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N. Welsch J. Schwab C. Chr.

Liebmann

Materie
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Materie
Norbert Welsch · Jürgen Schwab · Claus Chr. Liebmann

Materie
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Adressen der Autoren:

Dr. Norbert Welsch


Marienburger Straße 12
72072 Tübingen
Telefon: 07071-79990
Mobil: 0151-14 86 79 32
e-Mail: nw@welsch.com
homepage: www.welsch.com

Jürgen Schwab
Schellingstr. 47
72072 Tübingen
e-Mail: juergenm.schwab@matter-matters.de
homepage: www.matter-matters.de

Dr. Claus Chr. Liebmann


Lammstraße 16/1
72072 Tübingen

ISBN 978-3-8274-1888-3 ISBN 978-3-8274-2265-1 (eBook)


DOI 10.1007/ 978-3-8274-2265-1

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Planung und Lektorat: Merlet Behncke-Braunbeck, Dr. Christoph Iven


Redaktion: Dr. Monika Niehaus-Osterloh, Dr. Michael Zillgitt
Fotos/Zeichnungen: siehe „Bildquellen“ im Anhang
Satz: Welsch & Partner scientific multimedia, Tübingen
Einbandabbildung und Einbandentwurf: Welsch & Partner scientific multimedia, Tübingen
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Für meine Tochter
Laura-Marie
Norbert Welsch

Für meine Frau


Ursula Dachs
Jürgen Schwab

Für meine Mutter


Anni Liebmann
Claus Chr. Liebmann
Danksagung
Wir danken allen Familienmitgliedern, Freunden und Bekannten, die im Laufe der fünf Jahre der
Entstehungszeit durch Diskussionen, Hinweise, Beiträge, Bereitstellung von Bildern und Korrektu-
ren aktiv am Zustandekommen des Buches beteiligt waren oder die einfach unter der zeitlichen
Konkurrenz zu leiden hatten. „Ars longa, vita brevis“ gilt leider auch für die Arbeit an einem Werk,
das allen drei Autoren viel Herzblut abverlangt hat.
Last but not least ist der Verlag ein entscheidender Faktor beim erfolgreichen Zustandekommen
eines Buchwerkes. Wir danken hier insbesondere Frau Merlet Behncke-Braunbeck und Herrn Dr.
Christoph Iven für die engagierte Betreuung über die ganzen Entstehungsjahre. Frau Dr. Niehaus-
Osterloh und Herrn Dr. Zillgitt danken wir für die sorgfältigen Korrekturen und Verbesserungs-
vorschläge. Hier konnten wir auf ein kompetentes und wohlwollendes Team beim Verlag Springer
Spektrum zählen, das uns einerseits durch Terminvorgaben eine realistische Grenze setzte (und diese
mehrfach erweitern musste), andererseits aber auch stets ein offenes Ohr bot und Lösungen für
anstehende Probleme bereit hatte.
Eine dieser Problemlösungen war auch die Erlaubnis zur Auslagerung der ausufernden vollstän-
digen Literaturliste ins Internet. Da diese dutzende zusätzliche Seiten verschlungen hätte, wären
ansonsten allzu viele Abstriche am Inhalt notwendig gewesen. Aus diesem Grund findet sich im
Anhang nur eine stark gekürzte Form dieses natürlich unverzichtbaren Teils.

Norbert Welsch
Jürgen Schwab
Claus Chr. Liebmann

Interaktive Medien · Bilder · Texte · Errata · Literaturhinweise · Neuigkeiten


Unter www.welsch.com finden Sie teilweise kostenlose Materialien der
Autoren zu den Büchern Farben und Materie.

VI
Vorwort
Die Idee zu diesem Buch wurde bald nach Fertigstellung eines Werkes über „Farben“ geboren. Sie
hat ihre Wurzeln in einen fast kindlich zu nennenden Interesse an der Welt um uns herum, in der
unmittelbaren Faszination des Erfahr- und Erforschbaren. Dieses Ausgehen von der direkt mit
unseren Sinnen erfahrbaren Alltagswelt halten wir trotz aller Theorielastigkeit der modernen Na-
turwissenschaften für den einzig gangbaren Weg zu einem tieferen Weltverständnis.
So soll auf der einen Seite durch einen breiten interdisziplinären Ansatz auch nicht versucht
werden, den zahlreichen ausgezeichneten Lehrbüchern der Chemie, Physik und Biologie „einfach“
noch ein neues, in erster Linie für Fachleute lesenswertes Werk hinzuzufügen.
Andererseits aber wollten wir auch vermeiden, auf einem oberflächlichen Niveau stehen zu
bleiben, das nur eine rein beschreibende Sicht der Dinge liefern könnte, und oft genug nicht geeig-
net wäre, tiefere Zusammenhänge aufzudecken.
Diese Gratwanderung war zweien von uns (Norbert Welsch und Claus Chr. Liebmann), laut
den meisten Kritikern, beim „Farben“-Buch (2004, 3. Aufl. 2012) weitgehend gelungen.
Wir werden also auch in diesem Buch die Unmittelbarkeit des Erlebens unserer Umwelt zum
Ausgangspunkt für eine Reise nehmen, die zuweilen auch in die Tiefe geht.
„Nur dadurch, dass ich Wasser anfasse, kann ich lernen, was es heißt, dass Wasser nass ist. Zugleich
höre ich es glucksen oder tropfen, sehe ich Wellen und Reflexe, rieche vielleicht das Meer oder das Gras
am Seeufer und erhalte so einen Gesamteindruck ...“(Manfred Spitzer)
Diesen Ansatz als Auseinandersetzung mit den verschiedenen Aspekten der Materialität der
Welt, der sich bei Spitzer auf das kindliche Lernen bezieht, auf den Aufbau adäquater Repräsenta-
tionen der Außenwelt im Gehirn, möchten wir als Anknüpfungspunkt für ein vernetztes Verständ-
nis materieller Erscheinungsformen und Vorgänge wählen.
Wir werden dabei nicht davor zurückschrecken, den Leser über Klippen von Theorie und For-
meln zu führen, wo dies für das Verständnis unabdingbar ist. Als Reisebegleiter und kompetenten
Führer durch solch unebenes Gelände habe ich (Norbert Welsch) meinen langjährigen Freund
Jürgen Schwab gewinnen können, der sich als weiterer Co-Autor vornehmlich den Formulierungen
der philosophischen und der etwas tiefer gehenden materialwissenschaftlichen, physikalischen und
mathematischen Teile widmete.
Aber keine Angst – am Wegesrand wartet mit interessanten Bildern stets eine bequeme Lodge
mit Gelegenheit zur Erholung und imposanten Ausblicken auf das erkundete Gebiet.
Wir werden bei unserer Wanderung eine große Zahl verschiedener Fachgebiete durchschreiten
oder auch nur streifen, was immer die Gefahr birgt, dass die dort herrschenden Kapazitäten gerade
ihr Gebiet als besonders grob zertrampelt empfinden und über die Eindringlinge herfallen. Wenn
man aber ein Buch über die gesamte materielle Welt schreibt, wird es schon aus Platzgründen an
manchen Stellen notwendig sein, Vereinfachungen und Verkürzungen vorzunehmen, die mancher
Experte vielleicht als zu weitgehend betrachten könnte. Hierfür möchten wir an dieser Stelle um
Verständnis bitten. Unseren Lesern wünschen wir, dass sie nach der hoffentlich anregenden Lektüre
mit ihren eigenen Gedanken ein wenig tiefer „in die Dinge der Welt“ eingedrungen sind, zumindest
so weit dies der heutige Stand der Wissenschaft erlaubt. Denn jenes nach bestem Vermögen erfol-
gende verstandesmäßige Durchdringen einiger Aspekte der Welt um uns ist es wohl, was unter nur
wenig anderem unser Menschsein definiert. Es ist das „sapiens“ (lat. einsichtsfähig, weise) in un-
serer so unbescheiden gewählten Artbezeichnung homo sapiens.

Norbert Welsch Jürgen Schwab Claus Chr. Liebmann


Welsch & Partner
scientific multimedia

Tübingen, Frühjahr 2012

VII
Luft, Wasser, Erde, Feuer, Du...
Schöntal, 23.09.2005

Fünf Elemente

Ich bin wie Luft...


Du brauchst mich zum Atmen,
meine Leichtigkeit, Zartheit
kannst du erspüren,
Dich von ihr tragen lassen,
nur festhalten kannst Du sie nicht,
denn sie entweicht Dir
und was bleibt
sind die Spuren von Duft
in Deiner Nase...

Ich bin wie Wasser...


Du brauchst mich,
Um Deinen Durst zu löschen,
Deinen Durst nach Liebe,
Deinen Durst nach Erfüllung.
Nur festhalten kannst Du mich nicht,
denn hältst Du an mir fest,
fließe ich und versickere ich
und was bleibt
sind die Spuren von Nass
auf Deinen Händen...

Ich bin wie Erde, die Dich ernährt...


Du brauchst mich zum Sattwerden,
um Deinen Hunger zu stillen,
Deinen Hunger nach Einssein,
nach Vervollkommnung.
Nur festhalten kannst Du mich nicht,
denn ich zerfalle zu Staub
und werde zur Spur
Deines Vorbeiziehens,
in der Luft aufwirbelnd,
im Wasser Wellen schlagend...

Ich bin wie Feuer...


Das Dich leben lässt..
Und Du brauchst mich
für das Lodern Deiner Augen,
für Das Aufwallen Deines Blutes,
für den Schlag Deines Herzens.
Nur festhalten kannst Du mich nicht,
denn Du würdest verbrennen
und Du würdest zu Staub
und zu Dampf
und zu Luft werden...
Denn Du würdest wie ich...

...denn ich bin wie Luft...


ich bin wie Wasser...
ich bin wie Erde...
ich bin wie Feuer
ich bin wie Du...

Elena Sworski Bilder: Sabina Mucha


mit freundlicher Genehmigung
g mit freundlicher Genehmigung

VIII
INHALT

Inhalt
1 Mensch und Materie
Woraus ist die Welt gemacht?

Kindliche Fragen... 3
Auf der Suche nach der Welt 3
Das Gewebe der Natur 5
Modelle 6
Etymologie 11
Was Sie in diesem Buch erwartet... 12

2 Wahrnehmung
Sehen und Co. – Die fünf Sinne

Sehen – Wahrnehmen – Verstehen 17


Fühlen und Tasten 23
Riechen und Schmecken 24
Hören 26

3 Historischer Überblick
Vom Mythos zum Logos – Die Antike

Vom Ursprung der Welt – die Schöpfungsmythen 29


Entmythologisierung der Natur 31
Die vier Elemente – Empedokles 33
Leukipp und Demokrit – die frühen Atomisten 34
Ideen oder Form? Platon und Aristoteles 34
Eine Zeit des Umbruchs 38

Spätantike und Mittelalter


Stagnation und Wiedergeburt 41
Die islamische Wissenschaft 42
Aristoteles’ Erben im Abendland 43

Wuxing
Fünf Elemente im chinesischen Denken 45
Vom Wandel in der Welt 46

Der Advent der modernen Naturwissenschaft


Eine Zeit des Umbruchs – die frühe Neuzeit 50
Galileo Galilei – die Geburt der modernen Mechanik 53
Res cogitans und res extensa – Descartes 54

Materie als Masse


Issac Newton 56
Masse, Trägheit und Gravitation 57

IX
INHALT

Von der Alchemie zur Chemie


Aus Mystik wird Wissenschaft 59
Elemente und Transmutation 61
Paracelsus und die Iatrochemie 63

Die Entwicklung der modernen Chemie


Von Minima Naturalia zu Atomen 64
Revolution in Chemie und Gesellschaft 71
Von Atomen zu Molekülen 76
Die Ordnung der Elemente 78

Feld und Materie


Von der Natur des Lichts 80
Seltsame Kräfte: Elektrizität und Magnetismus 82
Die Kraft der Elektrizität 84

Der Äther
Mysteriöses Medium des Lichts 87
Äther und Materie 89

Wärme und Materie


Wohl temperiert 90
Energie und Entropie 93
Wärmestrahlung und die Ultraviolettkatastrophe 96

Die Struktur des Atoms


Moderne Atomtheorien 98

Umbruch: Die Quantentheorie


Welle oder Teilchen, oder beides? 103
Ist die Quantentheorie unvollständig? 107
Was ist Materie heute? 112

4 Demokrits Erben
Das Geheimnis der Stoffe

Elemente und ihre Eigenschaften 115


Aufbau der Materie 123
Das moderne Atommodell 134

Elemente im Periodensystem
Ein Schema erklärt die Materie 137

Teilchen finden zusammen


Verbindungen 144
Ionenbindung 145
Metallbindung 146
Atombindung 148
Wasserstoffbrückenbindung 149
Van-der-Waals-Wechselwirkung 150
Was geschieht, wenn viele Teilchen zusammentreffen? 150
Kristalle und Kristallgitter 1 53
Polymere – alte Werkstoffe der Menschheit 159

X
INHALT

Eigenschaften der Stoffe


Das Ganze aus den Teilen 160
Phasen und Phasenübergang 166
Das Einmaleins der Werkstoffeigenschaften 174
Wenn Körper schwingen 193
Wärmekapazität 197
Wärmeleitfähigkeit 200
Elektrische Leitfähigkeit 203
Vom Leiter zum Supraleiter 207
Superisolation 209
Magnetismus 209
Transparenz und Absorption 215
Struktur und Farbe 217

5 Erde und Feststoffe


Die Welt, auf der wir stehen

Ein ganz besonderer Planet 223


Schalenbau der Erde 224
Bausteine der Erdoberfläche 226
Gebrannte Tonminerale – die Tonkeramiken 229
Baukeramiken 231
Gebrauchskeramiken 232
Gesteine – komplexe natürliche Festkörper 235
Verwitterung 236
Sedimentgesteine 237
Magmatite und Metamorphite – Produkte des Erdinneren 244

Vom Rohstoff zum Werkstoff


Die Kunst der Verwandlung 245
Fließender Fels – grauer Alltag 247
Von einer Dichtungsmasse zum Straßenbelag 249

Metallische Werkstoffe
Neue Zeiten brechen an 251
Vom Eisen zum Stahl 254
Eisen, Cobalt, Nickel – das magnetische Dreigespann 259
Amorphes Metall – ein Material zwischen zwei Welten 263
Edelmetalle 263
Leichtmetalle – Aluminium und Titan 270
Verrufenes Schwermetall – Blei 271
Buntes Allerlei – Chrom 272
Ein Schwergewicht – Uran 273
Starke Luftikusse – Metallschäume 275
Hartes zerschneiden – kein Problem 275
Grenzgänger: Halbmetalle 277

Anorganische Werkstoffe
Gläser – Nicht immer zerbrechlich 281
Glasfasern 284
Glaskeramik – Herdplatten und Teleskopspiegel 286

XI
INHALT

Organische Materialien
Von Hölzern, Fasern und Beuteln 287
Papier – Ein unentbehrliches Kommunikationsmittel 289
Aus dem Leben der Beuteltiere 291
Kunstfaser – Die neue Wolle 296
Ausgewählte Kunststoffe 297
Von Gummiadlern und -bären 302
Selbstheilende Werkstoffe 306

6 Wasser
Flüssigkeiten
Eine Materieform ohne Form 309
Rheologie – Alles fließt 311

Wasser
Das nasse Element 313
Die Erde, ein Wasserplanet 313
Das Wassermolekül 314
Von der Erde gen Himmel und zurück 319
Eis – das feste Wasser 321
Gespanntes Wasser 323

Stoffgemische
Ein schönes Durcheinander 326
Lösungen 326
Emulsionen 329
Suspensionen 330
Tenside – Sie lieben Wasser und Fette 331

Öle, Fette und ihre Abkömmlinge


Ohne sie würde das Leben anders verlaufen 334
Lebenssaft der Wirtschaft – Erdöl 343

Alkohole
Mehr als ein Genussmittel 349
Bekannte Alkohole 350

Exotische Flüssigkeiten
Das fließende Silber – Quecksilber 353

7 Luft
Das Element der Freiheit

Schwerer als erwartet... 359


Ein Gasgemisch 359

Flüchtige Berührung
Die Eigenschaften von Gasen 361
Planetare Schutzhüllen 364
Boten des Eros oder üble Stinker – die Geruchsstoffe 368

XII
INHALT

Luftige Stoffe
Nicht nur Sauerstoff 371
Lebenselixier und Gift – der Sauerstoff 371
Stickstoff – Hauptbestandteil der Luft 376
Wasserstoff – Ein brandgefährliches Gas 377
Reaktionsträge Sonderlinge 378
Methan – Klimaschädling und Hoffnungsträger 379

8 Feuer
Geschichte und Mythologie
Der Stoff aus dem die Flammen sind 383

Feuer und Flamme


Chemie und Physik der Verbrennung 385
Flammen 386

Plasma
Der vierte Aggregatzustand 387
Plasmen in der Natur 387
Plasmen in Technik, Forschung und Medizin 390

9 Form und Materie


Ordnung und Zufall
Zufall – In den Naturgesetzen nicht(?) vorgesehen 397

Entropie
Das Streben nach Unordnung 405

Komplexe Strukturen
Welt aus dem Gleichgewicht 410

10 Elementarteilchen
Physik der kleinsten Teilchen
Was die Welt im Innersten zusammenhält 417

Die Rätsel des Atomkerns


Von Tröpfchen zu Schalen 420
Ein Schalenmodell für Atomkerne 422
Kernmagnetismus 424

Das Standardmodell
Von den Nukleonen zum Standardmodell 426
Wellenfunktionen und Quantenfelder 431

Jenseits des Standardmodells


Von SUSY, Strings und Loops 437

XIII
INHALT

11 Kosmologie
Welt des Großen und des ganz Großen
Sag mir was die Sternlein sind... 445
Asteroiden und Planetenmissionen als Informationsquelle 4 52
Wissen vom Kleinsten für das Größte 453
Das Universum im Computer 454

Materie im Universum
Welten aus Gas und Sternenstaub 454
Sonne 455
Planetologie 457
Monde 461
Von Fall zu Fall... 464

Sterne und Sternentwicklung


Über die Kinderstuben schwerer Atome 467
Sterne im Gleichgewicht 471
Kosmochemie jenseits des Heliums 475
Elementsynthese durch Ungleichgewichtsprozesse 476

Deep Space
Von der Milchstraße zu den fernsten Objekten in Raum und Zeit 482
Urknall 490
Vom Anfang zum Ende der Welt 497

12 Leben
Das Geheimnis der Rose

Was ist eigentlich Leben? 501


Weniger Materie – mehr Form 504
Zentrale Biomoleküle 508

Die chemische Evolution


LUCA – Last Universal Common Ancestor 510
Von Makromolekülen zur Urzelle 512

Die biologische Evolution


Von LUCA zu Domainen 514
Wie geht es weiter? 516

Extraterrestrisches Leben
Wo beginnt man zu suchen? 519

Anhang
Bildquellen 522
Literaturverzeichnis 524
Index 528

XIV
KAPITEL 1

Mensch und Materie


Kindliche Fragen...
Auf der Suche nach der Welt
Das Gewebe der Natur
Modelle
Etymologie
Was Sie in diesem Buch erwartet
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iifi tim
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Zum ersten Kapitel

Materie ist um uns und in uns – wir selbst und das bekannte
Universum bestehen aus Materie und Energie. Doch manch-
mal hindert uns gerade die Unmittelbarkeit und Allgegenwart
der Materie daran, dieses Thema gebührend zu betrachten.
Man sieht sozusagen „den Wald vor lauter Bäumen nicht“.
Dieses erste Kapitel wird versuchen, den Blick auf diese
Bäume und den ganzen Rest der materiellen Welt zu lenken;
uns helfen, unseren Standpunkt gegenüber der physischen
Natur zu finden.
Dabei werden wir feststellen, dass die Beschäftigung mit
der Stofflichkeit der materiellen Welt nicht nur eine Sache
für spleenige Wissenschaftler ist, sondern dass sie direkt dem
kindlichen Urinteresse entspringt, das viele Lebewesen und
insbesondere menschliche Kinder ihrer Umwelt gegenüber
empfinden.
Wir werden anschließend kurz auf die Methodik eingehen,
die unser Forschen prägt, und dabei die Begriffe Hypothese,
Theorie und Modell thematisieren.
Daneben werden wir dem Ursprung der Begriffe Masse,
Materie, Material, Substanz und Stoff nachgehen.
Am Ende des ersten Kapitels erwartet uns ein kurzer
Überblick über den Inhalt dieses Buches und Gliederung
seiner restlichen Kapitel.
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Mensch und Materie

Woraus ist die Welt gemacht? Auf der Suche nach der Welt
Das Interesse daran, wie die Natur beschaffen
Kindliche Fragen... ist, „was die Welt im Innersten zusammenhält“
(GOETHE, Faust) steckt aber noch im Erwach-
Wird ein Mensch geboren, so lernt er in den senenalter in jedem Menschen. Naturwissen-
ersten Lebensjahren langsam, sein Ich vom Rest schaftler haben es zu ihrem Beruf gemacht. Es
der Welt, der Außenwelt, zu unterscheiden. In gehört zu den charakteristischsten menschlichen

© 2011 Welsch & Partner scientific multimedia


dieser Zeit beginnt er auch, die Materialität die- Eigenschaften überhaupt. Auch ist es keinesfalls
ser Außenwelt zu erfassen. Er lernt, Kategorien so, dass ein besseres Verständnis der Naturvor-
zu bilden und Strukturen wieder zu erkennen. gänge das Staunen über die Existenz – religi-
Neben den abstrakten Kategorien wie „gut“ öse Menschen mögen sie Schöpfung nennen
und „böse“, die Kinder – als die für Ihr Dasein – vermindert. JOHANN WOLFGANG VON GOETHE
vielleicht wichtigste Unterscheidung – ebenfalls (1789 – 1832) ließ seinen Faust sagen:
sehr früh erlernen, erkennen schon Zweijährige
bewusst auch stoffliche Eigenschaften wie etwa „der Schauder ist der Menschheit bestes Teil“
„nass“. Das Töchterchen von einem der Autoren (Faust II, Vers 6272 / Faust)
bezeichnete bald den Schnee als „kalt, nass“ und
den Dampfnebel aus dem Bügeleisen als „heiß, Dieses Gefühl des Schauderns vor dem großar-
nass“. Dabei beginnt sich die Einteilung der tigen Bild der Natur empfinde ich immer dann,
Dinge nach verschiedenen Stoffen und Aggregat- wenn ich etwa in einer sternklaren Sommer-
zuständen als eine wesentliche Kategorie in der nacht auf einer Wiese liege und die Gestirne
Wahrnehmung der Welt um uns herauszubilden. betrachte – die sichtbare Materie des Universums
Nur wenig später, im Alter von drei bis vier Jah- am Himmel, die noch warme Erde im Rücken,
ren, fangen die Fragen an nach dem Woher? Wie den Duft nach Heu in der Nase. Aber ebenso
sind die Menschen, wie die Tiere entstanden? empfinde ich, wenn ich ein wenig vom Aufbau
Teilerklärungen, wie „aus winzig kleinen Tieren der Materie in meiner Hand verstanden habe.
oder einzelnen Zellen“, helfen nicht lange weiter. Wenn ich Zusammenhänge sehe, die mir helfen
Woher kam die erste Zelle, fragt dieses Wesen, zu verstehen, warum die Dinge so sind, wie sie
das sich in einer wunderbaren Welt findet, und sind, sei es ein Felsblock oder eine Seifenblase.
bringt seinen Vater damit schon in allergrößte Selbst gebildete Menschen wissen oft nicht,
Erklärungsnöte. worauf sie mit ihren eigenen Füßen stehen. Wo-
Dieses Urbedürfnis, die Welt, in die wir raus besteht eigentlich die Erde, gerade einmal
nach dem Philosophen MARTIN HEIDEGGER zehn Meter unter der Oberfläche? Die Wenigsten
(1889 – 1976) „geworfen“ sind, zu kategori- wissen es zu sagen, und ich muss gestehen, dass
sieren und zu analysieren, bildet vielleicht den ich selbst erst nach einem halben Chemiestudium
Kern menschlicher Intelligenz. Sie ist eines der begonnen habe, ernsthaft darüber nachzuden-
Grundmerkmale unserer Spezies. Leider tritt ken. Für die meisten Menschen wäre es hingegen
dieses kindliche „wissen wollen“, woraus unsere undenkbar, zehn Meter von einem Bretterzaun
Welt – „das Mannigfaltige“, um mit HEIDEGGER entfernt zu leben und überhaupt nicht wissen zu
zu sprechen – wirklich besteht und wie es funkti- wollen, was sich dahinter verbirgt! Aber wir brau-
oniert, bei vielen von uns im Laufe ihres Lebens chen gar keine zehn Meter weit zu gehen. Bereits
zurück. Es wird verschüttet zwischen täglichen der Kugelschreiber in unserer Hand, das Papier
Existenzsorgen, beruflichen Verpflichtungen und dieses Buches oder das Glas, aus dem wir trinken,
Zerstreuungen. enthalten so viele Rätsel, dass man ein Forscher-

3
KAPITEL 1 Mensch und Materie

leben darauf verwenden könnte, sie wirklich ge-


nau zu ergründen. In diesem Sinn gleicht die Welt
FAUST einem Hologramm, bei dem Information über das
gesamte Bild schon in jedem kleinsten Ausschnitt
zu finden ist. Die wichtigsten Geheimnisse der
Habe nun, ach! Philosophie, Welt stecken in jedem alltäglichen Gegenstand:
Juristerei und Medizin, Könnte man im Detail verstehen, wie eine Ameise
Und leider auch Theologie funktioniert, so hätte man wohl einen Großteil
Durchaus studiert mit heißem Bemühn.
der Welt verstanden.
Da steh ich nun, ich armer Tor!
Und bin so klug als wie zuvor.
Heiße Magister, heiße Doktor gar Der Weisheit letzter Schluss
Und ziehe schon an die zehen Jahr
Herauf, herab und quer und krumm Wenn jemand daher kommt und sagt, so und
Meine Schüler an der Nase herum, nicht anders ist die Welt, kommt nur und lernt
Und sehe, dass wir nichts wissen können! es, ist größte Vorsicht geboten. Etwas von Reli-
Das will mir schier das Herz verbrennen. gion steckt in solchen absoluten Aussagen, und
Zwar bin ich gescheiter als all die Laffen, sie entsprechen in keiner Weise unserem heutigen
Doktoren, Magister, Schreiber und Pfaffen; wissenschaftlichen Selbstverständnis.
Mich plagen keine Skrupel noch Zweifel, Insbesondere im Lauf der letzten gut hun-
Fürchte mich weder vor Hölle noch Teufel, dert Jahre haben die Wissenschaftler ihre Lek-
Dafür ist mir auch alle Freud entrissen, tion an Bescheidenheit gelernt. Zu oft mussten
Bilde mir nicht ein, was Rechts zu wissen, stolze und wunderschöne Theoriegebäude große
Bilde mir nicht ein, ich könnte was lehren, Erweiterungen, Umbauten und Renovierungs-
Die Menschen zu bessern und zu bekehren. maßnahmen über sich ergehen lassen. Vor allem
Auch hab ich weder Gut noch Geld,
wird heute (meistens) klar unterschieden zwi-
Noch Ehr und Herrlichkeit der Welt;
schen echten Theorien und Arbeitshypothesen,
Es möchte kein Hund so länger leben!
die nur dazu dienen, eine Vermutung zu for-
Drum hab ich mich der Magie ergeben,
mulieren, um sie dann zu überprüfen. Im Ge-
Ob mir durch Geistes Kraft und Mund
Nicht manch Geheimnis würde kund. gensatz zur umgangssprachlichen Verwendung
Daß ich nicht mehr mit saurem Schweiß wird mit Theorie in der Wissenschaft ein klar
Zu sagen brauche, was ich nicht weiß. definiertes Gedankengebäude für einen ebenso
Daß ich erkenne, was die Welt klar definierten Anwendungsbereich bezeichnet,
Im Innersten zusammenhält, das durch zahlreiche damit in Einklang stehende
Schau alle Wirkenskraft und Samen, Befunde gestützt wird. Gute Theorien sollten
Und tu nicht mehr in Worten kramen. auch experimentelle Befunde vorhersagen, und
sie legen Experimente zu ihrer eigenen Überprü-
O sähst du, voller Mondenschein, fung nahe. Zudem existieren für jede Theorie
Zum letztenmal auf meine Pein, Schlüsselexperimente, deren negativer Ausgang
Den ich so manche Mitternacht sie fast zwangsläufig zu Fall bringen würde. Sie
An diesem Pult herangewacht: muss dann normalerweise in ihrem Gültigkeits-
Dann über Büchern und Papier,
bereich stärker eingeschränkt oder modifiziert
Trübsel'ger Freund, erschienst du mir!
bzw. erweitert werden, um den neuen Ergebnis-
Ach! könnt ich doch auf Bergeshöhn
sen Rechnung zu tragen. In einigen Fällen muss
In deinem lieben Lichte gehn,
sie auch ganz aufgegeben und durch eine Theorie
Um Bergeshöhle mit Geistern schweben,
Auf Wiesen in deinem Dämmer weben, ersetzt werden, die mit den experimentellen Be-
Von allem Wissensqualm entladen, obachtungen in Einklang steht.
In deinem Tau gesund mich baden! Und von Beobachtungen wollen wir in die-
sem Buch immer wieder ausgehen. Vom direkt
sinnlich Erfahrbaren, das uns in der Welt begeg-
JOHANN WOLFGANG VON GOETHE net, von Dingen, die wir im Wortsinn „begrei-
fen“ können. Dies wird uns fester Grund und
Anker sein, wenn wir uns tiefer hinein begeben

4
Erde, Wasser, Luft und Feuer

in die Strukturen und Ähnlichkeiten der Dinge. scheinbar aus dem Nichts wirken, Galaxien Hypothese
Und wir werden dieses Begreifen auch nicht aus ohne Sterne und schließlich sogar Zeit, die un- Angenommene, aber
(noch) nicht bewiesene
den Augen verlieren, wenn wir uns mit zugrunde terschiedlich schnell läuft. Aussage
liegenden Denkmodellen befassen, die nicht im-
mer gleich intuitiv zu erfassen sind. Theorie
Beschreibung eines Aus-
Das Gewebe der Natur schnitts der Realität, die
Schwierigkeiten im Kleinen wie im Großen unter definierten Voraus-
Trotzdem lässt sich – und das ist eigentlich ganz setzungen überprüfbare
Vorhersagen erlaubt.
Viele wissenschaftliche Theorien des letzten Jahr- erstaunlich – zumindest etwas von den Phänome-
hunderts sind ihrem Wesen nach recht unan- nen des Allerkleinsten und des Allergrößten mit
schaulich. Das kommt daher, dass sie sich mit unserem menschlichen Gehirn verstehen. Unser
Phänomenen beschäftigen, die weit außerhalb Gehirn schafft es irgendwie, Gedankenkonst-
unserer Alltagserfahrung liegen. Allerdings wäre rukte wie die Mathematik oder physikalische
es völlig verfehlt anzunehmen, dass diese Berei- Theorien zu entwickeln, die zur Untersuchung
che deshalb keinen Einfluss auf unsere Existenz der Grundfragen des Universums und der darin
hätten und von Wissenschaftlern womöglich nur enthaltenen Materie auf ganz eigentümliche und
deshalb untersucht werden, weil es in der uns überraschende Art und Weise geeignet sind. Sie
vertrauten Welt nichts mehr für sie zu tun gibt. „passen“. Und dies, obwohl das Gehirn seine
Die Welt der allerkleinsten Dimensionen und Evolution in irdischen Verhältnissen durchge-
die damit zusammenhängenden ungewöhnlichen macht hat und es bisher wohl nicht unbedingt
Phänomene erweisen sich als so grundlegend ein evolutionärer Vorteil war, astrophysikalische
für alles Existierende wie der Zement für ein oder quantenmechanische Zusammenhänge zu
Haus aus Beton. Wenn wir uns insbesondere verstehen. Aus Sicht der Biologie ist dies ein völ-
in den Kapiteln 3, 4 und 10 mit Teilchen be- lig überraschender Befund, denn normalerweise
schäftigen, die millionenfach kleiner sind als der ist die Natur bei der Selektion der Ausstattung
Punkt am Ende dieses Satzes, so wird uns der ihrer Organismen extrem ökonomisch, um nicht
gesunde Menschenverstand in diesen Regionen zu sagen geizig. Eigenschaften von Lebewesen
nicht leiten können. Hier zählt nicht mehr die beruhen nämlich auf körperlichen Strukturen
Anschaulichkeit einer theoretischen Beschrei- und erfordern für ihren Aufbau stets Energie,
bung, sondern nur noch ihre Übereinstimmung also Nahrung, eine in der Natur stets knappe
mit Messungen. Es ist das bizarre Reich der Ressource. Neue Eigenschaften entstehen bei-
Quantentheorie. Hier gibt es Teilchen, die von spielsweise durch zufällige Mutationen im Erb-
einem Ort zum anderen gelangen, ohne jemals gut. Aber nur solche bleiben in der natürlichen
dazwischen gewesen zu sein, Quantenobjekte, Selektion erhalten, die sich positiv auf die Zahl
die gleichzeitig stillstehen und sich bewegen und der Nachkommen auswirken oder diese zumin-
Katzen, die gleichzeitig tot und lebendig sind. dest nicht durch Verschwendung von Energie
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Und auch die wirklich großen Entfernungen reduzieren. Schließlich könnte die Energie, die wir
in der Welt, die ungeheuren Zeiträume ihrer für so „sinnlose“ Tätigkeiten verschwenden, ja
Existenz sowie die höchsten Geschwindigkeiten andernfalls für die Fortpflanzung genutzt werden.
nahe der Lichtgeschwindigkeit bereiten unserem Energie „verbraucht“ unser Denkapparat übri-
Vorstellungsvermögen gehörige Probleme. Die gens immerhin so viel wie ein durchschnittlicher
Welt verhält sich auch in diesen Dimensionen Prozessor in einem modernen Computer. Vom
einfach nicht mehr so, wie wir es gewohnt sind. Grundumsatz eines Menschen (der etwa der Leis-
Sie richtet sich ganz einfach nicht danach, was tung einer 75 Watt-Lampe entspricht), entfallen
bequem in unseren Kopf passt. Auch in diesen auf das Gehirn rund zwanzig Prozent, obwohl 1-2
kosmischen Regionen, über die wir in Kapi- es nur zwei Prozent der Körpermasse ausmacht. Entitätsebenen. Aus
tel 11 sprechen werden, müssen wir unseren Unser über das unmittelbar Nützliche hinaus- menschlicher Sicht lässt
sich Materie entsprechend
Alltagverstand gehörig umgewöhnen. Skur- gehendes Erkenntnisvermögen ist also nur dann ihrer stofflichen Basis und
rile Dinge warten da auf uns: Sterne mit einer biologisch erklärbar, wenn es quasi zufällig, als Komplexität in Stufen
Kruste aus Eisen, andere, die zu einem Pfannku- kostenloser und unschädlicher Nebeneffekt eines anordnen, die jeweils ei-
gene Metastrukturen und
chen abgeplattet sind und sich so schnell drehen anderen evolutionären Vorteils entstanden ist typische Eigenschaften
wie ein Zahnarztbohrer, Gravitationskräfte, die und kaum zusätzliche Energie erforderte. Wir aufweisen.

5
KAPITEL 1 Mensch und Materie

wissen bisher nicht mit Bestimmtheit, was dieser in Betracht zieht, so ist die Versorgung heute,
entscheidende Vorteil war. War es eine Weiter- prozentual gesehen, nicht schlechter geworden
entwicklung des planenden Vorausschauens, das als zu jeder früheren Zeit und in jeder natürlichen
schon viele Tiere zeigen? War es ein optimiertes Tierpopulation. Vielleicht schaffen wir sogar
Sozialverhalten? Oder waren es vielleicht die bald, (in evolutionären Zeiträumen gerechnet)
Folgen der Intensivierung des eigentlich noch andere Planeten der Milchstraße zu besiedeln und
weniger verstandenen Phänomens des Bewusst- zu kolonisieren, wie es der berühmteste Physiker
seins (ÅBewusstsein, Seite 518), das übrigens unserer Zeit, STEPHEN HAW A KINS, immer wieder
neueren Forschungen zufolge ebenfalls nicht auf propagiert. Die Menschheit wäre dann selbst ge-
Homo sapiens beschränkt ist? gen globale Katastrophen gefeit. Kann man sich
Man kann vermuten, dass ganz allgemein einen größeren Evolutionsvorteil vorstellen? Ob
die Fähigkeit zur Bildung mentaler Repräsen- uns die zahlreichen Folgen der Erkenntnisfähig-
tationen der Außenwelt den entscheidenden keit in diesem Sinne schließlich auch langfristig
Vorteil im Überlebenskampf mit sich brachte. Vorteile bringen werden oder womöglich genau
Offensichtlich ist es für Lebewesen nützlich, auch das Gegenteil, das wird sich wohl erst im großen
über Dinge nachdenken zu können, die nicht Experiment der nächsten Jahrtausende und Jahr-
unmittelbar sichtbar, sondern eher abstrakter Art millionen zeigen.
sind. Neuere Untersuchungen zeigen, dass solche
mentalen Repräsentationen und vielleicht ein Ich-
Empfinden auch schon im Tierreich wesentlich Modelle
verbreiteter sind, als früher allgemein angenom-
Modell men. So wurde bei Rabenvögeln beobachtet, Modelle werden oft scherzhaft als „Denk-Krü-
Ein Modell ist ein abstrak- dass sie gezielt aus einem Draht einen Haken cken“ bezeichnet, Hilfsmittel zum Denken also.
tes Abbild eines Systems,
das stellvertretend für das biegen können, um damit nach Nahrung zu an- Dies bringt zum Ausdruck, dass wir – ob mo-
System untersucht wird. geln. Dazu müssen sie über eine abstrakte Vor- mentan oder sogar prinzipiell – mit unserem
stellung verfügen, wie ein Haken funktioniert. Bewusstsein nicht in der Lage sind, eine be-
Affen können Symbole (keine Bilder konkreter stimmte Erscheinung in ihrer gesamten Komple-
Gegenstände) für Wörter benutzen und daraus xität zu erfassen, und uns irgendwie behelfen
Sätze bilden. Ebenso können sie mit kleineren müssen. Wir müssen vereinfachen, uns auf das
Zahlen umgehen. Auch das ist eine abstrakte Re- Wesentliche konzentrieren. So wird von einem
präsentation von etwas nicht direkt Sichtbarem. Haus, bevor man es baut, ein Modell erstellt. Es
Und selbst bei Vertretern anderer Tiergruppen erlaubt eine Vorstellung von dem späteren Aus-
wie Kopffüßern und Fischen bis hin zu Insekten sehen und einen Überblick über die wesentlichen
tritt erstaunlich planvolles Handeln auf. Wir Merkmale. Dabei ist niemand überrascht, dass
sehen hier den Beginn von Modellbildungen, in einem solchen Modell keine Geranien in den
auch wenn diese Fähigkeit bei unserer eigenen Balkonkästen wachsen. Modelle vernachlässigen
Spezies wesentlich weiter entwickelt ist. Weit ganz bewusst viele Aspekte der Realität, von
genug jedenfalls, um uns schließlich die Bildung denen man annimmt, dass sie für das interessie-
komplexer geistiger Konstrukte bis hin zur Ma- rende Phänomen keine große Bedeutung haben.
thematik zu gestatten, bei denen kein offensichtli- Wissenschaftler machen sich andauernd Modelle
cher Zusammenhang mehr zu einem unmittelba- der Wirklichkeit, und auch wir werden in diesem
ren Evolutionsvorteil besteht. Jedoch sollten wir Buch ständig Modelle verwenden, wenn wir nach
bedenken, dass unsere auf Verstandesprozessen den kleinsten Teilchen der Materie fragen, nach
basierende technische Zivilisation uns erlaubt den Strukturen, die bestimmte Eigenschaften
hat, auch die entferntesten Flecken dieses Plane- hervorbringen, oder nach der großräumigen Ver-
ten in einer Dichte zu besiedeln, die dutzendfach teilung der Materie in der Welt. Wissenschaftli-
höher ist, als jede natürliche Population einer che Modelle sind wie beim simplen Hausmodell
anderen Art mit ähnlicher Körpergröße. So etwas vereinfachte Repräsentationen eines realen Sys-
hat es in der gesamten Erdgeschichte noch nicht tems. Es können einfache Analogien sein, etwa
gegeben. Selbst wenn man das millionenfache der Vergleich eines Atoms mit einem Tennisball,
Leid durch Hunger, Krankheit und Armut bedeu- die vor allem didaktischen Zwecken dienen. Oft
tender Teile der menschlichen Erdbevölkerung basieren Modelle aber auf einer bestimmten phy-

6
Erde, Wasser, Luft und Feuer

sikalischen Theorie und sind im Vergleich zum


„Ich bin niemals zufrieden, bevor ich ein mechanisches Modell des Ge-
Alltagsbegriff stärker formalisiert. Sie werden in genstands konstruiert habe, mit dem ich mich beschäftige. Nur wenn es
physikalisch-mathematischer Formelsprache aus- mir gelingt, ein solches herzustellen, dann verstehe ich den physikalischen
gedrückt, die es erlaubt, quantitative Zusammen- Sachverhalt.“
hänge zu beschreiben.
LORD KELVIN (WILLIAM THOMSON), 1824 – 1907

Modelle und Theorien


„Ich höre und vergesse. Ich sehe und behalte. Ich handle und verstehe ...“
Doch woher weiß man, was in einem Modell
vernachlässigt werden darf und was nicht? Und KONFUZIUS, 551 – 479 v. Chr.
woher weiß man, ob das Modell überhaupt den
interessierenden Ausschnitt aus dem realen Sys-
tem repräsentiert? tierten „Bilder“ von Atomen sind aus Messer-
Hier kommt die Theorie ins Spiel, die einem gebnissen abgeleitet, für deren Interpretation die
wissenschaftlichen Modell zugrunde liegt. The- Quantentheorie vorausgesetzt wird. Gegen eine
orien liefern nicht nur die Formeln, nach denen zu strenge Trennung zwischen theoretischen und
bestimmte Modellgrößen berechnet werden kön- Beobachtungsbegriffen spricht auch, dass es oft
nen, sie sind es vielmehr, die viele der in Model- gerade Übertragungen von Theorien und Begrif-
len verwendeten Größen erst definieren. Und fen auf völlig andere Anwendungsbereiche waren,
damit geben sie auch vor, welche „Daten“ des die zu neuen Erkenntnissen führten. Allerdings
betrachteten Systems auf welche Art und Weise ist das Zusammenspiel zwischen Beobachtung,
ermittelt werden müssen. So sind für ein Modell Modell und Theorie tatsächlich heikel, wie man
der Planentenbewegungen des Sonnensystems beim Thema „Dunkle Energie“ sehen kann: Die
auf Basis der Newtonschen Theorie die Massen (indirekt auf Basis einer anderen Theorie) beob-
der Planeten erforderlich. Da man Planeten nicht achteten Geschwindigkeiten von Galaxien im
wiegen kann, benötigt man die Theorie bereits, für uns sichtbaren Universum stehen nicht im
um diese Massen über die Bahnradien und Um- Einklang mit Modellen unseres Universums auf
laufzeiten der Planeten zu berechnen. Die Theorie Basis der Allgemeinen Relativitätstheorie und der
zeigt auch, ob man die Einflüsse der Planeten un- Standardtheorie der Elementarteilchen. Wo steckt
tereinander in Abhängigkeit von der angestrebten der Fehler? In den Modellen oder in der Theorie?
Fehlertoleranz vernachlässigen kann oder nicht. Im Allgemeinen sind Wissenschaftler daher
Allerdings sollen Modelle auch dazu dienen, bemüht, möglichst viele unterschiedliche Systeme
Theorien zu verifizieren. Nachdem wir anfangs und möglichst viele Modelle oder Modellvari-
die Bahndaten der Planeten ermittelt haben, anten zu betrachten, um einer Theorie den Rit-
sollte unser Modellsonnensystem deren Positio- terschlag „(vorläufig) gut bestätigt“ zu erteilen.
nen vorhersagen können. Trifft diese Vorhersage Nicht von ungefähr können Theorien, deren For-
(im Rahmen der Fehlertoleranz) zu, so bestä- meln und Grundbegriffe sehr breit angelegt sind
tigt dies die zugrundeliegende Theorie. Aber wie (wie die klassische Mechanik), auch gut bestätigt
weit kann man einer Theorie vertrauen, wenn werden: Es gibt einfach sehr viele Systeme, auf
das Modell, mit deren Hilfe man die Prüfung die sie anwendbar sind. Das erklärt auch, wa-
durchführt, die Theorie bereits voraussetzt? In rum Wissenschaftler nicht jedes „Gegenbeispiel“
der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts für eine Theorie zum Anlass nehmen, dieselbe
glaubten Wissenschaftstheoretiker, man könne als widerlegt anzusehen. Ist ein neunzigjähriger,
dieses Problem dadurch lösen, dass man scharf rauchender Alt-Bundeskanzler der Beweis, dass
zwischen theoretischen und reinen Beobachtungs- Rauchen unschädlich ist?
größen in der Formulierung einer Theorie trennt
und für ihre Prüfung nur letztere zulässt. In der Typen von Modellen
Praxis ist diese Unterscheidung allerdings un-
möglich: Was sind „reine“ Beobachtungsdaten? In den einfachsten Fällen besteht ein Modell aus
„Masse“ ist zum Beispiel nichts, was wir beob- einem Satz von Formeln, die, angewandt auf be-
achten können. Auch Atome können wir nicht stimmte Eingabeparameter, die Ausgabewerte lie-
direkt beobachten. Die in diesem Buch präsen- fern. Auf diese Weise lässt sich beispielsweise die

7
KAPITEL 1 Mensch und Materie

1-3
Theorie, Modell und Realität. Theorien definieren die
Gesetze und Grundbegriffe, die man benötigt, um Mo-
delle realer Systeme zu formulieren. In wissenschaftli-
chen Theorien werden Begriffe und Strukturen aus der
Mathematik verwendet, um Zusammenhänge eindeutig
und quantitativ zu erfassen. In mit Hilfe der Theorie for-
mulierten Modellen werden theoretische Grundbegriffe
mit Eigenschaften der realen Systeme verknüpft. Aus einer
„Punktmasse“ der klassischen Mechanik wird in einem
Modell des Sonnensystems ein Planet wie die Erde oder
ein Stern wie unsere Sonne. Das Modell kann maximal
die Elemente des realen Systems berücksichtigen, für die
es in der Theorie Grundbegriffe gibt. Meist werden noch
weitere Vereinfachungen vorgenommen, so wird beim
Systeme Erde-Sonne links angenommen, dass die Masse
beider Körper in deren Mittelpunkt konzentriert gedacht
werden kann. Die Sonne wird zudem als fixiert betrach-
tet: ihre Bewegung aufgrund der Anziehungskräfte der
Planeten wird vernachlässigt. Das reale System selbst ist
also viel umfangreicher, und die Menge seiner Eigenschaf-
ten und Objekte ist eher diffus definiert. So besteht das
Sonnensystem nicht nur aus Planeten, sondern aus vielen
kleinsten Körpern, Gaswolken, elektromagnetischer Strah-
lung, Strömen von Elementarteilchen und vielem mehr.
Vieles davon ist im Rahmen der klassischen Mechanik, die
die Bewegung der Planeten so gut beschreibt, gar nicht
erklärbar. Neue Theorien mit anderen Begriffen müssen
hier an ihre Stelle treten.

„ausprobieren“ kann. Oft kann man komple-


xere Sachverhalte auch dadurch annähern, dass
man in einem einfacheren, „lösbaren“ Modell
den Einfluss von „Störungen“ analysiert. Man
wählt die Form der Störungen gerade so, dass
Flugbahn eines Golfballs im Modell simulieren. sie möglichst viel vom komplexen Sachverhalt
In vielen Fällen ist eine geschlossene Formeldar-r erfassen. So können in unserem einfachen Modell
stellung aber gar nicht bekannt, oder sie existiert des Sonnensystems die Einflüsse der Planeten
überhaupt nicht, obwohl man die Gleichungen aufeinander auch als „Störungen“ ihrer Bahnen
für das Verhalten der Einzelkomponenten durch- begriffen und damit - in gewissen Grenzen - ihre
aus kennt. Von dieser Art ist eine etwas genau- Wirkungen berechnet werden. Vor der Erfindung
ere Version unseres Modells des Sonnensystems. des Computers waren aufgrund des erforderli-
Berücksichtigt man nicht nur die wechselseitige chen Rechenaufwandes numerischen Verfahren
Anziehung zwischen Sonne und Planeten, sondern enge Grenzen gesetzt, weshalb man meist auf
auch die der Planeten untereinander, so sind die stark vereinfachte Modelle zurückgreifen musste.
erhaltenen Gleichungen nicht mehr „analytisch“, Dies galt insbesondere für Systeme aus sehr vielen
also durch Angabe einer Formel, lösbar. In der Re- Einzelelementen oder Parametern, deren kollek-
gel kann man sie aber numerisch lösen, d. h. man tives Verhalten man erforschen wollte, wie zum
kann für gegebene Eingabeparameter durch Nä- Beispiel unser Gehirn. Heutzutage lassen sich
herungsverfahren der tatsächlichen Lösung nahe dank Computer auch komplexere Modelle simu-
kommen. Der Nachteil dieses Verfahrens: Man lieren, was zu neuen Einsichten, unter anderem im
erfährt wenig über die allgemeine Struktur aller Bereich der Materialwissenschaft, Molekularge-
möglichen Lösungen, man muss sie jeweils „aus- netik und Klimaforschung geführt hat. Aber auch
probieren“ oder auf weniger präzise Modelle aus- heute noch bringen scheinbar „einfache“ Prozesse
weichen, deren Gleichungen man analytisch lösen wie die Faltung eines Eiweißmoleküls Computer
kann. Das Verhalten dieser Lösungen gibt oft an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit, ganz zu
wertvolle Hinweise für das komplexere Modell, schweigen von hochkomplexen Systemen wie
woraufhin man gezielt bestimmte Fälle numerisch unserem Gehirn.

8
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Modelle, die auf Basis von Gleichungen der können. Das Agentenparadigma liefert Erklä-
beschriebenen Art erstellt werden, nennt man rungen für kollektives Verhalten, zum Beispiel
deterministisch, unabhängig davon, ob man sie im Rahmen der Verkehrsmodellierung oder in
analytisch oder nur numerisch lösen kann. Kennt der Verhaltensbiologie („Schwarmintelligenz“).
man alle Eingabeparameter zu einem bestimm- Dennoch lassen uns manchmal auf diese Weise
ten Zeitpunkt, so steht das Verhalten des Mo- gewonnene Erklärungen unbefriedigt. Es ist ja
dells für alle Zeiten fest (was nicht zwingend für keineswegs trivial, aus dem Verhalten des Mo-
das reale System gelten muss!). Es gibt allerdings dells zu einem besseren Verständnis der inneren
auch Modelle, bei denen statistische Methoden Vorgänge zu kommen. Denn als „verstanden“
eingesetzt werden. Sie werden unter anderem empfinden wir einen Vorgang eigentlich erst
genutzt, wenn nur die Häufigkeitsverteilung von dann, wenn wir durch einen für uns unmittelbar
Eingabeparametern bekannt ist oder die zeitliche nachvollziehbaren geistigen Prozess quasi eine
Entwicklung eines Systems von so vielen Para- Abkürzung zur Lösung finden.

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metern abhängt, dass sie zumindest teilweise
als zufallsgesteuert betrachtet werden kann. Modelle für fremde Dimensionen
Statistische Modelle müssen keineswegs weni-
ger verlässlich oder genau sein als „klassische“ Um Schwierigkeiten mit Erscheinungen in sehr
Modelle. Bei Systemen aus sehr vielen Elementen kleinen oder sehr großen Dimensionen zu be-
hängt nämlich die zeitliche Entwicklung meist gegnen, die für ungewohnt sind, greifen wir oft
nicht vom Verhalten jedes einzelnen Elements auf Modelle zurück, die wir gedanklich in die
ab, sondern folgt dem statistischen Gesetz der gewohnten Größenordnungen transformieren. Es
großen Zahlen. So wird der Druck eines Gases wäre natürlich falsch, würde man z. B. ein Kugel- 1-4
auf eine Gefäßwand durch eine riesige Zahl von modell der Atomhülle mit der Atomhülle selbst Kugelmodelle. Eine Kugel
dient wegen ihrer Einfach-
Molekülen erzeugt, die unermüdlich dagegen verwechseln. Jede Theorie und erst recht jedes heit als Modell für viele
stoßen. Der Wert des Drucks hängt aber nur von einfache Modell abstrahiert ja, wie wir oben be- unterschiedliche Dinge,
der mittleren Stoßzahl pro Zeit- und Flächenein- tont haben, bestimmte Eigenschaften der Natur auch solche, die für unsere
Vorstellung die „falsche“
heit ab, nicht von der individuellen Geschichte und hat daher stets nur einen begrenzten Gültig-
Größe haben, z. B. ein
aller beteiligten Gasmoleküle (ÅKapitel 9). keitsbereich. Die Wahl des passenden Modells ist Atom oder ein Planet.
Oft hat man bei realen Systemen die Wahl, abhängig von der Ebene der Erklärung, die man
sie als Ansammlung diskreter Objekte (diskrete anstrebt und vom Gültigkeitsbereich der jewei-
Modellierung) oder als kontinuierliches Medium ligen Modelle. So gesehen, hat ein Tennisball
(kontinuierliche Modellierung) zu modellieren. ebenso Berechtigung, in bestimmten Situationen
So kann man eine Flüssigkeit entweder als ein als Atommodell herangezogen zu werden, wie
Strom von Teilchen oder als Materiefluss mit etwa das Bohrsche Atommodell mit seinen Elek-
einer bestimmten Flussdichte (g · cm–2 · s–1) mo- tronenbahnen oder das heute bevorzugte, auf der
dellieren. Ob ein System „in Wirklichkeit“ aus Quantentheorie basierende, Orbitalmodell.
diskreten Objekten besteht oder nicht, ist da- Wie wichtig es ist, ein Modell nicht allzu
bei oft zweitrangig. Sind die zu modellierenden leicht für die Wirklichkeit zu nehmen, wurde
Systemeigenschaften zumindest näherungsweise einem von uns erst kürzlich wieder klar, als er der
davon unabhängig, so können beide Modellie- sechsjährigen Tochter erklären wollte, dass Eis bei
rungswege zu gleichen Ergebnissen führen. Bei 0 °C schmilzt und dabei erst einmal verhindert,
diskreter Modellierung ist das Entstehen kol- dass sich das Schmelzwasser weiter erwärmt. In
lektiven Verhaltens der einzelnen Elemente be- der Schule hatte man ja gelernt, dass zugeführte 1-5
Modelle für Menschen.
sonders augenfällig. Es ist überraschend, welch Energie zunächst das restliche Eis schmilzt, bevor
Bei der Berechnung von
komplexes, ja sogar intelligentes Verhalten ein sich das Wasser weiter erwärmt. Prompt kam die Fluchtwegen kann man
System zeigen kann, obwohl seine Elemente Gegenfrage: Aber was ist, wenn das letzte Eis- Menschen einfach als
Kreise modellieren. Legt
einfachen „dummen“ Regeln folgen. Bei Com- stückchen nur noch ganz klein ist und viel Wasser
man Wert auf Gemüts-
putersimulationen diskreter Systeme nutzt man da? Na dann ... – gilt dieses einfache Modell zustände, so sind Smileys
heutzutage zunehmend das Konzept der Soft- natürlich nicht mehr, musste zugegeben werden. bessere Menschenmo-
wareagenten. Softwareagenten sind autonom Bedenkt man die endliche Wärmeleitfähigkeit delle. Will man Körper-
haltungen des Menschen
nach bestimmten Regeln agierende Softwaremo- von Wasser, so kann es natürlich ohne weiteres betrachten, benötigt man
dule, die auch miteinander „kommunizieren“ außen schon heiß sein, während noch Eis da ist. wieder andere Modele.

9
KAPITEL 1 Mensch und Materie

Es besteht dann eben kein thermodynamisches zige Ameise funktioniert, so würden viele Seiten
Gleichgewicht. Man tut also gut daran, den Dif- aus dem Buch des Lebens offen vor uns liegen.
ferenzierungsgrad des Modells der Wirklichkeit Wir wollen hier vorerst von sogenannten
sehr sorgfältig zu wählen. „emergenten“ Eigenschaften absehen, ohne sie
Um das Wesen einer beschriebenen Erscheinung ganz aus den Augen zu verlieren. So werden Ei-
von verschiedenen Seiten zu beleuchten, kann es genschaften bezeichnet, die wie bestimmte mak-
didaktisch sehr nützlich sein, das Erklärungsmo- roskopisch messbare Materialeigenschaften (Zä-
dell immer wieder zu wechseln. Nur in diesem higkeit, Leitfähigkeit) oder auch die Intelligenz,
Sinn einer Annäherung an die Realität mit Hilfe erst durch das Zusammenwirken einer großen
von Theorien und Modellen kann man von wis- Zahl von Einzelelementen entstehen. Für ein ein-
senschaftlicher „Erkenntnis“ über die Struktur zelnes atomares Bauteilchen ist es z. B. unsinnig,
von Materie sprechen, die wir in diesem Buch den Druck oder die Reißfestigkeit zu definieren;
vermitteln wollen. Die „Wirklichkeit“ kann und ebenso kann man nicht davon sprechen, dass
wird immer ganz anders aussehen. Was man ein Neuron ein wenig Intelligenz besitzt oder
1-6
Modelle für Atome. In sich unter dem Begriff „objektive Wirklichkeit“ ein Buchstabe ein wenig des Sinns von Schillers
Kapitel 3 und 4 werden überhaupt vorzustellen hat, bleibt auch heute Räuber enthält. Solche Eigenschaften großer
wir einige konkrete Atom- Gegenstand philosophischer Diskussionen. Ensembles hängen neben den Bestandteilen ganz
modelle betrachten, derer
sich die Menschen im
Trotz dieser Einschränkungen lässt sich heute entscheidend von der Struktur ab, von der Art
Laufe der Jahrhunderte ein in sich stimmiges Bild von normaler Mate- und Weise, wie die Komponenten miteinander
bedient haben. rie zeichnen, das ein befriedigendes Verständnis verbunden sind. Als klassisches Beispiel hierfür
vieler Prozesse erlaubt. Dass jede Erkenntnis kann der Kohlenstoff dienen. Sind seine Atome
an einem bestimmten Punkt endet, wird einem in regelmäßigen Sechsecken angeordnet, haben
schmerzlich bewusst, wenn man an die Grenzen wir es mit Graphit zu tun, eine elektrisch leitfä-
unseres Weltverständnisses im Kleinsten wie im hige, dunkelgraue, sehr weiche Substanz, die in
Größten denkt. Gibt es etwas noch Elementa- Bleistiften (im Widerspruch zu deren Namen)
reres als die heute kleinsten bekannten Elemen- für die Schwärzung des Papiers sorgt. Sind die
tarteilchen, die Leptonen und Quarks? Gibt es Kohlenstoffatome hingegen zu Tetraedern ver-
ein „Außerhalb“ des bekannten Universums? knüpft, so handelt es sich um Diamant mit völlig
Welchen Teil unserer universellen Heimat kön- anderen Eigenschaften: ein elektrischer Isolator,
nen wir überhaupt kennen? Wie alt ist die Welt? lichtdurchlässig und bis vor kurzem der härteste
Gab es vielleicht eine Welt vor dem Urknall? bekannte Stoff überhaupt. Wie die natürlichen
Diesen Fragen werden wir uns im hinteren Teil Stoffe zusammengesetzt sind, ist schon für sich
des Buches erneut zuwenden, denn gerade in den gesehen ein faszinierendes Thema. Doch die
letzten Jahren haben die Auswertungen neuerer Gewinnung und Herstellung der künstlichen
1-7
Materie, die uns umgibt. Daten von Satelliten sowie von Ballonmessungen Werkstoffe, aus denen der Mensch seine Zivi-
Im Lauf der zivilisatori- im Mikrowellenbereich und Statistiken über die lisation aufgebaut hat, ist nicht minder span-
schen Entwicklung hat Verteilung bestimmter Supernovae im Weltraum nend. So haben sich die Erscheinungsformen des
der Mensch große Teile
der Materie, mit der wir
geradezu eine neue Ära der Kosmologie herauf- Kohlenstoffs in den letzten Jahren um Fullerene,
täglich in Berührung kom- beschworen. Sie erlauben es nun erstmals auf Nanoröhrchen und Graphen erweitert, von de-
men, immer stärker be- einige Fragen quantitative Antworten zu bekom- ren Existenzmöglichkeit zuvor niemand etwas
einflusst. Ausgehend von
Anpassungen der makro-
men (ÅKapitel 11), oder zumindest begründete ahnte. Auch sie sind Themen in diesem Buch.
skopischen äußeren Form Hypothesen zu entwickeln, die einmal zu Ant- Jahrtausende an Erfahrung haben uns ursprüng-
(Steinwerkzeuge) über worten führen könnten. Die Erkenntnis, wie die lich ermöglicht, die Materialien zu finden und
Kombinationen und Struk-
Welt funktioniert, liegt zu einem beträchtlichen zu verarbeiten, die unsere heutige Lebensweise
turänderungen (Stahl) ist
heute Manipulation von Teil in jedem ihrer kleinsten Teile verborgen, – man mag sie verdammen oder preisen – erst
Materie auf molekularer denn es sind immer wieder grundlegende Prinzi- ermöglicht haben. Ein weiter Weg führte unsere
(Kunststoffe, Metamateri-
pien, die sich, einmal enthüllt, in tausendfacher Vorfahren von den Fundstellen bestimmter har-
alien) und sogar atomarer
Ebene (Quantenpunkte) Anwendung quer durch die Natur wiederfinden ter Steine über die Verarbeitung von Pflanzen-
möglich. Der Begriff Ma- lassen. Hätten wir nur einen Stein vollständig fasern zu Geweben bis zur Metallgewinnung.
terie wandelt sich. Er wird verstanden, so wüssten wir damit schon einiges Was die Nutzung der materiellen Umwelt als
immer häufiger auf das je-
weils beherrschte Material über das dazugehörige Gebirge. Könnten wir Werkzeug und Werkstoff anging, kam es zu einer
bezogen. wirklich genau verstehen, wie eine einzige win- geradezu explosionsartigen Entwicklung (ÅAb-

10
Erde, Wasser, Luft und Feuer

bildung 1-7). Zusätzlich zu den in der Natur kalisch orientierten Begriffs Materie, sondern es Etymologie
Lehre von der Herkunft
vorkommenden Stoffen lernte der Mensch immer steht für technisch angewandte, oft stark bear-
und Geschichte der Be-
mehr Stoffe eigens für seine Zwecke zu gewinnen beitete oder umgewandelte Materie. Das Schwer- griffe.
und zu nutzen. Ein verbessertes Verständnis der gewicht dieses Begriffs liegt eindeutig auf seiner
Materialien durch chemische und physikalische Bedeutung für den Menschen.
Forschung ermöglicht es Ingenieuren heute, Ma-
terialien mit genau für den geplanten Einsatz Masse
optimierten Eigenschaften herzustellen. Diese
„designten“ Materialien ermöglichen in vielen Das Wort Masse hat seinen Ursprung im lateini-
Fällen auch einen schonenderen Umgang mit schen massa, das einen Teigklumpen oder auch
natürlichen Ressourcen. Langlebigere Produkte einen Klumpen Erz bezeichnen konnte. Später
sind oft energetisch günstiger herzustellen, als wurde es generell als eine Ansammlung von Kör- r
mehrere kurzlebige. Andererseits können auf pern oder als Haufen verstanden. Seine physikali-
baldigen Zerfall „programmierte“ Kunststoffe sche Bedeutung als träge Masse erhielt es erst im
einen Beitrag zur Entschärfung des Müllprob- 17. Jahrhundert.
lems leisten. Massa wiederum hat seinen Ursprung im grie-
chischen maza, der Bezeichnung für ein grobes
Fladenbrot aus Gerste, das, im Gegensatz zum
Etymologie feineren Weizenbrot artos, vorwiegend von ein-
fachen Leuten gegessen wurde.
Die Herkunft von maza selbst ist nicht voll-
Materie, Matter und Matière ständig geklärt. Manches spricht dafür, dass es
aus dem Hebräischen stammt. Dort bezeichnet
Der Begriff Materie wie auch der englische Begriff mazza das ungesäuerte Brot der Israeliten, das
matter und das französische matière sind aus auch in der Bibel vielfach erwähnt wird. Denkbar
dem lateinischen materia entlehnt, das soviel wie ist aber auch, dass das Wort den umgekehrten Weg
Nutzholz, Bauholz, Stoff, aber auch Aufgabe, ging und von den Griechen über die Philister ins
Anlage, Talent bedeutet. Von dieser ursprüngli- Hebräische übernommen wurde.
chen Bedeutung des Wortes im Lateinischen zeugt Möglicherweise ist maza aber auch nur ab-
auch das portugiesische Wort madeira (Holz). Der geleitet vom griechischen Wort masso für kneten
Holzreichtum der portugiesischen Insel Madeira (noch heute kennen wir das Wort Massage in
gab dieser ihren Namen. dieser Bedeutung). Der arabische Ausdruck mad-
Materia selbst stammt wohl von materr ab, was dah wurde in der muslimischen Philosophie im
so viel wie Mutter, Ursprung, Quelle bedeutet, Sinne von Materie benutzt und bezeichnet das
aber auch den inneren Teil des Baumes bezeichnet. Ausgedehnte.
Mater wiederum hat seine Wurzeln im in-
dogermanischen materr (Mutter), aus dem auch Substanz
althochdeutsch muoter, altindisch matarr und alt-
griechisch materr für Mutter abgeleitet ist. Substanz leitet sich vom lateinischen substantia
Die griechischen Philosophen bezeichneten ab, das für das Zugrundeliegende steht. Es ist ein
das Substrat aller Dinge als hylê, was ebenfalls Synonym des Wortes essentia, von dem das Wort
Holz oder Wald bedeutete. Der Hylozoismus als Essenz (z. B. in Essigessenz) abstammt. In der
die Lehre von der Beseeltheit der Natur hat hier Philosophie steht es für „das, wodurch etwas ist,
seine Wurzeln, ebenso wie der Hylomorphismus, was es ist“, also all das, was zum Beispiel einen
die Lehre von Form und Materie. Menschen zu einem Menschen oder einen Stein
zu einem Stein macht. Es ist in diesem Sinn ver-
Material wandt mit dem griechischen Wort usia, das für
das Wesen von etwas steht. In der Umgangsspra-
Der Plural Materialia leitet sich vom Plural des che steht es meist für einen chemischen Stoff, in
lateinischen Worts materialis, was soviel wie „zur der Medizin für ein einheitliches Gewebe (etwa
Materie gehörig“ bedeutet. Im heutigen Sprach- die „graue Substanz“ des Nervengewebes) oder
gebrauch ist Materiall kein Synonym des physi- einen Wirkstoff.

11
KAPITEL 1 Mensch und Materie

Stoff Sinne liefern uns Informationen über die Welt


und sind deshalb Gegenstand der Betrachtung.
Das Wort Stofff entstammt aus dem mittelnieder- In metaphorischem Sinne verwenden wir „Se-
ländischen stoffe und dieses aus dem altfranzö- hen“ also für alle Erkennungsprozesse vom Reiz
sischen estoffe (Gewebe). Die Herkunft dieses bis zur bewußten Wahrnehmung.
Wortes ist unklar. Stoff steht in der Physik ganz
allgemein für die Materie, in der Chemie für eine Ein Hi sto ri sc h e r Übe r b li c k
Substanz einheitlicher Konsistenz mit bestimm- (Å Kapitel 3) stellt dar, welche
ten Eigenschaften wie Kochsalz oder Wasser. In Vorstellungen vom Ursprung
der Chemie wird der Begriff Stofff nicht syno- d er materiellen Welt in den
nym zu Substanz verwendet. Während mit Stoff Schöpfungsmythen der Kulturen
Materie in jedem Aggregatzustand gemeint sein zum Ausdruck kommen, und wie sich diese zu
kann, liegen Substanzen stets in fester Form vor. rationalen und später naturwissenschaftlichen
Vorstellungen hin entwickelten. Zu diesen ge-
hört die Atomtheorie ebenso wie die antike
Was Sie in diesem Buch Elementelehre mit ihrer Viergliederung in Feuer,
Wasser, Erde, Luft und dem fünften Element
erwartet...
Äther. In der Folge stehen die antiken Elemente
Das vorliegende Buch geht deduktiv von der in diesem Buch nur noch metaphorisch für
Wahrnehmung und der direkt sinnlich erfahr- die wichtigsten Aggregatzustände der Materie,
baren Stofflichkeit unserer Alltagswelt aus und nämlich für Festkörper, Flüssigkeit, Gas und
widmet sich dann den weniger direkt zugäng- Plasma. Die Entwicklungsgeschichte zentraler
lichen Formen der Materie. Dies ist Grund ge- und heute selbstverständlicher Begriffe wie Ele-
nug, uns zunächst einmal mit den Sinnen – den ment, Verbindung oder Masse, führt deutlich
natürlichen und den künstlich geschärften – zu vor Augen, wie weit der Weg von unmittelbarer
befassen, die allein in der Lage sind, uns Kunde Sinneserfahrung zur naturwissenschaftlichen
von dem da draußen zu geben. Erklärung der materiellen Welt ist. Auch die
Schwierigkeiten, mit denen Wissenschaftler
Im folgenden Kapitel über die bei der Interpretation von Erkenntnissen kon-
Wahrnehmung ( Å Kapitel 2 ) frontiert sind, sind Gegenstand dieses Kapitels.
werden wir zunächst beleuch- Nicht nur für Katzenliebhaber ist dabei die Dis-
ten, auf welche Weise wir über- kussion interessant, ob eine Katze gleichzeitig
haupt Informationen über die tot und lebendig sein kann.
Welt und die Materie darin gewinnen können.
Dabei werden wir uns als Augentiere natürlich In Demokrits Erben (ÅKapi-
zunächst dem Sehen zuwenden. Wir diskutie- tel 4) beginnen wir mit den
ren, welche Erweiterungen und Relativierungen f un d amenta l en Bausteinen,
auch ein scheinbar simpler Begriff wie das „Se- d eren Eigensc h a f ten unsere
hen“ in unserer modernen Welt bereits erfahren Er f a h rungswe l t unmitte lb ar
hat. Seit Wahrnehmbares beliebig speicherbar prägen: den Atomen. Aus ihrem Aufbau folgt
geworden ist, hat etwa ein Photon, das uns das periodische System der Elemente (PSE), auf
von einem Bild oder Film erreicht, nie selbst das wir auch in späteren Kapiteln immer wieder
mit dem gesehenen Objekt in Wechselwirkung zurückgreifen werden. Wir werden sehen, wie
gestanden. Wahrnehmung wird auf die reine sich die Eigenschaften der uns bekannten Stoffe
Informationsübermittlung reduziert. Sie verliert aus der Wirkung von Kräften zwischen Atomen
ihre Unmittelbarkeit und damit zum Teil auch dieser Elemente ergeben: Warum sind Metalle
ihre Authentizität. Gleichzeitig entfaltet sie aber elektrische Leiter und Kunststoffe (meistens)
mit der zur Verfügung stehenden technischen nicht? Warum ist ein Stoff elastisch? Warum
Sensorik eine zuvor unvorstellbare Reichweite bilden manche Stoffe Kristalle und andere nicht?
bezüglich der Größendimensionen wie auch Wir werden auch der Frage nachgehen, warum
bezüglich der Sinnesmodalitäten. Doch auch alle es überhaupt unterschiedliche „Phasen“ gibt,
anderen natürlichen und technisch verbesserten wie Physiker und Chemiker die Erscheinungs-

12
Erde, Wasser, Luft und Feuer

formen der Materie als Festkörper, Flüssigkeit ebenso auf den Grund, wie der Frage, warum
und Gas auch nennen. sich letzteres in Wasser nicht löst, in Seifenlauge
Jedem antiken „Element“, also jedem Aggre- aber wohl. Alkohole sind wiederum Ausgangs-
gatzustand, wird in der Folge ein eigenes Kapitel punkt vieler interessanter Flüssigkeiten, unter
gewidmet. Die Kapitelabfolge der Aggregatzu- anderem der wohlriechenden Ester, zu denen
stände entspricht dabei bewusst weder der üb- auch Fette und Speiseöle gehören. Estern und
lichen Elementreihenfolge (Feuer, Wasser, Erde, ätherischen Ölen (die eigentlich gar keine Öle
Luft), noch der bei vielen chemischen und physi- sind) verdanken wir den Wohlgeruch von Blu-
kalischen Abhandlungen bevorzugten Gliederung men und Parfums. Heute wichtiger noch als
nach zunehmender struktureller Komplexität, Speiseöl ist allerdings das Erdöl, welches mit
ausgehend von Gas über Flüssigkeiten hin zu ersterem nicht viel gemein hat. Aber wie ent-
Feststoffen. Wir betrachten stattdessen zunächst steht eigentlich Erdöl und wie stellt man daraus
die Feststoffe, die uns sowohl in der Natur als Benzin, Diesel oder Plastik her?
auch in der zivilisatorischen Umwelt besonders
deutlich entgegentreten und die deshalb in diesem Natürlich bildet die uns um -
Buch überproportional viel Raum einnehmen. gebende Luft (Å Kapitel 7) mit
In jedem Stoffkapitel werden auch „Exoten“ ihren wichtigsten Bestandteilen
angesprochen, also besonders interessante Stoffe den Ausgangspunkt des Kapitels
mit eher unbekannten und seltsam anmutenden über Gase. Dabei geht es auch
Eigenschaften wie Ferrofluide, Aerogele, durch- um den Aufbau der Atmosphäre, um Ozon-
sichtiger Beton oder Superflüssigkeiten. löcher und den Treibhauseffekt. Im Zentrum
des physikalischen Verhaltens der Gase stehen
Die Er de (Å Kapitel 5 ), das natürlich die bekannten Gasgesetze, mit de-
Reich der mineralischen und oft- nen sich das Verhalten dieser vergleichsweise
mals kristallinen Stoffe, macht einfachen Materieform gut verstehen lässt. Es
den Anfang. Wir beschäftigen geht auch um angenehme Gerüche und wie
uns damit, worauf wir eigentlich wir sie von weniger gut riechenden Gasen un-
stehen und mit was wir bauen. Der Schichtauf- terscheiden können. Wir stellen viele wichtige
bau der Erde sowie die Zusammensetzung ver- Gase, mit denen der Mensch zu tun hat, einzeln
breiteter Gesteine, Bodenarten und Minerale vor: Wasserstoff, Stickstoff, Sauerstoff, Methan
ist ebenso Thema, wie die vom Menschen ge- bzw. Erdgas und die Edelgase. Damit kennen
nutzten Baumaterialien. Warum wird Ton beim wir schon die „üblichen Verdächtigen“, denen
Brennen hart? Aus was besteht Asphalt? Es wir im Kapitel über Kosmologie auf den Gas-
geht auch um Metalle, ihre Gewinnung und planeten erneut begegnen werden.
Veredelung. Was unterscheidet Eisen von Stahl?
Was versteht man unter Flotation? Wer ist der Der Aggregatzustand Plasma,
Nickel-Kobold? Wir sprechen über Hartme- symbolisiert durch das antike
talle, Gläser, Halbleiter, Papier, Kunstfasern und Element Feuer (ÅKapitel 8),
Kunststoffe, kurz: über die Werkstoffe, die uns schließt sich zwanglos an das
in der heutigen Zivilisation laufend begegnen. Gas an. Hier zeigt sich ein Vor-
Die Frage, wie man Stahl hart und Gummi ela- teil der gewählten ungewöhnlichen Reihenfolge
stisch macht, gehört dabei ebenso dazu wie die in der Behandlung der Aggregatzustände. Die
Frage, wie Solarzellen funktionieren und aus Betrachtung führt von der direkten Erfahrung
was Gummibärchen gemacht werden. mit Plasmen auf der Erde in Form von Flammen
und Leuchtstoffröhren hin zur Elementarteil-
Flüssigkeiten betrachten wir in chenphysik und zu kosmologischen Fragestel-
ihrer gesamten Breite, von Was- lungen. Wussten Sie, dass das auf der Erde eher
ser (Å Kapitel 6) über Öle, Sei- exotische Plasma der im Universum am weite-
fen, Alkohole, Ionische Flüssig- sten verbreitete Aggregatzustand ist? Plasmen
keiten, Quecksilber, Superflüs- in und zwischen Sternen und ionisierte kosmi-
sigkeiten und Magma. Der Frage, warum sich sche Gasnebel kommen dabei zur Sprache. Auch
Wasser nass anfühlt, Öl aber nicht, gehen wir hier stoßen wir auf direkte Verbindungen von

13
KAPITEL 1 Mensch und Materie

unseren irdischen Erfahrungen mit dieser Ma- Quantengravitation. Wir werden auch erfahren,
terieform. Zum Beispiel auf die in kommenden warum der LHC (Large Hadron Collider) in
Kapiteln thematisierten Zustände direkt nach Genf eine wichtige Rolle dabei spielt und warum
dem Urknall. viele Physiker glauben, dass unsere Welt mehr
als 3 Dimensionen haben muss.
Form und Materie (ÅKapitel 9)
geht der keineswegs trivialen Das folgende Kapitel Kosmologie
Frage nach, wie aus einfachen (ÅKapitel 11) widmet sich dem
Bausteinen kom p lexe, hoch - Aufbau und der Verteilung der
gradig organisierte Strukturen Materie im Großen. Ausgehend
wie Lebewesen entstehen können. Hier spielen von den irdischen Beobachtungs-
Begriffe wie Selbstorganisation, Chaos und En- möglichkeiten und Instrumenten wird unser Wis-
tropie eine zentrale Rolle. Warum widerspricht sen über die Verteilung der Materie und über die
steigende Komplexität nicht dem Streben nach von ihr gebildeten Strukturen im Sonnensystem,
Unordnung? Kann ein Schmetterling tatsächlich in der Galaxis und im sichtbaren Bereich des
einen Tornado auslösen? Und was hat Entropie Universum dargestellt. Die Strukturen der Welt in
mit Information zu tun? Aber auch der Rolle des unterschiedlichen Größenskalen führen uns zu-
Zufalls in einer Welt scheinbar deterministischer rück zur Frage nach dem Ursprung der Welt, den
Naturgesetze werden wir nachgehen. Compu- Kosmogonien, die wir im historischen Kontext in
ternutzer werden zudem erfahren, wie groß die Kapitel 3 bereits betrachteten. Wie hängt all das
Speicherkapazität eines USB-Sticks höchstens zusammen mit dem Aufbau der Materie aus sub-
sein kann und wie dies mit der Entropie schwar-r atomaren Teilchen wie Leptonen und Quarks?
zer Löcher zusammenhängt. Warum glauben Kosmologen, dass sich unser
Kosmos immer schneller ausdehnt? Und was
Im Kapitel Elementarteilchen können wir aus der allgegenwärtigen kosmischen
(Å Ka p itel 10) verlassen wir Hintergrundstrahlung über das junge Universum
erstmalig die Welt der Atome, vor beinahe 14 Milliarden Jahren lernen?
in der Protonen, Neutronen und
Elektronen den Ton angeben. Ein letztes Kapitel über Lebende
Wir begeben uns eine Ebene tiefer, in die Welt Systeme (Å Kapitel 12) ist den
der Elementarteilchen. Wie man im vorherigen strukturellen und entropischen
Jahrhundert feststellen musste, ist diese Welt Besonderheiten solcher Struktu-
ungleich reichhaltiger, als man es für „elemen- ren und der Emergenz der „Le-
tare“ Teilchen eigentlich erwartet hätte. Das so- bendigkeit“ gewidmet – der Entstehung und
genannte Standardmodell ordnet diesen Zoo der Evolution immer stärker spezialisierter (und
Elementarteilchen in drei Familien, von denen scheinbar entropisch unwahrscheinlicherer) Le-
nur die erste die uns bekannte materielle Welt benseinheiten bis hin zum Bewusstsein und zur
aufbaut. Erst die Wechselwirkungen zwischen Auseinandersetzung mit der Welt. Hier werden
solchen Teilchen liefern eine über das chemische wir erneut die Stellung des Menschen in der
Verständnis hinaus gehende physikalische Erklä- materiellen Welt thematisieren und damit den
rung der Eigenschaften der Materie. Beispiels- Bogen schlagen zu den einleitenden Kapiteln. —
weise dient die Theorie der Wechselwirkung mit
dem Higgs-Feld als Erklärung für die Existenz
der Masse. Allerdings verlassen wir spätestens
auf dieser Ebene die „materielle“ Welt der Ma-
terie. Materie und Energie werden eins und im
Mittelpunkt stehen abstrakte Konzepte wie
Quantenfelder und Symmetrie. Hier stoßen wir
an die Grenzen unseres heutigen Verständnisses
über die Grundstruktur der Welt. Prominente
Ansätze, diese Grenzen zu überwinden, werden
wir kennenlernen: Superstringtheorie und Loop-

14
KAPITEL 2

Wahrnehmung
Sehen – Wahrnehmen – Verstehen
Fühlen und Tasten
Riechen und Schmecken
Hören
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
Zum zweiten Kapitel

Wenn wir uns mit der Materie in der Welt befassen wollen,
ist es angebracht, zunächst nach dem Wahrnehmungs- und
Erkenntnisprozess selbst zu fragen, der uns Menschen In-
formationen über eben diese Materie liefert. Die Evolution
hat uns mit Sinnen ausgestattet, die uns erlauben, für unser
Überleben wichtige Eigenschaften der materiellen Welt mehr
oder weniger direkt wahrzunehmen und darauf zu reagieren.
Die Tatsache, dass wir Informationen aus der Umwelt zum
Überleben brauchen, führte letzlich zur Entstehung unseres
Gehirns. Erstaunlicherweise gestattet dies uns sogar ein Be-
wusstsein unserer selbst. Und wir können diese Welt nicht
nur verwundert und staunend betrachten, sondern sie auch
neugierig untersuchen. Diese Neugierde zeichnet Kinder
und Wissenschaftler aus. Sie ermöglicht es uns vor allem,
einen Teil der materiellen Welt wirklich zu verstehen, auch
wenn wir letztlich nicht sagen können, wie groß dieser Teil
eigentlich ist.
Wir beschäftigen uns in diesem Kapitel damit, auf welche
Weise wir Materie mit unseren Sinnen wahrnehmen können
und wie unser Nervensystem mit der Ausbildung eines inne-
ren Modells dazu beiträgt. Wir diskutieren, welche Erweite-
rungen und Relativierungen z. B. ein Begriff wie „Sehen“ in
unserer modernen Welt erfahren hat. Und natürlich müssen
wir uns auch Gedanken darüber machen, warum wir nur die
Sinne besitzen, die wir tatsächlich haben, und keine anderen.
Dieser Ansatz führt weiter zu dem riesigen Gebiet unserer
technisch erweiterten Sinne, mit denen wir das Verständnis
(der Dinge in) der Welt während der letzten Jahrhunderte ein
gehöriges Stück vorantreiben konnten. Wir haben unsere na-
türlich vorhandenen Sinne mit der Technik geschärft und sogar
ganz neue Sinnesmodalitäten erschaffen, die wir vorher nicht
besaßen, ja für die es teilweise in der gesamten Lebenswelt der
Erde kein einziges Beispiel gibt. Künstliche Sinne lassen uns im
Dunkeln sehen, ein Magnetfeld wahrnehmen oder Gamma-
strahlung registrieren. Wir schauen in die Details der Materie
hinein und zu den entferntesten Sternen empor. Damit sind für
uns im wahrsten Wortsinn „unvorstellbare“ Dimensionen im
Allerkleinsten und im Allergrößten „zugänglich“ geworden.
Aber: Können wir das alles noch in gleicher Weise verstehen
und so begreifen wie die Information, für deren Bewältigung
unser Nervensystem ursprünglich entstanden ist?
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Wahrnehmung

Sehen und Co. – Die fünf Sinne


Sehen – Wahrnehmen – Verstehen

Beim Menschen kann man zwischen der pri-


mären Registrierung eines Objekts (hier all-
gemein als „Sehen“ bezeichnet), seiner b e-
wussten Wahrnehmung und dem Verstehen
derselben unterscheiden. Gemeint ist also das
„Sehen mit dem Auge“, das „Sehen mit dem
Gehirn“ und die Bildung eines mentalen Mo-
dells des Objekts.

