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Liebmann
Materie
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Materie
Norbert Welsch · Jürgen Schwab · Claus Chr. Liebmann
Materie
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Adressen der Autoren:
Jürgen Schwab
Schellingstr. 47
72072 Tübingen
e-Mail: juergenm.schwab@matter-matters.de
homepage: www.matter-matters.de
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte biblio-
grafische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Springer Spektrum
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
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Für meine Tochter
Laura-Marie
Norbert Welsch
Norbert Welsch
Jürgen Schwab
Claus Chr. Liebmann
VI
Vorwort
Die Idee zu diesem Buch wurde bald nach Fertigstellung eines Werkes über „Farben“ geboren. Sie
hat ihre Wurzeln in einen fast kindlich zu nennenden Interesse an der Welt um uns herum, in der
unmittelbaren Faszination des Erfahr- und Erforschbaren. Dieses Ausgehen von der direkt mit
unseren Sinnen erfahrbaren Alltagswelt halten wir trotz aller Theorielastigkeit der modernen Na-
turwissenschaften für den einzig gangbaren Weg zu einem tieferen Weltverständnis.
So soll auf der einen Seite durch einen breiten interdisziplinären Ansatz auch nicht versucht
werden, den zahlreichen ausgezeichneten Lehrbüchern der Chemie, Physik und Biologie „einfach“
noch ein neues, in erster Linie für Fachleute lesenswertes Werk hinzuzufügen.
Andererseits aber wollten wir auch vermeiden, auf einem oberflächlichen Niveau stehen zu
bleiben, das nur eine rein beschreibende Sicht der Dinge liefern könnte, und oft genug nicht geeig-
net wäre, tiefere Zusammenhänge aufzudecken.
Diese Gratwanderung war zweien von uns (Norbert Welsch und Claus Chr. Liebmann), laut
den meisten Kritikern, beim „Farben“-Buch (2004, 3. Aufl. 2012) weitgehend gelungen.
Wir werden also auch in diesem Buch die Unmittelbarkeit des Erlebens unserer Umwelt zum
Ausgangspunkt für eine Reise nehmen, die zuweilen auch in die Tiefe geht.
„Nur dadurch, dass ich Wasser anfasse, kann ich lernen, was es heißt, dass Wasser nass ist. Zugleich
höre ich es glucksen oder tropfen, sehe ich Wellen und Reflexe, rieche vielleicht das Meer oder das Gras
am Seeufer und erhalte so einen Gesamteindruck ...“(Manfred Spitzer)
Diesen Ansatz als Auseinandersetzung mit den verschiedenen Aspekten der Materialität der
Welt, der sich bei Spitzer auf das kindliche Lernen bezieht, auf den Aufbau adäquater Repräsenta-
tionen der Außenwelt im Gehirn, möchten wir als Anknüpfungspunkt für ein vernetztes Verständ-
nis materieller Erscheinungsformen und Vorgänge wählen.
Wir werden dabei nicht davor zurückschrecken, den Leser über Klippen von Theorie und For-
meln zu führen, wo dies für das Verständnis unabdingbar ist. Als Reisebegleiter und kompetenten
Führer durch solch unebenes Gelände habe ich (Norbert Welsch) meinen langjährigen Freund
Jürgen Schwab gewinnen können, der sich als weiterer Co-Autor vornehmlich den Formulierungen
der philosophischen und der etwas tiefer gehenden materialwissenschaftlichen, physikalischen und
mathematischen Teile widmete.
Aber keine Angst – am Wegesrand wartet mit interessanten Bildern stets eine bequeme Lodge
mit Gelegenheit zur Erholung und imposanten Ausblicken auf das erkundete Gebiet.
Wir werden bei unserer Wanderung eine große Zahl verschiedener Fachgebiete durchschreiten
oder auch nur streifen, was immer die Gefahr birgt, dass die dort herrschenden Kapazitäten gerade
ihr Gebiet als besonders grob zertrampelt empfinden und über die Eindringlinge herfallen. Wenn
man aber ein Buch über die gesamte materielle Welt schreibt, wird es schon aus Platzgründen an
manchen Stellen notwendig sein, Vereinfachungen und Verkürzungen vorzunehmen, die mancher
Experte vielleicht als zu weitgehend betrachten könnte. Hierfür möchten wir an dieser Stelle um
Verständnis bitten. Unseren Lesern wünschen wir, dass sie nach der hoffentlich anregenden Lektüre
mit ihren eigenen Gedanken ein wenig tiefer „in die Dinge der Welt“ eingedrungen sind, zumindest
so weit dies der heutige Stand der Wissenschaft erlaubt. Denn jenes nach bestem Vermögen erfol-
gende verstandesmäßige Durchdringen einiger Aspekte der Welt um uns ist es wohl, was unter nur
wenig anderem unser Menschsein definiert. Es ist das „sapiens“ (lat. einsichtsfähig, weise) in un-
serer so unbescheiden gewählten Artbezeichnung homo sapiens.
VII
Luft, Wasser, Erde, Feuer, Du...
Schöntal, 23.09.2005
Fünf Elemente
VIII
INHALT
Inhalt
1 Mensch und Materie
Woraus ist die Welt gemacht?
Kindliche Fragen... 3
Auf der Suche nach der Welt 3
Das Gewebe der Natur 5
Modelle 6
Etymologie 11
Was Sie in diesem Buch erwartet... 12
2 Wahrnehmung
Sehen und Co. – Die fünf Sinne
3 Historischer Überblick
Vom Mythos zum Logos – Die Antike
Wuxing
Fünf Elemente im chinesischen Denken 45
Vom Wandel in der Welt 46
IX
INHALT
Der Äther
Mysteriöses Medium des Lichts 87
Äther und Materie 89
4 Demokrits Erben
Das Geheimnis der Stoffe
Elemente im Periodensystem
Ein Schema erklärt die Materie 137
X
INHALT
Metallische Werkstoffe
Neue Zeiten brechen an 251
Vom Eisen zum Stahl 254
Eisen, Cobalt, Nickel – das magnetische Dreigespann 259
Amorphes Metall – ein Material zwischen zwei Welten 263
Edelmetalle 263
Leichtmetalle – Aluminium und Titan 270
Verrufenes Schwermetall – Blei 271
Buntes Allerlei – Chrom 272
Ein Schwergewicht – Uran 273
Starke Luftikusse – Metallschäume 275
Hartes zerschneiden – kein Problem 275
Grenzgänger: Halbmetalle 277
Anorganische Werkstoffe
Gläser – Nicht immer zerbrechlich 281
Glasfasern 284
Glaskeramik – Herdplatten und Teleskopspiegel 286
XI
INHALT
Organische Materialien
Von Hölzern, Fasern und Beuteln 287
Papier – Ein unentbehrliches Kommunikationsmittel 289
Aus dem Leben der Beuteltiere 291
Kunstfaser – Die neue Wolle 296
Ausgewählte Kunststoffe 297
Von Gummiadlern und -bären 302
Selbstheilende Werkstoffe 306
6 Wasser
Flüssigkeiten
Eine Materieform ohne Form 309
Rheologie – Alles fließt 311
Wasser
Das nasse Element 313
Die Erde, ein Wasserplanet 313
Das Wassermolekül 314
Von der Erde gen Himmel und zurück 319
Eis – das feste Wasser 321
Gespanntes Wasser 323
Stoffgemische
Ein schönes Durcheinander 326
Lösungen 326
Emulsionen 329
Suspensionen 330
Tenside – Sie lieben Wasser und Fette 331
Alkohole
Mehr als ein Genussmittel 349
Bekannte Alkohole 350
Exotische Flüssigkeiten
Das fließende Silber – Quecksilber 353
7 Luft
Das Element der Freiheit
Flüchtige Berührung
Die Eigenschaften von Gasen 361
Planetare Schutzhüllen 364
Boten des Eros oder üble Stinker – die Geruchsstoffe 368
XII
INHALT
Luftige Stoffe
Nicht nur Sauerstoff 371
Lebenselixier und Gift – der Sauerstoff 371
Stickstoff – Hauptbestandteil der Luft 376
Wasserstoff – Ein brandgefährliches Gas 377
Reaktionsträge Sonderlinge 378
Methan – Klimaschädling und Hoffnungsträger 379
8 Feuer
Geschichte und Mythologie
Der Stoff aus dem die Flammen sind 383
Plasma
Der vierte Aggregatzustand 387
Plasmen in der Natur 387
Plasmen in Technik, Forschung und Medizin 390
Entropie
Das Streben nach Unordnung 405
Komplexe Strukturen
Welt aus dem Gleichgewicht 410
10 Elementarteilchen
Physik der kleinsten Teilchen
Was die Welt im Innersten zusammenhält 417
Das Standardmodell
Von den Nukleonen zum Standardmodell 426
Wellenfunktionen und Quantenfelder 431
XIII
INHALT
11 Kosmologie
Welt des Großen und des ganz Großen
Sag mir was die Sternlein sind... 445
Asteroiden und Planetenmissionen als Informationsquelle 4 52
Wissen vom Kleinsten für das Größte 453
Das Universum im Computer 454
Materie im Universum
Welten aus Gas und Sternenstaub 454
Sonne 455
Planetologie 457
Monde 461
Von Fall zu Fall... 464
Deep Space
Von der Milchstraße zu den fernsten Objekten in Raum und Zeit 482
Urknall 490
Vom Anfang zum Ende der Welt 497
12 Leben
Das Geheimnis der Rose
Extraterrestrisches Leben
Wo beginnt man zu suchen? 519
Anhang
Bildquellen 522
Literaturverzeichnis 524
Index 528
XIV
KAPITEL 1
Materie ist um uns und in uns – wir selbst und das bekannte
Universum bestehen aus Materie und Energie. Doch manch-
mal hindert uns gerade die Unmittelbarkeit und Allgegenwart
der Materie daran, dieses Thema gebührend zu betrachten.
Man sieht sozusagen „den Wald vor lauter Bäumen nicht“.
Dieses erste Kapitel wird versuchen, den Blick auf diese
Bäume und den ganzen Rest der materiellen Welt zu lenken;
uns helfen, unseren Standpunkt gegenüber der physischen
Natur zu finden.
Dabei werden wir feststellen, dass die Beschäftigung mit
der Stofflichkeit der materiellen Welt nicht nur eine Sache
für spleenige Wissenschaftler ist, sondern dass sie direkt dem
kindlichen Urinteresse entspringt, das viele Lebewesen und
insbesondere menschliche Kinder ihrer Umwelt gegenüber
empfinden.
Wir werden anschließend kurz auf die Methodik eingehen,
die unser Forschen prägt, und dabei die Begriffe Hypothese,
Theorie und Modell thematisieren.
Daneben werden wir dem Ursprung der Begriffe Masse,
Materie, Material, Substanz und Stoff nachgehen.
Am Ende des ersten Kapitels erwartet uns ein kurzer
Überblick über den Inhalt dieses Buches und Gliederung
seiner restlichen Kapitel.
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Woraus ist die Welt gemacht? Auf der Suche nach der Welt
Das Interesse daran, wie die Natur beschaffen
Kindliche Fragen... ist, „was die Welt im Innersten zusammenhält“
(GOETHE, Faust) steckt aber noch im Erwach-
Wird ein Mensch geboren, so lernt er in den senenalter in jedem Menschen. Naturwissen-
ersten Lebensjahren langsam, sein Ich vom Rest schaftler haben es zu ihrem Beruf gemacht. Es
der Welt, der Außenwelt, zu unterscheiden. In gehört zu den charakteristischsten menschlichen
3
KAPITEL 1 Mensch und Materie
4
Erde, Wasser, Luft und Feuer
in die Strukturen und Ähnlichkeiten der Dinge. scheinbar aus dem Nichts wirken, Galaxien Hypothese
Und wir werden dieses Begreifen auch nicht aus ohne Sterne und schließlich sogar Zeit, die un- Angenommene, aber
(noch) nicht bewiesene
den Augen verlieren, wenn wir uns mit zugrunde terschiedlich schnell läuft. Aussage
liegenden Denkmodellen befassen, die nicht im-
mer gleich intuitiv zu erfassen sind. Theorie
Beschreibung eines Aus-
Das Gewebe der Natur schnitts der Realität, die
Schwierigkeiten im Kleinen wie im Großen unter definierten Voraus-
Trotzdem lässt sich – und das ist eigentlich ganz setzungen überprüfbare
Vorhersagen erlaubt.
Viele wissenschaftliche Theorien des letzten Jahr- erstaunlich – zumindest etwas von den Phänome-
hunderts sind ihrem Wesen nach recht unan- nen des Allerkleinsten und des Allergrößten mit
schaulich. Das kommt daher, dass sie sich mit unserem menschlichen Gehirn verstehen. Unser
Phänomenen beschäftigen, die weit außerhalb Gehirn schafft es irgendwie, Gedankenkonst-
unserer Alltagserfahrung liegen. Allerdings wäre rukte wie die Mathematik oder physikalische
es völlig verfehlt anzunehmen, dass diese Berei- Theorien zu entwickeln, die zur Untersuchung
che deshalb keinen Einfluss auf unsere Existenz der Grundfragen des Universums und der darin
hätten und von Wissenschaftlern womöglich nur enthaltenen Materie auf ganz eigentümliche und
deshalb untersucht werden, weil es in der uns überraschende Art und Weise geeignet sind. Sie
vertrauten Welt nichts mehr für sie zu tun gibt. „passen“. Und dies, obwohl das Gehirn seine
Die Welt der allerkleinsten Dimensionen und Evolution in irdischen Verhältnissen durchge-
die damit zusammenhängenden ungewöhnlichen macht hat und es bisher wohl nicht unbedingt
Phänomene erweisen sich als so grundlegend ein evolutionärer Vorteil war, astrophysikalische
für alles Existierende wie der Zement für ein oder quantenmechanische Zusammenhänge zu
Haus aus Beton. Wenn wir uns insbesondere verstehen. Aus Sicht der Biologie ist dies ein völ-
in den Kapiteln 3, 4 und 10 mit Teilchen be- lig überraschender Befund, denn normalerweise
schäftigen, die millionenfach kleiner sind als der ist die Natur bei der Selektion der Ausstattung
Punkt am Ende dieses Satzes, so wird uns der ihrer Organismen extrem ökonomisch, um nicht
gesunde Menschenverstand in diesen Regionen zu sagen geizig. Eigenschaften von Lebewesen
nicht leiten können. Hier zählt nicht mehr die beruhen nämlich auf körperlichen Strukturen
Anschaulichkeit einer theoretischen Beschrei- und erfordern für ihren Aufbau stets Energie,
bung, sondern nur noch ihre Übereinstimmung also Nahrung, eine in der Natur stets knappe
mit Messungen. Es ist das bizarre Reich der Ressource. Neue Eigenschaften entstehen bei-
Quantentheorie. Hier gibt es Teilchen, die von spielsweise durch zufällige Mutationen im Erb-
einem Ort zum anderen gelangen, ohne jemals gut. Aber nur solche bleiben in der natürlichen
dazwischen gewesen zu sein, Quantenobjekte, Selektion erhalten, die sich positiv auf die Zahl
die gleichzeitig stillstehen und sich bewegen und der Nachkommen auswirken oder diese zumin-
Katzen, die gleichzeitig tot und lebendig sind. dest nicht durch Verschwendung von Energie
© 2011 Welsch & Partner scientific multimedia
Und auch die wirklich großen Entfernungen reduzieren. Schließlich könnte die Energie, die wir
in der Welt, die ungeheuren Zeiträume ihrer für so „sinnlose“ Tätigkeiten verschwenden, ja
Existenz sowie die höchsten Geschwindigkeiten andernfalls für die Fortpflanzung genutzt werden.
nahe der Lichtgeschwindigkeit bereiten unserem Energie „verbraucht“ unser Denkapparat übri-
Vorstellungsvermögen gehörige Probleme. Die gens immerhin so viel wie ein durchschnittlicher
Welt verhält sich auch in diesen Dimensionen Prozessor in einem modernen Computer. Vom
einfach nicht mehr so, wie wir es gewohnt sind. Grundumsatz eines Menschen (der etwa der Leis-
Sie richtet sich ganz einfach nicht danach, was tung einer 75 Watt-Lampe entspricht), entfallen
bequem in unseren Kopf passt. Auch in diesen auf das Gehirn rund zwanzig Prozent, obwohl 1-2
kosmischen Regionen, über die wir in Kapi- es nur zwei Prozent der Körpermasse ausmacht. Entitätsebenen. Aus
tel 11 sprechen werden, müssen wir unseren Unser über das unmittelbar Nützliche hinaus- menschlicher Sicht lässt
sich Materie entsprechend
Alltagverstand gehörig umgewöhnen. Skur- gehendes Erkenntnisvermögen ist also nur dann ihrer stofflichen Basis und
rile Dinge warten da auf uns: Sterne mit einer biologisch erklärbar, wenn es quasi zufällig, als Komplexität in Stufen
Kruste aus Eisen, andere, die zu einem Pfannku- kostenloser und unschädlicher Nebeneffekt eines anordnen, die jeweils ei-
gene Metastrukturen und
chen abgeplattet sind und sich so schnell drehen anderen evolutionären Vorteils entstanden ist typische Eigenschaften
wie ein Zahnarztbohrer, Gravitationskräfte, die und kaum zusätzliche Energie erforderte. Wir aufweisen.
5
KAPITEL 1 Mensch und Materie
wissen bisher nicht mit Bestimmtheit, was dieser in Betracht zieht, so ist die Versorgung heute,
entscheidende Vorteil war. War es eine Weiter- prozentual gesehen, nicht schlechter geworden
entwicklung des planenden Vorausschauens, das als zu jeder früheren Zeit und in jeder natürlichen
schon viele Tiere zeigen? War es ein optimiertes Tierpopulation. Vielleicht schaffen wir sogar
Sozialverhalten? Oder waren es vielleicht die bald, (in evolutionären Zeiträumen gerechnet)
Folgen der Intensivierung des eigentlich noch andere Planeten der Milchstraße zu besiedeln und
weniger verstandenen Phänomens des Bewusst- zu kolonisieren, wie es der berühmteste Physiker
seins (ÅBewusstsein, Seite 518), das übrigens unserer Zeit, STEPHEN HAW A KINS, immer wieder
neueren Forschungen zufolge ebenfalls nicht auf propagiert. Die Menschheit wäre dann selbst ge-
Homo sapiens beschränkt ist? gen globale Katastrophen gefeit. Kann man sich
Man kann vermuten, dass ganz allgemein einen größeren Evolutionsvorteil vorstellen? Ob
die Fähigkeit zur Bildung mentaler Repräsen- uns die zahlreichen Folgen der Erkenntnisfähig-
tationen der Außenwelt den entscheidenden keit in diesem Sinne schließlich auch langfristig
Vorteil im Überlebenskampf mit sich brachte. Vorteile bringen werden oder womöglich genau
Offensichtlich ist es für Lebewesen nützlich, auch das Gegenteil, das wird sich wohl erst im großen
über Dinge nachdenken zu können, die nicht Experiment der nächsten Jahrtausende und Jahr-
unmittelbar sichtbar, sondern eher abstrakter Art millionen zeigen.
sind. Neuere Untersuchungen zeigen, dass solche
mentalen Repräsentationen und vielleicht ein Ich-
Empfinden auch schon im Tierreich wesentlich Modelle
verbreiteter sind, als früher allgemein angenom-
Modell men. So wurde bei Rabenvögeln beobachtet, Modelle werden oft scherzhaft als „Denk-Krü-
Ein Modell ist ein abstrak- dass sie gezielt aus einem Draht einen Haken cken“ bezeichnet, Hilfsmittel zum Denken also.
tes Abbild eines Systems,
das stellvertretend für das biegen können, um damit nach Nahrung zu an- Dies bringt zum Ausdruck, dass wir – ob mo-
System untersucht wird. geln. Dazu müssen sie über eine abstrakte Vor- mentan oder sogar prinzipiell – mit unserem
stellung verfügen, wie ein Haken funktioniert. Bewusstsein nicht in der Lage sind, eine be-
Affen können Symbole (keine Bilder konkreter stimmte Erscheinung in ihrer gesamten Komple-
Gegenstände) für Wörter benutzen und daraus xität zu erfassen, und uns irgendwie behelfen
Sätze bilden. Ebenso können sie mit kleineren müssen. Wir müssen vereinfachen, uns auf das
Zahlen umgehen. Auch das ist eine abstrakte Re- Wesentliche konzentrieren. So wird von einem
präsentation von etwas nicht direkt Sichtbarem. Haus, bevor man es baut, ein Modell erstellt. Es
Und selbst bei Vertretern anderer Tiergruppen erlaubt eine Vorstellung von dem späteren Aus-
wie Kopffüßern und Fischen bis hin zu Insekten sehen und einen Überblick über die wesentlichen
tritt erstaunlich planvolles Handeln auf. Wir Merkmale. Dabei ist niemand überrascht, dass
sehen hier den Beginn von Modellbildungen, in einem solchen Modell keine Geranien in den
auch wenn diese Fähigkeit bei unserer eigenen Balkonkästen wachsen. Modelle vernachlässigen
Spezies wesentlich weiter entwickelt ist. Weit ganz bewusst viele Aspekte der Realität, von
genug jedenfalls, um uns schließlich die Bildung denen man annimmt, dass sie für das interessie-
komplexer geistiger Konstrukte bis hin zur Ma- rende Phänomen keine große Bedeutung haben.
thematik zu gestatten, bei denen kein offensichtli- Wissenschaftler machen sich andauernd Modelle
cher Zusammenhang mehr zu einem unmittelba- der Wirklichkeit, und auch wir werden in diesem
ren Evolutionsvorteil besteht. Jedoch sollten wir Buch ständig Modelle verwenden, wenn wir nach
bedenken, dass unsere auf Verstandesprozessen den kleinsten Teilchen der Materie fragen, nach
basierende technische Zivilisation uns erlaubt den Strukturen, die bestimmte Eigenschaften
hat, auch die entferntesten Flecken dieses Plane- hervorbringen, oder nach der großräumigen Ver-
ten in einer Dichte zu besiedeln, die dutzendfach teilung der Materie in der Welt. Wissenschaftli-
höher ist, als jede natürliche Population einer che Modelle sind wie beim simplen Hausmodell
anderen Art mit ähnlicher Körpergröße. So etwas vereinfachte Repräsentationen eines realen Sys-
hat es in der gesamten Erdgeschichte noch nicht tems. Es können einfache Analogien sein, etwa
gegeben. Selbst wenn man das millionenfache der Vergleich eines Atoms mit einem Tennisball,
Leid durch Hunger, Krankheit und Armut bedeu- die vor allem didaktischen Zwecken dienen. Oft
tender Teile der menschlichen Erdbevölkerung basieren Modelle aber auf einer bestimmten phy-
6
Erde, Wasser, Luft und Feuer
7
KAPITEL 1 Mensch und Materie
1-3
Theorie, Modell und Realität. Theorien definieren die
Gesetze und Grundbegriffe, die man benötigt, um Mo-
delle realer Systeme zu formulieren. In wissenschaftli-
chen Theorien werden Begriffe und Strukturen aus der
Mathematik verwendet, um Zusammenhänge eindeutig
und quantitativ zu erfassen. In mit Hilfe der Theorie for-
mulierten Modellen werden theoretische Grundbegriffe
mit Eigenschaften der realen Systeme verknüpft. Aus einer
„Punktmasse“ der klassischen Mechanik wird in einem
Modell des Sonnensystems ein Planet wie die Erde oder
ein Stern wie unsere Sonne. Das Modell kann maximal
die Elemente des realen Systems berücksichtigen, für die
es in der Theorie Grundbegriffe gibt. Meist werden noch
weitere Vereinfachungen vorgenommen, so wird beim
Systeme Erde-Sonne links angenommen, dass die Masse
beider Körper in deren Mittelpunkt konzentriert gedacht
werden kann. Die Sonne wird zudem als fixiert betrach-
tet: ihre Bewegung aufgrund der Anziehungskräfte der
Planeten wird vernachlässigt. Das reale System selbst ist
also viel umfangreicher, und die Menge seiner Eigenschaf-
ten und Objekte ist eher diffus definiert. So besteht das
Sonnensystem nicht nur aus Planeten, sondern aus vielen
kleinsten Körpern, Gaswolken, elektromagnetischer Strah-
lung, Strömen von Elementarteilchen und vielem mehr.
Vieles davon ist im Rahmen der klassischen Mechanik, die
die Bewegung der Planeten so gut beschreibt, gar nicht
erklärbar. Neue Theorien mit anderen Begriffen müssen
hier an ihre Stelle treten.
8
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Modelle, die auf Basis von Gleichungen der können. Das Agentenparadigma liefert Erklä-
beschriebenen Art erstellt werden, nennt man rungen für kollektives Verhalten, zum Beispiel
deterministisch, unabhängig davon, ob man sie im Rahmen der Verkehrsmodellierung oder in
analytisch oder nur numerisch lösen kann. Kennt der Verhaltensbiologie („Schwarmintelligenz“).
man alle Eingabeparameter zu einem bestimm- Dennoch lassen uns manchmal auf diese Weise
ten Zeitpunkt, so steht das Verhalten des Mo- gewonnene Erklärungen unbefriedigt. Es ist ja
dells für alle Zeiten fest (was nicht zwingend für keineswegs trivial, aus dem Verhalten des Mo-
das reale System gelten muss!). Es gibt allerdings dells zu einem besseren Verständnis der inneren
auch Modelle, bei denen statistische Methoden Vorgänge zu kommen. Denn als „verstanden“
eingesetzt werden. Sie werden unter anderem empfinden wir einen Vorgang eigentlich erst
genutzt, wenn nur die Häufigkeitsverteilung von dann, wenn wir durch einen für uns unmittelbar
Eingabeparametern bekannt ist oder die zeitliche nachvollziehbaren geistigen Prozess quasi eine
Entwicklung eines Systems von so vielen Para- Abkürzung zur Lösung finden.
9
KAPITEL 1 Mensch und Materie
Es besteht dann eben kein thermodynamisches zige Ameise funktioniert, so würden viele Seiten
Gleichgewicht. Man tut also gut daran, den Dif- aus dem Buch des Lebens offen vor uns liegen.
ferenzierungsgrad des Modells der Wirklichkeit Wir wollen hier vorerst von sogenannten
sehr sorgfältig zu wählen. „emergenten“ Eigenschaften absehen, ohne sie
Um das Wesen einer beschriebenen Erscheinung ganz aus den Augen zu verlieren. So werden Ei-
von verschiedenen Seiten zu beleuchten, kann es genschaften bezeichnet, die wie bestimmte mak-
didaktisch sehr nützlich sein, das Erklärungsmo- roskopisch messbare Materialeigenschaften (Zä-
dell immer wieder zu wechseln. Nur in diesem higkeit, Leitfähigkeit) oder auch die Intelligenz,
Sinn einer Annäherung an die Realität mit Hilfe erst durch das Zusammenwirken einer großen
von Theorien und Modellen kann man von wis- Zahl von Einzelelementen entstehen. Für ein ein-
senschaftlicher „Erkenntnis“ über die Struktur zelnes atomares Bauteilchen ist es z. B. unsinnig,
von Materie sprechen, die wir in diesem Buch den Druck oder die Reißfestigkeit zu definieren;
vermitteln wollen. Die „Wirklichkeit“ kann und ebenso kann man nicht davon sprechen, dass
wird immer ganz anders aussehen. Was man ein Neuron ein wenig Intelligenz besitzt oder
1-6
Modelle für Atome. In sich unter dem Begriff „objektive Wirklichkeit“ ein Buchstabe ein wenig des Sinns von Schillers
Kapitel 3 und 4 werden überhaupt vorzustellen hat, bleibt auch heute Räuber enthält. Solche Eigenschaften großer
wir einige konkrete Atom- Gegenstand philosophischer Diskussionen. Ensembles hängen neben den Bestandteilen ganz
modelle betrachten, derer
sich die Menschen im
Trotz dieser Einschränkungen lässt sich heute entscheidend von der Struktur ab, von der Art
Laufe der Jahrhunderte ein in sich stimmiges Bild von normaler Mate- und Weise, wie die Komponenten miteinander
bedient haben. rie zeichnen, das ein befriedigendes Verständnis verbunden sind. Als klassisches Beispiel hierfür
vieler Prozesse erlaubt. Dass jede Erkenntnis kann der Kohlenstoff dienen. Sind seine Atome
an einem bestimmten Punkt endet, wird einem in regelmäßigen Sechsecken angeordnet, haben
schmerzlich bewusst, wenn man an die Grenzen wir es mit Graphit zu tun, eine elektrisch leitfä-
unseres Weltverständnisses im Kleinsten wie im hige, dunkelgraue, sehr weiche Substanz, die in
Größten denkt. Gibt es etwas noch Elementa- Bleistiften (im Widerspruch zu deren Namen)
reres als die heute kleinsten bekannten Elemen- für die Schwärzung des Papiers sorgt. Sind die
tarteilchen, die Leptonen und Quarks? Gibt es Kohlenstoffatome hingegen zu Tetraedern ver-
ein „Außerhalb“ des bekannten Universums? knüpft, so handelt es sich um Diamant mit völlig
Welchen Teil unserer universellen Heimat kön- anderen Eigenschaften: ein elektrischer Isolator,
nen wir überhaupt kennen? Wie alt ist die Welt? lichtdurchlässig und bis vor kurzem der härteste
Gab es vielleicht eine Welt vor dem Urknall? bekannte Stoff überhaupt. Wie die natürlichen
Diesen Fragen werden wir uns im hinteren Teil Stoffe zusammengesetzt sind, ist schon für sich
des Buches erneut zuwenden, denn gerade in den gesehen ein faszinierendes Thema. Doch die
letzten Jahren haben die Auswertungen neuerer Gewinnung und Herstellung der künstlichen
1-7
Materie, die uns umgibt. Daten von Satelliten sowie von Ballonmessungen Werkstoffe, aus denen der Mensch seine Zivi-
Im Lauf der zivilisatori- im Mikrowellenbereich und Statistiken über die lisation aufgebaut hat, ist nicht minder span-
schen Entwicklung hat Verteilung bestimmter Supernovae im Weltraum nend. So haben sich die Erscheinungsformen des
der Mensch große Teile
der Materie, mit der wir
geradezu eine neue Ära der Kosmologie herauf- Kohlenstoffs in den letzten Jahren um Fullerene,
täglich in Berührung kom- beschworen. Sie erlauben es nun erstmals auf Nanoröhrchen und Graphen erweitert, von de-
men, immer stärker be- einige Fragen quantitative Antworten zu bekom- ren Existenzmöglichkeit zuvor niemand etwas
einflusst. Ausgehend von
Anpassungen der makro-
men (ÅKapitel 11), oder zumindest begründete ahnte. Auch sie sind Themen in diesem Buch.
skopischen äußeren Form Hypothesen zu entwickeln, die einmal zu Ant- Jahrtausende an Erfahrung haben uns ursprüng-
(Steinwerkzeuge) über worten führen könnten. Die Erkenntnis, wie die lich ermöglicht, die Materialien zu finden und
Kombinationen und Struk-
Welt funktioniert, liegt zu einem beträchtlichen zu verarbeiten, die unsere heutige Lebensweise
turänderungen (Stahl) ist
heute Manipulation von Teil in jedem ihrer kleinsten Teile verborgen, – man mag sie verdammen oder preisen – erst
Materie auf molekularer denn es sind immer wieder grundlegende Prinzi- ermöglicht haben. Ein weiter Weg führte unsere
(Kunststoffe, Metamateri-
pien, die sich, einmal enthüllt, in tausendfacher Vorfahren von den Fundstellen bestimmter har-
alien) und sogar atomarer
Ebene (Quantenpunkte) Anwendung quer durch die Natur wiederfinden ter Steine über die Verarbeitung von Pflanzen-
möglich. Der Begriff Ma- lassen. Hätten wir nur einen Stein vollständig fasern zu Geweben bis zur Metallgewinnung.
terie wandelt sich. Er wird verstanden, so wüssten wir damit schon einiges Was die Nutzung der materiellen Umwelt als
immer häufiger auf das je-
weils beherrschte Material über das dazugehörige Gebirge. Könnten wir Werkzeug und Werkstoff anging, kam es zu einer
bezogen. wirklich genau verstehen, wie eine einzige win- geradezu explosionsartigen Entwicklung (ÅAb-
10
Erde, Wasser, Luft und Feuer
bildung 1-7). Zusätzlich zu den in der Natur kalisch orientierten Begriffs Materie, sondern es Etymologie
Lehre von der Herkunft
vorkommenden Stoffen lernte der Mensch immer steht für technisch angewandte, oft stark bear-
und Geschichte der Be-
mehr Stoffe eigens für seine Zwecke zu gewinnen beitete oder umgewandelte Materie. Das Schwer- griffe.
und zu nutzen. Ein verbessertes Verständnis der gewicht dieses Begriffs liegt eindeutig auf seiner
Materialien durch chemische und physikalische Bedeutung für den Menschen.
Forschung ermöglicht es Ingenieuren heute, Ma-
terialien mit genau für den geplanten Einsatz Masse
optimierten Eigenschaften herzustellen. Diese
„designten“ Materialien ermöglichen in vielen Das Wort Masse hat seinen Ursprung im lateini-
Fällen auch einen schonenderen Umgang mit schen massa, das einen Teigklumpen oder auch
natürlichen Ressourcen. Langlebigere Produkte einen Klumpen Erz bezeichnen konnte. Später
sind oft energetisch günstiger herzustellen, als wurde es generell als eine Ansammlung von Kör- r
mehrere kurzlebige. Andererseits können auf pern oder als Haufen verstanden. Seine physikali-
baldigen Zerfall „programmierte“ Kunststoffe sche Bedeutung als träge Masse erhielt es erst im
einen Beitrag zur Entschärfung des Müllprob- 17. Jahrhundert.
lems leisten. Massa wiederum hat seinen Ursprung im grie-
chischen maza, der Bezeichnung für ein grobes
Fladenbrot aus Gerste, das, im Gegensatz zum
Etymologie feineren Weizenbrot artos, vorwiegend von ein-
fachen Leuten gegessen wurde.
Die Herkunft von maza selbst ist nicht voll-
Materie, Matter und Matière ständig geklärt. Manches spricht dafür, dass es
aus dem Hebräischen stammt. Dort bezeichnet
Der Begriff Materie wie auch der englische Begriff mazza das ungesäuerte Brot der Israeliten, das
matter und das französische matière sind aus auch in der Bibel vielfach erwähnt wird. Denkbar
dem lateinischen materia entlehnt, das soviel wie ist aber auch, dass das Wort den umgekehrten Weg
Nutzholz, Bauholz, Stoff, aber auch Aufgabe, ging und von den Griechen über die Philister ins
Anlage, Talent bedeutet. Von dieser ursprüngli- Hebräische übernommen wurde.
chen Bedeutung des Wortes im Lateinischen zeugt Möglicherweise ist maza aber auch nur ab-
auch das portugiesische Wort madeira (Holz). Der geleitet vom griechischen Wort masso für kneten
Holzreichtum der portugiesischen Insel Madeira (noch heute kennen wir das Wort Massage in
gab dieser ihren Namen. dieser Bedeutung). Der arabische Ausdruck mad-
Materia selbst stammt wohl von materr ab, was dah wurde in der muslimischen Philosophie im
so viel wie Mutter, Ursprung, Quelle bedeutet, Sinne von Materie benutzt und bezeichnet das
aber auch den inneren Teil des Baumes bezeichnet. Ausgedehnte.
Mater wiederum hat seine Wurzeln im in-
dogermanischen materr (Mutter), aus dem auch Substanz
althochdeutsch muoter, altindisch matarr und alt-
griechisch materr für Mutter abgeleitet ist. Substanz leitet sich vom lateinischen substantia
Die griechischen Philosophen bezeichneten ab, das für das Zugrundeliegende steht. Es ist ein
das Substrat aller Dinge als hylê, was ebenfalls Synonym des Wortes essentia, von dem das Wort
Holz oder Wald bedeutete. Der Hylozoismus als Essenz (z. B. in Essigessenz) abstammt. In der
die Lehre von der Beseeltheit der Natur hat hier Philosophie steht es für „das, wodurch etwas ist,
seine Wurzeln, ebenso wie der Hylomorphismus, was es ist“, also all das, was zum Beispiel einen
die Lehre von Form und Materie. Menschen zu einem Menschen oder einen Stein
zu einem Stein macht. Es ist in diesem Sinn ver-
Material wandt mit dem griechischen Wort usia, das für
das Wesen von etwas steht. In der Umgangsspra-
Der Plural Materialia leitet sich vom Plural des che steht es meist für einen chemischen Stoff, in
lateinischen Worts materialis, was soviel wie „zur der Medizin für ein einheitliches Gewebe (etwa
Materie gehörig“ bedeutet. Im heutigen Sprach- die „graue Substanz“ des Nervengewebes) oder
gebrauch ist Materiall kein Synonym des physi- einen Wirkstoff.
