.
28
Diesen Gedankengang hatte ja bereits Platon in seinem Höhlengleichnis beschrieben.
29
Mill gilt als einer derjenigen, die in der Ökonomie den Utilitarismus hervorbringen, dies beeinflusste
dann auch die Frage nach der Moral. Moral sei nicht von metaphysischer Spekulation abzuleiten
sondern müsse sich an empirischen Gesetzmäßigkeiten im Sinne des Wunschs jedes Menschen nach
Besserstellung und seinem Wohlwollen anderen gegenüber orientieren. Vgl. Suchanek, Andreas
(Ökonomische Ethik, 2007), S. 18
30
Vgl. Schülein, Johann August; Reitze, Simon (Wissenschaftstheorie, 2005), S. 103ff.
10
derer positivistische Ansätze ebenso zu finden sind wie auch hermeneutische
Ausprägungen. Als Hauptrichtungen können Pragmatismus, radikaler
Konstruktivismus, evolutionäre Erkenntnistheorie, genetische Erkenntnistheorie,
Psychoanalyse sowie die Systemtheorie unterschieden werden. 31
Die biologische Entwicklung und ihr Einfluss auf das Erkenntnisvermögen wird auch
im Rahmen der genetischen Erkenntnistheorie, die auf Piaget zurückgeht,
aufgegriffen. Ausgehend von der Entwicklung einer Gattung (Mensch) im Rahmen
der Evolution sei auch auf die Entwicklung des Erkenntnisvermögens eines
einzelnen Menschen zu schließen. Wenn man das kognitive Vermögen des
Menschen von Geburt an untersuche, sei festzustellen, dass mit zunehmender
senso-motorischer Fähigkeit (sinnliche Wahrnehmung und Bewegung) auch die
Möglichkeit des Menschen, Erfahrung zu gewinnen, ansteigt. 35 Ein Kleinkind staunt
und ein Erwachsener kann mittels erlernter Fähigkeiten weitaus komplexere
Sachverhalte beherrschen (z.B. Mathematik). Piaget unterstellt, dass nicht nur der
Mensch sondern auch die Wissenschaft diese Entwicklungsstufen durchläuft und
31
Diese Unterteilung sowie die im weiteren Verlauf dieses Abschnittes vorgenommene Darstellung
erfolgt in Anlehnung an Schülein, Johann August; Reitze, Simon (Wissenschaftstheorie, 2005), S.
181ff.
32
vgl. Schülein, Johann August; Reitze, Simon (Wissenschaftstheorie, 2005), S. 181
33
vgl. Schülein, Johann August; Reitze, Simon (Wissenschaftstheorie, 2005), S. 183
34
vgl. Schülein, Johann August; Reitze, Simon (Wissenschaftstheorie, 2005), S. 188
35
vgl. hierzu Piaget, Jean (Genetische Erkenntnistheorie, 2001)
11
kommt zu dem Schluss, dass der Mensch trotz dieser Entwicklungsstufen das Ding
an sich nie erkennen könne.
Erkennen können ist also beeinflusst von den geistigen Fähigkeiten. Diese wiederum
sind nicht statisch sondern unterliegen einem stetigen Wandel. Freud etwa ging
davon aus, dass sich das Denken erst im Laufe des Lebens entwickelt. Denken
selbst sei Teil eines komplexen psychischen Prozesses, der nicht ausschließlich
bewusst abläuft und am Anfang (Baby) nicht rational strukturiert sei. Erleben wird in
die Umwelt projiziert, Erlebtes wird in die Psyche introjiziert, d.h. hinein genommen.
Menschen neigen aber dazu mit verzerrten Wahrnehmungen (Modalitäten) zu
arbeiten. Die Wahrnehmung der Wirklichkeit und ihre kognitive Verarbeitung wird
etwa durch innere Zwänge beeinflusst und verzerrt. Somit basiert das Erkennen auf
subjektiven Mustern und Denkformen. - Wissenschaft soll zu objektiver Erkenntnis
führen; dies setzt voraus, Wahrnehmung und kognitive Verarbeitung unter Kontrolle
zu halten. Aber auch ein Wissenschaftler ist in erster Linie Mensch, der unter dem
Einfluss von Ängsten und Vorlieben in seiner Erkenntnisfähigkeit beeinträchtigt
werden kann! 36
Die moderne Wissenschaftstheorie ist in besonderem Maße mit dem Namen Karl
Raimund Popper verbunden. Mit seiner Auffassung von Erkenntnis, Wissen und
Wissenschaft soll dieser Artikel auch schließen. Denn wie entsteht das Wissen des
Menschen, wie lernen wir? Popper gibt hierzu die Antwort: Der Mensch lernt durch
Versuch und Irrtum, also durch seine Fehler. Wir stellen Theorien auf und schauen,
ob sie sich bewahrheiten. Wenn dem nicht so ist, werden neue Theorien aufgestellt.