Welche Sinne kennt man?

Der Mensch hat fünf Sinne, so weiß der


Volksmund und so sind sie in dem gleichna-
migen opulenten Gemälde von HANS MAKART
(1840 – 1884) abgebildet: Tasten, Hören, Sehen,
Riechen und Schmecken oder mit ihren klassi-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

schen Bezeichnungen Gefühl, Gehör, Gesicht,


Geruch und Geschmack.
Das ist natürlich bei weitem nicht vollstän-
dig. Was ist zum Beispiel mit dem Temperatur-
empfinden, mit dem Gleichgewichtssinn, mit
2-1
den Schmerzrezeptoren oder mit den Dehnungs- Haben nur Menschen und Tiere Sinne? Die fünf Sinne. Sehen,
rezeptoren, die uns andauernd über die Lage Hören, Riechen, Schme-
unserer Gelenke informieren? Nein, auch Pflanzen verfügen über Sinne! Zu- cken, T
Tasten: Gemälde
Interessanterweise gibt es im Körper noch mindest haben sie Lichtsinneszellen und einen von HANS MAKART
(1840 - 1884)
unzählige weitere Rezeptoren oder „Sinne“, die Schwerkraftsinn: Sie wissen, in welcher Rich-
bestimmte Schaltstellen unseres Gehirns etwa tung sie die Wurzeln ausbilden müssen. Auch
über die Säurestärke oder die CO2-Konzentra- Tastrezeptoren finden sich, die (etwa bei Mi-
tion in der Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit, mosen) durchaus sehr schnell reagieren können.
über die Sauerstoffkonzentration oder das Glu- Und sogar einfache einzellige Lebewesen wie
coseniveau im Blut oder über den Blutdruck Bakterien verfügen bereits über primitive Sinne.
informieren. Deren Werte werden in internen Praktisch alle reagieren auf chemische Einflüsse
Regelkreisen benötigt. Sie stehen uns aber nicht aus ihrer Umgebung und bewegen sich z. B.
bewusst zur Verfügung, sondern höchstens se- in einem Stoffkonzentrationsgefälle in einer
kundär, etwa über ein Hungergefühl. Vermut- Vorzugsrichtung. Man nennt dieses Verhalten
lich nehmen wir sie nicht bewusst wahr, weil Chemotaxis und kann es als Entsprechung zu
sie nicht direkt etwas über unsere Außenwelt unserem Geschmacks- oder Geruchssinn auf-
aussagen. Für unser Überleben ist aber die In- fassen. Es basiert auf Chemorezeptoren in der
teraktion mit eben dieser Außenwelt der ent- Zellmembran, die eine erstaunlich differenzierte
scheidende Faktor. Signalkaskade im Zellinneren in Gang setzen,

17
KAPITEL 2 Wahrnehmung

2-2 rungsquelle schwimmen zu können oder zu


Bakterienzelle. Das
Schema zeigt typische lernen, einem sich nähernden Fressfeind recht-
Strukturelemente eines zeitig auszuweichen.
Prokaryoten (Bakterien
und Cyanobakterien). Die
Ausstattung der einzelnen Warum haben wir gerade die Sinne, die
Arten mit Schleimhülle wir haben, und keine anderen?
(blassgrau außen), Zell-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

wand (rosa), Pili (gelb),


Geißeln (grau), innerem Aber nicht alle Sinne kann die Natur so direkt
Lamellensystem (blau) erschaffen. Da jede zusätzlich gebildete Sinnes-
und anderen Funktions- struktur einen gewissen Energiebetrag kostet, der
einheiten (Organellen)
variiert stark.
dem Lebewesen an anderer Stelle möglicherweise
fehlt, setzt sie sich nur dann in einer Population
die wiederum den Motor, die rotierenden Gei- durch, wenn die gewonnene Information einen
ßeln (Flagellen) der Bakterien, reguliert. ausreichenden Wert besitzt. So verfügen viele
Auch Reaktionen auf Licht (Phototaxis) Schlangen über einen Infrarotsinn, mit dem sie
werden schon bei vielen Bakterien angetroffen die Körperwärme eines Opfers erspüren können,
und angesichts der doch recht komplexen Ver- Fische haben ein elektrisches Seitenlinienorgan
haltensweisen würde es verwundern, in diesem zur Wahrnehmung elektrischer Felder im Wasser
Lebensreich nicht auch ein Tastempfinden (Me-
Eingangsreize menschlicher Sinne
chanorezeption) zu finden. Man beachte, dass
Elektromagnetische Wellen (Licht) von ca. 400 – 800 nm
diese erstaunlichen Lebewesen, die von uns Wellenlänge
meist nur als Krankheitserreger wahrgenom- Druckwellen (Schall) von ca. 16 – 16 000 Schwingungen
men werden, all diese Wahrnehmungsleistun- pro Sekunde (Hz)
gen innerhalb einer einzigen Zelle vollbringen Mechanisch hochfrequent (Vibration)
(ÅKapitel 12). Mechanisch niederfrequent (Druck)
Wärme (schnelle Molekülschwingungen)
Vielzeller wie wir Menschen benötigen für
Kälte (langsame Molekülschwingungen)
jede Einzelaufgabe spezialisierte Organe, die oft
Geruch (Stoffkonzentration in Gasen, ca. 350 – 400 un-
aus einer astronomischen Anzahl von Zellen terschiedliche Rezeptoren)
bestehen. Geschmack (Stoffkonzentration in Flüssigkeiten; Rezepto-
Schon die direkten Sinne versorgen uns mit ren für süß, salzig, sauer, scharf, umami, Calcium, evtl. Fett
(ungeklärt) sowie einige Dutzend Bitter-Rezeptoren)
einem breiten Spektrum an Informationen über
Eigenschaften der Welt, die für uns und unsere
Wofür wir z. B. keine Sinne besitzen
Vorfahren potenziell wichtig waren. Hier sind
Magnetfeldstärke und -richtung
bei komplexeren Lebewesen offenbar einfache
Elektrische Feldstärke und -richtung
Regelkreise wie die erwähnte Phototaxis nicht
UV-Strahlung*
mehr ausreichend.
Infrarotstrahlung*
Die Evolution kann neue Sinne und neue Radiowellen
neuronale Verarbeitungsmechanismen nur dann Röntgenstrahlung
hervorbringen, wenn sich für das Lebewesen Gammastrahlung
zumindest ein kleiner Selektionsvorteil ergibt. Neutronenstrahlung
Man braucht nicht besonders viel Phantasie,
*starke Infrarot- und Ultraviolettstrahlung können wir
um zu erkennen, welcher enorme Selektions-
zwar über ihre Wirkung (Erwärmung bzw. Sonnenbrand)
vorteil sich daraus ergibt, gezielt zu einer Nah- wahrnehmen, dies ist aber kein spezialisierter Sinn.

2-3
Evolution der Lichtsin-
nesorgane. Von einfachen
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Lichtsensoren bis hin zu


einer punktgenauen Ab-
bildung der Außenwelt
bieten alle Zwischenstufen
dem Träger signifikante
Überlebensvorteile.

18
Erde, Wasser, Luft und Feuer

und Vögel können Magnetfelder buchstäblich hinzufügen oder vorhandene um viele Größen-
„sehen“, denn diese aktivieren dieselben Gehirn- ordnungen empfindlicher machen. Sind also un-
strukturen wie optische Eindrücke. sere technischen Errungenschaften das vorläu-
Ein möglicher Grund dafür, dass wir über fige Endergebnis einer Evolutionslinie? Nein, das
manche denkbaren Sinne nicht verfügen, ist also sollte man nicht anzunehmen, solange niemand
sicherlich, dass die daraus gewonnene Informa- nachweist, dass die Zahl der Nachkommen von
tion bei unserer jeweiligen Lebensweise im Laufe z. B. Gammastrahlungsastronomen aufgrund
der Evolution einfach nicht wichtig genug für ihres Berufs besonders groß ist. Der Zusam-
das Überleben war. menhang ist offensichtlich ein anderer: Bisher
Dies kann auch eine Ursache dafür sein, hat die starke Entwicklung unseres Gehirns das
dass manche Sinne, soweit man heute weiß, Überleben der Menschen enorm gefördert. Wir
überhaupt nirgendwo auf der Erde entstanden sind zur vorherrschenden Spezies unseres Pla-
sind. So kennen wir kein Lebewesen mit ei- neten geworden und leben auf der Erde in einer
nem Sinnesorgan für Radioaktivität. Diese war Dichte, die dutzende Mal höher ist, als man es
(zumindest vor Tschernobyl) im Vergleich zu für Tiere vergleichbarer Größe im besten Falle
anderen Gefahren so wenig schädlich, dass sie erwarten könnte (und als es ratsam wäre). Dieses
das individuelle Überleben kaum beeinflusste so nützliche Gehirn bringt als Nebeneffekt die
und somit der notwendige Selektionsdruck zur Neugierde mit sich. Dieser allgemeine Drang,
Ausbildung eines entsprechenden Sinns fehlte. mehr über die Umwelt wissen zu wollen, kann
Daneben ist natürlich auch keinerlei Garantie sehr wohl ein Überlebensvorteil sein. Das mas-
gegeben, dass stets eine passende Mutation für sive Interesse an allen Vorgängen in der Welt,
die Initialzündung zur Evolution eines eventuell das wir auch bei vielen Jungtieren beobachten,
nützlichen Sinns tatsächlich auftrat. Einiges an bleibt bei vielen Exemplaren unserer Spezies ein
der Ausstattung von Lebewesen scheint nicht Leben lang erhalten und bildet so die Grundlage

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auf Notwendigkeit, sondern auf Zufällen in der für die stetige Verfeinerung und Ausdehnung
Stammesentwicklung zu basieren. Das Auftreten unserer technischen Sinne. Man kann es auch
solcher Mutationen ist übrigens bei einfachen so ausdrücken: Da Wissenschaft eine Folge der
Lebewesen mit hoher Individuenzahl, kurzer Ge- evolutionär begünstigten Komplexität unseres
nerationsdauer und wenig ausgeprägten DNA- Gehirns ist und offensichtlich (bisher) nicht groß
Reparaturmechanismen ungleich wahrscheinli- geschadet hat, lässt uns die Natur diese Spiel-
2-4
cher als bei höheren Tieren. wiese. Vielleicht ist es so etwas wie Präadaption.
Baupläne für hoch-
Andererseits ist es auch wahrscheinlich, So nennen Biologen die Erscheinung, dass eine entwickelte Augen im
dass sich manche Eigenschaften der Welt gar ideale Anpassung unmöglich ist; gute Flieger wie Vergleich. Das Auge des
nicht direkt mit biologischen Systemen aufneh- Albatrosse sind miserable Läufer. Individuen ei- Menschen (Mitte) gehört
zu den höchstentwickelten
men lassen. Kann man sich vielleicht noch die ner Spezies zeigen eine gewisse Streuung in ihren "allround"-T Talenten im
Entstehung eines Röntgen- oder Gammastrah- Eigenschaften und Verhaltensweisen. Bei sich än- Tierreich. Für jeden Ein-
lungssinns vorstellen, so sieht es bei manchen dernden Umwelteinflüssen ist so das Überleben zelaspekt finden sich al-
lerdings leistungsfähigere
extrem schwach wechselwirkenden Teilchen der Spezies wahrscheinlicher, da ja schon einige Spezialisierungen. Oben:
schon anders aus. Hier verbietet nicht nur der Individuen den neuen Verhältnissen zufällig bes- Tintenfischauge (hohe
fehlende Selektionsvorteil die Entstehung eines ser angepasst sind als das Gros. Vielleicht wird Lichtempfindlichkeit); un-
ten: Insektenauge (hohe
solchen Organs, sondern die physikalischen ja doch eines Tages die Zeit kommen, in der zeitliche Auflösung);
Eigenschaften selbst (ÅKapitel 10) machen sie Gammastrahlungsastronomen ihren potenziellen Leistungsfähigere Spezi-
praktisch unmöglich. evolutionären Vorteil ausspielen können. alisierungen gibt es auch
bezüglich räumlicher Auf-
Ganz erstaunlich ist nach dieser Betrachtung, lösung (Raubvögel) oder
dass alle erwähnten unmöglichen Sinne schließ- Materie sehen und wahrnehmen Farbensehen (Krebse).
lich doch entstanden sind. Denn unser Gehirn
hat uns befähigt, die entsprechenden Sensoren Wir sind „Augentiere“. Der Löwenanteil der
sozusagen als „Prothesen“ herzustellen. Nacht- Informationen, die wir über die materielle Welt
sichtgeräte, Richtmikrofone, Radioempfänger, erhalten, entstammt dem Gesichtssinn. Ihm ver-
Röntgenteleskope, Geigerzähler, optische Teles- danken wir in erster Linie das gedankliche Bild
kope – all dies sind künstliche Sinne, die unseren der Außenwelt, auf dem unsere Erkenntnisse
eigenen Sinnen entweder neue Sinnesmodalitäten und unsere Interaktionen beruhen. Das Sehen ist

19
KAPITEL 2 Wahrnehmung

deshalb für die meisten Menschen ein so natürli- 6 Die Sehnerven leiten die Information in die
cher Vorgang, dass sie im täglichen Leben selten primäre Sehrinde (im Hinterkopf).
darüber nachdenken. Oberflächlich betrachtet,
geht es dabei um Licht, das in unsere Augen fällt 7 Die Information wird ins Frontalhirn (Stirn-
und auf der Retina in Nervensignale umgewan- lappen) transportiert und bewusst wahrge-
delt wird. Dies allein schon als Beschreibung des nommen.
Sehens zu bezeichnen, würde allerdings gerade
die wichtigsten Aspekte auslassen. Damit kommen wir der Sache schon etwas näher.
Sehen wir etwa eine völlig saubere Glas- Aber offenbar ist diese Beschreibung der visuellen
scheibe, durch die Licht in unsere Augen fällt? Wahrnehmung noch viel zu eng gefasst. Große
Können Fledermäuse Hindernisse sehen? Kön- Teile des Vorgangs finden völlig unabhängig vom
nen bewusstlose Personen sehen, wenn der Arzt Licht irgendwo zwischen der Netzhaut unserer
ihnen ins Auge leuchtet? Sehen wir Dinge im Augen und den neuronalen Strukturen in unse-
Traum? Sehen wir einen Baum auf einem Bild rem Gehirn statt, in denen sich unser subjektiv
wirklich, obwohl sich dort überhaupt kein Baum empfundenes Bewusstsein abspielt.
befindet, sondern eine Ansammlung von Farb- Zum Sehen gehören Rückkopplungsschlei-
tupfern? Oder sehen wir ein Modell auf einem fen. Es ist viel eher ein Teil des Denkens und des
Computerbildschirm? Ein Teilchen in einem Bewusstseins als ein isolierter Vorgang. Man
Elektronenmikroskop? Sehen wir den Kommis- muss sich frei machen von der rein mechanisti-
sar, wenn wir uns beim abendlichen Fernsehen schen Vorstellung, dass eine vom menschlichen
einen Krimi anschauen? Seltsame Fragen, sicher, Bewusstsein unabhängige materielle Außenwelt
aber durchaus wichtig für unsere Erkenntnisse über unser Auge wie durch die Linse eines Fo-
über die Welt. toapparats auf eine Art Leinwand im Gehirn
Normales, direktes Sehen (des Menschen) projiziert wird. Dieses Modell trägt wenig zum
hat tatsächlich erst einmal mit Licht zu tun. Verständnis der Wahrnehmung bei, es greift aus-
Man kann folgenden Ablauf notieren: schließlich für den dioptrischen Apparat, jenen
Teil des Auges, der nach dem klassischen Prinzip
1 Eine Lichtquelle sendet Licht aus. der Strahlenoptik funktioniert. Im Gehirn gibt es
aber keinen Homunculus, der eine Projektion als
2 Das Licht interagiert mit einem Objekt. unabhängiger Beobachter, als Bewusstsein unab-
hängig vom Gehirn, betrachten könnte.
2-5 3 Verändertes Licht fällt vom Objekt ins Sehr instruktiv ist es auch, sich klar zu ma-
Wahrnehmung. Die Wahr- Auge. chen, wie stark die von der materiellen Au-
nehmung unserer materi-
ellen Umwelt beruht nicht
ßenwelt einströmende Datenflut gefiltert und
auf einer Einbahnstraße 4 Das Auge erzeugt ein Bild des Objekts auf verdichtet wird, bevor sie in unser Bewusstsein
der Abstraktion von den der Netzhaut (Retina). gelangt. Unsere Augen sind in der Lage, von der
Sinnen ins Bewusstsein.
schwer abzuschätzenden Gesamtinformation,
Vielmehr werden alle
Wahrnehmungen auf 5 Die Retina wandelt das Bild in Nervensig- die in unserer unmittelbaren materiellen Um-
mehreren Ebenen von Er- nale um. welt auf unsere Netzhaut (Retina) einströmt,
wartungen und Kontext-
etwa 10 Milliarden Bits pro Sekunde über die
information gefiltert und
verändert. Sehzellen (Zapfen für Farbsehen und Stäbchen
für Schwarzweißsehen) aufzunehmen. Die Re-
tina ist evolutionär aus einer Ausstülpung des
Gehirns entstanden. Bereits in der Retina sorgt
eine komplexe Verschaltung der Signale dafür,
dass nach der Vorverarbeitung nur noch 6 Mil-
lionen Bits pro Sekunde, also weniger als ein
Tausendstel, über den Sehnerv transportiert
werden müssen. Über verschiedene Schaltstati-
onen (Chiasma, Corpus geniculatum laterale)
erfolgt auf dem Weg ins primäre Sehzentrum
(Area 17 am hinteren Gehirnpol) eine weitere
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Erde, Wasser, Luft und Feuer

bedeutende Kompression, so dass dort nur noch „Papst“ der Künstlichen Intelligenz, MARVIN
ca. 10 000 Bits pro Sekunde ankommen. Doch MINSKY, in seinem Buch „Mentropolis“ viel-
bis zur bewussten Wahrnehmung im Frontalhirn fach hingewiesen, nicht als einheitliche Instanz
wird heftig weiter reduziert. Psychologen schät- vorstellen, sondern eher als eine große Menge
zen, dass gerade noch etwa 100 Bits pro Sekunde miteinander interagierender Prozesse. Diese sind
in unser Bewusstsein gelangen. Das entspricht im Gehirn repräsentiert durch ineinandergrei-
einer phantastischen Informationsverdichtung fende neuronale Netzwerke (cell assemblies), die
um den Faktor 100 Millionen. beständig mit der Verarbeitung und Bewertung
2-6
Neuere Untersuchungsmethoden, mit denen der vorliegenden alten und neuen Informationen Welt und Gehirn. Die
die Intensität der Gehirntätigkeit erfasst werden beschäftigt sind. Informationsfülle der Welt
kann, belegen, dass die Erinnerung an bestimmte Es liegen keine Erkenntnisse vor, die es nahe (hier am Beispiel visueller
Informationen) wird durch
Eindrücke im Wesentlichen dieselben Gehirnre- legen würden, dass es irgendwelche grundsätz- unsere Sinne um Faktoren
gionen aktiviert wie die direkte Wahrnehmung. lichen Unterschiede bei der neuronalen Verar- r der Größenordnung 1 zu
Auch wird diese Wahrnehmung keineswegs beitung auf unterschiedlichen Abstraktionsni- 100 Millionen reduziert.
Die verbleibende Informa-
nur von den momentan einlaufenden Informa- veaus gibt. So scheinen einfachere Netzwerke tion dient dem ständigen
tionen bestimmt, sondern mindestens ebenso für die Verschaltung der Ausgangsinformation Abgleich eines internen
stark durch die aktuellen internen Zustände. verschiedener Sehzellen zur Kantenerkennung Weltmodells mit der wahr-
genommenen Umwelt.
Erinnerung, Absichten, psychischer und physi- verantwortlich zu sein, komplexere Versionen
scher Zustand beeinflussen das Gesehene durch sind vielleicht für die Erkennung eines roten
Rückkopplungen von Gehirnzentren höherer Balls, einer Rose oder eines Gesichts zuständig
Abstraktionsebene auf Teile des Sehsystems, und noch komplexere bilden vielleicht die in-
die der physischen Außenwelt in der Verarbei- terne Repräsentation einer Idee oder eines Vor-
tungskaskade näher stehen. Je weiter wir die habens. Komplexität muss in diesem Fall nicht
eingehende visuelle Information in ihrem Kon- notwendigerweise mit der Anzahl der Neuronen
zentrations- und Abstraktionsweg vom Auge korrelieren, die ein solches Netzwerk bilden. Es
bis ins Gehirn und Bewusstsein verfolgen, desto kann sich ebenso gut auf die komplexe Abstrak-
größer wird dieser „subjektive“ Anteil an der tionsebene beziehen, welche die Eingangsinfor-
Wahrnehmung. mation liefert (obwohl die Vermutung einer auch
So kann es passieren, dass wir ein gesuchtes zahlenmäßig komplexeren Struktur nahe liegt).
Objekt (etwa eine Zuckerdose auf dem Tisch) Wie kann das dünne Informationsrinnsal,
scheinbar nicht sehen können, obwohl wir di- das uns aus der Umwelt erreicht, genügen, um
rekt davor stehen – ganz einfach deshalb, weil die von uns empfundene Vielfalt der Welt und
sie vielleicht aus Porzellan besteht und wir eine des Erlebens zu generieren?
Dose aus Edelstahl erwartet hatten. Wie weit Offensichtlich ist unsere subjektive Wahrneh-
diese sogenannte Unaufmerksamkeitsblindheit mung nicht unmittelbar von den aktuell aufge-
gehen kann, wurde auch eindrücklich durch Ex- nommenen Informationen abhängig. Vielmehr
perimente gezeigt, in denen mit einer Beobach- scheint es so zu sein, dass wir über ein detaillier-
r
tungsaufgabe beschäftigte Betrachter eines Base- tes internes Weltbild verfügen, das sich haupt-
ballspieles nicht einmal einen Menschen bemerk- sächlich auf sich selbst bezieht. Fortwährend
ten, der in einem Gorillakostüm quer über das wird sein Zustand auf innere Konsistenz geprüft,
Spielfeld ging. Offenbar gibt es keine bewusste unser Gehirn ordnet und berechnet wahrschein-
Wahrnehmung ohne Aufmerksamkeit. Und je liche Zukunftsszenarien als Vorbereitung auf
unwahrscheinlicher ein Objekt ist, je weiter weg mögliche hereinkommende Informationen. Diese
vom Fokus unserer Aufmerksamkeit, desto eher Innenwelt ist nur schwach an die Außenwelt
wird es überhaupt nicht wahrgenommen. gekoppelt. Die wenige uns erreichende Infor-
Demnach wäre der Begriff „Sehen” durch mation dient dazu, den notwendigen Abgleich
die obige Aufzählung der Schritte von der Licht- durchzuführen, die Synchronisation zwischen
quelle zum Bewusstsein viel zu eng gefasst. We- der Welt und dem Weltmodell sicherzustellen.
sentlich am „Sehen” ist nicht die Unmittelbar- Diese Sichtweise wird auch von neueren Befun-
keit des Vorgangs, ganz im Gegenteil umfasst er den gestützt, auf die MARCUS E. RAICHLE auf Ba-
sogar mehrere relativ unabhängige Vorgänge. sis von PET- und fMRT-Scans hingewiesen hat,
Das Bewusstsein sollte man sich, darauf hat der nämlich dass unser Gehirn selbst ohne bewusste

21
KAPITEL 2 Wahrnehmung

Gedankenprozesse und Wahrnehmungen, also M und S. In dem faszinierenden Experiment


etwa bei Tagträumen, im Schlaf und sogar unter wurde nun Mäusen ein menschliches Gen für
Narkose, immer noch mit ca. 95 Prozent seiner das L-Pigment übertragen. Und tatsächlich: Der- r
Rechenleistung arbeitet und dabei Signalver- gestalt modifizierte Tiere konnten nun in den Ver-
arbeitung über ein Ruhestandardnetz (Default suchen lernen, bestimmte Orangetöne von Blau
Mode Network) betreibt. unterscheiden, was normalen Mäusen niemals
Auch andere Befunde weisen in diese Rich- gelang. Damit ist bewiesen, dass heranwachsende
tung. So treten etwa bei Ausfall bestimmter, Gehirne über genügend Plastizität verfügen, ihre
an der höheren Verarbeitung beteiligter Hirn- neuronale Verschaltung für zusätzlich zur Ver-
areale, sogenannte Agnosien (griech. gnosis, fügung stehende Informationen zu optimieren.
Wahrnehmung, Erkennen) auf. Eine Person Somit sind eher nicht sie der Flaschenhals der
kann zum Beispiel den linken Bereich ihres Erkenntnis, sondern die zur Verfügung stehen-
Gesichtsfelds nicht mehr wahrnehmen, obwohl den Sinnesorgane. Aber gerade da haben sich die
das ganze visuelle System vom Auge bis hin Menschen mittels Technik in vielerlei Hinsicht
zur primären Sehrinde völlig korrekt arbei- Abhilfe geschaffen.
tet. Erstaunlicherweise fehlt diesen Patienten
scheinbar nichts in ihrem bewussten Weltbild. Kleinste T
Teilchen der Materie sehen?
Sie kommen zum Beispiel nur zum Arzt, weil
sie sich häufig (mit ihrer linken Körperseite) Trotz unserer sehr guten Augen, erscheint uns
anstoßen. Materie normalerweise recht homogen. Solange
Was diese Erkenntnisse für unser Verständnis man einheitliche Substanzen, – ein Stück Gold
der Welt und unserer eigenen Identität bedeuten oder das Wasser in einem Glas –, betrachtet,
mag, kann einem eine Gänsehaut verursachen. kann man keine Struktur erkennen, die auf einen
Was ist mit den Aspekten der Welt, für die wir Aufbau aus Atomen schließen ließe.
einfach von Natur aus keine Gehirnstrukturen Das einheitliche Aussehen ist eine Folge der
besitzen? Offenbar könnte unser gnothi seau- begrenzten Auflösung des menschlichen Auges
ton (griech. „Erkenne Dich selbst") sehr ein- und der damit verbundenen verhältnismäßig
geschränkt sein und wir würden es noch nicht großen Lichtwellenlänge. Punkte können bei
einmal bemerken. normaler Betrachtungsentfernung gerade noch
Ein wenig trösten kann uns aber, dass die auseinander gehalten werden, wenn sie ca.
Evolution uns sicherlich wenigstens mit dem 1/20 mm voneinander entfernt liegen. Da man
Sensorium und den Verarbeitungskapazitäten mit Hilfe von Wellen normalerweise nur Dinge
ausgestattet haben wird, die für unser Überle- abbilden kann, die größer sind als etwa die
ben wichtig sind. Und das Gehirn besitzt eine halbe Wellenlänge, waren Chemiker früher stets
erstaunliche Flexibilität, über das Notwendige darauf angewiesen, völlig „blind” zu arbeiten.
hinaus zu gehen. Das zeigt sich zum Beispiel an Bis in die 1960er Jahre hinein galt es als ausge-
einem Experiment, das GERALD H. JACOBS von macht, dass man einzelne Atome, die Bausteine
der University of California in Santa Barbara der Welt, die ein Chemiker manipuliert, nie
durchgeführt hat. würde sehen können, denn sie sind mit Radien
Hierzu muss man wissen, dass Menschen wie von etwa 0,04 – 0,3 nm (1 nm = 10-9 m) mehr als
andere Primaten Trichromaten sind. Wir können tausendfach kleiner als Lichtwellen (grünes Licht
also drei Grundfarben unterscheiden, denn wir hat etwa eine Wellenlänge um 500 nm). Der etwa
besitzen drei Arten von Zapfen mit verschiedenen 0,3 mm große Punkt am Ende dieses Satzes hat
Sehpigmenten. Sie heißen nach den Lichtwellen- demnach einen Durchmesser von etwa 1 Million
längen, für die sie hauptsächlich empfänglich Atomen.
sind, L (lang), M (middle) und S (short) und
entsprechen den Wahrnehmungen von Rot, Grün Sehen ohne Licht
und Blau. Die Welt gewöhnlicher Mäuse ist viel
weniger bunt. Wie auch alle anderen Säugetiere Wir sind es gewohnt, „fern-zu-sehen” und be-
außer den Primaten sind sie Dichromaten. Sie zeichnen auch diese indirekte Ansicht der Dinge
können also nur zwei Grundfarben unterschei- ohne weiteres als Sehen. Hierbei erreicht kein
den, denn sie besitzen nur Gene für die Pigmente einziges Photon mehr den Betrachter, das tat-

22
Erde, Wasser, Luft und Feuer

sächlich einmal eine Wechselwirkung zum ge- terschied zwischen Körperoberfläche und dem
sehenen materiellen Objekt erlebt hat. Sehen ist angefassten Gegenstand. Beispielsweise kommt

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


damit reduziert auf die reine Information, die uns Holz, Kork oder ein Tuch bei 70 °C in der
vom Betrachter wahrgenommen wird. Sauna keineswegs unerträglich heiß vor. Fassen
Im Jahr 1951 konstruierte ERWIN W W. MÜL- wir aber ein Metallstück gleicher Temperatur
LER an der Technischen Universität in Berlin das an, so verbrennen wir uns daran die Finger.
erste Feldionenmikroskop, mit dem Auflösungen Was unsere Temperatursinneszellen (und im
2-7
bis zu 0,25 nm erreicht wurden. MÜLLER war da- Falle von Schmerz die dafür zuständigen freien
Lichtwellen und Atome.
mit der erste Mensch, der Atome in diesem Sinne Nervenenden) tatsächlich detektieren, ist näm- Sichtbares Licht besitzt
„sehen“ konnte. Dennoch blieb die Darstell- lich nicht die Temperatur des berührten Stoffs Wellenlängen, die etwa
fünftausendfach größer
barkeit in atomarer Dimension eine Ausnahme. selbst. Sie teilen uns vielmehr mit, wie stark und
sind als Atome. Atome
Sie wurde kaum von einer breiteren Öffentlich- in welche Richtung (heiß oder kalt) die Tempe- lassen sich deshalb mit
keit rezipiert, bis es HEINRICH ROHRER und ratur der Haut vom Optimum abweicht. Dies gewöhnlichem Licht nicht
GERD BINNIG 1981 am IBM-Forschungslabor in hängt natürlich vom Temperaturunterschied direkt darstellen.

Rüschlikon gelang, das erste Rastertunnelmikro- zwischen Haut und dem Gegenstand ab, aber
skop zu entwickeln. Mit der Weiterentwicklung auch davon, wie schnell Wärmeenergie vom
zum technisch viel einfacheren Atomkraftmi- Körper ab oder ihm zufließt, das heißt von
kroskop (AFM: atomic force microscope) 1985, dessen Wärmeleitfähigkeit. Bei Gegenständen

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


für die BINNIG und ROHRER 1986 den Physikno- geringer Masse wie Folien, die nicht an ein
belpreis erhielten, wurden atomare Auflösungen Temperaturreservoir angekoppelt sind, kommt
in der Forschung breiter verfügbar. hierzu noch ein gewisser Einfluss der Wärme-
Die heutige Fähigkeit, im Prinzip atomare kapazität: Eine heiße oberflächlich metallisierte
bis subatomare Auflösungen zu erreichen und Hohlkugel aus Plastik verbrennt uns nicht so 2-8
sogar einzelne Orbitale von Atomen abzubilden, leicht die Finger wie eine massive Metallkugel Atomare Auflösung
mit dem Atomkraftmi-
bedeutet jedoch nicht, dass dies in der Praxis für gleicher Temperatur. Bei Flüssigkeiten spielen kroskop. Beispiel eines
die jeweils interessierenden Systeme immer ge- noch andere physikalische Eigenschaften wie 5,8 nm x 5,8 nm großen
lingt. In dieser Hinsicht werden die allermeisten die Verdampfungswärme eine Rolle (alle diese Bereichs der Oberfläche
eines Siliciumkristalls mit
Chemiker also auch weiterhin mit unsichtbaren Eigenschaften werden in Kapitel 4 behandelt). einer T
Topographie von bis
„Bausteinen“ mauern. Für die Sinnesmodalitäten „heiß“ oder „kalt“ zu 0,3 nm. (Bild freundli-
verfügen wir sogar über verschiedene Thermo- cherweise zur Verfügung
gestellt von F. J. Gießibl)
rezeptoren. Kältesensoren mit einem Messbe-
Fühlen und Tasten reich von 5 – 43 °C reagieren recht schnell und
liegen oberflächennah in der Haut. Sie sind
Meist sind uns diese Sinne weniger bewußt als der etwa zehn Mal häufiger zu finden als Wär-
Gesichtssinn. Wie wichtig sie sind, stellt sich erst mesensoren. Letztere liegen in tieferen Haut-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

heraus, wenn sie etwa durch Nervenstörungen wie schichten. Sie haben einen Messbereich von
bei Lepraerkrankungen gestört sind. Andauernde 30 – 48 °C und reagieren deutlich langsamer als
Verletzungen sind die unweigerliche Folge. Blinde die Kälterezeptoren.
Menschen machen sich sogar ein inneres „Bild“
von Gegenständen allein durch den Tastsinn, ganz Direkter Kontakt – Mechanorezeptoren 2-9
ähnlich wie moderne Atomkraftmikroskope, wenn- UEM. Ultraschnelle Elek-
gleich auf viel größeren Skalen. Berühren wir ein Objekt, so können wir gröbere tronenmikroskopie (UEM)
Einige Eigenschaften fester oder flüssiger Oberflächenrauhigkeiten sofort wahrnehmen, kombiniert atomare Auf-
lösungen mit Bildfolgen
Materie können wir bei Berührung mit der Haut denn Mechanorezeptoren in unserer Haut wer-
im Femtosekundenbereich
direkt wahrnehmen. den lokal unterschiedlich ansprechen. Hierzu (10-15). Extrem kurze
dienen die in der Lederhaut (Dermis) lokalisier- UV-Pulse erzeugen Einzel-
elektronen, während ein
Heiß oder kalt? – Thermorezeptoren ten Ruffini-Körperchen, die als langsam adap-
synchronisierter IR-Puls die
tierende Dehnungsrezeptoren wirken, sowie die Probe anregt. Damit kön-
Fassen wir einen Stoff an, so ist es zunächst in der tieferen Oberhaut (Epidermis) liegenden nen z. B. Bewegungsab-
die Temperaturempfindung, die uns bewusst Merkel-Zellen. Letztere reagieren bevorzugt auf läufe bei der Faltung von
Biomolekülen oder Umla-
wird. Und zwar nicht die absolute Temperatur, Druckreize durch Eindrücken der Haut in einem gerungen in Kristallgittern
ja nicht einmal unbedingt der Temperaturun- Frequenzbereich 0,3 – 3 Sekunden. dargestellt werden.

23
KAPITEL 2 Wahrnehmung

Spätestens, wenn wir unseren Finger wieder werden von ihnen nicht mehr gemeldet. Hier hel-
zurückziehen, erhalten wir weitere Informati- fen uns übrigens die Rillen auf den Fingerkuppen
onen: Er ist klebrig oder nicht. Klebrigkeit ist sehr. Damit lässt sich sogar eine zufällige Rauig-
eine Qualität, die sich auf Grund der Reaktivität keit von einer zyklisch wechselnden regelmäßi-
von Oberflächen ergibt. Sie wird in der Regel gen Struktur unterscheiden. Selbst Rauigkeiten
durch kurzfristig entstehende schwache chemi- im Bereich einiger tausendstel Millimeter werden
sche Bindungen vermittelt, sogenannte Wasser- dabei erfasst.
stoffbrückenbindungen (ÅMaterialeigenschaft: Doch damit nicht genug. Es gibt in der Un-
klebrig, Seite 219). Nach dem Abheben des terhaut (Subcutis) auch Rezeptoren, die nur auf
Fingers verrät uns eine ggf. einsetzende Tempe- Änderungen der Geschwindigkeit eines Reizes
raturabnahme, dass wir es mit einer leicht ver- reagieren, also auf Beschleunigungen. Diese als
dunstenden Flüssigkeit zu tun haben. Reflexar- Vater-Paccini-Körperchen bekannten Sensoren
tig reiben wir nun die Fingerkuppen aneinander. erkennen besonders leicht Vibrationen. Auch
Damit bestätigen wir eine eventuelle Benetzung solche entstehen natürlich beim Gleiten von Fin-
und können bei leichtem Gleiten Seife oder Öl, gerrillen über unebene Oberflächen. Diese In-
bei mehr Reibung Wasser vermuten. formationen zur taktilen Wahrnehmung werden
Um einen Gegenstand aber noch näher zu über zwei unterschiedliche Systeme (das lemnis-
erfassen, pflegen wir unsere Finger prüfend in kale und das extralemniskale System) über ver-
mehreren Richtungen über ihn hinweg gleiten schiedene Relaisstationen (z. B. Hirnstamm und
zu lassen. Damit offenbart sich gleich eine große Thalamus) an den somatosensorischen Cortex
Menge zusätzlicher Informationen. Ist die Gleit- (der körperfühlenden Großhirnrinde) weiter-
reibung nur wenig oder viel geringer als die geleitet. Wie man sieht, verfügen wir also über
Haftreibung? Ist der Widerstand gegenüber der ein äußerst leistungsfähiges Instrumentarium,
Bewegung konstant, der Körper mithin glatt, um mechanische und manchmal sogar indirekt
2-10 oder wechselt er wie bei Oberflächenrauhigkeit? auch chemische Informationen über berührte
Molekulare Erkennung.
Molekulare Erkennung
Dazu besitzen wir in unserer Haut nicht nur die Stoffe zu erschließen.
ist der wohl wichtigste, erwähnten langsamen Druckrezeptoren, sondern
allen Lebensprozessen zu- insbesondere in den Fingerkuppen sogenannte
grunde liegende Vorgang.
Chemiker versuchen, die
Meissner-Körperchen, die als Geschwindigkeits- Riechen und Schmecken
hochspezifische Erken- rezeptoren bezeichnet werden und vielleicht die
nung von Molekülform wichtigste Komponente unseres Tastsinns dar- Obwohl das chemische Analyselabor in unserer
und Verteilung der Ober- stellen. Sie reagieren nur auf Druckreize, die Nase und Zunge bekanntermaßen nicht die Fä-
flächenladungen in soge-
nannten Molecularly Im- sich mit Frequenzen von 2 – 20 Hz ändern wie higkeiten einer Hundenase erreicht, verfügt es
printed Polymers (MIPs) sie typischerweise beim Gleiten von Haut über doch über etwa 350 – 400 unterschiedliche Re-
nachzuahmen. Feststoffe auftreten. Langsamere Veränderungen zeptoren zur Unterscheidung von Gerüchen und
dutzende unterschiedlicher Geschmacksrezepto-
ren. Wie funktionieren diese beiden chemischen
Nahsinne, die sich bei Säugetieren gegenseitig
beeinflussen und teilweise in sich überschneiden-
den Hirnregionen ausgewertet werden?

Düfte und andere Gerüche

Zunächst zum Geruchssinn: Er analysiert leicht-


flüchtige Moleküle in unserer Atemluft. Dazu
müssen diese riechbaren Stoffe direkt mit den
zuständigen Zellen des Riechepithels (Riech-
schleimhaut) unserer Nase in Kontakt kommen.
Dies geschieht, indem ein Teil der Luft beim
Einatmen an ihnen vorbei geführt wird. Infolge
zufälliger Zusammenstöße treffen einige der
riechbaren Moleküle auf die unterschiedlichen
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

24
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Typen von Geruchsrezeptoren in den Zellmem- können übrigens auch völlig unbekannte Stoffe
branen des Riechepithels. Abhängig von ihrer riechen, denn die Wahrscheinlichkeit ist groß,
äußeren Form und der chemischen Struktur, die dass sie zumindest in gewissem Maße mit ei-
sich in unterschiedlichen elektrischen Ladungs- nigen der zahlreichen Rezeptoren interagieren.
verteilungen an der Moleküloberfläche äußert, Über assoziatives Lernen gelingt es den entspre-
passen diese Schlüssel unterschiedlich gut zu chenden Teilen der sensorischen Gehirnrinde
den Schlössern der Rezeptorproteine (Å Abbil- sogar, viele Substanzen zu klassifizieren. Einige
dung 2-11). Die Schlösser sind komplex gefal- der wahrgenommenen Gruppierungen besitzen
tete Proteinmoleküle, die ihre Faltung bei der übrigens auch klare Entsprechungen im Mole-
Interaktion mit einem passenden Stoff ändern külbau. So haben viele Alkohole eine ähnliche

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und dadurch eine Reizkaskade auslösen, die Geruchsnote, während Schwefelverbindungen
schließlich ins Gehirn weitergeschaltet wird. fast immer fürchterlich stinken.
Dass beim Menschen einige hundert für unter- Wäre noch anzumerken: Das Prinzip des
schiedliche Moleküle klebrige Rezeptoren zur Geruchssinns, mit einer begrenzten Anzahl un-
Verfügung stehen, heißt aber nicht, dass wir nur terschiedlicher Rezeptoren viele Geruchsmo-
ebenso viele unterschiedliche Gerüche wahr- leküle zu erkennen, ist inzwischen auch auf
nehmen können. Denn da Moleküle über ganz künstlichen „Riechchips“ realisiert worden. Sie 2-11
verschiedene Formen verfügen und dasselbe Mo- erreichen bereits erstaunliche Empfindlichkeiten Form und Geruch. Ge-
ruchsrezeptoren erwei-
lekül gleichzeitig mehrere reaktive Molekülteile und können es inzwischen mit einer Hundenase sen sich als molekulare
besitzen kann, schafft es die Gesamtheit der aufnehmen. Sie sind so genau, dass gegenwär- Bindungsstellen ganz
Rezeptoren sozusagen, die Geruchsmoleküle tig versucht wird, die typischen Änderungen bestimmter Gestalt, in die
nur Moleküle mit gewis-
rundherum abzutasten. Neben der Erkennung im Körpergeruch eines Menschen auszuwer-
ser Form hineinpassen.
ganz spezifischer Substanzen sprechen unsere ten, die mit so unterschiedlichen Krankheiten Daneben spielen noch
chemischen Nahsinne auch auf jeweils „ähn- wie Diabetes oder Lungenkrebs assoziiert sind Oberflächenladungen
liche“ Substanzen an. Diese müssen nicht in (ÅAbbildung 2-10). und Beweglichkeit der
Geruchsmoleküle eine
jedem Fall eine wirkliche chemische Ähnlichkeit Rolle für die Festigkeit der
haben, sondern es genügt, wenn sie zur Umkon- Eine Frage des Geschmacks Bindung.
figuration derselben Rezeptorproteine führen.
Beispielsweise haben Zucker (Saccharose) und Das Schlüssel-Schloss-Prinzip gilt ähnlich für
Saccharin chemisch kaum Gemeinsamkeiten, den Geschmackssinn, der sich in erster Linie
werden aber trotzdem beide als süß empfunden. dadurch vom Geruchssinn unterscheidet, dass
Manche Substanzen kann man nicht riechen. die detektierten chemischen Eigenschaften in
Praktischerweise gehören dazu alle üblichen Be- Flüssigkeit gelöste Moleküle betreffen. Unter-
standteile der Luft wie Stickstoff und Sauerstoff. scheidbar sind zunächst die klassischen Ge- Lösungen schmecken
Es war offensichtlich in der Evolution wichtig, schmacksmodalitäten sauer, salzig, süß und bit- dann sauer, wenn darin
ter. Die ersten beiden Modalitäten detektieren besonders viele an Was-
die Abweichung von einem neutralen Grundzu-
sermoleküle gebundene
stand detektieren zu können. Ein permanenter das Vorhandensein eines Protonenüberschus- Protonen vorkommen
Geruch nach Luft wäre genau so wenig hilfreich, ses bzw. einer erhöhten Ionenkonzentration in (H3O+-Ionen).
wie ein intensiver Geschmack von Wasser oder wässrigen Lösungen.
eine andauernde intensive Farbempfindung bei Süße, typisch für die Stoffklasse der Zucker,
normalem Tageslicht. Auch Edelgase und das aus wird von eigenen Rezeptoren registriert und weist
dem Erdgas bekannte Methan kann man nicht uns auf energiereiche Nahrung hin. Viele Tiere be-
riechen. Bei ihnen fällt auf, dass es in erster Linie sitzen ähnliche Süßrezeptoren. Interessanterweise
kleine, oft nahezu kugelförmige Moleküle sind, büßte der Süßrezeptor der Katzentiere irgend-
die chemisch nicht sehr reaktiv sind. wann in der Evolution seine Funktionsfähigkeit
Die unterschiedlichen Stärken der Bindung ein. Sie machen sich deshalb nichts aus süßen
an die Rezeptoren erzeugen im Riechepithel für Verlockungen.
jeden überhaupt detektierten Stoff ein typisches Der Geschmack bitter ist eine Reaktion auf
Aktivitätsmuster, quasi einen Fingerabdruck. So mehrere unterschiedliche Rezeptorsignale. Die
erkennen wir feine Nuancen von angenehmen erzeugten neuronalen Impulse werden aber bei
Blumendüften oder unangenehmen Substanzen, Säugetieren nur als Summensignal an das Gehirn
vor denen uns unser Geruchssinn warnt. Wir weitergeleitet. Dieser Geschmack soll uns vor

25
KAPITEL 2 Wahrnehmung

giftigen und ungenießbaren Stoffen warnen, denn Was können wir prinzipiell verstehen?
sehr viele Gifte schmecken bitter. Da diese Sub-
stanzen aber teilweise chemisch sehr unterschied- Wir haben in diesem Kapitel unsere Wahrneh-
lich aufgebaut sind, ist es nicht verwunderlich, mung der materiellen Welt untersucht. Zusam-
dass mehrere Rezeptortypen zu ihrer Erkennung menfassend kann man sagen, dass die Antwort
notwendig sind. auf die im Einleitungstext aufgeworfene Frage, ob
Eine eigene Kategorie darüber hinaus bil- wir das alles wirklich verstehen können, bis zu ei-
det „umami“ (japanisch, Fleisch), der typische nem gewissen Maße „ja“ lautet. Unsere Fähigkeit,
würzig-herzhafte Geschmack von Glutamat. in Modellen zu denken, ist ausgesprochen ausge-
Als Abbauprodukt von Proteinen ist er u. a. in prägt und vermutlich angeboren. Trotzdem lassen
Fleischspeisen ausgeprägt. Das Vorhandensein sich Grenzen erahnen. Beispielsweise mutet uns
weiterer grundsätzlicher Geschmacksrichtungen die grundlegendste aller heutigen physikalischen
wie Calcium„geschmack“ und eventuell Fettge- Theorien, die Quantentheorie, enorm viel zu. So
schmack ist nicht gesichert. viel, dass sich auf Basis des quantenmechanischen
Atommodells wohl niemand ein Atom tatsächlich
vorstellen kann, ohne automatisch daneben an
Hören trivialere Modelle wie kleine Kugeln zu denken.
Kurze Wellenlängen ent- So ist zu erklären, dass sich Physik- und Che-
sprechen hohen Tönen,
lange tiefen Tönen. Zunächst mag es verwundern, das Gehör mit mielehrer sehr schwer tun, ihren Schülern z. B.
unterschiedlicher Materie in Verbindung zu das intuitiv eingängige aber im Grunde viel zu
Der (junge) Mensch kann bringen. Bei näherer Überlegung kann uns aber wenig erklärende Bohrsche Atommodell wieder
Frequenzen etwa zwi-
schen 16 und 16 000 Hz auch das Gehör einiges über die Stoffe verraten. auszutreiben und durch das wellenmechanische
(Schwingungen pro Se- Wenn Sie wissen wollten, woraus ein unbekann- Modell der Quantentheorie zu ersetzen.
kunde) wahrnehmen. ter Gegenstand besteht, haben Sie sicherlich Ähnlich ergeht es uns in kosmischen Dimen-
schon instinktiv mit etwas Hartem dagegen sionen. In beiden Fällen geht unsere mathema-
geklopft. Der Klang, den man hört, ist natür- tische Fähigkeit zur Modellbildung weit über
lich zum Teil von der äußeren Form abhängig. das intuitiv Vorstellbare hinaus. In seinem 1967
Trotzdem: Klopfen auf massives Holz klingt erschienenen Buch Vom Wesen physikalischer
definitiv anders als auf Glas. Metalle, Kunst- Gesetze schrieb der geniale Physiker und Mit-
stoffe, Stein – alles können wir am Klang meist entwickler der Quantenelektrodynamik RICHARD
eindeutig erkennen. Wird ein Körper angesto- FEYNMAN (1918 – 1988):
ßen, so schwingen seine Bausteine in komplexer
Weise und er gibt ein ganzes Spektrum von „Es gab eine Zeit, als Zeitungen sagten, nur
Schallwellen ab. Die Mischung unterschiedli- zwölf Menschen verstünden die Relativitäts-
theorie. Ich glaube nicht, dass es jemals eine
cher Tonhöhen erweist sich als typisch für das solche Zeit gab. Auf der anderen Seite denke
Material. Wir lernen aus Erfahrung, für diese ich, es ist sicher zu sagen, niemand versteht
Materialien ähnliche neuronale Filter zu bilden, Quantenmechanik.“
wie sie für die Erkennung von Gerüchen exis-
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tieren. Ähnlich wie man ein Musikinstrument So muss man sich natürlich die Frage stellen, ob
in der Regel auch in Räumen mit verschiedener es Bereiche gibt, bei denen nicht unsere Sinne die
Form und Akustik wiedererkennt, kann man Limitierungen zum Weltverständnis darstellen,
auch das Grundmaterial unterschiedlich ge- sondern die Fähigkeit unseres neuronalen Systems,
formter Körper meist heraushören. des Gehirns, ein Modell der Realität zu erfassen.
Wir wollen es an dieser Stelle nicht weiter ver- Möglicherweise müssen wir hier auf die weiter
2-12
Cochlea. Durch den klei- tiefen, aber es sei angemerkt, dass Materialien aus fortschreitende Evolution hoffen, oder darauf,
ner werdenden Radius der härteren Substanzen im allgemeinen höhere Töne dass wir Maschinen mit Möglichkeiten erschaffen
Gehörschnecke (Cochlea) können, die über unser menschliches Verständ-
produzieren, während weichere Stoffe wie Holz
des Innenohrs erfolgt die
Aufspaltung der Töne in oder Gummi vorwiegend tiefe Töne erzeugen. In nis hinausgehen. Dies ist vielleicht gar nicht so
ein Frequenzspektrum. Kapitel 4 werden wir sehen, dass die Härte eines unmöglich, denn schließlich kann auch ein nur
Gehörzellen registrieren Stoffes eng mit der Festigkeit von Bindungen durchschnittlich Schach spielender Programmierer
die Schallschwingungen
durch mechanische Rei- zwischen den atomaren Bestandteilen der Materie ohne weiteres ein Schachprogramm erstellen, das
zung feiner Fortsätze. zusammen hängt (Å Härte, Seite 201). ihn selbst schlägt. —

26
KAPITEL 3

Historischer Überblick
Vom Mythos zum Logos – Die Antike
Spätantike und Mittelalter
Wuxing – Elemente im chinesischen Denken
Der Advent der modernen Naturwissenschaft
Materie als Masse
Von der Alchemie zur Chemie
Die Entwicklung der modernen Chemie
Feld und Materie
Der Äther
Wärme und Materie
Die Struktur des Atoms
Umbruch: Die Quantentheorie
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Zum dritten Kapitel

Materie ist kein Begriff der unmittelbaren Anschauung wie eine Fülle praktisch verwertbarer Fakten über die Welt, eine
Fuß oder Tisch. Es ist ein abstrakter Begriff, der ein Konzept Tatsache, die dazu beitrug, dass Europa lange Zeit die Welt-
benennt, das wir Menschen über die Natur entwickelt haben. geschichte dominierte.
Es ist ein Konzept über den Aufbau der Welt. Seit der Entdeckung der Atome und der Entwicklung der
Konzepte fallen nicht vom Himmel. Sie entwickeln sich Quantentheorien verliert der Begriff Materie wieder seine
mit der Kultur, in der sie entstanden sind. Und oft wandeln Bodenständigkeit. Quanten- und Stringtheorien bringen uns
sich Konzepte grundlegend, obwohl ihre Begriffe beibehal- vielleicht der Antwort auf die Frage näher, was die Welt im
ten werden. Der Begriff Materie ist von dieser Art. Was wir Innersten zusammenhält, sie führen aber gleichzeitig dazu,
heute unter Materie verstehen, ist kaum vergleichbar mit dass uns die Bedeutung solcher Begriffe wie Materie entglei-
dem Verständnis früherer Generationen. Was geblieben ist, tet. Was man in modernen Theorien damit assoziieren kann,
ist der Kern: Materie weist auf etwas Ursprüngliches, Zu- erinnert wieder an die Begriffe aus der Antike, an das Apeiron
grundeliegendes hin. ANAXIMANDERs oder das Dao der chinesischen Philosophie.
Die Wurzel des Wortes Materie ist die Mutter, der Ur- Der Weg zur Transzendenz des Materiebegriffs ist Thema des
sprung menschlichen Lebens. Entsprechend muss auch die letzten Abschnitts dieses Kapitels.
Geschichte der Materie mit den Vorstellungen der Menschen
über den Ursprung des Kosmos beginnen, mit den Schöp-
fungsgeschichten oder Kosmogonien.
Der Übergang von mythisch geprägten Schöpfungsge-
schichten zu einem rationalen Weltbild markiert den Weg
vom Mythos zum Logos; einen Weg, den im frühen ersten
Jahrtausend vor Christus die Hochkulturen in Asien ebenso
gingen wie die Kulturen im Mittelmeerraum. Nicht der Wille
der Götter prägt die Struktur der Welt, sondern rational
erfassbare Prinzipien.
Ein rationales Weltbild ist noch keine naturwissenschaft-
liche Theorie. Was fehlt, ist die methodische Verbindung zur
Beobachtung: Sind Aussagen überprüfbar, wenn möglich
messbar? Anfänge naturwissenschaftlicher Forschung gab
es in allen Hochkulturen, aber nur im christlichen Europa
entwickelte sie sich seit GALILEI zur dominierenden Methode
der Naturerklärung. Wir zeigen diesen Weg anhand der Ent-
wicklung des Materiebegriffs in der abendländischen Chemie
und Physik auf.
Mit der Verbreitung des naturwissenschaftlichen Weltbil-
des wandelte sich der Begriff der Materie. Er wurde in mehr-
facher Hinsicht reduziert: In der Physik war Materie lange
Zeit lediglich der Träger von Volumen und Masse, in der
Chemie stand die Umwandlung von Stoffen im Vordergrund.
Durch die von RENE DESCARTES (1596 – 1605) formulierte
Trennung von Geist (lat. res cogitans) und Materie (lat. res
extensa) wurde Materie gewissermaßen bodenständig. Wie
der Umfang dieses Buches zeigt, war diese Bodenständigkeit
außerordentlich fruchtbar für die Entwicklung von Wissen-
schaft und Technik. Das materialistische Weltbild lieferte
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Historischer Überblick

Vom Mythos zum Logos –


die Antike
THEOGONIE
Vom Ursprung der Welt –
die Schöpfungsmythen
Zuerst war das Chaos (gähnende Leere des Raumes),
Der Begriff Materie weist auf etwas Ursprüng- danach die breitbrüstige Gaia,
liches, Fundamentales hin, wie schon die Ver- niemals wankender Sitz aller Unsterblichen,
die den Gipfel des beschneiten Olymp und den finsteren Tartaros
bindung zur „Mutter“ nahe legt. Während
bewohnen in der Tiefe der breitstraßigen Erde;
man heute Materie eher mit „Bausteinen der
weiter entstand Eros (Liebesbegehren),
Welt“ assoziiert, waren die Vorstellungen über
der schönste der unsterblichen Götter, der gliederlösende,
Ursprung und Bestandteile der Welt zuerst der allen Göttern und Menschen den Sinn in der Brust überwäl-
magisch-mythischer Natur. Es wurde nicht un- tigt und ihr besonnenes Denken.
terschieden zwischen Göttern und der Welt, Aus dem Chaos gingen Erebos (finsterer Grund)
zwischen göttlichen und weltlichen Elementen, und die dunkle Nacht hervor,
zwischen Materie, Kraft und Geist. Den langen und der Nacht wieder entstammten Aither (Himmelshelle) und
Weg vom Mythos hin zu unserem naturwissen- Hemere (Tag),
schaftlich geprägten Weltbild beginnt man wohl die sie gebar, befruchtet von Erebos’ Liebe.
am besten mit den Vorstellungen der Menschen Gaia brachte zuerst, ihr gleich, den sternreichen Uranos hervor,
über den Anfang der Welt: den Schöpfungsmy- damit er sie ganz bedecke und den seligen Göttern ein niemals
then oder Kosmogonien (von griechisch kosmo- wankender Sitz sei.
gonia, die Weltzeugung). Weiter gebar sie hohe Berge,
liebliche Göttersitze für Nymphen,
die zerklüftete Höhen bewohnen.
Auch das unwirtliche Meer,
Schöpfung als Stammbaum –
das anschwillt und stürmt, erzeugte sie,
die Theogonie des Hesiod
doch ohne verlangende Liebe.

Der griechische Dichter HESIOD (um 700 v. Chr.)


beschreibt in der Theogonie den Beginn der HESIOD
Welt als einen Stammbaum der Götter.
Die Erde selbst erscheint bei HESIOD als
Göttin, der Himmel entsteht aus ihr und Eros
sorgt dafür, dass durch einen Liebesakt zwi- Schöpfung aus dem Eis –
schen Nacht und Finsternis der Tag entsteht. die nordischen Schöpfungsmythen
Die Elemente der Welt sind Gottheiten und
die Schöpfung ist Liebesakt und Geburt – oder Auch in der nordischen Mythologie entsteht die
Intrige und Gewalt: Auf Betreiben von Gaia Welt im Nichts, das zwischen Muspellheim, dem
schneidet Kronos, einer der Söhne von Gaia Ort ewigen Feuers, und Niflheim, dem Ort ewi-
und Uranos, seinem Vater das Geschlecht ab ger Kälte und eisiger Nebel, liegt. Dieses Nichts
und wirft es ins Meer. Gaia fängt die fallen- heißt Ginnungagap. Im Zentrum Niflheims liegt
den Blutstropfen auf und gebiert daraus die die Quelle Hvergelmir, aus der zwölf Flüsse ent-
Erinnyen und Nymphen. Aus dem Schaum, springen. Ihr Wasser gefriert zu Eis, das im Lauf
den das Geschlecht im Meer erzeugt, entsteht der Zeit bis ins Ginnungagap hineinreicht. Die
Aphrodite, die schaumgeborene Göttin. heiße Luft aus Muspellheim schmilzt dieses Eis

29
KAPITEL 3 Historischer Überblick

EDDA, Völuspa, 3 ozean und steht für das weibliche Chaosprinzip,


Apsu steht für den Süßwasserozean, das männ-
liche Chaosprinzip.
Urzeit war es, da Ymir hauste: nicht war Sand noch See noch
Salzwogen, nicht Erde unten, noch oben Himmel,
Gähnung grundlos, doch Gras nirgend. Tod und Wiedergeburt, Ei und Schöpfung
T

In vielen Schöpfungsmythen ist der Tod Vor-


aussetzung für neues Leben, ja sogar für die
ENUMA ELIS
Schöpfung schlechthin. Dabei ist er meist ge-
waltsam und die Mörder gehen keineswegs
Als droben der Himmel nicht genannt war, zimperlich vor: Der Leichnam wird zerstückelt
Drunten die Feste einen Namen nicht trug, und ausgeschlachtet. Der ägyptische Mythos
Apsu, der Unanfängliche, ihr Erzeuger, von Isis und Osiris ist ein weiteres Beispiel
Mummu und Tiâmat, die Gebärerin von ihnen allen, dieses Ablaufs. Osiris, Bruder und Geliebter
Ihre Wasser in Eins vermischten, von Isis wird von seinem Bruder Seth ermordet
Das Strauchwerk sich nicht miteinander verknüpfte, und zerstückelt, von Isis aber wieder zum Leben
Rohrdickicht nicht zu sehen war,
erweckt, wenn auch zu einem Leben in der Un-
Als die Götter nicht existierten, niemand,
terwelt. Dieser Mythos von der Zerstückelung
Sie mit Namen genannt, Geschicke ihnen nicht bestimmt waren,
und Wiederauferstehung spielt in der Alchemie
Da wurden die Götter in ihrer Mitte (= der Ozeane) geschaffen.
bei der Herstellung des Steins der Weisen eine
Rolle. Er ist Symbol des Todes der Materie als
und aus dem Schmelzwasser entsteht der Urriese Voraussetzung für ihr erneutes Zusammenfügen
Ymirr und die Urkuh Audhumbla, deren Euter zum Stein der Weisen.
ständig Milch geben, die Ymir als Nahrung dient.
Audhumbla ernährt sich, indem sie das salzige
Eis aufleckt. Während Ymir eines Tages schläft,
entstehen aus dem Schweiß seiner Achselhöhlen
ein männlicher und ein weiblicher Riese. Gleich-
zeitig paaren sich seine beiden Beine und es ent-
steht Ymirs sechsköpfiger Sohn Vafthrudnir, der
Vater der Riesen. Audhumbla erschafft durch ihr
Lecken Buri, den Stammvater der Götter, dessen
Enkel die ersten Asen Odin, Vili und Ve sind.
Eines Tages töten die Asen Ymir, da sie we-
der ihn noch die wachsende Zahl der Riesen
schätzen. Aus seinem Leib erschaffen sie im
Ginnungagap die Welt. Sein Fleisch bildet die
Erde, seine Knochen die Berge und Felsen, sein
Blut das Meer und Seen, seine Haare Bäume und
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

Gras. Sein Schädel bildet die Himmelskuppel,


getragen von vier Zwergen, die aus den Maden
im Fleisch Ymirs geschaffen sind. Die Sterne
entstehen aus den Feuerfunken Muspellheims.
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

3-1
Ishtartor. Im Pergamon- Schöpfung aus den Ozeanen –
Museum in Berlin steht Tiâmat und Apsu
eine Rekonstruktion des
Ishtar-Tors
T des alten Ba-
bylon. Es zeigt Marduk als Nach dem babylonischen Lehrgedicht Enuma
Wesen mit dem Kopf einer elis (ca. 2000 – 600 v. Chr.) tötet der babylo- 3-2
Schlange, dem Schwanz nische Gott Marduk die Urgöttin Tiâmat und Die Zerstückelung. Sie steht in der Alchemie für den Rei-
eines Skorpions, den Kral- nigungsprozess der Materie. Diese Darstellung stammt
len eines Adlers und den schafft aus ihrem Leib Erde, Himmel, Götter aus dem alchemistischen Bildband Splendor Solis aus dem
Füßen eines Löwen. und Menschen. Tiâmat bedeutet Salzwasser- 16. Jahrhundert.

30
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Ebenfalls häufig anzutreffen ist die Vorstellung Heraklit


eines Eies, aus dem die Schöpfung geboren

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


wird. In einer Kosmogonie des antiken Grie- Der erste bekannte griechische Philosoph, für
chenlands werden Aither und Chaos durch den Logos als Urprinzip der Welt stand, war
Chronos gezeugt; aus Chronos bildet sich ein HERAKLIT (ca. 540 – 480 v. Chr.) aus Ephesos, das
silbernes Ei, aus dem Phanes (= Eros) hervor- etwa 70 km südlich des heutigen Izmir lag. Er
geht. Die Teile des Eies wurden auch mit den verstand das Logos als das Eine, das im Wandel 3-3
vier Elementen identifiziert: die Schale mit der Bestand hat und dem auch die Götter unterwor- vas hermeticum. Das
Erde, das Weiße mit Wasser, das Gelbe mit fen sind. Hier steht also ein Prinzip erstmals über philosophische Ei des Al-
chemisten.
Feuer und die Eihaut mit der Luft. Auch diese den Göttern. Für HERAKLIT bestand das Wesen
Vorstellung findet sich wieder in alchemisti- des Logos im Streit (griech. polemos), der für ihn
schen Prozessen. Das opus magnum, das große der Vater aller Dinge war. Streit ist ein Ausdruck
Werk der Goldherstellung (und des Steins der von Gegensätzen und Heraklit sah das Logos als
Weisen) kann nur gelingen, wenn die Reaktion das Gemeinsame in den Gegensätzen, als das,
im ovum philosophorum erfolgt, dem philoso- was Sein und Werden bestimmt. Dies war eine
phischen Ei. Im alchemistischen Labor verstand Lösung für ein philosophisches Problem, das
man darunter eine Retorte mit kurzem Hals, auch in der dialektischen Philosophie von HEGEL
auch vas hermeticum genannt. (1770 – 1831) und MARX (1818 – 1883) aufge-
griffen wird: Wie kann Wandel aus statischen

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


Prinzipien erklärt werden? Das war ein Problem,
Entmythologisierung der Natur das die magisch-mythische Welt nicht kannte,
da in ihr nichts statisch war. HERAKLIT wird oft
In Mythologien sind Natur und Gottheiten zugesprochen, das Feuer als Grundelement der
eins, alles in der Welt ist beseelt und lebendig Welt postuliert zu haben. Damit ist allerdings 3-4
(Hylozoismus). Die Kräfte, die die Welt bewe- im metaphorischen Sinn das Logos als das sich Heraklit. Heraklit in der
gen, zeigen sich auch in Geburt, Tod, Liebe und ewig Wandelnde gemeint, nicht der Urstoff der Gestalt Michelangelos,
Detailansicht aus „Die
Hass. Es gibt keinen prinzipiellen Unterschied Welt im materiellen Sinn. Schule von Athen“,
zwischen physischen und psychischen Kräften, RAFFAEL SANTI, 1510/11,
die gleichen Kräfte beeinflussen die Handlun- Stanzen des Vatikans,
Wasser und Luft – Thales und Anaximenes Rom.
gen der Menschen und den Lauf der Jahreszei-
ten. Kräfte sind selbstständige Wesenheiten, die THALES von Milet (ca. 624 – 546 v. Chr.), Schü-
die Dinge der Welt erst zu dem machen, was sie lern bekannt durch den Thaleskreis ("der Winkel
sind. Die Welt verhält sich menschlich, oder im Halbkreis ist ein Rechter"), lernte auf Reisen
besser: Das Wesen der Menschen entspricht nach Ägypten und dem Mittleren Orient alles,
dem Wesen der Welt. Diese Sicht findet sich was man seinerzeit über Mathematik, Naviga-
auch heute noch in überlieferten Lehren und tion und Astronomie wusste. Seinen Zeitgenos-
oft im sogenannten „ganzheitlichen Naturver- sen galt er der Überlieferung nach als Träumer,
ständnis“. „Wie oben, so unten“, lautet etwa der angeblich einst im Gehen den Himmel be-
ein zentraler Satz der Astrologie: Der Weg der obachtete und dabei in einen Brunnen fiel. Er
Planeten spiegelt den Weg der Menschen. Die war wie seine Nachfolger in der milesischen
Astrologie hat ihre Wurzeln im Babylon des Schule auf der Suche nach dem Urstoff (griech.
dritten Jahrtausends vor Christus. arché). Für ihn war Wasser dieser Stoff, da
Mit dem Advent des philosophischen Denkens Wasser für alles Lebendige wesentlich ist. Nach
beginnt ein langsamer Wandel vom Hylozo- THALES schwamm die Erde auf einer Wasser-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

ismus zu einem rationalen Naturverständnis oberfläche und das gelegentliche Stampfen der
– ein Weg „vom Mythos zum Logos“. An die Erde war verantwortlich für Erdbeben. THALES
Stelle magischer Kräfte und göttlichen Wirkens war jedoch auch noch im Hylozoismus verwur-
treten Prinzipien, deren Geltungsanspruch sich zelt. Von ARISTOTELES ist der Ausspruch des
auf rationale Argumente gründet. Es sollte aller- THALES überliefert, dass „alles voller Götter“ sei.
dings noch viele Jahrhunderte dauern, ehe es zur Die Vorstellung des Urstoffs „Wasser“ ist daher 3-5
Thales von Milet. Der
Formulierung von Naturgesetzen im modernen nicht so zu verstehen, wie wir heute den Begriff Philosoph lebte von
Sinne kam. verstehen: als einen Grundbaustein der materi- 624 – 546 v. Chr.