11
KAPITEL 1 Mensch und Materie
12
Erde, Wasser, Luft und Feuer
formen der Materie als Festkörper, Flüssigkeit ebenso auf den Grund, wie der Frage, warum
und Gas auch nennen. sich letzteres in Wasser nicht löst, in Seifenlauge
Jedem antiken „Element“, also jedem Aggre- aber wohl. Alkohole sind wiederum Ausgangs-
gatzustand, wird in der Folge ein eigenes Kapitel punkt vieler interessanter Flüssigkeiten, unter
gewidmet. Die Kapitelabfolge der Aggregatzu- anderem der wohlriechenden Ester, zu denen
stände entspricht dabei bewusst weder der üb- auch Fette und Speiseöle gehören. Estern und
lichen Elementreihenfolge (Feuer, Wasser, Erde, ätherischen Ölen (die eigentlich gar keine Öle
Luft), noch der bei vielen chemischen und physi- sind) verdanken wir den Wohlgeruch von Blu-
kalischen Abhandlungen bevorzugten Gliederung men und Parfums. Heute wichtiger noch als
nach zunehmender struktureller Komplexität, Speiseöl ist allerdings das Erdöl, welches mit
ausgehend von Gas über Flüssigkeiten hin zu ersterem nicht viel gemein hat. Aber wie ent-
Feststoffen. Wir betrachten stattdessen zunächst steht eigentlich Erdöl und wie stellt man daraus
die Feststoffe, die uns sowohl in der Natur als Benzin, Diesel oder Plastik her?
auch in der zivilisatorischen Umwelt besonders
deutlich entgegentreten und die deshalb in diesem Natürlich bildet die uns um -
Buch überproportional viel Raum einnehmen. gebende Luft (Å Kapitel 7) mit
In jedem Stoffkapitel werden auch „Exoten“ ihren wichtigsten Bestandteilen
angesprochen, also besonders interessante Stoffe den Ausgangspunkt des Kapitels
mit eher unbekannten und seltsam anmutenden über Gase. Dabei geht es auch
Eigenschaften wie Ferrofluide, Aerogele, durch- um den Aufbau der Atmosphäre, um Ozon-
sichtiger Beton oder Superflüssigkeiten. löcher und den Treibhauseffekt. Im Zentrum
des physikalischen Verhaltens der Gase stehen
Die Er de (Å Kapitel 5 ), das natürlich die bekannten Gasgesetze, mit de-
Reich der mineralischen und oft- nen sich das Verhalten dieser vergleichsweise
mals kristallinen Stoffe, macht einfachen Materieform gut verstehen lässt. Es
den Anfang. Wir beschäftigen geht auch um angenehme Gerüche und wie
uns damit, worauf wir eigentlich wir sie von weniger gut riechenden Gasen un-
stehen und mit was wir bauen. Der Schichtauf- terscheiden können. Wir stellen viele wichtige
bau der Erde sowie die Zusammensetzung ver- Gase, mit denen der Mensch zu tun hat, einzeln
breiteter Gesteine, Bodenarten und Minerale vor: Wasserstoff, Stickstoff, Sauerstoff, Methan
ist ebenso Thema, wie die vom Menschen ge- bzw. Erdgas und die Edelgase. Damit kennen
nutzten Baumaterialien. Warum wird Ton beim wir schon die „üblichen Verdächtigen“, denen
Brennen hart? Aus was besteht Asphalt? Es wir im Kapitel über Kosmologie auf den Gas-
geht auch um Metalle, ihre Gewinnung und planeten erneut begegnen werden.
Veredelung. Was unterscheidet Eisen von Stahl?
Was versteht man unter Flotation? Wer ist der Der Aggregatzustand Plasma,
Nickel-Kobold? Wir sprechen über Hartme- symbolisiert durch das antike
talle, Gläser, Halbleiter, Papier, Kunstfasern und Element Feuer (ÅKapitel 8),
Kunststoffe, kurz: über die Werkstoffe, die uns schließt sich zwanglos an das
in der heutigen Zivilisation laufend begegnen. Gas an. Hier zeigt sich ein Vor-
Die Frage, wie man Stahl hart und Gummi ela- teil der gewählten ungewöhnlichen Reihenfolge
stisch macht, gehört dabei ebenso dazu wie die in der Behandlung der Aggregatzustände. Die
Frage, wie Solarzellen funktionieren und aus Betrachtung führt von der direkten Erfahrung
was Gummibärchen gemacht werden. mit Plasmen auf der Erde in Form von Flammen
und Leuchtstoffröhren hin zur Elementarteil-
Flüssigkeiten betrachten wir in chenphysik und zu kosmologischen Fragestel-
ihrer gesamten Breite, von Was- lungen. Wussten Sie, dass das auf der Erde eher
ser (Å Kapitel 6) über Öle, Sei- exotische Plasma der im Universum am weite-
fen, Alkohole, Ionische Flüssig- sten verbreitete Aggregatzustand ist? Plasmen
keiten, Quecksilber, Superflüs- in und zwischen Sternen und ionisierte kosmi-
sigkeiten und Magma. Der Frage, warum sich sche Gasnebel kommen dabei zur Sprache. Auch
Wasser nass anfühlt, Öl aber nicht, gehen wir hier stoßen wir auf direkte Verbindungen von
13
KAPITEL 1 Mensch und Materie
unseren irdischen Erfahrungen mit dieser Ma- Quantengravitation. Wir werden auch erfahren,
terieform. Zum Beispiel auf die in kommenden warum der LHC (Large Hadron Collider) in
Kapiteln thematisierten Zustände direkt nach Genf eine wichtige Rolle dabei spielt und warum
dem Urknall. viele Physiker glauben, dass unsere Welt mehr
als 3 Dimensionen haben muss.
Form und Materie (ÅKapitel 9)
geht der keineswegs trivialen Das folgende Kapitel Kosmologie
Frage nach, wie aus einfachen (ÅKapitel 11) widmet sich dem
Bausteinen kom p lexe, hoch - Aufbau und der Verteilung der
gradig organisierte Strukturen Materie im Großen. Ausgehend
wie Lebewesen entstehen können. Hier spielen von den irdischen Beobachtungs-
Begriffe wie Selbstorganisation, Chaos und En- möglichkeiten und Instrumenten wird unser Wis-
tropie eine zentrale Rolle. Warum widerspricht sen über die Verteilung der Materie und über die
steigende Komplexität nicht dem Streben nach von ihr gebildeten Strukturen im Sonnensystem,
Unordnung? Kann ein Schmetterling tatsächlich in der Galaxis und im sichtbaren Bereich des
einen Tornado auslösen? Und was hat Entropie Universum dargestellt. Die Strukturen der Welt in
mit Information zu tun? Aber auch der Rolle des unterschiedlichen Größenskalen führen uns zu-
Zufalls in einer Welt scheinbar deterministischer rück zur Frage nach dem Ursprung der Welt, den
Naturgesetze werden wir nachgehen. Compu- Kosmogonien, die wir im historischen Kontext in
ternutzer werden zudem erfahren, wie groß die Kapitel 3 bereits betrachteten. Wie hängt all das
Speicherkapazität eines USB-Sticks höchstens zusammen mit dem Aufbau der Materie aus sub-
sein kann und wie dies mit der Entropie schwar-r atomaren Teilchen wie Leptonen und Quarks?
zer Löcher zusammenhängt. Warum glauben Kosmologen, dass sich unser
Kosmos immer schneller ausdehnt? Und was
Im Kapitel Elementarteilchen können wir aus der allgegenwärtigen kosmischen
(Å Ka p itel 10) verlassen wir Hintergrundstrahlung über das junge Universum
erstmalig die Welt der Atome, vor beinahe 14 Milliarden Jahren lernen?
in der Protonen, Neutronen und
Elektronen den Ton angeben. Ein letztes Kapitel über Lebende
Wir begeben uns eine Ebene tiefer, in die Welt Systeme (Å Kapitel 12) ist den
der Elementarteilchen. Wie man im vorherigen strukturellen und entropischen
Jahrhundert feststellen musste, ist diese Welt Besonderheiten solcher Struktu-
ungleich reichhaltiger, als man es für „elemen- ren und der Emergenz der „Le-
tare“ Teilchen eigentlich erwartet hätte. Das so- bendigkeit“ gewidmet – der Entstehung und
genannte Standardmodell ordnet diesen Zoo der Evolution immer stärker spezialisierter (und
Elementarteilchen in drei Familien, von denen scheinbar entropisch unwahrscheinlicherer) Le-
nur die erste die uns bekannte materielle Welt benseinheiten bis hin zum Bewusstsein und zur
aufbaut. Erst die Wechselwirkungen zwischen Auseinandersetzung mit der Welt. Hier werden
solchen Teilchen liefern eine über das chemische wir erneut die Stellung des Menschen in der
Verständnis hinaus gehende physikalische Erklä- materiellen Welt thematisieren und damit den
rung der Eigenschaften der Materie. Beispiels- Bogen schlagen zu den einleitenden Kapiteln.
weise dient die Theorie der Wechselwirkung mit
dem Higgs-Feld als Erklärung für die Existenz
der Masse. Allerdings verlassen wir spätestens
auf dieser Ebene die „materielle“ Welt der Ma-
terie. Materie und Energie werden eins und im
Mittelpunkt stehen abstrakte Konzepte wie
Quantenfelder und Symmetrie. Hier stoßen wir
an die Grenzen unseres heutigen Verständnisses
über die Grundstruktur der Welt. Prominente
Ansätze, diese Grenzen zu überwinden, werden
wir kennenlernen: Superstringtheorie und Loop-
14
KAPITEL 2
Wahrnehmung
Sehen – Wahrnehmen – Verstehen
Fühlen und Tasten
Riechen und Schmecken
Hören
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
Zum zweiten Kapitel
Wenn wir uns mit der Materie in der Welt befassen wollen,
ist es angebracht, zunächst nach dem Wahrnehmungs- und
Erkenntnisprozess selbst zu fragen, der uns Menschen In-
formationen über eben diese Materie liefert. Die Evolution
hat uns mit Sinnen ausgestattet, die uns erlauben, für unser
Überleben wichtige Eigenschaften der materiellen Welt mehr
oder weniger direkt wahrzunehmen und darauf zu reagieren.
Die Tatsache, dass wir Informationen aus der Umwelt zum
Überleben brauchen, führte letzlich zur Entstehung unseres
Gehirns. Erstaunlicherweise gestattet dies uns sogar ein Be-
wusstsein unserer selbst. Und wir können diese Welt nicht
nur verwundert und staunend betrachten, sondern sie auch
neugierig untersuchen. Diese Neugierde zeichnet Kinder
und Wissenschaftler aus. Sie ermöglicht es uns vor allem,
einen Teil der materiellen Welt wirklich zu verstehen, auch
wenn wir letztlich nicht sagen können, wie groß dieser Teil
eigentlich ist.
Wir beschäftigen uns in diesem Kapitel damit, auf welche
Weise wir Materie mit unseren Sinnen wahrnehmen können
und wie unser Nervensystem mit der Ausbildung eines inne-
ren Modells dazu beiträgt. Wir diskutieren, welche Erweite-
rungen und Relativierungen z. B. ein Begriff wie „Sehen“ in
unserer modernen Welt erfahren hat. Und natürlich müssen
wir uns auch Gedanken darüber machen, warum wir nur die
Sinne besitzen, die wir tatsächlich haben, und keine anderen.
Dieser Ansatz führt weiter zu dem riesigen Gebiet unserer
technisch erweiterten Sinne, mit denen wir das Verständnis
(der Dinge in) der Welt während der letzten Jahrhunderte ein
gehöriges Stück vorantreiben konnten. Wir haben unsere na-
türlich vorhandenen Sinne mit der Technik geschärft und sogar
ganz neue Sinnesmodalitäten erschaffen, die wir vorher nicht
besaßen, ja für die es teilweise in der gesamten Lebenswelt der
Erde kein einziges Beispiel gibt. Künstliche Sinne lassen uns im
Dunkeln sehen, ein Magnetfeld wahrnehmen oder Gamma-
strahlung registrieren. Wir schauen in die Details der Materie
hinein und zu den entferntesten Sternen empor. Damit sind für
uns im wahrsten Wortsinn „unvorstellbare“ Dimensionen im
Allerkleinsten und im Allergrößten „zugänglich“ geworden.
Aber: Können wir das alles noch in gleicher Weise verstehen
und so begreifen wie die Information, für deren Bewältigung
unser Nervensystem ursprünglich entstanden ist?
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Wahrnehmung
17
KAPITEL 2 Wahrnehmung
2-3
Evolution der Lichtsin-
nesorgane. Von einfachen
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18
Erde, Wasser, Luft und Feuer
und Vögel können Magnetfelder buchstäblich hinzufügen oder vorhandene um viele Größen-
„sehen“, denn diese aktivieren dieselben Gehirn- ordnungen empfindlicher machen. Sind also un-
strukturen wie optische Eindrücke. sere technischen Errungenschaften das vorläu-
Ein möglicher Grund dafür, dass wir über fige Endergebnis einer Evolutionslinie? Nein, das
manche denkbaren Sinne nicht verfügen, ist also sollte man nicht anzunehmen, solange niemand
sicherlich, dass die daraus gewonnene Informa- nachweist, dass die Zahl der Nachkommen von
tion bei unserer jeweiligen Lebensweise im Laufe z. B. Gammastrahlungsastronomen aufgrund
der Evolution einfach nicht wichtig genug für ihres Berufs besonders groß ist. Der Zusam-
das Überleben war. menhang ist offensichtlich ein anderer: Bisher
Dies kann auch eine Ursache dafür sein, hat die starke Entwicklung unseres Gehirns das
dass manche Sinne, soweit man heute weiß, Überleben der Menschen enorm gefördert. Wir
überhaupt nirgendwo auf der Erde entstanden sind zur vorherrschenden Spezies unseres Pla-
sind. So kennen wir kein Lebewesen mit ei- neten geworden und leben auf der Erde in einer
nem Sinnesorgan für Radioaktivität. Diese war Dichte, die dutzende Mal höher ist, als man es
(zumindest vor Tschernobyl) im Vergleich zu für Tiere vergleichbarer Größe im besten Falle
anderen Gefahren so wenig schädlich, dass sie erwarten könnte (und als es ratsam wäre). Dieses
das individuelle Überleben kaum beeinflusste so nützliche Gehirn bringt als Nebeneffekt die
und somit der notwendige Selektionsdruck zur Neugierde mit sich. Dieser allgemeine Drang,
Ausbildung eines entsprechenden Sinns fehlte. mehr über die Umwelt wissen zu wollen, kann
Daneben ist natürlich auch keinerlei Garantie sehr wohl ein Überlebensvorteil sein. Das mas-
gegeben, dass stets eine passende Mutation für sive Interesse an allen Vorgängen in der Welt,
die Initialzündung zur Evolution eines eventuell das wir auch bei vielen Jungtieren beobachten,
nützlichen Sinns tatsächlich auftrat. Einiges an bleibt bei vielen Exemplaren unserer Spezies ein
der Ausstattung von Lebewesen scheint nicht Leben lang erhalten und bildet so die Grundlage
19
KAPITEL 2 Wahrnehmung
deshalb für die meisten Menschen ein so natürli- 6 Die Sehnerven leiten die Information in die
cher Vorgang, dass sie im täglichen Leben selten primäre Sehrinde (im Hinterkopf).
darüber nachdenken. Oberflächlich betrachtet,
geht es dabei um Licht, das in unsere Augen fällt 7 Die Information wird ins Frontalhirn (Stirn-
und auf der Retina in Nervensignale umgewan- lappen) transportiert und bewusst wahrge-
delt wird. Dies allein schon als Beschreibung des nommen.
Sehens zu bezeichnen, würde allerdings gerade
die wichtigsten Aspekte auslassen. Damit kommen wir der Sache schon etwas näher.
Sehen wir etwa eine völlig saubere Glas- Aber offenbar ist diese Beschreibung der visuellen
scheibe, durch die Licht in unsere Augen fällt? Wahrnehmung noch viel zu eng gefasst. Große
Können Fledermäuse Hindernisse sehen? Kön- Teile des Vorgangs finden völlig unabhängig vom
nen bewusstlose Personen sehen, wenn der Arzt Licht irgendwo zwischen der Netzhaut unserer
ihnen ins Auge leuchtet? Sehen wir Dinge im Augen und den neuronalen Strukturen in unse-
Traum? Sehen wir einen Baum auf einem Bild rem Gehirn statt, in denen sich unser subjektiv
wirklich, obwohl sich dort überhaupt kein Baum empfundenes Bewusstsein abspielt.
befindet, sondern eine Ansammlung von Farb- Zum Sehen gehören Rückkopplungsschlei-
tupfern? Oder sehen wir ein Modell auf einem fen. Es ist viel eher ein Teil des Denkens und des
Computerbildschirm? Ein Teilchen in einem Bewusstseins als ein isolierter Vorgang. Man
Elektronenmikroskop? Sehen wir den Kommis- muss sich frei machen von der rein mechanisti-
sar, wenn wir uns beim abendlichen Fernsehen schen Vorstellung, dass eine vom menschlichen
einen Krimi anschauen? Seltsame Fragen, sicher, Bewusstsein unabhängige materielle Außenwelt
aber durchaus wichtig für unsere Erkenntnisse über unser Auge wie durch die Linse eines Fo-
über die Welt. toapparats auf eine Art Leinwand im Gehirn
Normales, direktes Sehen (des Menschen) projiziert wird. Dieses Modell trägt wenig zum
hat tatsächlich erst einmal mit Licht zu tun. Verständnis der Wahrnehmung bei, es greift aus-
Man kann folgenden Ablauf notieren: schließlich für den dioptrischen Apparat, jenen
Teil des Auges, der nach dem klassischen Prinzip
1 Eine Lichtquelle sendet Licht aus. der Strahlenoptik funktioniert. Im Gehirn gibt es
aber keinen Homunculus, der eine Projektion als
2 Das Licht interagiert mit einem Objekt. unabhängiger Beobachter, als Bewusstsein unab-
hängig vom Gehirn, betrachten könnte.
2-5 3 Verändertes Licht fällt vom Objekt ins Sehr instruktiv ist es auch, sich klar zu ma-
Wahrnehmung. Die Wahr- Auge. chen, wie stark die von der materiellen Au-
nehmung unserer materi-
ellen Umwelt beruht nicht
ßenwelt einströmende Datenflut gefiltert und
auf einer Einbahnstraße 4 Das Auge erzeugt ein Bild des Objekts auf verdichtet wird, bevor sie in unser Bewusstsein
der Abstraktion von den der Netzhaut (Retina). gelangt. Unsere Augen sind in der Lage, von der
Sinnen ins Bewusstsein.
schwer abzuschätzenden Gesamtinformation,
Vielmehr werden alle
Wahrnehmungen auf 5 Die Retina wandelt das Bild in Nervensig- die in unserer unmittelbaren materiellen Um-
mehreren Ebenen von Er- nale um. welt auf unsere Netzhaut (Retina) einströmt,
wartungen und Kontext-
etwa 10 Milliarden Bits pro Sekunde über die
information gefiltert und
verändert. Sehzellen (Zapfen für Farbsehen und Stäbchen
für Schwarzweißsehen) aufzunehmen. Die Re-
tina ist evolutionär aus einer Ausstülpung des
Gehirns entstanden. Bereits in der Retina sorgt
eine komplexe Verschaltung der Signale dafür,
dass nach der Vorverarbeitung nur noch 6 Mil-
lionen Bits pro Sekunde, also weniger als ein
Tausendstel, über den Sehnerv transportiert
werden müssen. Über verschiedene Schaltstati-
onen (Chiasma, Corpus geniculatum laterale)
erfolgt auf dem Weg ins primäre Sehzentrum
(Area 17 am hinteren Gehirnpol) eine weitere
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Erde, Wasser, Luft und Feuer
bedeutende Kompression, so dass dort nur noch „Papst“ der Künstlichen Intelligenz, MARVIN
ca. 10 000 Bits pro Sekunde ankommen. Doch MINSKY, in seinem Buch „Mentropolis“ viel-
bis zur bewussten Wahrnehmung im Frontalhirn fach hingewiesen, nicht als einheitliche Instanz
wird heftig weiter reduziert. Psychologen schät- vorstellen, sondern eher als eine große Menge
zen, dass gerade noch etwa 100 Bits pro Sekunde miteinander interagierender Prozesse. Diese sind
in unser Bewusstsein gelangen. Das entspricht im Gehirn repräsentiert durch ineinandergrei-
einer phantastischen Informationsverdichtung fende neuronale Netzwerke (cell assemblies), die
um den Faktor 100 Millionen. beständig mit der Verarbeitung und Bewertung
2-6
Neuere Untersuchungsmethoden, mit denen der vorliegenden alten und neuen Informationen Welt und Gehirn. Die
die Intensität der Gehirntätigkeit erfasst werden beschäftigt sind. Informationsfülle der Welt
kann, belegen, dass die Erinnerung an bestimmte Es liegen keine Erkenntnisse vor, die es nahe (hier am Beispiel visueller
Informationen) wird durch
Eindrücke im Wesentlichen dieselben Gehirnre- legen würden, dass es irgendwelche grundsätz- unsere Sinne um Faktoren
gionen aktiviert wie die direkte Wahrnehmung. lichen Unterschiede bei der neuronalen Verar- r der Größenordnung 1 zu
Auch wird diese Wahrnehmung keineswegs beitung auf unterschiedlichen Abstraktionsni- 100 Millionen reduziert.
Die verbleibende Informa-
nur von den momentan einlaufenden Informa- veaus gibt. So scheinen einfachere Netzwerke tion dient dem ständigen
tionen bestimmt, sondern mindestens ebenso für die Verschaltung der Ausgangsinformation Abgleich eines internen
stark durch die aktuellen internen Zustände. verschiedener Sehzellen zur Kantenerkennung Weltmodells mit der wahr-
genommenen Umwelt.
Erinnerung, Absichten, psychischer und physi- verantwortlich zu sein, komplexere Versionen
scher Zustand beeinflussen das Gesehene durch sind vielleicht für die Erkennung eines roten
Rückkopplungen von Gehirnzentren höherer Balls, einer Rose oder eines Gesichts zuständig
Abstraktionsebene auf Teile des Sehsystems, und noch komplexere bilden vielleicht die in-
die der physischen Außenwelt in der Verarbei- terne Repräsentation einer Idee oder eines Vor-
tungskaskade näher stehen. Je weiter wir die habens. Komplexität muss in diesem Fall nicht
eingehende visuelle Information in ihrem Kon- notwendigerweise mit der Anzahl der Neuronen
zentrations- und Abstraktionsweg vom Auge korrelieren, die ein solches Netzwerk bilden. Es
bis ins Gehirn und Bewusstsein verfolgen, desto kann sich ebenso gut auf die komplexe Abstrak-
größer wird dieser „subjektive“ Anteil an der tionsebene beziehen, welche die Eingangsinfor-
Wahrnehmung. mation liefert (obwohl die Vermutung einer auch
So kann es passieren, dass wir ein gesuchtes zahlenmäßig komplexeren Struktur nahe liegt).
Objekt (etwa eine Zuckerdose auf dem Tisch) Wie kann das dünne Informationsrinnsal,
scheinbar nicht sehen können, obwohl wir di- das uns aus der Umwelt erreicht, genügen, um
rekt davor stehen – ganz einfach deshalb, weil die von uns empfundene Vielfalt der Welt und
sie vielleicht aus Porzellan besteht und wir eine des Erlebens zu generieren?
Dose aus Edelstahl erwartet hatten. Wie weit Offensichtlich ist unsere subjektive Wahrneh-
diese sogenannte Unaufmerksamkeitsblindheit mung nicht unmittelbar von den aktuell aufge-
gehen kann, wurde auch eindrücklich durch Ex- nommenen Informationen abhängig. Vielmehr
perimente gezeigt, in denen mit einer Beobach- scheint es so zu sein, dass wir über ein detaillier-
r
tungsaufgabe beschäftigte Betrachter eines Base- tes internes Weltbild verfügen, das sich haupt-
ballspieles nicht einmal einen Menschen bemerk- sächlich auf sich selbst bezieht. Fortwährend
ten, der in einem Gorillakostüm quer über das wird sein Zustand auf innere Konsistenz geprüft,
Spielfeld ging. Offenbar gibt es keine bewusste unser Gehirn ordnet und berechnet wahrschein-
Wahrnehmung ohne Aufmerksamkeit. Und je liche Zukunftsszenarien als Vorbereitung auf
unwahrscheinlicher ein Objekt ist, je weiter weg mögliche hereinkommende Informationen. Diese
vom Fokus unserer Aufmerksamkeit, desto eher Innenwelt ist nur schwach an die Außenwelt
wird es überhaupt nicht wahrgenommen. gekoppelt. Die wenige uns erreichende Infor-
Demnach wäre der Begriff „Sehen” durch mation dient dazu, den notwendigen Abgleich
die obige Aufzählung der Schritte von der Licht- durchzuführen, die Synchronisation zwischen
quelle zum Bewusstsein viel zu eng gefasst. We- der Welt und dem Weltmodell sicherzustellen.
sentlich am „Sehen” ist nicht die Unmittelbar- Diese Sichtweise wird auch von neueren Befun-
keit des Vorgangs, ganz im Gegenteil umfasst er den gestützt, auf die MARCUS E. RAICHLE auf Ba-
sogar mehrere relativ unabhängige Vorgänge. sis von PET- und fMRT-Scans hingewiesen hat,
Das Bewusstsein sollte man sich, darauf hat der nämlich dass unser Gehirn selbst ohne bewusste
21
KAPITEL 2 Wahrnehmung
22
Erde, Wasser, Luft und Feuer
sächlich einmal eine Wechselwirkung zum ge- terschied zwischen Körperoberfläche und dem
sehenen materiellen Objekt erlebt hat. Sehen ist angefassten Gegenstand. Beispielsweise kommt
Rüschlikon gelang, das erste Rastertunnelmikro- zwischen Haut und dem Gegenstand ab, aber
skop zu entwickeln. Mit der Weiterentwicklung auch davon, wie schnell Wärmeenergie vom
zum technisch viel einfacheren Atomkraftmi- Körper ab oder ihm zufließt, das heißt von
kroskop (AFM: atomic force microscope) 1985, dessen Wärmeleitfähigkeit. Bei Gegenständen
heraus, wenn sie etwa durch Nervenstörungen wie schichten. Sie haben einen Messbereich von
bei Lepraerkrankungen gestört sind. Andauernde 30 – 48 °C und reagieren deutlich langsamer als
Verletzungen sind die unweigerliche Folge. Blinde die Kälterezeptoren.
Menschen machen sich sogar ein inneres „Bild“
von Gegenständen allein durch den Tastsinn, ganz Direkter Kontakt – Mechanorezeptoren 2-9
ähnlich wie moderne Atomkraftmikroskope, wenn- UEM. Ultraschnelle Elek-
gleich auf viel größeren Skalen. Berühren wir ein Objekt, so können wir gröbere tronenmikroskopie (UEM)
Einige Eigenschaften fester oder flüssiger Oberflächenrauhigkeiten sofort wahrnehmen, kombiniert atomare Auf-
lösungen mit Bildfolgen
Materie können wir bei Berührung mit der Haut denn Mechanorezeptoren in unserer Haut wer-
im Femtosekundenbereich
direkt wahrnehmen. den lokal unterschiedlich ansprechen. Hierzu (10-15). Extrem kurze
dienen die in der Lederhaut (Dermis) lokalisier- UV-Pulse erzeugen Einzel-
elektronen, während ein
Heiß oder kalt? – Thermorezeptoren ten Ruffini-Körperchen, die als langsam adap-
synchronisierter IR-Puls die
tierende Dehnungsrezeptoren wirken, sowie die Probe anregt. Damit kön-
Fassen wir einen Stoff an, so ist es zunächst in der tieferen Oberhaut (Epidermis) liegenden nen z. B. Bewegungsab-
die Temperaturempfindung, die uns bewusst Merkel-Zellen. Letztere reagieren bevorzugt auf läufe bei der Faltung von
Biomolekülen oder Umla-
wird. Und zwar nicht die absolute Temperatur, Druckreize durch Eindrücken der Haut in einem gerungen in Kristallgittern
ja nicht einmal unbedingt der Temperaturun- Frequenzbereich 0,3 – 3 Sekunden. dargestellt werden.
23
KAPITEL 2 Wahrnehmung
Spätestens, wenn wir unseren Finger wieder werden von ihnen nicht mehr gemeldet. Hier hel-
zurückziehen, erhalten wir weitere Informati- fen uns übrigens die Rillen auf den Fingerkuppen
onen: Er ist klebrig oder nicht. Klebrigkeit ist sehr. Damit lässt sich sogar eine zufällige Rauig-
eine Qualität, die sich auf Grund der Reaktivität keit von einer zyklisch wechselnden regelmäßi-
von Oberflächen ergibt. Sie wird in der Regel gen Struktur unterscheiden. Selbst Rauigkeiten
durch kurzfristig entstehende schwache chemi- im Bereich einiger tausendstel Millimeter werden
sche Bindungen vermittelt, sogenannte Wasser- dabei erfasst.
stoffbrückenbindungen (ÅMaterialeigenschaft: Doch damit nicht genug. Es gibt in der Un-
klebrig, Seite 219). Nach dem Abheben des terhaut (Subcutis) auch Rezeptoren, die nur auf
Fingers verrät uns eine ggf. einsetzende Tempe- Änderungen der Geschwindigkeit eines Reizes
raturabnahme, dass wir es mit einer leicht ver- reagieren, also auf Beschleunigungen. Diese als
dunstenden Flüssigkeit zu tun haben. Reflexar- Vater-Paccini-Körperchen bekannten Sensoren
tig reiben wir nun die Fingerkuppen aneinander. erkennen besonders leicht Vibrationen. Auch
Damit bestätigen wir eine eventuelle Benetzung solche entstehen natürlich beim Gleiten von Fin-
und können bei leichtem Gleiten Seife oder Öl, gerrillen über unebene Oberflächen. Diese In-
bei mehr Reibung Wasser vermuten. formationen zur taktilen Wahrnehmung werden
Um einen Gegenstand aber noch näher zu über zwei unterschiedliche Systeme (das lemnis-
erfassen, pflegen wir unsere Finger prüfend in kale und das extralemniskale System) über ver-
mehreren Richtungen über ihn hinweg gleiten schiedene Relaisstationen (z. B. Hirnstamm und
zu lassen. Damit offenbart sich gleich eine große Thalamus) an den somatosensorischen Cortex
Menge zusätzlicher Informationen. Ist die Gleit- (der körperfühlenden Großhirnrinde) weiter-
reibung nur wenig oder viel geringer als die geleitet. Wie man sieht, verfügen wir also über
Haftreibung? Ist der Widerstand gegenüber der ein äußerst leistungsfähiges Instrumentarium,
Bewegung konstant, der Körper mithin glatt, um mechanische und manchmal sogar indirekt
2-10 oder wechselt er wie bei Oberflächenrauhigkeit? auch chemische Informationen über berührte
Molekulare Erkennung.
Molekulare Erkennung
Dazu besitzen wir in unserer Haut nicht nur die Stoffe zu erschließen.
ist der wohl wichtigste, erwähnten langsamen Druckrezeptoren, sondern
allen Lebensprozessen zu- insbesondere in den Fingerkuppen sogenannte
grunde liegende Vorgang.
Chemiker versuchen, die
Meissner-Körperchen, die als Geschwindigkeits- Riechen und Schmecken
hochspezifische Erken- rezeptoren bezeichnet werden und vielleicht die
nung von Molekülform wichtigste Komponente unseres Tastsinns dar- Obwohl das chemische Analyselabor in unserer
und Verteilung der Ober- stellen. Sie reagieren nur auf Druckreize, die Nase und Zunge bekanntermaßen nicht die Fä-
flächenladungen in soge-
nannten Molecularly Im- sich mit Frequenzen von 2 – 20 Hz ändern wie higkeiten einer Hundenase erreicht, verfügt es
printed Polymers (MIPs) sie typischerweise beim Gleiten von Haut über doch über etwa 350 – 400 unterschiedliche Re-
nachzuahmen. Feststoffe auftreten. Langsamere Veränderungen zeptoren zur Unterscheidung von Gerüchen und
dutzende unterschiedlicher Geschmacksrezepto-
ren. Wie funktionieren diese beiden chemischen
Nahsinne, die sich bei Säugetieren gegenseitig
beeinflussen und teilweise in sich überschneiden-
den Hirnregionen ausgewertet werden?
24
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Typen von Geruchsrezeptoren in den Zellmem- können übrigens auch völlig unbekannte Stoffe
branen des Riechepithels. Abhängig von ihrer riechen, denn die Wahrscheinlichkeit ist groß,
äußeren Form und der chemischen Struktur, die dass sie zumindest in gewissem Maße mit ei-
sich in unterschiedlichen elektrischen Ladungs- nigen der zahlreichen Rezeptoren interagieren.
verteilungen an der Moleküloberfläche äußert, Über assoziatives Lernen gelingt es den entspre-
passen diese Schlüssel unterschiedlich gut zu chenden Teilen der sensorischen Gehirnrinde
den Schlössern der Rezeptorproteine (Å Abbil- sogar, viele Substanzen zu klassifizieren. Einige
dung 2-11). Die Schlösser sind komplex gefal- der wahrgenommenen Gruppierungen besitzen
tete Proteinmoleküle, die ihre Faltung bei der übrigens auch klare Entsprechungen im Mole-
Interaktion mit einem passenden Stoff ändern külbau. So haben viele Alkohole eine ähnliche
25
KAPITEL 2 Wahrnehmung
giftigen und ungenießbaren Stoffen warnen, denn Was können wir prinzipiell verstehen?
sehr viele Gifte schmecken bitter. Da diese Sub-
stanzen aber teilweise chemisch sehr unterschied- Wir haben in diesem Kapitel unsere Wahrneh-
lich aufgebaut sind, ist es nicht verwunderlich, mung der materiellen Welt untersucht. Zusam-
dass mehrere Rezeptortypen zu ihrer Erkennung menfassend kann man sagen, dass die Antwort
notwendig sind. auf die im Einleitungstext aufgeworfene Frage, ob
Eine eigene Kategorie darüber hinaus bil- wir das alles wirklich verstehen können, bis zu ei-
det „umami“ (japanisch, Fleisch), der typische nem gewissen Maße „ja“ lautet. Unsere Fähigkeit,
würzig-herzhafte Geschmack von Glutamat. in Modellen zu denken, ist ausgesprochen ausge-
Als Abbauprodukt von Proteinen ist er u. a. in prägt und vermutlich angeboren. Trotzdem lassen
Fleischspeisen ausgeprägt. Das Vorhandensein sich Grenzen erahnen. Beispielsweise mutet uns
weiterer grundsätzlicher Geschmacksrichtungen die grundlegendste aller heutigen physikalischen
wie Calcium„geschmack“ und eventuell Fettge- Theorien, die Quantentheorie, enorm viel zu. So
schmack ist nicht gesichert. viel, dass sich auf Basis des quantenmechanischen
Atommodells wohl niemand ein Atom tatsächlich
vorstellen kann, ohne automatisch daneben an
Hören trivialere Modelle wie kleine Kugeln zu denken.
Kurze Wellenlängen ent- So ist zu erklären, dass sich Physik- und Che-
sprechen hohen Tönen,
lange tiefen Tönen. Zunächst mag es verwundern, das Gehör mit mielehrer sehr schwer tun, ihren Schülern z. B.
unterschiedlicher Materie in Verbindung zu das intuitiv eingängige aber im Grunde viel zu
Der (junge) Mensch kann bringen. Bei näherer Überlegung kann uns aber wenig erklärende Bohrsche Atommodell wieder
Frequenzen etwa zwi-
schen 16 und 16 000 Hz auch das Gehör einiges über die Stoffe verraten. auszutreiben und durch das wellenmechanische
(Schwingungen pro Se- Wenn Sie wissen wollten, woraus ein unbekann- Modell der Quantentheorie zu ersetzen.
kunde) wahrnehmen. ter Gegenstand besteht, haben Sie sicherlich Ähnlich ergeht es uns in kosmischen Dimen-
schon instinktiv mit etwas Hartem dagegen sionen. In beiden Fällen geht unsere mathema-
geklopft. Der Klang, den man hört, ist natür- tische Fähigkeit zur Modellbildung weit über
lich zum Teil von der äußeren Form abhängig. das intuitiv Vorstellbare hinaus. In seinem 1967
Trotzdem: Klopfen auf massives Holz klingt erschienenen Buch Vom Wesen physikalischer
definitiv anders als auf Glas. Metalle, Kunst- Gesetze schrieb der geniale Physiker und Mit-
stoffe, Stein – alles können wir am Klang meist entwickler der Quantenelektrodynamik RICHARD
eindeutig erkennen. Wird ein Körper angesto- FEYNMAN (1918 – 1988):
ßen, so schwingen seine Bausteine in komplexer
Weise und er gibt ein ganzes Spektrum von „Es gab eine Zeit, als Zeitungen sagten, nur
Schallwellen ab. Die Mischung unterschiedli- zwölf Menschen verstünden die Relativitäts-
theorie. Ich glaube nicht, dass es jemals eine
cher Tonhöhen erweist sich als typisch für das solche Zeit gab. Auf der anderen Seite denke
Material. Wir lernen aus Erfahrung, für diese ich, es ist sicher zu sagen, niemand versteht
Materialien ähnliche neuronale Filter zu bilden, Quantenmechanik.“
wie sie für die Erkennung von Gerüchen exis-
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tieren. Ähnlich wie man ein Musikinstrument So muss man sich natürlich die Frage stellen, ob
in der Regel auch in Räumen mit verschiedener es Bereiche gibt, bei denen nicht unsere Sinne die
Form und Akustik wiedererkennt, kann man Limitierungen zum Weltverständnis darstellen,
auch das Grundmaterial unterschiedlich ge- sondern die Fähigkeit unseres neuronalen Systems,
formter Körper meist heraushören. des Gehirns, ein Modell der Realität zu erfassen.