Entscheidend und nahezu revolutionär ist somit, dass Theorien nicht verifiziert
(bewahrheitet) sondern allenfalls falsifiziert (verworfen) werden können!
Wissenschaft dürfe folglich keinem Dogma folgen, wie dies beim Positivismus der
Fall war, sondern müsse sich jederzeit einer Überprüfbarkeit und damit auch der
Gefahr des Scheiterns unterziehen. Dabei müsse die Haltung auch gegenüber der
Wissenschaft eine kritische sein, da „[…] die Wissenschaft Menschenwerk ist. Und
als Menschenwerk ist die Wissenschaft fehlbar.“. 38
36
vgl. Schülein, Johann August; Reitze, Simon (Wissenschaftstheorie, 2005), S. 189
37
vgl. Schülein, Johann August; Reitze, Simon (Wissenschaftstheorie, 2005), S. 195
38
Popper, Karl R.; Lorenz Konrad (Zukunft, 1993), S. 48
12
werden. Gerade die Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte in den
Wissenschaften machen deutlich, dass die Spezialisierung voranschreitet. Damit
nimmt auch der Detaillierungsgrad von Theorien und Gesetzen zu. Im Sinne Poppers
kann dies derart interpretiert werden, dass mit zunehmender Genauigkeit die Gefahr
der Falsifizierbarkeit steigt. 39 Je detaillierter eine Theorie ist, desto mehr
Angriffspunkte für ihr Scheitern bieten sich.
Dieser kritische Rationalismus von Popper prägt bis heute das wissenschaftliche
Arbeiten. So habe eine Theorie nur dann informativen Gehalt, wenn sie die
Möglichkeit biete, falsifiziert werden zu können. 40
Wissenschaft verfolgt einen Zweck: Das Entdecken der Wirklichkeit, die Suche nach
Wahrheit. Aber auch wird angestrebt, Erklärungen zu geben, d.h. die Welt mittels
Theorien, Hypothesen, Gesetzen zu verstehen. Und letztendlich hat Wissenschaft
auch zum Ziel, Voraussagen treffen zu können; die Beherrschbarkeit von Natur oder
sozialen Systemen rückt dabei ins Zentrum.
39
Poppers Falsifizierbarkeitsargument, dargestellt am Beispiel von Planetenbahnen, erörtert etwa
Ruß, Hans Günther (Wissenschaftstheorie, 2004), S. 84ff..
40
vgl. Chalmers, Alan F. (Wege der Wissenschaft, 2007), S. 55
13
Wissenschaft muss aber auch verbindliche Merkmale aufweisen, heute würde man
sagen, sie muss standardisiert sein. Neben dem Ziel oder Zweck muss Wissenschaft
auch lehrbar und somit erlernbar sein (z.B. durch induktive oder deduktive
Verfahren). In letzter Konsequenz muss schlussfolgerndes Denken ermöglicht
werden, d.h., dass wissenschaftliche Erkenntnis belegbares Wissen ist.
Dies alles erfordert auch das Einhalten bestimmter, bisweilen als starr empfundener
Formen. Gerade mit diesem Punkt tun sich Studierende anfangs schwer. Aber nur so
ist wissenschaftliches Vorgehen sinnvoll. Damit ist auch zu verstehen, warum an die
Bestandteile (z.B. Gliederung, Verzeichnisse, Anhang, Literaturverzeichnis) oder
Zitierweise (Belegbarkeit der getroffenen Aussagen) einer wissenschaftlichen Arbeit
solch starre Anforderungen gestellt werden. Dass es letztendlich aber auch und
gerade auf die Inhalte ankommt macht deutlich, warum diese besondere Sorgfalt
erfordern:
Aussagen müssen
Wissenschaftstheorie ist wichtig und kann Spaß machen. Denn letztlich ist sie eine
Reise durch die Geschichte der Menschheit.
14
Literaturhinweise:
Popper, Karl R.; Lorenz, Konrad (Zukunft, 1993): Die Zukunft ist offen, 5. Auflage,
München 1993
Spierling, Volker (Kleine Geschichte der Philosophie, 2007): Kleine Geschichte der
Philosophie, 3. Auflage, München 2007
Weischedel, Wilhelm (Gott der Philosophen, 1994): Der Gott der Philosophen, 3.
Auflage, Darmstadt 1994
15