31
KAPITEL 3 Historischer Überblick

ellen Welt. Laut ARISTOTELES verstand THALES auch in den Jahreszeiten erkennbar: Im Sommer
die Rolle des Wassers mythisch: Es verweist auf herrscht das Warme/Trockene vor, im Winter das
den griechischen Gott Okeanos und auf den Kalte/Feuchte. Das Apeiron sorgt für Gleich-
Fluss Styx, der das Totenreich vom Reich der gewicht und lenkt dabei die Entwicklung der
Lebenden trennte. Welt, da alle Prinzipien und Eigenschaften Teil
Eine Generation später setzte ANAXIMENES des Apeiron sind.
(585 – 526 v. Chr.) die milesische Tradition fort. Mit PARMENIDES (ca. 515 – 445 v. Chr.) tritt
Für ihn ist die Luft das arché, der göttliche Ur- ein Theoretiker auf den Plan, der im Gegensatz
stoff, und gleichzeitig als pneuma der belebende zu den Miletern die Wahrnehmung für die
Atem, die Seele. Die Elemente der Welt entstehen Wahrheitsfindung als völlig ungeeignet ansah:
durch Verdünnung bzw. Verdickung der Luft. Nur das Denken kann uns die Wahrheit zeigen,
Dabei entsteht durch Verdünnung das Feuer, Wahrnehmung ist Irrtum und Schein. Das
durch Verdickung das Wasser und durch stetig Sein nämlich ist unveränderlich, schon immer
weitere Verdickung Erde und Stein. gewesen und unvergänglich, während unsere
Etwa zwei Generationen später schuf EM- Wahrnehmung vor allem das sich Bewegende
PEDOKLES eine vereinheitlichte Elementelehre und Veränderliche registriert. Wäre das Sein aber
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

mit den vier Elementen Erde, Wasser, Feuer, veränderlich oder könnte es vergehen, so gäbe es
Luft. Wir werden uns noch eingehender damit ja etwas anderes Seiendes, zu dem hin sich das
beschäftigen. Zuvor werden wir zwei Philoso- Sein verändert oder wohin es vergeht. Das wäre
phen kennenlernen, die einen abstrakteren Weg jedoch ein Widerspruch. Nach PARMENIDES
gingen: ANAXIMANDER und PARMENIDES. kann es auch nicht Nichts geben, da Nichts
3-6 nicht denkbar ist. Damit kann es natürlich auch
Anaximander. Detailan- Grenzenloses und Unvergängliches – keinen leeren Raum geben, kein Vakuum. Gäbe
sicht aus „Die Schule von es ein Vakuum, so würde ja etwas anderes als
Athen“, RAFFAEL SANTI, Anaximander und Parmenides
1510/11, Stanzen des Va- das Sein existieren, es hätte eine Grenze. Und
tikans, Rom. ANAXIMANDER (ca. 611 – 547 v. Chr.) war ein natürlich: Wenn kein Vakuum existiert, kann
Zeitgenosse des THALES und ein bekannter Astro- sich auch nichts bewegen oder verändern, da
nom, der die erste griechische Landkarte sowie hierfür kein Platz ist. Bekannter als PARMENIDES
einen Himmelsglobus schuf. Anstelle der die selbst ist heute dessen Schüler ZENON von Elea.
Welt erschaffenden Götter oder anstelle des Was- Von ihm stammt das Paradox von Achilles und
sers trat bei ANAXIMANDER eine abstrakte Sub- der Schildkröte. Damit sollte nachgewiesen
stanz als Ursache der Welt in Erscheinung, das werden, dass Bewegung tatsächlich Illusion ist.
Apeiron. Apeiron, das Grenzenlose, ist zeitlos, PARMENIDES’ Lehre vom unvergänglichen
grenzenlos, hat keine Eigenschaften, durch die es S ein beeinflusste die nachfol g enden Phil o -
sich von anderen Dingen unterscheiden läßt, es s o p hen wesentlich. Obwohl weni g e seine
ist der Stoff schlechthin, aus dem Welt, Zeit und A uffassung über die Wahrnehmung teilten,
Raum und die Elemente erst entstehen können. k o nn te n s i e das We r de n ni c h t m e hr du r c h
Da das Apeiron alle Elemente und Eigenschaften ein Entstehen aus dem Nichts erklären. Erst
dieser Welt in sich vereinigt, einschließlich des die Vorstellung eines allmächtigen Gottes in
Prinzips der Bewegung, konnte Struktur durch Judentum, Christentum und Islam lieferte
Ausdifferenzierung der Prinzipien „das Warme/ einen akzeptablen Rahmen für diese creatio
Trockene“ und „das Kalte/Feuchte“ entstehen. ex nihilo. Die Vorstellung, dass kein Vakuum
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

ANAXIMANDER ging davon aus, dass durch die existieren könne, blieb aber bis in die Neuzeit
Bewegung eine Trennung zwischen dem Warmen hinein vorherrschend. Interessanterweise ist
und dem Kalten entstand, die zur Gestaltung des d ie Struktur des (anscheinend g ar nicht so
Kosmos führte. Die Erde bildete als tortenähn- leeren) Vakuums bis heute ein aktuelles For-
licher Zylinder das Zentrum des Kosmos und schungsthema (ÅKapitel 10).
3-7
Parmenides von Elea. De- wurde von glühenden Feuerrädern umkreist.
tailansicht aus „Die Schule Durch die Speichenöffnungen der Räder konnte
von Athen“, RAFFAEL SANTI, man den feurigen Mantel erkennen, von der
1510/11, Stanzen des
Vatikans, Rom. Sie soll Erde aus erschienen diese Löcher als Sterne. Die
PARMENIDES zeigen. wechselnde Dominanz von Warm und Kalt ist

32
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Die vier Elemente – Empedokles


EMPEDOKLES (ca. 495 – 435 v. Chr.) aus dem DIE VIER ELEMENTE
sizilianischen Agrigent war bekannt als Arzt,
Dichter, Naturforscher, Magier und Philosoph, Denn fürs erste vernimm des Weltalls vierfache Wurzel:
mi sc h te abe r auc h in de r P o li t ik se in e r Zeus, der strahlende, Hera, der Nahrung Spenderin, Hades,
Heimat kräftig mit. Wie für PARMENIDES ist Nestis, die irdisches Naß läßt aus den Tränen entquellen.
auch für EMPEDOKLES das Seiende ewig und
unvergänglich, aber für ihn ist die Sinneswelt
EMPEDOKLES
nicht Schein. Er vereinigte die milesischen
Vorstellungen eines Urstoffs zu einer Vier-
Elemente-Lehre von Feuer, Erde, Wasser, Luft.
Diese Elemente bilden das unvergängliche Sein. sie voneinander. Vereinigung und Trennung sind
Das Gedicht von EMPEDOKLES verbindet sie mit dabei weniger räumlich zu verstehen, da die vier
den Göttern: Zeus steht für das Feuer, Hera für Elemente ja im pythagoreischen Sinn eine Einheit

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


die Erde, Hades für die Luft und Nestis für das bilden, sondern als Spannungsverlagerung.
Wasser. Die vier Elemente werden in Anlehnung Die unterschiedlichen Dinge entstehen durch
an die Pythagoreer als die „Wurzeln“ (griech. Misc h ung d er E l emente in versc h ie d enen
rhizómata) der Welt dargestellt. Die Pythagoreer Proportionen. Die Entstehung des Menschen ist
sahen in den Zahlen eins bis vier die Wurzeln dabei ein zufälliger Prozess, verbunden mit einer
aller Zahlen, weil sich aus ihnen alle anderen Art von Selektion, die an die damals noch mehr 3-8
Empedokles. Holzschnitt
erzeugen lassen, insbesondere die heilige Zahl als zweitausend Jahre in der Zukunft liegende aus der Nürnberger Chro-
zehn als deren Summe. Evolutionstheorie erinnert: Zunächst entstehen nik von 1493.
Werden und Vergehen bedeuten bei aus den vier Elementen die homogenen Sub-
EMPEDOKLES Mischung und Entmischung der vier stanzen Blut, Fleisch und Knochen. Aus diesen
Elemente unter dem Einfluss der Kräfte Liebe und entwickeln sich durch zufällige Verbindungen
Hass. Liebe vereint die Elemente, der Hass trennt die einzelnen Glieder. Dabei kommt es auch zu

Die Ordnung der Vier

Die Vierheit als Ordnungsschema spielte in Antike und Mit- Auch die Medizin der Hildegard von Bingen, Kneipp-
telalter eine große Rolle. Den vier Elementen wurden die vier und Entschlackungskuren basieren letzten Endes auf
Qualitäten warm/kalt, trocken/feucht und die vier Körpersäfte der Vorstellung, dass Krankheiten durch Störungen
Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle zugeordnet. Die- im Gleichgewicht der Säfte (Dyskrasie) entstehen. Der
sen wiederum entsprachen die vier Charaktere Sanguiniker Aderlass diente dazu, schädlichen Blutüberschuss in
(von lateinisch sanguis, Blut), Phlegmatiker (von griechisch einem Körperteil zu entfernen. Auch der Speiseplan wurde
phlegma, Schleim), Choleriker (von griechisch chole, Galle) diesem Ordnungsschema angepasst. Bei einer Störung des
und Melancholiker (schwarze Galle aus griechisch mela, Säftegleichgewichts oder je nach Temperament wurden die
schwarz und chole). Auch die vier Jahres- und Tageszeiten, Speisen mit unterschiedlichen Schwerpunkten zubereitet.
sowie die menschlichen Lebensphasen wurden diesen Kate- Entsprechende Rezepte haben sich bis heute erhalten: eine
gorien zugeordnet. Hühnerbrühe soll aufgrund des kalt-trockenen Charakters des
Die Viersäftelehre oder Humoralpathologie (von lat. Huhns bei fiebrigen Erkältungen helfen. Die Vier-Elemente-
humores, Säfte) geht auf die griechischen Ärzte HIPPOKRATES Lehre fand auf die gleiche Weise Eingang in die Astrologie:
(ca. 460 – 370 v. Chr.) und GALEN (ca. 129 – 199 n. Chr.) Erde, Wasser, Feuer, Luft finden sich wieder in der Einteilung
zurück und prägte die Medizin bis ins 19. Jahrhundert. der Tierkreiszeichen in Erd-, Wasser-, Feuer-, und Luftzeichen.

Element Qualität Körpersaft Charakter Temperament Farbe / Geschmack Lebensphase Jahreszeit


Luft Warm und nass Blut Sanguiniker Heiter Rot und süß Kindheit Frühling
Feuer Warm und trocken Gelbe Galle Choleriker Kühn Gelb und bitter Jugend Sommer
Erde Kalt und trocken Dunkle Galle Melancholiker Trotzig Schwarz und scharf Mannesalter Herbst
Wasser Kalt und nass Schleim Phlegmatiker Träge Weiß und salzig Greisenalter Winter

33
KAPITEL 3 Historischer Überblick

Missbildungen, die jedoch nicht lebens- oder Feueratomen, die klein, rund und deshalb sehr
fortpflanzungsfähig sind. Die Seele ist nichts beweglich sind. Sie ist also nicht getrennt vom
anderes als ein bestimmtes Mischungsverhältnis übrigen Sein, es gibt keine Weltseele, die Atom-
der Elemente, das sich auch wieder auflösen theorie ist eine monistische, keine dualistische
kann, sie ist also nicht unsterblich. Theorie. Auch Sinneseindrücke wie Geschmack
und Farbe sind auf die Eigenschaften der Atome
zurückzuführen. So besteht Saures aus scharf-
Leukipp und Demokrit – kantigen Atomen, Süßes aus runden.
die frühen Atomisten
LEUKIPP (Anfang des 5. Jahrhunderts v. Chr.) aus Ideen oder Form?
Milet gilt als Begründer der ersten Atomtheorie,
Platon und Aristoteles
DEMOKRIT (ca. 460 – 370 v. Chr.) aus der thra-
kischen Küstenstadt Abdera nahe dem heuti- Knapp zweihundert Jahre nach ANAXIMANDER, in
gen Dorf Avdír arbeitete sie weiter aus. In ihrer der Blütezeit griechischer Philosophie, lebte der
Atomlehre teilten beide die Ansicht PARMENIDES, Athener PLATON (427 – 347 v. Chr.). Sein politi-
dass das Seiende unvergänglich sein muss. Für sie sches Engagement vor allem in Syrakus bei Kö-
jedoch existierte auch das Nichtseiende in Form nig DIONYSOS endete im Desaster; einmal wurde
des leeren Raums, da nur durch ihn Bewegung PLATON sogar als Sklave verkauft. PLATON war ein
möglich ist. Das Rätsel, wie aus dem unverän- Schüler des legendären SOKRATES und stellte seine
derlichen Seienden Veränderung entsteht, lösten philosophischen Gedanken in Form von Dialogen
sie durch die Einführung von Atomen (griech. zwischen SOKRATES und Zeitgenossen dar. Diese
átomos, unteilbar). Das Seiende besteht demnach Dialoge sind uns erhalten und sie tragen meist den
aus unteilbaren, unvergänglichen Atomen, die Namen des Dialogpartners. PLATON N entwickelt in
sich in Größe, Form, Lage und Anordnung un- diesen Dialogen auch seine Ideenlehre und stellt
terscheiden. Es gibt also verschiedene Arten von im Timaios seine Kosmogonie dar.
Atomen und Atome unterschiedlicher Größe ha- Auch er spricht vom ewig Seienden, die
ben unterschiedliches Gewicht. Das unterschied- wahrnehmbaren Dinge nehmen an diesem Sein
liche Gewicht der Stoffe entsteht auch durch aber lediglich vorübergehend teil, da sie ver-
die unterschiedlichen Hohlräume zwischen den gänglich sind. Das wahre Sein drückt sich aus
Atomen – durch ihre unterschiedliche Dichte, wie durch die Ideen, die wir in den Dingen erken-
man heute sagen würde. nen. Das wahre Sein eines Stuhles ist nicht der
Werden und Vergehen der Dinge erklären Stuhl selbst, sondern die Idee des Stuhl-Seins.
die Atomisten durch das Zusammen- und Aus- Damit gibt PLATON eine Antwort auf die Frage,
einandergehen der Atome. Atome verfügen über wie wir das Wesen von Dingen erkennen. Was
eine ihnen innewohnende Bewegung. Wechsel- ist das Gemeinsame an Stühlen und wie erken-
wirkungen zwischen ihnen kommen dadurch nen wir es? Woher kommt unsere Vorstellung
zustande, dass sie sich je nach Art abstoßen oder des Kreises ohne dass es vollkommene Kreise
aneinander haften. Harte Stoffe bestehen aus gibt? Unser Geist hat an den Ideen teil, die
Atomen, die sich auf Grund ihrer Gestalt fest in- Dinge selbst führen eine Schattenexistenz zwi-
einander verhaken; weiche bestehen aus solchen, schen Sein und Nichtsein. Die Materie, der
die leicht gegeneinander verschiebbar sind. Die Stoff aus dem die Dinge sind, spielt dabei eine
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

Welt entstand laut DEMOKRIT aus einem Wirbel, untergeordnete Rolle. Seine wesentlichste Ei-
der große und kleine Atome voneinander trennte. genschaft ist die Teilbarkeit.
Die großen (also schwereren) sammelten sich in Im Gegensatz zu ANAXIMANDER entsteht die
der „Mitte“ und bildeten die Erde, die kleineren Welt bei PLATON nicht von selbst und besteht
(leichteren) flogen nach außen und bildeten die auch nicht ewig wie bei PARMENIDES. Vor dem
3-9 Sterne. Da Raum und Anzahl der Atome unend- Anfang befanden sich die Ursubstanzen der
Demokrit. Skulpur von lich sind, muss es auch unendlich viele Welten Welt in einem wirren Durcheinander, in einer
LÉON-ALEXANDRE DELHOMME geben, die entstehen und vergehen. an „keine Regel gebundenen Bewegung“, in
(1841 – 1895) vor dem
Musée des beaux-arts in Die Atomisten vertraten auch eine materi- einem Chaos. Ein Weltbaumeister, ein Demiurg
Lyon. alistische Theorie der Seele: Diese besteht aus (griech. demiourgós, Schöpfer, Handwerker)

34
Erde, Wasser, Luft und Feuer

musste die Welt aus diesem Chaos erschaffen. zwischen den Basisdreiecken ineinander über-
Sie ist ein Ausdruck göttlicher Vernunft und führbar:
göttlicher Ideen. Die Menschen können die
göttlichen Ideen hinter der sinnlichen Welt er- 1 Wasser → 1 Feuer + 2 Luft: 120 Δ → 24 Δ + 2 · 48 Δ
1 Luft → 2 Feuer: 48 Δ → 2 · 24 Δ
kennen, da sie mit Vernunft ausgestattet sind
2 1/2 Luft → 1 Wasser: 2 1/2 · 48 Δ → 120 Δ
und die Welt selbst an diesen Ideen teilhat.

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


Erkenntnis ist also ein Prozess des Erinnerns. Erde kann auf diese Weise nicht umgewandelt
Dieser Dualismus, der unterscheidet zwischen werden, da sie aus einer anderen Sorte von Drei-
den Dingen und den Ideen, an denen sie teilha- ecken besteht. Allerdings kann das Feuer durch
ben, ist die Wurzel des abendländischen Dua- seine Spitzigkeit die Erddreiecke voneinander
lismus zwischen Leib und Seele. Beide gehören trennen. Aber irgendwann wird aus den ge-
unterschiedlichen Kategorien des Seins an, und trennten Dreiecken doch wieder Erde, da sie 3-10
die Vorstellung, die Seele könne auf Materie sich zu nichts anderem verbinden können. Feuer Platon. Auf dem Gemälde
„Die Schule von Athen“
und ihren Eigenschaften beruhen, erscheint in zerteilt auch die anderen Elemente nach den trägt PLATON (links, ver-
diesem Kontext absurd. oben aufgeführten Zerteilungsgleichungen. Die körpert durch LEONARDO
Als perfektes Wesen konnte der Demiurg Zerteilung hört auf, wenn nur noch Feuer da ist. DA VINCI) seine bekannte
Schrift Timaios in der
nur eine perfekte, eine nach absoluten Maß- Feuer seinerseits wird bei Einschluss in Luft so Hand, in der er seine Kos-
stäben schöne Welt erschaffen. Das Perfekte lange zersetzt, bis es zu Luft geworden ist. Diese mogonie darstellt.
und absolut Schöne verbarg sich bei PLATON Zerteilungsgleichungen erinnern an chemische
in mathematischen Proportionen und idealen Gleichungen wie sie heute zur Beschreibung von
geometrischen Formen. Die Welt musste kugel- Stoffumwandlungen gebräuchlich sind.
förmig sein, da die Kugel alle anderen Formen PLATON wählte gut, als er Dreiecke zu Grund-
umhüllt und in ihrem Ebenmaß die perfekte bausteinen der materiellen Welt erklärte. Heut-
Figur darstellt. Die vier Elemente Erde, Wasser, zutage werden Dreiecke oder Tetraeder und ihre
Feuer, Luft sollten zusammen mit dem Äther, Verallgemeinerung auf mehr als drei Dimensi-
der die Himmelssphäre bildet, den fünf Pla- onen (sogenannte Simplices) dazu verwendet,
tonischen Körpern entsprechen. Sie sind die komplexe Formen zu approximieren. So verwen-
einzigen regulären Körper (eine Eigenschaft, die det man Dreiecke, um beliebig geformte Flächen
bewiesen wurde durch THEÄTET, einem Schüler in Computerspielen darzustellen. Wählt man
PLATONs). Nach PLATON bilden die Elemente die Dreiecke klein genug, so erscheint die dar-
aber nicht die Grundbausteine der Welt, son- aus gebildete Fläche glatt. Eine besondere Vari-
dern Basisdreiecke, aus denen vier platonische ante, Simplices in der Physik einzusetzen, ist als
Köper gebildet sind. Das fünfte Element, der kausale dynamische Triangulation bekannt. Mit
Äther, entsteht aus regelmäßigen Fünfecken. Hilfe dieses Verfahrens kann die komplexe Struk-
Stoffe versteht PLATON als „Arten“ der Ele- 3-11
mente. Sie sind unter anderem durch die Größen Basisdreieck Typ 1. Der
der Basisdreiecke bestimmt. Eine Art des Wassers erste T
Typ von Platons
rechtwinkeligen Basisdrei-
(flüssig und schmelzbar) ist das Gold. Die Vielfalt ecken entsteht durch Hal-
der Stoffe entsteht dadurch, dass in der Schöpfung bierung des gleichseitigen
Dreiecke verschiedener Größe hervorgebracht Dreiecks.

wurden. Jedes Element hat dabei einen bestimm-


ten Ort im Kosmos. Bei Elementumwandlungen
kommt es immer zu Ortsveränderungen, da die
neuen Elemente zu ihrem natürlichen Ort stre- 3-12
ben. Schwere sieht PLATON als die Tendenz eines Basisdreieck Typ 2. Das
gleichschenkelige recht-
Körpers, an seinen natürlich Ort zurückzukehren; winkelige Dreieck ist der
sie ist also relativ. zweite T
Typ von Platons
Basisdreiecken.

Platons Physik und Chemie der Elemente

Da sie selbst nicht elementar sind, sind die


Elemente durch Auflösung der Verbindung

35
KAPITEL 3 Historischer Überblick

Platons Elementarteilchen

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PLATON konstruiert die Platonischen Körper ecken. Dieser Körper repräsentiert die Luft und
aus zwei Basisdreiecken, dem rechtwinkeligen steht nach Gewicht zwischen Feuer und Wasser.
Dreieck, das durch Teilung des gleichseitigen Aus 20 gleichseitigen Dreiecken entsteht das
entsteht, und dem gleichschenkeligen rechtwin- Ikosaeder mit insgesamt 120 Basisdreiecken.
keligen Dreieck (Å Abbildung 3-11, Seite 35). Es repräsentiert das Wasser, den schwersten
3-13
Diese Dreiecke sind nach Ansicht PLATONs beweglichen Körper, der aus den Basisdreiecken
Tetraeder (Feuer). Aus 24
rechtwinkeligen Dreiecken die schönsten der möglichen Dreiecke, alle gebildet wird. Der Würfel (Hexaeder) entsteht
entsteht ein Tetraeder
T anderen lassen sich daraus erzeugen. Aus 24 aus 4 · 6 Dreiecken des Typs 2, d. h. aus 24Ele-
(Vierflächner).
rechtwinkeligen Basisdreiecken vom Typ 1 ent- mentardreiecken. Er ist am unbeweglichsten,
steht durch viermaliges Zusammenfügen von deshalb repräsentiert er die Erde.
sechs Dreiecken zu gleichseitigen Dreiecken der Der Dodekaeder besteht aus 12 regelmäßi-
Tetraeder, der das Feuer repräsentiert. Es ist gen Fünfecken. Aufgrund seiner nahezu run-
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das leichteste und das spitzigste Element. Auf den Form bildet er nach PLATON die äußerste
die gleiche Weise entsteht das Oktaeder aus Schale des Kosmos. Seinen zwölf Flächen sind
8 · 6 Dreiecken des Typs 1, d. h. 48 Basisdrei- die zwölf Sternbilder zugeordnet.

tur des frühen Universums unter Berücksichti-


gung der sogenannten Quantenfluktuationen Materia prima – der Urstoff des Aristoteles
3-14
näherungsweise berechnet werden (ÅKapitel 10).
Oktaeder (Luft). Aus 48
Basisdreiecken des Typs
T Neben P LATO N ist A RI S TO TELE S (38 4 – 322
1 entsteht ein Oktaeder Platonisches Denken heute v. Chr.) der Philosoph, der wissenschaftliches
(Achtflächner). und philosophisches Denken im Abendland und
Während PLATONs Kosmogonie und Elemen- im Orient am tiefsten geprägt hat. ARISTOTELES
telehre heute keine Rolle mehr spielen, ist die stammt aus Stageira, in der Nähe der heutigen
Frage, welchen Wirklichkeitsstatus Ideen haben, Stadt Stagira auf der nordgriechischen Halbin-
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nach wie vor aktuell. Deutlich wird dies unter sel Chalkidiki. Sein Vater war Arzt am Hof des
anderem bei der Suche nach einer physikali- makedonischen Königs und ARISTOTELES wurde
schen „Theorie für alles“, der TOE (Theory of Lehrer des jungen ALEXANDER DES GROSSEN. Er
Everything). Der Physiker STEVEN WEINBERG war von 367 bis 347 v. Chr. Schüler und Lehrer
formulierte diese Suche so: an PLATONs Akademie in Athen, 335 gründete
er eine eigene Schule, das Lykeion. Das Lykeion
„.. das ist unser Bestreben: nach einem einfachen wurde auch bekannt als Peripatos, nach dem
3-15
Ikosaeder (Wasser). Aus
Satz physikalischer Prinzipien zu suchen, denen griechischen Wort für Wandelhalle oder Spa-
insgesamt 120 Basisdrei- eine größtmögliche Zwangsläufigkeit anhaftet
und von denen alles, was wir über Physik wissen,
ziergang. Es war damals die Gewohnheit der
ecken entsteht ein Ikosa-
eder (Zwanzigflächner). zumindest im Prinzip abgeleitet werden kann.“ Philosophen, in den öffentlichen Gymnasien
im Umhergehen zu lehren.
Eine solche Theorie kann nicht ausschließlich auf
Erfahrung gegründet werden, da sie Phänomene Form und Materie
wie die Entwicklung oder Entstehung des Uni-
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versums erklären muss, die unserer Erfahrung Auch ARISTOTELES ist wie PARMENIDES der Über-
für immer unzugänglich bleiben. Sie muss sich zeugung, dass aus Nichts nichts entstehen und
letzten Endes auf Prinzipien und Schlussregeln etwas, was ist, nicht einfach verschwinden kann.
stützen, die nur mathematisch-logisch begrün- Das Seiende muss ewig währen. Wie ist dann
det werden können, die also zwangsläufig g sind. aber Veränderung, Entstehen und Vergehen zu
Damit sprechen wir mathematischen Sätzen aber erklären? Er kann sich nicht mit der Atomthe-
3-16 im Grunde eine eigene Existenz zu, die außerhalb orie von DEMOKRIT und LEUKIPP anfreunden, da
Hexaeder (Erde). Aus 24
des menschlichen Geistes liegt. Mathematische mit der Einführung von unteilbaren Atomen
rechtwinkeligen Dreiecken
(Typ
T 2) entsteht ein Hexa- Sätze wären nach dieser Sicht der Dinge „a pri- doch lediglich die große Zahl der Naturerschei-
eder (Sechsflächner). ori“ (vor der Erfahrung) gültig. nungen auf eine nicht minder große Zahl an

36
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Atomformen zurückgeführt werde. Auch gibt es sind für ARISTOTELES die einfachsten Substan-
für ihn keinen Grund anzunehmen, dass Materie zen, die aus der materia prima (Ersten Materie)
nicht unbeschränkt teilbar sein sollte. Allerdings hervorgehen. Die materia prima ist selbst nicht
sah er, dass Körper nicht beliebig geteilt werden fassbar, es gibt kein „Stück“ materia prima, da
konnten, ohne wichtige Eigenschaften zu verlie- sie ja keine Form besitzt. Aus den vier Elementen
ren. So konnten Pflanzen oder Tiere oder ihre entstehen in der nächsten Stufe die gleichartigen

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


Organe nicht beliebig klein werden. Diese Sicht- Stoffe (griech. homoiomere) wie Holz, Mine-
weise wurde als minima-naturalia-Lehre später rale, Blut, daraus wiederum die inhomogenen
wieder aufgegriffen und weiterentwickelt, bis Substanzen wie Organe und Lebewesen. Die
sie schließlich mit dem Atomismus verschmolz. vier Elemente können prinzipiell ineinander um-
ARISTOTELES wendet sich auch gegen PLATONs gewandelt werden, eine Vorstellung, die in der
Welt der Ideen; sie war für ihn ein überflüssiges Alchemie eine zentrale Rolle spielt. Wirkliche 3-17
Konzept. Das, was ein Ding zu dem macht, was Erde, wirkliches Wasser und wirkliche Luft sind Aristoteles. Auf dem
Gemälde „Die Schule von
es ist, ist für ARISTOTELES dessen Form (eidos). Mischungen der vier Elemente. Athen“ trägt ARISTOTELES
Die Form ist aber verbunden mit der Materie. ARISTOTELES war sich über den Unterschied (rechts, neben PLATON)
Die Materie ist sozusagen potenzielll etwas, aber zwischen einer Mischung und einer Verbindung seine bekannte Schrift
Nikomachische Ethik in
erst durch die Form wird sie es tatsächlich: Ein bewusst. Letztere verglich er mit einer Silbe, die der Hand.
Stück Bronze ist potenziell eine Statue, aber erst etwas anderes ist als die Buchstaben, aus denen
durch die Form wird es dazu. Für uns unge- sie besteht. Die Form der Verbindung ist eine an-
wöhnlich ist, dass ARISTOTELES die Form eines dere als die der Bestandteile. Nach ARISTOTELES
Dings als nicht weiter erklärungsbedürftig auf- bleiben aber die Formen der Elemente potenziell
fasst. Die Frage „Warum hat ein Pfirsich genau in der Verbindung bestehen. So wie aus einer
diese Form?“ ist für ARISTOTELES unsinnig. Der Bronzestatue wieder ein Bronzebarren hergestellt
Pfirsich hat Pfirsichform, weil es ja die Form ist, werden kann, können schließlich aus einer Ver-
die ihn zum Pfirsich macht. Die Form ist selbst bindung die Elemente zurückgewonnen werden.
Ursache, ist causa formalis. Dabei ist Form nicht Wie man sich dies genau vorstellen sollte, bleibt
nur geometrisch zu verstehen; zur Form gehö- bei ARISTOTELES allerdings unklar. Was mit den
ren auch die essenziellen Eigenschaften, beim Elementen in einer Verbindung geschieht, war
Pfirsich also beispielsweise die Tatsache, dass er daher ein im Mittelalter viel diskutiertes Problem
einen harten Kern besitzt. Nicht jedoch die Süße, (ÅVerbindungen, Seite 44).
da unreife Pfirsiche sauer sind und trotzdem
als Pfirsiche gelten. Die Süße eines Pfirsichs ist Gewicht und Masse
eine akzidenzielle Eigenschaft. Sie kommt einem
Pfirsich nur zeitweilig zu. Die Trennung zwischen Bei ARISTOTELES ist Gewicht eine essenzielle
Form und Materie spielt in der Naturphilosophie Eigenschaft von Körpern wie Farbe oder Ge-
des Mittelalters eine große Rolle. Auf ihrer Basis ruch. Feuer und Luft haben kein Gewicht, da
wurde die Natur von Stoffumwandlungen und sie nach oben streben, Erde hat das höchste
chemischen Verbindungen erklärt, insbesondere Gewicht, weil sie am weitesten nach unten strebt
in Gestalt der minima-naturalia-Lehre. Der frühe (zum Mittelpunkt). Wasser nimmt eine Mittel-
Atomismus als rivalisierende Theorie war damals stellung ein. Ein Körper ist umso schwerer, je
nicht in der Lage, eine befriedigende Erklärung mehr Erdelementt er in sich trägt, je stärker also
dafür zu liefern, weshalb selbst die frühen Ato- sein Bestreben ist, auf die Erde zurückzukehren.
misten des 17. Jahrhunderts bei chemischen Phä- Die abstrakte Vorstellung von Masse als einer
nomenen auf aristotelische Erklärungsmuster allen Körpern gleichen Eigenschaft war dem
zurückgriffen (ÅMinima naturalia, Seite 44). antiken Denken fremd. Zwar verwendete auch
ARISTOTELES den Materiebegriff (hylê), um das
Materia prima, die Elemente und ihre Substrat aller Dinge zu bezeichnen, die Schwere
Verbindungen eines Körpers führte er jedoch nicht auf dessen
Gehalt an Materie zurück. Gewicht war keine
ARISTOTELES vertrat eine Vier-Elemente-Lehre Eigenschaft der Materie selbst, sondern der Ele-
wie EMPEDOKLES, wobei er den Äther als himmli- mente. Ein Apfel mochte gleich viel wiegen wie
schen Stoff hinzufügte. Erde, Wasser, Feuer, Luft ein Goldstück, niemand kam jedoch damals auf

37
KAPITEL 3 Historischer Überblick

den Gedanken, zu sagen, beide enthielten des- wurden sie aufgegeben. In der Folgezeit wurden
halb die gleiche Menge an Materie, so wenig, Schulen in anderen Städten des Mittelmeerraums
wie wir heute sagen, ein roter Ferrari enthalte g e g ründet, unter anderem im wichti g sten
die gleiche Menge Rotheit wie ein rotes Hemd. Kulturzentrum dieser Zeit, in Alexandria. Mit
den Eroberungszügen ALEXANDERS ab 334
Die Chemie der Elemente v. Chr. begann eine Zeit des Umbruchs. Die
Eroberungen erweiterten den geistigen Horizont
In der aristotelischen Chemie werden die vier der Griechen und führten zu intensiverem
Elemente durch die Gegensatzpaare warm/kalt Kontakt mit anderen Kulturen. Gleichzeitig
und trocken/feucht charakterisiert. Es handelt bedeutete der Niedergang der griechischen
sich nicht um Eigenschaften, die vom wahr- Stadtstaaten einen Verlust an Sicherheit.
nehmbaren Subjekt abhängig sind, sondern Beides gab unterschiedlichen geistigen Strö-
es sind essenzielle Eigenschaften der Elemente mungen Auftrieb. Es blühte Mystisches wie der
selbst. Nach ARISTOTELES verkörpern die ge- Hermetismus und in der Philosophie entstanden
wählten Gegensatzpaare jeweils das aktive und Lehren wie die Stoa und der Epikureismus, die
das passive Prinzip: Wärme trennt unterschied- das Streben nach innerem Frieden und Gelas-
liche Dinge und Kälte verbindet sie, beide Ei- senheit in den Mittelpunkt stellten. Weder Stoa
genschaften sind also aktiv. Trockenheit und noch Epikureismus hatten als philosophische
Feuchtigkeit sind passiv: Feuchtigkeit bedeutet Schulen nachhaltigen Einfluss, sie beeinflussten
beliebige Formbarkeit (man denke an weichen allerdings spätere naturphilosophische Vorstel-
Ton), Trockenheit bedeutet Abgegrenztheit und lungen über das Wesen der Welt. Auch der Plato-
Starrheit (man denke an trockenes Brot). Alle nismus entwickelte sich weiter zu dem, was man
anderen Gegensätze lassen sich laut ARISTO- heute als Neuplatonismus bezeichnet. Parallel
TELES darauf zurückführen. So ist das Grobe dazu wurde auch die Philosophie des ARISTOTE-
trocken, da es sich nicht in jede Form füllen LES, deren Anhänger Peripatetiker r genannt wurr-
lässt, das Feine feucht, da es sich leicht in jede den, weiterentwickelt. Sie bildete im Mittelalter
Form füllen lässt. das Fundament der Naturphilosophie.
Da sowohl die vier Elemente als auch die
vier Eigenschaften elementar für die Körper Die Welt aus dem Samen – die Stoiker
sind, stellt sich die Frage, wie sie kombiniert
werden können. Für ARISTOTELES war offen- Als Schulgründer der Stoa gilt ZENON VON
sichtlich, dass ein Element weder gleichzeitig KRITION aus Zypern (ca. 333/2 – 262/1 v. Chr.).
warm und kalt noch gleichzeitig trocken und Ihren Namen erhielt sie von Poikile Stoa, einer
feucht sein kann. Daraus und unter Zuhil- bunt bemalten Wandelhalle auf der Agora in
fenahme der offensichtlichen Affinität man- Athen, die von den älteren Stoikern als Schule
cher Eigenschaften und Elemente ergibt sich gewählt wurde.
Trocken Feucht „zwanglos“ das links beschriebe Schema. Die- Zentrales Prinzip der Stoa ist der Logos. Die
Warm Feuer Luft ses Schema war ein zentrales Fundament der menschliche Vernunft ist Teil dieses Logos. Der
Kalt Erde Wasser Chemie der Antike und des Mittelalters. Es Kosmos wird als beseelter Organismus verstan-
wurde erst im 17. Jahrhundert abgelöst durch den und ist ebenfalls dem Werden und Vergehen
einen pragmatisch definierten Elementbegriff: ausgesetzt. Er wird durch zwei Prinzipien regiert:
ein Element ist das, was man (zurzeit) nicht das Tätige und das Leidende (auch im Sinne von
weiter zerlegen kann. „erleiden", passiv sein). Die Materie wird mit
dem Leidenden assoziiert, Logos und Physis mit
dem Tätigen. Logos steht für die den Kosmos
Eine Zeit des Umbruchs lenkende Vernunft und Physis für das künstleri-
sche Feuer, das jeden Organismus entsprechend
Auch nach dem Tod von ARISTOTELES und eines im Samen angelegten Plans entwickelt. Die-
PLATONN bestanden das Lykeion und die Akademie ser Samen, der logoi spermatikoi, bewirkt, dass
weiter. Erst im Zuge des mithridatischen Krieges sich alles Geschehen in der Welt nach dem göttli-
88 – 86 v. Chr. zwischen römischem Reich und chen deterministischen Plan entwickelt. Wie der
dem kleinasiatischen Herrscher MITHRIDATES VI. göttliche Logos den Makrokosmos bestimmt, so

38
Erde, Wasser, Luft und Feuer

leitet die menschliche Vernunft das Denken und 6 Das Ganze ist unendlich.
Handeln des Mikrokosmos Mensch nach gött-
lichem Plan. So ist jedes Lebewesen mit jedem 7 Die Atome sind unendlich an Zahl, und die
anderen durch eine kosmische Sympathie ver- Leere ist unendlich an Ausdehnung.
bunden. Am Anfang gab es nur das künstlerische
Feuer (Physis), es wird in Verbindung mit dem 8 Die Atome von identischer Form sind un-

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


Logos zum materiellen Pneuma (Hauch, Luft, endlich an Zahl, ihre Formen dagegen sind
Atem), der treibenden Kraft im Kosmos. Das unbestimmt an Zahl, jedoch nicht unend-
Substrat des Pneumas ist die Materie, die mit den lich.
Elementen Erde und Wasser gleichgesetzt wird.
Durch Verdichtung kann sich das Feuer in die 9 Die Atome bewegen sich ohne Unterlass.
3-18
anderen Elemente verwandeln, beim Übergang
Epikur. Die Atomtheorie
von Feuer zu Wasser kommen Keimkräfte, die 10 Die Atome haben mit den sinnlichen Din- des EPIKUR mutet in vieler
logoi spermatikoi zur Wirkung, die alles Le- gen nur drei Dinge gemeinsam: die Form, Hinsicht modern an. So
ben und jede Materie zur Entwicklung bringen. das Volumen und das Gewicht. wird die Leere als Bestand-
teil der Welt akzeptiert,
Diese Samen sind im Feuer im Keim enthalten, eine begrenzte Zahl von
sie können die Materie vollständig durchdringen Im Gegensatz zu DEMOKRIT betrachtete EPIKUR Atomarten angenommen
und formen deren individuelle Eigenschaften. das Gewicht als eine Eigenschaft der jeweiligen und sogar eine bis heute
diskutierte Körnigkeit von
Die Materie kann wie bei ARISTOTELES die Quali- Atome. Die Endlichkeit der Formen vermeidet Raum und Zeit vorwegge-
täten warm, kalt, trocken und feucht annehmen, ein logischen Problem der Vorstellung DEMOKRITS nommen.
wodurch die Vielfalt der Substanzen entsteht. von grundsätzlich unsichtbaren Atomen: Wenn
Qualitäten werden durch das Hinzufügen eines es unendlich viele Formen gäbe, müssten auch
Stoffes verändert, eine Vorstellung, die bei der einige darunter sein, die direkt sichtbar sind, ja
Erzeugung von Gold aus unedlen Metallen eine sogar so groß sein könnten wie die ganze Welt.
wichtige Rolle spielt. Um aristotelischen Argumenten gegen kleinste
Teilchen (Å Form und Materie, Seite 397)
Nochmals Atome – die Epikuräer entgegenzutreten, nimmt EPIKUR an, dass nicht
nur Atome unteilbar sind, sondern auch Raum,
Jahrzehnte nach DEMOKRIT wurde die Atomthe- Zeit und unsere Wahrnehmung aus kleinsten
orie von EPIKUR (341 – ca. 270 v. Chr.) wieder Einheiten bestehen, also quantisiertt sind, wie
aufgegriffen. Im 16. Jahrhundert bildeten vor man heute sagen würde. Atome bewegen sich
allem seine Vorstellungen und die des römischen nicht kontinuierlich, sondern in Sprüngen, die
Epikuräers LUKREZ (ÅKasten Lukrez, Seite 40) aber so klein sind, dass wir nur kontinuierliche
den Ausgangspunkt für neue Atomtheorien der Bewegungen wahrnehmen. Die (vergängliche)
Materie. Von der großen Zahl an Abhandlungen, Kohäsion in den Materiekonzentrationen der
die EPIKUR
R verfasst hat, sind leider nur Fragmente Welt entsteht durch ständige Vibrationen der
erhalten. In seinen Lehrelementen, den stoicheia, einzelnen Elemente, die sich in dem dichten
entwickelte Epikur zehn physikalische Sätze über Gewebe mehr oder weniger behindern.
die Grundbausteine der Welt: Sinneseindrücke sind eine Fol g e dieser
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

Vi b r at i o n e n : A to m e l öse n s i c h vo n de n
1 Nichts entsteht aus dem, was nicht ist. Gegenständen ab und treffen auf unsere Sinne.

2 Nichts löst sich auf in das, was nicht ist. Welt als Emanation – der Neuplatonismus
3-19
3 Das Ganze ist immer so gewesen, wie es PLOTIN (204 – 270 n.Chr.) gilt als der Schöpfer des Plotins Enneaden.
jetzt ist, und wird immer so bleiben. Neuplatonismus, seine Arbeiten fußen auf Gedan- Titelblatt der 1580 in Basel
nachgedruckten Enneaden
ken von AMMONIOS SAKKAS (175 – 242 n. Chr.)
in der lateinischen
4 Das Ganze besteht aus den Körpern und der und NUMENIOS VON APAMEIA
P A (Anfang zweites Jahr r- Übersetzung von MARSILIO
Leere. hundert), von denen wenig bekannt ist. FICINO. Die Schriften
Nach PLOTIN geht alles aus dem Einen hervor, PLOTINs wurden von
PORPHYRIOS, einem seiner
5 Es gibt zwei Arten von Körpern, Atome und dem schlechthin Guten. Es ist nicht das Sein oder Schüler, in den Enneaden
Atomzusammensetzungen (die Aggregate). der Geist, sondern steht über diesen. Das Eine zusammengefasst.

39
KAPITEL 3 Historischer Überblick

sphären. Jede Sphäre ist beseelt und führt ihre


Lukrez Bewegung aufgrund ihres Sehnens aus. Auf
diese Weise sollte eine hierarchische Ordnung
Dem römischen Dichter TITUS LUCRETIUS CARUS, genannt LUKREZ, der Welt entstehen, deren gesamte Existenz auf
verdanken wir ein einzigartiges naturphilosophisches Lehrgedicht: das das Eine zurückgeführt werden konnte. Diese
De rerum natura (Über die Natur der Dinge), das vor allem die Ato- Vorstellung des stufenweisen Hervorgehens der
misten im 16. und 17. Jahrhundert inspirierte. Über LUKREZ' Leben ist Welt aus dem Einen wurde von islamischen
wenig bekannt, er wurde wahrscheinlich 98 v. Chr. geboren und starb Philosophen wieder aufgenommen, wobei Gott
um 54 v. Chr., möglicherweise durch Selbstmord. Das Lehrgedicht in die Rolle des Einen trat.
fasst in circa 7800 Versen alle wesentlichen Bereiche der damaligen
Erkenntnis zusammen. LUKREZ nutzt EPIKURs physikalische Sätze, um Geheimnisvoll – Der Hermetismus
eine Vielzahl natürlicher Phänomene zu erklären. So sollten Blitze
aus feinerem Feuer (Feueratomen) als irdisches Feuer bestehen, da sie Wer kennt nicht die Redewendung „hermetisch
schneller sind und besser durch Häuser oder Holz dringen könnten. verschlossen“? Sie geht zurück auf eine legendäre
Auch Licht bestehe aus Atomen, wobei Lichtatome kleiner seien als Figur der Antike, HERMES TRISMEGISTOS, den drei-
Wasseratome, da letztere nicht durch Horn hindurch gehen, Licht fach größten Hermes. Esoteriker sehen in ihm
aber schon. Die Farbe der Körper bestehe selbst nicht aus Atomen, da einen der größten Weisen des Altertums, der um
sie sich ja ändern kann, sondern entstehe durch das Licht der Sonne. das Wesen des Kosmos wusste. Diese Weisheit
Gerüche seien Ausdruck der Form der Atome: Schlechte Gerüche seien wurde als jenseits der Rationalität verstanden,
eher eckig/spitz, Wohlgerüche glatt und rund. Worte können sie nur andeuten und sie ist nur
für Initiierte in ihrer Gesamtheit zu erfassen.
selbst ist nicht fassbar, sondern nur negativ cha- Die Schriften des Hermes sind „hermetisch“, für
rakterisierbar, in dem man aufzählt, was es nicht Außenstehende nicht zu erschließen. Die herme-
ist. Der Geist geht aus dem Einen hervor. Diese tischen Schriften beeinflussten Naturphilosophie
Emanation (lat., Ausfluss) des Geistes aus dem und Chemie von der Spätantike bis ins 17. Jahr-
Einen entspricht dem Hervorgehen des Lichts hundert. Das Gesamtwerk wurde allerdings nicht
aus der Sonne. Wie das Licht notwendig da ist, von einem Autor geschrieben, sondern entstand
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

solange die Sonne existiert, ist der Geist notwen- im Wesentlichen zwischen dem ersten vorchristli-
dig da, weil das Eine da ist. Die Emanationen aus chen und dem fünften nachchristlichen Jahrhun-
dem Einen sind kein göttlicher Schöpfungsakt, dert. Die fiktive Figur stammt aus der Zeit nach
sondern zwangsläufig. Der Gegenpol des Einen der Eroberung Ägyptens durch ALEXANDER (332
ist die Materie. Auch sie ist nur negativ fassbar: v. Chr.) aus der Verschmelzung des ägyptischen
3-20 als Mangel an Gutem und an Form. Sie steht für Gottes Thot und des griechischen Hermes. Seinen
Thot. Der ibisköpfige Thot das Böse schlechthin: für das, dem alles Gute Beinamen Trismegistos erhielt HERMES erst im
galt in Ägypten als Gott abgeht. Der Geist ist die Ursache aller realen 2. Jahrhundert n. Chr.
der Weisheit.
Formen, die aus ihm emanieren. Auch die Welt- In der Naturphilosophie des Abendlandes
seele entspringt aus dem Geist und mit ihr die spielten besonders das Corpus Hermeticum und
Einzelseelen. Für PLOTIN ist die Seele das, was die später entstandene Tabula smaragdina eine
den Menschen ausmacht, seine Form. Der höhere prägende Rolle. Das Corpus Hermeticum ist
Teil der Seele ist mit dem Göttlichen verbunden heute noch in esoterischen Kreisen verbreitet,
und stellt die ewigen Formen dar, der niedere insbesondere wegen des umfassenden Welter-
Teil ist mit dem Körper verbunden und vermag klärungsversuchs, einer Theorie für Alles, sozu-
die realen Formen in der Welt wahrzunehmen. sagen (Å Kasten Tabula smaragdina).
Erkennen ist also Wiedererkennen der ewigen Aufgrund des symbolischen Bezugs zu den
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

Formen, die in uns sind. Elementen und der Anweisung zur Herstellung
Nachfolger PLOTINS verfeinerten die Ema- des „Lichts der ganzen Welt“ wurde die Tabula
nationslehre. Zwischen dem Einen, den Men- später als alchemistisches Rezept zur Herstellung
schen und seinen verschiedenen Vermögen des Steins der Weisen verstanden. Die Alchemie
und den anderen Dingen in der Natur wurden wurde sogar als die hermetische Kunst schlecht-
3-21
noch weitere Emanationsstufen eingefügt. Bei hin, die ars hermetica aufgefasst. Hermetische
Hermes-Merkur. Mittel-
alterliche Darstellung als APHRODISIAS finden wir die Zuordnung dieser Schriften beschreiben ein polares Bild des Kos-
Planet Stufen von Geist und Seele zu den Himmels- mos, in dem vor allem der platonisch-stoizistische

40
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Ursprung sichtbar wird. Die Materie repräsentiert TABULA SMARAGDINA


als Prinzip das dunkle, ungeordnete Chaos, das
Licht repräsentiert den Geist als göttliches Ord- In Wahrheit, gewiß und ohne Zweifel.
nungsprinzip. Durch Verschmelzung beider Prin-
Das Untere ist gleich dem Oberen und das Obere gleich dem Un-
zipien entsteht die beseelte Welt. Prägend in allen
teren, zu wirken die Wunder eines Dinges.
Schriften ist die Allgegenwart des göttlichen Ur-
So wie alle Dinge aus Einem und durch die Dinge aus diesem Ei-
prinzips. Es handelt sich um einen Pantheismus,
nen durch Abwandlung geboren.
der das Einzelne mit dem Gesamten verbindet:
Alles ist eins und eins ist alles. So erklärt sich Sein Vater ist die Sonne, und seine Mutter ist der Mond; der
auch die Vorstellung des „wie oben so unten“, Wind trug es in seinem Bauche, und seine Amme ist die Erde.
denn beide Ebenen entsprechen einander bis ins Es ist der Vater aller Wunderwerke der ganzen Welt.
Detail. Auch der Hinweis auf Sonne und Mond, Seine Kraft ist vollkommen, wenn es in Erde verwandelt wird.
Wind und Erde wurde alchemistisch gedeutet. Scheide die Erde vom Feuer und das Feine vom Groben, sanft und
Es war klar, dass mit dem Einen der Stein der mit großer Vorsicht.
Weisen gemeint war. Sonne und Mond wurden Es steigt von der Erde zum Himmel empor und kehrt von dort
wahlweise als Gold und Silber oder Schwefel und zur Erde zurück, auf dass es die Kraft der Oberen und Unteren
Quecksilber gedeutet. Der Wind repräsentierte empfange. So wirst du das Licht der ganzen Welt besitzen, und
das stoizistische Pneuma. alle Finsternis wird von dir weichen.
Bereits im 16. Jahrhundert wurde das alttes- Das ist die Kraft aller Kräfte, denn sie siegt über alles Feine und
tamentarische Alter der hermetischen Schriften durchdringt alles Feste.
angezweifelt und der Philologe PIERRE CASAUBON Also wird die kleine Welt nach dem Vorbild der großen Welt er-
wies schließlich 1614 überzeugend nach, dass schaffen.
das Corpus Hermeticum aus nachchristlicher
Zeit stammen müsse. —
und aus dem oströmischen wurde das byzantini-
Spätantike und Mittelalter sche Reich. Dieses endete, nachdem die Osma-
nen 1453 Konstantinopel (Byzanz) eroberten.
Stagnation und Wiedergeburt Die Vorstellungen über Materie standen im

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


Mittelalter im Zeichen der aristotelischen Natur-
r
Das dritte Jahrhundert unserer Zeitrechnung philosophie von Form und Materie, vermischt
leitete das Ende der Antike ein, die in Europa mit stoizistischen und neuplatonischen Elemen-
und Nordafrika zuletzt durch die hellenistisch- ten; der Atomismus spielte kaum eine Rolle.
römische Kultur des Imperium Romanum ge- Das antike Wissen fand allerdings nur langsam
prägt war. Es folgte eine Übergangsphase bis seinen Weg in das christliche Abendland. Von 3-22
zum sechsten Jahrhundert, die sogenannte Spät- ARISTOTELES kannte man fast nichts, wenig von Hermes Trismegistos.
Hermes als Vater der Al-
antike, die mit dem Zerfall des weströmischen PLATON und auch von EUKLID waren nur die chemie, der in dieser Dar-
Reiches endete, nachdem bereits 395 das Impe- elementarsten Sätze bekannt. Die Werke des stellung symbolisch Mond
rium in oströmisches und weströmisches Reich ARCHIMEDES und PTOLEMÄUS waren noch völlig und Sonne durch Feuer
scheidet.
geteilt wurde. Das Mittelalter begann mit der unbekannt. Demgegenüber wurde in Byzanz
Zeit des fränkischen Reiches, das zur beherr- das antike Wissen bewahrt, so dass Kreuzfahrer
schenden Großmacht West- und Mitteleuropas nach der Einnahme von Konstantinopel 1024
aufstieg und seinen Höhepunkt zur Zeit KARLs eine ganze Schiffsladung griechischer Werke in
DES GROSSEN (747 – 814) hatte. An seinem Hof den Westen bringen konnten.
in Aachen sammelten sich in dieser karolingi- Eine entscheidende Rolle für den Transfer
schen Renaissance die Gelehrten der Zeit und des antiken Wissens nach Westeuropa spielten
Latein entwickelte sich zur Gelehrtensprache. die Araber. Vor allem durch die Eroberung von
Das oströmische Reich konnte sich dank grö- Alexandria 641 wurden sie schon früh mit an-
ßerer militärischer und wirtschaftlicher Stärke tikem Wissen vertraut. In den folgenden beiden
länger behaupten, mit den arabischen Erobe- Jahrhunderten wurden große Teile der Texte
rungszügen ab 630 ging allerdings der größte von PLATON, ARISTOTELES, EUKLID, PTOLEMÄUS
Teil des Reiches verloren. Die lateinische Sprache und anderer ins Arabische übersetzt. Sizilien und
wurde endgültig durch die griechische verdrängt das maurische Spanien bildeten die wichtigsten

41
KAPITEL 3 Historischer Überblick

Schnittstellen zwischen der arabischen Welt und Schöpfer aus dem Nichts, sondern den Ord-
Westeuropa, über die das antike Wissen etwa ab ner der Materie, die er sich als unzerstörbare,
dem 10. Jahrhundert schließlich das Abendland schon immer existierende Atome vorstellte. Er
erreichte. Nach der Eroberung Toledos 1085 entwickelte auch einen abstrakten, an NEWTON
und der Einnahme von Sizilien 1091 wuchs die erinnernden Begriff des Raumes. Im Gegensatz
Zahl der Übersetzungen stark an und erreichte zu ARISTOTELES sah AL-RAZI den Raum als von
im 12. und 13. Jahrhundert ihren Höhepunkt. Körpern unabhängig an. ARISTOTELES hatte statt
GERARD VON CREMONA (1114 – 1187) verdanken des Raumes lediglich den Platz definiert, den ein
wir über 70 Übersetzungen, unter anderem von Körper einnimmt. Ein Platz ohne Körper konnte
EUKLID, PTOLEMÄUS, ARISTOTELES und GALEN. Er nach ARISTOTELES’ Vorstellung nicht existieren
übersetzte auch Werke von IBN SINA (AVICENNA) (da er einem Vakuum gleichkommt). Und wäh-
und des großen Mathematikers AL-CHWARI W ZMI, rend ARISTOTELES Zeit nur in Zusammenhang
von dessen Bezeichnung al-jabr (der Zwang) das mit Bewegung sah, war Zeit für AL-RAZI ein
Wort Algebra stammt und dessen Name für den von der Bewegung unabhängiger Begriff. Wegen
Algorithmus Pate stand. seiner philosophischen Ansichten wurde RHAZES
zu Lebzeiten und danach heftig angefeindet,
weshalb viele seiner philosophischen Schriften
Die islamische Wissenschaft nicht mehr erhalten sind.
AVICENNA entwickelte die neuplatonische
Während des Mittelalters war die islamische Emanationslehre weiter, in dem er die Welt
Wissenschaft dem Abendland weit voraus. Be- als kontinuierliche, notwendige Emanationen
griffe wie Algebra und Sternnamen wie Alde- Gottes betrachtete, anstelle eines willentlichen
baran sind arabischen Ursprungs und Gelehrte Schöpfungsaktes. Die Vorstellung einer kausalen
wie IBN SINA (AVICENNA, 980 – 1037) prägten Welt, in der Gott keine Einflussmöglichkeiten
die Medizin Europas bis zur Neuzeit. IBN SINA mehr besaß, wurde natürlich von vielen Seiten
ist sogar in einem Kirchenfenster des Mailän- angegriffen, unter anderem von den Ash’ariden,
der Doms verewigt. Und während im zehnten einer von ABU AL-HASAN AL-ASHARI (873 – 935)
Jahrhundert die Palastbibliothek der Fatimiden gegründeten theologischen Denkrichtung. Sie
in Kairo etwa 18 000 wissenschaftliche Bände sahen Gott als alleinige Ursache allen Gesche-
verzeichnete, enthielt die Vatikanbibliothek im hens an. Was wir Menschen als kausales Gesetz
15. Jahrhundert insgesamt weniger als 3000 wahrzunehmen glauben, ist permanentes Han-
Schriften. Mit dem Beginn der Neuzeit be- deln Gottes, das dieser jederzeit ändern kann. In
gann das Abendland allerdings aufzuholen, um ihrem Bestreben, die unmittelbare Wirkung Got-
schließlich alle anderen Hochkulturen technisch- tes auf das Geschehen in der Welt zu erklären,
naturwissenschaftlich hinter sich zu lassen. entwickelten die Ash’ariden einen Atomismus,
Eine umfassende Auseinandersetzung mit den der der epikureischen Variante ähnlich ist. Für
Ergebnissen der islamischen Wissenschaft und sie bestand die Welt aus identischen Atomen,
den Gründen ihrer Stagnation würde den Rah- die keine Ausdehnung besaßen und nicht kausal
men dieses Kapitels sprengen. Wir konzentrieren miteinander interagierten. Alle Interaktionen
uns auf ein Thema, das in unserem Kontext be- wurden durch Gott initiiert. Körper entstanden,
sonders relevant ist: den islamischen Atomismus. indem Gott Atome anordnete, aus zwei Ato-
men bildete er ein Linienelement, aus vier die
Gequantelt und dynamisch: kleinste mögliche Fläche und aus acht Atomen
der islamische Atomismus den kleinsten Körper. Zwischen den Atomen
bestand leerer Raum. Um den Argumenten ARIS-
Für den Philosophen, Alchemisten und Chefarzt TOTELES gegen den Atomismus entgegenzutre-
eines Bagdader Hospitals AL-RAZI (lat. Rha- ten, nahmen sie ähnlich wie EPIKUR an, dass
zes, ca. 865 – 923 oder 935) gab es nicht das nicht nur die Materie, sondern auch der Raum
Eine oder nur den einen Gott, sondern fünf und die Zeit diskontinuierlich ist; sie quantelten
universelle Prinzipien: den Schöpfer, die Seele, die Raumzeit, wie man heute sagen würde. Wenn
die Materie, Raum und Zeit. Ganz im Sinne Atome sich bewegten, so sprangen sie von einem
PLATONS sah AL-RAZI im Schöpfer nicht den Ort zum nächsten; unterschiedliche Geschwin-

42
Erde, Wasser, Luft und Feuer

digkeiten entstanden dadurch, dass Atome un- Materie, auch „Erste Materie“ oder materia
terschiedlich lange zwischen Sprüngen verharren prima genannt, ist bei ARISTOTELES abstrakt zu
konnten (die Zeit für den Sprung konnte nicht verstehen, da ja kein reales Ding in der Welt
variieren, da sie gequantelt war). ohne Form existieren kann. Die elementarsten
Der jüdische Philosoph MOSES MAIMONIDES Substanzen sind die vier Elemente, jedes Element
(1135 – 1204) machte auf die Schwächen dieses mit der ihm eigenen Form. Alle anderen Substan-
Ansatzes aufmerksam: Da die Atome eines sich zen sind entweder Verbindungen der Elemente
drehenden Mühlsteins am äußeren Rand eine oder Verbindungen anderer Substanzen.
höhere Geschwindigkeit haben als weiter innen,
müssen die äußeren offenbar länger zwischen Körperliche Form, das Abendmahl und
Sprüngen an einem Ort verharren. Dies müsste quantitas materiae
den Mühlstein auseinanderreißen, da sich innere
und äußere Atome voneinander weg bewegen. ARISTOTELES' Vorstellung einer eigenschaftslo-
Die Atomisten argumentierten, dass die Ver- sen Ersten Materie bereitete seinen Nachfolgern
bindung der Atome untereinander während der einiges Kopfzerbrechen. So war nicht klar, wo-
Drehung aufgelöst würde. Dass man dies nicht hin die Ausgedehntheitt als essenzielle Eigen-
erkenne, läge lediglich an der Unvollkommenheit schaft aller Körper gehört. Ist sie bereits der
unserer Sinne. MAIMONIDES’ Argument ist eine Ersten Materie zu Eigen oder wird sie erst über
Variation eines alten Problems, das im Mittelal- die Form vermittelt? Fragen dieser Art erhiel-
ter unter dem Namen Rota Aristotelis bekannt ten eine gewisse Brisanz durch das christliche
und viel diskutiert wurde. Es galt als ein Argu- Abendmahl. Das dabei gereichte Brot und der

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ment gegen den Atomismus. Wein sollten nach der seit Anfang des 13. Jahr-
hunderts vertretenen Transsubstantiationslehre
in den Leib und das Blut Christi verwandelt
werden, wobei Eigenschaften wie Geschmack,
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

Geruch oder Konsistenz unverändert bleiben.


Nur die Substanz von Brot und Wein sollte 3-24
wechseln, nicht jedoch deren Eigenschaften, Übersetzungen. Übersicht
die Akzidenzien. Nach ARISTOTELES war dies über die im Laufe der
Jahrhunderte im Westen
unmöglich, Akzidenzien konnten nie ohne die
bekannt gewordenen
3-23 Substanz existieren, der sie zugeordnet sind. Werke.
Rota Aristotelis. Zwei rollende Räder mit Radius r und Wechselt diese, so müssen notwendigerweise
R sind im Mittelpunkt starr miteinander verbunden und
rollen jeweils auf einer Ebene. Wie können sie bei einer
auch die Akzidenzien verschwinden. THOMAS
Umdrehung die gleiche Strecke zurücklegen, da ihr Um- VON AQUIN (ca. 1225 – 1274) fand eine Lösung
fang ja unterschiedlich groß ist? Im Mittelalter nahm man dieses Problems, indem er alle Akzidenzien
an, dass dies nur möglich ist, weil auf beiden Rändern
von der Ausdehnung der Substanz abhängig
unendliche viele Punkte (also ein Kontinuum anstelle von
Atomen) liegen. GALILEI zeigte in seinen Unterredungen, machte und nicht von der Substanz selbst. Da-
dass dies auch bei diskreten Punkten auf den Radien mit konnte diese wechseln, ohne dass sich die
möglich ist, wenn man annimmt, dass zwischen den
Eigenschaften der Körper verändern mussten.
Punkten entsprechende Lücken sind. Er nahm dies als
Hinweis darauf, dass zwischen Atomen Zwischenräume Demnach war auch die Dichte eines Körpers
bestehen. In Wirklichkeit geschieht einfach folgendes: eine Eigenschaft der Ausdehnung. Nun ist aber
Während das große Rad dahinrollt, rutscht das kleine Rad Verdünnung oder Verdichtung selbst eine Än-
zumindest teilweise, um den Unterschied auszugleichen.
derung der Ausdehnung, ist also gleichzeitig
Eigenschaft und deren Träger. Um diesen Wi-
Aristoteles’ Erben im Abendland derspruch zu umgehen, wurde die quantitas
materiae, eine vom Volumen unabhängige Ma-
Die Vorstellungen über Materie waren im Mit- teriemenge eingeführt. BURIDAN nutzte sie, um
telalter durch das aristotelische Duo Form und den unterschiedlichen „Schwung“ (Impetus)
Materie geprägt. Form war für Gestalt und alle von Körpern auszudrücken, es sollte allerdings
essentiellen Eigenschaften eines Körpers verant- noch einige Zeit dauern, bis sich dieser vage
wortlich und schuf aus Materie ein reales Objekt Begriff als träge Masse der newtonschen Me-
(ÅForm und Materie, Seite 36). Die formlose chanik konkretisierte.

43
KAPITEL 3 Historischer Überblick

Verbindungen zur Verfügung stand, was den Formaspekt der


Materie adäquat beschreiben konnte.
Bereits ARISTOTELES unterschied zwischen Mi-
schungen und Verbindungen. Bei letzteren waren Minima naturalia
die Ausgangsstoffe nicht ohne weiteres wieder zu
trennen, denn eine Verbindung besaß eine eigene Die Konzeption kleinster Teilchen (minima natu-
Form, während in Mischungen die Formen der ralia) fusste auf der bereits bei ARISTOTELES an-
Ausgangsstoffe erhalten blieben. Verbindungen zutreffenden Vorstellung einer minimalen Größe,
waren für die Formtheorie ein Problem: Wenn unterhalb derer eine Substanz weder existieren
jeder Substanz eine eigene Form zuzuordnen noch eine Wirkung entfalten konnte. Wechsel-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

war, wie entstand die Form einer Verbindung wirkungen zwischen Substanzen wurden als
aus den Formen der Ausgangsstoffe? Und wie Wechselwirkungen zwischen deren kleinsten Teil-
entstanden nach dem Lösen der Verbindung die chen gedeutet und auch Eigenschaften wurden
Formen der Ausgangsstoffe wieder? minimale Größen zugeordnet – es handelte sich
3-25 Nahm man an, die Formen bleiben erhalten gewissermaßen um eine mittelalterliche Form der
Verbindungen und Form. und nur die Akzidenzien werden abgeschwächt, Quantelung. Die minima-naturalia-Lehre unter-
Die Trennung von Form
und Materie bereitete wie AVICENNA und THOMAS VON AQUIN dach- schied sich sehr wohl von Atomtheorien. Für die
große Schwierigkeiten bei ten, konnte man zwar begründen, warum eine Minimisten behielten Minima alle Eigenschaften
der Erklärung der Natur Verbindung wieder zu trennen war, aber wie der Körper, während in den Vorstellungen der
chemischer Verbindungen.
Es gab unterschiedliche
entstand die neue Form? Wenn andererseits so- Atomisten Atome keine Eigenschaften außer
Ansätze, um zu erklären, wohl Form als auch Akzidenzien abgeschwächt Größe, Gestalt und Bewegung besaßen (ÅTabelle
wie sich die Formen und wurden (AVERROES), war zwar eher nachvoll- 3-26). Mit Ausnahme weniger (u.a. GIORDANO
Akzidenzien (äußere
Eigenschaften) der Aus-
ziehbar, wie eine neue Form entstehen kann, BRUNO) waren die Anhänger von Korpuskular-
gangsstoffe zur neuen gleichzeitig wurde damit aber an der Unverän- theorien zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert
Form und den neuen derlichkeit der Form gerüttelt. Oft wurde die Minimisten und keine Atomisten.
Eigenschaften der Ver-
Abschwächung als reversibler Zwischenzustand
bindung zusammenfügen
und wie es möglich ist, zwischen Potenzialitätt und Aktualitätt der Form Physik und Chemie auf Basis der minima
dass die Ausgangsstoffe betrachtet (ÅMateria prima, die Elemente und naturalia
nach Trennung der Ver- ihre Verbindungen, Seite 37). Am radikalsten
bindung in gleicher Form
wiedergewonnen werden war der schottische Theologe und Philosoph Vor allem AGOSTINO NIFO (1473 – 1538), JACOPO
können. DUNS SCOTUS (ca. 1266 – 1308). Er ging davon ZABARELLA D. Ä. (1532 – 1589) und JULIUS CESAR
aus, dass die Formen der Ausgangsstoffe samt SCALIGER (1484 – 1558) ist die breitere Verwen-
ihren Akzidenzien zerstört wurden und eine dung der minimistischen Theorie im 16. Jahr-
neue Form entstand. Unklar blieb dabei, wie die hundert zu verdanken. Die Vorstellung kleins-
Ausgangsformen durch Lösen der Verbindung ter Teilchen erwies sich dabei als hilfreich für
wieder entstanden. die Konkretisierung der Natur und des Ablaufs
Es ist nachvollziehbar, dass dieses Dilemma stofflicher Veränderungen. So sollten laut NIFO
im Mittelalter nicht gelöst werden konnte. Im qualitative Veränderungen durch die Wirkung
Rahmen der minima-naturalia-Lehre entstan- eines Vermittlers (agens) sprunghaft erfolgen:
den zwar konkretere Vorstellungen über das
Entstehen und Lösen von Verbindungen, insge- Das Agens beginnt damit, ein Minimum quan-
samt hatte die formbasierte Verbindungstheorie titatis des Stoffes so zu verwandeln, daß diese
Veränderung mit einem „minimum qualitatis“
aber wenig Einfluss auf die Laborpraxis der übereinstimmt. Danach bewirkt das Agens die
mittelalterlichen Alchemisten (ÅVon der Al- gleiche Veränderung an einem zweiten Mini-
chemie zur Chemie, Seite 59), da sich kaum mum quantitatis, während inzwischen das erste
praktisch verwertbare Erkenntnisse daraus ge- Minimum quantitatis eine zweite Qualitäts -
winnen ließen. Und dennoch blieb die Vorstel- veränderung, die mit dem Minimum qualitatis
übereinstimmt erfährt...
lung von die Materie prägenden Formen bis ins
17. Jahrhundert hinein lebendig. Der zu dieser Man denkt dabei unwillkürlich an die Quanten-
Zeit bereits im Vormarsch befindliche neue Ato- theorie, bei der ein Lichtquant (minimum qualita-
mismus bediente sich oft weiterhin des Formbe- tis) ein Elektron (minimum quantitas) anregt und
griffs, da auf atomistischer Ebene noch nichts damit die Eigenschaften eines Atoms verändert.

44
Erde, Wasser, Luft und Feuer

3-26
Vorstellungen des Atomismus Vorstellungen der minima-naturalia-Lehre Minima-naturalia-Lehre
versus Atomismus. Beides
Atome sind unteilbar, undurchdringlich Minima naturalia sind teilbar, auch wenn sie dabei unter Umständen ihre waren Lehren von kleins-
und unveränderlich. Form verlieren. ten T
Teilchen, aber es gab
In Verbindungen treten Atome mitein- Unterschiede.
Minima naturalia verschmelzen in Verbindungen miteinander und bilden
ander in Kontakt, bleiben aber selbst
eine neue Form (später sprach man ihnen mehr Eigenständigkeit zu).
unverändert.
Atome haben keine Eigenschaften außer Die Eigenschaften der minima naturalia entsprechen denen des Körpers,
Größe, Gestalt und Bewegung. dessen Form sie bilden.

Atome sind die fundamentalen Bausteine Minima naturalia repräsentieren nur einen bestimmten Zustand der Ma-
der Natur. terie und sind lediglich „Formträger".

Die Atomtheorie ist eine materialistische


Minima naturalia sind nur eine Ergänzung der aristotelischen Naturphilo-
Universaltheorie. Sie erklärt alle Erschei-
sophie ohne universellen Erklärungscharakter.
nungen der materiellen Welt.

SCALIGER schuf eine minima-naturalia-Lehre der Obwohl vieles in den Ausführungen der Mini-
vier Elemente, bei der sich Teilchen vor allem misten an Atome erinnert, blieben sie den aris-
durch ihre Größe unterscheiden. Er nahm an, totelischen Vorstellungen treu. Man erkennt dies
Erdteilchen seien größer als Wasserteilchen, an den Ausführungen ZABARELLAS, bei denen die
diese größer als Luftteilchen und diese wiederum ursprünglichen Luft- und Erdteilchen sich nicht
größer als Feuerteilchen. Er versuchte durch die einfach verbinden, sondern zu einer neuen Form
Eigenschaften der jeweiligen Minima natura- verschmelzen. Sie selbst bleiben nur als unterge-
lia physikalische Eigenschaften der Körper wie ordnete, gebrochene Formen in der neuen Form
Brennbarkeit, Dichte und Feinheit zu erklären. bestehen. —
Erde brenne deshalb so langsam, weil die Erd-
teilchen hundertmal größer sind als die Feuer- Wuxing
teilchen. Bei Erwärmung drängen Feuerteilchen
zwischen die größeren Teilchen der anderen Fünf Elemente im chinesischen Denken
Elemente, weshalb es zur Ausdehnung der Kör-
Ein Etwas gibt es, chaotisch und ganz;
per kommt. der Entstehung von Himmel und Erde geht es
Verbindungen entstehen nach NIFO und SCA- voran.
LIGER durch den Kontakt zwischen den Minima Still ist es und grenzenlos,
naturalia der Ausgangsstoffe. ZABARELLA ver- für sich allein, unwandelbar,
sucht das Wesen von Verbindungen auch quan- kreisend und nie sich erschöpfend.
Der Welt Mutter könnte ich es nennen.
titativ zu erfassen, in dem er die Eigenschaften
Ich kenne seinen Namen nicht,
der Elemente in diskreten Werten angibt: ich nenne es dao.
...
Soll eine Verbindung hergestellt werden, die zu Das dao brachte das Eine hervor.
sechs Graden zur Erdnatur und zu zwei Graden das Eine die Zwei und die Zwei die Drei.
zur Luftnatur gehört, müssen Erd- und Luft- und die Dreizahl brachte
partikel zusammenwirken. D.h. Luft reduziert die zehntausend Wesen und Dinge hervor.
die Erdnatur um zwei Grade... so dass sechs Die zehntausend Wesen und Dinge:
Grade übrig bleiben, während die dominante getragen vom yin, umhüllt vom yang
Erde sechs Grade von der Luftnatur abzieht, geeint durch durchdringendes qi.
womit zwei Grade übrig bleiben... D.h. sowohl (Daodejing, Vers 25 und 42)
Erd- als auch Luftteilchen wandeln sich zur
gleichen Natur, da beide durch sechs Grade
Erdnatur und zwei Grade Luftnatur geprägt Diese Sequenz aus dem Daodejing (auch Tao-
sind; und beide sind nicht länger Erde oder Te-King geschrieben) beschreibt die Entstehung
Luft, sondern etwas dazwischen wie Gold. der Welt aus Sicht des Daoismus, neben dem
Auf diese Weise wird jeder Teil der Verbin-
Konfuzianismus die einflussreichste philosophi-
dung zur Verbindung... Die zerbrochenen und
beschädigten Formen wandeln sich in einen sche Schule des alten China. Die Entwicklungs-
dazwischenliegenden Zustand, dessen Form geschichte der chinesischen Philosophie ist nicht
dem Gold entspricht. weniger vielschichtig als die abendländische, es

45
KAPITEL 3 Historischer Überblick

standen jedoch andere Fragen im Vordergrund che? Woher wissen wir, ob das Gleiche gemeint
und damit ergaben sich auch andere Antwor- ist? Wir werden in den folgenden Abschnitten
ten. Schon zu KONFUZIUS’ Zeiten im 6. Jahr- deshalb etwas weiter ausholen müssen, um die
hundert vor Christus, aber stärker noch in den chinesischen Materievorstellungen zu verstehen.
darauf folgenden Jahrhunderten, war Einheit
und Stabilität des chinesischen Reiches ein zen- Dao – das Apeiron des Ostens
trales Thema philosophischer Überlegungen.
In einer für abendländisch geprägte Menschen Trotz vieler Unterschiede in der
ungewohnten Weise wurde Organisation und chinesischen und abendländischen
Zustand des Staates in Beziehung gesetzt zu Philosophie gibt es auch Verwand-
Organisation und Zustand des Universums. Ent- tes. So steht Dao ( ), ein Begriff
wicklungen auf der einen Seite korrelierten mit der „Weg“ oder „Prinzip“ bedeutet, für die
Entwicklungen auf der anderen. Konsequenter- höchste Wirklichkeit und das Eine, aus dem alles
weise wurde astronomisches Wissen zeitweise entsteht. Dao ist vergleichbar mit dem Apeiron
in den Rang eines Staatsgeheimnisses erhoben. des ANAXIMANDER (ÅGrenzenloses und Unver-
Auch die natürliche Abfolge von Dynastien gängliches – ANAXIMANDER und PARMENIDES,
wurde in Bezug gesetzt zu zyklischen Prozessen Seite 32). Wie die griechische Philosophie
in der Natur. Das Denken des Abendlandes war versuchte auch die chinesische zu erklären, wie
kausal orientiert und das Handeln der Men- aus Einheit das Viele und das Individuelle ent-
schen zielgerichtet und linear: Alles strebte zur stehen kann und wie Veränderung in der Welt
Erlösung. Das chinesische Denken war hinge- entsteht. In der Bedeutung eines umfassenden
gen zyklisch: Auf den Menschen wartete keine Einen erscheint Dao im Daodejing g (De steht für
Erlösung, er war als Individuum Episode im Kraft oder Tugend, Jing für eine Textsammlung
Kreislauf von Staat und Universum. Statt der oder Leitfaden), einem Werk, das LAOZI (LAOTSE,
Suche nach Wahrheit und Ursachen stand Har- chin. alter Meister) verfasst haben soll. LAOZI
monie im Fokus des chinesischen Denkens. Die soll im 6. Jahrhundert v. Chr. gelebt haben, doch
Frage war weniger, durch welches Handeln ein möglicherweise war er nur eine legendäre Figur.
vorgegebenes Ziel erreicht wird, sondern wann
Handeln Erfolg im Einklang mit dem Universum Die Polarität der Welt
sichert. Diese Weltanschauung förderte etwas,
was heute im Westen systemisches Denken ge- H ell – dunkel, hart – w eich, trocken – nass,
nannt wird: das Denken in Beziehungen anstatt warm – kalt: es waren die gleichen erlebten Po-
in Kausalketten und Zweifel an der Existenz laritäten wie im Abendland. Und auch die Idee,
„objektiver“ Standpunkte oder Wahrheiten. So dass Polarität wesentlich ist für Strukturbildung
wenig wie das Gegensatzpaar objektiv-subjektiv und Dynamik, ist in beiden Kulturkreisen prä-
zum Kern des chinesischen Denkens gehört, so sent. Und dennoch ging man getrennte Wege.
wenig entwickelten sich andere Dualitäten wie Den Weg des Abendlandes kann man charak-
die Trennung von Geist und Materie oder von terisieren als Trennung zwischen Substanz und
Substanz und Eigenschaft. Eigenschaft. So spricht RENE DESCARTES (ÅRes
cogitans und res extensa – DESCARTES, Seite
54) von einer geistigen und einer materiellen
Vom Wandel in der Welt Substanz, letztere hat als einzige fundamentale
Eigenschaft die Ausdehnung. Mit deren Hilfe
versucht er die Wechselwirkungen der materiel-
Eine Quelle nicht nur sprachlicher len Dinge zu erklären. Im chinesischen Denken
Missverständnisse stand dagegen die Wechselwirkung selbst im
Vordergrund, die Vorstellung einer unverän-
Wenn wir über den Materiebegriff in der chine- derlichen Substanz, der bestimmte Eigenschaf-
sischen Naturphilosophie reden, müssen wir uns ten anhaften, findet sich kaum. Aus dem Dao
die oben beschriebenen Unterschiede im Denken entsteht weder „Materie“ noch „Geist“. Das
vor Augen halten. Gibt es überhaupt einen ent- Dao manifestiert sich vielmehr in den beiden
sprechenden Begriff in der chinesischen Spra- Prinzipien Yin ( ) und Yang ( ), die für

46
Erde, Wasser, Luft und Feuer

alle Polaritäten stehen (ÅAbbildung 3-27). Sie Qi mit der energetisch-materiellen Natur wird
sind allerdings nicht statisch, sondern gehen in gern als Bestätigung der Nähe chinesischer
einem ewigen Kreislauf ineinander über. Und Lehren zur modernen Physik gesehen,
so, wie das Verhältnis zwischen Yin und Yang es handelt sich jedoch um eine rein i
wechselt, so wechseln Jahreszeiten, Lebenspha- begriffliche Analogie, die sich dank
sen und Herrscherdynastien. Und auch wuxing, der Universalität des Begriffs „Ener-
die fünf Elemente Wasser, Erde, Holz, Feuer und gie“ leicht bilden lässt. Die dem Qi
Metall, sind keine unveränderlichen oder gar zugeordneten Eigenschaften haben
unteilbaren Substanzen, sondern verwandeln wenig gemein mit der Physik von
sich ineinander getreu dem Verhältnis von Yin Materie und Energie.
und Yang, weshalb man sie korrekter als Wand-
lungsphasen übersetzt. Wuxing – die fünf
Wandlungsphasen
Qi und Taiji
T
Im Gegensatz zu den vier Elementen Erde,
Neben Dao und Yin-Yang gibt es Wasser, Feuer, Luft handelt es sich bei den 3-27
noch weitere zentrale Begriffe, die chinesischen Elementen Holz (mu, ), Feuer Yin und Yang. Diese Prin-
zipien stehen für alle Po-
die chinesische Philosophie von den (huo, ), Erde (tu, ), Metall (jin, ) und
laritäten in der Welt. Das
frühen Anfängen an durchziehen: Wasser (shui, ) nicht um unveränderliche Taijitu (chin., Diagramm
T
Qi ( ) und Taiji ( ). Taiji kennt man im Substanzen, sondern um dynamische Zustände des Höchsten) symbo-
lisiert das rhythmische
Westen als Schattenboxen, einer chinesischen des Qi, weshalb man sie treffender als „Wand-
Wechselspiel und die ge-
Kampfkunst, die auf Taiji – Prinzipien beruht lungsphasen“ übersetzt. Erste Zeugnisse über genseitige Durchdringung
und eigentlich Taijiquan (auch Tai Chi Chuan) Wuxing ( ) kennt man bereits aus dem von Yin und Yang.
heißt. Taiji steht für das Höchste und wird in 8. Jahrhundert v. Chr. Eine Systematisierung
vielen Kontexten im gleichen Sinn wie das Dao der Lehre von Yin, Yang und Wuxing geht auf
gebraucht. Taiji vereint die Polaritäten Yin und ZOU YAN (ca. 305 – 240 v. Chr.) zurück. In den
Yang und seine Bewegungen induzieren den folgenden Jahrhunderten entwickelte sich das
Wechsel zwischen beiden. Bewegt sich das Taiji, Wuxing-Konzept zu einem zentralen Pfeiler
so produziert es Yang, ist es in Ruhe, produziert der chinesischen Philosophie. Es diente in der
es Yin. Die zyklische Bewegung und die Verei- Chemie als Erklärungsmodell für chemische
nigung von Yin und Yang im Taiji wird durch Reaktionen, in der Medizin als Modell für
das bekannte Taijitu – Symbol dargestellt, das Krankheits- und Heilungsprozesse, in der Poli-
allerdings erst seit dem 16. Jahrhundert verwen- tik als Modell für situationsgerechtes Handeln
det wird (ÅAbbildung 3-28). und Herrschaftszyklen, im Feng Shui als Mo-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

Der Begriff Qi wird meist als Energie oder, dell für die Gestaltung von Orten in Harmonie
spezieller, als Lebensenergie übersetzt. In seiner mit den Elementen und schließlich auch als
ursprünglichen Bedeutung erinnert es an das Weissagungsinstrument. Sein Charme bestand
griechische Pneuma, das alles durchdringt und darin, dass es universelle, einleuchtende Erklä-
nicht materieller, sondern universeller Natur rungsmuster für die Dynamik der Welt lieferte.
ist. Der große chinesische Philosoph ZHU XI Moderne Theorien über komplexe Systeme in 3-28
Taijitu. Das Yin-Yang-
(auch Chu Hsi, 1130 – 1200) trennte formbil- Chemie, Biologie oder Soziologie nutzen diese Symbol wie wir es ken-
dende und materielle Aspekte und identifizierte Erklärungsmuster ebenfalls, allerdings in spezi- nen (Abbildung 3-27)
Qi mit etwas, was man heute wohl mit dem fischen, mathematischen Formulierungen. ist wesentlich jünger als
die Lehre von Yin und
Begriff Materie-Energie verbinden würde. Yin Die Dynamik der Welt folgt der Wandlung
Yang. Eine frühe Form
und Yang sind die zwei Zustände des Qi und der Elemente ineinander über zwei zyklische (a) stammt von LAI ZHIDE
da alles durch die Dynamik dieser Polaritäten Prozesse, den Produktions- und den Eroberungs- (1525 – 1604) aus der
Ming-Dynastie. Aus dem
entsteht und vergeht, ist alles Qi, wenn auch zyklus. Im Produktionszyklus erzeugt ein Ele-
5. Jahrhundert ist das
in unterschiedlicher Form (Li). Zu Beginn des ment das ihm folgende: Holz erzeugt Feuer (es Symbol als Wappen rö-
Lebens empfangen wir das Qi des Himmels, wir ist leicht brennbar), Feuer erzeugt Erde (Asche), mischer Militäreinheiten
nehmen es auch auf, wenn wir atmen und wir Erde erzeugt Metall (es befindet sich in der Erde) (b, 2. Reihe von unten)
bekannt. Auch aus dem
altern, weil sich unser Lebens-Qi verbraucht. und Metall erzeugt Wasser. Dieses Muster ent- Keltischen kennt man
Die auf ZHU XI zurückgehende Identifikation des spricht der Abfolge der Jahreszeiten: Im Frühling ähnliche Formen.