Wir wollen es an dieser Stelle nicht weiter ver- Möglicherweise müssen wir hier auf die weiter
2-12
Cochlea. Durch den klei- tiefen, aber es sei angemerkt, dass Materialien aus fortschreitende Evolution hoffen, oder darauf,
ner werdenden Radius der härteren Substanzen im allgemeinen höhere Töne dass wir Maschinen mit Möglichkeiten erschaffen
Gehörschnecke (Cochlea) können, die über unser menschliches Verständ-
produzieren, während weichere Stoffe wie Holz
des Innenohrs erfolgt die
Aufspaltung der Töne in oder Gummi vorwiegend tiefe Töne erzeugen. In nis hinausgehen. Dies ist vielleicht gar nicht so
ein Frequenzspektrum. Kapitel 4 werden wir sehen, dass die Härte eines unmöglich, denn schließlich kann auch ein nur
Gehörzellen registrieren Stoffes eng mit der Festigkeit von Bindungen durchschnittlich Schach spielender Programmierer
die Schallschwingungen
durch mechanische Rei- zwischen den atomaren Bestandteilen der Materie ohne weiteres ein Schachprogramm erstellen, das
zung feiner Fortsätze. zusammen hängt (Å Härte, Seite 201). ihn selbst schlägt.
26
KAPITEL 3
Historischer Überblick
Vom Mythos zum Logos – Die Antike
Spätantike und Mittelalter
Wuxing – Elemente im chinesischen Denken
Der Advent der modernen Naturwissenschaft
Materie als Masse
Von der Alchemie zur Chemie
Die Entwicklung der modernen Chemie
Feld und Materie
Der Äther
Wärme und Materie
Die Struktur des Atoms
Umbruch: Die Quantentheorie
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Zum dritten Kapitel
Materie ist kein Begriff der unmittelbaren Anschauung wie eine Fülle praktisch verwertbarer Fakten über die Welt, eine
Fuß oder Tisch. Es ist ein abstrakter Begriff, der ein Konzept Tatsache, die dazu beitrug, dass Europa lange Zeit die Welt-
benennt, das wir Menschen über die Natur entwickelt haben. geschichte dominierte.
Es ist ein Konzept über den Aufbau der Welt. Seit der Entdeckung der Atome und der Entwicklung der
Konzepte fallen nicht vom Himmel. Sie entwickeln sich Quantentheorien verliert der Begriff Materie wieder seine
mit der Kultur, in der sie entstanden sind. Und oft wandeln Bodenständigkeit. Quanten- und Stringtheorien bringen uns
sich Konzepte grundlegend, obwohl ihre Begriffe beibehal- vielleicht der Antwort auf die Frage näher, was die Welt im
ten werden. Der Begriff Materie ist von dieser Art. Was wir Innersten zusammenhält, sie führen aber gleichzeitig dazu,
heute unter Materie verstehen, ist kaum vergleichbar mit dass uns die Bedeutung solcher Begriffe wie Materie entglei-
dem Verständnis früherer Generationen. Was geblieben ist, tet. Was man in modernen Theorien damit assoziieren kann,
ist der Kern: Materie weist auf etwas Ursprüngliches, Zu- erinnert wieder an die Begriffe aus der Antike, an das Apeiron
grundeliegendes hin. ANAXIMANDERs oder das Dao der chinesischen Philosophie.
Die Wurzel des Wortes Materie ist die Mutter, der Ur- Der Weg zur Transzendenz des Materiebegriffs ist Thema des
sprung menschlichen Lebens. Entsprechend muss auch die letzten Abschnitts dieses Kapitels.
Geschichte der Materie mit den Vorstellungen der Menschen
über den Ursprung des Kosmos beginnen, mit den Schöp-
fungsgeschichten oder Kosmogonien.
Der Übergang von mythisch geprägten Schöpfungsge-
schichten zu einem rationalen Weltbild markiert den Weg
vom Mythos zum Logos; einen Weg, den im frühen ersten
Jahrtausend vor Christus die Hochkulturen in Asien ebenso
gingen wie die Kulturen im Mittelmeerraum. Nicht der Wille
der Götter prägt die Struktur der Welt, sondern rational
erfassbare Prinzipien.
Ein rationales Weltbild ist noch keine naturwissenschaft-
liche Theorie. Was fehlt, ist die methodische Verbindung zur
Beobachtung: Sind Aussagen überprüfbar, wenn möglich
messbar? Anfänge naturwissenschaftlicher Forschung gab
es in allen Hochkulturen, aber nur im christlichen Europa
entwickelte sie sich seit GALILEI zur dominierenden Methode
der Naturerklärung. Wir zeigen diesen Weg anhand der Ent-
wicklung des Materiebegriffs in der abendländischen Chemie
und Physik auf.
Mit der Verbreitung des naturwissenschaftlichen Weltbil-
des wandelte sich der Begriff der Materie. Er wurde in mehr-
facher Hinsicht reduziert: In der Physik war Materie lange
Zeit lediglich der Träger von Volumen und Masse, in der
Chemie stand die Umwandlung von Stoffen im Vordergrund.
Durch die von RENE DESCARTES (1596 – 1605) formulierte
Trennung von Geist (lat. res cogitans) und Materie (lat. res
extensa) wurde Materie gewissermaßen bodenständig. Wie
der Umfang dieses Buches zeigt, war diese Bodenständigkeit
außerordentlich fruchtbar für die Entwicklung von Wissen-
schaft und Technik. Das materialistische Weltbild lieferte
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Historischer Überblick
29
KAPITEL 3 Historischer Überblick
3-1
Ishtartor. Im Pergamon- Schöpfung aus den Ozeanen –
Museum in Berlin steht Tiâmat und Apsu
eine Rekonstruktion des
Ishtar-Tors
T des alten Ba-
bylon. Es zeigt Marduk als Nach dem babylonischen Lehrgedicht Enuma
Wesen mit dem Kopf einer elis (ca. 2000 – 600 v. Chr.) tötet der babylo- 3-2
Schlange, dem Schwanz nische Gott Marduk die Urgöttin Tiâmat und Die Zerstückelung. Sie steht in der Alchemie für den Rei-
eines Skorpions, den Kral- nigungsprozess der Materie. Diese Darstellung stammt
len eines Adlers und den schafft aus ihrem Leib Erde, Himmel, Götter aus dem alchemistischen Bildband Splendor Solis aus dem
Füßen eines Löwen. und Menschen. Tiâmat bedeutet Salzwasser- 16. Jahrhundert.
30
Erde, Wasser, Luft und Feuer
ismus zu einem rationalen Naturverständnis oberfläche und das gelegentliche Stampfen der
– ein Weg „vom Mythos zum Logos“. An die Erde war verantwortlich für Erdbeben. THALES
Stelle magischer Kräfte und göttlichen Wirkens war jedoch auch noch im Hylozoismus verwur-
treten Prinzipien, deren Geltungsanspruch sich zelt. Von ARISTOTELES ist der Ausspruch des
auf rationale Argumente gründet. Es sollte aller- THALES überliefert, dass „alles voller Götter“ sei.
dings noch viele Jahrhunderte dauern, ehe es zur Die Vorstellung des Urstoffs „Wasser“ ist daher 3-5
Thales von Milet. Der
Formulierung von Naturgesetzen im modernen nicht so zu verstehen, wie wir heute den Begriff Philosoph lebte von
Sinne kam. verstehen: als einen Grundbaustein der materi- 624 – 546 v. Chr.
31
KAPITEL 3 Historischer Überblick
ellen Welt. Laut ARISTOTELES verstand THALES auch in den Jahreszeiten erkennbar: Im Sommer
die Rolle des Wassers mythisch: Es verweist auf herrscht das Warme/Trockene vor, im Winter das
den griechischen Gott Okeanos und auf den Kalte/Feuchte. Das Apeiron sorgt für Gleich-
Fluss Styx, der das Totenreich vom Reich der gewicht und lenkt dabei die Entwicklung der
Lebenden trennte. Welt, da alle Prinzipien und Eigenschaften Teil
Eine Generation später setzte ANAXIMENES des Apeiron sind.
(585 – 526 v. Chr.) die milesische Tradition fort. Mit PARMENIDES (ca. 515 – 445 v. Chr.) tritt
Für ihn ist die Luft das arché, der göttliche Ur- ein Theoretiker auf den Plan, der im Gegensatz
stoff, und gleichzeitig als pneuma der belebende zu den Miletern die Wahrnehmung für die
Atem, die Seele. Die Elemente der Welt entstehen Wahrheitsfindung als völlig ungeeignet ansah:
durch Verdünnung bzw. Verdickung der Luft. Nur das Denken kann uns die Wahrheit zeigen,
Dabei entsteht durch Verdünnung das Feuer, Wahrnehmung ist Irrtum und Schein. Das
durch Verdickung das Wasser und durch stetig Sein nämlich ist unveränderlich, schon immer
weitere Verdickung Erde und Stein. gewesen und unvergänglich, während unsere
Etwa zwei Generationen später schuf EM- Wahrnehmung vor allem das sich Bewegende
PEDOKLES eine vereinheitlichte Elementelehre und Veränderliche registriert. Wäre das Sein aber
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
mit den vier Elementen Erde, Wasser, Feuer, veränderlich oder könnte es vergehen, so gäbe es
Luft. Wir werden uns noch eingehender damit ja etwas anderes Seiendes, zu dem hin sich das
beschäftigen. Zuvor werden wir zwei Philoso- Sein verändert oder wohin es vergeht. Das wäre
phen kennenlernen, die einen abstrakteren Weg jedoch ein Widerspruch. Nach PARMENIDES
gingen: ANAXIMANDER und PARMENIDES. kann es auch nicht Nichts geben, da Nichts
3-6 nicht denkbar ist. Damit kann es natürlich auch
Anaximander. Detailan- Grenzenloses und Unvergängliches – keinen leeren Raum geben, kein Vakuum. Gäbe
sicht aus „Die Schule von es ein Vakuum, so würde ja etwas anderes als
Athen“, RAFFAEL SANTI, Anaximander und Parmenides
1510/11, Stanzen des Va- das Sein existieren, es hätte eine Grenze. Und
tikans, Rom. ANAXIMANDER (ca. 611 – 547 v. Chr.) war ein natürlich: Wenn kein Vakuum existiert, kann
Zeitgenosse des THALES und ein bekannter Astro- sich auch nichts bewegen oder verändern, da
nom, der die erste griechische Landkarte sowie hierfür kein Platz ist. Bekannter als PARMENIDES
einen Himmelsglobus schuf. Anstelle der die selbst ist heute dessen Schüler ZENON von Elea.
Welt erschaffenden Götter oder anstelle des Was- Von ihm stammt das Paradox von Achilles und
sers trat bei ANAXIMANDER eine abstrakte Sub- der Schildkröte. Damit sollte nachgewiesen
stanz als Ursache der Welt in Erscheinung, das werden, dass Bewegung tatsächlich Illusion ist.
Apeiron. Apeiron, das Grenzenlose, ist zeitlos, PARMENIDES’ Lehre vom unvergänglichen
grenzenlos, hat keine Eigenschaften, durch die es S ein beeinflusste die nachfol g enden Phil o -
sich von anderen Dingen unterscheiden läßt, es s o p hen wesentlich. Obwohl weni g e seine
ist der Stoff schlechthin, aus dem Welt, Zeit und A uffassung über die Wahrnehmung teilten,
Raum und die Elemente erst entstehen können. k o nn te n s i e das We r de n ni c h t m e hr du r c h
Da das Apeiron alle Elemente und Eigenschaften ein Entstehen aus dem Nichts erklären. Erst
dieser Welt in sich vereinigt, einschließlich des die Vorstellung eines allmächtigen Gottes in
Prinzips der Bewegung, konnte Struktur durch Judentum, Christentum und Islam lieferte
Ausdifferenzierung der Prinzipien „das Warme/ einen akzeptablen Rahmen für diese creatio
Trockene“ und „das Kalte/Feuchte“ entstehen. ex nihilo. Die Vorstellung, dass kein Vakuum
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
ANAXIMANDER ging davon aus, dass durch die existieren könne, blieb aber bis in die Neuzeit
Bewegung eine Trennung zwischen dem Warmen hinein vorherrschend. Interessanterweise ist
und dem Kalten entstand, die zur Gestaltung des d ie Struktur des (anscheinend g ar nicht so
Kosmos führte. Die Erde bildete als tortenähn- leeren) Vakuums bis heute ein aktuelles For-
licher Zylinder das Zentrum des Kosmos und schungsthema (ÅKapitel 10).
3-7
Parmenides von Elea. De- wurde von glühenden Feuerrädern umkreist.
tailansicht aus „Die Schule Durch die Speichenöffnungen der Räder konnte
von Athen“, RAFFAEL SANTI, man den feurigen Mantel erkennen, von der
1510/11, Stanzen des
Vatikans, Rom. Sie soll Erde aus erschienen diese Löcher als Sterne. Die
PARMENIDES zeigen. wechselnde Dominanz von Warm und Kalt ist
32
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Die Vierheit als Ordnungsschema spielte in Antike und Mit- Auch die Medizin der Hildegard von Bingen, Kneipp-
telalter eine große Rolle. Den vier Elementen wurden die vier und Entschlackungskuren basieren letzten Endes auf
Qualitäten warm/kalt, trocken/feucht und die vier Körpersäfte der Vorstellung, dass Krankheiten durch Störungen
Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle zugeordnet. Die- im Gleichgewicht der Säfte (Dyskrasie) entstehen. Der
sen wiederum entsprachen die vier Charaktere Sanguiniker Aderlass diente dazu, schädlichen Blutüberschuss in
(von lateinisch sanguis, Blut), Phlegmatiker (von griechisch einem Körperteil zu entfernen. Auch der Speiseplan wurde
phlegma, Schleim), Choleriker (von griechisch chole, Galle) diesem Ordnungsschema angepasst. Bei einer Störung des
und Melancholiker (schwarze Galle aus griechisch mela, Säftegleichgewichts oder je nach Temperament wurden die
schwarz und chole). Auch die vier Jahres- und Tageszeiten, Speisen mit unterschiedlichen Schwerpunkten zubereitet.
sowie die menschlichen Lebensphasen wurden diesen Kate- Entsprechende Rezepte haben sich bis heute erhalten: eine
gorien zugeordnet. Hühnerbrühe soll aufgrund des kalt-trockenen Charakters des
Die Viersäftelehre oder Humoralpathologie (von lat. Huhns bei fiebrigen Erkältungen helfen. Die Vier-Elemente-
humores, Säfte) geht auf die griechischen Ärzte HIPPOKRATES Lehre fand auf die gleiche Weise Eingang in die Astrologie:
(ca. 460 – 370 v. Chr.) und GALEN (ca. 129 – 199 n. Chr.) Erde, Wasser, Feuer, Luft finden sich wieder in der Einteilung
zurück und prägte die Medizin bis ins 19. Jahrhundert. der Tierkreiszeichen in Erd-, Wasser-, Feuer-, und Luftzeichen.
33
KAPITEL 3 Historischer Überblick
Missbildungen, die jedoch nicht lebens- oder Feueratomen, die klein, rund und deshalb sehr
fortpflanzungsfähig sind. Die Seele ist nichts beweglich sind. Sie ist also nicht getrennt vom
anderes als ein bestimmtes Mischungsverhältnis übrigen Sein, es gibt keine Weltseele, die Atom-
der Elemente, das sich auch wieder auflösen theorie ist eine monistische, keine dualistische
kann, sie ist also nicht unsterblich. Theorie. Auch Sinneseindrücke wie Geschmack
und Farbe sind auf die Eigenschaften der Atome
zurückzuführen. So besteht Saures aus scharf-
Leukipp und Demokrit – kantigen Atomen, Süßes aus runden.
die frühen Atomisten
LEUKIPP (Anfang des 5. Jahrhunderts v. Chr.) aus Ideen oder Form?
Milet gilt als Begründer der ersten Atomtheorie,
Platon und Aristoteles
DEMOKRIT (ca. 460 – 370 v. Chr.) aus der thra-
kischen Küstenstadt Abdera nahe dem heuti- Knapp zweihundert Jahre nach ANAXIMANDER, in
gen Dorf Avdír arbeitete sie weiter aus. In ihrer der Blütezeit griechischer Philosophie, lebte der
Atomlehre teilten beide die Ansicht PARMENIDES, Athener PLATON (427 – 347 v. Chr.). Sein politi-
dass das Seiende unvergänglich sein muss. Für sie sches Engagement vor allem in Syrakus bei Kö-
jedoch existierte auch das Nichtseiende in Form nig DIONYSOS endete im Desaster; einmal wurde
des leeren Raums, da nur durch ihn Bewegung PLATON sogar als Sklave verkauft. PLATON war ein
möglich ist. Das Rätsel, wie aus dem unverän- Schüler des legendären SOKRATES und stellte seine
derlichen Seienden Veränderung entsteht, lösten philosophischen Gedanken in Form von Dialogen
sie durch die Einführung von Atomen (griech. zwischen SOKRATES und Zeitgenossen dar. Diese
átomos, unteilbar). Das Seiende besteht demnach Dialoge sind uns erhalten und sie tragen meist den
aus unteilbaren, unvergänglichen Atomen, die Namen des Dialogpartners. PLATON N entwickelt in
sich in Größe, Form, Lage und Anordnung un- diesen Dialogen auch seine Ideenlehre und stellt
terscheiden. Es gibt also verschiedene Arten von im Timaios seine Kosmogonie dar.
Atomen und Atome unterschiedlicher Größe ha- Auch er spricht vom ewig Seienden, die
ben unterschiedliches Gewicht. Das unterschied- wahrnehmbaren Dinge nehmen an diesem Sein
liche Gewicht der Stoffe entsteht auch durch aber lediglich vorübergehend teil, da sie ver-
die unterschiedlichen Hohlräume zwischen den gänglich sind. Das wahre Sein drückt sich aus
Atomen – durch ihre unterschiedliche Dichte, wie durch die Ideen, die wir in den Dingen erken-
man heute sagen würde. nen. Das wahre Sein eines Stuhles ist nicht der
Werden und Vergehen der Dinge erklären Stuhl selbst, sondern die Idee des Stuhl-Seins.
die Atomisten durch das Zusammen- und Aus- Damit gibt PLATON eine Antwort auf die Frage,
einandergehen der Atome. Atome verfügen über wie wir das Wesen von Dingen erkennen. Was
eine ihnen innewohnende Bewegung. Wechsel- ist das Gemeinsame an Stühlen und wie erken-
wirkungen zwischen ihnen kommen dadurch nen wir es? Woher kommt unsere Vorstellung
zustande, dass sie sich je nach Art abstoßen oder des Kreises ohne dass es vollkommene Kreise
aneinander haften. Harte Stoffe bestehen aus gibt? Unser Geist hat an den Ideen teil, die
Atomen, die sich auf Grund ihrer Gestalt fest in- Dinge selbst führen eine Schattenexistenz zwi-
einander verhaken; weiche bestehen aus solchen, schen Sein und Nichtsein. Die Materie, der
die leicht gegeneinander verschiebbar sind. Die Stoff aus dem die Dinge sind, spielt dabei eine
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
Welt entstand laut DEMOKRIT aus einem Wirbel, untergeordnete Rolle. Seine wesentlichste Ei-
der große und kleine Atome voneinander trennte. genschaft ist die Teilbarkeit.
Die großen (also schwereren) sammelten sich in Im Gegensatz zu ANAXIMANDER entsteht die
der „Mitte“ und bildeten die Erde, die kleineren Welt bei PLATON nicht von selbst und besteht
(leichteren) flogen nach außen und bildeten die auch nicht ewig wie bei PARMENIDES. Vor dem
3-9 Sterne. Da Raum und Anzahl der Atome unend- Anfang befanden sich die Ursubstanzen der
Demokrit. Skulpur von lich sind, muss es auch unendlich viele Welten Welt in einem wirren Durcheinander, in einer
LÉON-ALEXANDRE DELHOMME geben, die entstehen und vergehen. an „keine Regel gebundenen Bewegung“, in
(1841 – 1895) vor dem
Musée des beaux-arts in Die Atomisten vertraten auch eine materi- einem Chaos. Ein Weltbaumeister, ein Demiurg
Lyon. alistische Theorie der Seele: Diese besteht aus (griech. demiourgós, Schöpfer, Handwerker)
34
Erde, Wasser, Luft und Feuer
musste die Welt aus diesem Chaos erschaffen. zwischen den Basisdreiecken ineinander über-
Sie ist ein Ausdruck göttlicher Vernunft und führbar:
göttlicher Ideen. Die Menschen können die
göttlichen Ideen hinter der sinnlichen Welt er- 1 Wasser → 1 Feuer + 2 Luft: 120 Δ → 24 Δ + 2 · 48 Δ
1 Luft → 2 Feuer: 48 Δ → 2 · 24 Δ
kennen, da sie mit Vernunft ausgestattet sind
2 1/2 Luft → 1 Wasser: 2 1/2 · 48 Δ → 120 Δ
und die Welt selbst an diesen Ideen teilhat.
35
KAPITEL 3 Historischer Überblick
Platons Elementarteilchen
das leichteste und das spitzigste Element. Auf den Form bildet er nach PLATON die äußerste
die gleiche Weise entsteht das Oktaeder aus Schale des Kosmos. Seinen zwölf Flächen sind
8 · 6 Dreiecken des Typs 1, d. h. 48 Basisdrei- die zwölf Sternbilder zugeordnet.
nach wie vor aktuell. Deutlich wird dies unter sel Chalkidiki. Sein Vater war Arzt am Hof des
anderem bei der Suche nach einer physikali- makedonischen Königs und ARISTOTELES wurde
schen „Theorie für alles“, der TOE (Theory of Lehrer des jungen ALEXANDER DES GROSSEN. Er
Everything). Der Physiker STEVEN WEINBERG war von 367 bis 347 v. Chr. Schüler und Lehrer
formulierte diese Suche so: an PLATONs Akademie in Athen, 335 gründete
er eine eigene Schule, das Lykeion. Das Lykeion
„.. das ist unser Bestreben: nach einem einfachen wurde auch bekannt als Peripatos, nach dem
3-15
Ikosaeder (Wasser). Aus
Satz physikalischer Prinzipien zu suchen, denen griechischen Wort für Wandelhalle oder Spa-
insgesamt 120 Basisdrei- eine größtmögliche Zwangsläufigkeit anhaftet
und von denen alles, was wir über Physik wissen,
ziergang. Es war damals die Gewohnheit der
ecken entsteht ein Ikosa-
eder (Zwanzigflächner). zumindest im Prinzip abgeleitet werden kann.“ Philosophen, in den öffentlichen Gymnasien
im Umhergehen zu lehren.
Eine solche Theorie kann nicht ausschließlich auf
Erfahrung gegründet werden, da sie Phänomene Form und Materie
wie die Entwicklung oder Entstehung des Uni-
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versums erklären muss, die unserer Erfahrung Auch ARISTOTELES ist wie PARMENIDES der Über-
für immer unzugänglich bleiben. Sie muss sich zeugung, dass aus Nichts nichts entstehen und
letzten Endes auf Prinzipien und Schlussregeln etwas, was ist, nicht einfach verschwinden kann.
stützen, die nur mathematisch-logisch begrün- Das Seiende muss ewig währen. Wie ist dann
det werden können, die also zwangsläufig g sind. aber Veränderung, Entstehen und Vergehen zu
Damit sprechen wir mathematischen Sätzen aber erklären? Er kann sich nicht mit der Atomthe-
3-16 im Grunde eine eigene Existenz zu, die außerhalb orie von DEMOKRIT und LEUKIPP anfreunden, da
Hexaeder (Erde). Aus 24
des menschlichen Geistes liegt. Mathematische mit der Einführung von unteilbaren Atomen
rechtwinkeligen Dreiecken
(Typ
T 2) entsteht ein Hexa- Sätze wären nach dieser Sicht der Dinge „a pri- doch lediglich die große Zahl der Naturerschei-
eder (Sechsflächner). ori“ (vor der Erfahrung) gültig. nungen auf eine nicht minder große Zahl an
36
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Atomformen zurückgeführt werde. Auch gibt es sind für ARISTOTELES die einfachsten Substan-
für ihn keinen Grund anzunehmen, dass Materie zen, die aus der materia prima (Ersten Materie)
nicht unbeschränkt teilbar sein sollte. Allerdings hervorgehen. Die materia prima ist selbst nicht
sah er, dass Körper nicht beliebig geteilt werden fassbar, es gibt kein „Stück“ materia prima, da
konnten, ohne wichtige Eigenschaften zu verlie- sie ja keine Form besitzt. Aus den vier Elementen
ren. So konnten Pflanzen oder Tiere oder ihre entstehen in der nächsten Stufe die gleichartigen
37
KAPITEL 3 Historischer Überblick
den Gedanken, zu sagen, beide enthielten des- wurden sie aufgegeben. In der Folgezeit wurden
halb die gleiche Menge an Materie, so wenig, Schulen in anderen Städten des Mittelmeerraums
wie wir heute sagen, ein roter Ferrari enthalte g e g ründet, unter anderem im wichti g sten
die gleiche Menge Rotheit wie ein rotes Hemd. Kulturzentrum dieser Zeit, in Alexandria. Mit
den Eroberungszügen ALEXANDERS ab 334
Die Chemie der Elemente v. Chr. begann eine Zeit des Umbruchs. Die
Eroberungen erweiterten den geistigen Horizont
In der aristotelischen Chemie werden die vier der Griechen und führten zu intensiverem
Elemente durch die Gegensatzpaare warm/kalt Kontakt mit anderen Kulturen. Gleichzeitig
und trocken/feucht charakterisiert. Es handelt bedeutete der Niedergang der griechischen
sich nicht um Eigenschaften, die vom wahr- Stadtstaaten einen Verlust an Sicherheit.
nehmbaren Subjekt abhängig sind, sondern Beides gab unterschiedlichen geistigen Strö-
es sind essenzielle Eigenschaften der Elemente mungen Auftrieb. Es blühte Mystisches wie der
selbst. Nach ARISTOTELES verkörpern die ge- Hermetismus und in der Philosophie entstanden
wählten Gegensatzpaare jeweils das aktive und Lehren wie die Stoa und der Epikureismus, die
das passive Prinzip: Wärme trennt unterschied- das Streben nach innerem Frieden und Gelas-
liche Dinge und Kälte verbindet sie, beide Ei- senheit in den Mittelpunkt stellten. Weder Stoa
genschaften sind also aktiv. Trockenheit und noch Epikureismus hatten als philosophische
Feuchtigkeit sind passiv: Feuchtigkeit bedeutet Schulen nachhaltigen Einfluss, sie beeinflussten
beliebige Formbarkeit (man denke an weichen allerdings spätere naturphilosophische Vorstel-
Ton), Trockenheit bedeutet Abgegrenztheit und lungen über das Wesen der Welt. Auch der Plato-
Starrheit (man denke an trockenes Brot). Alle nismus entwickelte sich weiter zu dem, was man
anderen Gegensätze lassen sich laut ARISTO- heute als Neuplatonismus bezeichnet. Parallel
TELES darauf zurückführen. So ist das Grobe dazu wurde auch die Philosophie des ARISTOTE-
trocken, da es sich nicht in jede Form füllen LES, deren Anhänger Peripatetiker r genannt wurr-
lässt, das Feine feucht, da es sich leicht in jede den, weiterentwickelt. Sie bildete im Mittelalter
Form füllen lässt. das Fundament der Naturphilosophie.
Da sowohl die vier Elemente als auch die
vier Eigenschaften elementar für die Körper Die Welt aus dem Samen – die Stoiker
sind, stellt sich die Frage, wie sie kombiniert
werden können. Für ARISTOTELES war offen- Als Schulgründer der Stoa gilt ZENON VON
sichtlich, dass ein Element weder gleichzeitig KRITION aus Zypern (ca. 333/2 – 262/1 v. Chr.).
warm und kalt noch gleichzeitig trocken und Ihren Namen erhielt sie von Poikile Stoa, einer
feucht sein kann. Daraus und unter Zuhil- bunt bemalten Wandelhalle auf der Agora in
fenahme der offensichtlichen Affinität man- Athen, die von den älteren Stoikern als Schule
cher Eigenschaften und Elemente ergibt sich gewählt wurde.
Trocken Feucht „zwanglos“ das links beschriebe Schema. Die- Zentrales Prinzip der Stoa ist der Logos. Die
Warm Feuer Luft ses Schema war ein zentrales Fundament der menschliche Vernunft ist Teil dieses Logos. Der
Kalt Erde Wasser Chemie der Antike und des Mittelalters. Es Kosmos wird als beseelter Organismus verstan-
wurde erst im 17. Jahrhundert abgelöst durch den und ist ebenfalls dem Werden und Vergehen
einen pragmatisch definierten Elementbegriff: ausgesetzt. Er wird durch zwei Prinzipien regiert:
ein Element ist das, was man (zurzeit) nicht das Tätige und das Leidende (auch im Sinne von
weiter zerlegen kann. „erleiden", passiv sein). Die Materie wird mit
dem Leidenden assoziiert, Logos und Physis mit
dem Tätigen. Logos steht für die den Kosmos
Eine Zeit des Umbruchs lenkende Vernunft und Physis für das künstleri-
sche Feuer, das jeden Organismus entsprechend
Auch nach dem Tod von ARISTOTELES und eines im Samen angelegten Plans entwickelt. Die-
PLATONN bestanden das Lykeion und die Akademie ser Samen, der logoi spermatikoi, bewirkt, dass
weiter. Erst im Zuge des mithridatischen Krieges sich alles Geschehen in der Welt nach dem göttli-
88 – 86 v. Chr. zwischen römischem Reich und chen deterministischen Plan entwickelt. Wie der
dem kleinasiatischen Herrscher MITHRIDATES VI. göttliche Logos den Makrokosmos bestimmt, so
38
Erde, Wasser, Luft und Feuer
leitet die menschliche Vernunft das Denken und 6 Das Ganze ist unendlich.
Handeln des Mikrokosmos Mensch nach gött-
lichem Plan. So ist jedes Lebewesen mit jedem 7 Die Atome sind unendlich an Zahl, und die
anderen durch eine kosmische Sympathie ver- Leere ist unendlich an Ausdehnung.
bunden. Am Anfang gab es nur das künstlerische
Feuer (Physis), es wird in Verbindung mit dem 8 Die Atome von identischer Form sind un-
Vi b r at i o n e n : A to m e l öse n s i c h vo n de n
1 Nichts entsteht aus dem, was nicht ist. Gegenständen ab und treffen auf unsere Sinne.
2 Nichts löst sich auf in das, was nicht ist. Welt als Emanation – der Neuplatonismus
3-19
3 Das Ganze ist immer so gewesen, wie es PLOTIN (204 – 270 n.Chr.) gilt als der Schöpfer des Plotins Enneaden.
jetzt ist, und wird immer so bleiben. Neuplatonismus, seine Arbeiten fußen auf Gedan- Titelblatt der 1580 in Basel
nachgedruckten Enneaden
ken von AMMONIOS SAKKAS (175 – 242 n. Chr.)
in der lateinischen
4 Das Ganze besteht aus den Körpern und der und NUMENIOS VON APAMEIA
P A (Anfang zweites Jahr r- Übersetzung von MARSILIO
Leere. hundert), von denen wenig bekannt ist. FICINO. Die Schriften
Nach PLOTIN geht alles aus dem Einen hervor, PLOTINs wurden von
PORPHYRIOS, einem seiner
5 Es gibt zwei Arten von Körpern, Atome und dem schlechthin Guten. Es ist nicht das Sein oder Schüler, in den Enneaden
Atomzusammensetzungen (die Aggregate). der Geist, sondern steht über diesen. Das Eine zusammengefasst.
39
KAPITEL 3 Historischer Überblick
solange die Sonne existiert, ist der Geist notwen- im Wesentlichen zwischen dem ersten vorchristli-
dig da, weil das Eine da ist. Die Emanationen aus chen und dem fünften nachchristlichen Jahrhun-
dem Einen sind kein göttlicher Schöpfungsakt, dert. Die fiktive Figur stammt aus der Zeit nach
sondern zwangsläufig. Der Gegenpol des Einen der Eroberung Ägyptens durch ALEXANDER (332
ist die Materie. Auch sie ist nur negativ fassbar: v. Chr.) aus der Verschmelzung des ägyptischen
3-20 als Mangel an Gutem und an Form. Sie steht für Gottes Thot und des griechischen Hermes. Seinen
Thot. Der ibisköpfige Thot das Böse schlechthin: für das, dem alles Gute Beinamen Trismegistos erhielt HERMES erst im
galt in Ägypten als Gott abgeht. Der Geist ist die Ursache aller realen 2. Jahrhundert n. Chr.
der Weisheit.
Formen, die aus ihm emanieren. Auch die Welt- In der Naturphilosophie des Abendlandes
seele entspringt aus dem Geist und mit ihr die spielten besonders das Corpus Hermeticum und
Einzelseelen. Für PLOTIN ist die Seele das, was die später entstandene Tabula smaragdina eine
den Menschen ausmacht, seine Form. Der höhere prägende Rolle. Das Corpus Hermeticum ist
Teil der Seele ist mit dem Göttlichen verbunden heute noch in esoterischen Kreisen verbreitet,
und stellt die ewigen Formen dar, der niedere insbesondere wegen des umfassenden Welter-
Teil ist mit dem Körper verbunden und vermag klärungsversuchs, einer Theorie für Alles, sozu-
die realen Formen in der Welt wahrzunehmen. sagen (Å Kasten Tabula smaragdina).
Erkennen ist also Wiedererkennen der ewigen Aufgrund des symbolischen Bezugs zu den
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
Formen, die in uns sind. Elementen und der Anweisung zur Herstellung
Nachfolger PLOTINS verfeinerten die Ema- des „Lichts der ganzen Welt“ wurde die Tabula
nationslehre. Zwischen dem Einen, den Men- später als alchemistisches Rezept zur Herstellung
schen und seinen verschiedenen Vermögen des Steins der Weisen verstanden. Die Alchemie
und den anderen Dingen in der Natur wurden wurde sogar als die hermetische Kunst schlecht-
3-21
noch weitere Emanationsstufen eingefügt. Bei hin, die ars hermetica aufgefasst. Hermetische
Hermes-Merkur. Mittel-
alterliche Darstellung als APHRODISIAS finden wir die Zuordnung dieser Schriften beschreiben ein polares Bild des Kos-
Planet Stufen von Geist und Seele zu den Himmels- mos, in dem vor allem der platonisch-stoizistische
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Erde, Wasser, Luft und Feuer
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KAPITEL 3 Historischer Überblick
Schnittstellen zwischen der arabischen Welt und Schöpfer aus dem Nichts, sondern den Ord-
Westeuropa, über die das antike Wissen etwa ab ner der Materie, die er sich als unzerstörbare,
dem 10. Jahrhundert schließlich das Abendland schon immer existierende Atome vorstellte. Er
erreichte. Nach der Eroberung Toledos 1085 entwickelte auch einen abstrakten, an NEWTON
und der Einnahme von Sizilien 1091 wuchs die erinnernden Begriff des Raumes. Im Gegensatz
Zahl der Übersetzungen stark an und erreichte zu ARISTOTELES sah AL-RAZI den Raum als von
im 12. und 13. Jahrhundert ihren Höhepunkt. Körpern unabhängig an. ARISTOTELES hatte statt
GERARD VON CREMONA (1114 – 1187) verdanken des Raumes lediglich den Platz definiert, den ein
wir über 70 Übersetzungen, unter anderem von Körper einnimmt. Ein Platz ohne Körper konnte
EUKLID, PTOLEMÄUS, ARISTOTELES und GALEN. Er nach ARISTOTELES’ Vorstellung nicht existieren
übersetzte auch Werke von IBN SINA (AVICENNA) (da er einem Vakuum gleichkommt). Und wäh-
und des großen Mathematikers AL-CHWARI W ZMI, rend ARISTOTELES Zeit nur in Zusammenhang
von dessen Bezeichnung al-jabr (der Zwang) das mit Bewegung sah, war Zeit für AL-RAZI ein
Wort Algebra stammt und dessen Name für den von der Bewegung unabhängiger Begriff. Wegen
Algorithmus Pate stand. seiner philosophischen Ansichten wurde RHAZES
zu Lebzeiten und danach heftig angefeindet,
weshalb viele seiner philosophischen Schriften
Die islamische Wissenschaft nicht mehr erhalten sind.