47
KAPITEL 3 Historischer Überblick

phasen spricht man daher von der wechselsei-


Holz Feuer Erde Metall Wasser tigen Kontrolle und Maskierung g der Elemente.
Für Leser, die vertraut sind mit biochemi-
Jahreszeit Frühling Sommer 6. Monat Herbst Winter schen Prozessen oder Ökosystemen, sind diese
Hund Prinzipien übertragbar. Angewandt auf die
Wild-
Tiger Pferd Ochse Hahn Nahrungskette „Blattlaus-Marienkäfer-Vogel“
Tierwelt schwein
Hase Schlange Schaf Affe bedeuten sie zum Beispiel: Blattläuse werden
Ratte
Drache
von Marienkäfern gefressen (Eroberung), wel-
Zahlen 8, 3 7, 2 5, 10 9, 4 6, 1 che wiederum Vögeln zur Nahrung dienen (Er-
oberung). Wird die Zahl der Vögel erhöht, so
Himmelsrichtung Osten Süden Zentrum Westen Norden reduziert sich die Zahl der Marienkäfer, was die
Produktion von Blattläusen erhöht (Maskierung/
Planet Jupiter Mars Saturn Venus Merkur Kontrolle). Falls weniger Vögel da sind, wird die
Zahl der Marienkäfer erhöht, was die „Produk-
Geschmack Sauer Bitter Süß Scharf Salzig tion“ von Blattläusen empfindlich beeinflusst
(Maskierung/Kontrolle).
Ziegen-
Geruch Verbrannt Duftend Kräftig Faulig
artig
Praktische Anwendungen der fünf
Farbe Grün Rot Gelb Weiß Schwarz Wandlungsphasen

Im Laufe der Zeit wurden die Wandlungspha-


Organ Leber Herz Milz Lunge Nieren
sen einer Vielzahl von Kategorien zugeordnet
Haut, (Å Tabelle 3-29). Diese Zuordnungen bilden die
Körperteil Muskeln Puls Fleisch Knochen
Haare Grundlage für Diagnosen in Feng Shui oder
traditioneller chinesischer Medizin (TCM) und
Sinnesorgan Auge Zunge Mund Nase Ohr
wurden auch für die Erklärung physikalischer
Psychische Funk- Haltung, und chemischer Prozesse verwendet (ÅKasten
Sehen Denken Sprechen Hören
tion Verhalten Warum sind Schneeflocken weiß?). Kritischen
chinesischen Philosophen war bewusst, dass man
3-29 wächst das Holz, der Sommer ist heiß und sorgt auf Basis der Wuxing-Korrelationen auch Un-
Wuxing. Einige Entspre-
für Brände und am Ende steht der nasse Winter sinniges begründen konnte: Wenn das Pferd mit
chungen zwischen den
Elementen und Eigen- (Erde entspricht einem Monat zwischen Sommer Feuer assoziiert ist und die Ratte mit Wasser und
schaften bzw. Objekten. und Herbst). Im Eroberungszyklus wirken Ele- gleichzeitig Wasser Feuer erobert, sollten Ratten
mente zerstörerisch aufeinander und „erobern“ eigentlich Pferde jagen...
sich gegenseitig. Der Eroberungszyklus ist eine Die Anwendung der Prinzipien des Wuxing
Verallgemeinerung anschaulicher Vorstellungen: konnte daher nicht schematisch erfolgen, etwa
Holz kann Erde erobern in Form eines Holzspa- so wie man ein physikalisches Gesetz auf ein
tens oder eines Baums, der in der Erde wurzelt. mechanisches Problem anwendet. Ein intui-
Wasser erobert Feuer, denn es kann es löschen. tives Gespür darüber, was „herauskommen“
Metall erobert Holz, denn es kann dieses schnei- sollte, war notwendig. Die Erklärungskraft der
den, Feuer erobert Metall, denn es kann dieses Wuxing-Prinzipien wie auch der westlichen
schmelzen. Erde kann Wasser eindämmen oder Vier-Elemente-Lehre ist deshalb gering, ganz
aufnehmen. Es ist unmittelbar einsichtig, dass zu schweigen von der Vorhersagekraft für noch
ein Element, das ein anderes zerstört, dessen unbekannte Phänomene. So blieb der chinesi-
Produktionszyklus direkt beeinflusst, es „kont- schen Heilkunde das Phänomen der Ansteckung
rolliert“ ihn: Wenn Metall Holz zerstört, kann unbekannt, weshalb bei der großen Pestepidemie
Holz weniger Feuer produzieren. Andererseits Ende des 19. Jahrhunderts in Peking die moder-
gilt: Wenn ein Element ein anderes zerstört, nen westlichen Hygienevorschriften wirksamer
kann dies durch eine verstärkte Aktivität des waren als die traditionellen Methoden. Dies
Elements kompensiert werden, welches das zer- führte zu einem Niedergang des Ansehens der
störte Element produziert. Die Zerstörung wird TCM in China. MAO ZEDONG ließ die TCM mo-
„maskiert“. In der Lehre von den Wandlungs- dernisieren und verhalf ihr zu neuer Beachtung.

48
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Wellen statt Atome Welt als mathematische Gleichungen zu for-


mulieren, die quantitative Vorhersagen anstelle
Wenn das Yang seinen Höhepunkt erreicht hat,
zieht es sich zugunsten des Yin zurück; wenn weitgehend qualitativer Interpretationen liefern.
das Yin seinen Höhepunkt erreicht hat, zieht es
sich zugunsten des Yang zurück. Chinesische Alchemie
...
Wenn Kräfte ihren Höhepunkt erreicht haben, Die Prinzipien von Yin, Yang und Wuxing fan-
beginnen sie schwächer zu werden und wenn
den auch in der chinesischen Chemie und Al-
sich natürliche Dinge vollständig angehäuft
haben, beginnen sie sich wieder zu zerstreuen. chemie Anwendung. Ähnlich wie im Abendland
vor BOYLE und LAVOISIER blieb auf dieser Basis
JOSEPH NEEDHAM (1900 – 1995) bemerkte in sei- das theoretische Wissen über die Natur chemi-
nem Monumentalwerk Wissenschaft und Zivili- scher Reaktionen gering. Allerdings verfügten
sation in China, dass offenbar nur Kulturen, die Chinesen bis ins 16. Jahrhundert hinein über
über ein Alphabet verfügten, Atomvorstellungen überlegenes Wissen in der Metall- und Kera-
entwickelten. Der Methode, Sätze aus „ato- mikverarbeitung. Auch wurde in China bereits
maren“ Buchstaben zu bilden, liegt schließlich einige Jahrhunderte vor Christus nach Erdgas
ein analoger Gedanke zugrunde. Ob tatsächlich gebohrt und Schwefelhölzer wurden bereits im
ein systematischer Zusammenhang zwischen zehnten Jahrhundert erwähnt, während in Eu-
Schriftformen und Atomvorstellungen besteht, ropa erst seit dem 16. Jahrhundert von ihnen
sei dahingestellt. Während sich aber sowohl in berichtet wird. Auch in China entwickelte sich
Indien als auch im antiken Griechenland atomis- schon früh eine alchemistische Tradition, die
tische Vorstellungen entwickelten, waren diese wie im Westen die Goldherstellung und das
in China kaum verbreitet, obwohl sie durch den ewige Leben zum Ziel hatte. Altern wird in der
indischen Buddhismus auch dort bekannt waren. chinesischen Philosophie mit dem Verbrauch der
Dem chinesischen Denken näher standen Lebensenergie Qi assoziiert. Analog korrodieren
Vorstellungen, die man in der modernen Phy- Metalle durch Verbrauch an Qi. Offenbar gilt
sik als „Wellentheorien“ bezeichnen würde: dies jedoch nicht für Gold, sein Qi scheint sich
Yin und Yang wechseln sich zyklisch ab und nicht zu verbrauchen. Wenn man herausfand,
alle Dinge schwingen mit dem ihnen eigenen wie Gold sein Qi konserviert, sollte der Alte-
Rhythmus wie in einem Orchester. Generell rungsprozess auch bei Menschen aufzuhalten
war der Unterschied zwischen greifbarer Ma- sein. Die Suche nach einem Elixier des ewigen
terie und Energie im chinesischen Denken nur Lebens in China entsprach der abendländischen
gradueller Natur. Es handelte sich lediglich um Suche nach dem Stein der Weisen (ÅElixiere und
verschiedene Zustände des Qi. Hier trifft sich das opus magnum, Seite 62). —
klassisches chinesisches Denken mit Konzep-
ten der modernen Physik. Man hat auch keine
Mühe, sich eine Wirkung des Qi über weite Warum sind Schneeflocken weiß?
Distanzen vorzustellen. Die grundlegenden kon-
zeptionellen Probleme, denen sich westliche Wie die Prinzipien der chinesischen Philosophie auch zur Erklärung
Physiker gegenüber sahen, als sie sich von der natürlicher Phänomene angewandt wurden, läßt sich am Beispiel der
Idee einer rein materiellen Welt verabschieden Schneeflocke eindrucksvoll zeigen.
mussten, wären in diesem Kontext wohl kaum Eine Schneeflocke ist sechseckig, da Schnee und Frost durch Kon-
aufgetreten. Wenn Qi überall war, warum soll- densation von Regen und Tau entstehen und Wasser der Zahl 6 ent-
ten Gravitation, Licht und Magnetismus nicht spricht. Wasser wird durch Metall erzeugt. Da Schnee der ultimative
„materielos“ wirken? Zustand des Yin ist, enthüllt ein damit verbundener Überschuss an Qi
Wenngleich die chinesische Ingenieurskunst die Mutter des betroffenen Elements, bei Wasser also Metall. Daraus
der abendländischen bis zum 15. Jahrhundert folgt: Frost und Schnee sind völlig weiß, da Metall die Farbe Weiß
überlegen war, entstanden in diesem Zug keine zugeordnet wird. Die verschiedenen Metalle wie Gold, Kupfer oder
ausgereiften Materietheorien oder eine Mecha- Quecksilber entstehen entsprechend der numerologischen Verhältnisse
nik wie wir sie aus der abendländischen Physik in bestimmten Gegenden (Himmelsrichtungen), nach einer bestimmten
kennen. Hierfür fehlte der chinesischen Wissen- Zeit und haben eine bestimmte Farbe.
schaft die Fähigkeit, Wissen über die materielle

49
KAPITEL 3 Historischer Überblick

Der Advent der modernen jenseits der herrschenden Dogmen entwickeln.


Naturwissenschaft Gleichzeitig strömte nach der Eroberung Kons-
tantinopels durch die Osmanen 1453 eine große
Eine Zeit des Umbruchs – Zahl von Gelehrten nach Italien. Sie brachten
die frühe Neuzeit verschollene Schriften antiker Philosophen mit,
insbesondere Werke von PLATON und seinen
Unter der frühen Neuzeitt versteht man heute geistigen Erben. Die Entwicklung des Buch-
die Zeit vom 15. Jahrhundert bis zur französi- drucks mit beweglichen Lettern 1450 durch
schen Revolution 1789. Es war eine Zeit des JOHANNES GUTENBERG (um 1400 – 1468) sorgte
Aufbruchs und der Entdeckungen, die zu einer dafür, dass dieses Wissen schneller als je zuvor
kolossalen Erweiterung des Wissens und der verbreitet wurde. Auch spätantike Lehren wie
technisch-handwerklichen Fertigkeiten führten. der Hermetismus erlebten eine Wiedergeburt
Der Sprung war so groß, dass das Abendland im (Å Geheimnisvoll – Der Hermetismus, Seite
Laufe dieser Epoche alle anderen Hochkulturen 40). In dieser Zeit entstanden erstmals Bilder
in technisch-wissenschaftlicher Hinsicht weit einer weitgehend autonomen Natur, die nach
hinter sich ließ. eigenen Gesetzen „funktioniert“.
Nicht zufällig begann die Neuzeit in Italien Viele umwälzende Dinge geschehen zu
im 15. Jahrhundert, in der Renaissance (franz. dieser Zeit. 1543 proklamiert KOPERNIKUS
Wiedergeburt). In den freien Städten wie Ve- (1473 – 1543) sein heliozentrisches Weltbild,
nedig und Florenz kam das Bürgertum durch CHRISTOPH KOLUMBUS (um 1451 – 1506) ent-
den Handel zu Wohlstand und Selbstbewusst- deckt 1492 die Neue Welt und MARTIN LUTHER
sein. In ihrem Schutz konnten sich Gedanken (1483 – 1546) veröffentlicht 1517 in Wittenberg

Perspektivwechsel in der frühen Neuzeit

Welch gewaltiger Perspektivwechsel in dieser Epoche statt- Ganz anders das Titelblatt zu FRANCIS BACONs (1561 – 1626)
fand, wird bei der Gegenüberstellung von Bildern aus dem unvollendetem Hauptwerk Instauratio magna, in dem er un-
13. und 17. Jahrhundert deutlich. Als Sinnbild mittelal- ter anderem seine neue wissenschaftliche Methode darstellt.
terlichen Weltverständnisses kann eine Abbildung DANTE Es zeigt den Weg hinaus durch die Säulen des Herkules bei
ALIGHIERIs (1265 – 1321) göttlicher Komödie dienen. DANTEs Gibraltar in den endlosen Ozean; ein Weg zu neuen Ufern,
Dichtung beschreibt seinen Weg von der Erde über die Stufen von dem man zurückkehrt mit fremden Gütern und neuen
der Hölle zum Fegefeuer und von dort über die Himmels- Erkenntnissen. BACONs Welt ist nicht festgefügt und endlich,
sphären zum Paradies. Seine Welt ist in Stufen eingeteilt, sie erscheint grenzenlos und Neugier ist keine Sünde mehr
alles hat seinen Platz, jede Sünde eine bestimmte Strafe. Gott wie noch im Mittelalter, sondern eine Tugend.
ist oben, der Teufel im Mittelpunkt der Erde, es gibt Gut und
Böse. Die Welt ist theozentrisch und endlich.

3-30 3-31
Dantes Göttliche Komödie. Zu neuen Ufern. Das Titelblatt
DANTEs Dichtung über Hölle, zu FRANCIS BACONs Hauptwerk
Fegefeuer und die himmlischen aus dem frühen 17. Jahrhundert
Sphären repräsentiert die wohl- zeigt die Säulen des Herakles bei
geordnete, endliche Welt des Gibraltar, das T
Tor zur Weite des
Mittelalters. Zentrum der Nord- atlantischen Ozeans.
halbkugel ist Jerusalem. Von dort
geht es hinab zur Hölle (Hell) und
wieder hinauf zum Fegefeuer
(Purgatory), das auf der Südhalb-
kugel Jerusalem gegenüber liegt.
Es folgen das irdische Paradies,
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

die Planenten und die Sterne und


schließlich das Empyrion, der Sitz
Gottes.

50
Erde, Wasser, Luft und Feuer

seine reformatorischen Thesen. Damit beginnt allgemeiner Prinzipien durch logisches


eine über hundert Jahre währende Zeit der Glau- Schließen zu finden (Deduktion) n,
bensspaltung, die das kontinentale Europa bis solle man besser durch ein forma--
1648 in eine Serie von Kriegen, Hungersnöten les Verfahren aus Beobachtung
und Epidemien stürzt. In dieser Zeit findet auch u nd Ex p eriment Erkenntnis
eine wirtschaftliche und militärische Machtver- über die Gesetze der Natur ge-
schiebung statt: Anstelle der „alten“ Mittel- winnen (Induktion). Seiner An-
meermächte steigen England und die seit 1581 sicht nach lag das Problem der
unabhängige Republik der Sieben Vereinigten zeitgenössischen Wissenschaft in
Niederlande zu Großmächten auf und auch der der Annahme, dass das, was Men- n
Schwerpunkt der Wissenschaften verschiebt sich schen unmittelbar erfahren und sich
vom Italien GALILEIs in das liberalere England dabei denken, auch tatsächlich auf genau
3-33
und die Niederlande, aber auch nach Frankreich diese Weise real ist. Er sprach von Trugbildern, Fossilienbildung. Der
und ins Heilige Römische Reich. die uns fehlleiten, wie die Trugbilder der Gat- Töpfer BERNARD PALISSY
tung (Idola Tribus): die Gattung Mensch neige schuf TTonplastiken durch
Abformung natürlicher
Umbruch in der Wissenschaft dazu, Dinge und Vorgänge aus menschlicher Strukturen und entwi-
Sicht zu sehen und zu beurteilen. Dabei verlören ckelte aufgrund seiner
Statt scholastischer Gelehrsamkeit stand in der die Dinge der Natur ihre Eigentümlichkeit und Erfahrungen eine viel
beachtete Theorie der
frühen Neuzeit zunehmend Beobachtung und würden von der Denkweise oder den Affekten Fossilienbildung.
praktische Erfahrung im Vordergrund. Dadurch des Forschers beeinflusst. Beispiele sind für ihn
wurden auch andere Bevölkerungsgruppen, plötzliche oder außergewöhnliche Vorgänge, die
insbesondere Handwerker, mit einbezogen. So wir gerne überbetonen.
gewann WILLIAM GILBERT (1544 – 1603) wich-
tige Erkenntnisse zur Wirkung des Kompass Ein unendliches Universum?
durch die Arbeiten des Seemanns und Kom-
passmachers ROBERT NORMANN und der Töp- Nicht nur auf der Erde werden in der frühen
fer BERNARD PALISSY (1510 – 1589) entwickelte Neuzeit Grenzen überschritten, auch der wohl-
aufgrund seiner Erfahrungen mit Abdrücken von geordnete endliche Kosmos des Mittelalters
Seetieren eine Theorie der Fossilienbildung. Die wird in Frage gestellt. Für GIORDANO BRUNO
frisch gegründete Royal Society gab seit 1662 (1548 – 1600) ist das Universum unendlich
Reisenden jedes Standes einen speziellen Frage- mit vielen Welten wie der unseren und ohne
bogen mit auf den Weg, um Informationen über Mittelpunkt. Auch sein englischer Zeitgenosse
fremde Gegenden zu erhalten. THOMAS DIGGES (1546 – 1595) geht davon aus,
Als intellektuelle Zentren der neuen Wis- dass der Fixsternhimmel unendlich und der
senschaften bildeten sich Akademien, wie die Wohnort Gottes sei. Bereits im 17. Jahrhundert
berühmte römische Academia Linceii (1603), der wird die mögliche Existenz anderer bewohnter
GALILEI angehörte, die nicht weniger berühmte Welten ein Modethema in der populären und
britische Royal Society (1660), die NEWTON zu philosophischen Literatur.
ihren Mitgliedern zählte und die französische
Académie de Sciences (1699), sowie die 1652 Kein perfekter Himmel
in Schweinfurt als Academia Naturae Curiosum
gegründete Leopoldina. Andere Entdeckungen rütteln an der Vorstel-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

lung vollkommener Himmelssphären. Der dä-


Eine neue Methode der Wissenschaften nische Astronom TYCHO BRAHE (1546 – 1601)
– Francis Bacon erkennt, dass Kometen keine atmosphärischen
Erscheinungen sein können, wie man seit ARIS-
Der bedeutende englische Philosoph und Staats- TOTELES glaubte, sondern dass es sich um Him-
3-32
mann FRANCIS BACON (1561 – 1626) unternahm melskörper handelt. Und als GALILEO GALILEI Galileis Mondzeichnun-
es, der neuen experimentellen Wissenschaft eine (1564 – 1642) und seine Zeitgenossen das neu gen. Diese Zeichnungen
methodische Grundlage zu verschaffen, die den entdeckte Fernrohr auf den Himmel richten, des Mondes von Galilei
zeigen deutlich den bergi-
traditionellen Weg der Erkenntnisgewinnung finden sie einiges, was nicht zu den herrschen- gen, „irdischen“ Charak-
auf den Kopf stellte. Anstelle Wahrheiten mittels den Vorstellungen passt. Der Jupiter verfügt ter des Mondes.

51
KAPITEL 3 Historischer Überblick

über Monde, also gibt es Himmelskörper, die was veranlasste die Planeten dazu, um die Sonne
nicht um die Erde kreisen, und der Mond hat zu kreisen wie KOPERNIKUS behauptete und was
Berge, ist also der Erde ähnlicher als dem Him- bewirkte den Fall aller Körper in Richtung
mel. Auch die Sonne ist keineswegs makellos, Erdmittelpunkt? Zwei Namen sind besonders
sondern zeigt Flecken. mit dem Sturz des scholastischen Weltbildes
aristotelischer Prägung verbunden: JOHANNES
Keine Angst vor dem Vakuum KEPLER (1571 – 1630) und GALILEO GALILEI, der
erkannte, dass die Beschleunigung beim freien
Noch ein als unverrückbar geltendes antikes Fall Folge einer Krafteinwirkung war. KEPLER
Prinzip sollte im Lauf des 17. Jahrhunderts fal- hingegen suchte nach einem Kraftbegriff, der
len: die Vorstellung, dass die Natur ein Vakuum mit seinen Gesetzen der Planetenbewegung kom-
nicht zulässt, den horror vacui. patibel war.
Noch GALILEI glaubte 1638 an dieses Prinzip, Einen anderen Weg ging kurz darauf RENÉ
versuchte jedoch bereits, dieses Widerstreben DESCARTES. Für ihn reduzierten sich Kräfte auf
der Natur quantitativ zu bestimmen. Es sollte Stoßprozesse zwischen kleinsten Teilchen, die
allerdings noch zwei Jahrzehnte dauern bis sich den Raum lückenlos ausfüllen. Kräfte sind keine
durch Versuche von EVANGELISTA TORICELLI realen physikalischen Entitäten. Für DESCARTES
(1608 – 1647), BLAISE PASCAL (1623 – 1662), existierten die ausgedehnte Materie (res extensa),
EDME MARIOTTE (1620 – 1684) und ROBERT BO- die Bewegung und der Geist (res cogitans), sonst
YLE (1627 – 1691) die Vorstellung durchsetzte, nichts (ÅRes cogitans und res extensa – DESCAR-
dass zumindest ein luftleerer Raum existieren TES, Seite 54).
kann, in dem kein Feuer brennt, der von Schall
nicht durchdrungen wird und in dem Tiere Gravitationskraft und Trägheit
verenden. Dass der äußere Luftdruck für den
Widerstand gegen das Vakuum verantwortlich Wenn die kreisförmige Bewegung der Planeten
ist, wurde ebenfalls erkannt und unter anderem keine „natürliche“ ist, so muss es einen äu-
durch OTTO VON GUERICKES (1602 – 1686) spek- ßeren Zwang geben, der sie auf Kreisbahnen
takulären Versuch 1654 auf dem Reichstag in hält. Und wenn es keinen „natürlichen“ Ort der
Regensburg demonstriert (Å Abbildung 3-34). Körper gibt, so bedarf es ebenfalls eines äußeren
3-34
Magdeburger Halbkugeln. Zwangs, der sie zum Fallen bringt. Zwangsbe-
Der Magdeburger Bürger- Aristoteles’ Fall wegungen setzten aber einen Beweger voraus,
meister OTTO V. GUERICKE eine vis anima. KEPLER durchbrach diese seit der
(1602 – 1678) demons-
trierte 1654, dass man Trotz der im Mittelalter bereits erfolgten Modi- Antike geltende Trennung zwischen Bewegtem
zwei leergepumpte, anei- fikationen der peripatetischen Mechanik fehlte und Beweger, zwischen aktivem und passivem
nander gesetzte metallene auf diesem Gebiet noch der entscheidende Element. Für ihn war Anziehung wechselsei-
Halbkugeln auch mit 16
Pferden nicht auseinander Durchbruch. Wenn es keine „natürlichen“ Orte tig: So wie die Erde einen Stein anzieht, wirkt
reißen kann. und „natürliche“ Bewegungen der Körper gab, dieser auch auf die Erde. Und so wie die Erde
den Mond und die Ozeane anzieht, wirkt der
Mond auf die Ozeane und erzeugt den Wechsel
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

zwischen Ebbe und Flut. Aber wie sollte diese


Anziehung wirken? KEPLER orientierte sich an
der Magnetkraft, die ja ebenfalls wechselseitig
wirkt. Er nahm an, dass sich die Sonne um ihre
Achse dreht. Diese Eigendrehung sollte eine Dre-
hung des Gravitationsfelds der Sonne bewirken
und dadurch die Planeten auf ihrer Kreisbahn
mitziehen, ganz wie in einem Kettenkarussell.
Analog bewirkt die Drehung der Erde das Krei-
sen des Mondes und gleiches gilt auch für den
Jupiter. KEPLER konnte sich bestätigt fühlen, als
kurz darauf die Eigendrehung der Sonne an-
hand der Sonnenflecken nachgewiesen wurde.
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Sein Magnetmodell der Gravitation ist das erste fallen gleich schnell, weil pondus und moles
rein mechanische Modell der Gravitationskraft einander proportional sind.
und der Planentenbewegung, das ganz ohne
die Annahme „natürlicher“ Bewegungen und
bewegender Seele auskam. Galileo Galilei – die Geburt der
KEPLER nahm an, dass beim Wegfall der
modernen Mechanik
antreibenden Gravitation jeder Körper aus ei-
ner Bewegung zur Ruhe kommt. Trägheit, oder GALILEIS Hauptwerk, die Unterredungen und
„inertia“ (von lat. iners, träge), wie es KEPLER mathematischen Demonstrationen über zwei
nannte, war also das Bestreben eines Körpers, Wissenszweige, die Mechanik und die Fall-
zur Ruhe zu kommen. Zu KEPLERs Zeit hatten gesetze betreffendd ist in mehrfacher Hinsicht
sich andere schon von dieser Vorstellung ge- wegweisend für die Physik: Es ist nicht in La-
trennt und gingen davon aus, dass Trägheit dazu tein, sondern in Italienisch geschrieben, seine
führt, dass ein Körper eine einmal gewonnene Sprache ist klar verständlich und es ist ein aus
Geschwindigkeit beibehält. So nahm der Nieder- heutiger Sicht modernes Werk, das detailliert be-
länder ISAAC BEECKMAN (1588 – 1637) an, dass schriebene Experimente und zugehörige Theorie
die Gravitation wie kleine Stöße wirkt, die einem miteinander verbindet. Da GALILEI seit seinem
Körper einen Geschwindigkeitszuwachs erteilen, Inquisitionsprozess 1633 unter Hausarrest stand
der auch erhalten bleibt. Durch fortwährende und nichts veröffentlichen durfte, erschienen
Stöße während des Falls kommt es zu einer lau- die Unterredungen 1638 zunächst bei LOUIS
fenden Geschwindigkeitserhöhung. Im Grenzfall ELSEVIER im holländischen Leiden, vier Jahre
immer kleinerer Zeitintervalle und Stöße erhält vor GALILEIS Tod.
man durch dieses Bild das von GALILEI aufge-
stellte Fallgesetz. BEECKMANS Stoßmodell inspi- Wann Balken brechen
rierte auch DESCARTES, der die inertia ablehnte,
da Ausdehnung für ihn die einzige Eigenschaft Neben seinen astronomischen Entdeckungen
eines Körpers war. gilt GALILEI zuallererst als Entdecker der Fallge-
Zu KEPLERs und GALILEIs Zeiten existierte setze. Weniger bekannt sind seine ausführlichen

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


noch kein klares Bild über den Zusammenhang Berechnungen zur Festigkeitslehre. Ausgangs-
von Trägheit, Gewicht, Fallgeschwindigkeit und punkt war das bekannte Phänomen, dass große
deren Abhängigkeit von der Materiemenge, der Maschinen oder Bauwerke zusammenbrechen,
quantitas materiae, wie auch immer man diese während kleinere mit gleichen Proportionen sta-
definieren mochte. Allerdings nutzte bereits GA- bil bleiben. Mittels Geometrie und Verwendung
LILEI intuitiv entsprechende Äquivalenzbezie- des altbekannten Hebelgesetzes zeigte GALILEI, 3-35
Riesenknochen. GALILEI
hungen. So setzte er die Kraft, die einen Körper dass die Bruchfestigkeit nicht im gleichen Maß
erkannte, dass Riesen
zum Fall antreibt, gleich mit der Kraft, die man wächst wie die entstehenden Drehmomente, eher unförmig wären, da
benötigt, ihn zu halten. Unter Verwendung mo- wenn Proportionen vergrößert werden. Ab einer ihre Knochen nicht nur in
der Länge, sondern auch
derner Terminologie gesprochen: Er nahm an, bestimmten Größe genügt schon das Eigenge-
in der Dicke wachsen
dass die träge Masse gleich der schweren Masse wicht eines Körpers, um ihn brechen zu lassen. müssten, um die gleiche
ist. Die träge Masse bestimmt, welche Kraft Daher müssten auch Riesen eher unförmig sein, Festigkeit zu erreichen.
benötigt wird, einen Körper zu beschleunigen, sofern sie nicht im Wasser lebten. Durch den Wale hingegen wirken
nicht unförmiger als an-
und die schwere Masse bestimmt die Stärke der Auftrieb reduziert sich im Wasser das Gewicht dere Wasserbewohner,
Gravitationskraft. des Körpers und damit die Belastung (ÅRiesen- wie Fische, da der Auftrieb
Auch anderen wurde bewusst, dass ein knochen, Abbildung 3-35). das Gewicht des Körpers
reduziert.
Körper eigentlich zwei Eigenschaften besitzt.
GIOVANNI BATTISTA BALIANI (1582 – 1666) un- Unendlich kleine T
Teilchen und der horror
terschied 1638 zwischen einem externen akti- vacui
ven Prinzip des schweren Körpers (lat. pondus,
Gewicht) und einem inneren, passiven Prinzip GALILEI ist kein Atomist, aber er glaubt, dass
(lat. moles, wuchtige Masse), das die Trägheit Körper aus unendlich vielen, unendlich kleinen
des Körpers bezüglich Bewegung verursacht. Teilchen bestehen. GALILEIs hohe mathematische
Körper unterschiedlichen Gewichts (pondus) Intuition zeigt sich bei der Frage, wie unendlich

53
KAPITEL 3 Historischer Überblick

viele unendlich kleine Teilchen endliche Körper geschieht, in dem mehr und mehr unendlich
unterschiedlicher Größe bilden können. Wenn kleine Leerstellen zwischen die Teilchen gescho-
zwei Körper beide aus unendlich vielen Teilchen ben werden. Auf ähnliche Weise schmilzt ein
bestehen, wie können sie dann verschieden groß fester Stoff. Die unendlich kleinen Feuerteilchen
sein? Anhand der beiden unendlichen Mengen drängen sich in die Leerstellen, wodurch die
der Quadrat- und der natürlichen Zahlen macht Kraft des Vakuums reduziert wird, der Stoff löst
er anschaulich klar, dass bei unendlichen Men- sich in seine kleinen Teilchen auf. Beim Festwer-
r
gen Größenvergleiche nicht funktionieren. Eine den verschwinden die Feuerteilchen wieder aus
3-36 formale Theorie der Mächtigkeit unendlicher den Zwischenräumen (ÅAbbildung 3-36).
Feuerteilchen. Feste Mengen wurde erst Jahrhunderte später von Indem GALILEI unendlich kleine Teilchen und
Körper schmelzen, weil GEORG CANTOR, dem Vater der Mengenlehre, unendlich kleine Zwischenräume annimmt, um-
die kleinen Feuerteilchen
in die unendlich kleinen entwickelt. GALILEI glaubt, dass für die Festigkeit geht er die Argumente ARISTOTELES gegen Atome
Zwischenräume eindrin- der Körper der Widerstand der Natur gegen das und das Vakuum. Die unendlich kleinen Teilchen
gen. Dadurch können sich Vakuum, der horror vacui verantwortlich ist. entstehen nicht durch fortwährende Teilung,
die T
Teilchen auseinander
bewegen, ohne dass ein
Diese Kraft sorgt für den Zusammenhalt der bis unteilbare Teilchen übrigbleiben. Auch das
Vakuum entsteht. unendlich kleinen Teilchen. Diese sind nämlich Vakuum existiert nicht als ein Stück unteilbarer
durch unendlich kleine Leerstellen voneinander Raum, die Leerstellen zwischen den Teilchen
getrennt. Die Kraft des Vakuums verhindert, haben keine messbare Ausdehnung. GALILEI ge-
dass sich diese Leerstellen vergrößern. lingt es, mit den Begriffen unendlich viell und
Flüssigkeiten sind Stoffe, deren unendliche unendlich klein so geschickt umzugehen, dass er
kleine Teilchen frei beweglich sind. Verdünnung alle Gegenargumente unterlaufen kann.

Galileis Festigkeitslehre
Res cogitans und res extensa –
DESCARTES
GALILEI ging davon aus, dass Körper starr
sind, das heißt, sie verändern ihre Form nicht RENÉ DESCARTES (1596 – 1650) berühmtester Satz
unter Belastung. Nur unter dieser Bedingung ist zweifellos das Cogito ergo sum, zu Deutsch:
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

gelten die Formeln GALILEIs. So kommt er Ich denke, also bin ich. Die Popularität dieses
zu dem Schluss, dass die maximale Länge, Satzes lässt sich kaum besser illustrieren als durch
die ein Draht haben kann, bevor er durch seine Verwendung in Medien, die eher selten
sein Eigengewicht reißt, nicht von dessen mit Philosophie assoziiert werden: Werbung und
Dicke abhängt. Dies trifft zu, wenn die (ma- Comics (ÅAbbildung 3-37/38).
3-37
terialabhängige) Reißfestigkeit proportional Der wahre Antrieb DESCARTES, der ihn zu diesem
Asterix denkt. In Asterix
der Legionär stellt Obelix zum Durchmesser des Drahtes ist. Da sich Satz führte, war der Zweifel. DESCARTES ging es
ganz im Sinne Descartes’ ein Draht aber unter Belastung dehnt und darum, herauszufinden, was wir sicher wissen
klar, welche Rolle Asterix damit sein Durchmesser abnimmt, wird er können. Er stellte fest, dass wir an der Existenz
und er einnehmen.
wesentlich früher reißen. Nach GALILEIs Be- von allem zweifeln können, nur nicht am Zwei-
rechnungen sollte ein Kupferdraht bei einer fel selbst. Da der Zweifel ein Produkt unseres
Länge von 4800 Ellen reißen, da ein Draht Denkens ist, ist zumindest unser Geist real – co-
von einer Elle Länge maximal 600 Unzen gito ergo sum. Da wir darüber hinaus Gott als
trägt und selbst 1/8 Unze schwer ist. vollkommenes Wesen denken können, muss er
GALILEI nahm an, dass der horror vacui, existieren. Die Wirkung – nämlich unser Denken
das Widerstreben der Natur gegen das Va- an Gott – kann ja nicht größer sein als deren Ur-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

kuum, für den Zusammenhalt der Materie sache – also Gott selbst. Wenn Gott vollkommen
verantwortlich ist. Die Vakuumkraft ist es, ist, so wird er uns auch nicht täuschen wollen,
die verhindert, dass ein Kupferdraht reißt. das heißt, die Außenwelt ist keine Illusion, son-
Da nun eine Wassersäule ab einer Höhe von dern real, ebenso wie unsere Vorstellungen über
achtzehn Ellen abreißt, Kupfer aber neunmal Logik und Mathematik und allem, was unserem
3-38 schwerer ist als Wasser, sollte die Vakuum- Geist evident erscheint, also vernünftig g ist. Wenn
iMac ist für Denker. Auch
für Werbung nutzt man kraft so stark sein wie das Gewicht von zwei aber unsere Vernunft sicheres Wissen vermittelt,
DESCARTES. Ellen Kupfer, also ¼ Unze. so bedeutet Forschen, die allgemeinen Prinzipien

54
Erde, Wasser, Luft und Feuer

zu finden, die den Naturerscheinungen zugrunde laufen unsere Beine? Es ist keine Kraft bekannt,
liegen. Die Überzeugung, dass es solche Grund- die derartige Wechselwirkungen vermittelt.
prinzipien hinter allen Naturerscheinungen gibt
und dass sie so real sind wie die Erscheinungen Konsequent mechanisch –
selbst, bezeichnet man als Rationalismus (lat. Descartes Erklärung der Welt
ratio, Vernunft). Hier steht DESCARTES im Gegen-
satz zu angelsächsischen Philosophen wie JOHN DESCARTES legte weniger Wert auf empirische
LOCKE (1632 – 1704), für die alle Erkenntnis auf Bestätigung als auf das Entdecken der Grund-
Erfahrung beruht, es mithin kein sicheres Wissen prinzipien natürlicher Vorgänge. Er ging der
gibt. Obwohl sich Naturwissenschaft heute längst Frage nach, wie denn die res extensa strukturiert
auf einer eher pragmatischen Position zwischen sei und wie ihre vielfältigen Erscheinungsformen
dem Empirismus LOCKEs und dem Rationalismus auf der Erde und im Himmel erklärt werden
DESCARTES befindet, kann man noch heute in der können. Er entwickelte eine Korpuskulartheorie
zeitgenössischen Philosophie Frankreichs bezie- der Materie, die wenig gemein hatte mit den
hungsweise Englands und Amerikas diese Tren- Atomtheorien seiner Zeit (ÅVon Minima Natu-
nungslinie spüren, insbesondere bei der Frage ralia zu Atomen, Seite 64). Ihr Schwerpunkt
nach dem Verhältnis zwischen Körper und Geist. lag in der konsequenten Anwendung rationaler
Prinzipien zur quantitativen Beschreibung der
Nicht aus einem Stoff gemacht – Welt. Dazu gehört bei DESCARTES auch die Ab-
Körper und Geist sage an den leeren Raum, das Universum ist bei
ihm vollständig mit Materie gefüllt. Wie aber
Im Gegensatz zur Gewissheit unseres Geistes können sich Körper bewegen, wenn kein Zwi-
können wir an der Existenz unseres Körpers schenraum existiert? Hier entwirft DESCARTES
zweifeln, wie uns Träume zeigen. In Träumen einen Kosmos aus drei unterschiedlichen Ma-
tun wir im Geist Dinge, ohne dass sich unser terieformen, die zusammen dicht gepackt und
Körper rührt. Es gibt also offenbar einen Unter- dennoch beweglich sein sollen. Die erste Form
schied zwischen beiden. Für DESCARTES war die besteht aus sehr kleinen, schnellen Teilchen, die
Ausgedehntheit die einzige Eigenschaft, die wir zweite aus kugelförmigen, die sich langsamer
Körpern sicher zusprechen können. Neben dem bewegen und die dritte aus grobkörnigen, sich
Geist, der res cogitans, gibt es also noch die res ebenfalls nur langsam bewegenden Teilchen.
extensa, die ausgedehnte Substanz. Und Aus- Natürlich unterscheiden sich die drei Materie-
dehnung impliziert Bewegung, nämlich dann, formen nicht stofflich, sondern nur durch ihre
wenn sich das Ausgedehnte von einem Ort zum Ausdehnung.
anderen bewegt. Alle anderen Phänomene, auch DESCARTES
R beschreibt, wie Kosmos und Erde
die Grundqualitäten Nass, Trocken, Warm und und alle Stoffe entstehen konnten: Zu Beginn des
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

Kaltt der antiken Philosophie, sollten auf die Universums war die Materie in gleich große, sich
Ausgedehntheit und die Bewegung der Körper gegeneinander bewegende Teile geteilt, aus denen
zurückgeführt werden, also auf die Mechanik. durch Bewegung mit der Zeit kleine, schnelle und
Die Zweiteilung zwischen Geist und Kör- mittlere bis große, langsame Körper entstanden.
per, der sogenannte Dualismus, prägte lange Aus den anfangs beliebig geformten Körpern
3-39
Zeit die Philosophie des Geistes. Für manche bilden sich so mit der Zeit kugelförmige Teilchen, Der Kosmos als Wirbel-
Philosophen bildete er die Basis für Argumente deren Kanten durch ständiges Aneinanderstoßen geflecht. Der Himmel ist
gegen die Materialisierung des Geistes. Aufbau abgeschliffen werden. Die entstehenden Split- ausgefüllt von Materiewir-
beln, wobei sich im Zen-
und Funktion des Gehirns könne niemals Geist ter bilden die feinsten Teilchen und füllen die
trum eines jeden Wirbels
erklären. Auf der Gegenseite standen Materialis- Zwischenräume aus. Größere Stücke bleiben als (L, C, S, O, K) die feine
ten, die keinen Grund dafür sahen, eine zweite dritte Form zwischen den Kugeln und Splittern erste Materie sammelt
und die Sonne (S) und Fix-
Substanz einzuführen, um Geist zu erklären. bestehen. Der Kosmos ist lückenlos, aber nicht
sterne bildet. Die Wirbel
Geistige Tätigkeit ist ihrer Ansicht nach eine gleichmäßig ausgefüllt mit diesen Formen. Er rotieren längs der Achsen
Folge von Zustandsänderungen unseres Gehirns. besteht aus riesigen Wirbeln, in deren Mitte je- AB, TT,
T ZZ usw. Materie
Ein fundamentales Problem des Dualismus ist weils ein Stern steht (ÅAbbildung 3-39). Die Erde wird immer an den Polen
der Drehachsen (A, B, T
die Frage, wie denn die geistige Substanz auf die und andere Planeten bestehen aus Zusammenbal- usw.) zwischen den Wir-
körperliche wirke. Wie bewegt unser Wille zu lungen der grobkörnigen Teilchen, durch deren beln transportiert.

55
KAPITEL 3 Historischer Überblick

Menschen aß und schlief. NEWTON selbst war


bescheidener:

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


Ich weiß nicht, wie ich der Welt vorkomme; aber
mich selber dünkt, ich habe wie ein Knabe an
einem Strand gespielt und mich damit unter-
halten, hin und wieder einen glatteren Kiesel
oder eine hübschere Muschel zu finden als ge-
wöhnlich, während der ganze große Ozean der
3-40 Wahrheit unentdeckt vor mir lag.
Der Aufbau der Erde. Die verschiedenen Schichten der
Erde wie Lufthülle (F), Gestein (E), Gewässer (D) und
Erze (C) bestehen aus unterschiedlich geformten Teilchen
T Worauf gründet sich diese erstaunliche Bewun-
der dritten Materieform. Gebirge entstehen durch das derung ISAAC NEWTONs?
Einbrechen der Gesteinsschicht in die darunter liegende Den meisten von uns ist NEWTON durch
Wasserschicht. Die Schichtung entsteht durch das unter-
schiedliche Bewegungsverhalten der T Teilchen als Folge sein Trägheits- und Gravitationsgesetz aus der
ihrer Form. Schule bekannt, aber unabhängig davon, ob
Sie sich daran erinnern oder nicht, eine Vor-
Poren die kleineren Teilchen strömen können. stellung ist Ihnen wahrscheinlich so geläufig,
DESCARTES
R beschreibt sehr detailliert, wie diese dass Sie kaum mehr darüber nachdenken: die
räumliche Trennung der Materieformen durch Vorstellung nämlich, dass Körper sich in ei-
die Bewegung der Teilchen und ihrer besonderen nem allgegenwärtigen, unveränderlichen Raum
Form verursacht wird. Auch den Aufbau der Erde wie auf einer Bühne bewegen. Dieser Raum
und die Entstehung unterschiedlicher Stoffe wie hat außer seiner Dreidimensionalität keinerlei
Erze, Gestein, Wasser und Luft beschreibt er auf Eigenschaften, er ist Verwirklichung des euk-
diese Weise (ÅAbbildung 3-40). lidischen Raumes, platonische Idee und weltli-
Alle Eigenschaften der Stoffe, wie Elastizi- che Realität zugleich. In diesem Newtonschen
tät und Durchsichtigkeit, sind eine Folge der Universum wirkt Materie aufeinander durch
Struktur der Teilchen, aus denen sie bestehen. eine geheimnisvolle, über die Weiten des leeren
DESCARTES interpretiert auch Wärme und Kälte Raumes wirkende Anziehung, die Gravitation.
als unterschiedlich schnelle Bewegung der Teil- NEWTON verband Konzepte, die von manchen
chen. Erst mehr als zweihundert Jahre später seiner Zeitgenossen als Metaphysik verurteilt
sollten Physiker ein mechanisches Modell der wurden, mit experimentell überprüfbaren, ma-
Wärme entwickeln, das auf der Vorstellung von thematischen Gesetzen. VOLTAIRE (1694 – 1778)
Atomen basiert, die sich in einem leeren Raum sah es in seinen englischen Briefen 1733 so:
je nach Temperatur unterschiedlich schnell be- Während in Frankreich das Universum (nach
wegen. In der Zwischenzeit geriet DESCARTES DESCARTES) voll sei, sei es in England praktisch
Modell weitgehend in Vergessenheit. — leer. Und während in Frankreich alles durch
Druckwirkung erklärt werde, was niemand ver-
stehe, werde in England alles durch Anziehung
Materie als Masse erklärt, was ebenfalls niemand verstehe. Und
mehr als hundert Jahre später meinte der öster-
Issac Newton reichische Physiker ERNST MACH (1838 – 1916),
dass das zu NEWTONs Zeiten ungewöhnliche
Nature and nature’s laws
lay hid in night; Unverständliche mit der Zeit zu einem gewöhn-
God said, let Newton be! and all was light. lichen Unverständlichen geworden sei.
(ALEXANDER POPE, 1688 – 1744) NEWTONs Gesetze erwiesen sich allerdings
als ungeheuer fruchtbar. Bereits ein Jahrhundert
Nearer the gods no mortal may approach. später konnte der französische Physiker PIERRE-
(EDMOND HALLEY , 1656 – 1742, über Newton)
SIMON LAPLACE (1749-1827) selbstbewusst zu
Diese beiden Zitate zeugen von dem Eindruck, NAPOLEON sagen, dass seine Himmelsmecha-
den ISAAC NEWTON (1643 – 1727) bei seinen Zeit- nik ganz ohne Gotteshypothese auskomme.
genossen hinterließ. Der MARQUIS DE L'HÔPITAL Der Erfolg der Newtonschen Mechanik wurde
soll sogar gefragt haben, ob NEWTON wie andere auch Vorbild für andere Bereiche. Bereits NEW-

56
Erde, Wasser, Luft und Feuer

TON vermutete hinter chemischen Reaktionen Masse, Trägheit und Gravitation


anziehende und abstoßende Kräfte und diese
Vorstellung prägte die Entwicklung der Chemie NEWTON bemühte sich in der Principia nur Defi-
nachhaltig (ÅDie Entwicklung der modernen nitionen und Gesetze einzuführen, die entweder
Chemie, Seite 64). Seit NEWTONs Hauptwerk aus der unmittelbaren Erfahrung abgeleitet wer-
Philosophiae Naturalis Principia Mathematica den konnten oder dem Experiment zugänglich

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


(1687), meist Principia genannt, ist die Mathe- waren. Der durchschlagende Erfolg der klassi-
matik als Sprache der Physik endgültig etab- schen Physik zeigt, wie erfolgreich seine Wahl
liert. NEWTON war bestrebt, auf experimentell war. Begriffe wie Masse oder Gravitationskraft
unbeweisbare Hypothesen zu verzichten, was sind heute nicht nur in der Physik, sondern auch
in seinem berühmten Ausspruch „Hypothe- im allgemeinen Sprachgebrauch verankert und 3-41
ses non fingo“ (Hypothesen erfinde ich nicht) bedürfen kaum weiterer Erklärung. Dies war vor Sir Isaac Newton. Bild des
zum Ausdruck kommt. NEWTON hütete sich NEWTON keineswegs der Fall. 46-jährigen NEWTON von
GODFREY KNELLER aus dem
aber, seine Prinzipien nur deshalb für wahr zu
Jahre 1689.
halten, weil sie mit experimentellen Tatsachen Masse
übereinstimmen. Im Gegensatz zu den meisten
seiner Nachfolger nannte NEWTON die Gravi- NEWTONs Principia beginnt mit einer Reihe von
tationskraft und ihre mysteriöse Fernwirkung Definitionen später verwendeter Begriffe. In der
ein mathematisches Konstrukt. Seine Gesetze ersten stellt er klar, was unter quantitas mate-
beschrieben nicht, warum diese Kraft existiert, riae zu verstehen sei. NEWTON definiert sie als
sondern nur, wie sie ihre Wirkung entfaltet. Er Maß für das Produkt aus Dichte und Volumen
versuchte einige Zeit erfolglos, sie auf Wirkun- eines Körpers und verwendet fortan „Masse“ 1. Newtonsches Gesetz
gen eines im Raum verteilten feinen Stoffes, oder einfach „Körper“ als Synonyme für quan-
des Äthers, zurückzuführen. Ihre Ursache sah titas materiae. Uns erscheint diese Definition Trägheitsprinzip
Ein Körper beharrt im Zu-
NEWTON letzten Endes in Gott. heute wenig spektakulär, was allerdings mehr stand der Ruhe oder der
an unserer Vertrautheit mit diesem Begriff liegt, gleichförmig geradlinigen
Newton und die Alchemie als an seiner Selbstverständlichkeit. Vor NEW- Bewegung, solange keine
äusseren Einflüsse auf ihn
TON war quantitas materiae ein vager Begriff,
wirken. Die Geschwindig-
Wenig bekannt ist NEWTONs Interesse an der Al- der so etwas wie die Menge an Substanz eines keit eines solchen sich frei
chemie. Dabei ging es ihm nicht um die Herstel- Körpers repräsentierte. BURIDAN nutzte ihn, um bewegenden Körpers ist
nach Betrag und Richtung
lung von Gold, sondern um Erkenntnis. Er war den unterschiedlichen „Schwung“ verschieden
konstant.
bestrebt, die Lücken seiner eigenen Theorien auf schwerer Körper zu erklären und auch KEPLERs
andere Weise zu schließen. Wie bereits erwähnt, inertia sollte von ihm abhängen (Å Gravitation
betrachtete NEWTON die Gravitationskraft als und Trägheit, Seite 52). HUYGENS erkannte, 2. Newtonsches Gesetz

direktes Wirken Gottes. Auch schien es ihm dass die Fliehkraft eines Körpers von dessen Sub- Beschleunigungsprinzip
unmöglich, Leben, seine Entstehung und die stanzmenge abhing. Da man aber zu dieser Zeit Durch einwirkende Kräfte
Fortpflanzung allein durch die unorganisierte meist in Verhältnissen dachte statt in absoluten erfährt ein Körper eine
Beschleunigung, die der
Bewegung von Materiepartikeln zu erklären, Größen, war es in der Regel gleichgültig, ob man Kraft proportional ist und
eine andere Kraft, eine Art Spirit (Geist) musste Gewichts- oder Masseverhältnisse verwendete. deren Richtung besitzt:
dafür verantwortlich sein. NEWTON sah in den Allerdings wusste man seit 1671 durch Versuche Kraft = Masse · Beschleuni-
gung. Zu Ehren Newtons
allegorischen Beschreibungen der Alchemie von JEAN RICHTER, dass das Gewicht eines Kör- wird die Einheit der Kraft
(ÅVon der Alchemie zur Chemie, Seite 59) pers nicht konstant war, sondern davon abhing, Newton (N) genannt.
den Schlüssel zu einem tieferen Verständnis der wo man sich auf der Erde befand. RICHTER stellte
Welt und entwickelte alchemistische Hypothe- bei astronomischen Messungen in Cayenne fest, 3. Newtonsches Gesetz
sen, die sich an stoizistisches und hermetisches dass seine mitgebrachten Pendeluhren zweiein-
Gedankengut anlehnten (Å Geheimnisvoll – Der halb Minuten pro Tag nachgingen. Da die Pen- Wechselwirkungsprinzip
(actio = reactio)
Hermetismus, Seite 40). dellänge in Frankreich und Cayenne gleich war,
Übt ein Körper A auf einen
konnte nur das veränderte Gewicht des Pendels Körper B eine Kraft aus
für die Abweichung verantwortlich sein. (actio), so übt auch B auf
NEWTONs Definition wurde als zirkulär kriti- A eine Kraft aus, Gegen-
kraft (reactio) genannt, die
siert: Wie sollte man die Masse eines Körpers be- entgegengesetzt gleich der
stimmen, wenn man zuvor die Dichte bestimmen ersten Kraft ist.

57
KAPITEL 3 Historischer Überblick

muss, welche wiederum von der Masse abhängt? onswirkung verantwortlich, während die träge
Man müsste entweder Abstände und Massen der Masse in das Newtonsche Kraftgesetz eingeht.
kleinsten Teilchen anderweitig ermitteln oder das Diese Äquivalenz bedeutet, dass wir in einem

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


Trägheitsgesetz bereits voraussetzen, um den Zu- geschlossenen Raum nicht unterscheiden kön-
sammenhang zwischen Gewicht und Masse zur nen, ob die Kraft, die uns am Boden hält, Folge
Berechnung zu nutzen. Die damals von ROBERT R einer beschleunigten Bewegung (Trägheit) oder
BOYLE entdeckten Abhängigkeiten zwischen eines Schwerefeldes ist.
Druck, Dichte und Volumen eines Gases legten
3-42
Die Principia. NEWTONs
aber eine solche Definition ebenso nahe wie die Gravitation
Hauptwerk, die Philoso- Beobachtung, dass zwar das Gewicht zweier Kör- r
phiae Naturalis Principia per örtlich schwankt, nicht aber deren Gewichts- Bereits KEPLER und andere Forscher vor NEW-
Mathematica in der ersten
verhältnis. Es muss also eine ortsunabhängige TON vermuteten eine Anziehung der Körper als
Ausgabe mit NEWTONs
handgeschriebenen Kor- Konstante geben, die einem Körper zu Eigen ist. Ursache der elliptischen Planetenbewegungen.
rekturen für die zweite Und HOOKE äußerte 1679 in einem Brief an
Ausgabe. NEWTON die Vermutung, dass die Anziehung
Trägheit
der Körper einem quadratischen Abstandsgesetz
Bereits DESCARTES und der Niederländer CHRIS- folgt. Die elliptische Bewegung der Planeten sei
TIAAN HUYGENS (1629 – 1695) formulierten das eine Folge dieser Zentripetalkraft der Sonne.
Trägheitsgesetz, nach dem ein Körper sich auf Später wird NEWTON in dem Bemühen, die Ur-
einer geraden Bahn gleichförmig weiter bewegt, heberschaft des Gravitationsgesetzes für sich zu
wenn er sich selbst überlassenen ist. HUYGENS beanspruchen, den berühmten Apfel anführen,
berechnete auch den Wert der Zentrifugalkraft dessen Fall ihn schon einige Jahre vor HOOKE
bei kreisförmiger Bewegung. Aber erst NEWTON zum Nachdenken über die Gravitation angeregt
verdanken wir eine präzise Formulierung des haben soll (ÅAbbildung 3-43). Wer auch immer
Trägheitsgesetzes. Er formulierte die drei Gesetze die Urheberschaft des quadratischen Abstands-
der Bewegung, die das Fundament der klassi- gesetzes für sich beanspruchen kann, eines ist
schen Mechanik bilden. Das erste entspricht dem gewiss: Erst NEWTON gelang es, ein allgemeines
Huygenschen Gesetz. Nach dem zweiten ist die Gesetz der Massenanziehung aufzustellen und
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

Änderung der Bewegung der wirkenden Kraft nachzuweisen, dass die elliptischen Bahnen der
proportional, es handelt sich um das berühmte Planeten und Monde nur dadurch zu erklären
„Kraft gleich Masse mal Beschleunigung“. Das sind. Und da sich Planeten und die Sonne wech-
dritte Gesetz ist „actio gleich reactio“, jeder selseitig anziehen, gelang ihm auch der Nachweis,
Kraft steht eine gleichgroße Gegenkraft entge- dass die Keplerschen Ellipsen in Wirklichkeit
3-43 gen. Dieses Prinzip erlaubt es unter anderem, Näherungen sind. Sonne und Planeten kreisen
Newton und der Apfel. Kreisbewegungen zu beschreiben. Die Zentri- um das gemeinsame Gravitationszentrum, das
Bild NEWTONs mit dem
fugalkraft, die Körper nach außen treibt, ist die sich aus der Kombination der Anziehungskräfte
fallenden Apfel von dem
japanischen Künstler HOSAI Reaktion auf die Kraft, die sie auf die Kreisbahn aller Planeten und der Sonne ergibt.
aus dem Jahr 1869. Das zwingt, zum Beispiel die Gravitation. Die Tatsache, dass NEWTON eine Erklärung
Bild trägt den Untertitel NEWTON formulierte die Bewegungsgesetze für die magische Fernwirkung der Körper auf-
„Isaac Newton, sehr gro-
ßer theoretischer Kopf, als zwar experimentell prüfbare, aber nicht einander schuldig blieb, provozierte vor allem
aber nicht eingebildet“. als begründbare Gesetze der Natur. So blieb in Kontinentaleuropa Widerspruch. HUYGENS
die Frage, warum Körper träge sind, unbe - vermutete in der Tradition DESCARTES’, dass
antwortet. Im 19. Jahrhundert vermutete der Wirbel kleinster Partikel die Planeten auf ihre
österreichische Physiker ERNST MACH, dass elliptischen Bahnen zwangen, und GOTTFRIED
die Trägheit der Körper eine Folge der Gra- WILHELM LEIBNIZ (1646 – 1716) leitete das qua-
vitationswirkung aller Massen im Universum dratische Abstandsgesetz auf Basis einer Theorie
sei. Wäre das Universum leer, gäbe es keine flüssigen Äthers ab. NEWTON selbst empfand die
Trägheit. Dieses sogenannte Machsche Prinzip magische Fernwirkung als Manko und versuchte
inspirierte ALBERT EINSTEIN bei der Formu- sich in Ätherhypothesen. Letzten Endes war für
lierung der allgemeinen Relativitätstheorie. ihn die Massenanziehung nur ein mathematisches
Sie postuliert die Äquivalenz von träger und Konstrukt, dessen physikalischer Hintergrund
schwerer Masse. Letztere ist für die Gravitati- zumindest zu seiner Zeit unbekannt blieb. —

58
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Von der Alchemie zur Chemie dem 3. oder 4. Jahrhundert n. Chr., die beide um
1828 entdeckt wurden. Sie enthalten Rezepte zur
Aus Mystik wird Wissenschaft Behandlung und Imitation von Edelmetallen, zur

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


Herstellung künstlicher Perlen und Edelsteine,
Heutzutage verbindet man Alchemie mit dem aber auch Anweisungen zum Färben von Wolle
Bild mittelalterlicher Klosterlaboratorien, in de- und zur Herstellung von Farbstoffen. Nachah-
ren Retorten geheimnisvolle Substanzen darauf mungen von Edelmetallen wurden in den Papyri
warten, durch die Hände des kundigen Meisters nicht als Fälschungen bezeichnet und wohl auch
in Gold verwandelt zu werden. nicht als solche empfunden. 3-44
Der Alchemist und sein
In der Tat finden sich in vielen alchemis- Das Zentrum der antiken Alchemie war Ale-
Labor. Bild des flämischen
tischen Schriften seltsame Rezepte. Eines zur xandria, mit bis zu 500 000 Einwohnern nach Malers DAVA ID TENIERS DER
Herstellung von Gold aus einem Basilisken be- Rom zeitweise die zweitgrößte Stadt der Welt. JÜNGERE (1610 –1690).
schreibt ein gewisser THEOPHILOS PRESBYTER im Dort entwickelte sich bis zur islamischen Erobe-
11. oder 12. Jahrhundert. Der Basilisk (griech. rung im 7. Jahrhundert die antike Alchemie aus
basiliskos, kleiner König) ist ein mythisches Tier einem Bündel praktischer, philosophischer und
mit dem Oberkörper eines Hahns und dem Un- mythischer Quellen. Neben den Techniken der
terleib einer Schlange. Der Blick des Basilisken Tempelhandwerker flossen griechisch-hellenis-
versteinert; töten kann man ihn nur, indem man tische Naturphilosophie und ägyptische sowie
ihn in einen Metallspiegel schauen lässt, wo- babylonische Mythologie mit ein. Das alche-
durch er sich durch seine Blicke selbst tötet. mistische Wissen breitete sich nach demem
Folgt man den Angaben des Rezeptes, so kann Niedergang des Römischen Reiches ab
man Basilisken erschaffen, in dem man zwei alte dem 8. Jahrhundert zunächst im ara-
Hähne sich begatten und die gelegten Eier von bisch-islamischen Kulturkreis aus. Ins
einer Kröte ausbrüten lässt. Die geschlüpften christliche Abendland gelangte es im
Basilisken verbrennt man und vermischt deren Wesentlichen erst ab dem 12.Jahrhun-
Asche mit dem Blut eines rothaarigen Men- dert. Die Werke der beiden bedeutenden islami- 3-45
schen und scharfem Essig. Anschließend wird die schen Gelehrten GABIR IBN N HAYYAN und AL-RAZI Ein Basilisk. Mystisches
Tier mit dem Oberkörper
Mischung auf ein Kupferblättchen gestrichen, wurden im 12. Jahrhundert aus dem Arabischen eines Hahns und dem Un-
dieses zur Weißglut erhitzt und mit der Mi- ins Lateinische übersetzt. Beiden verdankte das terleib einer Schlange.
schung wieder abgelöscht. Nach mehrmaligem mittelalterliche Europa seine Kenntnisse über che-
Wiederholen dieses Vorgangs hat die Mischung mische Arbeitsmethoden, Metallurgie und Farb-
das Kupfer durchdrungen und dieses nimmt die stofferzeugung, die Umwandlung von Metallen
Farbe und das Gewicht des Goldes an. zu Gold war nur ein Teil dieses Wissens. Auch das
So obskur uns solche Rezepte heute erschei- Wort Alchemie ist arabischen Ursprungs, zusam-
nen mögen, aus Sicht der damaligen Zeit waren mengesetzt aus dem Artikel Al- und kimiya’ vom
sie nicht ungewöhnlich. Vieles in der Alchemie griechischen chymeia, das wohl mit dem Wort
wurde verschlüsselt und in allegorischer Form chyma für Metallguss zusammenhängt.
dargestellt und vieles, was uns seltsam erscheint, Auf dem Weg nach Europa wurde das
entsprach anerkannten naturphilosophischen mystisch-religiöse Grundgefüge der Alchemie
Vorstellungen. dem Christentum angepasst. So konnten sich
auch Theologen wie der Regensburger Bischof
Von Ägypten ins Abendland A LBERTUS M AGNUS ( ca. 120 0 – 1280 ) mit
Alchemie beschäftigen. Die Legende sieht in ihm
Die praktische Seite der Alchemie, das Behandeln einen Magier, dem es gelang, einen Homunculus
oder Veredeln von Metallen, das Färben von Stof-f zu schaffen, einen künstlichen Menschen ohne
fen und Glas, die künstliche Erzeugung von Perlen Seele.
und Edelsteinen, geht offenbar auf die Kunst der
ägyptischen Tempelhandwerker zurück. Sie ge- Das hellenistische Erbe
hörten der Priesterkaste an und vieles ihrer Kunst
wurde geheim gehalten. Die ältesten Sammlungen Prägend für die alchemistischen Vorstellungen Alchemie = Technik
T +
chemisch-technischer Rezepte sind das ägyptische waren die Materietheorien des ARISTOTELES Naturphilosophie + Mystik
Papyrus Leiden und das Papyrus Stockholm aus und der Stoiker. Aus der aristotelischen Natur-

59
KAPITEL 3 Historischer Überblick

philosophie wurden die vier Elemente und die Schwefel und Salz setzte sich endgültig in der
vier Qualitäten (warm, kalt, feucht, trocken) neuzeitlichen Alchemie des PARACELSUS durch.
übernommen, sowie die Idee der materia prima, Die Zusammenhänge zwischen Elementen,
der Urmaterie, aus der alles entsteht. Nach al- Qualitäten, Pneuma, Samen und Prinzipien sind
chemistischen Vorstellungen mussten bei der schwer zu fassen, da die entsprechenden Kon-
Goldherstellung die Ausgangsstoffe zuerst in die zepte sich von Autor zu Autor unterscheiden.
Urmaterie überführt werden. Die Goldherstel- Insgesamt entwickelte die Alchemie nie eine
lung aus unedlen Metallen war im Prinzip nur nach heutigen Maßstäben geschlossene und wi-
eine Veränderung der Form der Urmaterie. Zur derspruchsfreie Theorie der Stoffe und ihrer
Elementelehre trat die stoizistische Lehre, die Umwandlungen.
Feuer und Luft (Pneuma) als aktive, göttliche
Prinzipien auffasste, die die passiven Elemente Das mystisch-religiöse Erbe
Erde und Wasser formen. Aus der Stoa stammt
auch die Vorstellung eines geistigen Samens, Die Alchemie war von Beginn an eingebettet in
des logoi spermatikoi. Er überträgt durch sein mystisch-religiöse Vorstellungen über den Auf-
Pneuma die Qualitäten auf die Materie und bau des Kosmos. Dieser Kontext prägte auch die
bringt damit die Einzeldinge zur Entwicklung. Form alchemistischer Forschungen. Man legte
Dem Traktat Novum Lumen (Neues Licht) des wenig Wert auf die akribische Aufzeichnung
polnischen Alchemisten MICHAEL SENDIVOGIUS physikalischer Größen wie Gewicht oder Druck
von 1604 zufolge sollte durch die Vereinigung während eines Experiments. Eine empirische
von männlichem und weiblichem Prinzip aus den Prüfung von Aussagen, wie wir sie heute kennen,
vier Elementen der Samen der Metalle entstehen. wäre Alchemisten als überflüssig erschienen.
Dieser entwickele sich dann in der Erde je nach So existierte die Vorstellung, dass Bocksblut
Gegebenheiten in mehr oder weniger edle Me- Glas erweichen könne, eine Aussage, die sich
talle. Daher wurden im Mittelalter Bergwerke natürlich leicht empirisch widerlegen lässt. Für
zeitweise geschlossen, um den Reifungsprozess einen Alchemisten war die Sache jedoch nicht so
der Metalle ungestört ablaufen zu lassen. einfach: Vielleicht bedeutete ein Misserfolg nur,
Eine wesentliche Rolle spielten auch Queck- dass der falsche Zeitpunkt, der falsche Ort, das
silber und Schwefell als Grundprinzipien der falsche Blut oder das falsche Glas vorlag. Der
Metalle. Darunter wurden allerdings nicht die Alchemist ging eher vom Komplexen aus, nichts
in der Natur anzutreffenden Substanzen ver- wurde so in Einzelteile zerlegt, dass man es auf
standen, sondern es wurden essenzielle stoffliche einfache Weise hätte bestätigen oder widerlegen
Eigenschaften mit ihnen assoziiert. Zur Unter- können. Die alchemistischen Konstrukte muss-
scheidung zwischen realer Substanz und Prinzip ten im Gegensatz zu wissenschaftlichen Hypo-
3-46 sprach man von philosophischem Schwefell oder thesen weder logisch konsistent noch testbar
Planeten und Metalle. philosophischem Quecksilber, wenn man letzte- sein, sie konnten auch Widersprüche enthalten.
Die Zuordnung zwischen res meinte. Nicht-metallische Stoffe wurden oft Sie waren in diesem Sinn eher am menschlichen
Planeten und Metallen
änderte sich im Lauf der durch Salz als Grundsubstanz einbezogen. Die Weltgefühl orientiert (das Gegensätze anerkennt)
Jahrhunderte. Vorstellung von den drei Prinzipien Quecksilber, als an rationalem, quantifizierbaren Wissen.
Die Ents p rechun g en zwischen Göttern,
Planet Traditionell Griechisch ab dem 7. Jahrhundert Planeten und irdischen Dingen, sowie der kos-
Sonne Gold Gold mische Einfluss auf den Lauf der Welt gehen
auf den babylonisch-sumerischen Kulturkreis
Mond Silber Silber zurück. Die Zuordnung zu den Metallen kam
Quecksilber, auch Zinn Quecksilber (davor Elektron, wohl etwas später und wandelte sich auch im
Merkur
(„weißes Blei“) eine Silber-Gold-Legierung)
Lauf der Zeit (ÅTabelle 3-46). Das Tripel Gott-
Venus Kupfer Kupfer
heit – Planet – Metall ist jedoch zentral für die
Mars Eisen Eisen alchemistische Symbolik. Da die Zahl der Pla-
neten damals sieben betrug (Sonne und Mond
Jupiter Elektron, Zinn, Bronze Zinn
zählten als Planeten), war offensichtlich, dass es
Saturn Blei (Bismut galt als Bleiart) Blei nur sieben Metalle geben konnte, alle weiteren
wurden als Mischungen angesehen. Im Sinne des

60
Erde, Wasser, Luft und Feuer

„wie oben, so unten“ stand die Sonne nicht nur Transmutationen – nichts als Betrug?
für Gold, sondern auch für das Männliche und
das Unsterbliche. Es existieren Berichte über erfolgreiche Trans-
Der Kreislauf von Werden und Vergehen, mutationen, die zum Teil sogar öffentlich statt-
von Tod und Schöpfung tritt in der Alchemie fanden. So führte JOHANN FRIEDRICH BÖTTGER,
in vielfältiger Gestalt auf. Ein sehr häufig an- der Miterfinder des europäischen Porzellans,
zutreffendes Motiv, die Zerstückelung aus dem in Berlin 1701 mit Hilfe einer geheimnisvollen
Isis/Osiris-Mythos, haben wir bereits kennen roten Tinktur vor zahlreichen Zuschauern eine
gelernt (ÅTod und Wiedergeburt, Ei und Schöp- Transmutation durch. Sie machte ihn über die
fung, Seite 30). Im gleichen Sinn wird bei Grenzen Preußens hinaus bekannt und führte
der Herstellung von Gold die Überführung der dazu, dass er in die Hände von AUGUST DEM
Ausgangsstoffe in die materia prima als Tod der STARKEN von Sachsen geriet. Diesem Umstand
Materie bezeichnet. Der Tod geht der Schöpfung verdanken wir die Meißner Porzellanmanufak-
des Goldes voraus. tur.
Die umfassende Korrespondenz zwischen Man tut Alchemisten Unrecht, stempelt man
Mikrokosmos und Makrokosmos bildet die Ba- Berichte über Transmutationen pauschal als Be-
sis der reichen Symbolsprache und Allegorien in trügerei ab. Ohne den modernen Elementbegriff
alchemistischen Werken. Die damit verbundene ist schließlich nicht offensichtlich, was Gold zu
Mehrdeutigkeit alchemistischer Beschreibun- Gold macht. Legt man die Quecksilber-Schwe-
gen hatte allerdings auch Methode. Die großen fel-Lehre zugrunde, so sind Gold und andere
Geheimnisse, die arcana maiora, konnten nur Metalle lediglich Kombinationen dieser beiden
charakterfesten Menschen offenbart werden,
die einen untadeligen Lebenswandel führten.
Die Eingeweihten, sogenannte Adepten, gaben Von Betrügern und gierigen Herrschern
ihr Wissen daher in verschlüsselter Form weiter,
wichtige Prozeduren wurden in Form phan- Wo es viel zu gewinnen gibt, sind auch Betrüger nicht weit. So drehte
tastischer Träume erzählt, oft wurde ein Text DANIEL VON SIEBENBÜRGEN Apothekern goldhaltige Pillen an, ließ diese
sogar fragmentiert und auf mehrere Kapitel oder dann von unverdächtigen Personen kaufen und gewann daraus Gold.
Werke verteilt. Eine andere Methode bestand darin, in den Rührstab Gold einzugießen
und das Loch mit Wachs zu verschließen. Tauchte man den Stab in
den heißen Tiegel, schmolzen Wachs und Gold und letzteres sammelte
Elemente und Transmutation sich am Grund des Gefäßes an. Beliebt war auch die Verwendung
eines Goldamalgams: Überzog man Gold mit Quecksilber, so konnte
Wir wissen heute, dass die Methoden der Al- man dieses über dem Feuer abrauchen und das Gold kam wieder zum
chemisten nicht dazu geeignet sind, Gold her- Vorschein. Bei der Vergoldung von Kupfer überzog man dieses mit
zustellen. Allein durch chemische Verfahren ist Goldamalgam und erhitzte gelinde. Das Quecksilber verdampfte und
eine Transmutation unedler Metalle in Gold zurück blieb eine dünne Goldschicht. Sehr beliebt war auch die Ansage,
nicht möglich, da die geringe Energie chemi- dass das Gebräu eine Nacht stehen müsse. Des Nachts tauschte dann
scher Reaktionen für die Umwandlung von ein in einer Kiste verborgener Gehilfe das Gebräu durch Gold aus. Auf
Elementen nicht ausreicht. Um Gold zu erzeu- diese Weise versuchte GEORG HONAUER den Herzog FRIEDRICH VON
gen, sind Kernreaktionen notwendig, bei denen WÜRTTEMBERG hinters Licht zu führen, was ihm das Leben kostete. Er
die Zahl der Protonen, der positiven Teilchen wurde 1597 in Stuttgart in einem vergoldeten Gewand an einem mit
im Atomkern, verändert wird (ÅKapitel 10). Flittergold überzogenen eisernen Galgen gehängt, eine Strafe, die für
Zwar ist es möglich, in einem Atomreaktor vermeintliche Goldmacher durchaus üblich war. Die Alchemistin und
oder Teilchenbeschleuniger Gold aus anderen Giftmischerin ANNA MARIA ZIEGLER wurde 1575 auf einem eisernen
Metallen herzustellen, das Verfahren ist aller- Stuhl verbrannt, während ihre Kumpane gevierteilt wurden.
dings viel zu teuer, um wirtschaftlich zu sein. Generell waren auch Herrscher nicht zimperlich bei dem Versuch,
Das beste Ausgangsmaterial für eine kerntech- dem Geheimnis der Goldmacherei auf die Spur zu kommen. Noch 1784,
nische Transmutation ist übrigens Quecksilber, als der Stern der Alchemie bereits am Versinken war, wurde der Adept
also just der Stoff, den auch viele Alchemisten FRANZ SEHFELD durch die österreichische Kaiserin MARIA THERESIA
als Ausgangsmaterial für ihre Versuche zur verhaftet und gefoltert, um ihm das Geheimnis der Geheimnisse zu
Goldherstellung benutzten. entlocken.

61
KAPITEL 3 Historischer Überblick

Symbole und Allegorien in der Alchemie

Die Schrift Zwölf Schlüs-


sel des BASILIUS VALENTINUS Originaltext Moderne Deutung
(1602) beschreiben das
Opus magnum in zwölf
Schritten. Der rechts ste- Die Krone des Königs sol von reinem Golde seyn, Legiere Gold
hende T Text befasst sich und eine keusche Braut sol ihm vermählet werden mit reinem Silber,
mit der Reinigung der
Grundsubstanzen, einem
Prozess bekannt als Ku- ..so nimb den geitzigen grauen Wolff
pellation: Aus einer Silber- so seines Namens halben dem streitigen Marti
...nimm Antimonsulfid,
Gold-Legierung wird mit unterworffen
Hilfe von Antimonsulfid Von Geburt aber ein Kind des alten Saturni ist
das ursprüngliche Gold in
gereinigter Form gewon-
...und wirfft ihm für den Leib des Königs ...gib das legierte Gold hinzu und schmelze beides,
nen. Die allegorischen
daß der daran seine Zehrung haben möge bis das Gold nicht mehr sichtbar ist (es bilden sich eine
Namen für die Metalle
Und wenn er den König verschlungen Antimon-Gold-Legierung am Boden und Silbersulfid)
waren nicht ungewöhn-
lich, ebensowenig die blu-
mige Umschreibung des so mache ein groß Feuer erhitze die Masse sehr stark (gieße das geschmolzene
Prozesses. und wirff den Wolff darein Sulfid vorher ab),
daß er gantz und gar verbrenne das Antimon oxidiert und dampft ab.
so wird der König wieder erlöset werden Übrig bleibt das gereinigte Gold.

Prinzipien. Im Wesentlichen ist also das Mi- digkeit zu verstärken, und damit aus einem un-
schungsverhältnis verantwortlich dafür, dass sich edlen ein edleres Metall zu erzeugen. Die Vorstel-
die Eigenschaften der Metalle unterscheiden. So lungen darüber, mit welchen Arbeitsgängen und
könnte es sogar verschiedene Arten von „Gold“ Reagenzien eine Transmutation durchzuführen
geben, die nur in „unwesentlichen“ Eigenschaf- war, unterschieden sich von Autor zu Autor; im
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

ten verschieden sind. Der berühmte Bagdader Wesentlichen ging man jedoch von zwei mög-
Arzt und Alchemist AL-RAZI (860 – 925/935) lichen Wegen aus: Entweder sollte durch Zu-
kommentierte ein Rezept zur Herstellung von gabe eines entsprechenden Elixiers aus unedlem
Silber mit den Worten: Metall Gold entstehen oder es sollte im opus
magnum (lat., großes Werk) durch einen lang-
3-47 Es kommt Silber heraus, besseres gibt es nicht, wierigen Prozess aus Substanzen wie Blei oder
Wolf verschlingt König. aber es ist weich. Wenn Du es kochst, zerfällt Quecksilber über die materia prima Gold und
Allegorie für die Verbin- es weiß wie weißes Mehl.
dung von Antimon (Wolf) letzten Endes der Stein der Weisen entstehen.
und Gold (König). Der Begriff Elixier hat seine Wurzeln in der
Wenn es um Zahlungsmittel ging, wusste man antiken Praxis des Färbens von Metallen mittels
natürlich auch damals, welche Eigenschaften eingestreutem Zinn- oder Kupferpulver. Aus
„echtes“ Gold oder Silber haben sollte. Mit dem griechischen Wort xerion (Streupulver)
einem zu Pulver zerfallenden Silber hätte sich entstand so das arabische iksir oder al-iksir,
niemand abspeisen lassen. Eine zentrale Frage aus dem wiederum das lateinische Wort Elixier
der Alchemie war also, wie man genau jene Ei- stammt. Eine geringe Menge eines Elixiers sollte
genschaften dauerhaft erzeugen kann, die dem die Umwandlung einer großen Menge uned-
Gold seinen Wert geben. len Metalls bewirken. Für GABIR IBN HAYYAN
(8. Jahrhundert) bringt der Stein der Weisen, der
Elixiere und das opus magnum lapis philosophorum, als Elixier der Elixiere die
unfertigen Metalle zu ihrem vollendeten Zustand
Alchemisten gingen von einer hierarchischen (d.h. zu Gold) und vermag gleichzeitig den Men-
Ordnung der Metalle aus, die den Grad ihrer schen von seiner Unfertigkeit und vom Altern
Vollkommenheit ausdrücken sollte. Am voll- zu erlösen. Der Stein der Weisen vereinigt alle
kommensten war Gold, das unvollkommenste Gegensätze, vor allem das männliche und das
Metall war Blei. Bei der Transmutation ging es weibliche, bewirkt Zeugung und Entwicklung,
darum, „edle“ Eigenschaften wie Feuerbestän- Schwangerschaft und Geburt. So phantastisch

62
Erde, Wasser, Luft und Feuer

seine Eigenschaften gedacht wurden, so schwer seiner Polemiken gegen überkommene medizini-
schien seine Herstellung zu sein. Allgemein sche Autoritäten und seiner „Neuen Medizin“
stellte man sich vor, dass man ein Elixier wie auf Betreiben der Ärzteschaft Basel verlassen.
eine Essenz aus einer Substanz „herausziehen“ PARACELSUS bediente sich der Signaturenlehre
könne, also zum Beispiel Goldessenz durch hun- zum Auffinden von Heilmittelträgern und alche-
dertfaches Umschmelzen von Gold gewinnen mistischer Techniken zur Extraktion der darin
könne. Die Herstellung des Steins der Weisen enthaltenen Wirkstoffe.
aber war das große Werk, das opus magnum.
Die Signaturenlehre
Vom Rabenhaupt über den Pfauenschweif
zum Stein der Weisen Für PARACELSUS wirken in der irdischen und

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


himmlischen Welt vitale Prinzipien, die Sterne
Die Herstellung des Steins der Weisen sollte oder Astra, die das Verhalten aller Dinge bestim-
in mehreren Schritten erfolgen: Aus gewissen men. Die Astra wirken über Sympathiebeziehun-
Ausgangsstoffen musste zunächst die materia gen und durch sie wissen alle Dinge, was sie von
prima erzeugt werden. Dieser sollten über meh- Natur aus sein sollen. Durch ihre Astra weiß
3-48
rere Zwischenstufen schrittweise die richtigen eine Eichel, dass sie ein Baum werden soll. Ein Der „Alchemist“. Das
Elementequalitäten zugemischt werden, um Astrum wirkt auf ganz unterschiedliche Dinge Bild von JOSEPH WRIGHT
am Ende den lapis philosophorum zu erhal- gleichzeitig, die dadurch miteinander verbunden (1734 – 1797) zeigt
ein fiktives Portrait von
ten. Indikatoren für den Erfolg waren dabei sind. Diese Verbindung kann man an äußeren HENNING BRAND, des
die Farbwechsel der Mischung in der richtigen Ähnlichkeiten oder an Analogien zwischen ihnen Entdeckers des Phosphors.
Reihenfolge: von Schwarz (Nigredo) über Weiß erkennen. So lassen Form und Farbe von Pflan-
(Albedo, Silber) zu Gelb (Citrinita, Gold) bis zen Rückschlüsse auf deren Wirkung zu: Herz-
zu Rot (Robedo). Generell hatten die Farben förmige Blüten helfen gegen Herzkrankheiten,
metaphysische Entsprechungen wie die Plane- höckerige Wurzeln gegen die Geschwülste des
ten auch. Im Mittelalter wurde die Erde mit Aussatzes und stachelige Disteln gegen Stechen
Schwarz assoziiert, Wasser mit Weiß, Luft mit in der Brust.
Gelb und Feuer mit Rot. Die Zahl der Arbeits-
schritte wurde meist mit Analogien begründet: tria prima, spagyrik und Iatrochemie
sieben als Zahl der Planeten oder zwölf als Zahl
der Tierkreiszeichen. Wichtig waren auch die Zu den bereits bekannten Prinzipien Quecksilber
Wahl der Ausgangsstoffe und ihre Reinigung; und Schwefel fügte PARACELSUS noch Salz hinzu.
oft wurden Quecksilber und Gold dafür ver- Er nannte sie die drei chymischen ersten Prinzi-
wendet, aber auch organische Stoffe wie Urin. pien, die tria prima. Das Salz repräsentiert das
Die Verwendung von Urin als Ausgangsstoff al- Unbrennbare, die Asche oder Erde, der Schwefel
chemistischer Experimente führte zu einer wich- das Brennbare und das Quecksilber das Flüch-
tigen Entdeckung: 1669 fand der Hamburger tige und Metallische. Nach seinen Vorstellungen
HENNING BRANDT auf diese Weise einen „Stein mussten die Prinzipien der Natur dreigeteilt sein
des Lichts“, den Phosphor. wie die Dreifaltigkeit. Aber auch die vier Ele-
mente waren Teil des chymischen Weltbilds des
PARACELSUS:
Paracelsus und die Iatrochemie
In der Schöpfung der Welt hat die erste Sepa-
Prägend für die Alchemie der Neuzeit war THEO- ration mit den vier Elementen angefangen, da
die prima materia ein einziges chaos war. Aus
PHRASTUS BOMBASTUS VON HOHENHEIM, bekann-
dem selbigen chaos hat Gott maiorem mundum
ter unter dem Namen PARACELSUS (1493 – 1541). gemacht, in vier unterschiedliche Element, näm-
Er galt als streitsüchtig, aber brillant und selbst- lich in Feuer, Luft, Wasser und Erde, geschieden
bewusst. Etwa ab 1515 begab er sich auf eine und voneinander gesondert. Das Feuer war der
„Große Wanderung“ durch Europa, die mit heiße Teil, Luft allein der kalte, Wasser das
Nasse und die Erde allein der trockene Teil
kurzen Unterbrechungen bis zu seinem Tod an-
maioris mundi (Paracelsus)
dauerte. 1527 – 1528 war er Stadtarzt und Do-
zent der Medizin in Basel. Er musste aufgrund

63
KAPITEL 3 Historischer Überblick

Aus den Dingen entstehen durch Scheidung mit- Brücke zwischen dem Atomismus EPIKURs und
tels Feuer oder Sonne die tria prima. Chemische der Theologie zu schlagen. Im Gegensatz zum
Umwandlungen werden also angetrieben durch materialistischen Weltbild EPIKURs existierten
Hitze und Feuer. Nach PARACELSUS Vorstellun- GASSENDIs Atome nicht ewig, sondern waren
gen ist die gesamte Natur ein Prozess des Gebä- von Gott geschaffen und auch die Kraft ihrer
rens/Erzeugens und der Scheidung (Spagyrik). Bewegung erhielten sie von Gott. Damit war
Die Scheidung ist auch das der Destillation der Atomismus aus theologischer Sicht akzep-
und der Verdauung zugrunde liegende Prinzip. tabel. Die Erklärungskraft des Atomismus blieb
Durch die ars spagyrica, der Scheidekunst sollte zunächst dennoch gering, da es nicht gelang,
mittels Destillation oder Extraktion aus den die Eigenschaften der Substanzen oder chemi-
Stoffen das medizinisch Wirksame geschieden sche Reaktionen nur auf Bewegung, Größe und
werden. PARACELSUS führte damit die Alchemie Form der Atome zurückzuführen. Auch die neue
in Richtung Pharmakologie, in dem er ihre Ar- Physik NEWTONs änderte daran wenig, obwohl
beitsmethoden für die Gewinnung von Arzneien man erstmals ein allgemeines Prinzip der Kraft-
nutzte. Im Gegensatz zur Viersäftelehre GALENs wirkung zwischen Körpern in den Händen hielt.
(ÅKasten Die Ordnung der Vier, Seite 33) stand Nach dem Muster der Gravitation sollten an-
bei PARACELSUS nicht der Ausgleich von Gegen- ziehende und abstoßende Kräfte für chemische
sätzen im Vordergrund, sondern die Heilung Verbindungen verantwortlich sein, während die
durch Gleiches, eine Vorstellung, die sich auch Atome selbst ohne spezifische Eigenschaften
in der Homöopathie wieder findet. Die von ihm blieben. Dann mussten auch die „Elemente“
initiierte Behandlung durch Mineralien anstelle der Chemiker zusammengesetzte Partikel sein,
von Kräutern wurde von seinen Anhängern deren Form über ihre spezifischen Eigenschaften
chymiatria oder Iatrochemie (griech. Iatros, entschied. Aber wie viele Arten der Zusammen-
Arzt) genannt. So befürwortete er gegen Syphi- setzung gab es und warum waren Elemente
lis eine Quecksilbertherapie anstelle der damals nicht zerlegbar?
üblichen Guajakholz-Therapie. — Das Aufblühen der chemischen Industrie
förderte das Bestreben, Stoffeigenschaften und
chemische Reaktionen vorherzusagen; und so
Die Entwicklung der modernen entstanden im 18. Jahrhundert pragmatische
Chemie Atomtheorien, die davon ausgingen, dass je-
dem Element eine Partikelsorte entsprach. Die
Von Minima Naturalia zu Atomen Klärung der Frage, ob diese aus noch funda-
mentaleren Partikeln bestanden, wurde den Phy-
Es scheint keine absurde Annahme zu sein,
dass bei der ersten Erschaffung gemischter Kö- sikern überlassen. JOHN DALTON (1766 – 1844)
per die allgemeine Materie, aus der jene, wie erkannte als erster, dass die Mengenverhältnisse
andere Teile des Weltalls, bestanden, tatsäch- bei chemischen Verbindungen ganzzahlig sind,
lich in kleine verschieden bewegte Teilchen von als ob unterschiedlich schwere „Atome“ sich
verschiedener Größe und Gestalt geteilt wurde. paarweise verbinden. Der schwedische Chemi-
ROBERT BOYLE (1627–1691)
ker JÖNS JAKOB BERZELIUS (1779 – 1848) entwi-
ckelte die heute noch gebräuchliche chemische
Weder der Atomismus noch die minima-natura- Kurzschreibweise für die Mengenverhältnisse
lia-Lehre waren im 17. Jahrhundert in der Lage, in Verbindungen. Und ANTOINE LAURENT DE
die Vielfalt der Stoffe und ihre Eigenschaften LAVOISIER (1743 – 1794) erkannte das Prinzip
zu erklären. Die empirische Forschung gewann der Oxidation.
aber seit GALILEI gegenüber der aristotelischen Vieles, was im Rahmen der chemischen
Philosophie die Oberhand und der irische Na- Atomtheorie seit DALTON entstand, konnte erst
turforscher ROBERT
R BOYLE entwickelte in seinem im 20. Jahrhundert auf fundamentale physika-
Buch „Der skeptische Chemiker“ (1661) erst- lische Prinzipien zurückgeführt werden. Geht
mals einen Elementbegriff, der sich an empi- man nur von der klassischen Physik NEWTONs
rischen Sachverhalten orientierte. Gleichzeitig aus, hatte LAPLACE Recht, wenn er zu Beginn
vermochte der französische Theologe und Na- des 19. Jahrhunderts meinte, dass der Versuch,
turforscher PIERRE GASSENDI (1592 – 1665) eine chemische Affinitäten auf Basis physikalischer

64
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Kräfte zu erklären, für den Fortschritt der Wis- spiel) ein primärer und einfacher, entzündlicher,
riechender usw. Körper ist, dann kann ich an
senschaften nutzlos sei.
ihren Worten zweifeln, wenn sie mir erzählen,
dass ein Körper, welcher entweder zusammen-
Iatrochemische, atomistische minima gesetzt oder nicht entzündlich ist, ein derartiger
naturalia mit Weltseele Schwefel ist. Auch muß ich denken, dass sie mit

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


Worten spielen, wenn sie lehren, dass Gold und
Für die chemische Praxis lieferte das Prinzip der Silber und einige andere Stoffe reich an einem
unverbrennbaren Schwefel sind, was ein ebenso
Scheidung (Spagyrik) ein anschauliches theore- zutreffender Ausdruck ist, wie eine Nacht voll
tisches Modell für chemische Methoden wie die Sonnenschein oder flüssiges Eis. ROBERT BOYLE
Destillation und biologische Prozesse wie die Ver-
3-49
dauung. PARACELSUS’ Vorstellungen standen je- Wie dieses Zitat zeigt, ging ROBERT BOYLE mit Robert Boyle.
doch in Opposition zur aristotelischen Lehre von der Chemie seiner Zeit hart ins Gericht. Er sah Der irische Naturforscher
Form und Materie. Naturphilosophen fanden den Schlüssel zur Erkenntnis in sorgfältiger (1627 – 1692) gilt als Mit-
begründer der modernen
sich daher eher in der minima-naturalia-Lehre experimenteller Arbeit. Experimente dienten Physik und Chemie.
wieder, die allerdings Schwierigkeit hatte zu er- ihm zur Prüfung von Hypothesen und nicht
klären, wie in Verbindungen neue Eigenschaften als Illustrationen voreilig aufgestellter Univer-
entstehen und beim Lösen die alten wieder er- salerklärungen. In seinem einflussreichen Werk
scheinen können. Der Atomismus bildete ein an- „Der skeptische Chemiker“ spiegelt er die Vier-
schauliches Modell der chemischen Verbindung; Elemente-Lehre, die Lehre der drei Prinzipien
unklar blieb, wie die Eigenschaften der Stoffe ent- (tria prima) und die aristotelischen Formtheorien
stehen. Die jeweiligen Defizite und Stärken dieser an experimentellen Ergebnissen. Dabei traten
Vorstellungen führten zu Ansätzen, Atomismus, Defizite und Widersprüche dieser Lehren offen
minima naturalia und Iatrochemie miteinander zu Tage. Sein Verdienst liegt darin, der experi-
zu verbinden. Auch der durch die Renaissance mentellen analytischen Chemie eine Rahmen
zu neuer Blüte erwachte Neuplatonismus wurde gegeben zu haben: keine vorschnelle Theorie-
von Manchen einbezogen. Die Weltseele sollte bildung aufgrund weniger Einsichten, sondern
die formbildende Kraft liefern und Verbindungen Konzentration auf experimentelle Bestätigung
zwischen Körpern sollten durch wechselseitige und möglichst große Präzision bei der Defini-
Sympathien entstehen. Um die Kluft zwischen tion der Begriffe. In diesem Sinn sind auch sein
weitgehend eigenschaftslosen Atomen und eigen- Elemente-Begriff und seine Vorstellung kleinster
schaftsreichen Stoffen der chemischen Welt zu Korpuskel geprägt. BOYLE ist überzeugt davon,
überbrücken, schlugen manche auch eine hierar- r dass Größe, Form und Bewegung kleinster Teil-
chische Struktur von Partikeln vor. Unverstellbar chen allen chemischen Erscheinungen zugrunde
klein, unteilbar und nur durch Eigenschaften wie liegen und er glaubt, dass Konglomerate dieser
Bewegung, Größe und Gestalt ausgezeichnet, kleinsten Teilchen die Elemente bilden.
sollten Atome den Urstoff der Materie bilden. Sein experimentelles Geschick kam auch in
Sie sollten sich zusammenschließen zu größeren anderen Bereichen zur Geltung. So nutzte er eine
Einheiten, den Elementen oder Prinzipien als zusammen mit ROBERT HOOKE (1635 – 1703)
Träger der elementaren Stoffeigenschaften. Die entworfene Luftpumpe zum Nachweis des luft-
Zahl der Korpuskulartheorien im 17. Jahrhun- leeren Raumes, in dem weder Feuer brennen
dert war groß, und es würde den Rahmen dieses noch Tiere existieren können und in dem alle
Buches sprengen, sie im Einzelnen vorzustellen. Körper gleich schnell fallen, wie dies GALILEI
Neben dem anfangs bereits erwähnten GASSENDI, vorhergesagt hatte.
verdienen zwei Vertreter Erwähnung: ROBERT
BOYLE und ISAAC NEWTON. Newton: Kleinste Partikel und Kräfte

Der skeptische Chemiker – Robert Boyle NEWONs Gesetze schufen einen neuen Ansatz
für Atomtheorien. Er selbst machte den Anfang
Den Chemikern stand es anfangs frei, die Stoffe,
die sich bei ihren Analysen ergaben, Schwefel in seiner Frage 31 im dritten Buch der Opticks:
oder Quecksilber oder Gas oder Blas oder was
ihnen sonst gefiel, zu nennen. Wenn sie aber Have not the Particles of Bodies certain Po-
einmal gesagt haben, dass Schwefel (zum Bei- wers, Virtues, or Forces, by which they act at

65
KAPITEL 3 Historischer Überblick

a distance, not only upon the Rays of Light for gleichzeitig so stark, dass Elemente nicht durch
reflecting, refracting, and inflecting them, but
chemische Methoden in ihre Bestandteile zerlegt
also upon one another for producing a great
3-50 werden konnten?
Partikelmodelle. Je nach Part of the Phænomena of Nature?
zugrunde liegenden
Kraftgesetzen entstanden Da Körper offenbar durch die Kräfte der Gra- Elegant, aber unpraktikabel –
unterschiedliche Modelle vitation, des Magnetismus und der Elektrizität
für größere Partikel,
mechanistische Atomtheorien
den Elementen oder
aufeinander wirken, so argumentierte er, sei es
Verbindungen. NEWTON, nicht unwahrscheinlich, dass Anziehung zwi- Für eine empirische Fundierung von Teilchen-
dem englischen Physiker schen Körpern ein allgemeines Prinzip der Natur kräften gab es im 18. Jahrhundert einige Ansatz-
STEPHEN HALES (1677 –
ist. Und es könne durchaus Kräfte geben, die nur punkte. NEWTON zeigte, dass „elastische Flüssig-
1761) und anderen
diente Äther, Luft oder eine geringe Reichweite besitzen, gerade so kurz, keiten“ (so wurden Gase damals bezeichnet), bei
Feuer als Füllstoff der dass sie kleinste Teilchen zusammenfügen konn- denen Druck und Dichte einander proportional
Materie, der für deren ten. So könnte aus einer Verbindung zwischen sind, durch eine abstoßende Kraft beschrieben
unterschiedliche Elastizität
sorgte. KNIGHT hingegen Metall und Salpetersäure das Metall durch ein werden können, die umgekehrt proportional
postulierte anziehende anderes deshalb verdrängt werden, weil dessen zum Abstand der Teilchen ist. Auch die mag-
und abstoßende Anziehung zur Säure stärker ist. NEWTON stellte netische Kraftwirkung und Kohäsionskräfte
Materiesorten, um die
verschiedenen Stoffe die entsprechende Verdrängungskette Quecksil- schienen auf ein solches Gesetz hinzuweisen
und ihre Eigenschaften ber – Silber – Kupfer – Eisen – Zink auf. und die Affinitäten der chemischen Substanzen
zu erklären. Luft bestand NEWTON war sich bewusst, dass sich die Viel- sah schon NEWTON als Beispiel für die Wirkung
aus abstoßender Materie,
da dies dem Boyleschen falt der stofflichen Phänomene schlecht vertrug von Partikelkräften an.
Gesetz zu entsprechen mit homogenen Teilchen und zentral wirkenden Bei der Suche nach entsprechenden Kraft-
schien, Feuer als alles Anziehungskräften. Und so entwickelte er wie gesetzen, zeigte sich bald, dass man auf die
durchdringender Stoff
bestand aus anziehender
schon manche seiner Vorgänger eine hierarchi- A nnahme unterschie d licher Partikelformen
Materie. Je fester ein sche Korpuskulartheorie. Aus den kleinsten, verzichten konnte. Gleichgroße, runde, homo-
Stoff war, desto größer homogenen Partikeln sollten größere Strukturen gene Partikel erfüllten ihren Zweck ebenso gut
waren die Partikel aus
entstehen, zunächst die Elemente und in wei- (Å Abbildung 3-50). Unterschiedliche Kraftwir-
anziehender Materie,
aus denen er bestand. teren Aggregationen auch Verbindungen. Die kungen zusammengesetzter Partikel konnte man
Wasser als neutrales spezifischen Formen dieser Strukturen erlaubten einfach durch deren innere Struktur erklären.
Element bestand aus einer
auch inhomogene Kraftverteilungen, eine uner- Wesentlich wichtiger schienen Art und Verlauf
Mischung beider Sorten.
Boscovichs Kraftgesetz lässliche Voraussetzung für die Erklärung von der Kräfte zwischen den Partikeln zu sein. Sta-
erlaubte die Bildung stofflichen Unterschieden wie die spezifische bile Verbindungen zwischen Partikeln konnten
beliebig geformter Partikel Affinität von Metallen gegenüber Säuren. Aber sich zum Beispiel bilden, wenn die anziehende
unterschiedlicher Größe,
die nur aus Kraftzentren wie sollte man diese Partikelkräfte bestimmen, Kraft mit zunehmender Nähe wieder abstoßend
bestanden. wenn deren Reichweite so gering war, sie aber wurde. Am Punkt des Nulldurchgangs blieb ein
Teilchen dann „gebunden“, ohne den Bindungs-
partner zu berühren. Auch durch Kombination
von anziehenden und abstoßenden Kräften war
es möglich, stabile Bindungszustände zu mo-
dellieren (Å Abbildung 3-51). COMTE DE BUFFON
(1707 – 1788) ging davon aus, dass chemische
Affinitäten auf der gleichen Kraft basieren wie
die Gravitation. Die unterschiedlichen Affi-
nitäten der Stoffe waren seiner Ansicht nach
eine Folge der Gestalt und Orientierung der
elementaren Partikel, die dadurch unterschied-
lich starke Kräfte aufeinander ausüben könnten.
D e r vo n N E W T O N zur Erklärun g der
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

Lichtausbreitung ins Spiel gebrachte Äther lie-


ferte ein weiteres Modell für die Kombination
von anziehenden und abstoßenden Kräften, da
er sich wie eine „elastische Flüssigkeit“ verhalten
sollte, bei der die abstoßende Kraft umgekehrt

66
Erde, Wasser, Luft und Feuer

3-51
Kraftgesetze. Im 18. Jahrhundert wurde eine Vielzahl
spekulativer Kraftgesetze vorgeschlagen, um die Inter-
aktion kleinster Partikel zu beschreiben. Der Holländer
'SGRAV
A ESANDE (1688 – 1742) nahm gleichförmige Partikel
an, die sich im Nahbereich stark anziehen, bei größerer
Entfernung hingegen abstoßen. Der Engländer GOWIN
KNIGHT (1713 – 1772) schlug zwei unterschiedliche Arten
von Partikeln vor, die sich entweder anziehen oder absto-
ßen. Die Anziehungskraft sollte bei kleinen Entfernungen
in eine abstoßende Kraft übergehen. Ein T Teilchen, das
sich im Nulldurchgang der Kraft befindet, bleibt dort „ge-
bunden“. Damit kam KNIGHT qualitativ den tatsächlichen
Verhältnissen (Gravitation und sogenanntes Lennard-
Jones-Potenzial, rechts unten) schon nahe. Der Ragueser
ROGER BOSCOVICH beschrieb ein universelles Kraftgesetz,
das für große Abstände in das Gravitationsgesetz über-

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


geht, bei kleineren Abständen aber verschiedene anzie-
hende und abstoßende Bereiche enthält. Damit konnte er
die Entstehung größerer Partikel mit richtungsabhängigen
Bindungskräften erklären. BOSCOVICHs „Teilchen“
T sind
allerdings dimensionslose mathematische Punkte, Materie
ist nicht mehr notwendig, alles ist Kraft.

proportional zum Abstand der Ätherpartikel Pragmatisch – Affinitäten


war. Eine analoge Rolle spielten bei verschie-
denen Autoren die Luft oder das Feuer bzw. Mechanistische Korpuskulartheorien beein-
Phlogiston (griech. phlogistós, verbrannt und f lussten die tä g liche Praxis der Chemiker
phlox, die Flamme). wenig. Es bestanden Zweifel, ob es möglich sei,
Der Jesuit und Universalgelehrte ROGER chemische Prozesse allein durch physikalische
JOSEPH BOSCOVICH (1711 – 1787) ging noch Kräfte zu erklären. Der Chemiker und Mediziner
einen Schritt weiter. Da offenbar Kräfte GABRIEL FRANÇOIS VENEL (1723 – 1775) schrieb
das Entscheidende waren, konnte man auf dazu in der berühmten, ab 1751 herausgegebenen
Materie einfach verzichten. Was übrig blieb, Enzyklopädie der Wissenschaften, Künste und
waren dimensionslose Punkte, die keine des Handwerks (Encyclopédie ou Dictionnaire
Ausdehnung, aber Trägheit besaßen und die raisonné des sciences, des arts et des métiers):
Ausgangspunkt eines Kraftverlaufs waren, bei
dem sich anziehende und abstoßende Bereiche Die Massen haften aneinander aufgrund ihrer
abwechselten. Für große Entfernungen ging Nachbarschaft, ihrer Größe und ihrer Gestalt; 3-52
die Korpuskeln [zusammengesetzte Teilchen] Poröse Struktur der Ma-
der Verlauf in das bekannte Gravitationsgesetz kennen keinerlei Gesetz dieser Art; sie bilden terie. NEWTON illustrierte
über. Dank der anziehenden und abstoßenden ihre Einheiten aufgrund ihrer Beziehung oder mit einem hierarchischen
Bereiche in BOSCOVICHs Kraftverlauf war der Affinität; und umgekehrt sind die Massen nicht Modell aus kleinsten
Aufbau beliebig großer Korpuskeln möglich. den Gesetzen der Affinitäten unterworfen (...) Partikeln, dass kompakt
und niemals wird aus der Einheit einer Masse wirkende Körper praktisch
Da B OSKOVI CH a ll es au f R au m u n d Kr a f t „leer“ sein können. Die
mit einer Masse anderer Art ein neuer homo-
zurückführte, konnte er zudem durch eine Partikel fügen sich zu Teil-
T
gener Körper.
spirituelle Verbindung zwischen Kraft und Gott chen zusammen mit regel-
mäßigen Leeräumen da-
dem Problem der Trennung von Leib und Seele In diesem Sinn wurden im 18. Jahrhundert zwischen. Diese Teilchen
T
ausweichen: alles war Kraft. Bei BOSCOVICH Theorien weiterentwickelt, die sich stärker am fügen sich auf die gleiche
werden Schwächen und Stärken mechanistischer chemischen Elementebegriff Boylescher Prägung Weise zu größeren Teil-
T
chen zusammen und so
Kor p uskulartheorien besonders deutlich: orientierten. Als Elemente wurden Substanzen fort. Das Verhältnis zwi-
Einerseits waren sie hochgradig spekulativ und definiert, die sich chemisch nicht weiter zerlegen schen Vakuum und Masse
kaum verifizierbar, andererseits waren sie höchst ließen, aber trotzdem zusammengesetzt waren wächst bei diesem Verfah-
ren exponentiell. Körper
elegant. Sie erlaubten eine exakte mathematische und daher individuelle Eigenschaften besitzen
können so trotz ihrer
Behandlung und sie kamen mit einem Minimum konnten. Die Vorstellung wechselseitiger Kraft- Größe sehr wenig Masse
an Annahmen über die Grundbausteine der Welt wirkung zwischen Partikeln wurde mit „Affini- enthalten. Gleichzeitig
aus. Aus dieser damaligen Perspektive konnte täten“ zwischen Elementen oder Verbindungen bleiben viele T
Teilchen eng
benachbart, so dass Kräfte
DALTONs Atomtheorie nur als Rückschritt und assoziiert, ohne dass der Wirkmechanismus kon- kurzer Reichweite wirksam
keinesfalls als Durchbruch gesehen werden. kretisiert werden konnte. Die Vorstellung, dass sein können.

67
KAPITEL 3 Historischer Überblick

Das Sonnensystem in der Nussschale

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Wir haben uns heute an die Newtonsche Be- Und warum können dichte Stoffe wie Glas licht-
griffswelt längst gewöhnt. Die Dichte eines Kör- durchlässiger sein als leichtes Holz?
pers ist gleich Masse geteilt durch Volumen. NEWTON und seine Nachfolger entwarfen
Beim Wiegen nutzen wir das Gravitations- und Modelle hierarchischer Teilchen, die so an-
Trägheitsgesetz, die Masse und Gewicht zuein- geordnet waren, dass sie sich zwar beliebig
3-53 ander in Beziehung setzen. Körper unterschied- nahe waren, aber gleichzeitig das Volumen des
Dichte der Materie. Wel-
che Dichte kann Materie
licher Dichte denken wir uns bestehend aus Körpers bei konstanter Masse beliebig groß
überhaupt erreichen? unterschiedlich großen oder verteilten Teilchen werden konnte. Dies gelang durch Anordnung
Könnte die Masse einer homogener Masse, mit entsprechendem Leer- von Poren zwischen den kompakten kleinsten
ganze Sonne und ihrer
Planeten theoretisch in
raum dazwischen. Und natürlich können wir Partikeln (ÅAbbildung 3-52, Seite 67) so,
eine Nussschale passen? heute unsere Vorstellungen auch physikalisch dass trotz zunehmender Porosität die Teilchen
begründen. Zu NEWTONs Zeit gab es allerdings immer nahe beieinander blieben. JOSEPH PRIEST-
keine empirischen Belege dafür, dass alle Körper LEY (1733 – 1804) brachte es auf den Punkt:
aus Teilchen der gleichen Substanz bestehen, die Die kompakte Masse des Sonnensystems könne
für Schwere und Trägheit verantwortlich ist. durchaus in eine Nussschale passen.
Geschweige denn, dass zwischen diesen Teil- Körper bestehen tatsächlich fast nur aus
chen Leeräume existieren. Wenn in einem Kör- leerem Raum. 99,9 Prozent der Masse eines
per geringeren Gewichts die Teilchen einfach Atoms befindet sich im Kern, dessen Radius
nur weiter verteilt sind, warum wirken dann etwa hunderttausend Mal kleiner ist als der
trotzdem starke Kräfte zwischen diesen? Denn Atomradius. Könnte man die Erde auf die
obwohl Wasser viel leichter ist als Gold, ist es Dichte der Atomkerne zusammenpressen, hätte
genauso inkompressibel! Sollten die Kräfte nicht sie statt 12 700 km nur einen Durchmesser von
mit dem Abstand der Teilchen stark abnehmen? etwa 400 m.

Stoffe Verbindungen aufgrund einer Art Sympa- tausend chemische Reaktionen zwischen 27 Säu-
thie füreinander eingehen, finden wir schon bei ren, 8 Basen und 14 Metallen tabellierte.
PARACELSUS und den Stoikern. Erst im 18. Jahr- Anfangs ging man davon aus, dass Verdrän-
hundert wurde begonnen, unter dem Einfluss gungsreaktionen immer vollständig erfolgten,
des neuen Begriffs der Kraft, Bindungsstärken d.h. in der Reaktion AB +C→ AC+ B sollte von
von Substanzen systematisch zu vergleichen. C am Ende nichts mehr übrig bleiben. CLAUDE
NEWTON hatte mit einer Verdrängungsreihe der LOUIS BERTHOLLET (1748 – 1822) erkannte je-
Metalle den Anfang gemacht und der franzö- doch, dass die Umsetzungsgeschwindigkeit um-
sische Chemiker ÉTIENNE FRANÇOIS GEOFFROY gekehrt proportional ist zur Menge des bereits
(1672 – 1731) griff diese Idee auf und veröffent- umgesetzten Stoffes. Die vollständige Umsetzung
lichte 1718 bei der französischen Akademie der tritt nur auf, wenn das Reaktionsprodukt laufend
Wissenschaften seine „Tafel der verschiedenen entfernt wird, etwa indem es als unlöslicher Stoff
Verhältnisse, wie sie zwischen verschiedenen aus der Reaktionslösung ausfällt. Dieses Gesetz
Substanzen beobachtet wurden“ (ÅAbbildung ist heute als Massenwirkungsgesetz bekannt.
3-54). Sie ordnete Stoffe, die miteinander Ver-
bindungen eingehen, nach ihren relativen Bin- Georg Ernst Stahl und das Phlogiston
dungsstärken. Die Bindung zwischen A und
C ist stärker als die zwischen A und B, wenn Der Chemiker GEORG ERNST STAHLL (1659 – 1734)
die folgende Verdrängungsreaktion stattfindet: unterschied zwischen chemischen Prinzipien,
AB + C → AC + B. Im Lauf der folgenden Jahr- auf die alle Verbindungen letzten Endes
zehnte entstanden noch eine ganze Reihe weite- reduziert werden könnten und Partikeln, die der
rer Tafeln chemischer Verdrängungsreaktionen, Materie zugrunde liegen mochten, über deren
unter anderem vom schwedischen Chemiker Beschaffenheit man aber nichts wusste. Für STAHL
TORBEN BERGMAN (1735 – 1784), der mehrere waren die chemischen Prinzipien Wasser, eine

68
Erde, Wasser, Luft und Feuer

metallische, eine verglasbare Erde und eine Erde,


die jedem brennbaren Stoff innewohnt, dem
Phlogiston. Ausgehend von Gedanken JOHAN
JOACHIM BECHERs (1635 – 1682) entwickelte er
eine allgemeine Verbrennungstheorie. An die
Stelle des Sauerstoffs in der späteren Theorie
LAVOISIERs trat das Phlogiston, allerdings mit
umgekehrten Vorzeichen. Je brennbarer ein Stoff
war, desto mehr Phlogiston enthielt er, das er
bei der Verbrennung abgab. Nach STAHL waren
die Metallkalke (Metalloxide) dephlogisiertes
Metall. Metalle entstanden durch Hinzufügen
von Phlogiston zum Kalk, zum Beispiel durch
das Glühen in Holzkohle. Dabei drang das
Phlogiston der Holzkohle in den Kalk ein. Bäume
nahmen Phlogiston aus der Luft auf, womit der
Kreislauf geschlossen war (ÅKasten Zerlegung
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

durch Feuer, Seite 70). Die Phlogistontheorie


k onnte eine ganze Reihe experimenteller
Befunde gut erklären, da sie gewissermaßen
spiegelbildlich zur Oxidationstheorie war.
STAHLs Erklärung der Schwefelverbrennung
öffnete den Weg für ein neues, großindustrielles nimmt als feuchte. Wasserstoff hingegen galt als 3-54
Verfahren der Schwefelsäuregewinnung im ein Kandidat für das Phlogiston selbst. In diesem Affinitäten. GEOFFROY
stellte die Affinitäten von
18. Jahrhundert. Fall sollte allerdings bei dessen Verbindung mit Stoffen in Tabellenform
T
Man könnte meinen, es müsse leicht sein Sauerstoff nicht Wasser, sondern normale Luft dar. In der obersten Zeile
durch Gewichtsmessungen festzustellen, ob et- entstehen: dephlogisierte Luft (Sauerstoff) plus stehen die Substanzen,
die sich mit den darunter
was bei einem chemischen Prozess entweicht Phlogiston = normale Luft! aufgeführten verbinden.
(Phlogiston) oder hinzukommt (Sauerstoff). Al- Je weiter man nach unten
lerdings verbrennen nicht alle Stoffe unter Ge- Von guter und schlechter Luft wandert, desto schwächer
wird die Bindung: Weiter
wichtszunahme, da oft Verbrennungsprodukte
oben stehende Sub-
als Gas entweichen. Und ob eine Gewichtszu- Bereits in der Antike kannte man neben der Luft stanzen verdrängen die
nahme auf eine chemische Verbindung hinweist verschiedenste Ausdünstungen und Dämpfe. Die darunter aufgeführten aus
oder nur auf eine Mischung ist ebenfalls nicht Vorstellung von Luft als einem Gemisch aus der Verbindung nach dem
Schema AB + C → AC + B.
einfach zu klären. Schließlich könnten sich auch Gasen begann sich aber erst im 18. Jahrhundert Die dritte Spalte zeigt die
Feuer- oder Luftteilchen zwischen die Verbren- durchzusetzen. Der Begriff „Gas“ geht auf den Verbindungen der Salpe-
nungspartikel drängen, vielleicht in komprimier- flämischen Naturforscher JOHAN BAPTISTA VAN tersäure (Acide nitreux),
die sich in dieser Spalte am
ter Form, und damit zu einer Gewichtserhöhung HELMONT (1580 – 1644) zurück. Er beschäf- stärksten mit Eisen (Fer)
beitragen. Der Vorstellung, dass bei der Verbren- tigte sich mit der bei der Gärung entstehenden bindet, am schwächsten
nung etwas hinzukommt, stand zudem die Über- luftartigen Substanz (Kohlendioxid), die er gas mit Silber. Links davon
liegt die Spalte der Salz-
zeugung entgegen, dass Feuer zerlegend wirkt. sylvestris (lat. silvestris, wild, bewaldet) nannte, säure (Acide du sel marin),
Diese Überzeugung saß so tief, dass man erwog, in Anlehnung an PARACELSUS, der Luft als chao- die letzte Spalte zeigt die
dem Phlogiston ein negatives Gewicht zuzuwei- tische Materie bezeichnete. JOSEPH BLACK stellte Verbindungen des Was-
sers (Eau) mit Weingeist
sen, um die Gewichtszunahme bei der Verbren- 1756 fest, dass HELMONTs gas sylvestris beim (Esprit de vin) und mit
nung zu erklären. Ein Problem für die Phlogis- Erhitzen von Magnesiumcarbonat entsteht, Salz (Sel), die beide nach
tontheorie entstand erst, als man entdeckte, dass wobei sich dessen Gewicht verringerte. Offen- heutigem Verständnis Mi-
schungen sind.
Wasser aus Sauerstoff und Wasserstoff bestand. sichtlich war das Gas zuvor im Magnesium-
Sauerstoff wurde zunächst im Sinne der Phlogis- carbonat gebunden, weshalb es BLACK fixierte
tontheorie als dephlogisierte Luft interpretiert, Luftt nannte, in Anlehnung an STEPHEN HALES
da er die Verbrennung unterstützte. Er sollte das (1677 – 1761), der glaubte, dass alle Substan-
Phlogiston leichter aufnehmen als normale Luft, zen Luftteilchen enthielten, die für deren Elas-
ähnlich wie trockene Luft leichter Wasser auf- tizität verantwortlich sind (ÅAbbildung 3-50,

69
KAPITEL 3 Historischer Überblick

Zerlegung durch Feuer

Schon HERON VON ALEXANDRIA und PHILON Die Gedanken und Experimente eines Mannes
VON BYZANZ stellten durch Versuche fest, dass hätten, wären sie damals bereits in vollem Um-
eine Kerze beim Brennen Luft verbraucht. Den- fang bekannt geworden, die Chemiker vielleicht
noch saß die Überzeugung, dass Feuer zerlegend schneller auf die richtige Fährte geführt. Der
wirkt und bei der Verbrennung nichts hinzutritt, russische Chemiker und Dichter MICHAILO WAS-
bis ins 18. Jahrhundert hinein so tief, dass frühe SILIEWITSCH LOMONOSSOW (1711 – 1765) schrieb
Hinweise auf die Rolle des Sauerstoffs falsch in einem Brief an den Mathematiker LEONARD
gedeutet wurden. Bereits im 17. Jahrhundert EULER: „Es besteht kein Zweifel, daß die Par-
fanden JOHN MAYOW (1641 – 1679) und ROBERT R tikelchen der Luft, die fortwährend um den
HOOKE heraus, dass bei der Verbrennung eine kalzinierenden [oxidierenden] Körper schwe-
3-55 besondere Art von Luft benötigt wird, die MA- ben, sich mit ihm vereinigen und sein Gewicht
Verbrennung. MAYOW
nahm an, dass „Salpeter- YOW als salpeterartige Luft bezeichnete, da sie vermehren“.
luft“ (Stickoxide) bei der auch bei der Verbrennung von Salpeter (Nitrate) Aber zunächst setzte sich die Phlogiston-
Verbrennung zwischen entsteht. Er entdeckte, dass diese Luft etwa ein theorie durch. Sie passte zu experimentellen
die tria prima der Metalle
drang und sie voneinan- Viertel des Gesamtvolumens ausmacht. Es han- Daten, solange man für Inkonsistenzen in den
der löste. Der entstehende delte sich natürlich um Sauerstoff, dessen Anteil Gewichtsbilanzen andere Ursachen verantwort-
Metallkalk sollte aus den an der Luft 21 Prozent beträgt. Seiner Ansicht lich machte. Das Phlogiston stand zudem in der
Luftteilchen und dem
Salzbestandteil bestehen. nach diente sie dazu, Metalle in ihre Bestand- Tradition eines anderen unwägbaren Stoffes,
STAHL (Mitte) entwickelte teile Schwefel, Salz und Quecksilber (tria prima) des Äthers. Durch Identifikation des Phlogis-
den Kreislauf des Phlogis- zu zerlegen. Die salpeterartige Luft verband sich tons mit dem Äther wurde eine Verbindung
tons, der im Prinzip dem
Oxidations-Reduktions-
daraufhin mit dem entstehenden Salz, was so- zwischen Licht (seit NEWTON als Ätherschwin-
Kreislauf entspricht (un- wohl die Gewichtszunahme der Metalloxide als gungen verstanden), den elektrischen und ma-
terstes Bild), nur anders- auch die Abnahme des Luftvolumens erklären gnetischen Kräften und der Verbrennung ge-
herum. Phlogiston wird
konnte (ÅAbbildung 3-55). schaffen, bei der ebenfalls Licht entstand.
bei der Metallverbrennung
ausgeschieden, es entsteht
Metallkalk (Metalloxid). Seite Seite 66). BLACK stellt auch fest, dass die zeichnete, weil er die Verbrennung unterstützte.
Das Phlogiston kommt
verbleibende Substanz sich chemisch verändert Da sein Buch erst nach JOSEPH PRIESTLEYs Veröf-
über die Luft ins Holz und
bildet beim Glühen von hatte. Fixierte Luft besaß chemische Wirkungen fentlichung über die dephlogisierte Luft erschien,
Metallkalken mit Holz- und unterstützte die Verbrennung und Atmung galt lange Zeit PRIESTLEY als der Entdecker des
kohle wieder Metall. Nicht nicht. CARL WILHELM SCHEELE (1742 –1786) Sauerstoffs. Nach SCHEELEE übte die Feuerluft eine
das Metall, sondern der
Metallkalk ist nach dieser entdeckte 1774 einen weiteren Bestandteil der stärkere Anziehungskraft auf das Phlogiston aus
Vorstellung elementar. Luft, den Sauerstoff, den er als Feuerluftt be- als die brennbaren Substanzen, weshalb ihnen
bei der Verbrennung das Phlogiston entzogen
wurde. Dies galt auch für „kalte“ Oxidationspro-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

zesse wie dem Rosten von Eisen. Er kam zu dem


Schluss, dass die Volumenverminderung bei Ver-
brennungen dadurch zustande kommt, dass sich
Phlogiston mit der Feuerluft zu Wärme und Licht
verbindet, die aus dem Gefäß entweichen. Wärme
sei ein so feiner Stoff, dass er wie das Licht die
geschlossenen Gefäßwände durchdringen könne.
Somit waren drei Bestandteile der Luft be-
kannt: die Feuer- oder dephlogisierte Luft (also
Sauerstoff), der Restteil der Luft, der auch ver-r
dorbene oder phlogisierte Luftt genannt wurde
(im Wesentlichen Stickstoff) und ein Stoff, der
offenbar bei Atmung und Verbrennung entstand,
die sogenannte Luftsäure. Diesen Namen erhielt
das Kohlendioxid, als der schwedische Chemi-
Erde, Wasser, Luft und Feuer

ker TORBEN BERGMAN erkannte, dass Wasser


sauer wurde, wenn man es darin löste. Bei der
Atmung entstand aber auch Phlogiston, das wie
bei Verbrennungsprozessen vom Körper ausge-
schieden wurde. Und da die dephlogisierte Luft
offenbar in ganz besonderem Maße in der Lage
war, Phlogiston aufzunehmen, sollte sie auch der

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


Gesundheit besonders förderlich sein. Schwache
Gesundheit könnte demnach eine Folge eines zu
geringen Sauerstoffgehaltes der Luft sein. Man
vermutete, dass ein Mangel an guter Luft für
lokale Krankheitsbilder wie Fieber in Sumpfge-
genden verantwortlich sei, bis HENRYR CAVENDISH sind die Worte der Aufklärung, die hier zu hö- 3-56
(1731 – 1810) feststellte, dass der Sauerstoffge- ren sind. Ihre geistigen Wurzeln gehen zurück Elektrisiermaschinen.
Versuchsanordnung des
halt überall praktisch unverändert 20,84 Prozent auf den Beginn der Neuzeit, auf Menschen wie Rokokos mit Elektrisier-
betrug. Er entdeckte auch, dass die brennbare FRANCIS BACON und GALILEO GALILEI. Seither maschine (links), deren
Luft, die bei der Zersetzung von Metallen in wuchs eine Gesellschaftsschicht heran, deren erzeugte Ladung an den
Arm eines Zinnsoldaten
Säuren entstand, ein Bestandteil des Wassers Wohlstand nicht mehr an Grundbesitz gekop-
weitergegeben wurde. Der
ist, und identifizierte erstmals den Wasserstoff pelt war, sondern an Handel und Produktion Arm konnte mittels eines
als Gas, das in Verbindung mit dephlogisierter handwerklicher und industrieller Güter. In dem verborgenen Mechanis-
mus Richtung Kanone
Luft explodierte und dabei eine kleine Menge Maß, wie der Adel abhängig wurde von der Pro-
gesenkt werden. Diese
Wasser übrig ließ. Damit fiel das Wasser als duktivität und Finanzkraft dieser neuen Schicht, enthielt eine kleine Menge
Kandidat für ein chemisches Element endgültig wuchs auch deren Selbstbewusstsein. Und die Knallgas, das durch den
aus. CAVENDISH benutzte elektrische Funken, um Erfolge der Wissenschaft schienen zu bestätigen, Funken explodierte.

das Knallgasgemisch zu zünden. Diese Methode dass die Welt mathematisch fassbaren Gesetzen
wurde in der Folgezeit auch zum Amüsement folgt und dass Menschen keineswegs nur der
bei gesellschaftlichen Anlässen genutzt. Man Gnade Gottes ausgeliefert sind. Weg mit Aber-
zündete Knallgaspistolen oder -kanonen durch glauben, es lebe die Vernunft! IMMANUEL KANT
elektrische Funken aus Elektrisiermaschinen drückte es in seinem berühmten Essay „Was ist
(ÅAbbildung 3-56). Aufklärung?“ von 1784 folgendermassen aus:
Bei seinen Versuchen, die übrig gebliebene
phlogisierte Luft mittels elektrischer Funken Aufklärung ist der Ausgang des Menschen
weiter in ihre Bestandteile zu zerlegen, blieb aus seiner selbstverschuldeten Unmündig-
keit. ... Sapere aude! Habe Mut, dich deines
immer ein winziger Teil Restluft übrig, der allen eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der
weiteren Zerlegungsversuchen widerstand. Es Wahlspruch der Aufklärung.
handelte sich um die Edelgase, die erst über hun-
dert Jahre später (1894) von WILLIAM RAMSAY In England gelang es nach der „Glorious Revo-
und Lord RAYLEIGH identifiziert wurden. lution“ von 1688, bürgerliche Rechte erfolgreich
im Rahmen einer konstitutionellen Monarchie
zu etablieren, so dass Wissenschaft, Handwerk
Revolution in Chemie und und Handel gut gedeihen konnten. Deutschland
blieb aufgrund seiner Zersplitterung provinziell
Gesellschaft
und Aufklärung war vor allem ein Thema an
Es muß jetzt klarer Beweis gebracht oder stille den Universitäten. Im absolutistischen Frank-
geschwiegen werden: Der Beweis aber muß in
reich brach sich das neue Denken am Ende mit
keinem Hirngespinste, sondern in Thatsache
bestehen. Hierdurch eben unterscheidet sich Gewalt seine Bahn.
unsere jetzige Zeit vorzüglich von den vorigen
Jahrhunderten... JOHANN CHRISTIAN WIEGLEB Lavoisier – Revolution in der Chemie

Dieses Zitat drückt eine intellektuelle Haltung Die französische Revolution von 1789 wurde
des 18. Jahrhunderts aus, die sich keineswegs einem Mann zum Verhängnis, der nach eigener
nur auf die wissenschaftliche Arbeit bezog. Es Einschätzung und der vieler Zeitgenossen und

71
KAPITEL 3 Historischer Überblick

Nachfolger selbst ein Revolutionär war: ANTOINE hatte, konnte LAVOISIER zeigen, dass Verbrennung
LAURENT DE LAVOISIER (1743 – 1794). LAVOISIER (Oxidation) und Reduktion spiegelbildliche
wurde 1794 auf der Guillotine hingerichtet, Prozesse sind, bei denen keine Masse verloren
denn man warf ihm unter anderem Erpressung geht. Damit war Phlogiston für die Erklärung
des französischen Volkes bei seiner Arbeit als von Verbrennun g s p rozessen überflüssi g
Steuerpächter vor. geworden. Nachdem COMTE DE PELUSE MONGE
LAVOISIERs revolutionäre Arbeit betraf nicht (1746 – 1818) im Jahr 1783 nachgewiesen hatte,
das Feld der Politik, sondern das der Chemie. dass das bei einer Knallgasexplosion entstehende
Er war die treibende Kraft bei der Schaffung Wasser die gleiche Masse besitzt wie beide
einer neuen chemischen Nomenklatur, die wir Ausgangstoffe zusammen, konnte LAVOISIER
heute noch verwenden und wir haben ihm zeigen, dass man Wasser wieder in Wasserstoff
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

die Erkenntnis zu verdanken, dass es keines und Sauerstoff zerlegen kann. Wasserstoff nannte
Phlogistons bedarf, um Verbrennungsprozesse er daher Hydrogène, den Wassererzeuger. Er
zu erklären. LAVOISIER erkannte, dass ein zeigte auch, dass bei anderen Oxidations- und
Bestandteil der Luft, die schon bekannte Feuerluft Reduktionsprozessen wie der Verbrennung von
SCHEELEs, als Erklärung vollkommen ausreicht. Schwefel die Gesamtmasse erhalten blieb. Als
3-57
Lavoisier. Mit seiner Frau, Er nannte diesen Bestandteil in seinem neuen bekannte Chemiker wie BERT R HOLLET und MARTIN
R
der Chemikerin MARIE- Begriffssystem Oxygène, den Säureerzeuger HEINRICH KLAPROTH (1743 – 1817) LAVOISIERs
ANNE PIERRETTE PAULZE. (griech. oxys, scharf, spitz, sauer und gen, Ergebnisse bestätigen konnten, wuchs die Zahl
Portrait von JACQUES-LOUIS
DAV
A ID (1748 – 1825)
erzeugen, gebären), da bei der Verbrennung der Anhänger der Oxidationstheorie und Anfang
nichtmetallischer Stoffe wie Schwefel oder des 19. Jahrhunderts hatte sie sich praktisch
Phosphor ein Gas entsteht, das in Verbindung durchgesetzt. Im Kontext elektrischer, optischer
mit Wasser eine Säure bildet (Schwefel- bzw. und thermischer Erscheinungen hielt sich
Phosphorsäure). Angeregt durch einen Versuch Phlogiston allerdings noch länger (ÅWärme und
PRIESTLEYs, der mit Hilfe eines Brennglases Materie, Seite 90). Auch LAVOISIER behandelte
dephlogisierte Luft aus Quecksilberoxid erzeugt die bei chemischen Reaktionen entstehende
Wärme als chemisches Element und nannte es
3-58
Elemente. Liste der ein- Calorique (lat. Caloricum, ÅAbbildung 3-58).
fachen Substanzen nach Seiner Ansicht nach war der an Substanzen
LAV
A OISIER. Dazu zählten
durch Erhitzen gebundene Wärmestoff für
auch Licht (Lumière) und
Wärmestoff (Calorique), deren Verdampfen verantwortlich. Seine
dessen abstoßende abstoßende Wirkung bildete das Gegenstück zu
Wirkung für Schmelzen den anziehenden Kräften der kleinsten Teilchen.
und Verdampfen verant-
wortlich sein sollte. Er
Wurde einem Körper Wärme zugeführt, so
unterschied zwischen den überwog am Ende die abstoßende Wirkung des
Bestandteilen aller Körper Wärmestoffs und der Körper wurde flüssig.
der belebten und unbeleb-
ten Welt. Neben Licht und
Im Jahr 1787 veröffentlichte LAVOISIER
Wärmestoff unterschied z usa mm e n mi t B ERTH OLLET , F O UR C R O Y
er namentlich Sauerstoff, (1755 – 1809) und G U Y T O N -M O RV E A U
Stickstoff (Azote) und
(1737 – 1816) die Méthode de nomenclature
Wasserstoff, nichtme-
tallische und metallische chimique, in der er die neue Nomenklatur der
Substanzen und die soge- chemischen Substanzen vorstellte. Neben teils
nannten Erden wie Kalk
neuen Bezeichnungen für die Elemente führten sie
(Chaux) oder Siliciumdi-
oxid (Silice). Letztere sind einheitliche Namen für deren Verbindungen ein,
nach heutigem Wissen die wir auch heute noch verwenden. Die Säuren
natürlich keine Elemente, definierte LAVOISIER als binäre Verbindungen
sondern Verbindungen.
zwischen Nichtmetallen und Sauerstoff, ihr Name
wurde aus dem Namen des Elementes abgeleitet.
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

So wurde aus dem althergebrachten Vitriolöl


die Schwefelsäure. Salze definierte LAVOISIER als
ternäre Verbindungen der Metalloxide mit Säuren
(ÅAbbildung 3-61, Seite 74). Er unterschied

72
Erde, Wasser, Luft und Feuer

dabei nach dem Grad der Sauerstoffsättigung der tigt man immer 2 Gewichtsteile Wasserstoff und
Säure, zum Beispiel zwischen Sulfiten und Sulfaten 16 Gewichtsteile Sauerstoff um 18 Gewichts-
als Salze der schwefeligen Säure (H2SO3) und teile Wasser zu erhalten. Dies gilt unabhängig
der Schwefelsäure (H2SO4). Metalloxide nannte davon, ob ein Gewichtsteil einem Gramm oder
er „Basen“, analog definierte er „Radikale“ einer Tonne entspricht. Zwischen 1799 und 1807
der or g anischen Säuren (Weinsteinsäure, entdeckte JOSEPH LOUIS PROUST (1754 – 1826)

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


Zitronensäure usw.), aus denen durch Oxidation durch chemische Analysen das Gesetz der kon-
die entsprechende Säure entstand. In Deutschland stanten Proportionen. Im Gegensatz zu DALTON
wurde die „Antiphlogistontheorie“ und die neue stellte PROUST die Gewichte der Reaktionspartner
Nomenklatur mit deutschen Bezeichnungen als prozentualen Anteil am Gesamtgewicht dar,
von CHRISTOPH GIRTANNE
R R (1760 – 1800) und weshalb ihm die wichtigste Information entging: 3-60
SIGISMUND FRIEDRICH HERMBSTÄDT T (1760 – 1833) Wenn sich zwei Elemente in unterschiedlichen John Dalton. Er gilt als
verbreitet. Mengenverhältnissen miteinander verbinden Begründer der modernen,
auf der Atomtheorie ba-
LAVOISIER sprach bei Elementen von „einfa- können, so stehen diese Mengen immer in einem sierenden Chemie.
chen Substanzen“, die nach aktuellem Wissen ganzzahligen Verhältnis zueinander. Dies ist das
nicht zerlegt werden konnten. Ein Stoff galt so- Gesetz der multiplen Proportionen, das DALTON
lange als einfache Substanz, bis das Gegenteil entdeckte (Å Tabelle 3-59).
bewiesen wurde. Spektakulär war sein öffentli-
cher Nachweis 1773, dass Diamant aus reinem Dalton – Jedem Element eine Atomsorte
Kohlenstoff besteht. Mittels zweier riesiger, mit
Terpentinöl gefüllter Sammellinsen verbrannte er JOHN DALTON wurde 1766 als Sohn eines ar-
einen Diamant mit Hilfe des Sonnenlichts spurlos. men Webers im Nordwesten Englands geboren.
Nicht nur LAVOISIERs Sauerstofftheorie, son- Obwohl er keine wissenschaftliche Ausbildung
dern auch die Ablösung der alten, mehrdeutigen an einer Universität genoss, gelang ihm wis-
Bezeichnungen durch eine Nomenklatur, die den senschaftlich der Weg nach „ganz oben“. 1822
Namen von Verbindungen mit ihrer Zusam- wurde er Mitglied der Royal Society, erhielt
mensetzung assoziierte, sowie der Schwerpunkt 1826 die Goldmedaille der Gesellschaft und
auf quantitative Untersuchungen trugen wesent- 1832 die Doktorwürde der Universität Oxford.
lich zur rasanten Entwicklung der Chemie im DALTON war wissenschaftlich weitgehend Au-
19. Jahrhundert bei. Der Fokus auf Gewichtsmes- todidakt, ab 1787 hielt er öffentliche Vorträge
3-59
sungen half einem anderen Wissenschaftler, den über wissenschaftliche Themen. Der erste behan-
Konstante Proportionen.
Atomismus neu zu formulieren: JOHN DALTON. delte ein medizinisches Thema, das ihn selbst be- Obwohl PROUST erkannte,
traf: die Grün-Blindheit (Deuteranopie), die auch dass die Gewichtsver-
hältnisse bei chemischen
Gleiche Verhältnisse als Daltonismus bekannt ist. DALTON beschrieb
Reaktionen konstant sind,
die Symptome sehr genau; letzte Gewissheit über entging ihm aufgrund der
Aus wie vielen und welchen kleinsten Partikeln die Natur seiner Sehschwäche erhielt man 1995, prozentualen Darstellung
die Korpuskel eines Elements bestehen und ob als der auf dessen eigenen Wunsch konservierte eine wichtige Erkenntnis:
dass die Mengenverhält-
in jedem Korpuskel immer gleich viele Partikel Augapfel DALTONs einer DNA-Analyse unter- nisse zwischen zwei unter-
enthalten sind, darüber gab es Ende des 18. Jahr- zogen wurde. schiedlichen Reaktionen
hunderts keine gesicherten Erkenntnisse. Das gleicher Partner ganzzah-
lig sind: das Gesetz der
heute geläufige Wissen, dass jedes „Korpuskel“ Von Gasen und Flüssigkeiten zur multiplen Proportionen.
eines bestimmten Elementes das gleiche Gewicht Atomtheorie Für DALTON war dies ein
besitzt, war in dieser Zeit nur eine von mehreren Beweis dafür, dass sich
einzelne Atome miteinan-
Optionen. Und so blieben auch die Konsequen- DALTONs Beschäftigung mit meteorologischen der verbinden, wobei ein
zen eines solchen Modells zunächst verborgen: Phänomenen führte ihn zu Fragen über die Zu- Atom jeder Atomsorte ein
dass nämlich in einer chemischen Reaktion die sammensetzung der Atmosphäre, der Verdamp- für sie spezifisches Ge-
wicht besitzt.
Gewichtsanteile der Reaktionspartner stets im
gleichen Verhältnis zueinander stehen, das Ge-
Reaktion Proust Dalton
setz der konstanten Proportionen. Wenn sich
zwei Wasserstoffatome mit einem Sauerstoffatom Sn + O → SnO 88,1 % Sn + 11,9 % O = 100 % SnO 100 g Sn + 13,5 g O = 113,5 g SnO
verbinden und ein Sauerstoffatom sechszehnmal Sn + 2O → SnO2 78,1 % Sn + 21,3 % O = 100 % SnO2
100 g Sn + 27 g O = 127 g SnO2
schwerer ist als ein Wasserstoffatom, dann benö- (27 = 2 · 13,5 !)

73
KAPITEL 3 Historischer Überblick

fung und Kondensation, der Lösung von Gasen druck auf die Gefäßwand ist einfach die Summe
in Flüssigkeiten und über die Natur der Wärme. der Partialdrücke aller Gase im Gefäß. Diese
Dabei entwickelte er eine Atomtheorie, die sich Feststellung ist als Daltonsches Gesetz bekannt.
von den anderen seiner Zeit in vielen Aspekten Aber wie konnte der Prozess des Mischens ab-
unterschied. Für DALTON bestand jedes Element laufen, wenn es keine Kräfte geben sollte, die
(im Sinne LAVOISIERs) aus einer einzigen Art von die unterschiedlichen Gaspartikel zueinander
Atomen und alle Atome desselben Elements wa- ziehen? Warum blieben die Gasmoleküle nicht
ren exakt gleich. Dies stand im Gegensatz zu den einfach unter sich und bildeten Schichten ent-
Auffassungen der meisten Physiker seiner Zeit, sprechend ihres Gewichts wie bei Sedimenten?
nach denen Elemente aus Partikelkonglomeraten Aus heutiger Sicht ist der Fall klar: Gase dif-
bestanden, die keinesfalls identisch sein muss- fundieren ineinander, weil die Gaspartikel sich
ten. Im Gegensatz zu den Vorstellungen anderer mit hoher Geschwindigkeit bewegen. DALTON
Chemiker waren für DALTON Gasmischungen ging wie die meisten seiner Zeitgenossen aber
3-61 oder Lösungen von Gasen in Flüssigkeiten rein davon aus, dass Gaspartikel im Wesentlichen in
Daltons Elemente und mechanische Mischungen und keine Folge der Ruhe sind. Wärme stellte sich DALTON vor als
Verbindungen. Im Ge- chemischen Affinitäten zwischen den Substan- Wärmepartikel, die die Atome umhüllen und
gensatz zu BERZELIUS, der
die heutige gebräuchliche zen. Für DALTON spielten die Affinitäten nur in aufeinander abstoßend wirken. Bei Gasen sei die
Schreibweise für Ele- Verbindungen eine Rolle. Diese waren von Mi- Hülle besonders groß, weshalb die Abstoßungs-
mente und Verbindungen schungen gut zu unterscheiden, da laut DALTON kraft überwiegt. Bei Flüssigkeiten sei sie kleiner,
einführte, verwendete
DALTON noch kreisförmige
nur in Verbindungen die Verbindungspartner Abstoßungskraft und Anziehungskraft der Par-
Symbole (1: Wasserstoff, immer in ganzzahligen Gewichtsverhältnissen tikel (Affinität) halten sich in etwa die Waage,
2: Stickstoff, 3 Kohlenstoff vorlagen. DALTON ließ sich von der Vorstellung weshalb sich die Partikel gegeneinander bewegen
usw.). DALTON bezeichnete
leiten, dass sich Gaspartikel verschiedener Gase lassen. Bei Festkörpern sei die Anziehungskraft
Verbindungen als „binär“,
wenn jeweils nur ein Atom miteinander mischen, ohne sich wechselseitig zu am größten, die Partikel lassen sich nicht gegen-
eines Reaktionspartners beeinflussen, das heißt, ohne dass die verschie- einander bewegen. Die Wärmehüllen vergrößern
beteiligt war, als „ter-
denen Gaspartikel Kräfte aufeinander ausüben. sich bei Erwärmung, weshalb sich Festkörper
när", wenn von einem
Partner zwei Atome be- Jedes Gas verhält sich so, als ob die anderen ausdehnen. Die universelle Rolle der Wärme als
teiligt waren und so fort. Gase nicht vorhanden wären. Das bedeutet, dass abstoßende Kraft war für DALTON der Grund
Wasser sollte aus einem der Druck, den ein Gas in einem Gefäß ausübt, dafür, dass sich alle Gase zumindest innerhalb
Wasserstoff- und einem
Sauerstoffatom bestehen unabhängig ist vom Vorhandensein weiterer eines großen Temperaturbereichs gleich stark
(Nr. 21). Gase, die ihrerseits Druck ausüben. Der Gesamt- ausdehnen. Wäre diese Ausdehnung abhängig
von Anziehungskräften zwischen den Partikeln,
so müssten sich Gase verschieden stark ausdeh-
nen. Die Anziehungskräfte müssen ja von der
Natur der Gase abhängen, da sie für die spezifi-
schen chemischen Verbindungen verantwortlich
gemacht werden. Damit hatte DALTON 1801
sechs Monate vor GAY-LUSSAC (1778 – 1850) das
Erste Gesetz von Gay-Lussac entdeckt.

Atomgewichte messen

DALTON vermutete, dass die unterschiedliche


Wasserlöslichkeit der Gase mit Gewicht und
Zahl ihrer Atome zusammenhängt (was auch im
Großen und Ganzen zutrifft). Er stellte eine Ta-
belle relativer Atomgewichte für 6 Elemente und
15 Verbindungen auf, wobei er dem Wasserstoff
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

das relative Gewicht 1 zuordnete. Sauerstoff


erhielt den Wert 7, Stickstoff den Wert 5. Die
korrekten Werte sind zwar 16 beziehungsweise
14, aber DALTON erkannte das entscheidende

74
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Prinzip: In einer chemischen Verbindung ver- Dies schien der Atomtheorie zu widersprechen,
bindet sich immer eine ganz bestimmte Anzahl denn aus jeweils einem Volumen Stickstoff
Atome der Reaktionspartner miteinander. Daher u n d Saue r sto ff e n tsta n de n z we i Vo l u m e n
blieben ihre Gewichtsverhältnisse auch kons- Stickstoffmonoxid. Müsste das Volumen nicht
tant, unabhängig davon, ob es sich um wenige kleiner werden? Schließlich sollte sich ja die Zahl

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


Gramm oder viele Tonnen handelte und unab- der Teilchen durch die Verbindung halbieren.
hängig von Temperatur und Druck. Aber wie AVOGADRO vermutete, dass alle Gase bei gleicher
konnte man herausfinden, wie viele Atome des Temperatur, Volumen und Druck auch die gleiche
einen Elementes sich mit denen der anderen Ele- Menge an Teilchen enthalten. Er folgerte, dass
mente verbanden? DALTON nahm an, dass sich elementare Gase wie Sauerstoff und Stickstoff
3-62
die Atome zweier Elemente immer paarweise als zweiatomige Verbindung vorliegen, die er Molekülmodelle. DALTON
verbinden, wenn es nur eine Art der Verbin- molécules constituantes nannte, im Gegensatz schloss aus Masseverhält-
dung gab. Gab es zwei unterschiedliche Arten zu den Atomen selbst, die er als molécules nissen bei Reaktionen auf
den Molekülbau. Diese
(also unterschiedliche Mengenverhältnisse), so élémentaires bezeichnete. Damit ließen sich später entstandenen
war es vernünftig anzunehmen, dass sich zu- die Volumenverhältnisse bei der Bildung von Molekülmodelle zeigen
sätzlich ein Atom des einen mit zwei Atomen Stickstoffmonoxid mit der Atomtheorie in Wasser und Ammoniak
bereits mit korrekten Ele-
des anderen verband. Daraus zog DALTON den Einklang bringen: 1 N2 + 1 O2 → 2 NO. Aus zwei mentverhältnissen. Foto:
falschen Schluss, dass Wasser eine Verbindung Teilchen werden wieder zwei Teilchen. Leider British Science Museum,
aus einem Wasserstoff- mit einem Sauerstoff- konnte sich die Idee, dass auch Elemente in London
atom war. Wenn sich 2 g Wasserstoff mit 16 g molekularer Form vorliegen, zunächst nicht
Sauerstoff verbanden, sollte das relative Atom- durchsetzen, doch der bekannte schwedische
gewicht des Sauerstoffs 8 sein, was relativ nah an Chemiker JÖNS JACOB FREIHERR VON BERZELIUS
DALTONs 7 liegt. Nur wenn man korrekterweise (1779 – 1848) bestimmte mit dem Gesetz von
annimmt, dass sich zwei Wasserstoffatome mit GAY-LUSSAC bis 1818 die relativen Atomgewichte
einem Sauerstoffatom verbinden, erhält man den von 45 Elementen und die prozentuale
Wert 16. DALTONs Atomtheorie blieb aufgrund Zusammensetzung von 2000 Verbindungen.
der eben beschriebenen Schwierigkeiten nicht Als Basisgröße benutzte er Sauerstoff mit einem
unangefochten. Chemiker wie WILLIAM HYDE relativem Gewicht von 16, da er diesen als
WOLLASTON (1766 – 1828), der zur Bestätigung zentrales Element der Chemie ansah. BERZELIUS
des Gesetzes der multiplen Proportionen bei- verdanken wir auch die heute noch übliche
getragen hatte, zogen es vor, von (Gewichts-)" Symbolschreibweise für die chemischen Elemente.
Äquivalenten“ anstelle von Atomen zu sprechen.
Gegenüber dem Wasserstoff waren 8 g Sauer- Wasserstoff als Urmaterie
stoff äquivalent zu 16 g Schwefel, da sich beide
Mengen mit 1 g Wasserstoff verbanden. Erst WILLIAM PROUT (1785 – 1850) vermutete, dass Atomgewicht oder Atom-
1860, bei einem Kongress in Karlsruhe, gelang es Wasserstoff der Urstoff der Materie sei, mit masse?
Die beiden Ausdrücke
STANISLAO CANNIZZARO (1826 – 1910) bezüglich Atomgewicht 1. Da aber die anderen Atomge- wurden früher synonym
der Begriffe „Atom“, Molekül“, Atomgewicht wichte meist keine ganzzahligen Vielfache des verwendet. Heute zieht
und „Äquivalent“ Klarheit zu schaffen. Wasserstoffgewichts waren, wurde diese Idee nur man Atommasse vor, denn
während Masse eine in-
von manchen Chemikern akzeptiert. Obwohl härente Eigenschaft eines
Gay-Lussac, A
Avogadro und Berzelius sie im Prinzip richtig ist (ÅKapitel 4 und 11), Körpers ist, versteht man
behinderte sie wohl sogar die Entwicklung, da unter Gewicht nur die
Kraft, mit der ein Körper
Zwei Gesetze halfen , das Problem der manche Chemiker Atomgewichtsmessungen mit (z. B. von der Erde) ange-
Atomgewichte zu lösen: das Gesetz multipler gebrochenen Zahlen gerne „rundeten“ oder ver- zogen wird.
Volumina von GAY-LUSSAC und ALEXANDER VON suchten, das Atomgewicht von Wasserstoff mit
HUMBOLDT (1769 – 1859) und das Avogadrosche 2 oder 4 anzusetzen, was die Übereinstimmung
Gesetz von AMEDEO AVOGADRO (1776 – 1856). verbesserte. Schließlich war die Übereinstim-
Erstere stellten durch Versuche fest, dass die mung doch nicht selten genug, um ganz zufällig
Volumina von Gasen, die miteinander reagieren, zu sein. Erst FREDERICK SODDY (1877 – 1956)
immer in ganzzahligen Verhältnissen zueinander und FRANCIS WILLIAM ASTON (1877 – 1945) ent-
stehen, sofern der Versuch bei der gleichen deckten Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts
Temperatur und dem gleichen Druck stattfand. den Hauptgrund für die Abweichung: Von den

75
KAPITEL 3 Historischer Überblick

Elementen gab es Isotope, also Varianten mit positiven Metalle enthielten. Dieses sogenannte
unterschiedlichem Atomgewicht aber gleichen dualistische System der Verbindungen konnte
chemischen Eigenschaften. In der Natur liegen viele chemische Reaktionen anschaulich deuten
meist Isotopenmischungen vor, weshalb sie keine und blieb lange Zeit populär.
ganzzahligen Vielfache des Wasserstoffs sein
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
konnten. Und noch etwas später erkannte man Verwirrende Vielfalt
die Zusammensetzung der Atomkerne aus Pro-
tonen und Neutronen, die beide den Hauptanteil Be r e i ts L AVOISI ER hatte nachgewiesen,
des Atomgewichts stellen. dass tierische oder pflanzliche Produkte im
Wesentlichen aus Kohlenstoff und Wasserstoff
3-63
u nd zu einem geringen Teil aus Sauerstof f
Justus von Liebig. JUSTUS Von Atomen zu Molekülen bestanden. Dies stand im Gegensatz zur toten
VON LIEBIG war ein äußerst Materie: Während diese offenbar aus einer
produktiver Chemiker. Mit
Hilfe des von ihm ent-
Obwohl die Atomtheorie das Gesetz der mul- g roßen Zahl von Elementen in einfachen
wickelten Kali-Apparats tiplen Proportionen stützte, beeinflusste sie Verbindungen bestand, war organische Materie
konnte man relativ einfach zunächst – ähnlich wie schon die Jahrhunderte aus wenigen Elementen mit einer großen
und sehr genau die Zu-
zuvor – die Chemie nur wenig. Vielen Che- Zahl an Atomen und Verbindungsvarianten
sammensetzung organi-
scher Stoffe bestimmen. mikern genügte der Begriff des Elements und aufgebaut. Die Chemiker FRIEDRICH WÖHLER
Er entdeckte, dass Pflan- die Vorstellung, dass diese in Verbindungen (1800 – 1882) und J U STUS V ON L IEBI G
zen aus dem Boden vor
stets in ganzzahligen Gewichtsverhältnissen (1803 – 1873, (Å Abbildung 3-63) stellten 1832
allem Stickstoff und Phos-
phor aufnehmen, was (Äquivalenten) vorlagen. Der Grund für diese fest, dass sich viele Atomgruppen organischer
ihn zur Entwicklung des Zurückhaltung lag darin, dass Chemikern die Verbindungen wie Elemente verhielten: Sie
Phosphatdüngers führte, bloße Vorstellung von Atomen bei drängenden blieben bei chemischen Reaktionen zusammen.
der die Agrarwirtschaft
des 19. Jahrhunderts re- Fragen nicht weiter half: Warum reagierten B E RZELIU S integrierte diese organischen
volutionierte. Der von ihm Elemente oder Verbindungen mit anderen auf Radikale in sein dualistisches System. Die
entwickelte Fleischextrakt die beobachtete Weise? Und wie konnte man positiv gedachten Radikale sollten sich mit
ist der Vorläufer heutiger
Brühwürfel. Auch der die Eigenschaften von Verbindungen vorher- negativen Elementen wie Sauerstoff verbinden.
Silberspiegel ist eine Erfin- sagen? Aus der Entdeckung, dass elektrischer Allerdings konnte dies nicht erklären, warum
dung Liebigs; vor seiner Strom Verbindungen wie Wasser in die Ele-
Einführung wurde giftiges
Quecksilber eingesetzt.
mente zerlegen kann, folgerten SIR HUMPHRY R
DAVY (1778 – 1829) und BERZELIUS, dass che- Radikale
mische Affinitäten eine Folge elektrischer An-
ziehungs- und Abstoßungskräfte sind (Å Die Heute wird unter einem Radikal eine Gruppe
Kraft der Elektrizität). BERZELIUS stellte sich von Atomen mit ungepaarten Elektronen ver- r
Atome elektrisch polarisiert vor, je nach Ele- standen, die leicht an chemischen Reaktionen
ment überwog dabei die positive oder negative teilnehmen. Die Gruppe wechselt dabei als
Ladung. Entsprechend der Spannungsreihe der Ganzes den Verbindungspartner. Radikale
Elemente sollte Kalium stark positiv, Sauer- sind extrem reaktionsfreudig und wirken
stoff stark negativ polarisiert sein, weshalb sich daher auch als Zellgift. Wichtige Radikale
beide besonders heftig miteinander verbanden. sind das Hydroxyl-Radikal (·OH), das in
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

Wasserstoff nahm eine neutrale Mittelstellung ionisierter Form für die basische Wirkung
ein. Die Trennung der Verbindungen durch von Seifenlaugen verantwortlich ist und das
Elektrolyse war möglich, weil die elektrische von LIEBIG und WÖHLER untersuchte Benzoyl-
Kraft die Verbindungspartner wieder auseinan- Radikal C7H5O·, das in der Benzoesäure, dem
3-64 der riss. BERZELIUS dehnte dieses Prinzip auch Benzoaldehyd und dem Benzylalkohol zu fin-
Liebigbilder. Liebigs auf Verbindungen aus. Sie sollten immer aus den ist. Grundsätzlich hatte BERZELIUS Recht,
Fleischextrakt wurde
einem negativen und einem positiven Teil beste- wenn er elektrische Kräfte zwischen Radikal
weltweit in Packungen
mit humoristischen oder hen, die er nach LAVOISIER als Radikale bezeich- und anderen Komponenten für ihre chemi-
informativen Bildern ver- nete. Metalloxide und Säuren verbanden sich schen Reaktionen verantwortlich machte. Der
kauft. Die Abbildung zeigt zu Salzen, weil Säuren (nach den Vorstellungen Prozess der Bindung ungepaarter Elektronen
eine deutsche Version mit
Darstellungen über Afgha- LAVOISIERs) den stark negativ polarisierten Sau- ist allerdings nur quantenmechanisch zu ver-
nistan. erstoff trugen, während die Metalloxide die stehen (ÅKapitel 4).