AVICENNA entwickelte die neuplatonische
Während des Mittelalters war die islamische Emanationslehre weiter, in dem er die Welt
Wissenschaft dem Abendland weit voraus. Be- als kontinuierliche, notwendige Emanationen
griffe wie Algebra und Sternnamen wie Alde- Gottes betrachtete, anstelle eines willentlichen
baran sind arabischen Ursprungs und Gelehrte Schöpfungsaktes. Die Vorstellung einer kausalen
wie IBN SINA (AVICENNA, 980 – 1037) prägten Welt, in der Gott keine Einflussmöglichkeiten
die Medizin Europas bis zur Neuzeit. IBN SINA mehr besaß, wurde natürlich von vielen Seiten
ist sogar in einem Kirchenfenster des Mailän- angegriffen, unter anderem von den Ash’ariden,
der Doms verewigt. Und während im zehnten einer von ABU AL-HASAN AL-ASHARI (873 – 935)
Jahrhundert die Palastbibliothek der Fatimiden gegründeten theologischen Denkrichtung. Sie
in Kairo etwa 18 000 wissenschaftliche Bände sahen Gott als alleinige Ursache allen Gesche-
verzeichnete, enthielt die Vatikanbibliothek im hens an. Was wir Menschen als kausales Gesetz
15. Jahrhundert insgesamt weniger als 3000 wahrzunehmen glauben, ist permanentes Han-
Schriften. Mit dem Beginn der Neuzeit be- deln Gottes, das dieser jederzeit ändern kann. In
gann das Abendland allerdings aufzuholen, um ihrem Bestreben, die unmittelbare Wirkung Got-
schließlich alle anderen Hochkulturen technisch- tes auf das Geschehen in der Welt zu erklären,
naturwissenschaftlich hinter sich zu lassen. entwickelten die Ash’ariden einen Atomismus,
Eine umfassende Auseinandersetzung mit den der der epikureischen Variante ähnlich ist. Für
Ergebnissen der islamischen Wissenschaft und sie bestand die Welt aus identischen Atomen,
den Gründen ihrer Stagnation würde den Rah- die keine Ausdehnung besaßen und nicht kausal
men dieses Kapitels sprengen. Wir konzentrieren miteinander interagierten. Alle Interaktionen
uns auf ein Thema, das in unserem Kontext be- wurden durch Gott initiiert. Körper entstanden,
sonders relevant ist: den islamischen Atomismus. indem Gott Atome anordnete, aus zwei Ato-
men bildete er ein Linienelement, aus vier die
Gequantelt und dynamisch: kleinste mögliche Fläche und aus acht Atomen
der islamische Atomismus den kleinsten Körper. Zwischen den Atomen
bestand leerer Raum. Um den Argumenten ARIS-
Für den Philosophen, Alchemisten und Chefarzt TOTELES gegen den Atomismus entgegenzutre-
eines Bagdader Hospitals AL-RAZI (lat. Rha- ten, nahmen sie ähnlich wie EPIKUR an, dass
zes, ca. 865 – 923 oder 935) gab es nicht das nicht nur die Materie, sondern auch der Raum
Eine oder nur den einen Gott, sondern fünf und die Zeit diskontinuierlich ist; sie quantelten
universelle Prinzipien: den Schöpfer, die Seele, die Raumzeit, wie man heute sagen würde. Wenn
die Materie, Raum und Zeit. Ganz im Sinne Atome sich bewegten, so sprangen sie von einem
PLATONS sah AL-RAZI im Schöpfer nicht den Ort zum nächsten; unterschiedliche Geschwin-
42
Erde, Wasser, Luft und Feuer
digkeiten entstanden dadurch, dass Atome un- Materie, auch „Erste Materie“ oder materia
terschiedlich lange zwischen Sprüngen verharren prima genannt, ist bei ARISTOTELES abstrakt zu
konnten (die Zeit für den Sprung konnte nicht verstehen, da ja kein reales Ding in der Welt
variieren, da sie gequantelt war). ohne Form existieren kann. Die elementarsten
Der jüdische Philosoph MOSES MAIMONIDES Substanzen sind die vier Elemente, jedes Element
(1135 – 1204) machte auf die Schwächen dieses mit der ihm eigenen Form. Alle anderen Substan-
Ansatzes aufmerksam: Da die Atome eines sich zen sind entweder Verbindungen der Elemente
drehenden Mühlsteins am äußeren Rand eine oder Verbindungen anderer Substanzen.
höhere Geschwindigkeit haben als weiter innen,
müssen die äußeren offenbar länger zwischen Körperliche Form, das Abendmahl und
Sprüngen an einem Ort verharren. Dies müsste quantitas materiae
den Mühlstein auseinanderreißen, da sich innere
und äußere Atome voneinander weg bewegen. ARISTOTELES' Vorstellung einer eigenschaftslo-
Die Atomisten argumentierten, dass die Ver- sen Ersten Materie bereitete seinen Nachfolgern
bindung der Atome untereinander während der einiges Kopfzerbrechen. So war nicht klar, wo-
Drehung aufgelöst würde. Dass man dies nicht hin die Ausgedehntheitt als essenzielle Eigen-
erkenne, läge lediglich an der Unvollkommenheit schaft aller Körper gehört. Ist sie bereits der
unserer Sinne. MAIMONIDES’ Argument ist eine Ersten Materie zu Eigen oder wird sie erst über
Variation eines alten Problems, das im Mittelal- die Form vermittelt? Fragen dieser Art erhiel-
ter unter dem Namen Rota Aristotelis bekannt ten eine gewisse Brisanz durch das christliche
und viel diskutiert wurde. Es galt als ein Argu- Abendmahl. Das dabei gereichte Brot und der
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KAPITEL 3 Historischer Überblick
war, wie entstand die Form einer Verbindung wirkungen zwischen Substanzen wurden als
aus den Formen der Ausgangsstoffe? Und wie Wechselwirkungen zwischen deren kleinsten Teil-
entstanden nach dem Lösen der Verbindung die chen gedeutet und auch Eigenschaften wurden
Formen der Ausgangsstoffe wieder? minimale Größen zugeordnet – es handelte sich
3-25 Nahm man an, die Formen bleiben erhalten gewissermaßen um eine mittelalterliche Form der
Verbindungen und Form. und nur die Akzidenzien werden abgeschwächt, Quantelung. Die minima-naturalia-Lehre unter-
Die Trennung von Form
und Materie bereitete wie AVICENNA und THOMAS VON AQUIN dach- schied sich sehr wohl von Atomtheorien. Für die
große Schwierigkeiten bei ten, konnte man zwar begründen, warum eine Minimisten behielten Minima alle Eigenschaften
der Erklärung der Natur Verbindung wieder zu trennen war, aber wie der Körper, während in den Vorstellungen der
chemischer Verbindungen.
Es gab unterschiedliche
entstand die neue Form? Wenn andererseits so- Atomisten Atome keine Eigenschaften außer
Ansätze, um zu erklären, wohl Form als auch Akzidenzien abgeschwächt Größe, Gestalt und Bewegung besaßen (ÅTabelle
wie sich die Formen und wurden (AVERROES), war zwar eher nachvoll- 3-26). Mit Ausnahme weniger (u.a. GIORDANO
Akzidenzien (äußere
Eigenschaften) der Aus-
ziehbar, wie eine neue Form entstehen kann, BRUNO) waren die Anhänger von Korpuskular-
gangsstoffe zur neuen gleichzeitig wurde damit aber an der Unverän- theorien zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert
Form und den neuen derlichkeit der Form gerüttelt. Oft wurde die Minimisten und keine Atomisten.
Eigenschaften der Ver-
Abschwächung als reversibler Zwischenzustand
bindung zusammenfügen
und wie es möglich ist, zwischen Potenzialitätt und Aktualitätt der Form Physik und Chemie auf Basis der minima
dass die Ausgangsstoffe betrachtet (ÅMateria prima, die Elemente und naturalia
nach Trennung der Ver- ihre Verbindungen, Seite 37). Am radikalsten
bindung in gleicher Form
wiedergewonnen werden war der schottische Theologe und Philosoph Vor allem AGOSTINO NIFO (1473 – 1538), JACOPO
können. DUNS SCOTUS (ca. 1266 – 1308). Er ging davon ZABARELLA D. Ä. (1532 – 1589) und JULIUS CESAR
aus, dass die Formen der Ausgangsstoffe samt SCALIGER (1484 – 1558) ist die breitere Verwen-
ihren Akzidenzien zerstört wurden und eine dung der minimistischen Theorie im 16. Jahr-
neue Form entstand. Unklar blieb dabei, wie die hundert zu verdanken. Die Vorstellung kleins-
Ausgangsformen durch Lösen der Verbindung ter Teilchen erwies sich dabei als hilfreich für
wieder entstanden. die Konkretisierung der Natur und des Ablaufs
Es ist nachvollziehbar, dass dieses Dilemma stofflicher Veränderungen. So sollten laut NIFO
im Mittelalter nicht gelöst werden konnte. Im qualitative Veränderungen durch die Wirkung
Rahmen der minima-naturalia-Lehre entstan- eines Vermittlers (agens) sprunghaft erfolgen:
den zwar konkretere Vorstellungen über das
Entstehen und Lösen von Verbindungen, insge- Das Agens beginnt damit, ein Minimum quan-
samt hatte die formbasierte Verbindungstheorie titatis des Stoffes so zu verwandeln, daß diese
Veränderung mit einem „minimum qualitatis“
aber wenig Einfluss auf die Laborpraxis der übereinstimmt. Danach bewirkt das Agens die
mittelalterlichen Alchemisten (ÅVon der Al- gleiche Veränderung an einem zweiten Mini-
chemie zur Chemie, Seite 59), da sich kaum mum quantitatis, während inzwischen das erste
praktisch verwertbare Erkenntnisse daraus ge- Minimum quantitatis eine zweite Qualitäts -
winnen ließen. Und dennoch blieb die Vorstel- veränderung, die mit dem Minimum qualitatis
übereinstimmt erfährt...
lung von die Materie prägenden Formen bis ins
17. Jahrhundert hinein lebendig. Der zu dieser Man denkt dabei unwillkürlich an die Quanten-
Zeit bereits im Vormarsch befindliche neue Ato- theorie, bei der ein Lichtquant (minimum qualita-
mismus bediente sich oft weiterhin des Formbe- tis) ein Elektron (minimum quantitas) anregt und
griffs, da auf atomistischer Ebene noch nichts damit die Eigenschaften eines Atoms verändert.
44
Erde, Wasser, Luft und Feuer
3-26
Vorstellungen des Atomismus Vorstellungen der minima-naturalia-Lehre Minima-naturalia-Lehre
versus Atomismus. Beides
Atome sind unteilbar, undurchdringlich Minima naturalia sind teilbar, auch wenn sie dabei unter Umständen ihre waren Lehren von kleins-
und unveränderlich. Form verlieren. ten T
Teilchen, aber es gab
In Verbindungen treten Atome mitein- Unterschiede.
Minima naturalia verschmelzen in Verbindungen miteinander und bilden
ander in Kontakt, bleiben aber selbst
eine neue Form (später sprach man ihnen mehr Eigenständigkeit zu).
unverändert.
Atome haben keine Eigenschaften außer Die Eigenschaften der minima naturalia entsprechen denen des Körpers,
Größe, Gestalt und Bewegung. dessen Form sie bilden.
Atome sind die fundamentalen Bausteine Minima naturalia repräsentieren nur einen bestimmten Zustand der Ma-
der Natur. terie und sind lediglich „Formträger".
SCALIGER schuf eine minima-naturalia-Lehre der Obwohl vieles in den Ausführungen der Mini-
vier Elemente, bei der sich Teilchen vor allem misten an Atome erinnert, blieben sie den aris-
durch ihre Größe unterscheiden. Er nahm an, totelischen Vorstellungen treu. Man erkennt dies
Erdteilchen seien größer als Wasserteilchen, an den Ausführungen ZABARELLAS, bei denen die
diese größer als Luftteilchen und diese wiederum ursprünglichen Luft- und Erdteilchen sich nicht
größer als Feuerteilchen. Er versuchte durch die einfach verbinden, sondern zu einer neuen Form
Eigenschaften der jeweiligen Minima natura- verschmelzen. Sie selbst bleiben nur als unterge-
lia physikalische Eigenschaften der Körper wie ordnete, gebrochene Formen in der neuen Form
Brennbarkeit, Dichte und Feinheit zu erklären. bestehen.
Erde brenne deshalb so langsam, weil die Erd-
teilchen hundertmal größer sind als die Feuer- Wuxing
teilchen. Bei Erwärmung drängen Feuerteilchen
zwischen die größeren Teilchen der anderen Fünf Elemente im chinesischen Denken
Elemente, weshalb es zur Ausdehnung der Kör-
Ein Etwas gibt es, chaotisch und ganz;
per kommt. der Entstehung von Himmel und Erde geht es
Verbindungen entstehen nach NIFO und SCA- voran.
LIGER durch den Kontakt zwischen den Minima Still ist es und grenzenlos,
naturalia der Ausgangsstoffe. ZABARELLA ver- für sich allein, unwandelbar,
sucht das Wesen von Verbindungen auch quan- kreisend und nie sich erschöpfend.
Der Welt Mutter könnte ich es nennen.
titativ zu erfassen, in dem er die Eigenschaften
Ich kenne seinen Namen nicht,
der Elemente in diskreten Werten angibt: ich nenne es dao.
...
Soll eine Verbindung hergestellt werden, die zu Das dao brachte das Eine hervor.
sechs Graden zur Erdnatur und zu zwei Graden das Eine die Zwei und die Zwei die Drei.
zur Luftnatur gehört, müssen Erd- und Luft- und die Dreizahl brachte
partikel zusammenwirken. D.h. Luft reduziert die zehntausend Wesen und Dinge hervor.
die Erdnatur um zwei Grade... so dass sechs Die zehntausend Wesen und Dinge:
Grade übrig bleiben, während die dominante getragen vom yin, umhüllt vom yang
Erde sechs Grade von der Luftnatur abzieht, geeint durch durchdringendes qi.
womit zwei Grade übrig bleiben... D.h. sowohl (Daodejing, Vers 25 und 42)
Erd- als auch Luftteilchen wandeln sich zur
gleichen Natur, da beide durch sechs Grade
Erdnatur und zwei Grade Luftnatur geprägt Diese Sequenz aus dem Daodejing (auch Tao-
sind; und beide sind nicht länger Erde oder Te-King geschrieben) beschreibt die Entstehung
Luft, sondern etwas dazwischen wie Gold. der Welt aus Sicht des Daoismus, neben dem
Auf diese Weise wird jeder Teil der Verbin-
Konfuzianismus die einflussreichste philosophi-
dung zur Verbindung... Die zerbrochenen und
beschädigten Formen wandeln sich in einen sche Schule des alten China. Die Entwicklungs-
dazwischenliegenden Zustand, dessen Form geschichte der chinesischen Philosophie ist nicht
dem Gold entspricht. weniger vielschichtig als die abendländische, es
45
KAPITEL 3 Historischer Überblick
standen jedoch andere Fragen im Vordergrund che? Woher wissen wir, ob das Gleiche gemeint
und damit ergaben sich auch andere Antwor- ist? Wir werden in den folgenden Abschnitten
ten. Schon zu KONFUZIUS’ Zeiten im 6. Jahr- deshalb etwas weiter ausholen müssen, um die
hundert vor Christus, aber stärker noch in den chinesischen Materievorstellungen zu verstehen.
darauf folgenden Jahrhunderten, war Einheit
und Stabilität des chinesischen Reiches ein zen- Dao – das Apeiron des Ostens
trales Thema philosophischer Überlegungen.
In einer für abendländisch geprägte Menschen Trotz vieler Unterschiede in der
ungewohnten Weise wurde Organisation und chinesischen und abendländischen
Zustand des Staates in Beziehung gesetzt zu Philosophie gibt es auch Verwand-
Organisation und Zustand des Universums. Ent- tes. So steht Dao ( ), ein Begriff
wicklungen auf der einen Seite korrelierten mit der „Weg“ oder „Prinzip“ bedeutet, für die
Entwicklungen auf der anderen. Konsequenter- höchste Wirklichkeit und das Eine, aus dem alles
weise wurde astronomisches Wissen zeitweise entsteht. Dao ist vergleichbar mit dem Apeiron
in den Rang eines Staatsgeheimnisses erhoben. des ANAXIMANDER (ÅGrenzenloses und Unver-
Auch die natürliche Abfolge von Dynastien gängliches – ANAXIMANDER und PARMENIDES,
wurde in Bezug gesetzt zu zyklischen Prozessen Seite 32). Wie die griechische Philosophie
in der Natur. Das Denken des Abendlandes war versuchte auch die chinesische zu erklären, wie
kausal orientiert und das Handeln der Men- aus Einheit das Viele und das Individuelle ent-
schen zielgerichtet und linear: Alles strebte zur stehen kann und wie Veränderung in der Welt
Erlösung. Das chinesische Denken war hinge- entsteht. In der Bedeutung eines umfassenden
gen zyklisch: Auf den Menschen wartete keine Einen erscheint Dao im Daodejing g (De steht für
Erlösung, er war als Individuum Episode im Kraft oder Tugend, Jing für eine Textsammlung
Kreislauf von Staat und Universum. Statt der oder Leitfaden), einem Werk, das LAOZI (LAOTSE,
Suche nach Wahrheit und Ursachen stand Har- chin. alter Meister) verfasst haben soll. LAOZI
monie im Fokus des chinesischen Denkens. Die soll im 6. Jahrhundert v. Chr. gelebt haben, doch
Frage war weniger, durch welches Handeln ein möglicherweise war er nur eine legendäre Figur.
vorgegebenes Ziel erreicht wird, sondern wann
Handeln Erfolg im Einklang mit dem Universum Die Polarität der Welt
sichert. Diese Weltanschauung förderte etwas,
was heute im Westen systemisches Denken ge- H ell – dunkel, hart – w eich, trocken – nass,
nannt wird: das Denken in Beziehungen anstatt warm – kalt: es waren die gleichen erlebten Po-
in Kausalketten und Zweifel an der Existenz laritäten wie im Abendland. Und auch die Idee,
„objektiver“ Standpunkte oder Wahrheiten. So dass Polarität wesentlich ist für Strukturbildung
wenig wie das Gegensatzpaar objektiv-subjektiv und Dynamik, ist in beiden Kulturkreisen prä-
zum Kern des chinesischen Denkens gehört, so sent. Und dennoch ging man getrennte Wege.
wenig entwickelten sich andere Dualitäten wie Den Weg des Abendlandes kann man charak-
die Trennung von Geist und Materie oder von terisieren als Trennung zwischen Substanz und
Substanz und Eigenschaft. Eigenschaft. So spricht RENE DESCARTES (ÅRes
cogitans und res extensa – DESCARTES, Seite
54) von einer geistigen und einer materiellen
Vom Wandel in der Welt Substanz, letztere hat als einzige fundamentale
Eigenschaft die Ausdehnung. Mit deren Hilfe
versucht er die Wechselwirkungen der materiel-
Eine Quelle nicht nur sprachlicher len Dinge zu erklären. Im chinesischen Denken
Missverständnisse stand dagegen die Wechselwirkung selbst im
Vordergrund, die Vorstellung einer unverän-
Wenn wir über den Materiebegriff in der chine- derlichen Substanz, der bestimmte Eigenschaf-
sischen Naturphilosophie reden, müssen wir uns ten anhaften, findet sich kaum. Aus dem Dao
die oben beschriebenen Unterschiede im Denken entsteht weder „Materie“ noch „Geist“. Das
vor Augen halten. Gibt es überhaupt einen ent- Dao manifestiert sich vielmehr in den beiden
sprechenden Begriff in der chinesischen Spra- Prinzipien Yin ( ) und Yang ( ), die für
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Erde, Wasser, Luft und Feuer
alle Polaritäten stehen (ÅAbbildung 3-27). Sie Qi mit der energetisch-materiellen Natur wird
sind allerdings nicht statisch, sondern gehen in gern als Bestätigung der Nähe chinesischer
einem ewigen Kreislauf ineinander über. Und Lehren zur modernen Physik gesehen,
so, wie das Verhältnis zwischen Yin und Yang es handelt sich jedoch um eine rein i
wechselt, so wechseln Jahreszeiten, Lebenspha- begriffliche Analogie, die sich dank
sen und Herrscherdynastien. Und auch wuxing, der Universalität des Begriffs „Ener-
die fünf Elemente Wasser, Erde, Holz, Feuer und gie“ leicht bilden lässt. Die dem Qi
Metall, sind keine unveränderlichen oder gar zugeordneten Eigenschaften haben
unteilbaren Substanzen, sondern verwandeln wenig gemein mit der Physik von
sich ineinander getreu dem Verhältnis von Yin Materie und Energie.
und Yang, weshalb man sie korrekter als Wand-
lungsphasen übersetzt. Wuxing – die fünf
Wandlungsphasen
Qi und Taiji
T
Im Gegensatz zu den vier Elementen Erde,
Neben Dao und Yin-Yang gibt es Wasser, Feuer, Luft handelt es sich bei den 3-27
noch weitere zentrale Begriffe, die chinesischen Elementen Holz (mu, ), Feuer Yin und Yang. Diese Prin-
zipien stehen für alle Po-
die chinesische Philosophie von den (huo, ), Erde (tu, ), Metall (jin, ) und
laritäten in der Welt. Das
frühen Anfängen an durchziehen: Wasser (shui, ) nicht um unveränderliche Taijitu (chin., Diagramm
T
Qi ( ) und Taiji ( ). Taiji kennt man im Substanzen, sondern um dynamische Zustände des Höchsten) symbo-
lisiert das rhythmische
Westen als Schattenboxen, einer chinesischen des Qi, weshalb man sie treffender als „Wand-
Wechselspiel und die ge-
Kampfkunst, die auf Taiji – Prinzipien beruht lungsphasen“ übersetzt. Erste Zeugnisse über genseitige Durchdringung
und eigentlich Taijiquan (auch Tai Chi Chuan) Wuxing ( ) kennt man bereits aus dem von Yin und Yang.
heißt. Taiji steht für das Höchste und wird in 8. Jahrhundert v. Chr. Eine Systematisierung
vielen Kontexten im gleichen Sinn wie das Dao der Lehre von Yin, Yang und Wuxing geht auf
gebraucht. Taiji vereint die Polaritäten Yin und ZOU YAN (ca. 305 – 240 v. Chr.) zurück. In den
Yang und seine Bewegungen induzieren den folgenden Jahrhunderten entwickelte sich das
Wechsel zwischen beiden. Bewegt sich das Taiji, Wuxing-Konzept zu einem zentralen Pfeiler
so produziert es Yang, ist es in Ruhe, produziert der chinesischen Philosophie. Es diente in der
es Yin. Die zyklische Bewegung und die Verei- Chemie als Erklärungsmodell für chemische
nigung von Yin und Yang im Taiji wird durch Reaktionen, in der Medizin als Modell für
das bekannte Taijitu – Symbol dargestellt, das Krankheits- und Heilungsprozesse, in der Poli-
allerdings erst seit dem 16. Jahrhundert verwen- tik als Modell für situationsgerechtes Handeln
det wird (ÅAbbildung 3-28). und Herrschaftszyklen, im Feng Shui als Mo-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
Der Begriff Qi wird meist als Energie oder, dell für die Gestaltung von Orten in Harmonie
spezieller, als Lebensenergie übersetzt. In seiner mit den Elementen und schließlich auch als
ursprünglichen Bedeutung erinnert es an das Weissagungsinstrument. Sein Charme bestand
griechische Pneuma, das alles durchdringt und darin, dass es universelle, einleuchtende Erklä-
nicht materieller, sondern universeller Natur rungsmuster für die Dynamik der Welt lieferte.
ist. Der große chinesische Philosoph ZHU XI Moderne Theorien über komplexe Systeme in 3-28
Taijitu. Das Yin-Yang-
(auch Chu Hsi, 1130 – 1200) trennte formbil- Chemie, Biologie oder Soziologie nutzen diese Symbol wie wir es ken-
dende und materielle Aspekte und identifizierte Erklärungsmuster ebenfalls, allerdings in spezi- nen (Abbildung 3-27)
Qi mit etwas, was man heute wohl mit dem fischen, mathematischen Formulierungen. ist wesentlich jünger als
die Lehre von Yin und
Begriff Materie-Energie verbinden würde. Yin Die Dynamik der Welt folgt der Wandlung
Yang. Eine frühe Form
und Yang sind die zwei Zustände des Qi und der Elemente ineinander über zwei zyklische (a) stammt von LAI ZHIDE
da alles durch die Dynamik dieser Polaritäten Prozesse, den Produktions- und den Eroberungs- (1525 – 1604) aus der
Ming-Dynastie. Aus dem
entsteht und vergeht, ist alles Qi, wenn auch zyklus. Im Produktionszyklus erzeugt ein Ele-
5. Jahrhundert ist das
in unterschiedlicher Form (Li). Zu Beginn des ment das ihm folgende: Holz erzeugt Feuer (es Symbol als Wappen rö-
Lebens empfangen wir das Qi des Himmels, wir ist leicht brennbar), Feuer erzeugt Erde (Asche), mischer Militäreinheiten
nehmen es auch auf, wenn wir atmen und wir Erde erzeugt Metall (es befindet sich in der Erde) (b, 2. Reihe von unten)
bekannt. Auch aus dem
altern, weil sich unser Lebens-Qi verbraucht. und Metall erzeugt Wasser. Dieses Muster ent- Keltischen kennt man
Die auf ZHU XI zurückgehende Identifikation des spricht der Abfolge der Jahreszeiten: Im Frühling ähnliche Formen.
47
KAPITEL 3 Historischer Überblick
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Erde, Wasser, Luft und Feuer
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KAPITEL 3 Historischer Überblick
Welch gewaltiger Perspektivwechsel in dieser Epoche statt- Ganz anders das Titelblatt zu FRANCIS BACONs (1561 – 1626)
fand, wird bei der Gegenüberstellung von Bildern aus dem unvollendetem Hauptwerk Instauratio magna, in dem er un-
13. und 17. Jahrhundert deutlich. Als Sinnbild mittelal- ter anderem seine neue wissenschaftliche Methode darstellt.
terlichen Weltverständnisses kann eine Abbildung DANTE Es zeigt den Weg hinaus durch die Säulen des Herkules bei
ALIGHIERIs (1265 – 1321) göttlicher Komödie dienen. DANTEs Gibraltar in den endlosen Ozean; ein Weg zu neuen Ufern,
Dichtung beschreibt seinen Weg von der Erde über die Stufen von dem man zurückkehrt mit fremden Gütern und neuen
der Hölle zum Fegefeuer und von dort über die Himmels- Erkenntnissen. BACONs Welt ist nicht festgefügt und endlich,
sphären zum Paradies. Seine Welt ist in Stufen eingeteilt, sie erscheint grenzenlos und Neugier ist keine Sünde mehr
alles hat seinen Platz, jede Sünde eine bestimmte Strafe. Gott wie noch im Mittelalter, sondern eine Tugend.
ist oben, der Teufel im Mittelpunkt der Erde, es gibt Gut und
Böse. Die Welt ist theozentrisch und endlich.
3-30 3-31
Dantes Göttliche Komödie. Zu neuen Ufern. Das Titelblatt
DANTEs Dichtung über Hölle, zu FRANCIS BACONs Hauptwerk
Fegefeuer und die himmlischen aus dem frühen 17. Jahrhundert
Sphären repräsentiert die wohl- zeigt die Säulen des Herakles bei
geordnete, endliche Welt des Gibraltar, das T
Tor zur Weite des
Mittelalters. Zentrum der Nord- atlantischen Ozeans.
halbkugel ist Jerusalem. Von dort
geht es hinab zur Hölle (Hell) und
wieder hinauf zum Fegefeuer
(Purgatory), das auf der Südhalb-
kugel Jerusalem gegenüber liegt.
Es folgen das irdische Paradies,
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
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Erde, Wasser, Luft und Feuer
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KAPITEL 3 Historischer Überblick
über Monde, also gibt es Himmelskörper, die was veranlasste die Planeten dazu, um die Sonne
nicht um die Erde kreisen, und der Mond hat zu kreisen wie KOPERNIKUS behauptete und was
Berge, ist also der Erde ähnlicher als dem Him- bewirkte den Fall aller Körper in Richtung
mel. Auch die Sonne ist keineswegs makellos, Erdmittelpunkt? Zwei Namen sind besonders
sondern zeigt Flecken. mit dem Sturz des scholastischen Weltbildes
aristotelischer Prägung verbunden: JOHANNES
Keine Angst vor dem Vakuum KEPLER (1571 – 1630) und GALILEO GALILEI, der
erkannte, dass die Beschleunigung beim freien
Noch ein als unverrückbar geltendes antikes Fall Folge einer Krafteinwirkung war. KEPLER
Prinzip sollte im Lauf des 17. Jahrhunderts fal- hingegen suchte nach einem Kraftbegriff, der
len: die Vorstellung, dass die Natur ein Vakuum mit seinen Gesetzen der Planetenbewegung kom-
nicht zulässt, den horror vacui. patibel war.
Noch GALILEI glaubte 1638 an dieses Prinzip, Einen anderen Weg ging kurz darauf RENÉ
versuchte jedoch bereits, dieses Widerstreben DESCARTES. Für ihn reduzierten sich Kräfte auf
der Natur quantitativ zu bestimmen. Es sollte Stoßprozesse zwischen kleinsten Teilchen, die
allerdings noch zwei Jahrzehnte dauern bis sich den Raum lückenlos ausfüllen. Kräfte sind keine
durch Versuche von EVANGELISTA TORICELLI realen physikalischen Entitäten. Für DESCARTES
(1608 – 1647), BLAISE PASCAL (1623 – 1662), existierten die ausgedehnte Materie (res extensa),
EDME MARIOTTE (1620 – 1684) und ROBERT BO- die Bewegung und der Geist (res cogitans), sonst
YLE (1627 – 1691) die Vorstellung durchsetzte, nichts (ÅRes cogitans und res extensa – DESCAR-
dass zumindest ein luftleerer Raum existieren TES, Seite 54).
kann, in dem kein Feuer brennt, der von Schall
nicht durchdrungen wird und in dem Tiere Gravitationskraft und Trägheit
verenden. Dass der äußere Luftdruck für den
Widerstand gegen das Vakuum verantwortlich Wenn die kreisförmige Bewegung der Planeten
ist, wurde ebenfalls erkannt und unter anderem keine „natürliche“ ist, so muss es einen äu-
durch OTTO VON GUERICKES (1602 – 1686) spek- ßeren Zwang geben, der sie auf Kreisbahnen
takulären Versuch 1654 auf dem Reichstag in hält. Und wenn es keinen „natürlichen“ Ort der
Regensburg demonstriert (Å Abbildung 3-34). Körper gibt, so bedarf es ebenfalls eines äußeren
3-34
Magdeburger Halbkugeln. Zwangs, der sie zum Fallen bringt. Zwangsbe-
Der Magdeburger Bürger- Aristoteles’ Fall wegungen setzten aber einen Beweger voraus,
meister OTTO V. GUERICKE eine vis anima. KEPLER durchbrach diese seit der
(1602 – 1678) demons-
trierte 1654, dass man Trotz der im Mittelalter bereits erfolgten Modi- Antike geltende Trennung zwischen Bewegtem
zwei leergepumpte, anei- fikationen der peripatetischen Mechanik fehlte und Beweger, zwischen aktivem und passivem
nander gesetzte metallene auf diesem Gebiet noch der entscheidende Element. Für ihn war Anziehung wechselsei-
Halbkugeln auch mit 16
Pferden nicht auseinander Durchbruch. Wenn es keine „natürlichen“ Orte tig: So wie die Erde einen Stein anzieht, wirkt
reißen kann. und „natürliche“ Bewegungen der Körper gab, dieser auch auf die Erde. Und so wie die Erde
den Mond und die Ozeane anzieht, wirkt der
Mond auf die Ozeane und erzeugt den Wechsel
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
Sein Magnetmodell der Gravitation ist das erste fallen gleich schnell, weil pondus und moles
rein mechanische Modell der Gravitationskraft einander proportional sind.
und der Planentenbewegung, das ganz ohne
die Annahme „natürlicher“ Bewegungen und
bewegender Seele auskam. Galileo Galilei – die Geburt der
KEPLER nahm an, dass beim Wegfall der
modernen Mechanik
antreibenden Gravitation jeder Körper aus ei-
ner Bewegung zur Ruhe kommt. Trägheit, oder GALILEIS Hauptwerk, die Unterredungen und
„inertia“ (von lat. iners, träge), wie es KEPLER mathematischen Demonstrationen über zwei
nannte, war also das Bestreben eines Körpers, Wissenszweige, die Mechanik und die Fall-
zur Ruhe zu kommen. Zu KEPLERs Zeit hatten gesetze betreffendd ist in mehrfacher Hinsicht
sich andere schon von dieser Vorstellung ge- wegweisend für die Physik: Es ist nicht in La-
trennt und gingen davon aus, dass Trägheit dazu tein, sondern in Italienisch geschrieben, seine
führt, dass ein Körper eine einmal gewonnene Sprache ist klar verständlich und es ist ein aus
Geschwindigkeit beibehält. So nahm der Nieder- heutiger Sicht modernes Werk, das detailliert be-
länder ISAAC BEECKMAN (1588 – 1637) an, dass schriebene Experimente und zugehörige Theorie
die Gravitation wie kleine Stöße wirkt, die einem miteinander verbindet. Da GALILEI seit seinem
Körper einen Geschwindigkeitszuwachs erteilen, Inquisitionsprozess 1633 unter Hausarrest stand
der auch erhalten bleibt. Durch fortwährende und nichts veröffentlichen durfte, erschienen
Stöße während des Falls kommt es zu einer lau- die Unterredungen 1638 zunächst bei LOUIS
fenden Geschwindigkeitserhöhung. Im Grenzfall ELSEVIER im holländischen Leiden, vier Jahre
immer kleinerer Zeitintervalle und Stöße erhält vor GALILEIS Tod.
man durch dieses Bild das von GALILEI aufge-
stellte Fallgesetz. BEECKMANS Stoßmodell inspi- Wann Balken brechen
rierte auch DESCARTES, der die inertia ablehnte,
da Ausdehnung für ihn die einzige Eigenschaft Neben seinen astronomischen Entdeckungen
eines Körpers war. gilt GALILEI zuallererst als Entdecker der Fallge-
Zu KEPLERs und GALILEIs Zeiten existierte setze. Weniger bekannt sind seine ausführlichen
53
KAPITEL 3 Historischer Überblick
viele unendlich kleine Teilchen endliche Körper geschieht, in dem mehr und mehr unendlich
unterschiedlicher Größe bilden können. Wenn kleine Leerstellen zwischen die Teilchen gescho-
zwei Körper beide aus unendlich vielen Teilchen ben werden. Auf ähnliche Weise schmilzt ein
bestehen, wie können sie dann verschieden groß fester Stoff. Die unendlich kleinen Feuerteilchen
sein? Anhand der beiden unendlichen Mengen drängen sich in die Leerstellen, wodurch die
der Quadrat- und der natürlichen Zahlen macht Kraft des Vakuums reduziert wird, der Stoff löst
er anschaulich klar, dass bei unendlichen Men- sich in seine kleinen Teilchen auf. Beim Festwer-
r
gen Größenvergleiche nicht funktionieren. Eine den verschwinden die Feuerteilchen wieder aus
3-36 formale Theorie der Mächtigkeit unendlicher den Zwischenräumen (ÅAbbildung 3-36).
Feuerteilchen. Feste Mengen wurde erst Jahrhunderte später von Indem GALILEI unendlich kleine Teilchen und
Körper schmelzen, weil GEORG CANTOR, dem Vater der Mengenlehre, unendlich kleine Zwischenräume annimmt, um-
die kleinen Feuerteilchen
in die unendlich kleinen entwickelt. GALILEI glaubt, dass für die Festigkeit geht er die Argumente ARISTOTELES gegen Atome
Zwischenräume eindrin- der Körper der Widerstand der Natur gegen das und das Vakuum. Die unendlich kleinen Teilchen
gen. Dadurch können sich Vakuum, der horror vacui verantwortlich ist. entstehen nicht durch fortwährende Teilung,
die T
Teilchen auseinander
bewegen, ohne dass ein
Diese Kraft sorgt für den Zusammenhalt der bis unteilbare Teilchen übrigbleiben. Auch das
Vakuum entsteht. unendlich kleinen Teilchen. Diese sind nämlich Vakuum existiert nicht als ein Stück unteilbarer
durch unendlich kleine Leerstellen voneinander Raum, die Leerstellen zwischen den Teilchen
getrennt. Die Kraft des Vakuums verhindert, haben keine messbare Ausdehnung. GALILEI ge-
dass sich diese Leerstellen vergrößern. lingt es, mit den Begriffen unendlich viell und
Flüssigkeiten sind Stoffe, deren unendliche unendlich klein so geschickt umzugehen, dass er
kleine Teilchen frei beweglich sind. Verdünnung alle Gegenargumente unterlaufen kann.
Galileis Festigkeitslehre
Res cogitans und res extensa –
DESCARTES
GALILEI ging davon aus, dass Körper starr
sind, das heißt, sie verändern ihre Form nicht RENÉ DESCARTES (1596 – 1650) berühmtester Satz
unter Belastung. Nur unter dieser Bedingung ist zweifellos das Cogito ergo sum, zu Deutsch:
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
gelten die Formeln GALILEIs. So kommt er Ich denke, also bin ich. Die Popularität dieses
zu dem Schluss, dass die maximale Länge, Satzes lässt sich kaum besser illustrieren als durch
die ein Draht haben kann, bevor er durch seine Verwendung in Medien, die eher selten
sein Eigengewicht reißt, nicht von dessen mit Philosophie assoziiert werden: Werbung und
Dicke abhängt. Dies trifft zu, wenn die (ma- Comics (ÅAbbildung 3-37/38).