76
Erde, Wasser, Luft und Feuer

s i c h K o hl e n sto ff- u n d Wasse r sto ff ato m e in


so großer Zahl verbinden konnten, war doch
ihre Affinität zueinander gering. Als J EA N
B APTISTE D U MA S (180 0 – 1884) erkannte,
dass man den leicht positiven Wasserstoff in
organischen Verbindungen durch Sauerstoff, KEKULÉ ist vor allem bekannt durch seine Ent- 3-65
Chlor und andere stark negative Atome deckung der ringförmigen Struktur des Benzols Benzolring. Diese Dar-
stellung des Benzolringes
ersetzten (substituieren) konnte, ließ sich die (C6H6) und er gilt als einer der Hauptfiguren (links) mit wechselnden
Radikaltheorie in der dualistischen Form bei der Entwicklung der sogenannten Struktur- Einfach- und Doppelbin-
nicht mehr halten; Radikale blieben aber chemie. dungen stammt aus der
Originalschrift AUGUST
weiterhin wichtige Elemente der organischen 1822 und 1823 hatten WÖHLER und LIEBIG
KEKULÉs. Heute wird oft
Chemie (Å Kasten Radikale). JUSTUS VON LIEBIG u nabhän g i g voneinander das Silberc y anat eine der Darstellungen
erkannte zudem, dass nicht der Sauerstoff für (AgOCN) bzw. das Silberfulminat (knallsaures rechts verwendet. Sie
sollen andeuten, dass die
die Säurewirkung verantwortlich ist, sondern S ilber, AgCNO) entdeckt und festgestellt,
Bindungselektronen im
der Wasserstoff. Bei der Reaktion einer Säure dass beide Stoffe zwar die gleiche Menge Benzolring nicht in Dop-
mit einem Metall substituiert dieses den a n Wasserstoff, Kohlenstoff, Stickstof f pelbindungen lokalisiert,
Wasserstoff. Die Substitutionstheorie lieferte u nd Sauerstoff enthielten, aber chemisch sondern völlig gleichmäßig
über den Ring „ver-
ein überzeugendes Modell vieler organischer u nterschiedliche Eigenschaften besitzen, schmiert“ sind. Wasser-
Reaktionen. Der Chemiker ADOLPH WILHELM ein Effekt, den man als Isomerie bezeichnet. stoffatome werden meist
HERMANN KOLBE (1818 – 1884) leitete daraus Silberfulminat ist äußerst explosiv und wird in nicht mehr eingezeichnet,
sondern sie werden an
ab, wie aus anorganischen Stoffen organische Knallerbsen verwendet, Silbercyanat ist giftig, freien Bindungen stets an-
Substanzen durch Substitution von Radikalen nicht explosiv und wesentlich besser in Wasser genommen.
entstehen konnten und bestätigte es 1845 durch löslich. Andere in dieser Zeit bereits bekannten
die Umwandlung von Kohlenstoffdisulfid in Beispiele waren die von FARADAY im Jahr 1825 aus
Essigsäure. Bereits zwanzig Jahre vor WÖHLER Ölgasen gewonnenen Gase Cyclobutan (C4H8)
g elang die Synthese von Oxalsäure (1824) und Ethen (C2H4), sowie die Trauben- und die
und Harnstoff (1828) aus anorganischen Weinsäure. Die Verhältnisse der Elemente in
Substanzen. Die Zeit war damals aber noch einer Verbindung konnten offenbar nicht allein
nicht reif für die revolutionäre Erkenntnis, für deren chemisches Verhalten verantwortlich
dass organische Stoffe auch außerhalb von sein. Nach der Theorie der Valenzen lag es nahe,
Lebewesen erzeugt werden konnten, ganz ohne die Struktur der Moleküle für deren chemisches
Hilfe einer Lebenskraft, der seit dem Altertum Ve rh a l te n ve r a n two r t li c h z u m ac h e n . Di e
stets als notwendig vorausgesetzten vis vitalis. Begriffe Struktur und Strukturformel wurden
von dem russischen Chemiker ALEXANDER
Valenzen und die Strukturchemie MICHAILOWITSCH BUTLEROW (1828 – 1886) in
die Chemie eingeführt.
Eine Konkretisierung der Atomvorstellungen
für die chemische Praxis begann mit der Struktur in 3D: die Stereochemie
Beobachtung von E DWA RD F R ANKLA ND
(1825–1899), dass die Atome von Elementen wie Strukturformeln waren zweidimensionale Ge-
Stickstoff, Phosphor oder Arsen in organischen bilde und sagten nichts aus über die räumli-
Verbindungen nicht beliebig viele Bindungen che Anordnung der Atome. Zwar wusste zu 3-66
zu anderen Atomen eingehen konnten; es gab dieser Zeit niemand, wie man sich Atome und Coupers Strukturformeln.
eine gewisse „Sättigung“. Diese Sättigung wurde Moleküle vorstellen sollte, weshalb die Struk- COUPER nutzte als erster
Strukturformeln che-
von HERMANN WICHELHAUS (1842 – 1927) als turchemie von Chemikern wie KOLBE auch als mischer Verbindungen
Valenz (Wertigkeit) eines Atoms bezeichnet. zu spekulativ abgelehnt wurde; mit der Zeit in ähnlicher Weise wie
Davon aus g ehend p ostulierten 1857/58 mehrten sich jedoch Indizien, dass die räum- heute. Oben ist seine
Formel für Ethanol, unten
ARCHIBALD SCOTT COUPER (1831 – 1892) und liche Struktur eine große Rolle spielt. LOUIS für Oxalsäure dargestellt.
FRIEDRICH AUGUST KEKULÉ VON STRADONITZ PASTEUR (1822 – 1895) hatte schon 1847 festge- Da er für Sauerstoff das
(1829 – 1896) unabhängig voneinander, dass stellt, dass die Salze der Weinsäure polarisiertes Atomgewicht 8 statt 16
annahm, enthalten seine
organische Verbindungen durch Kettenbildung Licht in unterschiedlicher Richtung drehten. Formeln zu viele Sauer-
der vierwertigen Kohlenstoffatome entstehen. KEKULÉ hatte darüber spekuliert, ob man sich stoffatome.

77
KAPITEL 3 Historischer Überblick

das Kohlenstoffatom nicht räumlich vorstellen Die Ordnung der Elemente


müsse und JOHANNES WISLICENUS (1835 – 1902)

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deutete die Isomerie der Milchsäure geometrisch.
JACOBUS HENRICUS VAN T’HOFFT (1852 – 1911) Die Entdeckung der Elemente
und JOSEPH ACHILLE LE BEL (1847 – 1930) waren
es schließlich, die die Stereochemie der Kohlen- Bis 1770 kannte man erst 19 Elemente, davon
stoffverbindungen ausarbeiteten. VAN T’HOFFT 10 bereits seit der Antike (wenngleich man sie
3-67
beschrieb den Kohlenstoff als Tetraeder mit nicht also solche betrachtete). In den folgen-
Chiralität. Sind zwei C-Atom im Mittelpunkt und den Valenzen in den 130 Jahren kamen 60 neue hinzu. Diese
Formen eines Moleküls den Ecken. Da es bei unterschiedlicher Belegung rasante Entwicklung war eine Folge der seit
nicht spiegelsymmetrisch
der Eckpunkte mit Radikalen genau zwei spie- LAVOISIER entstandenen analytischen Chemie mit
zueinander, so spricht
man von Chiralität (Hän- gelsymmetrische Formen gibt, konnten diese der ihren zunehmend empfindlicheren Geräten und
digkeit). Dargestellt wird Grund für das unterschiedliche optische Verhal- Techniken. Seit der Entwicklung der Voltaschen
die räumliche Anordnung Säule um 1800 (ÅDie Kraft der Elektrizität,
ten sein. 1893 erklärte der Schweizer Chemiker
durch Verdickung der
Verbindungslinien. Eine ALFRED WERNER (1866 – 1919) die Struktur von Seite 84) kannte man zudem die Elektrolyse,
gestrichelte Linie deutet Metallsalzkomplexen mit einem Oktaedermo- die Zerlegung von Verbindungen durch elek-
dabei eine nach hinten dell des zentralen Metallatoms. trischen Strom. Damit konnte DAVY die sehr
weisende Verbindung an,
eine durchgezogene Linie Obwohl im 19. Jahrhundert Atomvorstel- reaktionsfreudigen Alkali- und Erdalkalimetalle
weist auf eine Verbindung lungen halfen, chemische Theorien zu formu- Kalium, Natrium, Magnesium, Calcium und
hin, die aus der Blattebene lieren, war man noch weit davon entfernt, che- Strontium isolieren und das nicht minder re-
nach vorn heraus führt.
mische Eigenschaften auf atomare zurückfüh- aktionsfreudige Chlor. Weitere Elemente wie
ren zu können. Letzten Endes wusste bis zum Silicium, Selen und Tantal folgten und 1825 ge-
3-68
Regelmäßigkeit im Pe- Ende des 19. Jahrhundert niemand, in welchem lang HANS CHRISTIAN ØRSTED (1777 – 1851) die
riodensystem. Gruppiert Verhältnis die Atome der Chemiker zu den Reindarstellung von Aluminium, das durch die
man Elemente nach che- kleinsten Teilchen der Physiker standen. Auch komplizierte Herstellung teuerer war als Gold.
mischen Eigenschaften, so
erkennt man zumindest die Ordnung der Elemente konnte nicht aus Ein weiterer Durchbruch war die Spektralzerle-
bei einigen typischen physikalischen Atomtheorien abgeleitet wer- gung des von glühenden Stoffen ausgesandten
Gruppen wie den (Erd-) den, sondern musste anhand ihrer chemischen Lichts. ROBERT WILHELM BUNSEN (1811 – 1899)
Alkalimetallen, den Chal-
kogenen und Halogenen Eigenschaften erarbeitet werden, dies allerdings und GUSTAV ROBERT KIRCHHOFF (1824 – 1887)
Regelmäßigkeiten im Ver- mit großem Erfolg. entdeckten, dass Elemente Licht charakteristi-
lauf der Ordnungszahlen scher Frequenzen sowohl absorbieren als auch
und Atomgewichte.
bei Erhitzung emittieren (Kirchoffsches Gesetz).
Ordnungs- Differenz zum rel. Atomge- Differenz zum Mit dem von ihnen 1860 entwickelten Spektro-
Element Symbol
zahl Vorgänger wicht Vorgänger skop gelang die Entdeckung weiterer Elemente.
Lithium Li 3 6,941 BUNSEN selbst entdeckte das Caesium, das er
nach dessen charakteristischer blauen Spektral-
Natrium Na 11 8 22,990 16,049
linie (von lat. caesius, blaugrau) benannte und
Kalium K 19 8 39,098 16,108
das Rubidium mit dunkelroter Spektrallinie (lat.
Rubidium Rb 37 18 85,468 46,37 ruber, dunkelrot). Lord RAYLEIGH (1842 – 1919)
Magnesium Mg 12 24,305 und WILLIAM RAMSAY (1852 – 1916) erkannten
Calcium Ca 20 8 40,078 15,773 mit Hilfe der Spektralanalyse 1894, dass ein Teil
Strontium Sr 38 18 87,62 47,542 der Restluft, die schon CAVENDISH Rätsel auf-
gegeben hatte, aus einem sehr reaktionsträgen
Barium Ba 56 18 137,33 49,71
Gas bestand, das sie daher Argon (griech. argos,
Sauerstoff O 8 15,999
träge) nannten. Schon 1867 hatten FRANKLAND
Schwefel S 16 8 32,065 16,066 und JOSEPH NORMAN LOCKYER (1836 – 1920)
Selen Se 34 18 78,96 46,895 im Spektrum des Sonnenlichts eine unbekannte
Fluor F 9 18,988 Spektrallinie entdeckt, die auf ein neues Element
Chlor Cl 17 8 35,453 16,465 hindeutete, dem sie den Namen Helium gaben
(griech. helios, Sonne).
Brom Br 35 18 79,904 44,451
Eine besondere Rolle spielte das mittels
Jod J 53 18 126,90 46,996
Spektralanalyse von PAUL EMILE LECOQ DE

78
Erde, Wasser, Luft und Feuer

BOISBAUDRAN (1838 – 1912) entdeckte Element


Gallium. Seine Entdeckung war eine Bestätigung
für das von DIMITRI IWANOWITSCH MENDELEJ E EW
(1834 – 1907) entwickelte Periodensystem der
Elemente, da dieser die Existenz eines Elements
mit entsprechenden Eigenschaften vorhergesagt
hatte.

Von Triaden zum Periodensystem der


Elemente

In den heute gebräuchlichen Darstellungen des


Periodensystems der Elemente scheint gerade
die Periodizität auf der Hand zu liegen: Che-
misch verwandte Elemente wie die Alkalimetalle
Lithium, Natrium und Kalium liegen hübsch
untereinander und der Abstand ihrer Ordnungs-
zahlen folgt einer bestimmten Regel (ÅTabelle
3-68). Allerdings sind die Ordnungszahlen recht
willkürlich, wenn man nicht weiß, dass sie der
Zahl der Protonen des jeweiligen Atoms ent-
sprechen. Zur Zeit der Entdeckung des Perio- Hilfe eine unbekannte Substanz als elementar 3-69
densystems wusste man aber noch nichts von klassifiziert werden konnte. Chemische Elemente und
ihre Entdeckung. Mit dem
Protonen und selbst die Existenz von Atomen Die Bestimmun g von Atom g ewichten
Beginn der analytischen
war alles andere als gesichert. Doch auch bei der Elemente lenkte die Aufmerksamkeit der Chemie gegen Ende des
den relativen Atomgewichten, die man damals Chemiker auf numerische Ordnungskriterien. 18. Jahrhunderts wuchs
teilweise kannte, lässt sich eine gewisse Re- die Zahl der neuentdeck-
Einer der ersten, der Regelmäßigkeiten bei
ten Elemente rasant an.
gelmäßigkeit nicht übersehen. Wir sind heute chemisch ähnlichen Elementen untersuchte, war Beginnend mit Neptunium
gegenüber den Chemikern der zweiten Hälfte JOHANN WOLFGANG DÖBEREINER R (1780 –1849). (Np) wurden seit 1940
des 19. Jahrhunderts allerdings im Vorteil. Wir Er erkannte 1817, dass die Atomgewichte der auch Elemente hergestellt
die auf der Erde nicht
kennen nicht nur das vollständige Periodensys- Erdalkalimetalle Calcium, Strontium und Barium natürlich vorkommen, die
tem aller natürlich vorkommenden Elemente, gerade so beschaffen waren, dass sich der Wert sogenannten Transurane.
sondern wissen auch, warum Regelmäßigkeiten des in der Mitte liegenden Strontiums recht
nicht exakt gelten, sondern nur näherungsweise genau aus dem Mittelwert der beiden anderen
und auch nur bei manchen Gruppen. Führt man ergab. Kurze Zeit später entwickelte LEOPOLD
sich die Situation vor Augen, in denen sich Che- GMELIN N (1788 –1853) ein ähnliches System wie
miker um 1860 befanden, so wird schnell klar, DÖBEREINER R und nannte die Tripel Triaden. Ihm
welches Scharfsinns und Einfallsreichtums es gelang es, 55 Elemente als Triaden anzuordnen.
bedurfte, um das Periodensystem der Elemente, Diese Mittelstellung von Elementen veranlasste
wie wir es heute kennen, zu entwickeln. JEAN-BAPTISTE DUMAS (1800 – 1884) dazu,
Bereits vor 1860 hatte man erkannt, dass über die Möglichkeit von Transmutationen neu
Elemente in Gruppen mit ähnlichen chemischen nachzudenken. Vielleicht waren die mittleren
Eigenschaften eingeteilt werden konnten. So Elemente in Wirklichkeit aus ihren Nachbarn
reagieren die Oxide der Alkalimetalle stark ba- zusammengesetzt? MAX VON PETTENKOFER
sisch, die Halogene hingegen bilden mit Wasser- (1818 – 1901) hingegen konzentrierte sich auf
stoff Säuren. Die meisten damals bekannten Ele- die Differenzen zwischen den Atomgewichten
mente, wie Eisen, Quecksilber, Zink oder Gold ähnlicher Elemente und vermutete, dass diese
ließen sich aber nicht eindeutig anhand ihrer immer Vielfache von 8 sind. In diesem Sinn
chemischen Eigenschaften in Gruppen sortieren. entstanden vor 1860 weitere Versuche, ein System
Eine eindeutige Systematik war gleichwohl wün- der Elemente aufzustellen, das sich auf numerische
schenswert, nicht zuletzt deshalb, weil man über Verhältnisse innerhalb von Gruppen chemisch
kein sicheres Kriterium verfügte, mit dessen ähnlicher Elemente stützte. Keines dieser Systeme

79
KAPITEL 3 Historischer Überblick

war allerdings in der Lage, mehr als nur Bekanntes zwisc h en Atomvo l umen (b estimmt d urc h
zu repräsentieren; es konnten keine neuen AVOGADROs Gesetz) oder Elektronegativität
Elemente vorhergesagt werden. Auch begriffliche und Atomgewicht deutlich gemacht zu haben.
Unsicherheiten behinderten zunächst weiteren Hier zeigt sich besonders gut die Periodizität der
Fortschritt. Bei einem Kongress in Karlsruhe Elemente.
1860 gelang es CANNIZZARO, den Unterschied Trotz dieser Teilerfolge bleibt MENDELEJE EWs
zwischen Äquivalent und Atomgewicht zu Veröffentlichung des Periodensystems 1869 der
klären und die von ihm bestimmten „echten“ entscheidende Durchbruch. Nicht nur war sein
Atomgewichte trugen viel zur Entwicklung des System vollständiger als alle anderen zuvor,
Periodensystems bei. MENDELEJ E EW erkannte auch als erster in aller
In der Zeit zwischen 1860 und 1870 folgte Deutlichkeit, wie wesentlich die aufsteigende
schließlich der Durchbruch, der mit MENDELEJ E EWs Ordnung der Atomgewichte war. Er hatte nicht
Periodensystem der Elemente den entscheidenden nur den Mut, Atomgewichte zu korrigieren,
Abschluss fand. 1862 erkannte ALEXANDRE-EMILE wenn sie dadurch aus chemischer Sicht an die
BÉGUYER DE CHANCOURTOIS R (1819 – 1886), dass „richtige“ Stelle rückten, sondern er betrachtete
die Eigenschaften der Elemente eine periodische Lücken in der aufsteigenden Ordnung als
Funktion des Atomgewichts sind. Er konstruierte Hinweis auf noch unentdeckte Elemente. Auf
ein Periodensystem in Form einer Helix, in der diese Weise postulierte er Eka-Aluminium, Eka-
Elemente mit gleichen Eigenschaften übereinander Bor und Eka-Silicium (von sanskrit eka, eins)
standen. Aufgrund der wenig anschaulichen als neue Elemente, die auch noch zu seinen
Form und weil es nur ungefähr Ähnlichkeiten Lebzeiten gefunden wurden. Eka-Aluminium
wiedergab, blieb dieses Modell weitgehend wurde 1875 von BOISBAUDRAN entdeckt, der es
unbeachtet. JOHN NEWLANDS (1837 – 1898) Gallium nannte. 1879 entdeckte der Schwede
postulierte das Gesetz der Oktaven, nach dem LARS FREDRIK NILSON (1840 – 1899) Eka-Bor
sich die chemischen Eigenschaften nach 8 und nannte es Scandium. Eka-Silicium wurde
Elementen wiederholen. Er entwickelte 1865 ein 1886 von K LEMEN S A LEXA NDER W INKLER
System aus 65 Elementen, in dem er bereits statt (1838 – 1904) entdeckt und erhielt, ganz der
3-70 Atomgewichten eine laufende Ordnungsnummer Tradition folgend, den Namen Germanium.
Das Periodensystem
Mendelejews. In dieser verwendete. Leider erkannte er nicht, dass Diese Erfolge überzeugten die meisten Chemiker
deutschen Übersetzung die heute als Nebengruppen bezeichneten von der Richti g keit des Periodens y stems.
von 1871 erkennt man die Untergruppen die Periodizität erhöhen (ÅTabelle M ENDELEJEW hatte einige chemische und
durchgängige horizontale
Ordnung nach aufstei-
3-68). 1864 veröffentlichte LOTHAR MEYER physikalische Eigenschaften der prognostizierten
gendem Atomgewicht. (1830 – 1895) in einem Lehrbuch eine Tabelle Elemente aufgrund ihrer vermeintlichen Position
Die vertikale Gruppierung von 28 Elementen, geordnet nach Atomgewichten im Periodensystem vorhergesagt, die sich als
folgt chemischen Eigen-
schaften, insbesondere
und Valenzen. Diese Tabelle wies bereits eine weitgehend zutreffend erwiesen.
der Wertigkeit, die sich Lücke für das damals noch unbekannte Element Natürlich blieb die Ursache der Ordnung der
durch die Verhältnisse in Germanium auf; MEYER wagte allerdings keine Elemente im 19. Jahrhundert ein Mysterium.
Verbindungen mit Was-
Prognose. Ein umfangreicheres Periodensystem Erst im 20. Jahrhundert gelang es, die Ordnung
serstoff und Sauerstoff
ausdrückt. Durch diese mit 52 Elementen entwarf er 1868 im Rahmen des Periodensystems aus der Struktur der Atome
Darstellung ergeben sich einer Vorlesungsreihe, veröffentlichte es aber erst selbst abzuleiten. —
natürlicherweise Lücken, nach MENDELEJ E EWs Arbeit von 1869, weshalb sich
die oft durch später ent-
deckte Elemente aufgefüllt zwischen beiden ein Prioritätenstreit entspann. Feld und Materie
werden konnten. MEYERs Verdienst ist es, den Zusammenhang
Von der Natur des Lichts
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

I m Z e i ta l te r de r M ob il te l e f o n e wu n de rn
wir uns kaum mehr über die geheimnisvolle
Fernwirkung elektromagnetischer Strahlung,
g eschwei g e denn über ihre Fähi g keit, den
leeren Raum zu durchdringen. Obwohl schon
DEMOKRIT und EPIKUR die Existenz des leeren
R aumes postulierten, glaubten sie nicht,

80
Erde, Wasser, Luft und Feuer

dass eine Wirkung ohne materiellen Kontakt dass unser Auge das von Gegenständen reflek-
möglich sei. Und dank des Durchbruchs der tierte Licht wahrnimmt. Es fehlte allerdings noch
mechanistischen Naturphilosophie hatten lange Zeit eine schlüssige Theorie über die Natur
Verweise auf körperlose Wirkungen in der des Licht"stoffes“ selbst. NEWTON favorisierte
frühen Neuzeit den Ruch des My stischen. die Vorstellung, dass Licht ein Strom von Teil-
Elektromagnetische Felder und Wellen als etwas chen ist, während HUYGENS in Anlehnung an
real Existierendes zu betrachten, fiel Physikern DESCARTES glaubte, Licht sei eine Anregung des
lange schwer. Bis ins frühe 20. Jahrhundert Äthers. Das sogenannte Huygenssche Prinzip
hinein gingen die meisten davon aus, dass es erklärt auf dieser Basis anschaulich Brechung,
eine körperliche Substanz gibt, einen Äther, Beugung und Reflexion von Licht an Medien-
der Träger dieser Wellen ist. Der Entdecker grenzen (Å Abbildung 3-71). Gegen einen Strom 3-71
der elektromagnetischen Strahlung, HEINRICH aus Lichtteilchen sprach vor allem eines: Wie Huygensche Elemen-
H ERTZ ( 1857 – 1894 ) , d rüc k te d ies 1889 können sich Lichtstrahlen ungestört durchdrin- tarwellen. Trifft eine
Wellenfront wie dar-
folgendermaßen aus: gen? HUYGENS’ Modell orientierte sich deshalb gestellt schräg auf eine
an der Ausbreitung von Schallwellen in Luft, bei Mediengrenze, so breiten
Die Wellentheorie des Lichts ist, menschlich dem diese Schwierigkeit nicht bestand. Die Rolle sich von links beginnend
gesprochen, Gewißheit: was aus derselben mit der Luft nahm der Äther ein, dessen Teilchen um Elementarwellen im un-
Notwendigkeit folgt, ist ebenfalls Gewißheit. Es teren Medium aus. Ist die
ist also auch gewiß, daß aller Raum, von dem
vieles kleiner, elastischer und härter sein sollten Ausbreitungsgeschwindig-
wir Kunde haben, nicht leer ist, sondern erfüllt als die der übrigen Materie. Durch ihre geringe keit im unteren Medium
Größe konnten sie sich auch zwischen anderen größer als im oberen, sind
mit einem Stoffe, welcher fähig ist, Wellen zu
die ersten Elementarwel-
schlagen, dem Äther. Materieteilchen bewegen, weswegen Licht durch len schneller als die später
ein evakuiertes Glasgefäß zu scheinen vermag. eintreffenden. Die Wel-
Erst EINSTEINs Relativitätstheorie machte den A uc h N E WTO N vertrat zeitweise die lenfront, gebildet aus den
Scheiteln aller Elemen-
Äther überflüssig. In seinen Worten: Vorstellung eines raumerfüllenden Äthers. Licht tarwellen knickt deshalb
bestehe aus Teilchen, die sich durch den Äther nach innen ein.
Physikalischer Raum und Äther sind nur ver- bewegen, wogegen Wärme durch Schwingungen
schiedene Ausdrücke für ein und dieselbe Sache; des Äthers selbst verursacht werde, vermutete er.
Felder sind physikalische Zustände des Raumes.
Denn wenn dem Äther kein besonderer Bewe-
Die geradlinige Ausbreitung des Lichts konnte
gungszustand zukommt, so scheint kein Grund seiner Ansicht nach nicht durch die Bewegung
dafür vorzuliegen, ihn neben dem Raum als ein des Äthers selbst hervorgerufen werden,
Wesen besonderer Art einzuführen. die turbulente Wärmeausbreitung hingegen
sehr wohl. N EW T O N s Kor p uskulartheorie
Dass es sich bei Licht, Magnetismus und Elek- konnte Brechung, Streuung und Reflektion
trizität um die Wirkung derselben Kräfte han- weniger elegant erklären, dafür aber die
delt, war bis zum 19. Jahrhundert unbekannt. unterschiedliche Polarisation des Lichts beim
Bedenkt man die Vielfalt und Verschiedenheit Durchgang durch doppelbrechende Kristalle.
dieser Erscheinungen, so zählt ihre erfolgreiche HUYGENS ging von Ätherschwingungen parallel
Erklärung durch eine einzige Theorie zu den zur Ausbreitungsrichtung aus, sogenannten
größten Erfolgen der Physik. Als unerwartet Longitudinalwellen. Die Schwingungen
schwierig erwies sich aber, das Zusammenspiel konnten sich also nicht unterscheiden, die
zwischen Strahlung und Materie zu erklären. Polarisation blieb unerklärt. Als später THOMAS
Y OU N G ( 1773 – 1829 ) und A UGUS TI N J EA N
Welle oder Korpuskel – FRESNEL (1788 – 1827) zeigten, dass Licht eine
HUYGENS oder NEWTON Transversalwelle ist (das heißt, die Schwingung
erfolgt senkrecht zur Ausbreitungsrichtung),
Lange Zeit war der Zusammenhang zwischen k o nn te auc h d i e P o l a ri sat i o n du r c h d i e
betrachtetem Gegenstand, Auge und Licht im We ll e n t h eo ri e e rkl ä r t we r de n . N E W T O N S
Wahrnehmungsprozess umstritten. Unklar war Korpus k u l art h eorie h errsc h te d ennoc h
unter anderem, ob etwas vom Gegenstand aus- knapp ein Jahrhundert lang vor, bis 1802 die
ging und das Auge trifft oder ob das Auge Seh- Doppelspaltexperimente von THOMAS YOUNG
strahlen aussendet. Der islamische Gelehrte IBN endgültig den Nachweis erbrachten, dass Licht
AL HAITHAM kam schließlich zu dem Schluss, eine Wellenerscheinung war.

81
KAPITEL 3 Historischer Überblick

Seltsame Kräfte: unmittelbar nachdem sie in Berührung mit dem


Elektrizität und Magnetismus Bernstein kamen, abgestoßen werden. Feuchte
Stoffe wurden abgestoßen, allerdings nicht, wenn
Elektrizität und Magnetismus sind Erscheinun- sie mit Öl befeuchtet wurden. Wasser wurde
gen, die den Menschen schon lange bekannt sind. angezogen, sobald man aber mit dem Stein zu
Wenige hätten sich jedoch vor dem 19. Jahrhun- nahe kam, geschah das Gegenteil.
dert träumen lassen, dass diese Kräfte für prak- Magnete (von griech. lithos magnes, Stein
tisch alles verantwortlich sind, was unsere Wahr-
r aus Magnesia) in Form des Magnetits (ein Ei-
nehmung und unser tägliches Leben bestimmt. senoxid) und ihre Wirkung auf Eisen waren in
Die elektromagnetische Strahlung der Sonne China und Europa ebenfalls schon in vorchrist-
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wärmt die Erde und spendet uns Licht; alle licher Zeit bekannt. Unerklärlich blieben die
chemischen Reaktionen von der Verbrennung Fernwirkung von Magneten und die Fähigkeit,
bis zum Stoffwechsel sind Folgen elektromag- durch andere Stoffe hindurch zu wirken. So
netischer Kräfte. Und natürlich ist die Funktion zitiert ARISTOTELES THALES, der Magneten eine
unseres Gehirns ohne sie nicht denkbar. Seele zuschrieb, weil sie in der Lage waren, Kör-
Das Phänomen der elektrostatischen Anzie- per ohne direkten Kontakt zu bewegen.
3-72 hung nach Reiben von Bernstein war bereits
Natürlicher Bernstein.
Das fossile Baumharz
in der Antike bekannt. In vornehmen antiken Von fließenden Formen und Ausflüssen
enthält oft Einschlüsse von Haushalten wurde Bernstein als Kleiderbürste
Pflanzen- und Tierresten. verwendet, weil er den Staub anzog. Der Begriff Die Erklärungsversuche von Magnetismus und
Es schwimmt auf Wasser
und lässt sich polieren.
Elektron leitet sich vom griechischen Namen Elektrizität waren in der Neuzeit zunächst ge-
Dank seines hohen elek- électron des Bernsteins ab, was so viel bedeutet prägt durch die vorherrschenden naturphilo-
trischen Widerstands leitet wie „hell, glänzend, strahlend“. Die Germanen sophischen Strömungen. Auf der einen Seite
er durch Reibung entste-
fanden seine Brennbarkeit bemerkenswert: Bern- standen mechanistische Erklärungen, auf der
hende Oberflächenladun-
gen schlecht ab und zeigt stein stammt ab vom mittelniederdeutschen bör- r anderen Seite solche, die sich noch auf aristote-
elektrische Phänomene nen (brennen). Die Natur der elektrischen Phäno- lisches Gedankengut oder Sympathien stützten.
wie etwa die Anziehung
mene bereitete anfangs reichlich Kopfzerbrechen. Besonders schwierig war Elektrizität einzuord-
kleiner Papierschnipsel.
Der griechische Name für Kleine Partikel konnten zunächst angezogen und, nen. Sowohl die elektrisierbaren als auch die
Bernstein ist Elektron. angezogenen Stoffe waren völlig unterschied-
licher Natur, so dass es schwer fiel, ihnen eine
Richtungsweisend: der Magnetkompass gemeinsame Eigenschaft zuzuschreiben. Auch
das delikate Zusammenspiel von Anziehung und
Die ersten Aufzeichnungen über den Ge-
Abstoßung narrte die Experimentatoren.
brauch eines Magnetkompasses für die Na-
Dem Londoner Arzt WILLIAM GILBERT
vigation in Europa stammen von dem engli-
(1544 – 1603) verdanken wir den Begriff Elektri-
schen Wissenschaftler ALEXANDER NECKAM
zität für die Kraft, die elektrisch geladene Stoffe
(1157 – 1217). Am bekanntesten ist der aus-
ausüben, und die Entdeckung weiterer elektri-
führliche Bericht PETER PEREGRINUS von 1269
sierbarer Stoffe neben Bernstein. Er bezeichnete
über in Wasser sich ausrichtende Magnet-
diese Stoffe als Electrics. GILBERT
R betrachtete die
steine und trocken gelagerte Magnetnadeln.
magnetische Kraft als eine essenzielle Eigenschaft
Er nannte die beiden Enden der Magnete in
des Erdelements. Sie sei im aristotelischen Sinn
Anlehnung an die Erde „Pole".
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

eine Form, die aus dem Erdelement herausfließt.


In China finden sich Berichte über Kom-
Diese Form bringe die Form des Eisens zu einer
passe schon Ende des 11. Jahrhunderts, wahr-
natürlichen Selbstbewegung. Elektrizität hingegen
scheinlich war der Kompass aber bereits um
konnte keine essenzielle Eigenschaft eines Körpers
die Zeitenwende bekannt. Kompasse waren
sein, da sie ja völlig unterschiedlichen Körpern
3-73 im Rahmen des Feng Shui wichtig, der Lehre
zukam und auf alle Körper einwirkt. Es sollte
Natürlicher Magnetit. von Wind und Wasser und Harmonie. Min-
Fundort: Chile. Magnetit sich um eine besondere Ausdünstung der Erde
destens seit dem 11. Jahrhundert war den
ist seit der Frühzeit für handeln, ein Fluidum, das durch Reibung aus den
seine auffälligen Anzie- Chinesen auch die Deklination des Kompas-
Stoffen entweicht und eine klebrige Wirkung be-
hungskräfte bekannt, und ses bekannt, also dessen Abweichung von der
für das gesamte Phäno- sitzt. Da damit die abstoßende Wirkung der Elek-
exakten Nord-Südrichtung.
men namensgebend. trizität nicht erklärbar war, stellte sich NICCOLO

82
Erde, Wasser, Luft und Feuer

CABEO (1586 – 1650) ein sehr feines Fluidum vor, 3-74


das durch Reibung dem Körper entströmt und Leitender Körper. GRAY
wies nach, dass auch der
die umgebende Luft zurückdrängt. Diese strömt menschliche Körper das
kurz darauf wieder zurück und nimmt kleine elektrische Fluidum leitet,
Körper mit sich. Die Abstoßung kommt durch eine Fähigkeit, die gern

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


bei gesellschaftlichen
Verwirbelungen in der Luft zustande. SIR KENELM
Anlässen demonstriert
DIGBY (1603 – 1665) und andere vermuteten die wurde.
Existenz eines fadenartigen Fluidums, das wie
Leimruten umgebende Körper anzieht. ROBERT R
BOYLE wies mit Hilfe seiner neu entwickelten
Luftpumpe schließlich nach, dass die elektrische lassen, mit Ausnahme von Metallen, Flüssig-
Anziehung auch im Vakuum bestehen bleibt. Er keiten und weichen Stoffen, die nicht gerieben
und HONORÉÉ FABRI (1607 – 1688) entdeckten um werden können. Jedes isolierte Material ließ
1665, dass nicht nur die elektrisierbaren Körper sich zudem durch Kontakt elektrisieren. DUFAY F
andere anzogen, sondern auch umgekehrt. Dies erkannte auch die Systematik von Anziehung
ließ sich kaum mit herrschenden Fluidumtheorien und Abstoßung: Ein nicht elektrisierter Körper
in Einklang bringen. wird angezogen, durch Kontakt elektrisiert und
Für CHRISTIAAN HUYGENS war der Äther daraufhin abgestoßen. Er machte wie HUYGENS
für die elektrische Anziehung und Abstoßung Wirbel elektrischer Materie dafür verantwortlich
verantwortlich. Durch Reibung eines Körpers (ÅAbbildung 3-75). Bei entsprechenden Versu-
werde der Äther angeregt und bilde kleine Wir- chen fand DUFAY
F allerdings, dass sich elektrisierte
bel, die je nach Orientierung anziehend oder Körper keineswegs immer abstoßen! Je nach Ma-
abstoßend wirken können. Da der Äther viel terial konnten sie sich anziehen oder abstoßen.
feiner sei als Luftteilchen, sei er auch im Vakuum Es musste also zwei Arten elektrischer Materie
vorhanden, weshalb auch dort die elektrische und elektrischer Wirbel geben. Die Vorstellung
Kraft spürbar wäre. von Wirbeln elektrischer Materie zweierlei Natur
blieb für einige Zeit nach DUFAY
F das Standarder-
Transportables Fluidum klärungsmodell für elektrische Phänomene. 3-75
Elektrische Wirbel. DUFAY
machte Wirbel elektrischer
Der Färber STEPHEN GRAY (1666 – 1736) ent- Elektrisches Fluidum kann man sammeln Materie für Anziehung
deckte 1729, dass Hanfschnüre das elektrische und Abstoßung verant-
Fluidum offenbar weiterleiten konnten: Elek- D e r L e i de n e r Pr o f esso r P I E T E R VA N wortlich. Ein ungelade-
nes Goldblättchen wird
trisierte man das eine Ende, konnte man am M U SSC HENBR OEK (1692 – 1761) und der durch die Wirbel eines
anderen Ende kleine Federn anziehen. Er konnte pommersche Prälat EWALD JÜRGEN VON KLEIST elektrisierten Glasstabes
die Elektrizität über eine etwa 200 Meter lange (1700 – 1748) stellten unabhängig voneinander angezogen (oben). Sobald
es elektrisiert ist, bilden es
Hanfschnur transportieren, die erste Hochspan- fest, dass die Entladung eines elektrisierten selbst Wirbel, die abgesto-
nungsleitung der Geschichte! GRAY fand heraus, Metalldrahtes, der in einem g eerdeten, ßen werden (unten).
dass sich nicht alle Materialien als Leiter eignen. wassergefüllten Glasgefäß steckte, viel stärker
Pflanzenfasern, Metalle und der menschliche Kör- r war, als bei einem elektrisch isolierten Gefäß.
per (ÅAbbildung 3-74) funktionierten gut, Seide, Aber nach allem, was man zu wissen glaubte,
Glas und Haare hingegen nicht. Seine Ergebnisse sollte das elektrische Fluidum ohne Isolation
waren eine Herausforderung für Fluidumtheo- einfach in den Boden abfließen! Es gab keine
rien, denn ganz offensichtlich vermag das Flu- 3-76
idum Glas zu durchdringen, da Federn durch Elektrische Zündung. Entzünden von Alkohol durch eine Elektrisiermaschine. Der Strom
Glas hindurch angezogen werden. Glas war aber wird über die Stange bis zur Spitze des Degens geleitet, wo der Funke auf einen Löffel
mit Alkohol überspringt und diesen entzündet. 1744 entzündete CHRISTIAN FRIEDRICH LU-
gleichzeitig ein guter Isolator für durch Schnüre DOLPH Spiritus durch Funken über einem Eiszapfen und einem Wasserstrahl als Leiter, ein
fließendes Fluidum! damals sehr überraschendes Ergebnis, wurden doch Funken meist mit Feuer identifiziert!
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Es gibt zwei Arten elektrischer Materie

CHARLES DUFAY F (1698 – 1739) entdeckte, dass


alle Materialien sich durch Reibung elektrisieren
KAPITEL 3 Historischer Überblick

Theorie der Elektrizität, die die verstärkende 3-79


Benjamin Franklin. Man kann ihn als Verkörperung des
Wirkung der sogenannten Leidener Flasche amerikanischen Traums sehen: Als 15. Kind in armen Ver-
befriedigend erklären konnte. Ab 1748 war klar, hältnissen in Boston geboren, wurde er
dass es nicht darauf ankam, was in der Flasche Druckereibesitzer, Verleger, Schrift-
steller, Generalpostmeister, Staats-
war und SIR WILLIAM WATSON (1715 – 1787) mann, Erfinder und berühmter
konnte zeigen, dass ein innen mit Metallfolie Naturwissenschaftler. Auf ihn geht
verkleidetes Glasgefäß die gleichen Dienste tat die Erfindung des Blitzableiters
und der Bifokalbrille zurück und er
(Å Abbildung 3-77). war 1776 einer der Gründerväter
der Vereinigten.Staaten. Bild von
JEAN-BAPTISTE GREUZE
Über Ladungen und elektrische
Atmosphären
3-77 Umgebung. Die Atmosphärentheorie litt unter
Leidener Flasche als Kon-
densator. Eine Leidener BENJ
N AMIN FRANKLINs (1706 – 1790) Vorstellung ähnlichen Problemen wie die Fluidumtheorie:
Flasche ist ein Kondensa- nach besaß jeder Körper eine ihm zugeordnete Das symmetrische Verhalten negativer und po-
tor. Die Hand bildet die Menge an elektrischer Materie. Wurde näm- sitiver Ladungen war damit nicht vernünftig zu
eine Platte, der Inhalt der
Flasche die andere. Das lich ein isoliert stehender Mensch elektrisiert, erklären. FRANKLIN erkannte bei seinen Versu-
Glas fungiert als isolieren- so konnte er seine Elektrizität an einen zweiten, chen, dass Entladungen an Spitzen über größere
des Dielektrikum. Statt ebenfalls isolierten Menschen abgeben, wobei Abstände möglich sind als an Flächen. Er führte
Wasser ist es vollkommen
ausreichend, die Innenflä-
er die eigene Elektrizität verlor. Dieser Vorgang dies darauf zurück, dass sich die Atmosphäre
che mit einer Metallfolie ließ sich zwar mehrmals wiederholen, allerdings an Spitzen leichter vom Körper löst. Diese Be-
zu verkleiden, da sich die wurde der Effekt von Mal zu Mal schwächer. Ir- obachtung führte FRANKLIN zur Erfindung des
Ladungen an der Fläche
sammeln. BENJAMIN WILSON
gendwann spürte die zweite Person bei der Berüh- Blitzableiters. Der erste wurde 1752 in Frank-
(1721 – 1788) entdeckte, rung keinen elektrischen Schlag mehr. FRANKLIN reich erfolgreich getestet und noch im selben
dass die Stärke der Ent- vermutete, dass sich elektrische Materie abstößt, Jahr europaweit an verschiedenen Gebäuden
ladung proportional zur
während normale Materie aufeinander anziehend installiert.
Wasserfüllhöhe und
umgekehrt proportional wirkt. Wird ein Körper durch Reibung elektri-
zur Glasdicke ist. Dies siert, so entstehe in ihm ein Überschuss an elekt-
entspricht dem Gesetz für
die elektrische Kapazität C
rischer Materie, er wird – in FRANKLINs Worten – Die Kraft der Elektrizität
eines Plattenkondensators positiv geladen, während das Reibzeug die gleiche
mit der Fläche A und der Menge verliert, also negativ geladen wird. Mangel FRANKLINs Modell positiv und negativ geladener
Dicke d des Dielektrikums: und Überschuss an elektrischer Materie stehen Körper wurde schnell akzeptiert. Umstritten
C ~ A/d
immer im Gleichgewicht zueinander. Damit konn- blieben die Natur der Ladungen und ihre Kraft-
ten viele Beobachtung zwanglos erklärt werden: wirkungen. Neben FRANKLINs Atmosphäre, die
Zwei isoliert stehende Menschen werden nur positiv geladene Körper umgeben sollte, blieben
solange elektrisiert, bis beider Aufnahmekapazität auch noch Fluidumtheorien im Gespräch, wahl-
für elektrische Materie erschöpft ist. Und eine weise mit unterschiedlichen Fluida für positiv
Leidener Flasche kann Elektrizität nur sammeln, und negativ geladene Körper. Aber keine konnte
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

weil die innen zugeführte elektrische Materie in alle Beobachtungen überzeugend erklären, und
gleicher Menge durch die geerdete Außenseite die Natur der elektrischen Kräfte und Ladungen
abgeführt wird, eine isolierte Flasche vermag dies blieb noch einige Zeit im Dunkeln.
nicht. Weil FRANKLIN negative Ladung als einen
Mangel an elektrischer Materie ansah (und nicht Wo steckt die Ladung?
3-78 als eine andere Art von Ladung), war allerdings
Franklins Experiment. Es
ist nicht jedermanns Sa-
schwer zu erklären, warum sich negative geladene FRANKLIN glaubte, dass bei Leidener Flaschen
che, einen Drachen in eine Körper abstoßen. die elektrische Materie im Glas stecke und beim
Gewitterwolke steigen zu Auch FRANKLIN bemühte sich um eine me- Aufladen aus diesem verdrängt werde. Erstaun-
lassen. Aus heutiger Sicht
chanistische Erklärung der abstoßenden und
hatte BENJAMIN FRANKLIN 3-80
großes Glück, seinen be- anziehenden Wirkung elektrischer Materie. Sie Franklins Ladungen. Für FRANKLIN gab es nur eine Art
rühmten Versuch zu über- sollte Folge einer elektrischen Atmosphäre sein, elektrischer Ladung. Ein Körper ist positiv geladen, wenn
leben, bei dem er Funken die geladene Körper umgibt. Überschüssige La- er zuviel und negativ, wenn er zu wenig davon enthält.
aus einem Metallschlüssel Jeder Körper enthält im neutralen Zustand eine ihm zuge-
am Ende der Drachen- dung war in dieser Atmosphäre konzentriert und
ordnete Ladungsmenge.
schnur ziehen konnte. sorgte für die Fernwirkung auf Körper in der

84
Erde, Wasser, Luft und Feuer

lich war ein Versuch von ALESSANDRO VOLTA jeweils bestehend aus einer Kupfer- oder Silber-
(1745 – 1827). Er goss einen Zinnteller mit Harz und einer Zinkscheibe. Zwischen den Elementen
aus, elektrisierte das Harz durch Reibung und wird eine mit Salzwasser gedrängte Papp- oder
erdete den Zinnteller. Daraufhin legte er eine Filzscheibe gelegt. In der Kupfer-Zink – Version
an seidenen Schnüren aufgehängte, mit Metall- konnten bei 23 Elementen immerhin etwa 36
folie überzogenen Scheibe auf die Harzfläche Volt Spannung erzielt werden. Durch nicht unge-
(ÅAbbildung 3-81). Dann entlud er die Scheibe fährliche Selbstversuche mit Zunge, Augen und

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


durch Kurzschluss mit dem Zinnteller und hob Ohren stellte VOLTA anhand der beobachteten
sie hoch. Zu seinem Erstaunen konnte er aus ihr Sinneseindrücke fest, dass offensichtlich auch
wieder Funken ziehen. Mehr noch: Nach erneu- die sensorischen Nerven durch elektrische Reize
tem Absenken der Scheibe war die Ladung wie- erregt werden.
der verschwunden, hob man sie erneut, war sie 3-81
wieder da! Diesen Prozess konnte man beliebig Die chemische Kraft der Elektrizität Elektrophor. Nachbau
eines Elektrophors von
oft wiederholen! Wo versteckte sich die Ladung?
VOLTA, einer Art Konden-
VOLTA führte den Begriff Spannung (ital. Die Voltasäule entpuppte sich als außerordent- sator. Er besteht aus einem
tensione) für das Bestreben eines Körpers ein, lich hilfreiches chemisches Analyseinstrument, mit Harz ausgegossenen
sich von seiner überschüssigen Elektrizität zu da es über einen längeren Zeitraum elektrische Zinnteller und einer an
seidenen Schnüren aufge-
befreien. Je weiter er nämlich die Scheibe von Materie (d.h. Strom) lieferte. In den Jahren nach hängten, mit Metallfolie
der Harzfläche entfernte, desto heftiger waren 1800 entdeckte SIR HUMPFRY R DAVY durch elek- überzogenen Scheibe.
die Funken. Am Ende stellte VOLTA fest, dass trische Zerlegung weitere chemische Elemente, Das Harz wird durch Rei-
bung aufgeladen und der
die Aufnahmekapazität C eines Körpers für unter anderem Natrium und Kalium die sich Zinnteller geerdet. Entlädt
eine Ladung Q von der Spannung U abhing und aufgrund ihrer starken Reaktionsfähigkeit sehr man danach die Scheibe
stellte das bekannte Gesetz Q = C · U auf, das den schwer auf chemischem Weg darstellen lassen. durch Kurzschluss mit dem
Zinnteller und hebt sie an-
Zusammenhang zwischen der Kapazität eines Über die Natur der chemischen Kraft der Elek- schließend hoch, so kann
Kondensators, seiner Ladung und der zwischen trizität konnte man damals nur spekulieren, man aus ihr wieder Fun-
den Platten herrschenden Spannung beschrieb. aber JOHANN WILHELM RITTER (1776 – 1810) ken ziehen. Diesen Prozess
kann man ohne erneutes
vermutete bereits, dass die Kraft der Voltasäule Laden der Harzschicht
Froschschenkel und Batterien auf die unterschiedliche Oxidationsfähigkeit der mehrfach wiederholen.
verwendeten Metalle zurückzuführen sei, da er
Die Entdeckung, dass zwischen zwei unter- feststellte, dass an der Zinkscheibe Zinkoxid
schiedlichen Metallen eine Spannung herrscht, entstand. VOLTA hatte zuvor eine Art Span-
verdanken wir dem Bologneser Anatomie- nungsreihe der Metalle entwickelt, indem er
professor LUIGI GALVANI (1737 – 1798). Beim die elektrische Kraft von Metallkombinationen
Hantieren mit präparierten Froschschenkeln in durch den mehr oder minder sauren Geschmack
Nachbarschaft einer Elektrisiermaschine stellte auf der Zunge maß. MICHAEL FARADAY stellte
er fest, dass die Schenkelmuskeln zuckten, wenn schließlich 1832 die Grundgesetze auf, denen
er die Nervenenden mit einem Messer berührte. die chemische Zerlegung von Stoffen folgt. Er
Und 1786 entdeckte er durch Zufall, dass der prägte dafür den Begriff Elektrolyse und auch
Muskel auch dann zuckte, wenn das Metall, die Bezeichnung Elektrolyt für die leitfähige
das den freigelegten Nerv berührte, ein anderes Flüssigkeit, aus der die Stoffe abgeschiedenen
war als das am Schenkel, sofern beide Metalle werden. Die in die Flüssigkeit tauchenden Me-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

miteinander in Kontakt standen. ALESSANDRO tallstäbe nannte er Elektroden (nach griech.


VOLTA führte dazu 1792 eigene Versuche durch elektron und hodós, Weg), die positiv geladene
und nannte die Fähigkeit zweier verbundener Elektrode Anode (griech., Aufstieg), die negativ
Metalle, elektrische Ladungen zu bewegen, geladene Kathode (griech., Hinabweg).
elektromotorische Kraft, ein Begriff der auch
heute noch für die Spannung von Batterien oder 3-82
Elektromagnetismus Galvanis Froschschenkel.
Stromgeneratoren gebräuchlich ist. Weitere Un- Die elektrische Erregung
tersuchungen führten Volta schließlich 1800 Eine Verbindung zwischen Magnetismus und der Nerven präparierter
zur Erfindung der Voltaschen Säule, der ersten Elektrizität wurde vermutet, als man die elek- Froschschenkel führten,
wie LUIGI GALV
LVANI beob-
Batterie (ÅAbbildung 3-83, Seite 86). Sie ent- trische Natur des Blitzes erkannte. So wurde achtete, zur Kontraktion
steht durch Aufschichten mehrerer Elemente, im 17. und 18. Jahrhundert verschiedentlich der Schenkelmuskeln.

85
KAPITEL 3 Historischer Überblick

berichtet, dass Schiffskompasse nach einem ganzen Raum in unterschiedlichen Richtungen


Blitzeinschlag nicht mehr nach Norden wiesen, entlang von Feldlinien wirken können, lieferte
sondern umgepolt waren. Schließlich erkannte einen erfolgreichen Ansatz zur Erklärung der
der Däne HANS CHRISTIAN ØRSTED (1777 – 1851) magnetischen Wirkungen. Durch eine geschickte
im Jahr 1820, dass eine Magnetnadel abgelenkt Versuchsanordnung gelang es FARADAY, die
wird, wenn sie parallel zu einem stromführen- kreisförmige Kraftwirkung eines Stabmagneten
den Draht ausgerichtet ist. Die französischen auf einen stromführenden Draht nachzuweisen.
Physiker JEAN-BAPTISTE BIOT (1774 – 1862) und FARADAY entdeckte bei seinen Experimenten
FÉLIX SAVART (1791 – 1841) konnten noch im zur Wirkung von Magnetfeldern auf Licht den
3-83
Voltasche Säule. Zwei gleichen Jahr eine quantitative Beschreibung nach ihm benannten Faraday-Effekt. Bestimmte
Metalle, die über eine dieser Kraftwirkung aufstellen, das sogenannte Materialien drehen unter der Wirkung eines
leitfähige Lösung verbun- Biot-Savart-Gesetz. Magnetfeldes die Polarisationsebene eines ein-
den sind (z.B. über ein
in Salzwasser getränktes ANDRÉ MARIE AMPÈRE schließlich berechnete fallenden Lichtstrahls. Dieser Effekt spielte bei
Papier), bilden ein elek- 1820 die Kraft zwischen zwei stromführenden Ansätzen, die optischen Phänomene durch Ei-
trochemisches Element. Leitern und stellte fest, dass es je nach Strom- genschaften eines Lichtäthers zu erklären, eine
Abhängig von der Stellung
der Metalle in der Span- richtung zu einer Anziehung oder Abstoßung wichtige Rolle (ÅDer Lichtäther, Seite 87).
nungsreihe können daran zwischen den Leitern kam. Da eine Stromschleife Jede Theorie sollte diesen Effekt richtig voraus-
ca. 1– 2 Volt abgegriffen und ein flacher Magnet außen identische Felder sagen. Dies gelang allerdings erst JAMES CLERK
werden. Durch Stapeln
solcher Elemente konnte
erzeugen, vermutete er, dass Magnetismus durch MAXWELL auf konsistente Weise, in dem er Licht
VOLTA hohe Spannungen winzige Stromkreise erzeugt wird. Während sie selbst als elektromagnetische Welle auffasste.
erzeugen. Solche Batterien in normalen Stoffen ungeordnet sind und sich
verbrauchen sich langsam
durch Auflösung des un-
dadurch ihre Außenwirkung aufhebt, sind sie Der theoretische Abschluss – Maxwell
edleren Metalls. in Magneten parallel angeordnet, wodurch sich
ihre Wirkung addiert. D em schottischen Physiker J AME S C LERK
MAXWELL (1831 – 1879) gelang es bis 1864,
Elektrische Induktion und Feldlinien die bis dahin gefundenen Gesetze zu erweitern
und in eine zusammenhängende Form zu
MICHAEL FARADAY beschäftigte sich seit 1821 bringen. Die unter dem Namen Maxwellsche
mit Elektrodynamik und zehn Jahre später ge- Gleichungen bekannten Gesetze bilden die
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

lang ihm der Nachweis der magnetischen Induk- Grundla g e der O p tik, der Nachrichten-
tion. Bereits vorher vermutete man, dass elektri- und der Starkstromtechnik , in ihnen sind
sche Ströme sich nicht nur magnetisch, sondern praktisch alle elektrischen und magnetischen
auch elektrisch beeinflussen sollten, wie dies Erscheinungen vereint. MAXWELL nutzte die
elektrische Ladungen tun. Aber erst FARADAY Feldlinienvorstellungen FARADAYS und erkannte
3-84 erkannte, dass nicht der Strom selbst, sondern auch die Symmetrie der elektromagnetischen
Andre Marie Ampère
die Änderung g der Stromstärke eine Spannung in Erscheinungen. Ein sich änderndes elektrisches
(1775 – 1836). Er vermu-
tete, dass Magnetismus einem zweiten Leiter induzierte. FARADAY nutzte
durch winzige Stromkreise um stromführende Leiter kreisende Feldlinien
erzeugt wird und sollte als Modell der elektromagnetischen Wirkung.
damit recht behalten.
Sie sollten sowohl die mechanischen Kräfte
zwischen Leitern oder Magneten als auch die
Strominduktion vermitteln. Die damals übli-
chen Vorstellungen gingen von einer Fernwir-
kung zwischen Körpern aus, die wie unsichtbare
Fäden nur auf deren Verbindungslinie wirken
sollte. Erst die Idee FARADAYs, dass Kräfte im 3-86
Faradayscher Käfig. FARADAY ist vor allem durch den Fa-
3-85 radayschen Käfig bekannt. Durch ein äußeres elektrisches
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

Michael Faraday. Der Physiker auf einer frühen Daguer- Feld (äußere Platten) werden in einem Leiter (Kasten
rotypie. Er begann sich während seiner Buchbinderlehre innen) die Elektronen so verschoben, dass das dadurch
für die Naturwissenschaften zu interessieren. Seine Noti- entstehende Feld das äußere gerade kompensiert: Das In-
zen sandte er an DAVA Y, der ihn daraufhin 1813 als Assis- nere des durch den Leiter umschlossenen Bereichs bleibt
tent der Royal Institution in London anstellte. Dort wurde feldfrei. Dieser Effekt schützt vor dem Feld eines Blitzes,
er 1827 Professor für Chemie. der in den Käfig einschlägt.

86
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Die Maxwellschen Gleichungen

Die Maxwellschen Gleichungen drücken die Symmetrie der


elektrischen und magnetischen Wirkungen aus. Ein sich
änderndes elektrischen Feld E erzeugt einen magnetischen
Fluss B, ein sich ändernder Magnetfluss ein elektrisches
Feld. Auch sich bewegende elektrische Ladungen, also ein
Strom j erzeugen einen Magnetfluss. Sich bewegende ma-
gnetische Ladungen („Monopole“) würden ebenfalls ein
elektrisches Feld erzeugen. Da es sie wohl nicht gibt, ist der
entsprechende Stromterm 0. Der mathematische Ausdruck
„rot“ vor E und B repräsentiert die zirkuläre Natur der die
Feldlinien oder Stromflüsse umschließenden Felder.
Elektrische Felder beginnen oder enden an Ladungen. La-
dungen sind Quellen elektrischer Felder. Da es wohl keine
magnetischen Ladungen gibt, haben Magnetfelder keine
Quellen, sie beginnen und enden nirgends, sondern bilden
geschlossene Linien. Mathematisch wird dies ausgedrückt
durch die sogenannte Divergenz div. Sie ist bei Feldern mit
Quellen ungleich 0, bei zirkulären Feldern 0. In den Max-
wellschen Gleichungen steht ρ für die Ladungsdichte.

Feld erzeugt ein Magnetfeld und umgekehrt. Auf Verfügung standen, um Gebilde wie Wirbell oder
diese Weise kann sich eine elektromagnetische Kraftlinien auch quantitativ zu beschreiben, ent-
Welle (je nach Schwingungsfrequenz standen im Laufe des 19. Jahrhunderts immer
als Radiowelle, Radarstrahl, Licht oder ausgefeiltere Modelle eines Mediums, das alles
Röntgenstrahl) durch wechselseitige Erregung durchdringen und Träger der elektromagneti-
im freien Raum ausbreiten ( Å K aste n Di e schen Kräfte sein sollte: der Äther. Es sollte einige

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Maxwellschen Gleichungen). — Zeit dauern, bis klar war, dass der Äther des
Lichts und der des Elektromagnetismus identisch
sein mussten.
Der Äther
Der Lichtäther
Mysteriöses Medium des Lichts
AUGUSTIN JEAN N FRESNEL (1788 –1827) entwickelte
Im 19. Jahrhundert ging man davon aus, dass zwischen 1816 und 1819 die sogenannten Fres-
alle natürlichen Erscheinungen zumindest im nelschen Formeln. Sie beschreiben das Verhältnis
Prinzip auf die Bewegungen von Materieteilchen der Amplituden von reflektiertem zu transmittier-
r
zurückgeführt werden können. Gestützt wurde tem Licht an Grenzflächen und verhalfen der Wel-
diese Sichtweise durch den Nachweis der Äqui- lentheorie des Lichts zum Durchbruch gegenüber
valenz von Wärmeenergie und mechanischer der bis dahin vorherrschenden Korpuskularthe-
Energie, wie er 1843 JAMES PRESCOTT JOULE orie. FRESNEL bediente sich eines mechanischen
(1818 – 1889) und Julius ROBERT VON MAYER Modells des Lichtäthers, das an die Eigenschaften
(1814 – 1878) gelang. In den folgenden Jahr- elastischer Festkörper angelehnt war. Da FRESNELS
zehnten wurden auch die thermodynamischen Formeln experimentell bestätigt wurden, war es 3-87
Augustin Jean Fresnel
Phänomene auf das kollektive Verhalten von notwendig, das zugrundeliegende Äthermodell (1788 – 1827). Bekannt
Materieteilchen zurückgeführt (Å Wärme und auf eine solidere Basis zu stellen. Nur, welche wurde FRESNEL vor allem
Materie, Seite 90). Es lag daher nahe, Elektro- Eigenschaften musste dieser Äther haben, um die durch die Erfindung ex-
trem flacher Linsen, die
magnetismus und Licht ebenfalls mechanisch beobachteten Phänomene zu erklären? Handelte insbesondere auf Leucht-
zu begründen. Als mathematische Methoden zur es sich um ein Kontinuum oder um Partikel? War türmen eingesetzt werden.

87
KAPITEL 3 Historischer Überblick

3-88 WILLIAM THOMSON erkannte bereits 1842 die


Fester oder flüssiger
Analogie zwischen der Ausbreitung von Wärme
Äther. Ist der Äther ein
Festkörper, so ist die und der Struktur elektrischer Felder. Er verfolgte
Ausbreitung des Lichts in den folgenden Jahren mechanische Modelle
als Transversalwelle leicht eines Äthers, der für die elektromagnetischen Ei-
erklärbar. Schwer zu erklä-
ren sind Phänomene wie genschaften verantwortlich sein sollte. Während
der Faraday-Effekt, der er anfangs Modelle elastischer Festkörper bevor- r
eher auf eine kreisförmige zugte, verfolgte er später Flüssigkeitsmodelle. In
Bewegung des Äthers hin-
weist. Dies wiederum ist seiner Abhandlung „On Vortex Atoms“ (über
leichter durch einen flüssi- Wirbelatome) von 1867 nahm dieser flüssige
gen Äther zu erklären. der Äther eher flüssig oder fest? Da Licht offen- Äther die Rolle eines universalen Mediums ein,
bar bestimmte Körper durchdrang, sollte dies das nicht nur Träger elektromagnetischer Kräfte
auch für den Äther gelten. Da der Äther auch war, sondern das Substrat der Materie selbst.
den Weltraum ausfüllt (sonst könnten wir das Materie war nichts anderes als eine wirbelartige
Licht der Sterne nicht sehen), warum bremst er Verdichtung des Äthers. Die Vorstellung von
nicht die Bewegung der Himmelskörper? Ätherwirbeln war motiviert durch die Kreisform
Im 1 9 . J ahrhundert wurden weitere der Magnetfelder um einen stromführenden Lei-
mechanische Modelle des Lichtäthers aufgestellt. ter und durch den Faraday-Effekt, die beide mit-
Sie stützten sich auf Methoden zur Berechnung tels eines flüssigen Äthers einfacher zu erklären
der Eigenschaften elastischer Körper und waren (ÅAbbildung 3-88).
Flüssigkeiten, die damals durch CLAUDE LOUIS
MARIE HENRI NAVIER (1785 -1836), GEORGE Befreiung von der Knechtschaft der
GABRIEL STOKES (1819 – 1903) und GEORGE Materie
GREEN (1793 – 1841) entwickelt wurden. Das
Ergebnis blieb insgesamt unbefriedigend. Es E rst M A X W EL L fand zu einer präzisen
stellte sich heraus, dass keine Theorie des Äthers Definition des Feldbegriffs. Die Maxwellschen
auf der Basis physikalisch nachvollziehbarer Gleichungen ordnen jedem Punkt im Raum
Annahmen über dessen Eigenschaften alle eine Feldstärke zu und „funktionieren“ ohne
optischen Phänomene befriedigend erklären mechanisch vermittelte Energieübertragung,
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

konnte. denn die Feldstärke selbst ist Maß für die


Kraftwirkung auf Körper an jedem Punkt
Von Feldlinien zum elektromagnetischen i m Raum; man konnte also völli g auf ein
Äther Trä g ermedium verzichten. M A XWELL wa r
a llerdin g s davon überzeu g t, dass eine
3-89
Maxwells Honigwaben. FARADAY sprach 1845 von Magnetfeldern und m echanische Ursache vorla g . Er schu f
Maxwell schuf ein mecha- WILLIAM THOMSON, der spätere LORD KELVIN, e ine Art Honigwabenmodell des Äthers,
nisches Modell des Äthers, nutzte 1849 erstmals den Begriff des Kraft- i n dem Ätherwirbel für die ma g netischen
in dem Wirbel (dargestellt
als Honigwaben) des feldes. FARADAY ging anfangs davon aus, dass Erscheinungen verantwortlich waren und sich
Äthers für die magneti- die Kraftübertragung bei der elektromagne- dazwischen bewegende kugelförmige Partikel
schen Wirkungen verant- tischen Induktion durch die Polarisation der f ür die elektrischen ( Å Abbildung 3-89).
wortlich sind. Elektrischer
Strom besteht aus der
Materieteilchen des Dielektrikums vermittelt MAXWELL diente dieses Modell als Illustration
Bewegung kleiner Kugeln wird. Feldlinien repräsentierten dabei die geo- der Möglichkeit einer mechanischen Erklärung,
zwischen den Wirbeln. Im metrische Ausrichtung der polarisierten Par- nicht als Darstellung der realen Verhältnisse.
Bild ist ein Stromfluss von
A nach B dargestellt, der
tikel. Auf welche Weise allerdings die Kraft Letzten Endes war der genaue Mechanismus
die Wirbel in Bewegung zwischen den polarisierten Teilchen vermittelt auch nicht relevant. Zu MAXWELLs Zeiten war
versetzt und dadurch wird, ließ FARADAY offen. In einem späteren bereits bekannt, dass die Bewegungsgleichungen
ein Magnetfeld erzeugt.
Werk (1844) verzichtete er vollständig auf eines Systems aus dem sehr allgemeinen Prinzip
Umgekehrt bewirken
unterschiedlich schnell Partikelvorstellungen und entwickelte eine Art d er kleinsten Wirkung abgeleitet werden
rotierende Wirbel eine Feldtheorie der Materie. Die Kraftfelder waren konnten. Diese nach seinem Erfinder JOSEPH-
Ausgleichsbewegung der darin reale Objekte der Natur, Materiepartikel L OU I S L AGR AN GE ( 1736 – 1813 ) L agrange-
elektrischen Partikel: Die
Änderung des Magnetfel- hingegen nichts anderes als die Konzentration Formalismus genannte Methode ließ sich auf
des bewirkt einen Strom. von Kraftlinien in Kraftzentren. ein System sehr vieler Teilchen wie Festkörper,

88
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Flüssigkeiten oder den Äther anwenden. Im Äther und Materie


Grenzfall konnte man mit unendlich vielen,
u n e n d li c h kl e in e n P a r t ik e ln a r be i te n u n d
d adurch ein Feld wie eine Ansammlung Strom und Ladungen bestehen aus
winzigster Partikel behandeln. Dieser Ansatz

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Elektronen
liegt auch Quantenfeldtheorien zugrunde,
die Felder als „gequantelt“ betrachten, also Die Faradayschen Gesetze zur Elektrolyse (ÅDie
aus kleinsten Energie“portionen“ bestehend chemische Kraft der Elektrizität, Seite 85)
( Å Wellenfunktionen und Q uantenfelder, lieferten bereits Hinweise darauf, dass die elek-
Seite 431). trische Ladung in Form ganzzahliger Vielfacher 3-90
So befand sich die Physik in der zweiten einer Elementarladung auftritt und an Mate- Joseph John Thompson
Hälfte des 19. Jahrhundert in der Situation, dass rieteilchen gebunden ist. Den Begriff „Elekt- (1886 – 1940). Bei der
Arbeit im Cavendish Labo-
einerseits zentrale Phänomene nicht zwanglos ron“ für diese Elementarladung prägten 1874 ratory in Cambridge.
auf materielle Wechselwirkungen zurückgeführt HERMANN LUDWIG FERDINAND VON HELMHOLTZ
werden konnten, man aber gleichwohl über ein (1821 – 1894) und GEORGE JOHNSTONE STONEY
begriffliches Instrumentarium verfügte, das den (1826 – 1911). Sie konnten aufgrund der Fa-
Rekurs auf die Körperlichkeit überflüssig machte. radayschen Gesetze deren Größe berechnen.
Und mancher Physiker fragte sich, wozu man denn Entscheidend für die „Entdeckung“ des Elek-
überhaupt noch auf eine materielle Fundierung trons als Teilchen war ein Phänomen, dessen
bestehen solle. Man könne sich genauso gut gleich technische Nutzung ein wichtiges Element der
von der „Knechtschaft der Materie“ befreien, Freizeitgestaltung werden sollte: die Kathoden-
wie der Physiker GEORGE FRANCIS FITZGERALD strahlen. In der Bildröhre eines alten Fernsehers
(1851 – 1901) meinte. Für ihn war der Äther bringt ein sich schnell bewegender Kathoden-
schlicht das, was in der Maxwellschen Theorie strahl die innere Beschichtung der Mattscheibe
als magnetisches und elektrisches Feld definiert zum Leuchten. Schon seit Mitte des 18. Jahrhun- 3-91
war, nicht mehr und nicht weniger. derts war bekannt, dass verdünnte Gase durch Thompsons Experimente.
Anlegen einer Spannung zum Leuchten gebracht Thompson bestimmte das
Ladung-Masse-Verhältnis
Licht ist eine elektromagnetische Welle werden konnten. JULIUS PLÜCKER (1801 – 1868) e/m von Elektronen und
und WILHELM HITTORF (1824 – 1914) stellten deren Geschwindigkeit auf
Dafür, dass es sich bei Licht um eine elek- fest, dass offensichtlich eine Art Strahlung aus unterschiedliche Weise.
Experiment 1 nutzt die
tromagnetische Welle handeln könnte, gab der negativ geladenen „Kathode“ austrat, die Ablenkung der Strahlen in
es zu MAXWELLS Zeiten einige Hinweise, ein sich geradlinig ausbreitete und Substanzen beim einem Magnetfeld (Spulen
direkter experimenteller Nachweis war aber Auftreffen zum Leuchten anregte. Zudem konn- sind nicht dargestellt).
Aus dem Bahnradius r des
zunächst unmöglich. HEINRICH RUDOLF HERTZ ten diese Strahlen durch Magnetfelder abgelenkt
abgelenkten Strahls lassen
(1857 – 1894) konnte schließlich zeigen, dass werden. 1871 vermutete CROMWELL VARLEY sich e/m und v bestim-
es elektromagnetische Wellen niedriger Fre- (1832 – 1919), dass es sich um negativ geladene men. Experiment 2 nutzt
quenz gibt, die sich mit Lichtgeschwindigkeit Teilchen handelte. Sie mussten wesentlich kleiner eine mit verdünntem Gas
gefüllte Glasglocke, in der
ausbreiten. Ihm gelang 1886 die Übertragung sein als Atome, da sie dünne Folien durchdrin- Kathodenstrahlen eine
elektromagnetischer Wellen von einem Sender gen konnten. Gleichzeitig waren sie offenbar Leuchtspur hinterlassen.
zu einem Empfänger und er zeigte 1888 expe- Bestandteil aller Atome, da die Wahl des Katho- Die Ablenkung der Strah-
len durch ein Magnetfeld
rimentell, dass elektromagnetische Wellen die denmaterials keine Rolle spielte. JEAN-BAPTISTE kann durch ein auf die
gleichen Beugungs-, Interferenz- und Polarisa- PERRIN (1870 – 1942) gelang schließlich 1895 Glocke aufgetragenes
tionserscheinungen zeigen wie Licht. HERTZ Raster vermessen wer-
den. Experiment 3 nutzt
zeigte auch, dass periodisch schwingende elek- neben der magnetischen
trische Ladungen (allgemeiner: sich beschleu- Ablenkung (Spulen nicht
nigt bewegende Ladungen) elektromagnetische dargestellt) die elektrische
Ablenkung mittels 2 Kon-
Wellen ausstrahlen. Dies legte eine Erklärung densatorplatten. Justiert
für die Emissions- und Absorptionsspektren der man beide so, dass die
chemischen Elemente nahe, die von KIRCHHOFF magnetische Ablenkung
durch die elektrische ge-
und BUNSEN 1859 entdeckt wurden: Sie konn-
rade kompensiert wird,
ten eine Folge charakteristischer Oszillationen kann man e/m und v be-
elektrischer Ladungen der Atome sein. stimmen.
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89
KAPITEL 3 Historischer Überblick

Energie-Impuls-Tensor. der Nachweis, dass es sich bei Kathodenstrahlen kann. War mithin Masse nichts an d eres
Der Energie-Impuls-Tensor
T
ist eine mehrkompo- um negativ geladene Teilchen handelte. JOSEPH a ls ein elektromagnetischer Effekt? Die
nentige mathematische JOHN THOMPSON (1856 – 1940) bestimmte 1897 elektromagnetische Theorie der Masse erfreute
Größe, in der die Energie- deren Masse aus der Ablenkung in einem Ma- sich bis Anfang des 20. Jahrhunderts großer
und Impulsdichte in Zeit
und Raum beschrieben
gnetfeld und der durch die kinetische Energie Beliebtheit. Im Gegensatz zu den mechanischen
wird. In einem druck- und an der Anode entstehenden Wärme. Er entwi- Ä thertheorien des Elektromagnetismus
beschleunigungsfreien ckelte auch ein Modell des Atoms, in dem die erschien sie wesentlich eleganter und einfacher.
Bezugssystem reduziert
sich der T
Tensor auf die
Elektronen in die Materie des Atoms wie in Auch konnten um die Jahrhundertwende die
Energiedichte. Ruht in einem Pudding eingebettet waren oder sich darin Physiker HENRI POINCARÉ (1854 – 1912) und
diesem Bezugssystem auf Kreisbahnen bewegten (ÅDie Struktur des MAX ABRAHAM (1875 – 1922) zeigen, dass
ein homogener Körper
Atoms, Seite 98). dem elektromagnetischen Feld umgekehrt ein
der Dichte ρ, so ist der
Energie-Impuls-Tensor
T Impuls zugeordnet werden kann, der auf Körper
innerhalb des Körpers Lorentz’ Elektronentheorie als Strahlungsdruck wirkt. Da auch hier der
einfach gleich ρc2, c ist die Impulserhaltungssatz gelten musste, konnte man
Lichtgeschwindigkeit. Dies
folgt aus der Einsteinschen MAXWELL und HERT R Z nahmen einen überall ru- einem Feld der Energie E die Masse m zuordnen,
Beziehung E = mcc2 für die henden Äther an, bewegte Ladungen sollten ört- nach der etwas später durch EINSTEIN berühmt
Gesamtenergie des Kör- liche Änderungen des Ätherzustands bewirken, gewordenen Formel E = mc2.
pers mit der Masse m.
sichtbar durch entsprechende Feldstärkeände- Falls Masse ausschließlich elektromagneti-
rungen. Ein ruhender Äther stand allerdings im scher Natur sein sollte, musste für sie nach HEA-
Widerspruch zur experimentell gut belegten Fres- VISIDE, WIEN und ABRAHAM allerdings E = ¾mc2
nelschen Gleichung. Sie wies auf einen mit dem gelten.
Medium mitbewegten Äther hin. Das Problem, Das von den Vertretern der elektromag-
den Bewegungszustand des Äthers widerspruchs- netischen Theorie angestrebte Ziel, auch die
frei zu bestimmen, führte letzten Endes zu dessen Gravitation und die molekularen Kräfte auf
Aufgabe im Zuge der Speziellen Relativitätsthe- die Dynamik elektrischer Ladungen zurück zu
orie. HENDRIK ANTOON LORENTZ (1853– 1928) führen, erwies sich letzten Endes als undurch-
gelang es 1892 in seiner Elektronentheorie, führbar. Und doch bereiteten sie den Weg für
sowohl die Fresnelsche Gleichung als auch die eine andere Theorie, die die Äquivalenz von
Maxwellschen Gleichungen für stoffliche Medien Masse und Energie postulierte: die Spezielle
mit der Bewegung freier Elektronen und den Relativitätstheorie EINSTEINs. 1933 gelang der
Schwingungen elektrischer Dipole zu begründen; endgültige experimentelle Nachweis der voll-
der Äther ruhte im Raum und diente lediglich als ständigen Äquivalenz beider Größen. Die Phy-
Träger elektromagnetischer Felder. Ursprung aller siker PATRICK MAYNARD BLACKETT (1897 – 1974)
elektrischen und magnetischen Erscheinungen und GUISEPPE OCCHIALINI (1907– 1993) zeigten
waren nach LORENTZ ausschließlich (bewegte) die Erzeugung von Elektron-Positron-Paaren aus
elektrische Teilchen. Die Frequenzabhängigkeit Gammastrahlung und deren Vernichtung. Auch
des Brechungsindexes, die Dispersion, konnte die Abweichung um den Faktor ¾ zwischen der
LORENTZ damit ebenso erklären wie die 1896 ent- elektromagnetischen Theorie und der Relativi-
deckte Aufspaltung der Spektrallinien im Magnet- tätstheorie konnte erklärt werden. Erstere be-
feld, den nach seinem Entdecker PIETER ZEEMAN rücksichtigte nur das elektrische Feld außerhalb
(1865 – 1943) benannten Zeeman-Effekt. Beide des Körpers. Bezieht man das Innere des Körpers
erhielten dafür 1902 den Nobelpreis. über den sogenannten Energie-Impuls-Tensor
mit ein, erhält man EINSTEINs Resultat. —
Ist Masse elektromagnetischer Natur?
Wärme und Materie
Berechnungen der Physiker THOMPSON, OLIVER
H EAV I S I DE ( 185 0 – 1925 ) , G EO R GE S E ARLE Wohl temperiert
(1864 – 1954) und WILHELM WIEN (1864 – 1928)
zei g ten g e g en Ende des 19. J ahrhunderts, Das Wort Temperatur ist lateinischen Ursprungs
dass die Energie des elektromagnetischen und bedeutet „gemischt sein“. Im Einklang mit
Feldes eines bewegten geladenen Körpers den zwei universellen Eigenschaftspaaren warm-
auch als Massezuwachs gedeutet werden kalt und trocken-nass wurde für Temperatur