3-37
terialabhängige) Reißfestigkeit proportional Der wahre Antrieb DESCARTES, der ihn zu diesem
Asterix denkt. In Asterix
der Legionär stellt Obelix zum Durchmesser des Drahtes ist. Da sich Satz führte, war der Zweifel. DESCARTES ging es
ganz im Sinne Descartes’ ein Draht aber unter Belastung dehnt und darum, herauszufinden, was wir sicher wissen
klar, welche Rolle Asterix damit sein Durchmesser abnimmt, wird er können. Er stellte fest, dass wir an der Existenz
und er einnehmen.
wesentlich früher reißen. Nach GALILEIs Be- von allem zweifeln können, nur nicht am Zwei-
rechnungen sollte ein Kupferdraht bei einer fel selbst. Da der Zweifel ein Produkt unseres
Länge von 4800 Ellen reißen, da ein Draht Denkens ist, ist zumindest unser Geist real – co-
von einer Elle Länge maximal 600 Unzen gito ergo sum. Da wir darüber hinaus Gott als
trägt und selbst 1/8 Unze schwer ist. vollkommenes Wesen denken können, muss er
GALILEI nahm an, dass der horror vacui, existieren. Die Wirkung – nämlich unser Denken
das Widerstreben der Natur gegen das Va- an Gott – kann ja nicht größer sein als deren Ur-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
kuum, für den Zusammenhalt der Materie sache – also Gott selbst. Wenn Gott vollkommen
verantwortlich ist. Die Vakuumkraft ist es, ist, so wird er uns auch nicht täuschen wollen,
die verhindert, dass ein Kupferdraht reißt. das heißt, die Außenwelt ist keine Illusion, son-
Da nun eine Wassersäule ab einer Höhe von dern real, ebenso wie unsere Vorstellungen über
achtzehn Ellen abreißt, Kupfer aber neunmal Logik und Mathematik und allem, was unserem
3-38 schwerer ist als Wasser, sollte die Vakuum- Geist evident erscheint, also vernünftig g ist. Wenn
iMac ist für Denker. Auch
für Werbung nutzt man kraft so stark sein wie das Gewicht von zwei aber unsere Vernunft sicheres Wissen vermittelt,
DESCARTES. Ellen Kupfer, also ¼ Unze. so bedeutet Forschen, die allgemeinen Prinzipien
54
Erde, Wasser, Luft und Feuer
zu finden, die den Naturerscheinungen zugrunde laufen unsere Beine? Es ist keine Kraft bekannt,
liegen. Die Überzeugung, dass es solche Grund- die derartige Wechselwirkungen vermittelt.
prinzipien hinter allen Naturerscheinungen gibt
und dass sie so real sind wie die Erscheinungen Konsequent mechanisch –
selbst, bezeichnet man als Rationalismus (lat. Descartes Erklärung der Welt
ratio, Vernunft). Hier steht DESCARTES im Gegen-
satz zu angelsächsischen Philosophen wie JOHN DESCARTES legte weniger Wert auf empirische
LOCKE (1632 – 1704), für die alle Erkenntnis auf Bestätigung als auf das Entdecken der Grund-
Erfahrung beruht, es mithin kein sicheres Wissen prinzipien natürlicher Vorgänge. Er ging der
gibt. Obwohl sich Naturwissenschaft heute längst Frage nach, wie denn die res extensa strukturiert
auf einer eher pragmatischen Position zwischen sei und wie ihre vielfältigen Erscheinungsformen
dem Empirismus LOCKEs und dem Rationalismus auf der Erde und im Himmel erklärt werden
DESCARTES befindet, kann man noch heute in der können. Er entwickelte eine Korpuskulartheorie
zeitgenössischen Philosophie Frankreichs bezie- der Materie, die wenig gemein hatte mit den
hungsweise Englands und Amerikas diese Tren- Atomtheorien seiner Zeit (ÅVon Minima Natu-
nungslinie spüren, insbesondere bei der Frage ralia zu Atomen, Seite 64). Ihr Schwerpunkt
nach dem Verhältnis zwischen Körper und Geist. lag in der konsequenten Anwendung rationaler
Prinzipien zur quantitativen Beschreibung der
Nicht aus einem Stoff gemacht – Welt. Dazu gehört bei DESCARTES auch die Ab-
Körper und Geist sage an den leeren Raum, das Universum ist bei
ihm vollständig mit Materie gefüllt. Wie aber
Im Gegensatz zur Gewissheit unseres Geistes können sich Körper bewegen, wenn kein Zwi-
können wir an der Existenz unseres Körpers schenraum existiert? Hier entwirft DESCARTES
zweifeln, wie uns Träume zeigen. In Träumen einen Kosmos aus drei unterschiedlichen Ma-
tun wir im Geist Dinge, ohne dass sich unser terieformen, die zusammen dicht gepackt und
Körper rührt. Es gibt also offenbar einen Unter- dennoch beweglich sein sollen. Die erste Form
schied zwischen beiden. Für DESCARTES war die besteht aus sehr kleinen, schnellen Teilchen, die
Ausgedehntheit die einzige Eigenschaft, die wir zweite aus kugelförmigen, die sich langsamer
Körpern sicher zusprechen können. Neben dem bewegen und die dritte aus grobkörnigen, sich
Geist, der res cogitans, gibt es also noch die res ebenfalls nur langsam bewegenden Teilchen.
extensa, die ausgedehnte Substanz. Und Aus- Natürlich unterscheiden sich die drei Materie-
dehnung impliziert Bewegung, nämlich dann, formen nicht stofflich, sondern nur durch ihre
wenn sich das Ausgedehnte von einem Ort zum Ausdehnung.
anderen bewegt. Alle anderen Phänomene, auch DESCARTES
R beschreibt, wie Kosmos und Erde
die Grundqualitäten Nass, Trocken, Warm und und alle Stoffe entstehen konnten: Zu Beginn des
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
Kaltt der antiken Philosophie, sollten auf die Universums war die Materie in gleich große, sich
Ausgedehntheit und die Bewegung der Körper gegeneinander bewegende Teile geteilt, aus denen
zurückgeführt werden, also auf die Mechanik. durch Bewegung mit der Zeit kleine, schnelle und
Die Zweiteilung zwischen Geist und Kör- mittlere bis große, langsame Körper entstanden.
per, der sogenannte Dualismus, prägte lange Aus den anfangs beliebig geformten Körpern
3-39
Zeit die Philosophie des Geistes. Für manche bilden sich so mit der Zeit kugelförmige Teilchen, Der Kosmos als Wirbel-
Philosophen bildete er die Basis für Argumente deren Kanten durch ständiges Aneinanderstoßen geflecht. Der Himmel ist
gegen die Materialisierung des Geistes. Aufbau abgeschliffen werden. Die entstehenden Split- ausgefüllt von Materiewir-
beln, wobei sich im Zen-
und Funktion des Gehirns könne niemals Geist ter bilden die feinsten Teilchen und füllen die
trum eines jeden Wirbels
erklären. Auf der Gegenseite standen Materialis- Zwischenräume aus. Größere Stücke bleiben als (L, C, S, O, K) die feine
ten, die keinen Grund dafür sahen, eine zweite dritte Form zwischen den Kugeln und Splittern erste Materie sammelt
und die Sonne (S) und Fix-
Substanz einzuführen, um Geist zu erklären. bestehen. Der Kosmos ist lückenlos, aber nicht
sterne bildet. Die Wirbel
Geistige Tätigkeit ist ihrer Ansicht nach eine gleichmäßig ausgefüllt mit diesen Formen. Er rotieren längs der Achsen
Folge von Zustandsänderungen unseres Gehirns. besteht aus riesigen Wirbeln, in deren Mitte je- AB, TT,
T ZZ usw. Materie
Ein fundamentales Problem des Dualismus ist weils ein Stern steht (ÅAbbildung 3-39). Die Erde wird immer an den Polen
der Drehachsen (A, B, T
die Frage, wie denn die geistige Substanz auf die und andere Planeten bestehen aus Zusammenbal- usw.) zwischen den Wir-
körperliche wirke. Wie bewegt unser Wille zu lungen der grobkörnigen Teilchen, durch deren beln transportiert.
55
KAPITEL 3 Historischer Überblick
56
Erde, Wasser, Luft und Feuer
direktes Wirken Gottes. Auch schien es ihm dass die Fliehkraft eines Körpers von dessen Sub- Beschleunigungsprinzip
unmöglich, Leben, seine Entstehung und die stanzmenge abhing. Da man aber zu dieser Zeit Durch einwirkende Kräfte
Fortpflanzung allein durch die unorganisierte meist in Verhältnissen dachte statt in absoluten erfährt ein Körper eine
Beschleunigung, die der
Bewegung von Materiepartikeln zu erklären, Größen, war es in der Regel gleichgültig, ob man Kraft proportional ist und
eine andere Kraft, eine Art Spirit (Geist) musste Gewichts- oder Masseverhältnisse verwendete. deren Richtung besitzt:
dafür verantwortlich sein. NEWTON sah in den Allerdings wusste man seit 1671 durch Versuche Kraft = Masse · Beschleuni-
gung. Zu Ehren Newtons
allegorischen Beschreibungen der Alchemie von JEAN RICHTER, dass das Gewicht eines Kör- wird die Einheit der Kraft
(ÅVon der Alchemie zur Chemie, Seite 59) pers nicht konstant war, sondern davon abhing, Newton (N) genannt.
den Schlüssel zu einem tieferen Verständnis der wo man sich auf der Erde befand. RICHTER stellte
Welt und entwickelte alchemistische Hypothe- bei astronomischen Messungen in Cayenne fest, 3. Newtonsches Gesetz
sen, die sich an stoizistisches und hermetisches dass seine mitgebrachten Pendeluhren zweiein-
Gedankengut anlehnten (Å Geheimnisvoll – Der halb Minuten pro Tag nachgingen. Da die Pen- Wechselwirkungsprinzip
(actio = reactio)
Hermetismus, Seite 40). dellänge in Frankreich und Cayenne gleich war,
Übt ein Körper A auf einen
konnte nur das veränderte Gewicht des Pendels Körper B eine Kraft aus
für die Abweichung verantwortlich sein. (actio), so übt auch B auf
NEWTONs Definition wurde als zirkulär kriti- A eine Kraft aus, Gegen-
kraft (reactio) genannt, die
siert: Wie sollte man die Masse eines Körpers be- entgegengesetzt gleich der
stimmen, wenn man zuvor die Dichte bestimmen ersten Kraft ist.
57
KAPITEL 3 Historischer Überblick
muss, welche wiederum von der Masse abhängt? onswirkung verantwortlich, während die träge
Man müsste entweder Abstände und Massen der Masse in das Newtonsche Kraftgesetz eingeht.
kleinsten Teilchen anderweitig ermitteln oder das Diese Äquivalenz bedeutet, dass wir in einem
Änderung der Bewegung der wirkenden Kraft nachzuweisen, dass die elliptischen Bahnen der
proportional, es handelt sich um das berühmte Planeten und Monde nur dadurch zu erklären
„Kraft gleich Masse mal Beschleunigung“. Das sind. Und da sich Planeten und die Sonne wech-
dritte Gesetz ist „actio gleich reactio“, jeder selseitig anziehen, gelang ihm auch der Nachweis,
Kraft steht eine gleichgroße Gegenkraft entge- dass die Keplerschen Ellipsen in Wirklichkeit
3-43 gen. Dieses Prinzip erlaubt es unter anderem, Näherungen sind. Sonne und Planeten kreisen
Newton und der Apfel. Kreisbewegungen zu beschreiben. Die Zentri- um das gemeinsame Gravitationszentrum, das
Bild NEWTONs mit dem
fugalkraft, die Körper nach außen treibt, ist die sich aus der Kombination der Anziehungskräfte
fallenden Apfel von dem
japanischen Künstler HOSAI Reaktion auf die Kraft, die sie auf die Kreisbahn aller Planeten und der Sonne ergibt.
aus dem Jahr 1869. Das zwingt, zum Beispiel die Gravitation. Die Tatsache, dass NEWTON eine Erklärung
Bild trägt den Untertitel NEWTON formulierte die Bewegungsgesetze für die magische Fernwirkung der Körper auf-
„Isaac Newton, sehr gro-
ßer theoretischer Kopf, als zwar experimentell prüfbare, aber nicht einander schuldig blieb, provozierte vor allem
aber nicht eingebildet“. als begründbare Gesetze der Natur. So blieb in Kontinentaleuropa Widerspruch. HUYGENS
die Frage, warum Körper träge sind, unbe - vermutete in der Tradition DESCARTES’, dass
antwortet. Im 19. Jahrhundert vermutete der Wirbel kleinster Partikel die Planeten auf ihre
österreichische Physiker ERNST MACH, dass elliptischen Bahnen zwangen, und GOTTFRIED
die Trägheit der Körper eine Folge der Gra- WILHELM LEIBNIZ (1646 – 1716) leitete das qua-
vitationswirkung aller Massen im Universum dratische Abstandsgesetz auf Basis einer Theorie
sei. Wäre das Universum leer, gäbe es keine flüssigen Äthers ab. NEWTON selbst empfand die
Trägheit. Dieses sogenannte Machsche Prinzip magische Fernwirkung als Manko und versuchte
inspirierte ALBERT EINSTEIN bei der Formu- sich in Ätherhypothesen. Letzten Endes war für
lierung der allgemeinen Relativitätstheorie. ihn die Massenanziehung nur ein mathematisches
Sie postuliert die Äquivalenz von träger und Konstrukt, dessen physikalischer Hintergrund
schwerer Masse. Letztere ist für die Gravitati- zumindest zu seiner Zeit unbekannt blieb.
58
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Von der Alchemie zur Chemie dem 3. oder 4. Jahrhundert n. Chr., die beide um
1828 entdeckt wurden. Sie enthalten Rezepte zur
Aus Mystik wird Wissenschaft Behandlung und Imitation von Edelmetallen, zur
59
KAPITEL 3 Historischer Überblick
philosophie wurden die vier Elemente und die Schwefel und Salz setzte sich endgültig in der
vier Qualitäten (warm, kalt, feucht, trocken) neuzeitlichen Alchemie des PARACELSUS durch.
übernommen, sowie die Idee der materia prima, Die Zusammenhänge zwischen Elementen,
der Urmaterie, aus der alles entsteht. Nach al- Qualitäten, Pneuma, Samen und Prinzipien sind
chemistischen Vorstellungen mussten bei der schwer zu fassen, da die entsprechenden Kon-
Goldherstellung die Ausgangsstoffe zuerst in die zepte sich von Autor zu Autor unterscheiden.
Urmaterie überführt werden. Die Goldherstel- Insgesamt entwickelte die Alchemie nie eine
lung aus unedlen Metallen war im Prinzip nur nach heutigen Maßstäben geschlossene und wi-
eine Veränderung der Form der Urmaterie. Zur derspruchsfreie Theorie der Stoffe und ihrer
Elementelehre trat die stoizistische Lehre, die Umwandlungen.
Feuer und Luft (Pneuma) als aktive, göttliche
Prinzipien auffasste, die die passiven Elemente Das mystisch-religiöse Erbe
Erde und Wasser formen. Aus der Stoa stammt
auch die Vorstellung eines geistigen Samens, Die Alchemie war von Beginn an eingebettet in
des logoi spermatikoi. Er überträgt durch sein mystisch-religiöse Vorstellungen über den Auf-
Pneuma die Qualitäten auf die Materie und bau des Kosmos. Dieser Kontext prägte auch die
bringt damit die Einzeldinge zur Entwicklung. Form alchemistischer Forschungen. Man legte
Dem Traktat Novum Lumen (Neues Licht) des wenig Wert auf die akribische Aufzeichnung
polnischen Alchemisten MICHAEL SENDIVOGIUS physikalischer Größen wie Gewicht oder Druck
von 1604 zufolge sollte durch die Vereinigung während eines Experiments. Eine empirische
von männlichem und weiblichem Prinzip aus den Prüfung von Aussagen, wie wir sie heute kennen,
vier Elementen der Samen der Metalle entstehen. wäre Alchemisten als überflüssig erschienen.
Dieser entwickele sich dann in der Erde je nach So existierte die Vorstellung, dass Bocksblut
Gegebenheiten in mehr oder weniger edle Me- Glas erweichen könne, eine Aussage, die sich
talle. Daher wurden im Mittelalter Bergwerke natürlich leicht empirisch widerlegen lässt. Für
zeitweise geschlossen, um den Reifungsprozess einen Alchemisten war die Sache jedoch nicht so
der Metalle ungestört ablaufen zu lassen. einfach: Vielleicht bedeutete ein Misserfolg nur,
Eine wesentliche Rolle spielten auch Queck- dass der falsche Zeitpunkt, der falsche Ort, das
silber und Schwefell als Grundprinzipien der falsche Blut oder das falsche Glas vorlag. Der
Metalle. Darunter wurden allerdings nicht die Alchemist ging eher vom Komplexen aus, nichts
in der Natur anzutreffenden Substanzen ver- wurde so in Einzelteile zerlegt, dass man es auf
standen, sondern es wurden essenzielle stoffliche einfache Weise hätte bestätigen oder widerlegen
Eigenschaften mit ihnen assoziiert. Zur Unter- können. Die alchemistischen Konstrukte muss-
scheidung zwischen realer Substanz und Prinzip ten im Gegensatz zu wissenschaftlichen Hypo-
3-46 sprach man von philosophischem Schwefell oder thesen weder logisch konsistent noch testbar
Planeten und Metalle. philosophischem Quecksilber, wenn man letzte- sein, sie konnten auch Widersprüche enthalten.
Die Zuordnung zwischen res meinte. Nicht-metallische Stoffe wurden oft Sie waren in diesem Sinn eher am menschlichen
Planeten und Metallen
änderte sich im Lauf der durch Salz als Grundsubstanz einbezogen. Die Weltgefühl orientiert (das Gegensätze anerkennt)
Jahrhunderte. Vorstellung von den drei Prinzipien Quecksilber, als an rationalem, quantifizierbaren Wissen.
Die Ents p rechun g en zwischen Göttern,
Planet Traditionell Griechisch ab dem 7. Jahrhundert Planeten und irdischen Dingen, sowie der kos-
Sonne Gold Gold mische Einfluss auf den Lauf der Welt gehen
auf den babylonisch-sumerischen Kulturkreis
Mond Silber Silber zurück. Die Zuordnung zu den Metallen kam
Quecksilber, auch Zinn Quecksilber (davor Elektron, wohl etwas später und wandelte sich auch im
Merkur
(„weißes Blei“) eine Silber-Gold-Legierung)
Lauf der Zeit (ÅTabelle 3-46). Das Tripel Gott-
Venus Kupfer Kupfer
heit – Planet – Metall ist jedoch zentral für die
Mars Eisen Eisen alchemistische Symbolik. Da die Zahl der Pla-
neten damals sieben betrug (Sonne und Mond
Jupiter Elektron, Zinn, Bronze Zinn
zählten als Planeten), war offensichtlich, dass es
Saturn Blei (Bismut galt als Bleiart) Blei nur sieben Metalle geben konnte, alle weiteren
wurden als Mischungen angesehen. Im Sinne des
60
Erde, Wasser, Luft und Feuer
„wie oben, so unten“ stand die Sonne nicht nur Transmutationen – nichts als Betrug?
für Gold, sondern auch für das Männliche und
das Unsterbliche. Es existieren Berichte über erfolgreiche Trans-
Der Kreislauf von Werden und Vergehen, mutationen, die zum Teil sogar öffentlich statt-
von Tod und Schöpfung tritt in der Alchemie fanden. So führte JOHANN FRIEDRICH BÖTTGER,
in vielfältiger Gestalt auf. Ein sehr häufig an- der Miterfinder des europäischen Porzellans,
zutreffendes Motiv, die Zerstückelung aus dem in Berlin 1701 mit Hilfe einer geheimnisvollen
Isis/Osiris-Mythos, haben wir bereits kennen roten Tinktur vor zahlreichen Zuschauern eine
gelernt (ÅTod und Wiedergeburt, Ei und Schöp- Transmutation durch. Sie machte ihn über die
fung, Seite 30). Im gleichen Sinn wird bei Grenzen Preußens hinaus bekannt und führte
der Herstellung von Gold die Überführung der dazu, dass er in die Hände von AUGUST DEM
Ausgangsstoffe in die materia prima als Tod der STARKEN von Sachsen geriet. Diesem Umstand
Materie bezeichnet. Der Tod geht der Schöpfung verdanken wir die Meißner Porzellanmanufak-
des Goldes voraus. tur.
Die umfassende Korrespondenz zwischen Man tut Alchemisten Unrecht, stempelt man
Mikrokosmos und Makrokosmos bildet die Ba- Berichte über Transmutationen pauschal als Be-
sis der reichen Symbolsprache und Allegorien in trügerei ab. Ohne den modernen Elementbegriff
alchemistischen Werken. Die damit verbundene ist schließlich nicht offensichtlich, was Gold zu
Mehrdeutigkeit alchemistischer Beschreibun- Gold macht. Legt man die Quecksilber-Schwe-
gen hatte allerdings auch Methode. Die großen fel-Lehre zugrunde, so sind Gold und andere
Geheimnisse, die arcana maiora, konnten nur Metalle lediglich Kombinationen dieser beiden
charakterfesten Menschen offenbart werden,
die einen untadeligen Lebenswandel führten.
Die Eingeweihten, sogenannte Adepten, gaben Von Betrügern und gierigen Herrschern
ihr Wissen daher in verschlüsselter Form weiter,
wichtige Prozeduren wurden in Form phan- Wo es viel zu gewinnen gibt, sind auch Betrüger nicht weit. So drehte
tastischer Träume erzählt, oft wurde ein Text DANIEL VON SIEBENBÜRGEN Apothekern goldhaltige Pillen an, ließ diese
sogar fragmentiert und auf mehrere Kapitel oder dann von unverdächtigen Personen kaufen und gewann daraus Gold.
Werke verteilt. Eine andere Methode bestand darin, in den Rührstab Gold einzugießen
und das Loch mit Wachs zu verschließen. Tauchte man den Stab in
den heißen Tiegel, schmolzen Wachs und Gold und letzteres sammelte
Elemente und Transmutation sich am Grund des Gefäßes an. Beliebt war auch die Verwendung
eines Goldamalgams: Überzog man Gold mit Quecksilber, so konnte
Wir wissen heute, dass die Methoden der Al- man dieses über dem Feuer abrauchen und das Gold kam wieder zum
chemisten nicht dazu geeignet sind, Gold her- Vorschein. Bei der Vergoldung von Kupfer überzog man dieses mit
zustellen. Allein durch chemische Verfahren ist Goldamalgam und erhitzte gelinde. Das Quecksilber verdampfte und
eine Transmutation unedler Metalle in Gold zurück blieb eine dünne Goldschicht. Sehr beliebt war auch die Ansage,
nicht möglich, da die geringe Energie chemi- dass das Gebräu eine Nacht stehen müsse. Des Nachts tauschte dann
scher Reaktionen für die Umwandlung von ein in einer Kiste verborgener Gehilfe das Gebräu durch Gold aus. Auf
Elementen nicht ausreicht. Um Gold zu erzeu- diese Weise versuchte GEORG HONAUER den Herzog FRIEDRICH VON
gen, sind Kernreaktionen notwendig, bei denen WÜRTTEMBERG hinters Licht zu führen, was ihm das Leben kostete. Er
die Zahl der Protonen, der positiven Teilchen wurde 1597 in Stuttgart in einem vergoldeten Gewand an einem mit
im Atomkern, verändert wird (ÅKapitel 10). Flittergold überzogenen eisernen Galgen gehängt, eine Strafe, die für
Zwar ist es möglich, in einem Atomreaktor vermeintliche Goldmacher durchaus üblich war. Die Alchemistin und
oder Teilchenbeschleuniger Gold aus anderen Giftmischerin ANNA MARIA ZIEGLER wurde 1575 auf einem eisernen
Metallen herzustellen, das Verfahren ist aller- Stuhl verbrannt, während ihre Kumpane gevierteilt wurden.
dings viel zu teuer, um wirtschaftlich zu sein. Generell waren auch Herrscher nicht zimperlich bei dem Versuch,
Das beste Ausgangsmaterial für eine kerntech- dem Geheimnis der Goldmacherei auf die Spur zu kommen. Noch 1784,
nische Transmutation ist übrigens Quecksilber, als der Stern der Alchemie bereits am Versinken war, wurde der Adept
also just der Stoff, den auch viele Alchemisten FRANZ SEHFELD durch die österreichische Kaiserin MARIA THERESIA
als Ausgangsmaterial für ihre Versuche zur verhaftet und gefoltert, um ihm das Geheimnis der Geheimnisse zu
Goldherstellung benutzten. entlocken.
61
KAPITEL 3 Historischer Überblick
Prinzipien. Im Wesentlichen ist also das Mi- digkeit zu verstärken, und damit aus einem un-
schungsverhältnis verantwortlich dafür, dass sich edlen ein edleres Metall zu erzeugen. Die Vorstel-
die Eigenschaften der Metalle unterscheiden. So lungen darüber, mit welchen Arbeitsgängen und
könnte es sogar verschiedene Arten von „Gold“ Reagenzien eine Transmutation durchzuführen
geben, die nur in „unwesentlichen“ Eigenschaf- war, unterschieden sich von Autor zu Autor; im
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
ten verschieden sind. Der berühmte Bagdader Wesentlichen ging man jedoch von zwei mög-
Arzt und Alchemist AL-RAZI (860 – 925/935) lichen Wegen aus: Entweder sollte durch Zu-
kommentierte ein Rezept zur Herstellung von gabe eines entsprechenden Elixiers aus unedlem
Silber mit den Worten: Metall Gold entstehen oder es sollte im opus
magnum (lat., großes Werk) durch einen lang-
3-47 Es kommt Silber heraus, besseres gibt es nicht, wierigen Prozess aus Substanzen wie Blei oder
Wolf verschlingt König. aber es ist weich. Wenn Du es kochst, zerfällt Quecksilber über die materia prima Gold und
Allegorie für die Verbin- es weiß wie weißes Mehl.
dung von Antimon (Wolf) letzten Endes der Stein der Weisen entstehen.
und Gold (König). Der Begriff Elixier hat seine Wurzeln in der
Wenn es um Zahlungsmittel ging, wusste man antiken Praxis des Färbens von Metallen mittels
natürlich auch damals, welche Eigenschaften eingestreutem Zinn- oder Kupferpulver. Aus
„echtes“ Gold oder Silber haben sollte. Mit dem griechischen Wort xerion (Streupulver)
einem zu Pulver zerfallenden Silber hätte sich entstand so das arabische iksir oder al-iksir,
niemand abspeisen lassen. Eine zentrale Frage aus dem wiederum das lateinische Wort Elixier
der Alchemie war also, wie man genau jene Ei- stammt. Eine geringe Menge eines Elixiers sollte
genschaften dauerhaft erzeugen kann, die dem die Umwandlung einer großen Menge uned-
Gold seinen Wert geben. len Metalls bewirken. Für GABIR IBN HAYYAN
(8. Jahrhundert) bringt der Stein der Weisen, der
Elixiere und das opus magnum lapis philosophorum, als Elixier der Elixiere die
unfertigen Metalle zu ihrem vollendeten Zustand
Alchemisten gingen von einer hierarchischen (d.h. zu Gold) und vermag gleichzeitig den Men-
Ordnung der Metalle aus, die den Grad ihrer schen von seiner Unfertigkeit und vom Altern
Vollkommenheit ausdrücken sollte. Am voll- zu erlösen. Der Stein der Weisen vereinigt alle
kommensten war Gold, das unvollkommenste Gegensätze, vor allem das männliche und das
Metall war Blei. Bei der Transmutation ging es weibliche, bewirkt Zeugung und Entwicklung,
darum, „edle“ Eigenschaften wie Feuerbestän- Schwangerschaft und Geburt. So phantastisch
62
Erde, Wasser, Luft und Feuer
seine Eigenschaften gedacht wurden, so schwer seiner Polemiken gegen überkommene medizini-
schien seine Herstellung zu sein. Allgemein sche Autoritäten und seiner „Neuen Medizin“
stellte man sich vor, dass man ein Elixier wie auf Betreiben der Ärzteschaft Basel verlassen.
eine Essenz aus einer Substanz „herausziehen“ PARACELSUS bediente sich der Signaturenlehre
könne, also zum Beispiel Goldessenz durch hun- zum Auffinden von Heilmittelträgern und alche-
dertfaches Umschmelzen von Gold gewinnen mistischer Techniken zur Extraktion der darin
könne. Die Herstellung des Steins der Weisen enthaltenen Wirkstoffe.
aber war das große Werk, das opus magnum.
Die Signaturenlehre
Vom Rabenhaupt über den Pfauenschweif
zum Stein der Weisen Für PARACELSUS wirken in der irdischen und
63
KAPITEL 3 Historischer Überblick
Aus den Dingen entstehen durch Scheidung mit- Brücke zwischen dem Atomismus EPIKURs und
tels Feuer oder Sonne die tria prima. Chemische der Theologie zu schlagen. Im Gegensatz zum
Umwandlungen werden also angetrieben durch materialistischen Weltbild EPIKURs existierten
Hitze und Feuer. Nach PARACELSUS Vorstellun- GASSENDIs Atome nicht ewig, sondern waren
gen ist die gesamte Natur ein Prozess des Gebä- von Gott geschaffen und auch die Kraft ihrer
rens/Erzeugens und der Scheidung (Spagyrik). Bewegung erhielten sie von Gott. Damit war
Die Scheidung ist auch das der Destillation der Atomismus aus theologischer Sicht akzep-
und der Verdauung zugrunde liegende Prinzip. tabel. Die Erklärungskraft des Atomismus blieb
Durch die ars spagyrica, der Scheidekunst sollte zunächst dennoch gering, da es nicht gelang,
mittels Destillation oder Extraktion aus den die Eigenschaften der Substanzen oder chemi-
Stoffen das medizinisch Wirksame geschieden sche Reaktionen nur auf Bewegung, Größe und
werden. PARACELSUS führte damit die Alchemie Form der Atome zurückzuführen. Auch die neue
in Richtung Pharmakologie, in dem er ihre Ar- Physik NEWTONs änderte daran wenig, obwohl
beitsmethoden für die Gewinnung von Arzneien man erstmals ein allgemeines Prinzip der Kraft-
nutzte. Im Gegensatz zur Viersäftelehre GALENs wirkung zwischen Körpern in den Händen hielt.
(ÅKasten Die Ordnung der Vier, Seite 33) stand Nach dem Muster der Gravitation sollten an-
bei PARACELSUS nicht der Ausgleich von Gegen- ziehende und abstoßende Kräfte für chemische
sätzen im Vordergrund, sondern die Heilung Verbindungen verantwortlich sein, während die
durch Gleiches, eine Vorstellung, die sich auch Atome selbst ohne spezifische Eigenschaften
in der Homöopathie wieder findet. Die von ihm blieben. Dann mussten auch die „Elemente“
initiierte Behandlung durch Mineralien anstelle der Chemiker zusammengesetzte Partikel sein,
von Kräutern wurde von seinen Anhängern deren Form über ihre spezifischen Eigenschaften
chymiatria oder Iatrochemie (griech. Iatros, entschied. Aber wie viele Arten der Zusammen-
Arzt) genannt. So befürwortete er gegen Syphi- setzung gab es und warum waren Elemente
lis eine Quecksilbertherapie anstelle der damals nicht zerlegbar?
üblichen Guajakholz-Therapie. Das Aufblühen der chemischen Industrie
förderte das Bestreben, Stoffeigenschaften und
chemische Reaktionen vorherzusagen; und so
Die Entwicklung der modernen entstanden im 18. Jahrhundert pragmatische
Chemie Atomtheorien, die davon ausgingen, dass je-
dem Element eine Partikelsorte entsprach. Die
Von Minima Naturalia zu Atomen Klärung der Frage, ob diese aus noch funda-
mentaleren Partikeln bestanden, wurde den Phy-
Es scheint keine absurde Annahme zu sein,
dass bei der ersten Erschaffung gemischter Kö- sikern überlassen. JOHN DALTON (1766 – 1844)
per die allgemeine Materie, aus der jene, wie erkannte als erster, dass die Mengenverhältnisse
andere Teile des Weltalls, bestanden, tatsäch- bei chemischen Verbindungen ganzzahlig sind,
lich in kleine verschieden bewegte Teilchen von als ob unterschiedlich schwere „Atome“ sich
verschiedener Größe und Gestalt geteilt wurde. paarweise verbinden. Der schwedische Chemi-
ROBERT BOYLE (1627–1691)
ker JÖNS JAKOB BERZELIUS (1779 – 1848) entwi-
ckelte die heute noch gebräuchliche chemische
Weder der Atomismus noch die minima-natura- Kurzschreibweise für die Mengenverhältnisse
lia-Lehre waren im 17. Jahrhundert in der Lage, in Verbindungen. Und ANTOINE LAURENT DE
die Vielfalt der Stoffe und ihre Eigenschaften LAVOISIER (1743 – 1794) erkannte das Prinzip
zu erklären. Die empirische Forschung gewann der Oxidation.
aber seit GALILEI gegenüber der aristotelischen Vieles, was im Rahmen der chemischen
Philosophie die Oberhand und der irische Na- Atomtheorie seit DALTON entstand, konnte erst
turforscher ROBERT
R BOYLE entwickelte in seinem im 20. Jahrhundert auf fundamentale physika-
Buch „Der skeptische Chemiker“ (1661) erst- lische Prinzipien zurückgeführt werden. Geht
mals einen Elementbegriff, der sich an empi- man nur von der klassischen Physik NEWTONs
rischen Sachverhalten orientierte. Gleichzeitig aus, hatte LAPLACE Recht, wenn er zu Beginn
vermochte der französische Theologe und Na- des 19. Jahrhunderts meinte, dass der Versuch,
turforscher PIERRE GASSENDI (1592 – 1665) eine chemische Affinitäten auf Basis physikalischer
64
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Kräfte zu erklären, für den Fortschritt der Wis- spiel) ein primärer und einfacher, entzündlicher,
riechender usw. Körper ist, dann kann ich an
senschaften nutzlos sei.
ihren Worten zweifeln, wenn sie mir erzählen,
dass ein Körper, welcher entweder zusammen-
Iatrochemische, atomistische minima gesetzt oder nicht entzündlich ist, ein derartiger
naturalia mit Weltseele Schwefel ist. Auch muß ich denken, dass sie mit
Der skeptische Chemiker – Robert Boyle NEWONs Gesetze schufen einen neuen Ansatz
für Atomtheorien. Er selbst machte den Anfang
Den Chemikern stand es anfangs frei, die Stoffe,
die sich bei ihren Analysen ergaben, Schwefel in seiner Frage 31 im dritten Buch der Opticks:
oder Quecksilber oder Gas oder Blas oder was
ihnen sonst gefiel, zu nennen. Wenn sie aber Have not the Particles of Bodies certain Po-
einmal gesagt haben, dass Schwefel (zum Bei- wers, Virtues, or Forces, by which they act at
65
KAPITEL 3 Historischer Überblick
a distance, not only upon the Rays of Light for gleichzeitig so stark, dass Elemente nicht durch
reflecting, refracting, and inflecting them, but
chemische Methoden in ihre Bestandteile zerlegt
also upon one another for producing a great
3-50 werden konnten?
Partikelmodelle. Je nach Part of the Phænomena of Nature?
zugrunde liegenden
Kraftgesetzen entstanden Da Körper offenbar durch die Kräfte der Gra- Elegant, aber unpraktikabel –
unterschiedliche Modelle vitation, des Magnetismus und der Elektrizität
für größere Partikel,
mechanistische Atomtheorien
den Elementen oder
aufeinander wirken, so argumentierte er, sei es
Verbindungen. NEWTON, nicht unwahrscheinlich, dass Anziehung zwi- Für eine empirische Fundierung von Teilchen-
dem englischen Physiker schen Körpern ein allgemeines Prinzip der Natur kräften gab es im 18. Jahrhundert einige Ansatz-
STEPHEN HALES (1677 –
ist. Und es könne durchaus Kräfte geben, die nur punkte. NEWTON zeigte, dass „elastische Flüssig-
1761) und anderen
diente Äther, Luft oder eine geringe Reichweite besitzen, gerade so kurz, keiten“ (so wurden Gase damals bezeichnet), bei
Feuer als Füllstoff der dass sie kleinste Teilchen zusammenfügen konn- denen Druck und Dichte einander proportional
Materie, der für deren ten. So könnte aus einer Verbindung zwischen sind, durch eine abstoßende Kraft beschrieben
unterschiedliche Elastizität
sorgte. KNIGHT hingegen Metall und Salpetersäure das Metall durch ein werden können, die umgekehrt proportional
postulierte anziehende anderes deshalb verdrängt werden, weil dessen zum Abstand der Teilchen ist. Auch die mag-
und abstoßende Anziehung zur Säure stärker ist. NEWTON stellte netische Kraftwirkung und Kohäsionskräfte
Materiesorten, um die
verschiedenen Stoffe die entsprechende Verdrängungskette Quecksil- schienen auf ein solches Gesetz hinzuweisen
und ihre Eigenschaften ber – Silber – Kupfer – Eisen – Zink auf. und die Affinitäten der chemischen Substanzen
zu erklären. Luft bestand NEWTON war sich bewusst, dass sich die Viel- sah schon NEWTON als Beispiel für die Wirkung
aus abstoßender Materie,
da dies dem Boyleschen falt der stofflichen Phänomene schlecht vertrug von Partikelkräften an.