90
Erde, Wasser, Luft und Feuer

früher das Wort Temperament gebraucht. Wärme


oder Kälte wurden nicht als physikalische Zu- Temperaturskalen
stände der Materie gesehen, sondern drückten
das Mischungsverhältnis der Elemente in einem Der Schwede ANDERS CELSIUS (1701 – 1744) definierte 1742 eine Tempe-
Körper aus (Å Kasten Die Ordnung der Vier, raturskala, in der er kochendem Wasser die Temperatur 0°C und schmel-
Seite 33). Nach GALEN (122 – 199) hatte daher zendem Eis 100 °C zuwies, da er negative Zahlen vermeiden wollte. Erst
das Klima einen Einfluss auf den Charakter der nach seinem Tod wurde dies umgedreht. Der Danziger GABRIEL DANIEL
Menschen. In nasskalten Gegenden lebten wilde FAHRENHEIT (1686 – 1736) nutzte neben diesen Referenzpunkten noch
Menschen, in tropischen eher sanftmütige und die Temperatur eines gefrierenden Salz-Wasser-Gemischs, dem er die
in wohltemperierten Gegenden Menschen mit Temperatur 0 °F zuwies. FAHRENHEIT führte auch das Quecksilberther-
scharfem Intellekt. Der Berner JOHANNIS HASLER mometer zur Temperaturmessung ein. Zur Umrechnung dient die Formel
entwickelte 1578 eine Skala der Körpertempera- T[°C] = 32 + 9/5 T [°F].
tur der Menschen in Abhängigkeit vom Breiten- N eben der Kelvin-
grad auf dem sie lebten. Thermometer, wie wir sie Skala ist in den USA
kennen, wurden erst im frühen 17.Jahrhundert in noch die Rankine-
Italien und England entwickelt. In Florenz füllte S kala gebräuchlich.
man Alkohol und farbige, hohle unterschiedlich Sie bezieht die Fah-
schwere Glaskügelchen in ein Glasrohr. Mit stei- renheit-Skala auf den
gender Temperatur und damit sinkender Dichte absoluten Nullpunkt:
des Alkohols sanken die Kügelchen nach und T [°Ra] = 9/5 T [K].
nach zu Boden und man konnte anhand deren
Farbe die Temperatur ablesen. Anfangs gab es
viele Temperaturskalen, von denen praktisch nur
die Celsius- und die Fahrenheit-Skala übrig ge- 3-92
Temperaturskalen. nach
blieben sind (ÅKasten Temperaturskalen). CELSIUS, KELV
L IN und
GUILLAUME AMONTONS (1663 – 1705) stellte FAHRENHEIT.
gegen Ende des 17. Jahrhunderts fest, dass der
Druck eines Gases bei konstantem Volumen pro- sein“)? Für ARISTOTELES und seine Nachfolger
portional zu dessen Temperatur ist. GAY-LUSSAC handelte es sich um eine Eigenschaft, Atomisten
erkannte 1802, dass dies umgekehrt auch für wie GASSENDI betrachteten sie als Atomart, der
das Volumen gilt, das bei –267 °C Null werden Bagdader Alchemist GABIR IBN HAYYAN (um
sollte (genauer Wert heute –273,15 °C). Anfangs 800) dachte sich das Warme und das Kalte als
wurde dieser Grenze keine physikalische Bedeu- Substanzen oder Naturen (Tabia), die zusammen
tung beigemessen; erst mit der Entwicklung der mi t de m N asse n u n d Tr oc k e n e n du r c h
kinetischen Gastheorie wurde deutlich, dass sie Kombination mit der Urmaterie die sonstigen
just dem Punkt entspricht, bei dem die Bewegung Substa nz e n b il de n . F ü r S CHEELE , L AVO I S I ER
der Gasmoleküle aufhört. WILLIAM THOMSON u nd D ALTON war Wärme eine besondere
alias Lord KELVIN (1824 – 1907) schlug 1848 vor, Substanz, das Caloricum. Für NEWTON war
diese Temperatur als absoluten Nullpunkt der sie regellose Bewegung des Äthers, der auch
Temperaturskala zu verwenden und von dort in der Lichtausbreitung diente. Für DESCARTES
Celsius-Schritten fortzuschreiten. Seit 1954 ist gab es nur Materie und Bewegung, weshalb
Kelvin die international verwendete Temperatur- er konsequenter Weise Wärme als Bewegung
einheit und es gilt T [ °C] = T [K] + 273,15. der Materie charakterisierte. Auch FRANCIS
BACON kam zu dem Schluss, dass es sich bei
Was ist Wärme? Wärme weder um eine Substanz noch um eine
Eigenschaft handeln konnte, einzig Bewegung
So alltä g lich uns der Be g riff Wärme auch war allen Wärmephänomenen gleich. Doch
erscheint, es ist nicht leicht, ohne Vorwissen diese „modernen“ Ansichten über die Natur der
anzugeben, um was es sich dabei eigentlich Wärme konnten sich bis zum ersten Drittel des
h an d e l t. Ist d i e Wärme eine eigenstän d ige 19. Jahrhunderts nicht allgemein durchsetzen,
Substanz wie die Materie? Oder handelt es sich da die Substanztheorie die Wärmeleitung und
um eine Eigenschaft von etwas anderem ("warm -strahlung sowie die sogenannte latente Wärme

91
KAPITEL 3 Historischer Überblick

quantitativ gut erklären konnte. Den Ausschlag leichter sein musste als jede andere Substanz. Es
für die Bewegungstheorie ("kinetische schien zudem unerschöpflich zu sein! Schließlich
Theorie“) der Wärme gaben die entdeckte war es möglich, beliebig viel Wärme aus einem
Äquivalenz von Wärme und mechanischer Körper durch Reibung zu gewinnen. Bohrte
Arbeit sowie der erfolgreiche Ansatz, mit Hilfe man ein Kanonenrohr mit einem scharfen
statistischer Methoden Wärmephänomene auf Bohrer entstand weniger Wärme als mit einem
die Bewegung vieler Teilchen zurückzuführen. stumpfen, da dieser wesentlich länger brauchte.
Wo kam diese praktisch beliebige Menge
Wärme als Substanz Caloricum her?
Trotz dieser offenen Fragen war die Zeit
Der schottische Mediziner und Chemiker noch nicht reif für eine andere Theorie der
WILLIAM CULLEN (1710 – 1790) identifizierte Wärme. Auch SADI NICOLAS LEONARD CARNOT
Feuer mit dem abstoßenden Äther NEWTONs. (1796 – 1832), der Grundlegendes zur Theorie
Äther war in seiner Vorstellung auch für der Wärmekraftmaschinen leistete, ging noch
chemische Reaktionen verantwortlich, bei denen vom Substanzcharakter der Wärme aus. Dem-
oft Hitze, also Äther, ausgetauscht wurde. Seine gegenüber erschienen viele Versuche einer Erklä-
Theorie war zwar bei der Erklärung chemischer rung auf Basis der Bewegung von Materie sehr
Reaktionen nicht erfolgreich, führte aber zu hypothetisch und wurden lange nicht akzeptiert.
einer wichtigen Entdeckung seines Schülers
JOSEPH BLACK (1728 – 1799). Dieser zeigte, Wärme als Bewegung
dass Körper gleicher Masse unterschiedlich viel
Wärme aufnehmen können und dass besonders Nach BACONs qualitativen Schlussfolgerungen
während des Schmelzens und Verdampfens entstanden erste quantitative Ergebnisse einer
Wärme absorbiert wird. Da die dabei zugeführte kinetischen Theorie der Wärme in Basel. DANIEL
Wärme die Temperatur nicht erhöht, nannte BERNOULLI (1700 – 1782) veröffentlichte 1738
er sie latente Wärme. Die unterschiedliche sein Werk Hydrodynamica, in dem er den Druck
Wärmekapazität bei gleicher Masse widersprach von Gasen auf die Gefäßwände als Folge der
nach Meinung BLACKs einer kinetischen Theorie Stöße ihrer kleinsten Teilchen beschrieb. Dieser
der Wärme; er vermutete, es handele sich um Druck sei proportional zum Quadrat ihrer
eine elastische Flüssigkeit, deren Teilchen sich Geschwindigkeit und Wärme nichts anderes
zwar gegenseitig abstoßen, sich aber leicht mit als ihre kinetische Energie. Während seine
Materiepartikeln verbinden. Die Abstoßung Ausführungen aus heutiger Perspektive den Nagel
ist dabei die Ursache der Wärmeausdehnung auf den Kopf trafen, fanden sie zu BERNOULLIs
der Körper. LAVOISIER nahm das Caloricum, Zeit wenig Beachtung. Auch andere nach ihm traf
wie wir schon gesehen haben, als chemisches diese Ignoranz. So JOHNN HERAPATH (1790 – 1868),
Element in seine Tabelle auf. Den größten Erfolg der ähnliche Gedanken wie BERNOULLI hatte,
feierte die Substanztheorie bei JEAN BAPTISTE insbesondere aber den jungen schottischen
JOSEPH FOURIERs (1768 – 1830) Theorie der Physiker JOHN JAMES WATERSTON (1811 – 1883),
Wärmeleitung von 1807. Er behandelte den der 1845 aus Bombay einen Artikel an die Royal
Strom des Caloricums von einem warmen zu Society sandte, der vieles aus der kinetischen
einem kalten Körper wie den Strom von Wasser Gastheorie vorwegnahm. Sein Artikel wurde
entlang eines Gefälles. Dem Gefälle entsprach abgelehnt, da ihn einer der Lektoren als „Unsinn“
die Temperaturdifferenz. abtat. Erst 1891 veröffentlichte Lord RAYLEIGH
Sollte das Caloricum existieren, so musste (1842– 1919) den Artikel im Namen der Royal
es auf jeden Fall extrem fein sein. Nicht nur, Society, in deren Archiven er ihn gefunden hatte.
dass es jede Substanz durchdringen konnte, es Zu dieser Zeit hatte sich die kinetische Theorie
war offenbar auch sehr leicht, wie BENJ N AMIN bereits durchgesetzt, nachdem sie zunächst
T H OMPSO N (175 3 – 1814) feststellte. G RAF vo n A UGU ST K ARL K R ÖNIG (182 2 – 1879)
RUMFORD, wie THOMPSONs Titel nach Erhebung 1856 wieder aufgenommen wurde. KRÖNIG
in den Adelsstand durch den bayrischen König verwendete ein stark vereinfachtes Modell der
lautete, stellte nach sehr genauen Messungen Teilchenbewegung, um die Zustandsgleichung
fest, dass Caloricum um ein millionenfaches der idealen Gase herzuleiten.

92
Erde, Wasser, Luft und Feuer

RUDOLF JULIUS EMANUEL CLAUSIUS (1822 – 1888) „lebendige Kraft“ (vis viva) gebräuchlich (nicht zu
und JAMES CLERK MAXWELL sorgten für den verwechseln mit der vis vitalis, die allem Organi-
Durchbruch der kinetischen Theorie der Wärme. schen innewohnen sollte). LEIBNIZ nahm bereits
CLAUSIUS berücksichtigte in seinem Artikel Über an, dass die Größe mv2 in einem dynamischen Sys-
die Art der Bewegung, welche wir Wärme nennen tem erhalten bleibt. Der Energiebegriff wurde erst
von 1857 nicht nur geradlinige Bewegungen der allgemein akzeptiert, als seine universelle Bedeu-
Moleküle, sondern auch Rotationen und Vibrati- tung über mechanische Systeme hinaus sichtbar
onen zur Herleitung der Zustandsgleichung. Auch wurde. Das Gesetz von der Erhaltung der Energie, 3-93
Gase. Bei Zimmertempe-
beschrieb er Verdunsten als dynamischen Prozess, gleich welcher Form, haben wir drei Männern
ratur liegt die Geschwin-
bei dem schnelle Moleküle die Bindungskräfte in zu verdanken: JOULE, MAYER und HELMHOLTZ. digkeit von Luftteilchen
der Flüssigkeit überwinden konnten. In einem Der Energieerhaltungssatz wird auch der Erste in der Größenordnung
von 500 m/s. Die mitt-
geschlossenen Gefäß geschehe dies solange, bis Hauptsatz der Thermodynamik genannt. Dem-
lere freie Weglänge, die
im Mittel pro Zeiteinheit genauso viele Moleküle nach kann Energie nicht aus Nichts erzeugt wer- r durchschnittliche Distanz
entweichen wie in die Flüssigkeit wieder eintre- den, ein Perpetuum mobile ist also unmöglich. bis zum nächsten Zusam-
ten. CLAUSIUS berechnete auch die Geschwindig- Der Zweite Hauptsatz ist noch enttäuschender: menstoß, beträgt jedoch
bei Normaldruck nur ca.
keit von Gasmolekülen. Die sehr hohen Werte Die Umwandlung von Energieformen ineinander 68 nm.
um 500 m/s stießen bei manchen Zeitgenossen ist (fast) immer ein Verlustgeschäft!
auf Skepsis. Wenn Gasmoleküle so schnell sind,
warum riecht man nicht die in ein Zimmer ge- Energieerhaltung
tragenen Speisen im gleichen Moment wie man
sie sieht? CLAUSIUS argumentierte völlig korrekt, Bereits im 18. Jahrhundert war die Erhaltung Energieerhaltung
dass die Moleküle nicht geradlinig fliegen, son- mechanischer Energie Konsens unter den Phy- Bereits LEIBNIZ vermutete,
dass die Größe mv2 in ei-
dern durch laufende Zusammenstöße einem Zick- sikern, die Pariser Academie des Sciences nahm nem dynamischen System
zackkurs folgen. Er entwickelte das Konzept der seit 1775 keine Perpetuum mobile – Entwürfe erhalten bleibt.
mittleren freien Weglänge, der Strecke, die ein Mo- mehr an. Von einer Äquivalenz zwischen Wärme
lekül im Mittel zwischen zwei Kollisionen zurück- und mechanischer Energie war indes noch keine Kraft
legt. In Luft unter Standardbedingungen ist diese Rede. Geht man von der Substanztheorie der Noch bis in die zweite
Hälfte des 19. Jahrhun-
Strecke gerade einmal 68 Nanometer (nm) lang. Wärme aus (Caloricum), ist eine solche Äqui- derts wurde der Begriff
MAXWELL gelang es schließlich mathematisch zu valenz auch nicht nahe liegend, schließlich ist „lebendige Kraft“ im
zeigen, dass die Geschwindigkeitsverteilung der die Substanz eines fallenden Steins nicht mit Sinne von Energie ver-
wendet.
Gasmoleküle einer Gausskurve entspricht, deren seiner kinetischen Energie identisch. NICOLAS
Mittelwert und Streuung von der Temperatur LÉONARD SADI CARNOT (1796 – 1832), der 1824
abhängen (ÅGleichverteilungssatz und Maxwell- erstmals die Funktion von Wärmekraftmaschi-
Boltzmann-Verteilung, Seite 400). nen theoretisch beschrieb, nahm an, dass deren
Arbeitsleistung durch den Fluss des Caloricums
zwischen Heizkessel und Kondensator erzeugt
Energie und Entropie werde, so wie fließendes Wasser ein Mühlrad
antreibt. Die durchfließende Menge an Ca-
Erster Hauptsatz der Thermodynamik : loricum blieb, wie das Wasser im Mühlbach,
Du kannst nicht gewinnen! konstant.
Im Jahr 1841 stellte JOULE anhand der
Zweiter Hauptsatz der Thermodynamik: Wärmeentwicklung eines stromdurchflossenen
Du kannst nicht einmal gleichziehen!
Leiters fest, dass es offenbar eine Äquivalenz
zwischen elektrischem Strom und Wärme gab:
Der Begriff Energie (griech. energeia, Werk, Die erzeugte Wärmemenge war dem Quadrat
Wirken) wurde um 1800 von THOMAS YOUNG der Stromstärke proportional. Zwei Jahre später
(1773 – 1829) für die Summe aus potenzieller und gelang es ihm, auch die Äquivalenz von me-
kinetischer Energie (wie man diese Größen heute chanischer Energie und Wärme nachzuweisen.
nennt) einer schwingenden Feder verwendet. Noch Er verwendete hierzu einen Rührer in einem
bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war Wassergefäß, der durch ein nach unten sin-
für die kinetische Energie der von GOTTFRIED kendes Gewicht angetrieben wurde und maß
WILHELM LEIBNIZ Z (1646 – 1716) geprägte Begriff die Temperaturerhöhung des Wassers aufgrund

93
KAPITEL 3 Historischer Überblick

der Rührbewegung. Zu diesem Zeitpunkt hatte Stringtheorie und Quantengravitation (ÅJen-


bereits MAYER in Liebigs Annalen der Chemie seits des Standardmodells, Seite 437).
postuliert, dass sich mechanische Energie und Als WILLIAM THOMSON 1847 von JOULEs Ar-
Wärme ineinander verwandeln, aber niemals beiten zur Äquivalenz von mechanischer Energie
verloren gehen könnten. MAYER dehnte 1845 und Wärme hörte, erkannte er ihre Bedeutung,
die Äquivalenz aller Energieformen auf magne- sah aber auch Widersprüche. Wenn JOULE Recht
tische und elektrische Phänomene und auf phy- hatte, musste in Wärmekraftmaschinen Wärme
siologische Vorgänge in Pflanzen und Tieren in Arbeit verwandelt werden. Wärme konnte
aus. Laut MAYER sei der Arm eines Schmieds, also keine Substanz sein, deren Menge kons-
der den Hammer hält, kühler als der ruhende tant blieb. Die Theorie CARNOTs hatte sich aber
Arm und die bei der Verdauung freiwerdende bisher bewährt. THOMSON selbst hatte damit
Wärme könnten Tiere und Menschen in Arbeit vorausgesagt, dass der Gefrierpunkt von Wasser
verwandeln. Die Vorstellung, dass die „Kraft“ mit steigendem Druck sinkt. Außerdem: Wenn
der Lebewesen und die der unbelebten Natur mechanische Energie und Wärme sich ineinan-
identisch sind, war damals revolutionär. Aber der verwandeln liessen, warum konnte Wärme,
MAYERs Arbeiten stießen nicht nur deshalb auf die durch Wärmeleitung verloren ging, nicht
Missachtung. MAYER war Mediziner und argu- in mechanische Energie umgewandelt werden?
mentierte in seinen Schriften nicht in der phy-
sikalischen Begriffswelt seiner Zeit, sondern in Entropie und der Wärmetod
einer naturphilosophisch geprägten Sprache.
Erst die zunehmende Akzeptanz der Arbeiten Zur Beantwortung von THOMSONs Fragen be-
von JOULE und HELMHOLTZ verhalfen seinen durfte es noch einiger weiterer Schritte. CLAUSIUS
Beiträgen zu der Beachtung, die sie verdienten. wies nach, dass nicht die Wärmemenge beim
Aber auch der in der akademischen Welt eta- Fluss durch eine Wärmekraftmaschine kons-
blierte Physiologe HERMANN VON HELMHOLTZ tant bleibt, sondern eine andere Größe, die er
hatte 1847 Schwierigkeiten, seine Arbeit Über „Entropie“ nannte. Entropia ist ein griechisches
die Erhaltung der Kraft zu veröffentlichen. Kunstwort, das so viel bedeutet wie Umwand-
Auch HELMHOLTZ postulierte die Äquivalenz lung. Die Wärmemenge selbst wird teilweise in
aller Energieformen. Sein Werk zeichnet vor mechanische Energie verwandelt; der andere Teil
allem eine präzisere Begrifflichkeit aus. Er geht verlässt die Maschine über den Kühler. In einem
davon aus, dass alle Naturerscheinungen auf sogenannten reversiblen Kreisprozess wie dem
Bewegungen von Materieteilchen beruhen, die Carnot-Prozess ist Entropiebilanz und Energiebi-
mittels Kräften aufeinander wirken. HELM- lanz Null: es kommt soviel heraus, wie hinein geht
HOLTZ fragte nun, wie denn die Natur dieser (Å Abbildungen 3-95, 3-96). CLAUSIUS erkannte
Kräfte und Bewegungen sein müsse, falls der nun, dass bei irreversiblen Prozessen wie Wärm-
Energieerhaltungssatz gilt. Er stellte fest, dass leitung oder Reibung zwar die Energiebilanz nach
in diesem Fall die Bewegungsgleichungen ge- wie vor Null ist, nicht jedoch die Entropiebilanz!
nau die bekannte Form haben müssen und Bei diesen Prozessen wird Entropie erzeugt, weil
Kräfte zwischen den Teilchen nur von deren Energie in eine regellose Bewegung der Atome
Abstand abhängen können. Dies ist bei allen fließt, die sich nicht umkehren lässt. Gleichzeitig
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

Naturkräften der Fall. HELMHOLTZ argumen- erkannte er, dass es keinen Prozess geben kann,
tierte, dass man daher den Satz von der Erhal- der Entropie vernichtet. Zwar ist es möglich, die
tung der Energie als eigentliches Fundament Entropie an einem Ort zu senken; dazu muss sie
der Naturgesetze ansehen kann, die Form der jedoch an anderer Stelle um mindestens den glei-
Bewegungsgleichungen ergibt sich daraus. chen Betrag zunehmen. In einem abgeschlossenen
3-94 Eine weitere Konsequenz seiner Überlegun- System nimmt die Entropie daher solange zu, bis
Ludwig Boltzmann. Auf
gen war, dass die Bewegungsgesetze nicht von ein Maximum erreicht ist und verbleibt dann
seinem Grabstein auf dem
Zentralfriedhof in Wien der Zeit abhängen können. Ihre Zeitinvarianz dort. Bestehen anfangs Temperaturunterschiede
ist S = k·log W eingraviert. ist eine Folge des Energieerhaltungsatzes, sie in einem isolierten Gefäß, so herrscht irgendwann
BOLTZMANN litt zeitweise sind „symmetrisch in der Zeit“. Symmetrien überall die gleiche Temperatur. Die Entropie des
an starken Depressionen
und starb 1906 durch sind heute wichtiges Konstruktionsprinzip bei gesamten Universums kann also ebenfalls nur
Selbstmord. der Suche nach fundamentalen Theorien wie bis zu einem Maximum zunehmen, da man das

94
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Universum wohl als abgeschlossen betrachten 3-95


pV-Diagramm und
kann. Und so lauten die beiden Hauptsätze der Kreisprozesse. Der Zu-
Thermodynamik in CLAUSIUS’ Worten: sammenhang zwischen
Druck p, Volumen V und
T
Temperatur T bei idealen
1 Die Energie der Welt ist konstant. Gasen war zu CARNOTs
Zeiten bekannt. Durch
2 Die Entropie der Welt strebt einem Maxi- den dargestellten Ablauf
1 – 2 – 3 – 4 – 1 kann der

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mum zu. Zustand eines Gases
zyklisch verändert wer-
Formulierungen dieser Art führten seinerzeit zu den. Derartige Prozesse
nennt man Kreisprozesse.
heftigen Reaktionen. Der Physiker JOHANN JOSEF
Die Darstellung von
LOSCHMIDT T (1821 – 1895) sprach von einem „ter- Prozessen anhand des
roristischen Nimbus“ des zweiten Hauptsatzes, pV-Diagramms geht auf
CLAPEYRON zurück.
der „ihn als vernichtendes Princip des gesamten
Lebens im Universum erscheinen lässt.“ Und in 3-96
Carnotscher Kreisprozess.
seinem Buch „Der Untergang des Abendlandes“ CARNOT ging davon aus,
vergleicht OSWALD SPENGLER (1880 – 1936) das dass in einer zyklisch
Anwachsen der Entropie bis zum Wärmetod mit arbeitenden Wärme-
kraftmaschine die beim
der germanischen Götterdämmerung. In der Tat Heizen zugeführte Wärme
gibt es kosmologische Modelle, die einen Wärme- (Q) beim Kühlen wieder
tod des Universums vorhersagen (Å Kapitel 11), abgeführt wird. CLAUSIUS
zeigte, dass ein T
Teil davon
die Zeit bis dahin ist allerdings unvorstellbar lang. in die geleistete Arbeit
Lange vorher wird unsere Sonne ihren Brennstoff verwandelt wird. Was im
verbraucht haben, aber andere Sterne werden idealen Carnotschen Kreis-
prozess konstant bleibt, ist
noch viele Milliarden Jahre lang neu entstehen,
nicht die Wärmemenge,
bevor sie alle der „Wärmetod“ ereilt – sofern sondern eine Größe,
dieses kosmologische Modell korrekt ist. die CLAUSIUS „Entropie“
nannte. Deren Änderun-
gen sind proportional zum
S = k·log W mit der kinetischen Theorie zu verbinden. Er Quotienten aus Wärme-
konnte aus der statistischen Beschreibung der menge Q und Temperatur
T
Die kinetische Gastheorie M AX W ELL s und Teilchenbewegungen eine Größe ableiten, die T. Im dargestellten rever-
siblen Kreisprozess ist die
C LA US I US ’ war ein erfol g reicher Versuch, sich wie die Entropie verhielt. Diese Größe Änderung der Entropie
Wärme p hänomene auf die Mechanik nahm unabhängig von den Anfangsbedingungen Null, da die Quotienten
zurückzuführen. MAXWELL und BOLTZMANN des Systems bis zu einem Minimalwert ab bei Kühlung und Heizung
gleich sind. Reversibel
festigten die Verbindung zwischen Mechanik (während die Entropie proportional dazu heißt dieser Prozess, da er
und Wärme noch weiter durch das sogenannte zunimmt). Seine Ergebnisse stießen zunächst umkehrbar ist, ohne dass
Ä q ui p artitionstheorem. Sie zei g ten, dass bei vielen Physikern, unter anderem auch MAX sich die Bilanz ändert. Aus
der Wärmekraftmaschine
die Energie eines mechanischen Systems im PLANCK (1858 – 1947), auf Skepsis. Neben dem wird ein Kühlaggregat.
Gleich g ewichtszustand im Mittel auf alle Problem der Wärmekapazität dominierte die
Bewe g un g smö g lichkeiten, die so g enannten Diskussion auch der Widerspruch zwischen
„ Freiheits g rade“, g leichmäßi g verteilt de n z e i t li c h u mk e hr ba r e n N ewto n sc h e n
ist. Demnach sollte ein Gas umso mehr B ewe g un g s g leichun g en und der Entro p ie,
Wärmeenergie speichern können, je mehr die der Zeit eine Vorzugsrichtung zu geben
Freiheitsgrade seine Teilchen besitzen. Leider sc hi e n . B OLTZMAN N e n tw i c k e l te in d i ese n
wichen hier Theorie und Experiment voneinander Auseinandersetzungen seine statistische Theorie
ab. So war die Wärmekapazität von Wasserstoff weiter und ihre Universalität konnte mit der
(H2) viel geringer als vorhergesagt. An anderen Zeit die meisten Ph y siker überzeu g en. In
Stellen war die Theorie erfolgreicher. So stellte heutiger Formulierung ist danach die Entropie
MAXWELL die barometrische Höhenformel auf, S eines Systems proportional zum Logarithmus
die beschreibt, wie mit zunehmender Höhe der der Anzahl W der Realisierungsmöglichkeiten
Luftdruck abnimmt und LUDWIG BOLTZMANN des aktuellen Systemzustandes (Å E ntropie,
(1844 – 1906) gelang es 1872, die Entropie Seite 405):

95
KAPITEL 3 Historischer Überblick

S = k·log W der Strahlung einer bestimmten Frequenz absor-


biert, die gleiche Menge auch emittiert, das heißt
So gibt es viel mehr Möglichkeiten, Gasmoleküle der Absorptionsfaktor ist bei einer gegebenen
gleichmäßig in einem Gefäß zu verteilen, als sie Frequenz immer gleich dem Emissionsfaktor.
alle in einer Ecke zu versammmeln, weshalb Und dies gilt unabhängig von der Beschaffenheit
ersterer Zustand wahrscheinlicher ist und eine des Körpers! Im Rahmen seiner Überlegungen
höhere Entropie besitzt als letzterer. Diese sehr entwickelte KIRCHHOFF das Modell des schwar-
allgemeine Definition der Entropie gilt nicht zen Strahlers, eines Körpers, der Strahlung aller
nur für Gasmoleküle, sondern für alle Systeme, Frequenzen vollständig absorbiert (und damit
die über mehrere Möglichkeiten verfügen, den auch emittiert). Da ein solcher Körper nicht
gleichen makroskopischen Systemzustand (zum herstellbar war, hatte KIRCHHOFF eine findige
Beispiel gleiche Temperatur) zu erreichen. Auch Idee. Man denke sich einen Hohlraum, der von
die Spannkraft eines Gummis ist eine entropische einem Material begrenzt ist, das zwar Strahlung
„Kraft“. Der amerikanische Physiker JOSIAH absorbiert, aber keineswegs perfekt „schwarz“
W I LLA RD G IBB S (1839 – 1903) dehnte den sein muss. Er konnte nachweisen, dass sich ein
Anwendungsbereich der Thermodynamik und solcher Hohlraum durch die unzähligen Re-
statistischen Mechanik auf die Behandlung von flektionen wie ein perfekter schwarzer Strahler
komplexeren Substanzen aus. Von ihm stammt verhält. Das verwendete Material eines solchen
die Definition des chemischen Potenzials, das Hohlraumstrahlers hat keinen Einfluss auf Fre-
für die Dynamik von Mischungen die gleiche quenzspektrum und Energie der Strahlung. Also
Rolles spielt wie die Temperatur für reine ist auch der interne Aufbau der Materie, aus der
Wärmephänomene. die Wände bestehen, unwesentlich. Man kann in
eine der Wände ein kleines Loch bohren, ohne
dass sich Wesentliches ändert. Die Strahlung, die
Wärmestrahlung und die aus diesem Loch tritt, ist der Energiedichte im
Inneren proportional, so dass man diese bequem
Ultraviolettkatastrophe
messen kann (ÅAbbildung 3-98).
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

Ihre Mächtigkeit konnten die Hauptsätze der Doch wenn Strahlungsenergie und -spektrum
Thermodynamik auch bei der Erforschung der nicht von der Beschaffenheit eines Körpers ab-
Wärmestrahlung von Körpern unter Beweis hängen, wovon hängen sie dann ab? KIRCHHOFF
stellen. Mit ihrer Hilfe gelang es bis 1900, die konnte immerhin zeigen, dass sie eine Funktion
korrekten Strahlungsgesetze aufzustellen, ohne der Temperatur des Körpers sind.
dass der Aufbau der Materie im Detail bekannt
war. Allerdings machte diese Entwicklung Wi- Strahlungsgesetze von Stefan bis Planck
dersprüche im wohlgeordneten Gebäude der
klassischen Physik deutlich, die entscheidend JOSEF STEFAN (1835 – 1893) kam durch die Aus-
zur Entwicklung der Quantenphysik beitrugen, wertung von Experimenten 1879 zum Schluss,
wie wir später sehen werden. dass die Gesamtstrahlungsdichte über alle Fre-
quenzen des Hohlraumstrahlers proportional
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

Hohlraumstrahlung und schwarzer Körper zur 4. Potenz seiner Temperatur sein sollte. Diese
Vermutung untermauerte BOLTZMANN
Z N 1884 durch
Der Musiker und Astronom FRIEDRICH WILHELM ebenso einfache wie geniale Überlegungen auf
HERSCHEL (1738 – 1822) entdeckte 1800, dass Basis der Elektrodynamik und der Thermody-
bei der Spektralzerlegung des Sonnenlichts ein namik, wieder ohne spezifische Annahmen über
3-97 in den Bereich jenseits des Rots gehaltenes Ther- die Natur des umschließenden Materials. Darauf
Infrarotstrahlung. mometer den stärksten Temperaturanstieg zeigt aufbauend zeigte WILHELM WIEN (1864 – 1928) in
FRIEDRICH WILHELM
HERSCHEL entdeckte um
(ÅAbbildung 3-97). Offenbar stammte ein gro- den Jahren 1893/94, dass die Strahlungsdichte
1800 Strahlung jenseits ßer Teil der Strahlungsenergie der Sonne aus dem bei einer Frequenz υm ein Maximum erreicht,
des roten Bereichs im unsichtbaren, infraroten Bereich, dem Bereich wobei υm proportional zur 3. Potenz der Tem-
Sonnenspektrum. Oben:
der Wärmestrahlung. Mit Hilfe einfacher Über- peratur ist. Er leitete das sogenannte Wiensche
Originallupe und Ther-
mometer von HERSCHEL legungen auf Basis der beiden Hauptsätze konnte Verschiebungsgesetz ab, mit dessen Hilfe man
(Greenwich Observatory). KIRCHHOFF 1860 nachweisen, dass ein Körper, das Strahlungsspektrum für eine Temperatur

96
Erde, Wasser, Luft und Feuer

berechnen kann, wenn man es für eine andere


Temperatur kennt (ÅAbbildung 3-98). Lord RAY-
LEIGH berechnete die Energie der Schwingun-
gen, die in einem Hohlraum entstehen können.
Da dort nur stehende Wellen fester Frequenzen
auftreten (Resonanzfrequenzen analog zu einer
schwingenden Saite), ist die Zahl der möglichen
Schwingungsformen proportional zum Quadrat
ihrer Frequenz. Gemäß Äquipartitionstheorem
sollte die Energie pro Schwingungsform gleich
kTT sein. In dem so erhaltenen Strahlungsgesetz
von RAYLEIGH steigt die Strahlungsdichte mit dem 3-98
Quadrat der Frequenz bis ins unendliche an, was Hohlraumstrahlung. In
einem Hohlraum ist der
ganz offensichtlich im Widerspruch mit Beob-
Strahlungsdruck p der
achtungen steht. Jeder Ofen wäre eine perfekte Hohlraumstrahlung pro-
Gammastrahlungsquelle, ein Phänomen, das als dass sich das richtige Strahlungsgesetz ergab. portional zu ihrer Ener-
Ultraviolettkatastrophe bekannt wurde. Aber Auch hier beschritt PLANCK Wege, die erst nach- giedichte w. Damit und
aus thermodynamischen
immerhin bildete RAYLEIGHs Strahlungsgesetz träglich mit Hilfe der Quantenmechanik eine Überlegungen folgt das
bei niedrigen Frequenzen die Verhältnisse gut ab. Begründung fanden. Seine Verteilung heißt heute Wiensche Verschiebungs-
WIEN verfolgte 1896 einen anderen Ansatz und Bose-Einstein-Statistik und gilt für Teilchen, die gesetz, wonach der Quo-
tient aus T
Temperatur und
fand auf Basis experimenteller Daten eine Funk- nicht unterscheidbar sind. Hätte er die klassische der Frequenz νm bei ma-
tion, bei der die Strahlungsdichte nach einem Boltzmann-Verteilung verwendet, hätte sich das ximaler Strahlungsdichte
Maximum wieder abnahm. Leider konnte man Wiensche Strahlungsgesetz ergeben. konstant ist.
diese Funktion theoretisch nicht begründen und Begreiflicherweise fand dieser Bruch mit be-
zu guter Letzt stellte sie sich bei niedrigen Fre- stehenden Vorstellungen nicht nur Zustimmung,
quenzen auch als falsch heraus. Hier folgte das obwohl das Plancksche Strahlungsgesetz hervor- r
Frequenzspektrum RAY A LEIGHs Gesetz. PLANCK ragend mit Messergebnissen übereinstimmte.
gelang es schließlich 1900, das korrekte Gesetz Auch PLANCK selbst empfand den theoretischen
als Interpolation zwischen RAY A LEIGH und WIEN Unterbau als unbefriedigend und suchte nach
aufzustellen (Å Abbildung 3-99). Ihm war aller- Alternativen. Aber die Zeit war reif für grund-
dings an einer theoretischen Begründung gelegen legende Veränderungen und so fand PLANCKs
und so entwickelte er zum Jahresende 1900 ein Quantenhypothese auch in anderen Teilen der
Modell, das wegweisend sein sollte für die Ent- Physik Unterstützung. —
wicklung der Quantentheorie. PLANCK dachte
sich Emission und Absorption des schwarzen 3-99
Körpers als Folge elektrisch geladener Oszillato- Strahlungsgesetze. Das
ren, deren Schwingungen mit dem Strahlungsfeld Gesetz von Rayleigh-Jeans
war theoretisch gut fun-
wechselwirken. Jeder Schwingungsfrequenz des diert, aber nur für niedrige
Feldes entsprach die Resonanzfrequenz eines Frequenzen korrekt. Das
Oszillators. PLANCK wusste bereits, dass die Wiensche Gesetz war
empirisch gut gestützt,
Strahlungsdichte des Feldes von der mittleren aber ohne theoretische
Energie der Oszillatoren abhing. Diese sollte Fundierung. Das Planck-
gemäß Äquipartitionstheorem gleich kT T sein, sche Strahlungsgesetz
erhielt seine Begründung
was zu RAY A LEIGHs Gesetz führt. PLANCK ging
erst durch die Quanten-
einen anderen Weg. Er nahm an, dass die Ener- mechanik.
gien der Oszillatoren nur ganzzahlige Vielfa-
che eines Energiequantums sind, dessen Größe
proportional zur Schwingungsfrequenz ist. Den
Proportionalitätsfaktor betrachtete er als eine
Hilfsgröße, weshalb er ihn mit „h“ bezeich-
nete: E = hν. Es galt nun, die Gesamtenergie der
Strahlung so auf die Oszillatoren zu verteilen,

97
KAPITEL 3 Historischer Überblick

Die Struktur des Atoms kinetische Theorie wenig ändern, ihr Modell von
Atomen als elastische Billardkugeln war weit
Moderne Atomtheorien von realen Objekten entfernt. Der Atomtheorie
verhalfen Entdeckungen zur Akzeptanz, die das
Die Atomtheorie hat in der Physik eine ähn-
liche Funktion wie gewisse mathematische „Innenleben“ von Atomen auf eine Weise offen-
Hilfsvorstellungen; sie ist ein mathematisches barten, die letzten Endes keinen vernünftigen
Modell zur Darstellung der Tatsachen. Wenn Zweifel an deren Existenz mehr zuließ.
man die Schwingungen durch Sinusformeln
... darstellt, so denkt doch niemand daran,
dass die Schwingungen an sich mit einer Win- Zitternde Pollen
kel- oder Kreisfunktion ... zu schaffen hat.
ERNST MACH, zit. nach Melsen. Es gab ein Indiz für die Existenz von Atomen,
das für sich allein genommen nicht jeden Skep-
So formulierte 1883 der Physiker und Philosoph tiker überzeugt hätte, dafür aber umso mehr ins
ERNST MACH (1838 – 1916) seine Einstellung zur Auge fiel. 1827 beobachtete der schottische Bo-
Atomtheorie. Atome waren für MACH keine re- taniker ROBERT BROWN (1773 – 1858), dem wir
alen Objekte, sondern nur Modellvorstellungen, auch die erste präzise Beschreibung des Zellkerns
die nützlich waren, um gewisse Beobachtungen verdanken, dass schwimmende Pollen unter dem
mathematisch zu beschreiben. Diese als Empi- Mikroskop Zitterbewegungen vollführten. Zu-
riokritizismus bekannte Sicht auf den Erkennt- nächst machte er dafür eine den Pollen innewoh-
nisprozess betrachtet Aussagen über die Welt als nende Lebenskraft verantwortlich, stellte jedoch
reine Spekulation, wenn sie sich nicht aus der bald fest, dass sich anorganische Partikel gleich
sinnlichen Erfahrung ergeben. Physik treiben verhielten. Diese Zitterbewegung wird ihm zu
heißt, nach möglichst ökonomischen Erklärun- Ehren Brownsche Molekularbewegung genannt.
gen für sinnliche (messbare) Erscheinungen zu Schon LUKREZ (ÅKasten Lukrez, Seite 40)
suchen. Es gibt daher für MACH weder Atome machte Atombewegungen (fälschlicherweise)
noch den absoluten Raum NEWTONs. Raum sei für die tanzende Bewegung von Staubpartikeln
schließlich nur durch die Existenz von Körpern in der Luft verantwortlich; allgemein ging man
erfahrbar. Konsequenterweise führte MACH die aber im 19. Jahrhundert davon aus, dass sich die
Trägheit auf die kumulative Wirkung der Mas- Stöße von Molekülen an vergleichsweise riesigen
sen des Universums zurück. Und auf Atome Staubpartikeln im Mittel ausgleichen. EINSTEIN
war die Physik nach MACH gar nicht angewie- konnte jedoch 1905 theoretisch nachweisen,
sen. Die Thermodynamik konnte ohne Rekurs dass Partikel durch Molekülstöße sehr wohl
auf die kinetische Theorie definiert werden. Zitterbewegungen ausführen können. PERRIN ge-
WILHELM OSTWALD (1853 – 1932) griff daher lang schließlich 1909 der experimentelle Nach-
HELMHOLTZ’ Gedanken auf und strebte nach weis, dass die Brownsche Molekularbewegung
einer am Energiebegriff orientierten Physik (die durch EINSTEINs Ergebnisse gut erklärt wird
sogenannte Energetik), in der Atome keine Rolle und keine Folge von Konvektionsströmen sein
spielten. konnte, wie viele glaubten.
Die Skeptiker akzeptierten letzten Endes,
dass man über Atome als Objekte zumindest Das Innenleben des Atoms
im physikalischen Sinn sprechen konnte. Zu
Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wiesen die Spätestens seit der Entdeckung des Elektrons
experimentellen Hinweise zu deutlich in diese als Bestandteil von Atomen war klar, dass
Richtung. Zum Zeitpunkt des oben stehenden Atome ein Innenleben besaßen. Neben negativ
Zitats allerdings war die Atomfrage für Physiker geladenen Elektronen musste es auch noch eine
alles andere als geklärt. Im Bereich der Chemie gleich große positive Ladung geben, denn Atome
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

3-100 hatte sich die Atomtheorie zwar als hilfreich waren normalerweise elektrisch neutral. Seit
Atomtheorien von der
Antike bis heute. Von der
erwiesen, im Bereich der Physik blieben noch THOMSONs Messungen 1897 wusste man zudem,
Idee zum quantenmecha- zu viele Fragen offen. Daran konnte auch die dass die Elektronen kaum nennenswert zum
nischen Objekt.

98
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Gesamtgewicht eines Atoms beitrugen. Völlig einer fortlaufenden Nummer, die in der Regel
offen war allerdings, wie viele Elektronen es im synchron mit dem Atomgewicht anstieg. Es gab
Atom gab und wie Atome intern strukturiert wa- aber auch Fälle, in denen man zwei Elemente
ren. Ausgehend von Arbeiten KELVINs entwickelte aufgrund ihrer chemischen Eigenschaften vertau-
THOMSON 1904 ein Modell, das als Rosinen- schen musste, so zum Beispiel Tellur (Atomge-

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


kuchenmodell bekannt wurde. Danach bestand wicht 127,6, Ordnungszahl 52) und Jod (Atom-
ein Atom aus positiv geladener Materie, in die gewicht 126,9, Ordnungszahl 53). Während das
negativ geladene Elektronen eingebettet waren. Atomgewicht eine physikalische Bedeutung hatte,
THOMSON konnte zeigen, dass eine ringförmige betrachtete man die Ordnungszahlen als reine
symmetrische Anordnung der Elektronen stabil Konvention. ANTONIUS JOHANNES VAN DEN BROEK
3-101
war, und er versuchte, durch Wahl verschiedener (1870 – 1926) war 1912 der erste, der vermutete,
Nebelkammer. Die Nebel-
Elektronenbelegungen der Ringe die Periodizität dass die positive Kernladung eines Elements des- kammer des Deutschen
der Elemente und ihre beobachteten Valenzen zu sen Ordnungszahl entsprach. Nachdem CHARLES Elektronen-Synchrotrons
erklären, jedoch ohne Erfolg. GLOVER BARKLA (1877 – 1944) 1911 festgestellt DESY in Hamburg zeigt
Alphateilchen (dicke
Die Entdeckung der Röntgenstrahlung 1895 hatte, dass jedes Element ein charakteristisches Linien) und Elektronen
durch WILHELM CONRAD RÖNTGEN N (1845 – 1923) Röntgenemissionspektrum besaß, konnte 1913 (dünne Linien). Die Ne-
und die Entdeckung der Radioaktivität 1896 HENRYR MOSELEY (1887 – 1915) zeigen, dass zwi- belspuren entstehen durch
die ionisierende Wirkung
durch ANTOINEE HENRI BECQUERELL (1852 – 1908) schen Ordnungszahl und Frequenz der emittier- der die Nebelkammer
erwiesen sich als außerordentlich fruchtbar für ten Röntgenstrahlung ein direkter Zusammen- durchquerenden Strahlen,
die Erforschung der Struktur des Atoms. Der in hang besteht, der heute als Moseleysches Gesetz die zu einer Kondensation
des übersättigten Ethanols
Neuseeland geborene britische Physiker ERNEST (Å Abbildung 3-103, Seite 100) bekannt ist. Er in der Luft führen. Durch
RUTHERFORD (1871 –1937) nutzte die von ihm identifizierte damit auch Lücken im Periodensys- einen unten angebrachten
als Heliumionen identifizierten Alphastrahlen tem, die später durch die Elemente Technetium, Magneten werden die
geladenen T Teilchen in ge-
aus radioaktivem Zerfall zum Beschuß dünner Promethium und Rhenium aufgefüllt wurden. krümmte Bahnen gelenkt.
F o li e n . N ac h T H OMSO N s Modell sollten Damit erhielten die Ordnungszahlen plötzlich
Heliumionen beim Durchgang durch Atome nur physikalische Relevanz und VAN DEN BROEKs
wenig abgelenkt werden. 1909 ließ RUTHERFORD These wurde bestätigt.
seine Mitarbeiter HANS GEIGER (1882 – 1945)
und ERNEST MARSDEN (1889 – 1970) gezielt Spektren und das Bohr-Sommerfeldsche
nach großen Ablenkungen suchen. Und sie Atommodell
wurden fündig! RUTHERFORD konnte 1911
zeigen, dass das Modell eines im Vergleich zum Die Emission und Absorption von Licht
Atomdurchmesser sehr kleinen positiv geladenen durch Materie sollte bei der Aufklärung der
Atomkerns gut mit diesen Streuexperimenten Struktur des Atoms und der Entwicklung der
übereinstimmte. Demnach sollte das Atom Quantentheorie eine Schlüsselrolle spielen. Bereits
weitgehend aus leerem Raum bestehen und der 1802 beobachtete WOLLASTON im Spektrum
Atomkern 100 Millionen Mal kleiner sein als der des Sonnenlichts schwarze Linien, denen er
Atomdurchmesser! RUTHERFORD schätze auch die aber weiter keine Beachtung schenkte. Erst der
Größe der positiven Kernladung ab. Sie sollte der Optiker JOSEPH VON FRAUNHOFER R (1787 –1826)
Hälfte des Atomgewichts entsprechen, gerechnet untersuchte sie 1814 genauer und entdeckte 576
als Vielfache des Atomgewichts von Wasserstoff. schwarze Linien im Sonnenspektrum, die er mit
1912 gelang es dem schottischen Physiker Buchstaben (A, B...) kennzeichnete. Er stellte
CHARLES THOMSON N REES WILSON
N (1869 –1959) auch fest, dass die Frequenz der D-Linie der
in der von ihm erfundenen Nebelkammer, die charakteristischen gelben Emmissionsfrequenz
Ablenkung der Alphateilchen auch sichtbar zu des Natriums entsprach. KIRCHHOFF und
machen (ÅAbbildung 3-101). BUNSEN zeigten später, dass jedes Element ein
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

Röntgenstrahlen halfen andererseits das Pro- charakteristisches Linienspektrum besaß (ÅDie


blem der Ordnungszahlen der Elemente zu lösen. Entdeckung der Elemente, Seite 78). Dass die
Seit MENDELEJ W versah man die Elemente mit
E EW Elektronen im Atom dabei eine Schlüsselrolle

99
KAPITEL 3 Historischer Überblick

unerwarteten Schwierigkeiten. Neben der bereits


beschriebenen Ultraviolettkatastrophe, die die
klassische Theorie vorhersagte, waren die sehr
scharfen Linien der Spektren ein Rätsel. Welche
Art von Resonanz konnte im Atom am Werk
sein, damit derart exakte und für jedes Element
charakteristische Frequenzspektren entstanden?
Die Regelhaftigkeit der Spektrallinien wurde
1885 von JACOB BALMER (1825 – 1898) für
d en Wasserstoff erstmals in eine Formel
gegossen und 1888 von JOHANNES ROBERT

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


RYDBERG (1854 – 1919) verallgemeinert. Diese
Regelhaftigkeit galt zumindest für Wasserstoff
s ehr genau. Eine Verallgemeinerung auch
für andere Elemente erfuhr sie 1908 durch
den schweizer Mathematiker WALTER RITZ
3-102 (1878 – 1909), weshalb sie heute als Rydberg-
Bohrsches Atommodell des Wasserstoffatoms. Ohne das Problem der Abstrahlung könnte
ein Elektron sich wie ein Planet um die Sonne drehen, wobei die elektrostatische Anziehung Ritz-Formel bekannt ist (ÅAbbildung 3-103).
die Rolle der Schwerkraft spielt (links). Jede Bahn wäre möglich. Im Bohrschen Modell (rechts) Es bedurfte jedoch der Kühnheit eines jungen
können sich Elektronen nur auf Kreisbahnen bewegen, deren Drehimpuls ein ganzzahliges Viel- Physikers in RUTHERFORDs Labor, um eine
faches n des Wirkungsquantums h ist. BOHR postulierte, dass nur diese Bahnen stationär sein
können. Die Elektronen verfügen also über diskrete Energien, die von n abhängen. n wird als die
theoretische Begründung für die Spektren
Hauptquantenzahl der Bahn bezeichnet. zu formulieren. NIELS HENRIK DAVID BOHR
(1885 – 1962) kannte natürlich die Arbeiten
PLANCKs und EINSTEINs wonach Licht nur in
Form von Energiepaketen der Größe h mit
Materie Energie austauschen sollte. Wie wäre
es nun, wenn die Elektronen nur auf ganz
bestimmten, festen Bahnen den Atomkern
umkreisen, die gerade soweit voneinander
entfernt sind, dass bei einem Wechsel von
einer in die andere die Energie hν in Form vom
Licht frei oder absorbiert wird? BOHR konnte
1913 eine Formel für die „erlaubten“ Bahnen
aufstellen, die genau die Rydberg-Ritzsche
Formel für die Linienspektren des Wasserstoffs
reproduzierte (ÅAbbildung 3-102). Damit ließ
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

sich auch die bis dahin nur empirisch ermittelte


Rydberg-Konstante theoretisch herleiten. Das
Bohrsche Atommodell hatte allerdings einen
schwerwiegenden Schönheitsfehler. Auch auf den
erlaubten Bahnen sollten kreisende Elektronen
3-103 Energie abstrahlen, dadurch immer langsamer
Atommodell und Spektrum des Wasserstoffatoms. Ein Elektron, das von Bahn m auf die niedere
werden und innerhalb eines winzigen Bruchteils
Bahn n „fällt“, emittiert Licht, dessen Frequenz ν von der Energiedifferenz Em – En = hν abhängt.
Je nach Größe von n entstehen unterschiedliche Serien von Spektren, so die Balmer-, Lyman- einer Sekunde in den Kern stürzen. Es gab
und Paschen-Serie. Bohrs Atommodell konnte die empirische Rydberg-Ritz-Formel für das Was- keinen Grund anzunehmen, dass die bewährte
serstoffatom und den Wert der Rydberg-Konstante R theoretisch bestätigen. Das ebenfalls em- Elektrodynamik im Atom nicht gelten sollte. Der
pirisch gefundene Moseleysche Gesetz beschreibt die Verhältnisse bei Atomen mit Kernladung
Z, die durch näher am Kern liegende Elektronen um den Betrag K abgeschirmt wird. bekannte Physiker MAX VON LAUE (1879 – 1960)
nannte daher BOHRs Modell „Unsinn“, während
spielten, vermutete man bereits Ende des EINSTEIN den Gedanken BOHRs aufgeschlossener
19 . Jahrhunderts. Der Versuch allerdings, gegenüber stand, schließlich wäre es doch ein zu
Emission und Absorption von Licht durch großer Zufall, sollten mit einem falschen Modell
schwingende Elektronen zu erklären, führte zu derart präzise Vorhersagen gelingen. Es sollte

100
Erde, Wasser, Luft und Feuer

noch bis 1925 dauern, bis dieser Widerspruch


aufgelöst werden konnte.
Bis 1925 konnte man auch komplizierte Spek-
tren mit vielen Aufspaltungen auf Bahnübergänge
zurückführen, wobei jede Bahn durch ein Tripel
aus Quantenzahlen charakterisiert wurde (ÅAb-
bildung 3-104). Obwohl man damit eine befrie-
digende Erklärung der Atomspektren in Händen
hielt, hatte man theoretisch das Verhalten der

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


Elektronen vor allem in Atomen schwerer Ele-
mente nicht wirklich verstanden; auch gab es
Inkonsistenzen in der Theorie. Im Nachhinein
scheint es fast, als ob der Versuch, das Atom mit
Hilfe der Spektren zu verstehen, die Entwicklung
der Quantentheorie verzögert hat. Die ungeheure als Erklärung von Besetzungszuständen, ohne 3-104
Komplexität der Spektren (ÅAbbildung 4-19, dass dies theoretisch zu begründen war. Bohr-Sommerfeldsches
Modell des Wasser- r
Seite 133) verdeckt eher die entscheidenden WOLFGANG PAULI (1900 – 1958) formulierte
stoffatoms. Im Bohr-
Elemente des Verhaltens kleinster Teilchen. schließlich 1925 ein allgemeines Prinzip, wonach Sommerfeldschen Modell
Elektronen im Atom niemals in allen Quanten- des Wasserstoffatoms
beschreibt das Elektron
Das Periodensystem, das Pauli-Prinzip und zahlen übereinstimmen können. Waren also die
erlaubte Bahnen, die
der Pauli-Effekt Bahnen niederer Schalen alle belegt, musste auf durch zwei ganze Zahlen
höhere Schalen ausgewichen werden. Das Pauli- charakterisiert sind, die
Schon THOMSON hatte versucht, das Perioden- Prinzip konnte erst viel später theoretisch befrie- Hauptquantenzahl n und
die Nebenquantenzahl l.
system als Folge der Elektronenkonfiguration digend gedeutet werden. Neben der Vorhersage n charakterisiert das Ener-
der Elemente zu deuten, war aber aufgrund des Neutrinos ist PAULI unter Physikern durch gieniveau des Elektrons
seines ungeeigneten Atommodells gescheitert. ein weiteres Phänomen bekannt, den sogenann- während l die Exzentrität
der Ellipse beschreibt bzw.
BOHR versuchte sich an einer analogen Deutung ten Pauli-Effekt. Nach Berichten glaubwürdiger den sogenannten Bahn-
bereits 1913 und entwickelte diese bis 1922 Kollegen aus der Experimentalphysik ging bei La- drehimpuls. Die Quanten-
weiter. In einer Vortragsreihe 1922 in Göttin- borbesuchen des Theoretikers PAULI regelmäßig zahl m kam später hinzu,
sie ist eine Folge des
gen, die später die „Bohr-Festspiele“ genannt etwas zu Bruch. Im Labor des Physikers FRANCK
sogenannten Spins des
wurde, stellte er die Elektronenkonfiguration in Göttingen zerbrach sogar eine Apparatur als Elektrons.
der Elemente des Periodensystems in einem gro- sich PAULI auf der Durchreise nach Kopenhagen
ßen Wurf dar. Bis dahin hatte sich schon die für kurze Zeit am Göttinger Bahnhof aufhielt.
Vorstellung verbreitet, dass beim Aufbau eines
Atoms zuerst die inneren Bahnen gefüllt werden Chemische Bindungen
und die Füllung nur bis zu einer bestimmten
Anzahl Elektronen in einer Schale erfolgt. Als Schon HELMHOLTZ vermutete, dass chemische
Schale wurden alle Bahnen mit einer bestimmten Bindungen dadurch zustande kommen, dass
Hauptquantenzahl n bezeichnet. Elektronen zwischen den Bindungspartnern
Man vermutete, dass Elemente mit gefüllten wechseln. RICHARD WILHELM HEINRICH ABEGG
Schalen besonders stabil sind und dass bei che- (1869 – 1910) ging 1904 davon aus, dass die
mischen Reaktionen Elektronen ausgetauscht Elektronenstruktur die Valenz (Wertigkeit) eines
werden, um Schalen zu vervollständigen oder Elements in einer Verbindung bestimmt; die un-
zu leeren. BOHR entwickelte 1922 daraus eine terschiedliche „Affinität“ von Atomen gegenüber
visionäre Theorie über den Bau der Elektronen- Elektronen sei verantwortlich für ihre Bindungs-
schalen, bei der er auch berücksichtigte, dass bei fähigkeit. Die Reaktionsträgheit der Edelgase
bestimmten Elementen aus energetischen Grün- führte ABEGG auf die Stabilität ihrer Elektronen-
den zuerst weiter außen liegende Schalen gefüllt struktur zurück. Sie führt dazu, dass Edelgase
werden. BOHRs Ausführungen waren beeindru- weder leicht Elektronen abgeben noch aufneh-
ckend und trafen auch den Kern der Sache. Aller- men. Allerdings schien die Vorstellung eines Elek-
dings war manches theoretisch kaum fundiert. So tronenübergangs von einem Bindungspartner
nutzte er Symmetrien der Bahnkonfigurationen zum anderen nicht für alle Bindungsarten zuzu-

101
KAPITEL 3 Historischer Überblick

treffen. Wohl galt sie für sogenannte polare Bin- in der sogenannten kovalenten Atombindung
dungen wie sie bei Salzen vorlagen. Sie zerfielen, (ÅTeilchen finden zusammen, Seite 144). Das
wie SVANTE AUGUST ARRHENIUS (1859 – 1827) Bohr-Sommerfeldsche Atommodell konnte noch
schon 1887 zeigte, im Wasser in negativ und keine Begründung für diese Art der Bindung lie-
positiv geladene Ionen (NaCl → Na+ + Cl–), wäh- fern, weshalb LEWIS ihm auch ablehnend gegen-
rend die Atome des Natriums und des Chlors überstand.
ansonsten elektrisch neutral waren. Umgekehrt
zerfielen unpolare organische Verbindungen wie Transmutation reloaded:
Methan (CH4) keineswegs in Ionen und zeigten der radioaktive Zerfall
auch sonst wenig elektrische Polarität, ganz zu
schweigen von Verbindungen wie O2 oder H2, bei 1896, ein Jahr nach RÖNTGENs Entdeckung
denen die Affinität für Elektronen bei beiden Part- der nach ihm benannten Strahlen entdeckte
nern gleich war, die aber trotzdem höchst stabile BECQUEREL eine weitere Art von Strahlung, die
Verbindungen bilden konnten. Unabhängig von- er Uranstrahlung nannte. Bei Untersuchungen
einander entwickelten 1915 WALTHER KOSSEL über die Phosphoreszenz von Uransalzen hatte er
(1888 – 1956) und 1916 GILBERT R NEWTON LEWIS diese versehentlich auf eine lichtdicht verpackte
(1875 – 1946) eine Theorie der Bindung, die po- fotografische Platte gelegt. Nach dem Belichten
lare und unpolare Verbindungen berücksichtigte. stellte er eine Schwarzfärbung der Platte wie bei
LEWIS nutzte als Modell für die Elektronenkon- einer normalen Belichtung fest. Seine Ergebnisse
figuration einen Kubus, dessen acht Ecken mög- erfuhren zunächst wenig Aufmerksamkeit,
liche Positionen der Elektronen in der äußersten aber MARIE (1867 – 1934) und PIERRE CURIE
Schale eines Atoms bildeten (ÅAbbildung 3-105). (1859–1906) untersuchten die dabei entstehende
Bindungen entstanden bei stark polaren Atomen Strahlung genauer. Dank eines von ihnen
durch Wechsel eines Elektrons von der äußersten entwickelten neuen Messverfahrens für die
Schale des einen Partners zum anderen, bei weni- elektrische Leitfähigkeit der Luft konnten sie die
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

ger polaren Atomen nahmen die Elektronen teil Stärke der Strahlung verschiedener Substanzen
an beiden Schalen. Ob der eine oder der andere präzise bestimmen und stellten fest, dass
Fall zutrifft, hängt davon ab, wie viele Positionen Uranminerale wie Pechblende und Torbernit noch
im Kubus von Elektronen besetzt sind. Fehlt nur stärkere Strahler waren, deren Aktivität nicht
3-105 ein Elektron zur vollen Achterbesetzung wie beim vom Uran allein kommen könne. Ihnen gelang
Lewis’ kubische Atome. Chlor, so nimmt das betreffende Atom sehr gerne schließlich 1898 die Gewinnung zweier neuer
Nach LEWIS sind Atome ein Elektron auf, insbesondere dann, wenn beim radioaktiver Elemente, Radium und Polonium
bestrebt, mittels Bindun-
gen ihre kubische Schale Reaktionspartner, z. B. Natrium, nur eine Position aus Pechblende. Polonium erhielt seinen Nahmen
der äußeren Elektronen zu im Kubus besetzt ist. Natrium profitiert von der zu Ehren der polnischen Heimat MARIE CURIEs.
vervollständigen oder zu Abgabe eines Elektrons. Bei mittleren oder glei- Zusammen mit BEQUEREL erhielten MARIE und
leeren. Dies gelingt durch
gemeinsame Nutzung von chen Besetzungszahlen bei beiden Partnern, wie PIERRE CURIE 1903 für die Entdeckung der
Elektronen (oben für das beim Sauerstoffmolekül, teilt man sich eben die Radioaktivität den Nobelpreis für Physik. MARIE
Chlormolekül dargestellt) Elektronen; die Bindung bleibt unpolar. Dieses CURIE erhielt zudem 1911 für die Entdeckung
oder durch deren Aus-
tausch (unten zwischen
Bestreben, durch chemische Bindung eine gefüllte und Gewinnung der Elemente den Nobelpreis
Natrium und Chlor dar- Achterschale zu erreichen, wird als Oktettregel der Chemie. Ihr Mann PIERRE starb 1906 bei
gestellt). Auch mehr oder bezeichnet. LEWIS Kubusmodell war falsch, aber einem Verkehrsunfall, sie selbst 1934 an einer
weniger polare Zwischen-
stufen sind möglich.
man kann heute quantenmechanisch begründen, sehr seltenen Erkrankung des Knochenmarks,
warum die Oktettregel zumindest als Faustregel Folge ihres intensiven Umgangs mit radioaktiven
für die Bindungsaffinität zutrifft. Elemente bei Substanzen.
denen die sogenannten s- und p-Unterschalen der Der deutsche Physiker FRIEDRICH ERNST
äußersten Schale durch 8 Elektronen vollständig DORN (1848 – 1916) entdeckte 1900, dass Ra-
gefüllt sind, sind chemisch besonders stabil, da die dium ein radioaktives Gas abgab, das er Ra-
Energiedifferenz zu Konfigurationen mit weniger dium Emanation nannte. Andere entdeckten
oder mehr Elektronen besonders hoch ist. Auch kurz darauf ähnliche Emanationen bei Thorium
das „Teilen“ von Elektronen zwischen zwei Ato- und Actinium. Später stellte man fest, dass es
men hat seine quantenmechanische Entsprechung sich um Isotope eines Edelgases handelte und
durch die Bildung eines kombinierten „Orbitals“ nannte das Element Radon. Seine Wirkungen

102
Erde, Wasser, Luft und Feuer

waren allerdings schon länger bekannt. Bereits im 3-106


Mittelalter wusste man, dass Bergleute häufig an Phasenraumvolumen. Man kann den Zustand eines
Systems aus T Teilchen durch einen Punkt im Phasenraum
einer Krankheit litten (Bergsucht), die man später beschreiben. Die Koordinatenachsen des Raumes sind die
als Lungenkrebs identifzierte. Sie wird durch die Impuls- und Raumkoordinaten aller Teilchen.
T Der Pha-
teils erhebliche Radon-Konzentration in Bergwer- senraum eines T Teilchens hat also sechs Dimensionen, da
der Ort des T Teilchens durch drei Raumkoordinaten und
ken verursacht.
der Impuls durch drei Bewegungsrichtungen bestimmt
1903 gelang es RUTHERFORD und dem Chemi- sind. Im Bild sind nur der Impuls in x-Richtung und die
ker FREDERICK SODDY (1877 – 1956) anhand des räumliche x-Koordinate eingezeichnet. Im klassischen Fall
(oben) kann das T Teilchen unendlich viele Werte im einge-
Uranzerfalls nachzuweisen, dass Radioaktivität
zeichneten Raumgebiet einnehmen. Welchen Sinn macht
mit der Transmutation eines chemischen Elements es also, von der „Anzahl W der Zustände“ in Boltzmanns
einhergeht! RUTHERFORD gelang zudem 1917 die Gleichung S = k·log W zu sprechen? Man muss den Raum
erste künstliche Kernumwandlung der Geschichte. willkürlich in kleine Zellen teilen, um eine endliche Zahl W
zu erhalten. Durch die Quantelung des Phasenraums in
Beim Beschuß von Stickstoff mit Alphateilchen der Quantentheorie bekommt dieser willkürliche Akt eine
zeigte er, dass Sauerstoff und Wasserstoff entstand. tiefere Bedeutung (unten). Er ist eine Folge der Unschär-
Er ging davon aus, dass die Kerne aller schwereren ferelation. Das Produkt aus Impuls und Ort kann niemals
genauer bestimmt werden als h.
Elemente aus Wasserstoffkernen zusammengesetzt

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waren, wie schon PROUT T vermutet hatte (ÅWas- Und warum galt das Äquipartitionstheorem
serstoff als Urmaterie, Seite 75) und nannte die- nicht immer, wie die spezifischen Wärmen von
sen Kern Proton (griech., das Erste). RUTHERFORD Gasen zu belegen schienen (Å S = k·log W
W, Seite
glaubte, dass ein weiteres Teilchen im Atomkern 95)? Zwar hatte man gelernt, mit quantisier-
vorhanden war, da eine Zusammenballung positiv ten Größen umzugehen und glaubte mit dem
geladener Teilchen ohne „Klebstoff“ schwer vor- r Bohr-Sommerfeldschen Atommodell einen An-
stellbar war. Dieses Teilchen wurde erst 1932 von satz gefunden zu haben, um Atomspektren und
seinem Schüler Sir JAMES CHADWICK K (1891 –1974) das Periodensystem zu erklären. Aber warum
identifiziert, der es Neutron nannte. Damit waren galten die Quantisierungsbedingungen? Als man
die Bausteine des Atoms bekannt. Es sollte noch in den 1920er Jahren zu dem vorstieß, was heute
dreißig Jahre dauern, bis erkannt wurde, dass Quantenmechanik genannt wird, ließ man vieles
auch Neutronen und Protonen aus Teilchen be- hinter sich, was MICHELSON als Grundtatsachen
stehen, den sogenannten Quarks. — bezeichnet hatte. Dazu gehörte unter anderem
die Vorstellung, dass Materie vor allem durch
Umbruch: Die Quantentheorie zwei Eigenschaften bestimmt sei: Masse und
Ausdehnung.
Welle oder Teilchen, oder beides?
Die wichtigsten Grundgesetze und Grundtatsa- Quantentheorie, die Erste:
chen der Physik sind alle schon entdeckt, und Licht ist gequantelt
diese haben sich bis jetzt so fest bewährt, dass
die Möglichkeit, sie wegen neuer Entdeckungen Dass Energie in vielen Fällen nur in Portionen
beiseite zu schieben, außerordentlich fern zu der Größe hν vorzukommen schien, wusste man
liegen scheint... Unser künftigen Entdeckungen anfangs der zwanziger Jahre bereits: die Energie
müssen wir in den 6. Dezimalstellen suchen.
von Elektronen im Atom war gequantelt, Wär-
(MICHELSON, 1903)
mestrahlung ließ sich mit Hilfe von Oszillatoren
ALBERT
R ABRAHAM MICHELSONs (1852– 1931) Pro- beschreiben, deren Energie portioniert war, und
gnose stellte sich als völlig falsch heraus. Das erste man erkannte, dass h als die „natürliche“ Größe
Quartal des 20.Jahrhunderts bescherte der Physik des kleinsten Volumenelements im Phasenraum
zwei Revolutionen, die sich nur mit der Newton- betrachtet werden kann (Å Abbildung 3-106).
schen Revolution vergleichen lassen: die Quanten- Offenbar war also jede Art von Bewegung ge-
theorie und die Relativitätstheorie. Aus Sicht der quantelt. PHILIPP LENARD (1862 – 1947) hatte
meisten Physiker zu Beginn des Jahrhunderts gab zudem 1902 festgestellt, dass die bei der Be-
es keinen Grund, das bekannte Instrumentarium strahlung von Metallen mit kurzwelligem Licht
der Physik in Frage zu stellen. Natürlich gab es emittierten Elektronen (photoelektrischer Effekt)
noch einige offene Punkte zu klären. Warum eine kinetische Energie besaßen, die von der
schien Energie nur „portioniert"aufzutreten? Frequenz und nicht von der Intensität des Lichts

103
KAPITEL 3 Historischer Überblick

abhing. Wieder ließ sich der Einfluss des Planck- 3-107). DE BROGLIES kühne Thesen stießen bei
schen Energiequantums hν erkennen. Physikern dieser Zeit sowohl auf Skepsis als auch
EINSTEIN ging einen entscheidenden Schritt Anerkennung. ERWIN R SCHRÖDINGER R (1887 –1961)
weiter. Er deutete die Größe hν nicht nur griff diese Gedanken 1926 auf und ordnete jedem
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als „Energieportion“, sondern schrieb dem Teilchen eine Wellenfunktion zu, deren Dynamik
Licht Teilchencharakter zu. Licht bestehe aus er durch die berühmte Schrödingergleichung
Quanten, deren Energie nur von ihrer Frequenz ausdrückte. Er berechnete die Wellenfunktion
abhänge. Damit gelang es EINSTEIN 1905, d es Wasserstoffatoms und konnte die
den photoelektrischen Effekt als Absorption Quantenzahlen als sogenannte „Eigenwerte“
von „Lichtteilchen“ zu beschreiben, wofür dieser Wellenfunktion ableiten (ÅAbbildung
3-107 er 1921 den Nobelpreis erhielt. Die winzigen 3-110 , Seite 105 sowie Å Wellenfunktion
Stehende Wellen um Zitterbewegungen einer mit Licht bestrahlten und Quantenfelder, Seite 431). Für ein freies
einen Atomkern. Die
Platte konnte er als kombinierte Wirkung des Teilchen ergab sich aus der Schrödingergleichung
das Elektron führenden
Materiewellen fügen sich klassischen Strahlungsdrucks und „Stößen“ von die de Brogliesche Materiewelle. DE BROGLIE
periodisch in die Bahnen Lichtquanten deuten. Er leitete die Gleichung für und SCHRÖDINGER schienen damit die Welt der
ein, wobei mit steigender
die Entropie des schwarzen Körpers ab, indem er Materie und die Welt der Wellenerscheinungen
Quantenzahl n mehr
Schwingungsperioden in das Licht im Hohlraum als Gas („Photonengas“) zu vereinen. Während Photonen zumindest
eine Bahn passen. betrachtete. Die Plancksche Strahlungsformel in m a n c h e r Hin s i c h t Te il c h e n c h a r a k te r
ergab sich dann zwanglos als Gleichgewicht z ei g ten, zei g ten Teilchen Wellencharakter
zwischen Erzeugung und Vernichtung von beziehungsweise schienen von einer Welle
Photonen. EINSTEINs Photonen wurden anfangs „begleitet“ zu sein. DE BROGLIE gelangte zu
von Pionieren der älteren Quantentheorie wie Berühmtheit, als die amerikanischen Physiker
SOMMERFELD und PLANCK mit Skepsis betrachtet. CLINTON DAVISSON (1881 – 1958) und LESTER H.
Eine großartige Bestätigung erhielt diese erste GERMER (1896 – 1971) 1927 durch Bestrahlung
Form des Welle-Teilchen-Dualismus durch von Nickelkristallen mit Elektronenstrahlen
den amerikanischen Physiker ARTHUR HOLLY nachwiesen, dass diese am Kristall so gestreut
COMPTON (1892 – 1962). Er stellte 1922 fest, werden, wie es ihrer Wellenlänge entspricht.
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dass Röntgenstrahlung an Elektronen auf Parallele Versuche von GEORGE PAGET THOMSON
eine Weise gestreut wurde, die nicht mit dem (1892 – 1975) in England führten zum gleichen
Wellencharakter von Licht verträglich war. So Resultat. DE BROGLIE erhielt für seine kühne
entsprach die Veränderung der Strahlungsfrequenz Theorie der Materiewellen zwei Jahre später den
3-108 dem Impuls, den das Elektronen als Folge des Nobelpreis für Physik.
Euklidischer Raum. Im uns „Photonenstoßes“ erhielt. Die Schrödingersche „Wellenmechanik“, wie
vertrauten dreidimensio- sie genannt wurde, war sehr anschaulich, auch
nalen euklidischen Raum
kann man die Position Quantentheorie, die Zweite: T
Teilchen als wir nutzen sie in Kapitel 4 zur Beschreibung des
(Ortsvektor) eines Teil-
T Wellen Atoms. Und anfangs glaubten noch viele, man
chens als Summe soge- könne mit der de Broglie-Schrödingerschen The-
nannter „Basisvektoren“
x, y, z darstellen. Diese N ac h de r R e l at i v i tätst h eo ri e beste h t e in e orie die klassischen Vorstellungen von Teilchen
werden so gewählt, dass Äquivalenz zwischen Energie und Masse, und ihren Bewegungen in die merkwürdige Welt
sie senkrecht (orthogonal) die sich in der berühmten Gleichung E = mc2 der Quantenmechanik hinüberretten – so, wie
aufeinanderstehen, Die
Orientierung des gemein- ausdrückt. Gleichzeitig gilt für die Energie eines man die geometrische Optik mit ihren Sehstrah-
samen Achsenkreuzes im Photons E = hν. Der französische Physiker LOUIS- len mit der Wellenoptik verbinden kann, in der
Raum ist willkürlich. Es VICTOR DE BROGLIE (1892 – 1987) folgerte aus sich Licht nicht entlang einer geraden Linie be-
gibt daher unendlich viele
Sätze von Basisvektoren.
beiden Beziehungen 1923 nicht nur, dass das wegt, sondern als Welle nach allen Seiten ausbrei-
Basisvektoren heißen sie, Photon eine Masse besitzen müsse, sondern tet. Aber es gab auch einen radikaleren Ansatz.
weil sie linear unabhängig auch, dass Teilchen von einer Welle begleitet
voneinander sind: Man
werden, der sogenannten Materiewelle, die die Quantentheorie, die Dritte: Gibt es
kann keinen als Summe
der anderen ausdrücken. Teilchen auf ihren Bahnen „führt“. Die stabilen T
Teilchenbahnen?
Außerdem ist der Ba- Elektronenbahnen des Bohr-Sommerfeldschen
sisvektorensatz (x,y,z)
Atommodells seien deshalb möglich, weil ihr Der junge deutsche Physiker WERNER HEISENBERG
„vollständig“: Er genügt,
um jede Position im Raum Umfang ganzzahligen Vielfachen der Wellenlänge (1901 – 1976) nutzte 1925 eine durch Heu-
eindeutig zu beschreiben. der Elektronen“wellen“ entspräche (ÅAbbildung schnupfen erzwungene Erholungszeit auf Helgo-

104
Erde, Wasser, Luft und Feuer

land dazu, das Problem von einer anderen Seite 3-109


aus anzugehen. Während er zuvor einige Zeit Fourierreihe. Periodische Signale, z.B. Rechtecksignale,
können durch eine unendliche Summe trigonometrischer
damit zugebracht hatte, Formeln für die Linien Funktionen dargestellt werden, eine sogenannte Fourier-
des Wasserstoffatoms zu „erraten“, wuchs in reihe. Diese Funktionen stehen „orthogonal“ aufeinan-
ihm die Überzeugung, dass die Vorstellung von der, d.h. keine kann als Summe der anderen ausgedrückt
werden und sie sind vollständig. Man kann sie daher in
Elektronenbahnen im Atom irrig sei. War es nicht
Analogie zum Euklidischen Raum (Abb. 3-108) als Ba-
klüger, sich auf die Größen zu konzentrieren, sisvektoren eines „Funktionenraums“ auffassen, in dem
die man wirklich beobachten konnte? Die periodische Signale als Vektoren repräsentiert werden.
Auf diese Weise sind auch periodische T Teilchen- oder Pla-
Elektronenbahnen waren unzugänglich, das einzig
netenbahnen beschreibbar.
Messbare waren die Frequenzen der Spektrallinien
und deren Intensitäten. Konnte man eine Physik NEUMANN (1903 – 1957) die Quantenmechanik
der Teilchenbewegung formulieren, die ohne den auf eine solide mathematische Grundlage, in
Bahnbegriff auskommt? Im Kern stützte sich der die Wellenmechanik SCHRÖDINGERs und die
HEISENBERG auf das bereits bekannte Verfahren Matrizenmechanik HEISENBERGs als verschiedene
der Darstellung von periodischen Bewegungen Sichten auf die gleiche Grundstruktur erschienen.
mit Hilfe von Fourierreihen (ÅAbbildung Die Wellenfunktion konnte man als Vektor in
3-109), bei denen die Bewegung als Summe von einem abstrakten mathematischen „Raum“, dem
Schwingungen dargestellt wird, deren Frequenzen Hilbertraum, auffassen (ÅAbbildung 3-110).
ganzzahlige Vielfache („Oberschwingungen“) Mess g rößen wie Ener g ie, Im p uls, Ort

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


einer Grundfrequenz sind. Jede Bewegung oder Spin ermittelte man durch Anwendung
wird durch einen Satz von Frequenzen und bestimmter mathematischer Operationen auf
deren „Intensitäten“, sprich Anteilen an der diesen Vektor, die man „Operatoren“ nannte.
Gesamtbewegung, eindeutig beschrieben. Es zeigte sich, dass man für alle in der klassi-
Andererseits ist im Atom der „Sprung“ eines schen Physik bekannten Größen Operatoren
Elektrons von „Bahn“ n nach „Bahn“ m durch finden konnte und dass sogar die Beziehun-
die Frequenz νn,m der dabei emittierten Strahlung gen zwischen ihnen strukurell gleich zu jenen
und deren Intensität eindeutig bestimmt. Statt der entsprechenden klassischen Größen wa-
zu versuchen, diese Frequenz als Funktion einer ren! Einen wesentlichen Unterschied gab es
nicht beobachtbaren Bahnbewegung zu erklären, allerdings: Die Anwendung der Operatoren auf
könnte man vielleicht umgekehrt den Zustand die Wellenfunktion führte meist zu mehreren
des Elektrons als Funktion dieser Frequenzen alternativen Werten; man konnte also nicht
und Intensitäten ausdrücken. HEISENBERG gelang mit Bestimmtheit sagen, welchen Wert man bei
es, entsprechende Gleichungen aufzustellen; einer Messung zu erwarten hatte.
allerdings wurden dabei aus den anschaulichen
Größen Impuls und Ort eines Elektrons so- Unschärferelation und Wahrscheinlichkeiten
genannte Matrizen, Zahlengebilde mit n Spalten
und m Zeilen, da man ja alle Übergänge zwischen HEISENBERG verließ mit seiner Matrizenmecha-
den m mal n „Bahnen“ berücksichtigen musste. nik die Vorstellung von Elektronenbahnen im
HEISENBERGs Zugang zur Quantentheorie wird Atom. Andererseits war in Nebelkammern die
daher als „Matrizenmechanik“ bezeichnet.
3-110
Anfangs galt dieser Zugang vielen Physikern Hilbert-Raum. Die Wellenfunktion ψ eines Teilchens
T
als zu abstrakt, insbesondere als kurze Zeit kann als Vektor in einem Funktionenraum dargestellt
später Schrödingers Wellenmechanik erschien, werden, den man nach dem Mathematiker DAV A ID HILBERT
(1862 – 1943) als Hilbert-Raum bezeichnet. Basisvektoren
die um einiges anschaulicher war. Man konnte sind spezielle Funktionen, die sogenannten Eigenzu-
in ihr auf „Quantensprünge“ verzichten, die stände des Teilchens.
T Sie entsprechen zum Beispiel be-
Materiewelle bewegte sich kontinuierlich im stimmten Energieeigenwerten En (mit der Quantenzahl n)
oder auch Impuls- oder Spineigenwerten. Den Eigenwert
Raum. Umso erstaunlicher, dass es SCHRÖDINGER
misst man genau dann, wenn das T Teilchen im Zustand |n〉
kurze Zeit später gelang, nachzuweisen, dass beide
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ist. Im Allgemeinen ist ein TTeilchen aber nicht in einem Ei-


Zugangswege äquivalent waren! Von 1926 bis genzustand, sondern in einem Zustand, der eine Summe
Anfang der 1930er Jahre stellten PAUL DIRAC der Eigenzustände ist. Die seltsame Klammernotation
„| · 〉“ geht auf die Darstellung des Skalarproduktes 〈a | b〉
(1902 – 1984), PASCUAL JORDAN (1902 – 1980), zurück und heißt Bra-Ket-Notation (von engl. braket,
M AX B ORN ( 1882 – 1970 ) und J O HN VON Klammer). Eingeführt wurde sie von DIRAC 1930.