Gesetz zu entsprechen mit homogenen Teilchen und zentral wirkenden Bei der Suche nach entsprechenden Kraft-
schien, Feuer als alles Anziehungskräften. Und so entwickelte er wie gesetzen, zeigte sich bald, dass man auf die
durchdringender Stoff
bestand aus anziehender
schon manche seiner Vorgänger eine hierarchi- A nnahme unterschie d licher Partikelformen
Materie. Je fester ein sche Korpuskulartheorie. Aus den kleinsten, verzichten konnte. Gleichgroße, runde, homo-
Stoff war, desto größer homogenen Partikeln sollten größere Strukturen gene Partikel erfüllten ihren Zweck ebenso gut
waren die Partikel aus
entstehen, zunächst die Elemente und in wei- (Å Abbildung 3-50). Unterschiedliche Kraftwir-
anziehender Materie,
aus denen er bestand. teren Aggregationen auch Verbindungen. Die kungen zusammengesetzter Partikel konnte man
Wasser als neutrales spezifischen Formen dieser Strukturen erlaubten einfach durch deren innere Struktur erklären.
Element bestand aus einer
auch inhomogene Kraftverteilungen, eine uner- Wesentlich wichtiger schienen Art und Verlauf
Mischung beider Sorten.
Boscovichs Kraftgesetz lässliche Voraussetzung für die Erklärung von der Kräfte zwischen den Partikeln zu sein. Sta-
erlaubte die Bildung stofflichen Unterschieden wie die spezifische bile Verbindungen zwischen Partikeln konnten
beliebig geformter Partikel Affinität von Metallen gegenüber Säuren. Aber sich zum Beispiel bilden, wenn die anziehende
unterschiedlicher Größe,
die nur aus Kraftzentren wie sollte man diese Partikelkräfte bestimmen, Kraft mit zunehmender Nähe wieder abstoßend
bestanden. wenn deren Reichweite so gering war, sie aber wurde. Am Punkt des Nulldurchgangs blieb ein
Teilchen dann „gebunden“, ohne den Bindungs-
partner zu berühren. Auch durch Kombination
von anziehenden und abstoßenden Kräften war
es möglich, stabile Bindungszustände zu mo-
dellieren (Å Abbildung 3-51). COMTE DE BUFFON
(1707 – 1788) ging davon aus, dass chemische
Affinitäten auf der gleichen Kraft basieren wie
die Gravitation. Die unterschiedlichen Affi-
nitäten der Stoffe waren seiner Ansicht nach
eine Folge der Gestalt und Orientierung der
elementaren Partikel, die dadurch unterschied-
lich starke Kräfte aufeinander ausüben könnten.
D e r vo n N E W T O N zur Erklärun g der
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
66
Erde, Wasser, Luft und Feuer
3-51
Kraftgesetze. Im 18. Jahrhundert wurde eine Vielzahl
spekulativer Kraftgesetze vorgeschlagen, um die Inter-
aktion kleinster Partikel zu beschreiben. Der Holländer
'SGRAV
A ESANDE (1688 – 1742) nahm gleichförmige Partikel
an, die sich im Nahbereich stark anziehen, bei größerer
Entfernung hingegen abstoßen. Der Engländer GOWIN
KNIGHT (1713 – 1772) schlug zwei unterschiedliche Arten
von Partikeln vor, die sich entweder anziehen oder absto-
ßen. Die Anziehungskraft sollte bei kleinen Entfernungen
in eine abstoßende Kraft übergehen. Ein T Teilchen, das
sich im Nulldurchgang der Kraft befindet, bleibt dort „ge-
bunden“. Damit kam KNIGHT qualitativ den tatsächlichen
Verhältnissen (Gravitation und sogenanntes Lennard-
Jones-Potenzial, rechts unten) schon nahe. Der Ragueser
ROGER BOSCOVICH beschrieb ein universelles Kraftgesetz,
das für große Abstände in das Gravitationsgesetz über-
67
KAPITEL 3 Historischer Überblick
Stoffe Verbindungen aufgrund einer Art Sympa- tausend chemische Reaktionen zwischen 27 Säu-
thie füreinander eingehen, finden wir schon bei ren, 8 Basen und 14 Metallen tabellierte.
PARACELSUS und den Stoikern. Erst im 18. Jahr- Anfangs ging man davon aus, dass Verdrän-
hundert wurde begonnen, unter dem Einfluss gungsreaktionen immer vollständig erfolgten,
des neuen Begriffs der Kraft, Bindungsstärken d.h. in der Reaktion AB +C→ AC+ B sollte von
von Substanzen systematisch zu vergleichen. C am Ende nichts mehr übrig bleiben. CLAUDE
NEWTON hatte mit einer Verdrängungsreihe der LOUIS BERTHOLLET (1748 – 1822) erkannte je-
Metalle den Anfang gemacht und der franzö- doch, dass die Umsetzungsgeschwindigkeit um-
sische Chemiker ÉTIENNE FRANÇOIS GEOFFROY gekehrt proportional ist zur Menge des bereits
(1672 – 1731) griff diese Idee auf und veröffent- umgesetzten Stoffes. Die vollständige Umsetzung
lichte 1718 bei der französischen Akademie der tritt nur auf, wenn das Reaktionsprodukt laufend
Wissenschaften seine „Tafel der verschiedenen entfernt wird, etwa indem es als unlöslicher Stoff
Verhältnisse, wie sie zwischen verschiedenen aus der Reaktionslösung ausfällt. Dieses Gesetz
Substanzen beobachtet wurden“ (ÅAbbildung ist heute als Massenwirkungsgesetz bekannt.
3-54). Sie ordnete Stoffe, die miteinander Ver-
bindungen eingehen, nach ihren relativen Bin- Georg Ernst Stahl und das Phlogiston
dungsstärken. Die Bindung zwischen A und
C ist stärker als die zwischen A und B, wenn Der Chemiker GEORG ERNST STAHLL (1659 – 1734)
die folgende Verdrängungsreaktion stattfindet: unterschied zwischen chemischen Prinzipien,
AB + C → AC + B. Im Lauf der folgenden Jahr- auf die alle Verbindungen letzten Endes
zehnte entstanden noch eine ganze Reihe weite- reduziert werden könnten und Partikeln, die der
rer Tafeln chemischer Verdrängungsreaktionen, Materie zugrunde liegen mochten, über deren
unter anderem vom schwedischen Chemiker Beschaffenheit man aber nichts wusste. Für STAHL
TORBEN BERGMAN (1735 – 1784), der mehrere waren die chemischen Prinzipien Wasser, eine
68
Erde, Wasser, Luft und Feuer
69
KAPITEL 3 Historischer Überblick
Schon HERON VON ALEXANDRIA und PHILON Die Gedanken und Experimente eines Mannes
VON BYZANZ stellten durch Versuche fest, dass hätten, wären sie damals bereits in vollem Um-
eine Kerze beim Brennen Luft verbraucht. Den- fang bekannt geworden, die Chemiker vielleicht
noch saß die Überzeugung, dass Feuer zerlegend schneller auf die richtige Fährte geführt. Der
wirkt und bei der Verbrennung nichts hinzutritt, russische Chemiker und Dichter MICHAILO WAS-
bis ins 18. Jahrhundert hinein so tief, dass frühe SILIEWITSCH LOMONOSSOW (1711 – 1765) schrieb
Hinweise auf die Rolle des Sauerstoffs falsch in einem Brief an den Mathematiker LEONARD
gedeutet wurden. Bereits im 17. Jahrhundert EULER: „Es besteht kein Zweifel, daß die Par-
fanden JOHN MAYOW (1641 – 1679) und ROBERT R tikelchen der Luft, die fortwährend um den
HOOKE heraus, dass bei der Verbrennung eine kalzinierenden [oxidierenden] Körper schwe-
3-55 besondere Art von Luft benötigt wird, die MA- ben, sich mit ihm vereinigen und sein Gewicht
Verbrennung. MAYOW
nahm an, dass „Salpeter- YOW als salpeterartige Luft bezeichnete, da sie vermehren“.
luft“ (Stickoxide) bei der auch bei der Verbrennung von Salpeter (Nitrate) Aber zunächst setzte sich die Phlogiston-
Verbrennung zwischen entsteht. Er entdeckte, dass diese Luft etwa ein theorie durch. Sie passte zu experimentellen
die tria prima der Metalle
drang und sie voneinan- Viertel des Gesamtvolumens ausmacht. Es han- Daten, solange man für Inkonsistenzen in den
der löste. Der entstehende delte sich natürlich um Sauerstoff, dessen Anteil Gewichtsbilanzen andere Ursachen verantwort-
Metallkalk sollte aus den an der Luft 21 Prozent beträgt. Seiner Ansicht lich machte. Das Phlogiston stand zudem in der
Luftteilchen und dem
Salzbestandteil bestehen. nach diente sie dazu, Metalle in ihre Bestand- Tradition eines anderen unwägbaren Stoffes,
STAHL (Mitte) entwickelte teile Schwefel, Salz und Quecksilber (tria prima) des Äthers. Durch Identifikation des Phlogis-
den Kreislauf des Phlogis- zu zerlegen. Die salpeterartige Luft verband sich tons mit dem Äther wurde eine Verbindung
tons, der im Prinzip dem
Oxidations-Reduktions-
daraufhin mit dem entstehenden Salz, was so- zwischen Licht (seit NEWTON als Ätherschwin-
Kreislauf entspricht (un- wohl die Gewichtszunahme der Metalloxide als gungen verstanden), den elektrischen und ma-
terstes Bild), nur anders- auch die Abnahme des Luftvolumens erklären gnetischen Kräften und der Verbrennung ge-
herum. Phlogiston wird
konnte (ÅAbbildung 3-55). schaffen, bei der ebenfalls Licht entstand.
bei der Metallverbrennung
ausgeschieden, es entsteht
Metallkalk (Metalloxid). Seite Seite 66). BLACK stellt auch fest, dass die zeichnete, weil er die Verbrennung unterstützte.
Das Phlogiston kommt
verbleibende Substanz sich chemisch verändert Da sein Buch erst nach JOSEPH PRIESTLEYs Veröf-
über die Luft ins Holz und
bildet beim Glühen von hatte. Fixierte Luft besaß chemische Wirkungen fentlichung über die dephlogisierte Luft erschien,
Metallkalken mit Holz- und unterstützte die Verbrennung und Atmung galt lange Zeit PRIESTLEY als der Entdecker des
kohle wieder Metall. Nicht nicht. CARL WILHELM SCHEELE (1742 –1786) Sauerstoffs. Nach SCHEELEE übte die Feuerluft eine
das Metall, sondern der
Metallkalk ist nach dieser entdeckte 1774 einen weiteren Bestandteil der stärkere Anziehungskraft auf das Phlogiston aus
Vorstellung elementar. Luft, den Sauerstoff, den er als Feuerluftt be- als die brennbaren Substanzen, weshalb ihnen
bei der Verbrennung das Phlogiston entzogen
wurde. Dies galt auch für „kalte“ Oxidationspro-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
das Knallgasgemisch zu zünden. Diese Methode dass die Welt mathematisch fassbaren Gesetzen
wurde in der Folgezeit auch zum Amüsement folgt und dass Menschen keineswegs nur der
bei gesellschaftlichen Anlässen genutzt. Man Gnade Gottes ausgeliefert sind. Weg mit Aber-
zündete Knallgaspistolen oder -kanonen durch glauben, es lebe die Vernunft! IMMANUEL KANT
elektrische Funken aus Elektrisiermaschinen drückte es in seinem berühmten Essay „Was ist
(ÅAbbildung 3-56). Aufklärung?“ von 1784 folgendermassen aus:
Bei seinen Versuchen, die übrig gebliebene
phlogisierte Luft mittels elektrischer Funken Aufklärung ist der Ausgang des Menschen
weiter in ihre Bestandteile zu zerlegen, blieb aus seiner selbstverschuldeten Unmündig-
keit. ... Sapere aude! Habe Mut, dich deines
immer ein winziger Teil Restluft übrig, der allen eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der
weiteren Zerlegungsversuchen widerstand. Es Wahlspruch der Aufklärung.
handelte sich um die Edelgase, die erst über hun-
dert Jahre später (1894) von WILLIAM RAMSAY In England gelang es nach der „Glorious Revo-
und Lord RAYLEIGH identifiziert wurden. lution“ von 1688, bürgerliche Rechte erfolgreich
im Rahmen einer konstitutionellen Monarchie
zu etablieren, so dass Wissenschaft, Handwerk
Revolution in Chemie und und Handel gut gedeihen konnten. Deutschland
blieb aufgrund seiner Zersplitterung provinziell
Gesellschaft
und Aufklärung war vor allem ein Thema an
Es muß jetzt klarer Beweis gebracht oder stille den Universitäten. Im absolutistischen Frank-
geschwiegen werden: Der Beweis aber muß in
reich brach sich das neue Denken am Ende mit
keinem Hirngespinste, sondern in Thatsache
bestehen. Hierdurch eben unterscheidet sich Gewalt seine Bahn.
unsere jetzige Zeit vorzüglich von den vorigen
Jahrhunderten... JOHANN CHRISTIAN WIEGLEB Lavoisier – Revolution in der Chemie
Dieses Zitat drückt eine intellektuelle Haltung Die französische Revolution von 1789 wurde
des 18. Jahrhunderts aus, die sich keineswegs einem Mann zum Verhängnis, der nach eigener
nur auf die wissenschaftliche Arbeit bezog. Es Einschätzung und der vieler Zeitgenossen und
71
KAPITEL 3 Historischer Überblick
Nachfolger selbst ein Revolutionär war: ANTOINE hatte, konnte LAVOISIER zeigen, dass Verbrennung
LAURENT DE LAVOISIER (1743 – 1794). LAVOISIER (Oxidation) und Reduktion spiegelbildliche
wurde 1794 auf der Guillotine hingerichtet, Prozesse sind, bei denen keine Masse verloren
denn man warf ihm unter anderem Erpressung geht. Damit war Phlogiston für die Erklärung
des französischen Volkes bei seiner Arbeit als von Verbrennun g s p rozessen überflüssi g
Steuerpächter vor. geworden. Nachdem COMTE DE PELUSE MONGE
LAVOISIERs revolutionäre Arbeit betraf nicht (1746 – 1818) im Jahr 1783 nachgewiesen hatte,
das Feld der Politik, sondern das der Chemie. dass das bei einer Knallgasexplosion entstehende
Er war die treibende Kraft bei der Schaffung Wasser die gleiche Masse besitzt wie beide
einer neuen chemischen Nomenklatur, die wir Ausgangstoffe zusammen, konnte LAVOISIER
heute noch verwenden und wir haben ihm zeigen, dass man Wasser wieder in Wasserstoff
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
die Erkenntnis zu verdanken, dass es keines und Sauerstoff zerlegen kann. Wasserstoff nannte
Phlogistons bedarf, um Verbrennungsprozesse er daher Hydrogène, den Wassererzeuger. Er
zu erklären. LAVOISIER erkannte, dass ein zeigte auch, dass bei anderen Oxidations- und
Bestandteil der Luft, die schon bekannte Feuerluft Reduktionsprozessen wie der Verbrennung von
SCHEELEs, als Erklärung vollkommen ausreicht. Schwefel die Gesamtmasse erhalten blieb. Als
3-57
Lavoisier. Mit seiner Frau, Er nannte diesen Bestandteil in seinem neuen bekannte Chemiker wie BERT R HOLLET und MARTIN
R
der Chemikerin MARIE- Begriffssystem Oxygène, den Säureerzeuger HEINRICH KLAPROTH (1743 – 1817) LAVOISIERs
ANNE PIERRETTE PAULZE. (griech. oxys, scharf, spitz, sauer und gen, Ergebnisse bestätigen konnten, wuchs die Zahl
Portrait von JACQUES-LOUIS
DAV
A ID (1748 – 1825)
erzeugen, gebären), da bei der Verbrennung der Anhänger der Oxidationstheorie und Anfang
nichtmetallischer Stoffe wie Schwefel oder des 19. Jahrhunderts hatte sie sich praktisch
Phosphor ein Gas entsteht, das in Verbindung durchgesetzt. Im Kontext elektrischer, optischer
mit Wasser eine Säure bildet (Schwefel- bzw. und thermischer Erscheinungen hielt sich
Phosphorsäure). Angeregt durch einen Versuch Phlogiston allerdings noch länger (ÅWärme und
PRIESTLEYs, der mit Hilfe eines Brennglases Materie, Seite 90). Auch LAVOISIER behandelte
dephlogisierte Luft aus Quecksilberoxid erzeugt die bei chemischen Reaktionen entstehende
Wärme als chemisches Element und nannte es
3-58
Elemente. Liste der ein- Calorique (lat. Caloricum, ÅAbbildung 3-58).
fachen Substanzen nach Seiner Ansicht nach war der an Substanzen
LAV
A OISIER. Dazu zählten
durch Erhitzen gebundene Wärmestoff für
auch Licht (Lumière) und
Wärmestoff (Calorique), deren Verdampfen verantwortlich. Seine
dessen abstoßende abstoßende Wirkung bildete das Gegenstück zu
Wirkung für Schmelzen den anziehenden Kräften der kleinsten Teilchen.
und Verdampfen verant-
wortlich sein sollte. Er
Wurde einem Körper Wärme zugeführt, so
unterschied zwischen den überwog am Ende die abstoßende Wirkung des
Bestandteilen aller Körper Wärmestoffs und der Körper wurde flüssig.
der belebten und unbeleb-
ten Welt. Neben Licht und
Im Jahr 1787 veröffentlichte LAVOISIER
Wärmestoff unterschied z usa mm e n mi t B ERTH OLLET , F O UR C R O Y
er namentlich Sauerstoff, (1755 – 1809) und G U Y T O N -M O RV E A U
Stickstoff (Azote) und
(1737 – 1816) die Méthode de nomenclature
Wasserstoff, nichtme-
tallische und metallische chimique, in der er die neue Nomenklatur der
Substanzen und die soge- chemischen Substanzen vorstellte. Neben teils
nannten Erden wie Kalk
neuen Bezeichnungen für die Elemente führten sie
(Chaux) oder Siliciumdi-
oxid (Silice). Letztere sind einheitliche Namen für deren Verbindungen ein,
nach heutigem Wissen die wir auch heute noch verwenden. Die Säuren
natürlich keine Elemente, definierte LAVOISIER als binäre Verbindungen
sondern Verbindungen.
zwischen Nichtmetallen und Sauerstoff, ihr Name
wurde aus dem Namen des Elementes abgeleitet.
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
72
Erde, Wasser, Luft und Feuer
dabei nach dem Grad der Sauerstoffsättigung der tigt man immer 2 Gewichtsteile Wasserstoff und
Säure, zum Beispiel zwischen Sulfiten und Sulfaten 16 Gewichtsteile Sauerstoff um 18 Gewichts-
als Salze der schwefeligen Säure (H2SO3) und teile Wasser zu erhalten. Dies gilt unabhängig
der Schwefelsäure (H2SO4). Metalloxide nannte davon, ob ein Gewichtsteil einem Gramm oder
er „Basen“, analog definierte er „Radikale“ einer Tonne entspricht. Zwischen 1799 und 1807
der or g anischen Säuren (Weinsteinsäure, entdeckte JOSEPH LOUIS PROUST (1754 – 1826)
73
KAPITEL 3 Historischer Überblick
fung und Kondensation, der Lösung von Gasen druck auf die Gefäßwand ist einfach die Summe
in Flüssigkeiten und über die Natur der Wärme. der Partialdrücke aller Gase im Gefäß. Diese
Dabei entwickelte er eine Atomtheorie, die sich Feststellung ist als Daltonsches Gesetz bekannt.
von den anderen seiner Zeit in vielen Aspekten Aber wie konnte der Prozess des Mischens ab-
unterschied. Für DALTON bestand jedes Element laufen, wenn es keine Kräfte geben sollte, die
(im Sinne LAVOISIERs) aus einer einzigen Art von die unterschiedlichen Gaspartikel zueinander
Atomen und alle Atome desselben Elements wa- ziehen? Warum blieben die Gasmoleküle nicht
ren exakt gleich. Dies stand im Gegensatz zu den einfach unter sich und bildeten Schichten ent-
Auffassungen der meisten Physiker seiner Zeit, sprechend ihres Gewichts wie bei Sedimenten?
nach denen Elemente aus Partikelkonglomeraten Aus heutiger Sicht ist der Fall klar: Gase dif-
bestanden, die keinesfalls identisch sein muss- fundieren ineinander, weil die Gaspartikel sich
ten. Im Gegensatz zu den Vorstellungen anderer mit hoher Geschwindigkeit bewegen. DALTON
Chemiker waren für DALTON Gasmischungen ging wie die meisten seiner Zeitgenossen aber
3-61 oder Lösungen von Gasen in Flüssigkeiten rein davon aus, dass Gaspartikel im Wesentlichen in
Daltons Elemente und mechanische Mischungen und keine Folge der Ruhe sind. Wärme stellte sich DALTON vor als
Verbindungen. Im Ge- chemischen Affinitäten zwischen den Substan- Wärmepartikel, die die Atome umhüllen und
gensatz zu BERZELIUS, der
die heutige gebräuchliche zen. Für DALTON spielten die Affinitäten nur in aufeinander abstoßend wirken. Bei Gasen sei die
Schreibweise für Ele- Verbindungen eine Rolle. Diese waren von Mi- Hülle besonders groß, weshalb die Abstoßungs-
mente und Verbindungen schungen gut zu unterscheiden, da laut DALTON kraft überwiegt. Bei Flüssigkeiten sei sie kleiner,
einführte, verwendete
DALTON noch kreisförmige
nur in Verbindungen die Verbindungspartner Abstoßungskraft und Anziehungskraft der Par-
Symbole (1: Wasserstoff, immer in ganzzahligen Gewichtsverhältnissen tikel (Affinität) halten sich in etwa die Waage,
2: Stickstoff, 3 Kohlenstoff vorlagen. DALTON ließ sich von der Vorstellung weshalb sich die Partikel gegeneinander bewegen
usw.). DALTON bezeichnete
leiten, dass sich Gaspartikel verschiedener Gase lassen. Bei Festkörpern sei die Anziehungskraft
Verbindungen als „binär“,
wenn jeweils nur ein Atom miteinander mischen, ohne sich wechselseitig zu am größten, die Partikel lassen sich nicht gegen-
eines Reaktionspartners beeinflussen, das heißt, ohne dass die verschie- einander bewegen. Die Wärmehüllen vergrößern
beteiligt war, als „ter-
denen Gaspartikel Kräfte aufeinander ausüben. sich bei Erwärmung, weshalb sich Festkörper
när", wenn von einem
Partner zwei Atome be- Jedes Gas verhält sich so, als ob die anderen ausdehnen. Die universelle Rolle der Wärme als
teiligt waren und so fort. Gase nicht vorhanden wären. Das bedeutet, dass abstoßende Kraft war für DALTON der Grund
Wasser sollte aus einem der Druck, den ein Gas in einem Gefäß ausübt, dafür, dass sich alle Gase zumindest innerhalb
Wasserstoff- und einem
Sauerstoffatom bestehen unabhängig ist vom Vorhandensein weiterer eines großen Temperaturbereichs gleich stark
(Nr. 21). Gase, die ihrerseits Druck ausüben. Der Gesamt- ausdehnen. Wäre diese Ausdehnung abhängig
von Anziehungskräften zwischen den Partikeln,
so müssten sich Gase verschieden stark ausdeh-
nen. Die Anziehungskräfte müssen ja von der
Natur der Gase abhängen, da sie für die spezifi-
schen chemischen Verbindungen verantwortlich
gemacht werden. Damit hatte DALTON 1801
sechs Monate vor GAY-LUSSAC (1778 – 1850) das
Erste Gesetz von Gay-Lussac entdeckt.
Atomgewichte messen
74
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Prinzip: In einer chemischen Verbindung ver- Dies schien der Atomtheorie zu widersprechen,
bindet sich immer eine ganz bestimmte Anzahl denn aus jeweils einem Volumen Stickstoff
Atome der Reaktionspartner miteinander. Daher u n d Saue r sto ff e n tsta n de n z we i Vo l u m e n
blieben ihre Gewichtsverhältnisse auch kons- Stickstoffmonoxid. Müsste das Volumen nicht
tant, unabhängig davon, ob es sich um wenige kleiner werden? Schließlich sollte sich ja die Zahl
75
KAPITEL 3 Historischer Überblick
Elementen gab es Isotope, also Varianten mit positiven Metalle enthielten. Dieses sogenannte
unterschiedlichem Atomgewicht aber gleichen dualistische System der Verbindungen konnte
chemischen Eigenschaften. In der Natur liegen viele chemische Reaktionen anschaulich deuten
meist Isotopenmischungen vor, weshalb sie keine und blieb lange Zeit populär.
ganzzahligen Vielfache des Wasserstoffs sein
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
konnten. Und noch etwas später erkannte man Verwirrende Vielfalt
die Zusammensetzung der Atomkerne aus Pro-
tonen und Neutronen, die beide den Hauptanteil Be r e i ts L AVOISI ER hatte nachgewiesen,
des Atomgewichts stellen. dass tierische oder pflanzliche Produkte im
Wesentlichen aus Kohlenstoff und Wasserstoff
3-63
u nd zu einem geringen Teil aus Sauerstof f
Justus von Liebig. JUSTUS Von Atomen zu Molekülen bestanden. Dies stand im Gegensatz zur toten
VON LIEBIG war ein äußerst Materie: Während diese offenbar aus einer
produktiver Chemiker. Mit
Hilfe des von ihm ent-
Obwohl die Atomtheorie das Gesetz der mul- g roßen Zahl von Elementen in einfachen
wickelten Kali-Apparats tiplen Proportionen stützte, beeinflusste sie Verbindungen bestand, war organische Materie
konnte man relativ einfach zunächst – ähnlich wie schon die Jahrhunderte aus wenigen Elementen mit einer großen
und sehr genau die Zu-
zuvor – die Chemie nur wenig. Vielen Che- Zahl an Atomen und Verbindungsvarianten
sammensetzung organi-
scher Stoffe bestimmen. mikern genügte der Begriff des Elements und aufgebaut. Die Chemiker FRIEDRICH WÖHLER
Er entdeckte, dass Pflan- die Vorstellung, dass diese in Verbindungen (1800 – 1882) und J U STUS V ON L IEBI G
zen aus dem Boden vor
stets in ganzzahligen Gewichtsverhältnissen (1803 – 1873, (Å Abbildung 3-63) stellten 1832
allem Stickstoff und Phos-
phor aufnehmen, was (Äquivalenten) vorlagen. Der Grund für diese fest, dass sich viele Atomgruppen organischer
ihn zur Entwicklung des Zurückhaltung lag darin, dass Chemikern die Verbindungen wie Elemente verhielten: Sie
Phosphatdüngers führte, bloße Vorstellung von Atomen bei drängenden blieben bei chemischen Reaktionen zusammen.
der die Agrarwirtschaft
des 19. Jahrhunderts re- Fragen nicht weiter half: Warum reagierten B E RZELIU S integrierte diese organischen
volutionierte. Der von ihm Elemente oder Verbindungen mit anderen auf Radikale in sein dualistisches System. Die
entwickelte Fleischextrakt die beobachtete Weise? Und wie konnte man positiv gedachten Radikale sollten sich mit
ist der Vorläufer heutiger
Brühwürfel. Auch der die Eigenschaften von Verbindungen vorher- negativen Elementen wie Sauerstoff verbinden.
Silberspiegel ist eine Erfin- sagen? Aus der Entdeckung, dass elektrischer Allerdings konnte dies nicht erklären, warum
dung Liebigs; vor seiner Strom Verbindungen wie Wasser in die Ele-
Einführung wurde giftiges
Quecksilber eingesetzt.
mente zerlegen kann, folgerten SIR HUMPHRY R
DAVY (1778 – 1829) und BERZELIUS, dass che- Radikale
mische Affinitäten eine Folge elektrischer An-
ziehungs- und Abstoßungskräfte sind (Å Die Heute wird unter einem Radikal eine Gruppe
Kraft der Elektrizität). BERZELIUS stellte sich von Atomen mit ungepaarten Elektronen ver- r
Atome elektrisch polarisiert vor, je nach Ele- standen, die leicht an chemischen Reaktionen
ment überwog dabei die positive oder negative teilnehmen. Die Gruppe wechselt dabei als
Ladung. Entsprechend der Spannungsreihe der Ganzes den Verbindungspartner. Radikale
Elemente sollte Kalium stark positiv, Sauer- sind extrem reaktionsfreudig und wirken
stoff stark negativ polarisiert sein, weshalb sich daher auch als Zellgift. Wichtige Radikale
beide besonders heftig miteinander verbanden. sind das Hydroxyl-Radikal (·OH), das in
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
Wasserstoff nahm eine neutrale Mittelstellung ionisierter Form für die basische Wirkung
ein. Die Trennung der Verbindungen durch von Seifenlaugen verantwortlich ist und das
Elektrolyse war möglich, weil die elektrische von LIEBIG und WÖHLER untersuchte Benzoyl-
Kraft die Verbindungspartner wieder auseinan- Radikal C7H5O·, das in der Benzoesäure, dem
3-64 der riss. BERZELIUS dehnte dieses Prinzip auch Benzoaldehyd und dem Benzylalkohol zu fin-
Liebigbilder. Liebigs auf Verbindungen aus. Sie sollten immer aus den ist. Grundsätzlich hatte BERZELIUS Recht,
Fleischextrakt wurde
einem negativen und einem positiven Teil beste- wenn er elektrische Kräfte zwischen Radikal
weltweit in Packungen
mit humoristischen oder hen, die er nach LAVOISIER als Radikale bezeich- und anderen Komponenten für ihre chemi-
informativen Bildern ver- nete. Metalloxide und Säuren verbanden sich schen Reaktionen verantwortlich machte. Der
kauft. Die Abbildung zeigt zu Salzen, weil Säuren (nach den Vorstellungen Prozess der Bindung ungepaarter Elektronen
eine deutsche Version mit
Darstellungen über Afgha- LAVOISIERs) den stark negativ polarisierten Sau- ist allerdings nur quantenmechanisch zu ver-
nistan. erstoff trugen, während die Metalloxide die stehen (ÅKapitel 4).
76
Erde, Wasser, Luft und Feuer
77
KAPITEL 3 Historischer Überblick
78
Erde, Wasser, Luft und Feuer
79
KAPITEL 3 Historischer Überblick
war allerdings in der Lage, mehr als nur Bekanntes zwisc h en Atomvo l umen (b estimmt d urc h
zu repräsentieren; es konnten keine neuen AVOGADROs Gesetz) oder Elektronegativität
Elemente vorhergesagt werden. Auch begriffliche und Atomgewicht deutlich gemacht zu haben.
Unsicherheiten behinderten zunächst weiteren Hier zeigt sich besonders gut die Periodizität der
Fortschritt. Bei einem Kongress in Karlsruhe Elemente.
1860 gelang es CANNIZZARO, den Unterschied Trotz dieser Teilerfolge bleibt MENDELEJE EWs
zwischen Äquivalent und Atomgewicht zu Veröffentlichung des Periodensystems 1869 der
klären und die von ihm bestimmten „echten“ entscheidende Durchbruch. Nicht nur war sein
Atomgewichte trugen viel zur Entwicklung des System vollständiger als alle anderen zuvor,
Periodensystems bei. MENDELEJ E EW erkannte auch als erster in aller
In der Zeit zwischen 1860 und 1870 folgte Deutlichkeit, wie wesentlich die aufsteigende
schließlich der Durchbruch, der mit MENDELEJ E EWs Ordnung der Atomgewichte war. Er hatte nicht
Periodensystem der Elemente den entscheidenden nur den Mut, Atomgewichte zu korrigieren,
Abschluss fand. 1862 erkannte ALEXANDRE-EMILE wenn sie dadurch aus chemischer Sicht an die
BÉGUYER DE CHANCOURTOIS R (1819 – 1886), dass „richtige“ Stelle rückten, sondern er betrachtete
die Eigenschaften der Elemente eine periodische Lücken in der aufsteigenden Ordnung als
Funktion des Atomgewichts sind. Er konstruierte Hinweis auf noch unentdeckte Elemente. Auf
ein Periodensystem in Form einer Helix, in der diese Weise postulierte er Eka-Aluminium, Eka-
Elemente mit gleichen Eigenschaften übereinander Bor und Eka-Silicium (von sanskrit eka, eins)
standen. Aufgrund der wenig anschaulichen als neue Elemente, die auch noch zu seinen
Form und weil es nur ungefähr Ähnlichkeiten Lebzeiten gefunden wurden. Eka-Aluminium
wiedergab, blieb dieses Modell weitgehend wurde 1875 von BOISBAUDRAN entdeckt, der es
unbeachtet. JOHN NEWLANDS (1837 – 1898) Gallium nannte. 1879 entdeckte der Schwede
postulierte das Gesetz der Oktaven, nach dem LARS FREDRIK NILSON (1840 – 1899) Eka-Bor
sich die chemischen Eigenschaften nach 8 und nannte es Scandium. Eka-Silicium wurde
Elementen wiederholen. Er entwickelte 1865 ein 1886 von K LEMEN S A LEXA NDER W INKLER
System aus 65 Elementen, in dem er bereits statt (1838 – 1904) entdeckt und erhielt, ganz der
3-70 Atomgewichten eine laufende Ordnungsnummer Tradition folgend, den Namen Germanium.
Das Periodensystem
Mendelejews. In dieser verwendete. Leider erkannte er nicht, dass Diese Erfolge überzeugten die meisten Chemiker
deutschen Übersetzung die heute als Nebengruppen bezeichneten von der Richti g keit des Periodens y stems.
von 1871 erkennt man die Untergruppen die Periodizität erhöhen (ÅTabelle M ENDELEJEW hatte einige chemische und
durchgängige horizontale
Ordnung nach aufstei-
3-68). 1864 veröffentlichte LOTHAR MEYER physikalische Eigenschaften der prognostizierten
gendem Atomgewicht. (1830 – 1895) in einem Lehrbuch eine Tabelle Elemente aufgrund ihrer vermeintlichen Position
Die vertikale Gruppierung von 28 Elementen, geordnet nach Atomgewichten im Periodensystem vorhergesagt, die sich als
folgt chemischen Eigen-
schaften, insbesondere
und Valenzen. Diese Tabelle wies bereits eine weitgehend zutreffend erwiesen.
der Wertigkeit, die sich Lücke für das damals noch unbekannte Element Natürlich blieb die Ursache der Ordnung der
durch die Verhältnisse in Germanium auf; MEYER wagte allerdings keine Elemente im 19. Jahrhundert ein Mysterium.
Verbindungen mit Was-
Prognose. Ein umfangreicheres Periodensystem Erst im 20. Jahrhundert gelang es, die Ordnung
serstoff und Sauerstoff
ausdrückt. Durch diese mit 52 Elementen entwarf er 1868 im Rahmen des Periodensystems aus der Struktur der Atome
Darstellung ergeben sich einer Vorlesungsreihe, veröffentlichte es aber erst selbst abzuleiten.
natürlicherweise Lücken, nach MENDELEJ E EWs Arbeit von 1869, weshalb sich
die oft durch später ent-
deckte Elemente aufgefüllt zwischen beiden ein Prioritätenstreit entspann. Feld und Materie
werden konnten. MEYERs Verdienst ist es, den Zusammenhang
Von der Natur des Lichts
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
I m Z e i ta l te r de r M ob il te l e f o n e wu n de rn
wir uns kaum mehr über die geheimnisvolle
Fernwirkung elektromagnetischer Strahlung,
g eschwei g e denn über ihre Fähi g keit, den
leeren Raum zu durchdringen. Obwohl schon
DEMOKRIT und EPIKUR die Existenz des leeren
R aumes postulierten, glaubten sie nicht,
80
Erde, Wasser, Luft und Feuer
dass eine Wirkung ohne materiellen Kontakt dass unser Auge das von Gegenständen reflek-
möglich sei. Und dank des Durchbruchs der tierte Licht wahrnimmt. Es fehlte allerdings noch
mechanistischen Naturphilosophie hatten lange Zeit eine schlüssige Theorie über die Natur
Verweise auf körperlose Wirkungen in der des Licht"stoffes“ selbst. NEWTON favorisierte
frühen Neuzeit den Ruch des My stischen. die Vorstellung, dass Licht ein Strom von Teil-
Elektromagnetische Felder und Wellen als etwas chen ist, während HUYGENS in Anlehnung an
real Existierendes zu betrachten, fiel Physikern DESCARTES glaubte, Licht sei eine Anregung des
lange schwer. Bis ins frühe 20. Jahrhundert Äthers. Das sogenannte Huygenssche Prinzip
hinein gingen die meisten davon aus, dass es erklärt auf dieser Basis anschaulich Brechung,
eine körperliche Substanz gibt, einen Äther, Beugung und Reflexion von Licht an Medien-
der Träger dieser Wellen ist. Der Entdecker grenzen (Å Abbildung 3-71). Gegen einen Strom 3-71
der elektromagnetischen Strahlung, HEINRICH aus Lichtteilchen sprach vor allem eines: Wie Huygensche Elemen-
H ERTZ ( 1857 – 1894 ) , d rüc k te d ies 1889 können sich Lichtstrahlen ungestört durchdrin- tarwellen. Trifft eine
Wellenfront wie dar-
folgendermaßen aus: gen? HUYGENS’ Modell orientierte sich deshalb gestellt schräg auf eine
an der Ausbreitung von Schallwellen in Luft, bei Mediengrenze, so breiten
Die Wellentheorie des Lichts ist, menschlich dem diese Schwierigkeit nicht bestand. Die Rolle sich von links beginnend
gesprochen, Gewißheit: was aus derselben mit der Luft nahm der Äther ein, dessen Teilchen um Elementarwellen im un-
Notwendigkeit folgt, ist ebenfalls Gewißheit. Es teren Medium aus. Ist die
ist also auch gewiß, daß aller Raum, von dem
vieles kleiner, elastischer und härter sein sollten Ausbreitungsgeschwindig-
wir Kunde haben, nicht leer ist, sondern erfüllt als die der übrigen Materie. Durch ihre geringe keit im unteren Medium
Größe konnten sie sich auch zwischen anderen größer als im oberen, sind
mit einem Stoffe, welcher fähig ist, Wellen zu
die ersten Elementarwel-
schlagen, dem Äther. Materieteilchen bewegen, weswegen Licht durch len schneller als die später
ein evakuiertes Glasgefäß zu scheinen vermag. eintreffenden. Die Wel-
Erst EINSTEINs Relativitätstheorie machte den A uc h N E WTO N vertrat zeitweise die lenfront, gebildet aus den
Scheiteln aller Elemen-
Äther überflüssig. In seinen Worten: Vorstellung eines raumerfüllenden Äthers. Licht tarwellen knickt deshalb
bestehe aus Teilchen, die sich durch den Äther nach innen ein.
Physikalischer Raum und Äther sind nur ver- bewegen, wogegen Wärme durch Schwingungen
schiedene Ausdrücke für ein und dieselbe Sache; des Äthers selbst verursacht werde, vermutete er.
Felder sind physikalische Zustände des Raumes.
Denn wenn dem Äther kein besonderer Bewe-
Die geradlinige Ausbreitung des Lichts konnte
gungszustand zukommt, so scheint kein Grund seiner Ansicht nach nicht durch die Bewegung
dafür vorzuliegen, ihn neben dem Raum als ein des Äthers selbst hervorgerufen werden,
Wesen besonderer Art einzuführen. die turbulente Wärmeausbreitung hingegen
sehr wohl. N EW T O N s Kor p uskulartheorie
Dass es sich bei Licht, Magnetismus und Elek- konnte Brechung, Streuung und Reflektion
trizität um die Wirkung derselben Kräfte han- weniger elegant erklären, dafür aber die
delt, war bis zum 19. Jahrhundert unbekannt. unterschiedliche Polarisation des Lichts beim
Bedenkt man die Vielfalt und Verschiedenheit Durchgang durch doppelbrechende Kristalle.
dieser Erscheinungen, so zählt ihre erfolgreiche HUYGENS ging von Ätherschwingungen parallel
Erklärung durch eine einzige Theorie zu den zur Ausbreitungsrichtung aus, sogenannten
größten Erfolgen der Physik. Als unerwartet Longitudinalwellen. Die Schwingungen
schwierig erwies sich aber, das Zusammenspiel konnten sich also nicht unterscheiden, die
zwischen Strahlung und Materie zu erklären. Polarisation blieb unerklärt. Als später THOMAS
Y OU N G ( 1773 – 1829 ) und A UGUS TI N J EA N
Welle oder Korpuskel – FRESNEL (1788 – 1827) zeigten, dass Licht eine
HUYGENS oder NEWTON Transversalwelle ist (das heißt, die Schwingung
erfolgt senkrecht zur Ausbreitungsrichtung),
Lange Zeit war der Zusammenhang zwischen k o nn te auc h d i e P o l a ri sat i o n du r c h d i e
betrachtetem Gegenstand, Auge und Licht im We ll e n t h eo ri e e rkl ä r t we r de n . N E W T O N S
Wahrnehmungsprozess umstritten. Unklar war Korpus k u l art h eorie h errsc h te d ennoc h
unter anderem, ob etwas vom Gegenstand aus- knapp ein Jahrhundert lang vor, bis 1802 die
ging und das Auge trifft oder ob das Auge Seh- Doppelspaltexperimente von THOMAS YOUNG
strahlen aussendet. Der islamische Gelehrte IBN endgültig den Nachweis erbrachten, dass Licht
AL HAITHAM kam schließlich zu dem Schluss, eine Wellenerscheinung war.
81
KAPITEL 3 Historischer Überblick
wärmt die Erde und spendet uns Licht; alle licher Zeit bekannt. Unerklärlich blieben die
chemischen Reaktionen von der Verbrennung Fernwirkung von Magneten und die Fähigkeit,
bis zum Stoffwechsel sind Folgen elektromag- durch andere Stoffe hindurch zu wirken. So
netischer Kräfte. Und natürlich ist die Funktion zitiert ARISTOTELES THALES, der Magneten eine
unseres Gehirns ohne sie nicht denkbar. Seele zuschrieb, weil sie in der Lage waren, Kör-
Das Phänomen der elektrostatischen Anzie- per ohne direkten Kontakt zu bewegen.
3-72 hung nach Reiben von Bernstein war bereits
Natürlicher Bernstein.
Das fossile Baumharz
in der Antike bekannt. In vornehmen antiken Von fließenden Formen und Ausflüssen
enthält oft Einschlüsse von Haushalten wurde Bernstein als Kleiderbürste
Pflanzen- und Tierresten. verwendet, weil er den Staub anzog. Der Begriff Die Erklärungsversuche von Magnetismus und
Es schwimmt auf Wasser
und lässt sich polieren.
Elektron leitet sich vom griechischen Namen Elektrizität waren in der Neuzeit zunächst ge-
Dank seines hohen elek- électron des Bernsteins ab, was so viel bedeutet prägt durch die vorherrschenden naturphilo-
trischen Widerstands leitet wie „hell, glänzend, strahlend“. Die Germanen sophischen Strömungen. Auf der einen Seite
er durch Reibung entste-
fanden seine Brennbarkeit bemerkenswert: Bern- standen mechanistische Erklärungen, auf der
hende Oberflächenladun-
gen schlecht ab und zeigt stein stammt ab vom mittelniederdeutschen bör- r anderen Seite solche, die sich noch auf aristote-
elektrische Phänomene nen (brennen). Die Natur der elektrischen Phäno- lisches Gedankengut oder Sympathien stützten.
wie etwa die Anziehung
mene bereitete anfangs reichlich Kopfzerbrechen. Besonders schwierig war Elektrizität einzuord-
kleiner Papierschnipsel.
Der griechische Name für Kleine Partikel konnten zunächst angezogen und, nen. Sowohl die elektrisierbaren als auch die
Bernstein ist Elektron. angezogenen Stoffe waren völlig unterschied-
licher Natur, so dass es schwer fiel, ihnen eine
Richtungsweisend: der Magnetkompass gemeinsame Eigenschaft zuzuschreiben. Auch
das delikate Zusammenspiel von Anziehung und
Die ersten Aufzeichnungen über den Ge-
Abstoßung narrte die Experimentatoren.
brauch eines Magnetkompasses für die Na-
Dem Londoner Arzt WILLIAM GILBERT
vigation in Europa stammen von dem engli-
(1544 – 1603) verdanken wir den Begriff Elektri-
schen Wissenschaftler ALEXANDER NECKAM
zität für die Kraft, die elektrisch geladene Stoffe
(1157 – 1217). Am bekanntesten ist der aus-
ausüben, und die Entdeckung weiterer elektri-
führliche Bericht PETER PEREGRINUS von 1269
sierbarer Stoffe neben Bernstein. Er bezeichnete
über in Wasser sich ausrichtende Magnet-
diese Stoffe als Electrics. GILBERT
R betrachtete die
steine und trocken gelagerte Magnetnadeln.
magnetische Kraft als eine essenzielle Eigenschaft
Er nannte die beiden Enden der Magnete in
des Erdelements. Sie sei im aristotelischen Sinn
Anlehnung an die Erde „Pole".
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
82
Erde, Wasser, Luft und Feuer
weil die innen zugeführte elektrische Materie in alle Beobachtungen überzeugend erklären, und
gleicher Menge durch die geerdete Außenseite die Natur der elektrischen Kräfte und Ladungen
abgeführt wird, eine isolierte Flasche vermag dies blieb noch einige Zeit im Dunkeln.
nicht. Weil FRANKLIN negative Ladung als einen
Mangel an elektrischer Materie ansah (und nicht Wo steckt die Ladung?
3-78 als eine andere Art von Ladung), war allerdings
Franklins Experiment. Es
ist nicht jedermanns Sa-
schwer zu erklären, warum sich negative geladene FRANKLIN glaubte, dass bei Leidener Flaschen
che, einen Drachen in eine Körper abstoßen. die elektrische Materie im Glas stecke und beim
Gewitterwolke steigen zu Auch FRANKLIN bemühte sich um eine me- Aufladen aus diesem verdrängt werde. Erstaun-
lassen. Aus heutiger Sicht
chanistische Erklärung der abstoßenden und
hatte BENJAMIN FRANKLIN 3-80
großes Glück, seinen be- anziehenden Wirkung elektrischer Materie. Sie Franklins Ladungen. Für FRANKLIN gab es nur eine Art
rühmten Versuch zu über- sollte Folge einer elektrischen Atmosphäre sein, elektrischer Ladung. Ein Körper ist positiv geladen, wenn
leben, bei dem er Funken die geladene Körper umgibt. Überschüssige La- er zuviel und negativ, wenn er zu wenig davon enthält.
aus einem Metallschlüssel Jeder Körper enthält im neutralen Zustand eine ihm zuge-
am Ende der Drachen- dung war in dieser Atmosphäre konzentriert und
ordnete Ladungsmenge.
schnur ziehen konnte. sorgte für die Fernwirkung auf Körper in der
84
Erde, Wasser, Luft und Feuer
lich war ein Versuch von ALESSANDRO VOLTA jeweils bestehend aus einer Kupfer- oder Silber-
(1745 – 1827). Er goss einen Zinnteller mit Harz und einer Zinkscheibe. Zwischen den Elementen
aus, elektrisierte das Harz durch Reibung und wird eine mit Salzwasser gedrängte Papp- oder
erdete den Zinnteller. Daraufhin legte er eine Filzscheibe gelegt. In der Kupfer-Zink – Version
an seidenen Schnüren aufgehängte, mit Metall- konnten bei 23 Elementen immerhin etwa 36
folie überzogenen Scheibe auf die Harzfläche Volt Spannung erzielt werden. Durch nicht unge-
(ÅAbbildung 3-81). Dann entlud er die Scheibe fährliche Selbstversuche mit Zunge, Augen und
85
KAPITEL 3 Historischer Überblick
lang ihm der Nachweis der magnetischen Induk- Grundla g e der O p tik, der Nachrichten-
tion. Bereits vorher vermutete man, dass elektri- und der Starkstromtechnik , in ihnen sind
sche Ströme sich nicht nur magnetisch, sondern praktisch alle elektrischen und magnetischen
auch elektrisch beeinflussen sollten, wie dies Erscheinungen vereint. MAXWELL nutzte die
elektrische Ladungen tun. Aber erst FARADAY Feldlinienvorstellungen FARADAYS und erkannte
3-84 erkannte, dass nicht der Strom selbst, sondern auch die Symmetrie der elektromagnetischen
Andre Marie Ampère
die Änderung g der Stromstärke eine Spannung in Erscheinungen. Ein sich änderndes elektrisches
(1775 – 1836). Er vermu-
tete, dass Magnetismus einem zweiten Leiter induzierte. FARADAY nutzte
durch winzige Stromkreise um stromführende Leiter kreisende Feldlinien
erzeugt wird und sollte als Modell der elektromagnetischen Wirkung.
damit recht behalten.
Sie sollten sowohl die mechanischen Kräfte
zwischen Leitern oder Magneten als auch die
Strominduktion vermitteln. Die damals übli-
chen Vorstellungen gingen von einer Fernwir-
kung zwischen Körpern aus, die wie unsichtbare
Fäden nur auf deren Verbindungslinie wirken
sollte. Erst die Idee FARADAYs, dass Kräfte im 3-86
Faradayscher Käfig. FARADAY ist vor allem durch den Fa-
3-85 radayschen Käfig bekannt. Durch ein äußeres elektrisches
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
Michael Faraday. Der Physiker auf einer frühen Daguer- Feld (äußere Platten) werden in einem Leiter (Kasten
rotypie. Er begann sich während seiner Buchbinderlehre innen) die Elektronen so verschoben, dass das dadurch
für die Naturwissenschaften zu interessieren. Seine Noti- entstehende Feld das äußere gerade kompensiert: Das In-
zen sandte er an DAVA Y, der ihn daraufhin 1813 als Assis- nere des durch den Leiter umschlossenen Bereichs bleibt
tent der Royal Institution in London anstellte. Dort wurde feldfrei. Dieser Effekt schützt vor dem Feld eines Blitzes,
er 1827 Professor für Chemie. der in den Käfig einschlägt.
86
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Feld erzeugt ein Magnetfeld und umgekehrt. Auf Verfügung standen, um Gebilde wie Wirbell oder
diese Weise kann sich eine elektromagnetische Kraftlinien auch quantitativ zu beschreiben, ent-
Welle (je nach Schwingungsfrequenz standen im Laufe des 19. Jahrhunderts immer
als Radiowelle, Radarstrahl, Licht oder ausgefeiltere Modelle eines Mediums, das alles
Röntgenstrahl) durch wechselseitige Erregung durchdringen und Träger der elektromagneti-
im freien Raum ausbreiten ( Å K aste n Di e schen Kräfte sein sollte: der Äther. Es sollte einige
87
KAPITEL 3 Historischer Überblick
88
Erde, Wasser, Luft und Feuer
89
KAPITEL 3 Historischer Überblick
Energie-Impuls-Tensor. der Nachweis, dass es sich bei Kathodenstrahlen kann. War mithin Masse nichts an d eres
Der Energie-Impuls-Tensor
T
ist eine mehrkompo- um negativ geladene Teilchen handelte. JOSEPH a ls ein elektromagnetischer Effekt? Die
nentige mathematische JOHN THOMPSON (1856 – 1940) bestimmte 1897 elektromagnetische Theorie der Masse erfreute
Größe, in der die Energie- deren Masse aus der Ablenkung in einem Ma- sich bis Anfang des 20. Jahrhunderts großer
und Impulsdichte in Zeit
und Raum beschrieben
gnetfeld und der durch die kinetische Energie Beliebtheit. Im Gegensatz zu den mechanischen
wird. In einem druck- und an der Anode entstehenden Wärme. Er entwi- Ä thertheorien des Elektromagnetismus
beschleunigungsfreien ckelte auch ein Modell des Atoms, in dem die erschien sie wesentlich eleganter und einfacher.
Bezugssystem reduziert
sich der T
Tensor auf die
Elektronen in die Materie des Atoms wie in Auch konnten um die Jahrhundertwende die
Energiedichte. Ruht in einem Pudding eingebettet waren oder sich darin Physiker HENRI POINCARÉ (1854 – 1912) und
diesem Bezugssystem auf Kreisbahnen bewegten (ÅDie Struktur des MAX ABRAHAM (1875 – 1922) zeigen, dass
ein homogener Körper
Atoms, Seite 98). dem elektromagnetischen Feld umgekehrt ein
der Dichte ρ, so ist der
Energie-Impuls-Tensor
T Impuls zugeordnet werden kann, der auf Körper
innerhalb des Körpers Lorentz’ Elektronentheorie als Strahlungsdruck wirkt. Da auch hier der
einfach gleich ρc2, c ist die Impulserhaltungssatz gelten musste, konnte man
Lichtgeschwindigkeit. Dies
folgt aus der Einsteinschen MAXWELL und HERT R Z nahmen einen überall ru- einem Feld der Energie E die Masse m zuordnen,
Beziehung E = mcc2 für die henden Äther an, bewegte Ladungen sollten ört- nach der etwas später durch EINSTEIN berühmt
Gesamtenergie des Kör- liche Änderungen des Ätherzustands bewirken, gewordenen Formel E = mc2.
pers mit der Masse m.
sichtbar durch entsprechende Feldstärkeände- Falls Masse ausschließlich elektromagneti-
rungen. Ein ruhender Äther stand allerdings im scher Natur sein sollte, musste für sie nach HEA-
Widerspruch zur experimentell gut belegten Fres- VISIDE, WIEN und ABRAHAM allerdings E = ¾mc2
nelschen Gleichung. Sie wies auf einen mit dem gelten.
Medium mitbewegten Äther hin. Das Problem, Das von den Vertretern der elektromag-
den Bewegungszustand des Äthers widerspruchs- netischen Theorie angestrebte Ziel, auch die
frei zu bestimmen, führte letzten Endes zu dessen Gravitation und die molekularen Kräfte auf
Aufgabe im Zuge der Speziellen Relativitätsthe- die Dynamik elektrischer Ladungen zurück zu
orie. HENDRIK ANTOON LORENTZ (1853– 1928) führen, erwies sich letzten Endes als undurch-
gelang es 1892 in seiner Elektronentheorie, führbar. Und doch bereiteten sie den Weg für
sowohl die Fresnelsche Gleichung als auch die eine andere Theorie, die die Äquivalenz von
Maxwellschen Gleichungen für stoffliche Medien Masse und Energie postulierte: die Spezielle
mit der Bewegung freier Elektronen und den Relativitätstheorie EINSTEINs. 1933 gelang der
Schwingungen elektrischer Dipole zu begründen; endgültige experimentelle Nachweis der voll-
der Äther ruhte im Raum und diente lediglich als ständigen Äquivalenz beider Größen. Die Phy-
Träger elektromagnetischer Felder. Ursprung aller siker PATRICK MAYNARD BLACKETT (1897 – 1974)
elektrischen und magnetischen Erscheinungen und GUISEPPE OCCHIALINI (1907– 1993) zeigten
waren nach LORENTZ ausschließlich (bewegte) die Erzeugung von Elektron-Positron-Paaren aus
elektrische Teilchen. Die Frequenzabhängigkeit Gammastrahlung und deren Vernichtung. Auch
des Brechungsindexes, die Dispersion, konnte die Abweichung um den Faktor ¾ zwischen der
LORENTZ damit ebenso erklären wie die 1896 ent- elektromagnetischen Theorie und der Relativi-
deckte Aufspaltung der Spektrallinien im Magnet- tätstheorie konnte erklärt werden. Erstere be-
feld, den nach seinem Entdecker PIETER ZEEMAN rücksichtigte nur das elektrische Feld außerhalb
(1865 – 1943) benannten Zeeman-Effekt. Beide des Körpers. Bezieht man das Innere des Körpers
erhielten dafür 1902 den Nobelpreis. über den sogenannten Energie-Impuls-Tensor
mit ein, erhält man EINSTEINs Resultat.
Ist Masse elektromagnetischer Natur?
Wärme und Materie
Berechnungen der Physiker THOMPSON, OLIVER
H EAV I S I DE ( 185 0 – 1925 ) , G EO R GE S E ARLE Wohl temperiert
(1864 – 1954) und WILHELM WIEN (1864 – 1928)
zei g ten g e g en Ende des 19. J ahrhunderts, Das Wort Temperatur ist lateinischen Ursprungs
dass die Energie des elektromagnetischen und bedeutet „gemischt sein“. Im Einklang mit
Feldes eines bewegten geladenen Körpers den zwei universellen Eigenschaftspaaren warm-
auch als Massezuwachs gedeutet werden kalt und trocken-nass wurde für Temperatur
90
Erde, Wasser, Luft und Feuer
91
KAPITEL 3 Historischer Überblick
quantitativ gut erklären konnte. Den Ausschlag leichter sein musste als jede andere Substanz. Es
für die Bewegungstheorie ("kinetische schien zudem unerschöpflich zu sein! Schließlich
Theorie“) der Wärme gaben die entdeckte war es möglich, beliebig viel Wärme aus einem
Äquivalenz von Wärme und mechanischer Körper durch Reibung zu gewinnen. Bohrte
Arbeit sowie der erfolgreiche Ansatz, mit Hilfe man ein Kanonenrohr mit einem scharfen
statistischer Methoden Wärmephänomene auf Bohrer entstand weniger Wärme als mit einem
die Bewegung vieler Teilchen zurückzuführen. stumpfen, da dieser wesentlich länger brauchte.
Wo kam diese praktisch beliebige Menge
Wärme als Substanz Caloricum her?
Trotz dieser offenen Fragen war die Zeit
Der schottische Mediziner und Chemiker noch nicht reif für eine andere Theorie der
WILLIAM CULLEN (1710 – 1790) identifizierte Wärme. Auch SADI NICOLAS LEONARD CARNOT
Feuer mit dem abstoßenden Äther NEWTONs. (1796 – 1832), der Grundlegendes zur Theorie
Äther war in seiner Vorstellung auch für der Wärmekraftmaschinen leistete, ging noch
chemische Reaktionen verantwortlich, bei denen vom Substanzcharakter der Wärme aus. Dem-
oft Hitze, also Äther, ausgetauscht wurde. Seine gegenüber erschienen viele Versuche einer Erklä-
Theorie war zwar bei der Erklärung chemischer rung auf Basis der Bewegung von Materie sehr
Reaktionen nicht erfolgreich, führte aber zu hypothetisch und wurden lange nicht akzeptiert.
einer wichtigen Entdeckung seines Schülers
JOSEPH BLACK (1728 – 1799). Dieser zeigte, Wärme als Bewegung
dass Körper gleicher Masse unterschiedlich viel
Wärme aufnehmen können und dass besonders Nach BACONs qualitativen Schlussfolgerungen
während des Schmelzens und Verdampfens entstanden erste quantitative Ergebnisse einer
Wärme absorbiert wird. Da die dabei zugeführte kinetischen Theorie der Wärme in Basel. DANIEL
Wärme die Temperatur nicht erhöht, nannte BERNOULLI (1700 – 1782) veröffentlichte 1738
er sie latente Wärme. Die unterschiedliche sein Werk Hydrodynamica, in dem er den Druck
Wärmekapazität bei gleicher Masse widersprach von Gasen auf die Gefäßwände als Folge der
nach Meinung BLACKs einer kinetischen Theorie Stöße ihrer kleinsten Teilchen beschrieb. Dieser
der Wärme; er vermutete, es handele sich um Druck sei proportional zum Quadrat ihrer
eine elastische Flüssigkeit, deren Teilchen sich Geschwindigkeit und Wärme nichts anderes
zwar gegenseitig abstoßen, sich aber leicht mit als ihre kinetische Energie. Während seine
Materiepartikeln verbinden. Die Abstoßung Ausführungen aus heutiger Perspektive den Nagel
ist dabei die Ursache der Wärmeausdehnung auf den Kopf trafen, fanden sie zu BERNOULLIs
der Körper. LAVOISIER nahm das Caloricum, Zeit wenig Beachtung. Auch andere nach ihm traf
wie wir schon gesehen haben, als chemisches diese Ignoranz. So JOHNN HERAPATH (1790 – 1868),
Element in seine Tabelle auf. Den größten Erfolg der ähnliche Gedanken wie BERNOULLI hatte,
feierte die Substanztheorie bei JEAN BAPTISTE insbesondere aber den jungen schottischen
JOSEPH FOURIERs (1768 – 1830) Theorie der Physiker JOHN JAMES WATERSTON (1811 – 1883),
Wärmeleitung von 1807. Er behandelte den der 1845 aus Bombay einen Artikel an die Royal
Strom des Caloricums von einem warmen zu Society sandte, der vieles aus der kinetischen
einem kalten Körper wie den Strom von Wasser Gastheorie vorwegnahm. Sein Artikel wurde
entlang eines Gefälles. Dem Gefälle entsprach abgelehnt, da ihn einer der Lektoren als „Unsinn“
die Temperaturdifferenz. abtat. Erst 1891 veröffentlichte Lord RAYLEIGH
Sollte das Caloricum existieren, so musste (1842– 1919) den Artikel im Namen der Royal
es auf jeden Fall extrem fein sein. Nicht nur, Society, in deren Archiven er ihn gefunden hatte.
dass es jede Substanz durchdringen konnte, es Zu dieser Zeit hatte sich die kinetische Theorie
war offenbar auch sehr leicht, wie BENJ N AMIN bereits durchgesetzt, nachdem sie zunächst
T H OMPSO N (175 3 – 1814) feststellte. G RAF vo n A UGU ST K ARL K R ÖNIG (182 2 – 1879)
RUMFORD, wie THOMPSONs Titel nach Erhebung 1856 wieder aufgenommen wurde. KRÖNIG
in den Adelsstand durch den bayrischen König verwendete ein stark vereinfachtes Modell der
lautete, stellte nach sehr genauen Messungen Teilchenbewegung, um die Zustandsgleichung
fest, dass Caloricum um ein millionenfaches der idealen Gase herzuleiten.
92
Erde, Wasser, Luft und Feuer
RUDOLF JULIUS EMANUEL CLAUSIUS (1822 – 1888) „lebendige Kraft“ (vis viva) gebräuchlich (nicht zu
und JAMES CLERK MAXWELL sorgten für den verwechseln mit der vis vitalis, die allem Organi-
Durchbruch der kinetischen Theorie der Wärme. schen innewohnen sollte). LEIBNIZ nahm bereits
CLAUSIUS berücksichtigte in seinem Artikel Über an, dass die Größe mv2 in einem dynamischen Sys-
die Art der Bewegung, welche wir Wärme nennen tem erhalten bleibt. Der Energiebegriff wurde erst
von 1857 nicht nur geradlinige Bewegungen der allgemein akzeptiert, als seine universelle Bedeu-
Moleküle, sondern auch Rotationen und Vibrati- tung über mechanische Systeme hinaus sichtbar
onen zur Herleitung der Zustandsgleichung. Auch wurde. Das Gesetz von der Erhaltung der Energie, 3-93
Gase. Bei Zimmertempe-
beschrieb er Verdunsten als dynamischen Prozess, gleich welcher Form, haben wir drei Männern
ratur liegt die Geschwin-
bei dem schnelle Moleküle die Bindungskräfte in zu verdanken: JOULE, MAYER und HELMHOLTZ. digkeit von Luftteilchen
der Flüssigkeit überwinden konnten. In einem Der Energieerhaltungssatz wird auch der Erste in der Größenordnung
von 500 m/s. Die mitt-
geschlossenen Gefäß geschehe dies solange, bis Hauptsatz der Thermodynamik genannt. Dem-
lere freie Weglänge, die
im Mittel pro Zeiteinheit genauso viele Moleküle nach kann Energie nicht aus Nichts erzeugt wer- r durchschnittliche Distanz
entweichen wie in die Flüssigkeit wieder eintre- den, ein Perpetuum mobile ist also unmöglich. bis zum nächsten Zusam-
ten. CLAUSIUS berechnete auch die Geschwindig- Der Zweite Hauptsatz ist noch enttäuschender: menstoß, beträgt jedoch
bei Normaldruck nur ca.
keit von Gasmolekülen. Die sehr hohen Werte Die Umwandlung von Energieformen ineinander 68 nm.
um 500 m/s stießen bei manchen Zeitgenossen ist (fast) immer ein Verlustgeschäft!
auf Skepsis. Wenn Gasmoleküle so schnell sind,
warum riecht man nicht die in ein Zimmer ge- Energieerhaltung
tragenen Speisen im gleichen Moment wie man
sie sieht? CLAUSIUS argumentierte völlig korrekt, Bereits im 18. Jahrhundert war die Erhaltung Energieerhaltung
dass die Moleküle nicht geradlinig fliegen, son- mechanischer Energie Konsens unter den Phy- Bereits LEIBNIZ vermutete,
dass die Größe mv2 in ei-
dern durch laufende Zusammenstöße einem Zick- sikern, die Pariser Academie des Sciences nahm nem dynamischen System
zackkurs folgen. Er entwickelte das Konzept der seit 1775 keine Perpetuum mobile – Entwürfe erhalten bleibt.
mittleren freien Weglänge, der Strecke, die ein Mo- mehr an. Von einer Äquivalenz zwischen Wärme
lekül im Mittel zwischen zwei Kollisionen zurück- und mechanischer Energie war indes noch keine Kraft
legt. In Luft unter Standardbedingungen ist diese Rede. Geht man von der Substanztheorie der Noch bis in die zweite
Hälfte des 19. Jahrhun-
Strecke gerade einmal 68 Nanometer (nm) lang. Wärme aus (Caloricum), ist eine solche Äqui- derts wurde der Begriff
MAXWELL gelang es schließlich mathematisch zu valenz auch nicht nahe liegend, schließlich ist „lebendige Kraft“ im
zeigen, dass die Geschwindigkeitsverteilung der die Substanz eines fallenden Steins nicht mit Sinne von Energie ver-
wendet.
Gasmoleküle einer Gausskurve entspricht, deren seiner kinetischen Energie identisch. NICOLAS
Mittelwert und Streuung von der Temperatur LÉONARD SADI CARNOT (1796 – 1832), der 1824
abhängen (ÅGleichverteilungssatz und Maxwell- erstmals die Funktion von Wärmekraftmaschi-
Boltzmann-Verteilung, Seite 400). nen theoretisch beschrieb, nahm an, dass deren
Arbeitsleistung durch den Fluss des Caloricums
zwischen Heizkessel und Kondensator erzeugt
Energie und Entropie werde, so wie fließendes Wasser ein Mühlrad
antreibt. Die durchfließende Menge an Ca-
Erster Hauptsatz der Thermodynamik : loricum blieb, wie das Wasser im Mühlbach,
Du kannst nicht gewinnen! konstant.
Im Jahr 1841 stellte JOULE anhand der
Zweiter Hauptsatz der Thermodynamik: Wärmeentwicklung eines stromdurchflossenen
Du kannst nicht einmal gleichziehen!
Leiters fest, dass es offenbar eine Äquivalenz
zwischen elektrischem Strom und Wärme gab:
Der Begriff Energie (griech. energeia, Werk, Die erzeugte Wärmemenge war dem Quadrat
Wirken) wurde um 1800 von THOMAS YOUNG der Stromstärke proportional. Zwei Jahre später
(1773 – 1829) für die Summe aus potenzieller und gelang es ihm, auch die Äquivalenz von me-
kinetischer Energie (wie man diese Größen heute chanischer Energie und Wärme nachzuweisen.
nennt) einer schwingenden Feder verwendet. Noch Er verwendete hierzu einen Rührer in einem
bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war Wassergefäß, der durch ein nach unten sin-
für die kinetische Energie der von GOTTFRIED kendes Gewicht angetrieben wurde und maß
WILHELM LEIBNIZ Z (1646 – 1716) geprägte Begriff die Temperaturerhöhung des Wassers aufgrund
93
KAPITEL 3 Historischer Überblick
Naturkräften der Fall. HELMHOLTZ argumen- erkannte er, dass es keinen Prozess geben kann,
tierte, dass man daher den Satz von der Erhal- der Entropie vernichtet. Zwar ist es möglich, die
tung der Energie als eigentliches Fundament Entropie an einem Ort zu senken; dazu muss sie
der Naturgesetze ansehen kann, die Form der jedoch an anderer Stelle um mindestens den glei-
Bewegungsgleichungen ergibt sich daraus. chen Betrag zunehmen. In einem abgeschlossenen
3-94 Eine weitere Konsequenz seiner Überlegun- System nimmt die Entropie daher solange zu, bis
Ludwig Boltzmann. Auf
gen war, dass die Bewegungsgesetze nicht von ein Maximum erreicht ist und verbleibt dann
seinem Grabstein auf dem
Zentralfriedhof in Wien der Zeit abhängen können. Ihre Zeitinvarianz dort. Bestehen anfangs Temperaturunterschiede
ist S = k·log W eingraviert. ist eine Folge des Energieerhaltungsatzes, sie in einem isolierten Gefäß, so herrscht irgendwann
BOLTZMANN litt zeitweise sind „symmetrisch in der Zeit“. Symmetrien überall die gleiche Temperatur. Die Entropie des
an starken Depressionen
und starb 1906 durch sind heute wichtiges Konstruktionsprinzip bei gesamten Universums kann also ebenfalls nur
Selbstmord. der Suche nach fundamentalen Theorien wie bis zu einem Maximum zunehmen, da man das
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Erde, Wasser, Luft und Feuer
95
KAPITEL 3 Historischer Überblick
Ihre Mächtigkeit konnten die Hauptsätze der Doch wenn Strahlungsenergie und -spektrum
Thermodynamik auch bei der Erforschung der nicht von der Beschaffenheit eines Körpers ab-
Wärmestrahlung von Körpern unter Beweis hängen, wovon hängen sie dann ab? KIRCHHOFF
stellen. Mit ihrer Hilfe gelang es bis 1900, die konnte immerhin zeigen, dass sie eine Funktion
korrekten Strahlungsgesetze aufzustellen, ohne der Temperatur des Körpers sind.
dass der Aufbau der Materie im Detail bekannt
war. Allerdings machte diese Entwicklung Wi- Strahlungsgesetze von Stefan bis Planck
dersprüche im wohlgeordneten Gebäude der
klassischen Physik deutlich, die entscheidend JOSEF STEFAN (1835 – 1893) kam durch die Aus-
zur Entwicklung der Quantenphysik beitrugen, wertung von Experimenten 1879 zum Schluss,
wie wir später sehen werden. dass die Gesamtstrahlungsdichte über alle Fre-
quenzen des Hohlraumstrahlers proportional
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
Hohlraumstrahlung und schwarzer Körper zur 4. Potenz seiner Temperatur sein sollte. Diese
Vermutung untermauerte BOLTZMANN
Z N 1884 durch
Der Musiker und Astronom FRIEDRICH WILHELM ebenso einfache wie geniale Überlegungen auf
HERSCHEL (1738 – 1822) entdeckte 1800, dass Basis der Elektrodynamik und der Thermody-
bei der Spektralzerlegung des Sonnenlichts ein namik, wieder ohne spezifische Annahmen über
3-97 in den Bereich jenseits des Rots gehaltenes Ther- die Natur des umschließenden Materials. Darauf
Infrarotstrahlung. mometer den stärksten Temperaturanstieg zeigt aufbauend zeigte WILHELM WIEN (1864 – 1928) in
FRIEDRICH WILHELM
HERSCHEL entdeckte um
(ÅAbbildung 3-97). Offenbar stammte ein gro- den Jahren 1893/94, dass die Strahlungsdichte
1800 Strahlung jenseits ßer Teil der Strahlungsenergie der Sonne aus dem bei einer Frequenz υm ein Maximum erreicht,
des roten Bereichs im unsichtbaren, infraroten Bereich, dem Bereich wobei υm proportional zur 3. Potenz der Tem-
Sonnenspektrum. Oben:
der Wärmestrahlung. Mit Hilfe einfacher Über- peratur ist. Er leitete das sogenannte Wiensche
Originallupe und Ther-
mometer von HERSCHEL legungen auf Basis der beiden Hauptsätze konnte Verschiebungsgesetz ab, mit dessen Hilfe man
(Greenwich Observatory). KIRCHHOFF 1860 nachweisen, dass ein Körper, das Strahlungsspektrum für eine Temperatur
96
Erde, Wasser, Luft und Feuer
97
KAPITEL 3 Historischer Überblick
Die Struktur des Atoms kinetische Theorie wenig ändern, ihr Modell von
Atomen als elastische Billardkugeln war weit
Moderne Atomtheorien von realen Objekten entfernt. Der Atomtheorie
verhalfen Entdeckungen zur Akzeptanz, die das
Die Atomtheorie hat in der Physik eine ähn-
liche Funktion wie gewisse mathematische „Innenleben“ von Atomen auf eine Weise offen-
Hilfsvorstellungen; sie ist ein mathematisches barten, die letzten Endes keinen vernünftigen
Modell zur Darstellung der Tatsachen. Wenn Zweifel an deren Existenz mehr zuließ.
man die Schwingungen durch Sinusformeln
... darstellt, so denkt doch niemand daran,
dass die Schwingungen an sich mit einer Win- Zitternde Pollen
kel- oder Kreisfunktion ... zu schaffen hat.
ERNST MACH, zit. nach Melsen. Es gab ein Indiz für die Existenz von Atomen,
das für sich allein genommen nicht jeden Skep-
So formulierte 1883 der Physiker und Philosoph tiker überzeugt hätte, dafür aber umso mehr ins
ERNST MACH (1838 – 1916) seine Einstellung zur Auge fiel. 1827 beobachtete der schottische Bo-
Atomtheorie. Atome waren für MACH keine re- taniker ROBERT BROWN (1773 – 1858), dem wir
alen Objekte, sondern nur Modellvorstellungen, auch die erste präzise Beschreibung des Zellkerns
die nützlich waren, um gewisse Beobachtungen verdanken, dass schwimmende Pollen unter dem
mathematisch zu beschreiben. Diese als Empi- Mikroskop Zitterbewegungen vollführten. Zu-
riokritizismus bekannte Sicht auf den Erkennt- nächst machte er dafür eine den Pollen innewoh-
nisprozess betrachtet Aussagen über die Welt als nende Lebenskraft verantwortlich, stellte jedoch
reine Spekulation, wenn sie sich nicht aus der bald fest, dass sich anorganische Partikel gleich
sinnlichen Erfahrung ergeben. Physik treiben verhielten. Diese Zitterbewegung wird ihm zu
heißt, nach möglichst ökonomischen Erklärun- Ehren Brownsche Molekularbewegung genannt.
gen für sinnliche (messbare) Erscheinungen zu Schon LUKREZ (ÅKasten Lukrez, Seite 40)
suchen. Es gibt daher für MACH weder Atome machte Atombewegungen (fälschlicherweise)
noch den absoluten Raum NEWTONs. Raum sei für die tanzende Bewegung von Staubpartikeln
schließlich nur durch die Existenz von Körpern in der Luft verantwortlich; allgemein ging man
erfahrbar. Konsequenterweise führte MACH die aber im 19. Jahrhundert davon aus, dass sich die
Trägheit auf die kumulative Wirkung der Mas- Stöße von Molekülen an vergleichsweise riesigen
sen des Universums zurück. Und auf Atome Staubpartikeln im Mittel ausgleichen. EINSTEIN
war die Physik nach MACH gar nicht angewie- konnte jedoch 1905 theoretisch nachweisen,
sen. Die Thermodynamik konnte ohne Rekurs dass Partikel durch Molekülstöße sehr wohl
auf die kinetische Theorie definiert werden. Zitterbewegungen ausführen können. PERRIN ge-
WILHELM OSTWALD (1853 – 1932) griff daher lang schließlich 1909 der experimentelle Nach-
HELMHOLTZ’ Gedanken auf und strebte nach weis, dass die Brownsche Molekularbewegung
einer am Energiebegriff orientierten Physik (die durch EINSTEINs Ergebnisse gut erklärt wird
sogenannte Energetik), in der Atome keine Rolle und keine Folge von Konvektionsströmen sein
spielten. konnte, wie viele glaubten.
Die Skeptiker akzeptierten letzten Endes,
dass man über Atome als Objekte zumindest Das Innenleben des Atoms
im physikalischen Sinn sprechen konnte. Zu
Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wiesen die Spätestens seit der Entdeckung des Elektrons
experimentellen Hinweise zu deutlich in diese als Bestandteil von Atomen war klar, dass
Richtung. Zum Zeitpunkt des oben stehenden Atome ein Innenleben besaßen. Neben negativ
Zitats allerdings war die Atomfrage für Physiker geladenen Elektronen musste es auch noch eine
alles andere als geklärt. Im Bereich der Chemie gleich große positive Ladung geben, denn Atome
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
3-100 hatte sich die Atomtheorie zwar als hilfreich waren normalerweise elektrisch neutral. Seit
Atomtheorien von der
Antike bis heute. Von der
erwiesen, im Bereich der Physik blieben noch THOMSONs Messungen 1897 wusste man zudem,
Idee zum quantenmecha- zu viele Fragen offen. Daran konnte auch die dass die Elektronen kaum nennenswert zum
nischen Objekt.
98
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Gesamtgewicht eines Atoms beitrugen. Völlig einer fortlaufenden Nummer, die in der Regel
offen war allerdings, wie viele Elektronen es im synchron mit dem Atomgewicht anstieg. Es gab
Atom gab und wie Atome intern strukturiert wa- aber auch Fälle, in denen man zwei Elemente
ren. Ausgehend von Arbeiten KELVINs entwickelte aufgrund ihrer chemischen Eigenschaften vertau-
THOMSON 1904 ein Modell, das als Rosinen- schen musste, so zum Beispiel Tellur (Atomge-
99
KAPITEL 3 Historischer Überblick
100
Erde, Wasser, Luft und Feuer
101
KAPITEL 3 Historischer Überblick
treffen. Wohl galt sie für sogenannte polare Bin- in der sogenannten kovalenten Atombindung
dungen wie sie bei Salzen vorlagen. Sie zerfielen, (ÅTeilchen finden zusammen, Seite 144). Das
wie SVANTE AUGUST ARRHENIUS (1859 – 1827) Bohr-Sommerfeldsche Atommodell konnte noch
schon 1887 zeigte, im Wasser in negativ und keine Begründung für diese Art der Bindung lie-
positiv geladene Ionen (NaCl → Na+ + Cl–), wäh- fern, weshalb LEWIS ihm auch ablehnend gegen-
rend die Atome des Natriums und des Chlors überstand.
ansonsten elektrisch neutral waren. Umgekehrt
zerfielen unpolare organische Verbindungen wie Transmutation reloaded:
Methan (CH4) keineswegs in Ionen und zeigten der radioaktive Zerfall
auch sonst wenig elektrische Polarität, ganz zu
schweigen von Verbindungen wie O2 oder H2, bei 1896, ein Jahr nach RÖNTGENs Entdeckung
denen die Affinität für Elektronen bei beiden Part- der nach ihm benannten Strahlen entdeckte
nern gleich war, die aber trotzdem höchst stabile BECQUEREL eine weitere Art von Strahlung, die
Verbindungen bilden konnten. Unabhängig von- er Uranstrahlung nannte. Bei Untersuchungen
einander entwickelten 1915 WALTHER KOSSEL über die Phosphoreszenz von Uransalzen hatte er
(1888 – 1956) und 1916 GILBERT R NEWTON LEWIS diese versehentlich auf eine lichtdicht verpackte
(1875 – 1946) eine Theorie der Bindung, die po- fotografische Platte gelegt. Nach dem Belichten
lare und unpolare Verbindungen berücksichtigte. stellte er eine Schwarzfärbung der Platte wie bei
LEWIS nutzte als Modell für die Elektronenkon- einer normalen Belichtung fest. Seine Ergebnisse
figuration einen Kubus, dessen acht Ecken mög- erfuhren zunächst wenig Aufmerksamkeit,
liche Positionen der Elektronen in der äußersten aber MARIE (1867 – 1934) und PIERRE CURIE
Schale eines Atoms bildeten (ÅAbbildung 3-105). (1859–1906) untersuchten die dabei entstehende
Bindungen entstanden bei stark polaren Atomen Strahlung genauer. Dank eines von ihnen
durch Wechsel eines Elektrons von der äußersten entwickelten neuen Messverfahrens für die
Schale des einen Partners zum anderen, bei weni- elektrische Leitfähigkeit der Luft konnten sie die
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
ger polaren Atomen nahmen die Elektronen teil Stärke der Strahlung verschiedener Substanzen
an beiden Schalen. Ob der eine oder der andere präzise bestimmen und stellten fest, dass
Fall zutrifft, hängt davon ab, wie viele Positionen Uranminerale wie Pechblende und Torbernit noch
im Kubus von Elektronen besetzt sind. Fehlt nur stärkere Strahler waren, deren Aktivität nicht
3-105 ein Elektron zur vollen Achterbesetzung wie beim vom Uran allein kommen könne. Ihnen gelang
Lewis’ kubische Atome. Chlor, so nimmt das betreffende Atom sehr gerne schließlich 1898 die Gewinnung zweier neuer
Nach LEWIS sind Atome ein Elektron auf, insbesondere dann, wenn beim radioaktiver Elemente, Radium und Polonium
bestrebt, mittels Bindun-
gen ihre kubische Schale Reaktionspartner, z. B. Natrium, nur eine Position aus Pechblende. Polonium erhielt seinen Nahmen
der äußeren Elektronen zu im Kubus besetzt ist. Natrium profitiert von der zu Ehren der polnischen Heimat MARIE CURIEs.
vervollständigen oder zu Abgabe eines Elektrons. Bei mittleren oder glei- Zusammen mit BEQUEREL erhielten MARIE und
leeren. Dies gelingt durch
gemeinsame Nutzung von chen Besetzungszahlen bei beiden Partnern, wie PIERRE CURIE 1903 für die Entdeckung der
Elektronen (oben für das beim Sauerstoffmolekül, teilt man sich eben die Radioaktivität den Nobelpreis für Physik. MARIE
Chlormolekül dargestellt) Elektronen; die Bindung bleibt unpolar. Dieses CURIE erhielt zudem 1911 für die Entdeckung
oder durch deren Aus-
tausch (unten zwischen
Bestreben, durch chemische Bindung eine gefüllte und Gewinnung der Elemente den Nobelpreis
Natrium und Chlor dar- Achterschale zu erreichen, wird als Oktettregel der Chemie. Ihr Mann PIERRE starb 1906 bei
gestellt). Auch mehr oder bezeichnet. LEWIS Kubusmodell war falsch, aber einem Verkehrsunfall, sie selbst 1934 an einer
weniger polare Zwischen-
stufen sind möglich.
man kann heute quantenmechanisch begründen, sehr seltenen Erkrankung des Knochenmarks,
warum die Oktettregel zumindest als Faustregel Folge ihres intensiven Umgangs mit radioaktiven
für die Bindungsaffinität zutrifft. Elemente bei Substanzen.
denen die sogenannten s- und p-Unterschalen der Der deutsche Physiker FRIEDRICH ERNST
äußersten Schale durch 8 Elektronen vollständig DORN (1848 – 1916) entdeckte 1900, dass Ra-
gefüllt sind, sind chemisch besonders stabil, da die dium ein radioaktives Gas abgab, das er Ra-
Energiedifferenz zu Konfigurationen mit weniger dium Emanation nannte. Andere entdeckten
oder mehr Elektronen besonders hoch ist. Auch kurz darauf ähnliche Emanationen bei Thorium
das „Teilen“ von Elektronen zwischen zwei Ato- und Actinium. Später stellte man fest, dass es
men hat seine quantenmechanische Entsprechung sich um Isotope eines Edelgases handelte und
durch die Bildung eines kombinierten „Orbitals“ nannte das Element Radon. Seine Wirkungen
102
Erde, Wasser, Luft und Feuer
103
KAPITEL 3 Historischer Überblick
abhing. Wieder ließ sich der Einfluss des Planck- 3-107). DE BROGLIES kühne Thesen stießen bei
schen Energiequantums hν erkennen. Physikern dieser Zeit sowohl auf Skepsis als auch
EINSTEIN ging einen entscheidenden Schritt Anerkennung. ERWIN R SCHRÖDINGER R (1887 –1961)
weiter. Er deutete die Größe hν nicht nur griff diese Gedanken 1926 auf und ordnete jedem
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als „Energieportion“, sondern schrieb dem Teilchen eine Wellenfunktion zu, deren Dynamik
Licht Teilchencharakter zu. Licht bestehe aus er durch die berühmte Schrödingergleichung
Quanten, deren Energie nur von ihrer Frequenz ausdrückte. Er berechnete die Wellenfunktion
abhänge. Damit gelang es EINSTEIN 1905, d es Wasserstoffatoms und konnte die
den photoelektrischen Effekt als Absorption Quantenzahlen als sogenannte „Eigenwerte“
von „Lichtteilchen“ zu beschreiben, wofür dieser Wellenfunktion ableiten (ÅAbbildung
3-107 er 1921 den Nobelpreis erhielt. Die winzigen 3-110 , Seite 105 sowie Å Wellenfunktion
Stehende Wellen um Zitterbewegungen einer mit Licht bestrahlten und Quantenfelder, Seite 431). Für ein freies
einen Atomkern. Die
Platte konnte er als kombinierte Wirkung des Teilchen ergab sich aus der Schrödingergleichung
das Elektron führenden
Materiewellen fügen sich klassischen Strahlungsdrucks und „Stößen“ von die de Brogliesche Materiewelle. DE BROGLIE
periodisch in die Bahnen Lichtquanten deuten. Er leitete die Gleichung für und SCHRÖDINGER schienen damit die Welt der
ein, wobei mit steigender
die Entropie des schwarzen Körpers ab, indem er Materie und die Welt der Wellenerscheinungen
Quantenzahl n mehr
Schwingungsperioden in das Licht im Hohlraum als Gas („Photonengas“) zu vereinen. Während Photonen zumindest
eine Bahn passen. betrachtete. Die Plancksche Strahlungsformel in m a n c h e r Hin s i c h t Te il c h e n c h a r a k te r
ergab sich dann zwanglos als Gleichgewicht z ei g ten, zei g ten Teilchen Wellencharakter
zwischen Erzeugung und Vernichtung von beziehungsweise schienen von einer Welle
Photonen. EINSTEINs Photonen wurden anfangs „begleitet“ zu sein. DE BROGLIE gelangte zu
von Pionieren der älteren Quantentheorie wie Berühmtheit, als die amerikanischen Physiker
SOMMERFELD und PLANCK mit Skepsis betrachtet. CLINTON DAVISSON (1881 – 1958) und LESTER H.
Eine großartige Bestätigung erhielt diese erste GERMER (1896 – 1971) 1927 durch Bestrahlung
Form des Welle-Teilchen-Dualismus durch von Nickelkristallen mit Elektronenstrahlen
den amerikanischen Physiker ARTHUR HOLLY nachwiesen, dass diese am Kristall so gestreut
COMPTON (1892 – 1962). Er stellte 1922 fest, werden, wie es ihrer Wellenlänge entspricht.
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
dass Röntgenstrahlung an Elektronen auf Parallele Versuche von GEORGE PAGET THOMSON
eine Weise gestreut wurde, die nicht mit dem (1892 – 1975) in England führten zum gleichen
Wellencharakter von Licht verträglich war. So Resultat. DE BROGLIE erhielt für seine kühne
entsprach die Veränderung der Strahlungsfrequenz Theorie der Materiewellen zwei Jahre später den
3-108 dem Impuls, den das Elektronen als Folge des Nobelpreis für Physik.
Euklidischer Raum. Im uns „Photonenstoßes“ erhielt. Die Schrödingersche „Wellenmechanik“, wie
vertrauten dreidimensio- sie genannt wurde, war sehr anschaulich, auch
nalen euklidischen Raum
kann man die Position Quantentheorie, die Zweite: T
Teilchen als wir nutzen sie in Kapitel 4 zur Beschreibung des
(Ortsvektor) eines Teil-
T Wellen Atoms. Und anfangs glaubten noch viele, man
chens als Summe soge- könne mit der de Broglie-Schrödingerschen The-
nannter „Basisvektoren“
x, y, z darstellen. Diese N ac h de r R e l at i v i tätst h eo ri e beste h t e in e orie die klassischen Vorstellungen von Teilchen
werden so gewählt, dass Äquivalenz zwischen Energie und Masse, und ihren Bewegungen in die merkwürdige Welt
sie senkrecht (orthogonal) die sich in der berühmten Gleichung E = mc2 der Quantenmechanik hinüberretten – so, wie
aufeinanderstehen, Die
Orientierung des gemein- ausdrückt. Gleichzeitig gilt für die Energie eines man die geometrische Optik mit ihren Sehstrah-
samen Achsenkreuzes im Photons E = hν. Der französische Physiker LOUIS- len mit der Wellenoptik verbinden kann, in der
Raum ist willkürlich. Es VICTOR DE BROGLIE (1892 – 1987) folgerte aus sich Licht nicht entlang einer geraden Linie be-
gibt daher unendlich viele
Sätze von Basisvektoren.
beiden Beziehungen 1923 nicht nur, dass das wegt, sondern als Welle nach allen Seiten ausbrei-
Basisvektoren heißen sie, Photon eine Masse besitzen müsse, sondern tet. Aber es gab auch einen radikaleren Ansatz.
weil sie linear unabhängig auch, dass Teilchen von einer Welle begleitet
voneinander sind: Man
werden, der sogenannten Materiewelle, die die Quantentheorie, die Dritte: Gibt es
kann keinen als Summe
der anderen ausdrücken. Teilchen auf ihren Bahnen „führt“. Die stabilen T
Teilchenbahnen?
Außerdem ist der Ba- Elektronenbahnen des Bohr-Sommerfeldschen
sisvektorensatz (x,y,z)
Atommodells seien deshalb möglich, weil ihr Der junge deutsche Physiker WERNER HEISENBERG
„vollständig“: Er genügt,
um jede Position im Raum Umfang ganzzahligen Vielfachen der Wellenlänge (1901 – 1976) nutzte 1925 eine durch Heu-
eindeutig zu beschreiben. der Elektronen“wellen“ entspräche (ÅAbbildung schnupfen erzwungene Erholungszeit auf Helgo-
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Erde, Wasser, Luft und Feuer
105
KAPITEL 3 Historischer Überblick
106
Erde, Wasser, Luft und Feuer
der Welt der Quantenmechanik Messung eine Weltbild zu sein. Schien doch ausgemacht, dass
Reduktion der Wellenfunktion auf eine Teil- sich alles Geschehen im Raum-Zeit-Gefüge der
funktion, ein Vorgang, den man als Kollaps der Welt präzise verorten läßt. Kannte man die
Wellenfunktion bezeichnet. Der Anteil des re- raumzeitlichen Koordinaten eines Objektes,
duzierten Teils an der gesamten Wellenfunktion gleich ob Welle oder Teilchen, konnte man mit
ist dabei ein Maß für die Wahrscheinlichkeit, bei Hilfe deterministischer Gesetze dessen raum-
einer Messung den zugehörenden Messwert zu zeitliche Entwicklung vorhersagen. Gewiss,
erhalten (ÅAbbildung 3-113). Auf welche Teil- Messungen konnten diese Entwicklung stören
funktion eine Wellenfunktion kollabiert, kann u n d u n vo llk o mm e n e Ge r äte M esswe r te
nicht mit Bestimmtheit vorhergesagt werden. verfälschen, es gab jedoch keinen Grund
Was Messungen betrifft, ist die Quantenmecha- anzunehmen, dass der Minimierung dieser
nik offenbar nicht deterministisch! Störungen prinzipielle Grenzen gesetzt sind. Und
so traf NIELS BOHR auf erheblichen Widerstand,
Verschränkung als er 1927 die „Kopenhagener Deutung“ der
Quantenmechanik vorstellte. Demnach würden
Eine weitere, sehr merkwürdige Eigenschaft zwar auch in der Quantenwelt deterministische
107
KAPITEL 3 Historischer Überblick
109
KAPITEL 3 Historischer Überblick
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Erde, Wasser, Luft und Feuer
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KAPITEL 3 Historischer Überblick
jeder mögliche Messwert gleichzeitig auftritt. Es Welt und dies führte zu einer entscheidenden
wäre so, als ob sich durch die Verschränkung Reduktion. Der Mathematiker LEONARD EULER
von Messobjekt und Messapparat die Welt in (1707 – 1783) definierte in seiner Fassung der
so viele Welten aufspalte, wie es mögliche Mess- Mechanik Körper nur durch die Eigenschaften
werte gibt. In einer Welt durchläuft das Teilchen Ausdehnung, Beweglichkeit, Trägheit und Un-
den oberen Spalt und wird dort registriert, in durchdringlichkeit. Für EULER war damals die
der anderen den unteren. Natürlich gilt diese Undurchdringlichkeit die wesentlichste Eigen-
Aufspaltung auch für den Beobachter, der das schaft der Körper und damit bewies er Weitsicht.
Messgerät abliest. Und natürlich können wir nur Wie wir noch sehen werden (ÅKapitel 4 und
eine Welt wahrnehmen, da wir immer nur eine 10), sind Elektron und die Bestandteile von Pro-
Variante der Welt beobachten können. ton und Neutron Fermionen, also Teilchen mit
Diese Interpretation der Quantenmechanik halbzahligem Spin für die das Pauli-Prinzip gilt.
war theoretisch konsequent, da sie nicht auf den (Å Das Periodensystem, das Pauli-Prinzip und
Kollaps als Zusatzpostulat angewiesen war. Ver- der Pauli-Effekt, Seite 101). Sie können deshalb
ständlicherweise traf sie bei EVERETTs Doktor- niemals den gleichen Zustand einnehmen, was
vater JOHN ARCHIBALD WHEELER (1911 – 2008) für die wechselseitige Undurchdringlichkeit der
und praktisch allen anderen Physikern dieser Atome sorgt.
Zeit auf Ablehnung. Eine ständige, billiarden- Was ist von den anderen Eigenschaften
fach pro Sekundenbruchteil auftretende Auf- geblieben, die EULER Körpern zusprach? Aus-
spaltung der Welt in viele Welten war einfach dehnung und Beweglichkeit würde man heute
absurd! Seine Dissertation wurde schließlich in kaum mehr dazu rechnen, da auch Felder beide
einer abgeschwächten Form publiziert. EVERETT Eigenschaften besitzen und ihnen in der Quan-
war enttäuscht von der Aufnahme seiner Arbeit tentheorie Teilchen zugeordnet werden, die aber
und verließ die theoretische Physik um sich bis keine Fermionen sind. Auch kann Ausdehnung
zu seinem frühen Tod praktischen Problemen aufgrund der Unschärferelation keine feste Ei-
vor allem im militärischen Bereich zuzuwenden. genschaft eines Körpers sein. Was bleibt, ist die
Erst 1970 wurden seine Vorstellungen im Trägheit. Sie ist mit Masse verbunden, einem
Rahmen der Dekohärenztheorie (siehe oben) Begriff, der seit NEWTON in zwei Ausführungen
wieder aufgegriffen. Sie baut auf EVERETTs Ar- vorkommt: als träge Masse und als schwere
beit auf, indem sie nicht nur den Messapparat, Masse. Letztere ist Ursache der Gravitations-
sondern die gesamte Umwelt eines Messobjektes kraft und nach allem, was wir wissen, sind beide
als Quantenobjekte betrachtet. Auch im Rahmen Massen gleich groß. Dass Masse selbst jedoch
von Quantengravitation und Stringtheorie wer- keine konstante Größe eines Körpers ist, son-
den EVERETTs Gedanken zumindest theoretisch dern von dessen Geschwindigkeit im Bezugssys-
weiter geführt. tem abhängt, in dem sie gemessen wird, wissen
wir seit EINSTEIN. Man sollte daher besser von
der Ruhemasse eines Körpers sprechen. Masse
Was ist Materie heute? ist zudem äquivalent zu Energie. Deshalb erzeugt
auch jedes Feld ein Gravitationsfeld und besitzt
Diese Frage stellen Sie sich vielleicht im Moment, Trägheit. Was also bleibt, ist die Frage, warum
nachdem wir durch mehr als zwei Jahrtausende manche Teilchen eine Ruhemasse besitzen und
Geschichte gewandert sind. Wir sagten schon zu manche nicht. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist
Beginn, dass es sich um einen abstrakten Begriff Ruhemasse eine Folge der Wechselwirkung mit
handelt, kein Element der unmittelbaren Erfah- einem Feld, dem Higgs-Feld (ÅWie Teilchen ihre
rung. Dieser Begriff entwickelte sich, wie wir Masse bekommen, Seite 436).
gesehen haben, aus der Vorstellung über einen Betrachtet man heute die fundamentals-
Urstoff, aus dem die Welt besteht. Auf die daraus ten Theorien über die Welt, Stringtheorie und
sich ergebende Frage, wie denn das Vielfältige Quantengravitation, so bleibt nichts mehr, was
aus dem Einen entstehe, haben Menschen un- man „materiell“ nennen könnte. Es geht um
terschiedliche Antworten gefunden. Im Westen mathematische Strukturen, deren Symmetrien
vollzog sich mit DESCARTES dabei eine Tren- und „Eleganz“. Mancher mag sich da an die
nung zwischen „materieller“ und „geistiger“ platonische Welt der Ideen erinnert fühlen.
112
KAPITEL 4
Demokrits Erben
Das Geheimnis der Stoffe
Elemente im Periodensystem
Teilchen finden zusammen
Eigenschaften der Stoffe
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
Zum vierten Kapitel
Die Materie, aus der wir selbst bestehen, von der wir leben auch sie sind durch die Eigenschaften der Teilchen des betref-
und die wir von unserer unmittelbaren Umgebung bis in fenden Materials definiert. Denn diese bestimmen ja auch
den entferntesten Winkel des Weltraums vorfinden, besteht die möglichen Anordnungen der Atome untereinander, aus
überraschenderweise aus einer durchaus überschaubaren denen sich viele der Materieeigenschaften ergeben. Noch um
Anzahl verschiedener Atomarten. Dies verstanden zu haben, einiges schwieriger ist es natürlich, etwa die Weichheit einer
ist vielleicht die wichtigste Einzelerkenntnis, die Wissenschaft- Kuscheldecke oder den Geruch einer Rose atomar zu erklä-
ler jemals errungen haben (ÅKapitel 3). Stoffe aus gleichen ren. Es sollte aber – zumindest im Prinzip – stets möglich sein.
Atomen nennen wir Elemente. Natürlich sind dies nicht mehr Vor etwa hundertfünfzig Jahren ist es gelungen, die nur
die Elemente der griechischen Antike, und auch die Atome etwa hundert Atomarten, aus denen das gesamte sichtbare
haben ihre Unteilbarkeit längst eingebüßt. Ihre wichtigsten Universum besteht, in einem einfachen Schema anzuordnen,
Bestandteile, Elektronen, Protonen und Neutronen, sind uns dem Periodischen System der Elemente (PSE oder einfach
schon in Kapitel 3 begegnet. Periodensystem). Darin sind die Elemente spaltenweise nach
Atome sind nach außen hin elektrisch neutral und alle- Gruppen chemisch und physikalisch einander ähnlicher Ele-
samt nach einem einheitlichen Schema aufgebaut. In ihnen mente und zeilenweise nach Perioden geordnet.
stimmt die Anzahl negativ geladener Elektronen der Hülle In diesem Kapitel werden wir den gesamten Aufbau des
mit der Zahl positiver Ladungen des Atomkerns überein. Periodensystems sowie die Eigenschaften wichtiger Gruppen
Atome können bequem nach aufsteigender Kernladungszahl und exemplarisch einige wichtige einzelne Elemente kennen-
(Ordnungszahl) geordnet werden. Man benötigt tatsächlich lernen.
nur zwei Arten von Teilchen im Atomkern (Protonen und Wir werden uns auch fragen, auf welche Weise gleiche und
Neutronen) sowie die Elektronen der Atomhülle, um nicht verschiedene Atome untereinander Bindungen ausbilden bzw.
nur alle Elemente, sondern auch deren chemisches Verhalten wie und weshalb sich die Teilchen zu größeren Aggregaten
erklären zu können. zusammenlagern können. Und schließlich versuchen wir uns
Es ist Aufgabe der Chemiker, das Verhalten der Elemente in der Erklärung einiger Eigenschaften von Stoffen aufgrund
sowie der aus verschiedenenartigen Atomen zusammengesetz- ihrer atomaren Zusammensetzung. Viel Spaß beim Kennen-
ten Verbindungen aus den Eigenschaften ihrer Bestandteile lernen der wichtigsten Bauprinzipien unserer Welt!
und aus deren Anordnung zu erklären. Sie müssen sich dazu
fast ausschließlich um die Zustände in den Elektronenschalen
kümmern, denn diese sind für das Verhalten nach außen hin
verantwortlich. Sie legen beispielsweise fest, wie ein Atom
„aussieht“ und welche Bindungen es eingehen kann. (Die un-
gleich schwierigere Aufgabe, die Bestandteile des Atomkerns
tiefer gehend zu untersuchen, überlassen Chemiker gern ihren
Kollegen aus der Physik, und wir verschieben diesen Aspekt
auf Kapitel 10.)
Wie sich herausstellt, kann man erstaunlicherweise eine
ganze Reihe von Stoffeigenschaften direkt auf Eigenschaften
von Atomen und Bindungen zurückführen. Zum Beispiel
sind Stoffe besonders hart, wenn ihre Atome besonders feste
Bindungen untereinander ausbilden, besonders schwer, wenn
sie aus Atomen hoher Ordnungszahl bestehen, und sie leiten
den elektrischen Strom besonders gut, wenn sich in ihnen
Elektronen frei von Atom zu Atom fortbewegen können.
Andere Eigenschaften von Stoffen, wie etwa die Zähigkeit
eines Metalls, lassen sich etwas weniger direkt herleiten. Aber
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Demokrits Erben
Das Geheimnis der Stoffe Die historische Reihenfolge, in der sie erstmals
beschrieben wurden, sagt natürlich wenig über
Elemente und ihre Eigenschaften die Elemente selbst aus. Allenfalls kann man
daraus auf gewisse Eigenschaften schließen,
Wie wir im vorherigen Kapitel gesehen haben, wie auf die Reaktionsträgheit der Edelmetalle,
versuchten und versuchen Wissenschaftler, die deshalb auch gediegen gefunden werden
immer tiefer in das Wesen der Materie vorzu- und daher schon früh bekannt waren. In an-
dringen. Wir haben gehört, dass uns schließlich deren Fällen, wie beim Kohlenstoff, kann man
die Entwicklung des periodischen Systems der vielleicht eine gewisse Häufigkeit in unserer
Elemente und die Theorie der Atome mächtige Umgebung oder zumindest die Beständigkeit
Mittel in die Hand gaben, unsere materielle an der Luft erschließen. Im Wesentlichen aber
Umwelt detailliert zu beschreiben. ist dies eine Reihenfolge der historischen Zu-
Tatsächlich erlauben uns die Erkenntnisse fälle.
insbesondere des neunzehnten und zwanzigsten
Jahrhunderts, enorm viel von der Struktur der Erste Elemente –
Materie zu verstehen. Es soll aber nicht ver- Die Grundstoffe der Alchemisten
schwiegen werden, dass in der Natur hinter je-
dem gelösten Geheimnis neue, tiefer liegende
Fragen stehen. Das gilt auch für die Bestandteile
der Atome, von denen wir in diesem Kapitel nur
die drei wichtigsten kennenlernen werden.
Bevor wir uns aber anschauen, wie die Che-
Cu
miker den Aufbau der materiellen Welt heute Kupfer
im Detail erklären, sollten wir zunächst exem- Das im Lateinischen als
plarisch einige der Elemente so betrachten, wie „cuprum“ bezeichnete
sie sich für unsere Sinne darstellen, nämlich Element ist schon aus
als einheitliche Stoffe. Weder ihren Aufbau aus vorgeschichtlicher Zeit
Atomen sieht man ihnen äußerlich an, noch bekannt , denn es
ihren Elementcharakter. Sie unterscheiden sich kommt in der Natur
nicht offensichtlich von den viel zahlreicheren auch gediegen vor. Be-
Verbindungen, den Stoffen, die aus mehreren reits gegen Ende der
Elementen bestehen. Steinzeit, in der nach diesem Metall benannten
Kupferzeit, wurden Gerätschaften aus dem sehr
Einige Elemente stellen sich vor zähen Kupfer hergestellt. Auch für Waffen wurde
es verwendet, obwohl es hierfür eigentlich viel
Tatsächlich sind etwa ein gutes Dutzend wirk- zu weich ist. Die Bezeichnung geht zurück auf
licher chemischer Elemente bereits seit langem „aes Cyprium“ (zyprisches Erz), es wurde des-
stofflich bekannt. Einige, wie etwa Kohlenstoff halb auch der zyprischen Göttin Aphrodite zu-
oder Gold, sogar nachweislich seit prähistori- geordnet und später der römischen Venus. In der
scher Zeit. Mit Ausnahme des Quecksilbers sind Bronzezeit wurde Kupfer der wesentliche Legie-
dies allesamt Feststoffe (ÅZeitleiste folgende rungsanteil für Bronze. Mit Zink bildet es die Bronze
Doppelseite unten). Unsere Vorfahren nutzten später erfundene weichere Legierung Messing. Kupfer + Zinn (u. a.)
sie seit Jahrtausenden – freilich ohne sie als Interessant am Kupfer ist aus materialwissen- Messing
Grundbausteine der Welt zu erkennen. schaftlicher Sicht hauptsächlich seine unter den Kupfer + Zink
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KAPITEL 4 Demokrits Erben
Metallen einmalige rötliche Farbe. Kupfer absor- verändert erhalten. Die Verarbeitung des extrem
Oxidation
biert blaues und grünes Licht, weil deren Ener- duktilen (leicht verformbaren) Metalls, vor al-
Früher verstand man gien den Energiedifferenzen von Bandlücken des lem zu Schmuckzwecken, ist seit mindestens
unter Oxidation
ausschließlich den Kupfers entspricht (ÅTransparenz und Absorp- 6000 Jahren nachgewiesen. Erste Goldmünzen
Vorgang, bei dem sich tion, Seite 215). waren in orientalischen Ländern um 650 v. Chr.
ein Stoff (etwa ein im Umlauf. Mindestens seit dem 11. Jahrhun-
Metall) mit Sauerstoff
verbindet, also z.B. dert ist die Auslaugung von Gold aus fein ver-
die Verbrennung oder
das langsamer ablau-
fende Rosten (siehe
erweiterte Definition
Pb teiltem Goldstaub durch Legierungsbildung mit
Quecksilber (Amalgamierung) bekannt. Die
künstliche Umwandlung anderer Elemente in
Seite 138). Blei Gold („Transmutation“) war eines der Ziele der
Bemühungen der Alchemisten bei der Suche
Blei (lat. plumbum) war nach dem „Stein der Weisen“. Die Herstellung
in Ägypten bereits um v on Goldatomen ist heute ausgehend von
Reduktion das Jahr 3000 v. Chr. Quecksilber in Kernreaktoren tatsächlich mög-
Die Gewinnung eines als Gebrauchsmetall lich, allerdings ist sie völlig unwirtschaftlich.
Reinelements (meist und Abfallprodukt der
eines Metalls) aus sei-
Silbergewinnung be-
C
nen natürlich vorkom-
menden Erzen kann als kannt. Die Griechen gewannen es auf Zypern
Reduktion bezeichnet und Rhodos, die Römer in Italien, Spanien, Element des Lebens
werden. Technisch Frankreich und Deutschland. Der deutsche und
wird dieser Prozess
zumeist durch Erhitzen Name geht auf das altgermanische „blio“ oder Kohlenstoff „A girl’s best friend“
mit Koks (Kohlenstoff) „bliw“ (schimmern, glänzen) zurück. Blei
bewerkstelligt. Dabei kommt manchmal in gediegener Form, haupt- Kohlenstoff (lat. car-
r
bildet sich zunächst
das giftige Gas Kohlen- sächlich aber als Bleiglanz (Galenit, ÅAbbildung boneum) , das Element
monoxid (CO), das 5-85) vor, aus dem sich das Metall leicht gewin- des Lebendigen (ÅKa-
dann als eigentliches nen lässt. Im Mittelalter wurde die Gefährlich- pitel 12), nutzten
Reduktionsmittel dem
Metall den Sauerstoff keit des hauptsächlich chronisch krank machen- Menschen seit prähis-
entzieht und dabei den Schwermetalls deutlich, nachdem durch torischer Zeit in Form
selbst in Kohlendioxid Bleiazetat gesüßter Wein zu Vergiftungen geführt von Holzkohle, Kno-
(CO2) übergeht.
hatte (Reutlinger Krankheit). Trotzdem diente chenkohle, Ruß etc.
das Metall bis in die Neuzeit zur Herstellung von sowie als Brennstoff und Pigment. Später spielte
Wasserleitungsrohren. es eine große Rolle als starkes Reduktionsmittel
bei der Gewinnung von Metallen aus oxidischen
Erzen. Neben Schwefel war es ein wichtiges Re-
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Erde, Wasser, Luft und Feuer
ger nicht sein. Zum Beispiel zeigt der Gegensatz Hauptingredienz vieler Rezepturen. Gießt man
von weichem schwarzen Graphit, folienartigem geschmolzenen Schwefel in kaltes Wasser, so ent-
Graphen, pulverförmigen Fullerenen, hartem steht eine knetbare Modifikation, die als plasti-
transparentem Diamant oder den in manchen scher Schwefell bezeichnet wird. Bereits bei Ho-
Fällen sogar noch etwas härteren Nanoröhrchen mer und im Alten Testament wird das Element
überdeutlich, dass die Eigenschaften der Atome mit einigen seiner Eigenschaften erwähnt. Der
keineswegs eindeutig die Stoffeigenschaften fest- raschen Bildung von Kupfersulfid beim Kontakt
legen. Wohl bestimmt der Atombau, welche mit Kupfer verdankt der Schwefel seinen Namen.
Möglichkeiten es insgesamt gibt, aber die in den Die aus dem Sanskrit stammende Bezeichnung
Kristallen realisierten Symmetrien und die Bin- „sulfur“ bedeutet „Feind des Kupfers“.
dungsverhältnisse sind letztlich entscheidend für
das tatsächliche Stoffverhalten. Sie sind dem
Material über seine Entstehungsgeschichte bzw.
Herstellungsmethode aufgeprägt.
Aufgrund seiner besonderen Bindungseigen-
Ag
schaften spielt Kohlenstoff in biologischen und Silber
künstlichen Makromolekülen eine herausra-
gende Rolle: Er bildet das Rückgrat dieser Mo- Auch Silber (lat. argen-
leküle und sorgt für deren unglaubliche Vielfalt, tum) gehört zu den
und dies in einem Ausmaß, dass die Kohlenstoff- Metallen, die teils ge-
chemie („organische“ Chemie) allein schon viel diegen, teils minera-
mehr Verbindungen kennt als die Chemie aller lisch vorkommen. Es
anderen Elemente zusammen. Der Grund liegt findet sich oft verge-
in der flexiblen Kombinierbarkeit. Dass Kohlen- sellschaftet mit Gold,
stoffatome aufgrund ihres Atombaus gleichzeitig Kupfer und anderen
vier sehr stabile Bindungen zu ihresgleichen oder Metallen und wird seit mindestens 5000 v. Chr.
anderen Atomen ausbilden können, erlaubt die verwendet. Schon bei Homer ist von „silbernen
Entstehung einmalig komplexer kettenförmiger Rüstungen“ die Rede. Erste Silbermünzen wur-
oder vernetzter organischer Strukturen. den in der Zeit um 550 v. Chr. in Kleinasien
geprägt. Silber wird vor allem in Form seiner
Legierungen eingesetzt. Wichtige Anwendungs-
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lich gediegen vor, wurde aber hauptsächlich durch gel