105
KAPITEL 3 Historischer Überblick

3-111 q, so erhielt man andere Werte als wenn man


Unschärferelation. Auf- zuerst q und dann p anwandte. Man schreibt
grund der Welleneigen-
schaften eines Teilchens
T
kurz: pq – qp ≠ 0.
verhält es sich an einem
Spalt wie eine ebene
Welle. Misst man auf einer
Selbstauslöschung
hinter dem Spalt ange-
brachten Projektionswand Der Doppelspaltversuch von YOUNG 1802 (ÅVon
die Auftreffpunkte der der Natur des Lichts, Seite 80) überzeugte die
Teilchen, so ergibt sich
T Physiker davon, dass Licht eine Wellenerschei-
ein Beugungsmuster wie
bei Licht. Je schmaler der nung ist. Die sichtbaren Interferenzstreifen zeug-
Spalt, desto breiter wird ten von der Verstärkung und Auslöschung der
das Intensitätsmaximum. Wellenzüge aufgrund ihrer Gangunterschiede.
Den Ort eines Teilchens
T
Der Welle-Teilchen-Dualismus warf nun neue

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an der Blende kann man
beliebig genau bestim- Fragen auf: Wenn Photonen Teilchencharakter
men, in dem man den besaßen, konnte ein einzelnes Photon mit sich
Spalt immer enger macht.
Damit wird aber seine selbst interferieren, sich also auch „auslöschen“?
Bewegungsrichtung bei Und wenn ein Elektron Wellencharakter be-
Verlassen des Spalts unge- saß, bedeuteten Interferenzmuster, dass es durch
wisser, man weiß immer
weniger genau, wo das
beide Spalten gleichzeitig hindurchging?
Teilchen die Wand trifft.
T „Bahn“ eines Elektrons deutlich zu erkennen. Dass ein einzelnes Photon mit sich selbst
Impuls und Ort eines Teil-
T 1927 gelang es HEISENBERG, diesen scheinbaren wechselwirkte, wies 1909 GEOFFREY TAYLOR
chens können also nicht
Widerspruch aufzulösen. In der Nebelkammer (1886 – 1975) mittels eines Spaltexperiments
beide gleichzeitig beliebig
genau gemessen werden. sah man ja nicht die Bahn eines Elektrons, nach, bei dem das Licht so schwach war, dass
Bei schweren Körpern sondern vergleichsweise riesige Nebeltröpfchen, nur ein Photon gleichzeitig unterwegs sein
spielt dieser Effekt keine
die beim Durchgang des Elektrons entstan- konnte. Trotzdem entstanden die klassischen
Rolle, da ihre De Broglie-
Wellenlänge sehr klein ist: den. HEISENBERG konnte zeigen, dass es nicht Beugungsmuster. Ein Doppelspaltexperiment mit
Δx >> λ. möglich war, Impuls und Ort eines Teilchens Elektronen konnte 1961 von CLAUS JÖNSSON
gleichzeitig beliebig genau zu bestimmen. Je (*1930) durchgeführt werden. Auch dabei zeig-
genauer man die eine Größe maß, desto unge- ten sich Interferenzmuster. Inzwischen gelingen
wisser wurde die zweite (Å Abbildung 3-111). Experimente dieser Art auch mit sehr großen
Dieses Unvermögen war keine Folge unvoll- Molekülen wie Fullerenen, die aus sechzig Koh-
kommener Messinstrumente, sondern lag in der lenstoffatomen bestehen.
Natur der Sache selbst. Mit Hilfe des mathe-
matischen Formalismus der Quantenmechanik Teilchen unter Beobachtung
T
konnte man genau aufzeigen, welche Mess-
größen nicht gleichzeitig beobachtbar waren: Noch merkwürdiger war das Verhalten der Teil-
Die zugehörigen Operatoren „kommutierten“ chen bei Messungen. Stellte man mittels eines
(lat., vertauschen) nicht. Wendete man zuerst Detektors fest, durch welchen Spalt ein Teilchen
Operator p auf die Wellenfunktion an, dann tatsächlich ging, so verschwanden die Interfe-
renzmuster (Å Abbildung 3-112)! Es schien, als
3-112
ob der Ausgang des Experiments vom Beobach-
Messungen am Doppelspalt. Trifft ein Elektron auf eine
Blende mit Doppelspalt, so sind die Spalten Ausgangs- tungsprozess abhing. Zog man sich auf den ma-
punkt zweier Wellenfunktionen, die wie Licht miteinan- thematischen Formalismus zurück, war die In-
der wechselwirken (oben). Das Quadrat der ortsabhän- terferenz keine Überraschung. Hinter der Blende
gigen Wellenfunktion ist ein Maß für die Aufenthalts-
wahrscheinlichkeit des Elektrons an einem Ort. Durch die entsprach der Wellenfunktion des Teilchens ein-
Überlagerung der Wellenfunktionen |1〉 und |2〉 hinter fach eine Überlagerung zweier Funktionen, die
der Blende enthält |ψ〉2 den Mischfaktor 2·|1〉 · |2〉, der am
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jeweils den Weg durch einen Spalt repräsentier-


Ort des Schirms zu Schwankungen der Aufenthaltswahr-
scheinlichkeit führt, den beobachteten Interferenzen. ten. Diese Überlagerung erzeugte Interferenzen.
Durch eine Messung an nur einem Spalt bildet sich keine Bei einer Messung schien allerdings etwas Seltsa-
Überlagerung, sondern die Wellenfunktion „zerfällt“ zu- mes zu geschehen: Die Wellenfunktion reduzierte
fällig in einen |1〉 - oder einen |2〉 -Teil,
T erkennbar daran,
ob der Detektor (Lupe) anschlägt oder nicht. Interferenz sich auf die Teilfunktion, die dem gemessenen
findet nicht statt (unten). Spalt entspricht. Ganz allgemein bedeutet in

106
Erde, Wasser, Luft und Feuer

der Welt der Quantenmechanik Messung eine Weltbild zu sein. Schien doch ausgemacht, dass
Reduktion der Wellenfunktion auf eine Teil- sich alles Geschehen im Raum-Zeit-Gefüge der
funktion, ein Vorgang, den man als Kollaps der Welt präzise verorten läßt. Kannte man die
Wellenfunktion bezeichnet. Der Anteil des re- raumzeitlichen Koordinaten eines Objektes,
duzierten Teils an der gesamten Wellenfunktion gleich ob Welle oder Teilchen, konnte man mit
ist dabei ein Maß für die Wahrscheinlichkeit, bei Hilfe deterministischer Gesetze dessen raum-
einer Messung den zugehörenden Messwert zu zeitliche Entwicklung vorhersagen. Gewiss,
erhalten (ÅAbbildung 3-113). Auf welche Teil- Messungen konnten diese Entwicklung stören
funktion eine Wellenfunktion kollabiert, kann u n d u n vo llk o mm e n e Ge r äte M esswe r te
nicht mit Bestimmtheit vorhergesagt werden. verfälschen, es gab jedoch keinen Grund
Was Messungen betrifft, ist die Quantenmecha- anzunehmen, dass der Minimierung dieser
nik offenbar nicht deterministisch! Störungen prinzipielle Grenzen gesetzt sind. Und
so traf NIELS BOHR auf erheblichen Widerstand,
Verschränkung als er 1927 die „Kopenhagener Deutung“ der
Quantenmechanik vorstellte. Demnach würden
Eine weitere, sehr merkwürdige Eigenschaft zwar auch in der Quantenwelt deterministische

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q uantenmechanischer S y steme tritt bei Gesetze gelten wie die Schrödingergleichung
Wechselwirkungen zwischen Teilchen auf. ja zeige. Für uns Menschen sei diese Welt
Teilchen bleiben danach miteinander verbunden a b er nur ü b er kl assisc h e Messgrö ß en un d
– SCHRÖDINGER prägte 1935 dafür den Ausdruck klassische Messgeräte zugänglich. Und hier
„verschränkt“. Durch die Verschränkung erhalten gelte eben das Prinzip der Komplementarität:
die Teilchen eine gemeinsame Wellenfunktion; Klassische Größen wie Ort und Impuls seien
3-113
diese lässt sich nicht mehr in Funktionen nicht zusammen messbar, weil dem, was sie Kollaps der Wellenfunk-
teilen, die jeweils nur ein Teilchen beschreiben. gemeinsam repräsentierten – eine klassische tion. Eine ungestörte
Dadurch beeinflusst jede Messung alle Teilchen, „Bahn“ –, in der Quantenwelt eben nichts Wellenfunktion kann als
Überlagerung von Teil-
T
unabhängig davon, wo diese sich befinden. So ents p räche. Nur die Wellenfunktion allein funktionen betrachtet
können durch Laserpulse Atome zum Emittieren beschreibe ein System vollständig, so BOHR, werden, die Basisvektoren
von Photonenpaaren angeregt werden, deren die Verbindung zur klassischen Welt ginge des Hilbertraumes sind
(oben). Durch eine Mes-
Polarisation (Schwingungsebene) verschränkt nur über deren Kollaps bei Messungen, der sung „kollabiert“ |ψ〉 in
ist. Die Messung der Polarisation eines Photons als zusätzliches Postulat aufgenommen wurde. eine der Teilfunktionen
T
verändert die Gesamtwellenfunktion derart, dass Die Unschärferelation sei deshalb keine Folge (unten). Welche dies ist,
ist unbestimmt. Der Anteil
eine unmittelbar darauf folgende Messung am m angelnder Erkenntnisfähigkeit, sondern jeder T
Teilfunktion am Ge-
zweiten Photon andere Werte ergibt, als wenn Ausdruck dessen, was in der Welt der Quanten samtvektor |ψ〉 ist ein Maß
man es zuerst untersucht hätte. existiert und was nicht. Die Quantenwelt sei für die Wahrscheinlichkeit
p, dass der Kollaps auf
aus unserer Perspektive statistisch und nicht
diese T
Teilfunktion erfolgt.
deterministisch.
Ist die Quantentheorie BOHR schien der Physik eine Tür vor der
Nase zuzuschlagen – kein Wunder, dass manche
unvollständig?
seiner Zeitgenossen diesen Weg nicht mitge-
Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der hen wollten. Gott würfelt nicht, soll EINSTEIN
Glaube [Goethe: Faust Teil 1]
mehrmals auf der legendären Solvay-Konferenz
So könnte man etwas salopp die Reaktion einiger 1927 in Brüssel gesagt haben. Zwischen ihm und
Physiker, darunter EINSTEIN und SCHRÖDINGER, BOHR entwickelten sich hitzige Diskussionen.
auf die neue Quantenmechanik der „jungen EINSTEIN forderte BOHR mit Gedankenexperi-
Leute“ HEISENBERG, DIRAC, PAULI, JORDAN und menten heraus, die nachweisen sollten, dass es
ihres geistigen Mentors BOHR zusammenfassen. eben doch möglich sei, Ort und Impuls gleichzei-
Der mathematische Apparat der Quantentheorie tig zu bestimmen. Für EINSTEIN war Komplemen-
wurde nicht in Frage gestellt und ihre Erfolge tarität kein Gesetz, sondern Ausdruck für die
bei der Erklärung der mikrophysikalischen Unvollständigkeit der Quantenmechanik. BOHR
Welt konnten sich sehen lassen. Geradezu gelang es immer wieder, EINSTEINS Argumente zu
unmöglich schien aber die Einordnung der widerlegen, die Auseinandersetzungen darüber
Quantenmechanik in das vertraute physikalische gingen aber auch in den Jahren nach Brüssel wei-

107
KAPITEL 3 Historischer Überblick

3-114 physikalisch existiert. Damit hatten die Autoren


Lokalität. In einer lokalen die quantenmechanische Vorstellung im Visier,
Theorie kann Messung 1
Messung 2 nicht beein- dass Ort und Impuls erst durch den Messvor-
flussen, da der vom ersten gang einen exakten Wert erhalten. Sie konzipier-
Teilchen (rot) ausgehende
T ten ein Experiment, bei dem zwei Teilchen so
Lichtkegel das zweite
Teilchen zum Zeitpunkt
T miteinander verschränkt waren, dass durch Mes-
von Messung 2 noch nicht sung des Impulses beziehungsweise des Ortes
erreicht hat. Wirkungen eines Teilchens Impuls beziehungsweise Ort des
können sich aber gemäß
Relativitästheorie nicht
zweiten Teilchens berechnet werden konnten.
Dabei sollten beide zum Zeitpunkt der Messung

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schneller als Licht aus-
breiten. Wenn also durch so weit voeinander entfernt sein, dass diese das
eine Verschränkung der
T
Teilchen Messung 1 Mes-
zweite Teilchen nicht beeinflussen konnte. Nach
sung 2 beeinflusst, muss Ansicht der Autoren sollte nämlich „Lokalität“
die Quantentheorie eine das zweite wesentliche Merkmal einer Theorie
nichtlokale Theorie sein.
sein, sie durfte keine sofortige Fernwirkung im-
Nichtlokal heißt, dass die
Wirkung physikalischer ter. Nicht weniger umstritten war der Messpro- plizieren. (ÅAbbildung 3-114).
Effekte praktisch sofort zess. Was hatte man sich unter dem Kollaps der Mit diesem Experiment wollten die Autoren
im gesamten Universum Wellenfunktion vorzustellen? Wodurch wurde die Quantenmechanik gewissermaßen in die
spürbar ist.
er ausgelöst? War die Quantenmechanik nicht Zange nehmen: Entschied man sich nämlich,
unvollständig, wenn sie nicht erklären konnte, den Ort des ersten Teilchens zu messen, so sollte
warum, wie und wann der Kollaps stattfand? man bei einer anschließenden Messung des Or-
3-115 Die Diskussionen um diese Fragen sind tes des zweiten Teilchens den zuvor berechneten
EPR-Experiment. In der vielschichtig, tiefgreifend und noch keineswegs Wert erhalten. Entschied man sich jedoch für
von BOHM und AHARONOV abgeschlossen. Zwei berühmte Gedankenexpe- eine Messung des Impulses des ersten Teilchens,
konzipierten Form des
EPR-Experiments wird die rimente stehen stellvertretend für diese Viel- so konnte man den Impuls des zweiten berech-
Orientierung des Spins falt: das EPR-Experiment und Schrödingers nen und, wenn die Quantenmechanik korrekt
zweier Teilchen
T a, b ver- Katze. war, auch messen. Da das zweite Teilchen nicht
schränkt. Vor der Messung
an a ist die gemeinsame wissen konnte, was beim ersten Teilchen gemes-
Wellenfunktion |ψa,b, 〉 eine Spukhafte Fernwirkung – sen wurde, mussten sowohl Impuls als auch Ort
Überlagerung aller mög- des zweiten Teilchens bereits vor deren Messung
lichen Orientierungen.
das EPR-Gedankenexperiment
Nach Messung 1 liegt festliegen, was im Widerspruch zur Quantenme-
nicht nur die Orientie- Das berühmteste Gedankenexperiment ist das chanik stand. Diese beschrieb also die Realität
rung von a fest, sondern nach EINSTEIN, BORIS PODOLSKY 1896 – 1966) nicht vollständig. Es sei denn, und diese Option
aufgrund des Kollapses
der Wellenfunktion auch
und NATHAN ROSEN (1909 – 1995) benannte hielten die Autoren für unhaltbar, man unter-
die von b, was durch EPR-Experiment, das 1935 veröffentlicht wurde. stellte eine sofortige, „spukhafte“ Fernwirkung
eine zweite Messung Den Autoren ging es darum, die Quantentheo- der ersten Messung auf das zweite Teilchen!
bestätigt werden kann.
rie daran zu spiegeln, was sie als wesentliche Später stellten DAVID BOHM (1917 – 1992)
Da der Kollaps die ganze
Wellenfunktion betrifft, Merkmale einer vollständigen Theorie ansa- und YAKIR AHARONOV (*1932) eine modifizierte
ist er nicht begrenzt auf hen. Demnach sollte eine Theorie „realistisch“ Form dieses Experiments auf, in der nicht Ort
Distanzen zwischen den
sein, worunter die Autoren verstanden, dass jede und Impuls der Teilchen, sondern deren Spin-
Teilchen, die innerhalb
T
des Lichtkegels der ersten messbare Größe, deren Wert mit Sicherheit ohne orientierung verschränkt wurden. Diese Form
Messung liegen. Messung vorausgesagt werden konnte, auch des Experiments ließ sich auch praktisch durch-
führen (Å Abbildung 3-115).

Die Bellsche Ungleichung und EPR

1 96 4 u n te r suc h te J OHN S T EWART


W B ELL
(1928 – 1990), ob eine lokale, realistische The-
orie die beim EPR-Experiment laut Quanten-
theorie erwarteten Mittelwerte von Messungen
überhaupt reproduzieren konnte. Er fand eine
Ungleichung für die Beziehung zwischen diesen
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Erde, Wasser, Luft und Feuer

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Mittelwerten, die die Quantenmechanik nicht Beobachter abhängigen – Wissenschaft als My- 3-116
Schrödingers Katze. In
erfüllte, aber von lokal-realistischen Theorien thos zu entlarven.
SCHRÖDINGERs Gedanken-
erfüllt werden musste. Damit hatte man erst- Wollte man zu einer vollständigen Theorie experiment haben Katze
mals ein Kriterium für experimentelle Prüfun- kommen, mussten Messgerät und Messprozess und radioaktiver Atom-
gen in der Hand. Diese blieb dennoch lange selbst quantenmechanisch betrachtet werden. kern eine gemeinsame
Wellenfunktion, sie sind
Zeit sehr kompliziert, denn man musste eine Das Problem war, dass der Messprozess als verschränkt. Die Wellen-
ganze Reihe von Fehlerquellen ausschließen. Diskontinuität in der zeitlichen Entwicklung funktion ist eine Kombina-
Vor allem ALAIN ASPECT 1981/82 und M.A. der Wellenfunktion erschien, während die un- tion aus den Zuständen,
die Katze und Kern ein-
ROWE 2001 mit ihren Mitarbeitern konnten gestörte Entwicklung durch völlig andere Funk- nehmen können. Der Ex-
die wichtigsten der noch offenen Schlupflöcher tionen beschrieben wurde (sogenannte unitäre ponentialfaktor eiθ berück-
schließen. Deren Messungen an verschränkten Transformationen). SCHRÖDINGER brachte das sichtigt, dass die Wahr-
scheinlichkeit für einen
Photonen beziehungsweise Ionen widerspra- Problem in seinem berühmten Gedankenex- Zerfall des Kerns wächst,
chen einer lokal-realistischen Theorie und be- periment 1935 auf den Punkt (Å Abbildung je länger man wartet. So
stätigten damit die nichtlokale Quantenmecha- 3-116). Sperrt man eine Katze zusammen mit lange die Wellenfunktion
ungestört ist, sind nicht
nik. Diese Experimente hatten auch praktischen einem radioaktiven Präparat in eine Kammer, nur die Zustände „tot &
Nutzen: Das durch sie gewonnene Wissen über ergänzt durch eine Messvorrichtung, die bei zerfallen“ und „lebt &
die Erzeugung verschränkter Photonen half bei einem Kernzerfall Blausäure freisetzt, so wird nicht zerfallen“ möglich,
sondern auch beliebige
der Entwicklung quantenbasierter Verschlüsse- sich die Katze mit der Zeit in einem überlager-
Überlagerungen, soge-
lungstechniken, der sogenannten Quantenkryp- ten Zustand von lebendig und tot befinden. Ein nannte Superpositionen.
tografie. Es wird auch zur Realisierung von radioaktiver Atomkern kann nämlich quan-
Quantencomputern beitragen, von denen man tenmechanisch als Überlagerung der Zustände
sich immense Beschleunigungen bestimmter „zerfallen“ und „nicht zerfallen“ dargestellt
Rechenvorgänge verspricht. werden. Die Koppelung zwischen Atomkern
und Katze führt allmählich zu einer Verschrän-
Untote Katzen? kung deren Wellenfunktionen. Damit haben
nicht nur die Zustände „|Katze lebtࢮ |Kern nicht
Neben der Nichtlokalität war der Kollaps der zerfallenࢮ“ und „|Katze totࢮ |Kern zerfallenࢮ“
Wellenfunktion bei Messungen eine weitere eine von Null verschiedene Wahrscheinlich-
Herausforderung für das physikalische Welt- keit, sondern auch alle möglichen Mischzu-
bild. Wenn die Quantentheorie den Kollaps nur stände, also auch eine halb lebende Katze plus
postulieren, aber nicht erklären kann, durch halb zerfallenem Kern. Bei einer Öffnung der
welche Theorie wird der Kollaps erklärt? Die Kammer sollte es dann zu einem Kollaps der
Kopenhagener Deutung half hier nicht weiter, Wellenfunktion kommen, das heißt, der Kern
im Gegenteil. Die Vorstellung, dass die Mes- ist entweder zerfallen und die Katze tot oder
sung das Messergebnis erst „produziere“ (eben beide leben noch. Das ist ganz offensichtlich
durch den Kollaps der Wellenfunktion) schien eine unsinnige Vorstellung über Katzen, die in
die Leitidee einer objektiven – also nicht vom Kammern eingesperrt sind. Man kann sich noch

109
KAPITEL 3 Historischer Überblick

weitere, ähnlich absurde Gedankenexperimente reinflüssen gegenüber wesentlich unempfindli-


ausdenken. SCHRÖDINGER ging es nicht darum, cher. Dabei genügen schon geringste Störungen
Vorhersagen über das Vergiften von Katzen zu wie beispielsweise Streuungen von Photonen
machen, sondern drastisch aufzuzeigen, dass an einem Elektron eines Atoms. Durch die
quantenmechanische Vorstellungen nicht auf Verschränkung zwischen Photon und Elektron
die makrosopische Ebene übertragen werden bleibt diese Störung auch nach der Streuung „er-
können. Die Quantentheorie war aber keine halten“ und weitere, ebenso winzige Störungen
universale Theorie, wenn aus ihr nicht auch das kommen laufend hinzu. Auf diese Weise kann in
Verhalten der makroskopischen Welt abgeleitet kürzester Zeit ein überlagerter Quantenzustand
werden konnte! in einen Quantenzustand übergehen, der stabi-
ler ist (ÅAbbildung 3-117). Ein gemeinsamer,
Dekohärenz überlagerter Quantenzustand aller Atome einer
Bowlingkugel würde unter Normalbedingun-
Es wurden unterschiedliche Ansätze vorgeschla- gen bereits nach 10-26 Sekunden kollabieren,
gen, um den Realitätsstatus der Quantenwelt im Ultrahochvakuum nach 10-12 Sekunden.
und ihre Verbindung zur makroskopischen Welt Ein Elektron hingegen kann im Vakuum bei
festzulegen. Die sogenannte minimale Interpreta- Zimmertemperatur immerhin zehn Sekunden
tion reduzierte die Quantenwirklichkeit auf das, in einem überlagerten Zustand existieren. Wie
was von ihr zu messen war: Bei Wellenfunktion in der statistischen Mechanik das Verschwinden
und deren Kollaps handele es sich lediglich um der Zeitumkehrbarkeit eines Systems durch die
mathematische Konstrukte, die dazu dienten, Wirkung einer Vielzahl von Kollisionen erklärt
Messungen klassischer physikalischer Größen werden kann, so kann der Kollaps der Wellen-
vorherzusagen. Die meisten Physiker glaubten funktion als eine emergente Eigenschaft von gro-
jedoch an die Wirklichkeit der Quantenwelt und ßen, verschränkten Quantensystemen gedeutet
lehnten sich an die Kopenhagener Deutung an, werden. Man spricht von „Dekohärenz“ eines
3-117 das heißt, der Kollaps der Wellenfunktion wurde Quantensystems, da man ungestörte, nicht kol-
Dekohärenz. Hinter ei- als zusätzliches Postulat hinzugenommen, um labierte Zustände als „kohärent“ bezeichnet.
nem Doppelspalt ist die
Wellenfunktion eines
die klassische und die Quantenwelt miteinander Die Dekohärenz oder allgemeiner die The-
Teilchens, das Richtung
T zu verbinden. Aber sollte es wirklich nicht mög- orie verschränkter Quantensysteme spielt eine
Blende geschossen wurde, lich sein, auch den Kollaps der Wellenfunktion zentrale Rolle bei der Entwicklung von Quan-
eine Überlagerung der
zwei Zustände „durch
rein quantentheoretisch zu erklären? tencomputern. In Quantencomputern will man
Spalt 1“ und „durch Spalt Ein Ansatzpunkt bot die hohe Empfindlich- kohärente verschränkte Zustände einer größe-
2“. Durch Streuung eines keit von Quantensystemen gegenüber äußeren ren Zahl von Atomen (einige hundert) für sehr
Photons reduziert sich die
Einflüssen. Schon geringste Wechselwirkungen schnelle Berechnungen nutzen. Dafür muss das
Wahrscheinlichkeit der
Überlagerungszustände, führen dazu, dass sich Zustände miteinander System so weit wie möglich von der Umwelt
durch Streuung eines wei- verschränken und sich damit das Verhalten isoliert werden. Inzwischen ist es möglich, sehr
teren Photons reduziert des Systems radikal ändern kann. 1970 zeigte große Quantensysteme aus mehreren tausend
sie sich weiter, bis am
Ende nur noch die zwei HEINZ-DIETER ZEH (*1932), dass Überlagerungen Atomen in kohärenten Zuständen zu halten.
Optionen „durch Spalt (Superpositionen) wie die halblebige Schrödin- 2010 konnte ein sogenanntes Bose-Einstein-
1“ oder „durch Spalt 2“ ger Katze durch Störungen der Umwelt „von Kondensat aus circa 10 000 Atomen und 2 Mil-
übrig bleiben, beide mit
einer Wahrscheinlichkeit selbst“ verschwinden. Zustände, gegen die die limeter Länge für mehr als eine Sekunde lang
von 50%. Wellenfunktion gemeinhin „kollabiert“ sind Stö- erhalten werden. Um die Wirkung der Schwer-
kraft auszuschließen wurde das Experiment im
Fallturm des Instituts für Raumfahrttechnologie
und Mikrogravitation der Universität Bremen
durchgeführt. Es gelang auch bereits, den Pro-
zess der Dekohärenz anzuhalten und wieder um-
zukehren, sozusagen die „Reinkarnation“ einer
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

(fast) toten Schrödinger Katze. Insgesamt wurde


die Grenze zwischen Quanten- und makrosko-
pischer Welt in den letzten Jahrzehnten immer
unschärfer und zu immer größeren Quantenob-

110
Erde, Wasser, Luft und Feuer

jekten hin verschoben. Dennoch bleiben auch in Viele-Welten-Hypothese


der Dekohärenz-Theorie noch Fragen offen. So
ist nicht geklärt, warum bei einer Einzelmessung HUGH EVERETT (1930 – 1982) gehörte ebenfalls
genau ein bestimmter Messwert auftritt. Aus zu den Physikern, die mit der Aufspaltung der
diesem Grund sind auch heute noch Ansätze Welt in „klassisch“ und „quantenmechanisch“,
im Gespräch, die schon zu Beginn der Debatte wie es die Kopenhagener Deutung vorsah, nicht
diskutiert wurden: die Bohmsche Mechanik und zufrieden waren. Er war allerdings der erste, der
die Viele-Welten Hypothese. der Quantenwelt die Führungsrolle zusprach.
Schließlich war der Kollaps der Wellenfunktion
Bohmsche Mechanik nur eingeführt worden, um eine Brücke zu der
uns vertrauten Welt der klassischen Physik zu
Der amerikanische Physiker DAVID BOHM suchte schlagen. Was aber wäre, wenn bei einer Mes-
einen Weg aus dem Indeterminismus der Quan- sung die Wellenfunktion gar nicht auf einen der
tenmechanik und knüpfte 1952 an die Arbeiten möglichen Werte kollabierte, sondern wenn in
von DE BROGLIE an, der stets davon ausging, Wirklichkeit alle Werte gleichzeitig realisiert
dass Materiewellen reale physikalische Objekte sind? EVERETT dachte in seiner Dissertation 1954
sind und die Bewegung der Teilchen führen. die Quantentheorie konsequent zu Ende. Statt
Für BOHM war nicht nur die Wellenfunktion eines Kollapses auf nur einen Wert sollte es bei
ein reales physikalisches Objekt, sondern auch einer Messung zur Zustandsüberlagerung von
der Ort eines Teilchens. Im Doppelspalt – Ex- Messobjekt und Messapparat kommen, so dass-
periment bewegt sich zwar die Wellenfunktion
ebenfalls durch beide Spalten, das Teilchen Quantenbewusstsein
jedoch bewegt sich immer nur durch einen
Spalt. Der „leere“ Teil der Wellenfunktion ist Die vermeintliche Beobachterabhängigkeit, die geradezu mystisch
prinzipiell nicht beobachtbar, beeinflusst aber anmutende Nichtlokalität, der Indeterminismus und die „Verschrän-
die Bewegung des Teilchens. Damit wäre die kung von allem“ in der Quantenwelt boten ausreichend Stoff für Spe-
Unbestimmtheit vom Ort eines Teilchens nur kulationen darüber, ob nicht die Quantentheorie ein Schlüssel für die
eine Frage unserer Unwissenheit und nicht Erklärung von Bewusstsein sein könnte. Ist nicht Bewusstsein subjektiv,
prinzipieller Natur. Um allerdings zu erklären, sind nicht Kreativität, bewusstes Erleben und Transzendenz verbunden
warum die Unbestimmtheitsrelation praktisch mit „Verbindung von allem mit allem“ und Nichtlokalität? Und steht
gilt, muss ähnlich wie beim Äquipartitions- der freie Wille nicht ohnehin im Widerspruch zum Determinismus der
theorem der statistischen Mechanik die sta- klassischen Physik?
tistische Verteilung der Ortskoordinaten eine Es gibt zahlreiche ältere und neuere Versuche, den menschlichen
ganz bestimmte Form besitzen. Diese Form Geist mit Hilfe der Quantentheorie zu erklären. Am bekanntesten sind
ist aus der Bohmschen Mechanik nicht ohne wohl die Arbeiten des Physikers und Mathematikers ROGER PENROSE
weiteres zu begründen. Eine weitere Schwäche (*1931) und des Anästhesisten STUART HAMEROFF (*1947). PENROSE
der Bohmschen Mechanik ist, dass eine um- sieht in weiträumigen kohärenten Zuständen, die kontrolliert kollabie-
fassende relativistische Erweiterung analog zu ren, einen Schlüssel für die nicht-algorithmische Funktionsweise unseres
den Quantenfeldtheorien noch nicht gelungen Gehirns. HAMEROFF sieht in internen Strukturen der Nervenzellen, den
ist. Die Bohmsche Mechanik ist wie die Quan- Mikrotubuli, einen Ort, in dem solche kohärenten Zustände bestehen
tenmechanik eine nichtlokale Theorie, da in ihr könnten.
die Wellenfunktion als Führungswelle ebenfalls Im Allgemeinen geht man allerdings heute davon aus, dass Zustands-
nichtlokal wirkt. überlagerungen im Makroskopischen extrem schnell kollabieren, mithin
Die Bohmsche Mechanik ist vom Wunsch in der Natur keine Rolle spielen. Dies gilt besonders für so großräumige
nach einer realistischen Quantentheorie im Ein- Strukturen wie das Gehirn. Möglicherweise könnten sich im Bereich von
steinschen Sinne motiviert, die insbesondere Makromolekülen Überlagerungen lange genug halten, um makroskopi-
ohne einen Kollaps der Wellenfunktion aus- sche Effekte zu bewirken. Ob allerdings zufallsbedingte Quanteneffekte
kommt. Inwieweit sie sich angesichts des oben gleich welcher Art, wie manchmal angenommen, geeignet sein könnten,
beschriebenen immer besseren Verständnisses die subjektiv empfundene menschliche Willensfreiheit zu erklären, mag
des Messprozesses behaupten kann, bleibt abzu- bezweifelt werden. Schließlich würde man sich unter dem freien Willen
warten. Experimente die zwischen beiden The- gern etwas anderes als Zufallswirken vorstellen.
orien unterscheiden ließen, gibt es derzeit nicht.

111
KAPITEL 3 Historischer Überblick

jeder mögliche Messwert gleichzeitig auftritt. Es Welt und dies führte zu einer entscheidenden
wäre so, als ob sich durch die Verschränkung Reduktion. Der Mathematiker LEONARD EULER
von Messobjekt und Messapparat die Welt in (1707 – 1783) definierte in seiner Fassung der
so viele Welten aufspalte, wie es mögliche Mess- Mechanik Körper nur durch die Eigenschaften
werte gibt. In einer Welt durchläuft das Teilchen Ausdehnung, Beweglichkeit, Trägheit und Un-
den oberen Spalt und wird dort registriert, in durchdringlichkeit. Für EULER war damals die
der anderen den unteren. Natürlich gilt diese Undurchdringlichkeit die wesentlichste Eigen-
Aufspaltung auch für den Beobachter, der das schaft der Körper und damit bewies er Weitsicht.
Messgerät abliest. Und natürlich können wir nur Wie wir noch sehen werden (ÅKapitel 4 und
eine Welt wahrnehmen, da wir immer nur eine 10), sind Elektron und die Bestandteile von Pro-
Variante der Welt beobachten können. ton und Neutron Fermionen, also Teilchen mit
Diese Interpretation der Quantenmechanik halbzahligem Spin für die das Pauli-Prinzip gilt.
war theoretisch konsequent, da sie nicht auf den (Å Das Periodensystem, das Pauli-Prinzip und
Kollaps als Zusatzpostulat angewiesen war. Ver- der Pauli-Effekt, Seite 101). Sie können deshalb
ständlicherweise traf sie bei EVERETTs Doktor- niemals den gleichen Zustand einnehmen, was
vater JOHN ARCHIBALD WHEELER (1911 – 2008) für die wechselseitige Undurchdringlichkeit der
und praktisch allen anderen Physikern dieser Atome sorgt.
Zeit auf Ablehnung. Eine ständige, billiarden- Was ist von den anderen Eigenschaften
fach pro Sekundenbruchteil auftretende Auf- geblieben, die EULER Körpern zusprach? Aus-
spaltung der Welt in viele Welten war einfach dehnung und Beweglichkeit würde man heute
absurd! Seine Dissertation wurde schließlich in kaum mehr dazu rechnen, da auch Felder beide
einer abgeschwächten Form publiziert. EVERETT Eigenschaften besitzen und ihnen in der Quan-
war enttäuscht von der Aufnahme seiner Arbeit tentheorie Teilchen zugeordnet werden, die aber
und verließ die theoretische Physik um sich bis keine Fermionen sind. Auch kann Ausdehnung
zu seinem frühen Tod praktischen Problemen aufgrund der Unschärferelation keine feste Ei-
vor allem im militärischen Bereich zuzuwenden. genschaft eines Körpers sein. Was bleibt, ist die
Erst 1970 wurden seine Vorstellungen im Trägheit. Sie ist mit Masse verbunden, einem
Rahmen der Dekohärenztheorie (siehe oben) Begriff, der seit NEWTON in zwei Ausführungen
wieder aufgegriffen. Sie baut auf EVERETTs Ar- vorkommt: als träge Masse und als schwere
beit auf, indem sie nicht nur den Messapparat, Masse. Letztere ist Ursache der Gravitations-
sondern die gesamte Umwelt eines Messobjektes kraft und nach allem, was wir wissen, sind beide
als Quantenobjekte betrachtet. Auch im Rahmen Massen gleich groß. Dass Masse selbst jedoch
von Quantengravitation und Stringtheorie wer- keine konstante Größe eines Körpers ist, son-
den EVERETTs Gedanken zumindest theoretisch dern von dessen Geschwindigkeit im Bezugssys-
weiter geführt. tem abhängt, in dem sie gemessen wird, wissen
wir seit EINSTEIN. Man sollte daher besser von
der Ruhemasse eines Körpers sprechen. Masse
Was ist Materie heute? ist zudem äquivalent zu Energie. Deshalb erzeugt
auch jedes Feld ein Gravitationsfeld und besitzt
Diese Frage stellen Sie sich vielleicht im Moment, Trägheit. Was also bleibt, ist die Frage, warum
nachdem wir durch mehr als zwei Jahrtausende manche Teilchen eine Ruhemasse besitzen und
Geschichte gewandert sind. Wir sagten schon zu manche nicht. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist
Beginn, dass es sich um einen abstrakten Begriff Ruhemasse eine Folge der Wechselwirkung mit
handelt, kein Element der unmittelbaren Erfah- einem Feld, dem Higgs-Feld (ÅWie Teilchen ihre
rung. Dieser Begriff entwickelte sich, wie wir Masse bekommen, Seite 436).
gesehen haben, aus der Vorstellung über einen Betrachtet man heute die fundamentals-
Urstoff, aus dem die Welt besteht. Auf die daraus ten Theorien über die Welt, Stringtheorie und
sich ergebende Frage, wie denn das Vielfältige Quantengravitation, so bleibt nichts mehr, was
aus dem Einen entstehe, haben Menschen un- man „materiell“ nennen könnte. Es geht um
terschiedliche Antworten gefunden. Im Westen mathematische Strukturen, deren Symmetrien
vollzog sich mit DESCARTES dabei eine Tren- und „Eleganz“. Mancher mag sich da an die
nung zwischen „materieller“ und „geistiger“ platonische Welt der Ideen erinnert fühlen. —

112
KAPITEL 4

Demokrits Erben
Das Geheimnis der Stoffe
Elemente im Periodensystem
Teilchen finden zusammen
Eigenschaften der Stoffe
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
Zum vierten Kapitel

Die Materie, aus der wir selbst bestehen, von der wir leben auch sie sind durch die Eigenschaften der Teilchen des betref-
und die wir von unserer unmittelbaren Umgebung bis in fenden Materials definiert. Denn diese bestimmen ja auch
den entferntesten Winkel des Weltraums vorfinden, besteht die möglichen Anordnungen der Atome untereinander, aus
überraschenderweise aus einer durchaus überschaubaren denen sich viele der Materieeigenschaften ergeben. Noch um
Anzahl verschiedener Atomarten. Dies verstanden zu haben, einiges schwieriger ist es natürlich, etwa die Weichheit einer
ist vielleicht die wichtigste Einzelerkenntnis, die Wissenschaft- Kuscheldecke oder den Geruch einer Rose atomar zu erklä-
ler jemals errungen haben (ÅKapitel 3). Stoffe aus gleichen ren. Es sollte aber – zumindest im Prinzip – stets möglich sein.
Atomen nennen wir Elemente. Natürlich sind dies nicht mehr Vor etwa hundertfünfzig Jahren ist es gelungen, die nur
die Elemente der griechischen Antike, und auch die Atome etwa hundert Atomarten, aus denen das gesamte sichtbare
haben ihre Unteilbarkeit längst eingebüßt. Ihre wichtigsten Universum besteht, in einem einfachen Schema anzuordnen,
Bestandteile, Elektronen, Protonen und Neutronen, sind uns dem Periodischen System der Elemente (PSE oder einfach
schon in Kapitel 3 begegnet. Periodensystem). Darin sind die Elemente spaltenweise nach
Atome sind nach außen hin elektrisch neutral und alle- Gruppen chemisch und physikalisch einander ähnlicher Ele-
samt nach einem einheitlichen Schema aufgebaut. In ihnen mente und zeilenweise nach Perioden geordnet.
stimmt die Anzahl negativ geladener Elektronen der Hülle In diesem Kapitel werden wir den gesamten Aufbau des
mit der Zahl positiver Ladungen des Atomkerns überein. Periodensystems sowie die Eigenschaften wichtiger Gruppen
Atome können bequem nach aufsteigender Kernladungszahl und exemplarisch einige wichtige einzelne Elemente kennen-
(Ordnungszahl) geordnet werden. Man benötigt tatsächlich lernen.
nur zwei Arten von Teilchen im Atomkern (Protonen und Wir werden uns auch fragen, auf welche Weise gleiche und
Neutronen) sowie die Elektronen der Atomhülle, um nicht verschiedene Atome untereinander Bindungen ausbilden bzw.
nur alle Elemente, sondern auch deren chemisches Verhalten wie und weshalb sich die Teilchen zu größeren Aggregaten
erklären zu können. zusammenlagern können. Und schließlich versuchen wir uns
Es ist Aufgabe der Chemiker, das Verhalten der Elemente in der Erklärung einiger Eigenschaften von Stoffen aufgrund
sowie der aus verschiedenenartigen Atomen zusammengesetz- ihrer atomaren Zusammensetzung. Viel Spaß beim Kennen-
ten Verbindungen aus den Eigenschaften ihrer Bestandteile lernen der wichtigsten Bauprinzipien unserer Welt!
und aus deren Anordnung zu erklären. Sie müssen sich dazu
fast ausschließlich um die Zustände in den Elektronenschalen
kümmern, denn diese sind für das Verhalten nach außen hin
verantwortlich. Sie legen beispielsweise fest, wie ein Atom
„aussieht“ und welche Bindungen es eingehen kann. (Die un-
gleich schwierigere Aufgabe, die Bestandteile des Atomkerns
tiefer gehend zu untersuchen, überlassen Chemiker gern ihren
Kollegen aus der Physik, und wir verschieben diesen Aspekt
auf Kapitel 10.)
Wie sich herausstellt, kann man erstaunlicherweise eine
ganze Reihe von Stoffeigenschaften direkt auf Eigenschaften
von Atomen und Bindungen zurückführen. Zum Beispiel
sind Stoffe besonders hart, wenn ihre Atome besonders feste
Bindungen untereinander ausbilden, besonders schwer, wenn
sie aus Atomen hoher Ordnungszahl bestehen, und sie leiten
den elektrischen Strom besonders gut, wenn sich in ihnen
Elektronen frei von Atom zu Atom fortbewegen können.
Andere Eigenschaften von Stoffen, wie etwa die Zähigkeit
eines Metalls, lassen sich etwas weniger direkt herleiten. Aber
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Demokrits Erben

Das Geheimnis der Stoffe Die historische Reihenfolge, in der sie erstmals
beschrieben wurden, sagt natürlich wenig über
Elemente und ihre Eigenschaften die Elemente selbst aus. Allenfalls kann man
daraus auf gewisse Eigenschaften schließen,
Wie wir im vorherigen Kapitel gesehen haben, wie auf die Reaktionsträgheit der Edelmetalle,
versuchten und versuchen Wissenschaftler, die deshalb auch gediegen gefunden werden
immer tiefer in das Wesen der Materie vorzu- und daher schon früh bekannt waren. In an-
dringen. Wir haben gehört, dass uns schließlich deren Fällen, wie beim Kohlenstoff, kann man
die Entwicklung des periodischen Systems der vielleicht eine gewisse Häufigkeit in unserer
Elemente und die Theorie der Atome mächtige Umgebung oder zumindest die Beständigkeit
Mittel in die Hand gaben, unsere materielle an der Luft erschließen. Im Wesentlichen aber
Umwelt detailliert zu beschreiben. ist dies eine Reihenfolge der historischen Zu-
Tatsächlich erlauben uns die Erkenntnisse fälle.
insbesondere des neunzehnten und zwanzigsten
Jahrhunderts, enorm viel von der Struktur der Erste Elemente –
Materie zu verstehen. Es soll aber nicht ver- Die Grundstoffe der Alchemisten
schwiegen werden, dass in der Natur hinter je-
dem gelösten Geheimnis neue, tiefer liegende
Fragen stehen. Das gilt auch für die Bestandteile
der Atome, von denen wir in diesem Kapitel nur
die drei wichtigsten kennenlernen werden.
Bevor wir uns aber anschauen, wie die Che-
Cu
miker den Aufbau der materiellen Welt heute Kupfer
im Detail erklären, sollten wir zunächst exem- Das im Lateinischen als
plarisch einige der Elemente so betrachten, wie „cuprum“ bezeichnete
sie sich für unsere Sinne darstellen, nämlich Element ist schon aus
als einheitliche Stoffe. Weder ihren Aufbau aus vorgeschichtlicher Zeit
Atomen sieht man ihnen äußerlich an, noch bekannt , denn es
ihren Elementcharakter. Sie unterscheiden sich kommt in der Natur
nicht offensichtlich von den viel zahlreicheren auch gediegen vor. Be-
Verbindungen, den Stoffen, die aus mehreren reits gegen Ende der
Elementen bestehen. Steinzeit, in der nach diesem Metall benannten
Kupferzeit, wurden Gerätschaften aus dem sehr
Einige Elemente stellen sich vor zähen Kupfer hergestellt. Auch für Waffen wurde
es verwendet, obwohl es hierfür eigentlich viel
Tatsächlich sind etwa ein gutes Dutzend wirk- zu weich ist. Die Bezeichnung geht zurück auf
licher chemischer Elemente bereits seit langem „aes Cyprium“ (zyprisches Erz), es wurde des-
stofflich bekannt. Einige, wie etwa Kohlenstoff halb auch der zyprischen Göttin Aphrodite zu-
oder Gold, sogar nachweislich seit prähistori- geordnet und später der römischen Venus. In der
scher Zeit. Mit Ausnahme des Quecksilbers sind Bronzezeit wurde Kupfer der wesentliche Legie-
dies allesamt Feststoffe (ÅZeitleiste folgende rungsanteil für Bronze. Mit Zink bildet es die Bronze
Doppelseite unten). Unsere Vorfahren nutzten später erfundene weichere Legierung Messing. Kupfer + Zinn (u. a.)

sie seit Jahrtausenden – freilich ohne sie als Interessant am Kupfer ist aus materialwissen- Messing
Grundbausteine der Welt zu erkennen. schaftlicher Sicht hauptsächlich seine unter den Kupfer + Zink

115
KAPITEL 4 Demokrits Erben

Metallen einmalige rötliche Farbe. Kupfer absor- verändert erhalten. Die Verarbeitung des extrem
Oxidation
biert blaues und grünes Licht, weil deren Ener- duktilen (leicht verformbaren) Metalls, vor al-
Früher verstand man gien den Energiedifferenzen von Bandlücken des lem zu Schmuckzwecken, ist seit mindestens
unter Oxidation
ausschließlich den Kupfers entspricht (ÅTransparenz und Absorp- 6000 Jahren nachgewiesen. Erste Goldmünzen
Vorgang, bei dem sich tion, Seite 215). waren in orientalischen Ländern um 650 v. Chr.
ein Stoff (etwa ein im Umlauf. Mindestens seit dem 11. Jahrhun-
Metall) mit Sauerstoff
verbindet, also z.B. dert ist die Auslaugung von Gold aus fein ver-
die Verbrennung oder
das langsamer ablau-
fende Rosten (siehe
erweiterte Definition
Pb teiltem Goldstaub durch Legierungsbildung mit
Quecksilber (Amalgamierung) bekannt. Die
künstliche Umwandlung anderer Elemente in
Seite 138). Blei Gold („Transmutation“) war eines der Ziele der
Bemühungen der Alchemisten bei der Suche
Blei (lat. plumbum) war nach dem „Stein der Weisen“. Die Herstellung
in Ägypten bereits um v on Goldatomen ist heute ausgehend von
Reduktion das Jahr 3000 v. Chr. Quecksilber in Kernreaktoren tatsächlich mög-
Die Gewinnung eines als Gebrauchsmetall lich, allerdings ist sie völlig unwirtschaftlich.
Reinelements (meist und Abfallprodukt der
eines Metalls) aus sei-
Silbergewinnung be-

C
nen natürlich vorkom-
menden Erzen kann als kannt. Die Griechen gewannen es auf Zypern
Reduktion bezeichnet und Rhodos, die Römer in Italien, Spanien, Element des Lebens
werden. Technisch Frankreich und Deutschland. Der deutsche und
wird dieser Prozess
zumeist durch Erhitzen Name geht auf das altgermanische „blio“ oder Kohlenstoff „A girl’s best friend“
mit Koks (Kohlenstoff) „bliw“ (schimmern, glänzen) zurück. Blei
bewerkstelligt. Dabei kommt manchmal in gediegener Form, haupt- Kohlenstoff (lat. car-
r
bildet sich zunächst
das giftige Gas Kohlen- sächlich aber als Bleiglanz (Galenit, ÅAbbildung boneum) , das Element
monoxid (CO), das 5-85) vor, aus dem sich das Metall leicht gewin- des Lebendigen (ÅKa-
dann als eigentliches nen lässt. Im Mittelalter wurde die Gefährlich- pitel 12), nutzten
Reduktionsmittel dem
Metall den Sauerstoff keit des hauptsächlich chronisch krank machen- Menschen seit prähis-
entzieht und dabei den Schwermetalls deutlich, nachdem durch torischer Zeit in Form
selbst in Kohlendioxid Bleiazetat gesüßter Wein zu Vergiftungen geführt von Holzkohle, Kno-
(CO2) übergeht.
hatte (Reutlinger Krankheit). Trotzdem diente chenkohle, Ruß etc.
das Metall bis in die Neuzeit zur Herstellung von sowie als Brennstoff und Pigment. Später spielte
Wasserleitungsrohren. es eine große Rolle als starkes Reduktionsmittel
bei der Gewinnung von Metallen aus oxidischen
Erzen. Neben Schwefel war es ein wichtiges Re-

Au agenz für alchemistische Versuche. In Form von


Aktivkohle, einer Knochenkohle mit enorm gro-
ßer innerer Oberfläche aufgrund der schwamm-
Gold artigen Struktur kam es schon früh in der Medi-
zin zur Entgiftung zum Einsatz. Erst um 1780
Gold (lat. a u r um) aber wurde Kohlenstoff durch den französischen
kommt wegen seiner Chemiker ANTOINE LAURANT DE LAVOISIER A als
Stabilität gegen fast chemisches Element erkannt. Er verbrannte auch
alle chemischen Ein- Diamanten unter einem Brennglas zu Kohlendi-
f lüsse gediegen vor oxid und konnte so beweisen, dass Diamant eine
und wurde bereits in Erscheinungsform des Kohlenstoffs ist. Anfang
prähistorischer Zeit aufgesammelt. Im Gegen- des 19. Jahrhunderts wurde dasselbe auch für
satz zu nahezu allen anderen Artefakten haben Graphit bestätigt. Die Erscheinungsformen (Mo-
sich Gegenstände aus Gold bis heute völlig un- difikationen) des Kohlenstoffs könnten vielfälti-

116
Erde, Wasser, Luft und Feuer

ger nicht sein. Zum Beispiel zeigt der Gegensatz Hauptingredienz vieler Rezepturen. Gießt man
von weichem schwarzen Graphit, folienartigem geschmolzenen Schwefel in kaltes Wasser, so ent-
Graphen, pulverförmigen Fullerenen, hartem steht eine knetbare Modifikation, die als plasti-
transparentem Diamant oder den in manchen scher Schwefell bezeichnet wird. Bereits bei Ho-
Fällen sogar noch etwas härteren Nanoröhrchen mer und im Alten Testament wird das Element
überdeutlich, dass die Eigenschaften der Atome mit einigen seiner Eigenschaften erwähnt. Der
keineswegs eindeutig die Stoffeigenschaften fest- raschen Bildung von Kupfersulfid beim Kontakt
legen. Wohl bestimmt der Atombau, welche mit Kupfer verdankt der Schwefel seinen Namen.
Möglichkeiten es insgesamt gibt, aber die in den Die aus dem Sanskrit stammende Bezeichnung
Kristallen realisierten Symmetrien und die Bin- „sulfur“ bedeutet „Feind des Kupfers“.
dungsverhältnisse sind letztlich entscheidend für
das tatsächliche Stoffverhalten. Sie sind dem
Material über seine Entstehungsgeschichte bzw.
Herstellungsmethode aufgeprägt.
Aufgrund seiner besonderen Bindungseigen-
Ag
schaften spielt Kohlenstoff in biologischen und Silber
künstlichen Makromolekülen eine herausra-
gende Rolle: Er bildet das Rückgrat dieser Mo- Auch Silber (lat. argen-
leküle und sorgt für deren unglaubliche Vielfalt, tum) gehört zu den
und dies in einem Ausmaß, dass die Kohlenstoff- Metallen, die teils ge-
chemie („organische“ Chemie) allein schon viel diegen, teils minera-
mehr Verbindungen kennt als die Chemie aller lisch vorkommen. Es
anderen Elemente zusammen. Der Grund liegt findet sich oft verge-
in der flexiblen Kombinierbarkeit. Dass Kohlen- sellschaftet mit Gold,
stoffatome aufgrund ihres Atombaus gleichzeitig Kupfer und anderen
vier sehr stabile Bindungen zu ihresgleichen oder Metallen und wird seit mindestens 5000 v. Chr.
anderen Atomen ausbilden können, erlaubt die verwendet. Schon bei Homer ist von „silbernen
Entstehung einmalig komplexer kettenförmiger Rüstungen“ die Rede. Erste Silbermünzen wur-
oder vernetzter organischer Strukturen. den in der Zeit um 550 v. Chr. in Kleinasien
geprägt. Silber wird vor allem in Form seiner
Legierungen eingesetzt. Wichtige Anwendungs-

S bereiche sind von Alters her Schmuckherstel-


lung, Essbestecke und Trinkgefäße, sowie die
Fertigung von Silberspiegeln. Im Gegensatz zu
Schwefel Gold zeigt unlegiertes Silber eine starke Reakti-
Schwefel (lat. sulphur) vität mit Schwefel zu schwarzem Silbersulfid.
kondensiert aus vulka-
nischen Gasen als kris-
tallines Pulver oder in
größeren Kristallaggre-
gaten. Es ist daher ein
Sb
seit dem Altertum bekanntes Element. Wegen Antimon
dieser Herkunft aus dem Erdinneren wurden
Schwefel und sein stark unangenehm riechendes (lat. stibium). Dieses
Verbrennungsprodukt Schwefeldioxid kultur- wegen seiner geringen
geschichtlich immer wieder mit Teufel und Hölle technischen Bedeutung
in Zusammenhang gebracht und manchmal auch wenig bekannte Metall
als Synonym für Brennfähigkeit überhaupt be- war erstaunlicherweise bereits im frühen China
trachtet. Bei den Alchemisten war Schwefel eine und in Babylonien bekannt. Es kommt gelegent-

117

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KAPITEL 4 Demokrits Erben

lich gediegen vor, wurde aber hauptsächlich durch gelungen mit Quecksilber gefüllte Becken und
Rösten (Å Kapitel 5) seiner sulfidischen (schwefel- Teiche in Form von Porphyrmuscheln anlegen.
haltigen) Erze und Reduktion der entstehenden Quecksilber gibt allerdings (im Gegensatz zu
Oxide mit Koks gewonnen. Anfang des 16. Jahr- r seinen Amalgamen) schon bei normalen Tempe-
hunderts, zur Zeit des PARACELSUS, wurde das raturen nennenswert Dämpfe ab, die beim Ein-
Element als Mittel gegen viele Gebrechen ange- atmen zu akuten und chronischen Vergiftungen
priesen. In dem Buch „Triumphwagen des Anti- führen können. Noch giftiger ist es allerdings in
monii“ findet sich eine Beschreibung zur Gewin- Form seiner löslichen Verbindungen.
nung aus dem Sulfid mit Eisen und über die Ver- r
wendung von Antimon in Legierungen für das
Gießen von Glocken sowie im Letternmetall für
den Buchdruck. Der Ursprung der Elementbe-
zeichnung „Antimon“ wird im Arabischen
Sn
Sprachraum vermutet. Das Symbol Sb ist von lat. Zinn
„stibium“ abgeleitet, einer früheren Bezeichnung
für das Element selbst bzw. seine sulfidischen Erze. Obwohl Zinn (lat. stan-
num) mit nur 2 g / t in
der Erdkruste eigent-

Hg lich ein ziemlich selte-


nes Element ist, beglei-
tete es die Zivilisation schon früh. Das Hauptmi-
Quecksilber neral des Sn-Erzes, der Kassiterit oder Zinnstein
(SnO2), kommt an einigen Lagerstätten stark
Auch Quecksilber (lat. angereichert vor. Zinn lässt sich schon bei niedri-
hydrargyrum) gehört gen Temperaturen chemisch mit Kohle reduzieren
zum exklusiven Club und wurde vermutlich schon 3500 v. Chr. gewon-
der bereits in der An- nen. Aus dieser Zeit sind regelrechte „industri-
tike bekannten Me- elle“ Verarbeitungsstätten bekannt. Als Bronze,
talle, allerdings er- eine Legierung von Zinn mit Kupfer, wurde es
scheint es in der Über- charakterisierend für eine ganze Menschheitsepo-
lieferung erst nach Elementen wie Gold, Silber, che, die Bronzezeit (ca. 2500 bis 800 v. Chr.). Erst
Kupfer, Blei und Eisen. Es wurde durch Rösten mit Einsetzen der Eisengewinnung, die wegen der
des Erzes Zinnober (Cinnabarit, Quecksilbersul- notwendigen hohen Temperaturen technisch viel
fid, HgS) gewonnen. Dabei entweicht es als aufwändiger ist, nahm die Bedeutung von Zinn
Dampf und kondensiert an kühleren Stellen in für die Technologie ab. Auch bei Zinn fielen wie
flüssiger Form. Früh war auch bekannt, dass das bei Kohlenstoff schon früh seine verschiedenen
Element mit Gold und Silber Legierungen (Amal- Modifikationen auf.
game) bildet. Sie werden bis heute für sehr halt-
bare Zahnfüllungen verwendet. Allerdings ist es
in dieser Verwendung heute unbeliebt geworden,
da man (möglicherweise unbegründet) Belastun-
gen durch die sehr geringen abgegebenen Queck-
Fe
silbermengen fürchtet. Als einziges bei Zimmer- Eisen
temperatur flüssiges Metall fasziniert Quecksil-
ber wohl jeden Menschen. Wie schon der vom (lat. ferrum). Vermut-
Griechischen abgeleitete spätlateinische Name lich in Form des ziem-
„hydrargyrum“ andeutet, scheint es gleichsam lich reinen, gediegen
zwei Welten anzugehören, der des flüssigen Was- vorliegenden, aber sehr
sers (hydor, Wasser) und der der festen Metalle seltenen Meteoriteneisens wurde das Element seit
(árgyros, Silber). Um 1000 n. Chr. ließen arabi- mindestens 4000 v. Chr. für kleinere Gegen-
sche Kalifen z. B. in Cordoba (Medina az-Zahra), stände genutzt. Später wurde Gusseisen wegen
Kairo und Bagdad wegen der schönen Lichtspie- seiner gegenüber Bronze größeren Härte erfolg-

118
Erde, Wasser, Luft und Feuer

reich als Werkstoff für Waffen eingesetzt. Nach- menschliche Körper bei wiederholter Aufnahme
dem zuerst den Hethitern ca. 1400 v. Chr. die kleiner Mengen an das Gift gewöhnen und
Gewinnung aus Erzen gelang, setzte sich Eisen schließlich ein Mehrfaches der sonst tödlichen
etwa 800 v. Chr. allgemein als Material durch Dosis von ca. 0,1 g verkraften. PARACELSUS führte
und gab dieser Periode die Bezeichnung Eisen- Arsenik im 16. Jahrhundert in die Heilkunde ein.
zeit. Der Anfang der Eisenzeit schwankt entspre- Sehr geringe Dosen (weniger als 2 mg) sollten
chend dem Entwicklungsstand der einzelnen Wohlbefinden und Schönheit steigern sowie ge-
Regionen. Später wurde Eisen vor allem in Form gen Appetitlosigkeit helfen. Anfang des 19. Jahr-
seiner Legierungen mit Kohlenstoff (Stahl) ver- hunderts wurde es mit fraglicher Wirksamkeit
wendet. Die berühmten persischen Damaszener- auch als Asthmamittel eingesetzt.
Schwerter erreichten durch einen heute nicht
mehr genau bekannten Prozess herausragende
Eigenschaften. Elektronenmikroskopische Un-
tersuchungen wiesen darin eingelagerte Fasern
aus Kohlenstoff-Nanoröhrchen neben hartem
Bi
Eisencarbid nach. Eisen und seine Legierungen Bismut
waren eine Grundlage der industriellen Revolu-
tion und wurden zum Symbol für das technische Da man das ungiftige
Zeitalter überhaupt (Å Kapitel 5). B ismut ( lat. b isemu -
tum) sowohl gediegen
als auch in Form sei-

As ner Verbindungen in
der Natur vorfindet,
w ar es vermutlich
Arsen schon früh vereinzelt bekannt. Anfangs wurde
es allerdings häufig mit Antimon, Zinn und
ALBERTUS MAGNUS be- Zink verwechselt. Seit alters her kennt man die
schrieb um 1250 erst- adstringierende (zusammenziehende), antisep-
mals die Herstellung tische (infektionshemmende) und diuretische
e l e m e n ta r e n Ar se n s (harntreibende) Wirkung dieses Schwermetalls.
durch Reduktion von E rste schriftliche Belege finden sich bei
Arsenik (Arsenoxid, AGRICOLA und PARACELSUS. Letzterer bezeich-
As 2O 3) mit Kohle. net das Element 1526 erstmals als Metall. Al-
Obwohl es eini g e lerdings gehört Bismut zu den sehr seltenen
Hinweise auf frühere Gewinnung gibt, gilt er chemischen Elementen ; sein Anteil an der
daher gemeinhin als Entdecker des Halbmetalls. obersten, 16 km dicken Erdkruste wird auf nur
Der Name Arsen stammt von der griechischen 0,2 g / t geschätzt.
Form „arsenikón“ (bei ARISTOTELES und DIOS- Der Name lässt sich bis 1472 zurückverfol-
KURIDES) ab, im klassischen Altertum eine Be- gen und geht nach einer Hypothese darauf zu-
zeichnung für die sulfidischen Arsenerze Auri- rück, dass es in Deutschland im Schneeberger Bi-Legierungen
pigment (As2S3) und Realgar (As4S4). Ersteres Revier im sächsischen Erzgebirge auf Wiesen
Woodsches Metall
ist lebhaft goldgelb gefärbt und wurde lange Zeit abgebaut („gemutet“) wurde. Im weiteren Ver- 50% Bi, 25% Pb,
als Pigment eingesetzt, ist jedoch wie alle Arsen- lauf entstand daraus Wiesemutung, Wiesmut 12,5% Sn, 12,5% Cd
verbindungen hochgiftig. Im antiken Standard- u n d Wi s m ut. B e r e i ts A GRIC O L A l at ini s i e r te Smp. ca. 73 °C

werk „Physica et Mystica“ werden Arsenverbin- den Namen zu Bisemutum. Trotzdem war in Roses Metall
dungen erwähnt. Die Alchemisten vermuteten Deutschland bis 1979 Wismut statt Bismut die 50% Bi, 25% Pb,
eine Verwandtschaft des Elements mit Schwefel offizielle Bezeichnung für das Schwermetall. 25% Sn
Smp. ca. 98 °C
und Quecksilber. Arsen kommt sehr selten ge- Bismut ist ein wichtiger Bestandteil extrem
diegen (als „Scherbenkobalt“) vor, aber vorwie- niedrig schmelzender Metalllegierungen wie des Fieldsches Metall
gend in Form seiner Sulfide. Diese wandeln sich bekannten Woodschen Metalls bzw. seiner un- 32,5% Bi, 16,5% Sn,
51% In
leicht in das als Mordgift berüchtigte Oxid „Ar- giftigen Alternativen wie des Roses Metalls oder Smp. ca. 62 °C
senik“ um. Erstaunlicherweise kann sich der des teuren Fieldschen Metalls.

119
KAPITEL 4 Demokrits Erben

Zn Co
Zink Cobalt

Möglicherweise war Coba l t e rhi e l t se in e


metallisches Zink (lat. B ezeichnung nach
z incum ) bereits im d em bösen Erdgeist
6. Jahrhundert n. Chr. Kobold. Er war nach
in Persien b ekannt. M einung der Berg -
Spätere Quellen nannten es in Indien und China. l eute d afür verant -
Unter der Bezeichnung „Konterfei“ erscheint es w ortlich, dass die
i m 16 . Jahrhundert bei A G RICOL A un d Erze, die das Element enthielten, zwar ein viel-
PARACELSUS. Ersterem wird meist auch die Ent- versprechendes Aussehen besaßen, aber beim
deckung des nicht leicht zu verhüttenden Rösten einen üblen, knoblauchähnlichen Ge-
Schwermetalls zugeschrieben. stank entwickelten. Letzterer beruhte allerdings
Annähernd reines Zink wurde in Europa nicht auf Cobalt selbst, sondern auf Beimen-
erst im 18. Jahrhundert zugänglich. Trotzdem gungen von Arsen. Auch ließ sich mit den zur
spielte Zink schon viel früher, bei den Griechen Verfügung stehenden Methoden aus dem Co-
und Römern, eine Rolle. In Form seines Erzes balt-Erz kein brauchbares Metall gewinnen. In
Galmei konnte es nämlich ohne Umweg über das Form seiner Verbindungen war Cobalt bereits
reine Metall direkt mit Kupfererzen zu Messing seit dem Altertum bekannt und diente Ägyp-
verarbeitet werden. tern, Griechen, Römern und Babyloniern zum
Blaufärben von Gläsern (Cobaltglas). Die Ent-
deckung des elementaren Metalls erfolgte 1735

P du r c h de n sc h wed i sc h e n C h e mik e r G EORG


BRANDT.

Phosphor Die „wichtigsten“ Elemente

Phosphor wurde zufäl- Wir haben nun die historisch als erste gefun-
lig von dem Alchemis- denen Elemente kennengelernt. Doch vielleicht
ten HENNIG BRAND sind ja überhaupt nicht sie oder die Metalle, die
(ca. 1630 – 1692) ent- den Löwenanteil der Elemente ausmachen, die
deckt, der 1669 ver- allerwichtigsten. Welche könnten es sein?
suchte, mittels menschlichen Urins Gold zu gewin-
nen. Zu diesem Zwecke verdampfte er mehrere
1000 Liter Urin und reduzierte den Verdamp-
fungsrückstand mit Kohle. Dabei erzeugte er die
weiße Modifikation elementaren Phosphors, das
H
zu seinem Erstaunen in der Dunkelheit leuchtete. Wasserstofff – Der Alte
Der Name kommt von griechisch phosphóros,
lichtbringend. Erst LAVOISIER
A R erkannte, dass Phos- Gleich mehrere gute
phor ein chemisches Element ist. Gründe lassen einen
Roter Phosphor wurde 1848 von ANTON Kandidaten besonders
VON SCHRÖTTER hergestellt. Er und JÖNS JACOB hervortreten: ein Gas,
BERZELIUS erkannten ihn als Modifikation des den Wasserstoff (lat.
weißen Phosphors. Später fand man heraus, hy dro g eniu m) . „Im
dass Phosphor auch noch in anderen Modifika- Anfang war der Was-
tionen vorkommt, beispielsweise als schwarzer serstoff“, so lautet der
Phosphor mit teils metallischen Eigenschaften. Titel des 1972 erschienenen Kultbuches des

120
Erde, Wasser, Luft und Feuer

bekannten Autors und Fernseh j ournalisten


HOIMAR VON DITFURTH. Und tatsächlich ist des- Wasserstoff selbst erzeugen
sen Aussage auch heute, nach weiteren Jahr-
zehnten umwälzender Ergebnisse kosmologi- Um Wasserstoff aus Wasser zu befreien, genügt übrigens eine Taschen-
scher Forschung, das Wichtigste, was es zu lampenbatterie. Geben Sie einfach etwas Salz hinzu, um es elektrisch
diesem Element zu sagen gibt. Wasserstoffatome leitfähiger zu machen, und stecken Sie zwei leitfähige Elektroden hin-
sind die einfachsten Atome, sie bestehen nur aus ein. Schon nach kurzer Zeit entwickelt sich an der negativen Elektrode
einem einzigen Proton als Atomkern und einem Wasserstoff. Geben Sie einige Tropfen Spülmittel in das Wasser. Sie kön-
einzelnen Elektron in der Atomhülle. Wasser- nen nun an die am Minuspol entstehenden Seifenblasen ein Streichholz
stoffatomkerne, Protonen, waren nach dem halten. Sie zerplatzen, und der Wasserstoff verbrennt. Gleichzeitig mit
Standardmodell der Kosmologie (ÅKapitel 11) dem Wasserstoff entstehen am Pluspol Blasen von Sauerstoff.
zusammen mit Neutronen die ersten, die sich Übrigens: Die Verbrennung von Wasserstoff an Luft wurde schon
nach dem Urknall bilden konnten. Noch heute 1816 von DÖBEREINER für ein raffiniertes Feuerzeug genutzt. Darin
sind 90 Prozent aller Atome des Universums entzündet sich der Wasserstoff von selbst, wenn er mit fein verteiltem
Wasserstoffatome. Der Masse nach besteht Platin in Kontakt kommt. Der Wasserstoff kann nämlich wegen seiner
75 Prozent der normalen Materie aus Wasser- sehr geringen Molekülgröße leicht in das Metall eindringen. Dabei
stoff. Dies gilt insbesondere für die Materie, aus ändern sich die Bindungsverhältnisse so, dass er sich an der Oberfläche
der Sterne bestehen, und für das extrem dünne des Metalls leicht mit dem Sauerstoff der Luft umsetzt.
Gas, das die riesigen Leerräume dazwischen
durchzieht. Vieles davon ist ionisiert, d. h. die Molekülen in der oberen Atmosphäre kann es
winzigen Wasserstoffatomkerne und die Elekt- leicht über die Fluchtgeschwindigkeit hinaus be-
ronen ziehen getrennt ihrer Wege. Überhaupt schleunigt werden und auf Nimmerwiedersehen
muss man beachten, dass dieses Element nur bei im All verschwinden.
Temperaturen von mindestens einigen tausend Zum Glück gibt es aber noch genügend Was-
Grad Celsius vollständige Einzelatome bildet, serstoff auf der Erde. Selbstverständlich sind in
also mit einem Atomkern und einer Elektro- den Molekülen des Wassers der Ozeane jeweils
nenschale. Solche Atome sind, aus Gründen, auf zwei Atome des namensgebenden Stoffs ent- 4-2
die wir noch in diesem Kapitel zurückkommen halten. Und doch sind das nicht die größten Darstellungsformen des
Wasserstoffmoleküls. Bei
werden, extrem reaktionsfähig. Sie heißen – no- Vorkommen. Sehr viel Wasserstoff findet sich der Darstellung von Mole-
men est omen – „Radikale“. Wie auch viele auch als Kristallwasser in den Gesteinen der külen abstrahiert man von
andere Gase, tun sich Wasserstoffatome bei Erdkruste (2,82 mg / kg) und er kommt auch als ihrer äußeren Gestalt, um
unterschiedliche Aspekte
niedrigeren Temperaturen stets paarweise zu Verbindungsbestandteil im Erdmantel vor. Dem hervorzuheben. In der
Molekülen (H2) zusammen. Bei ihrer Bildung Wasser und seinen Vorkommen auf der Erde chemischen Formelsprache
aus Einzelatomen wird viel Energie frei. Sie sind werden wir im ÅKapitel 6 wieder begegnen, dem werden einzelne Elektro-
nen als Punkte gezeichnet,
also viel stabiler. Gas Wasserstoff selbst in Å Kapitel 7. Elektronenpaare aber als
Doch auf der Erde herrscht ein geradezu Im Wasser (H2O) finden wir auch gleich noch Striche. Dies ist die für H2
auffälliger Mangel an elementarem Wasserstoff ein weiteres gasförmiges Element, das jeder kennt: korrekte Darstellung.
selbst in seiner molekularen Form. Dies liegt den Sauerstoff. Ist Wasserstoff das verbreitetste
einfach daran, dass das Molekül so leicht ist. Element im Universum, so kommt diese Ehre in Bindungsenergie
Bei Zusammenstößen mit anderen, schwereren der gesamten Erdkruste dem Sauerstoff zu. Energie, die bei Entste-
hung einer Bindung frei
wird. Treten zwei Was-
serstoffatome zu einem
Molekül zusammen, so
wird eine Energie von
435 kJ/Mol frei. Dies
ist enorm viel. Ein Mol
4-1
H2 sind nämlich nur
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Molekülmasse und Fluchtgeschwindigkeit. Stoßen zwei


2 g. Daher würde die
Teilchen zusammen, so kann Impuls (das Produkt von
Energie von 1 kg aus
Masse und Geschwindigkeit) übertragen werden, der
H-Atomen gebildetem
Gesamtimpuls bleibt aber stets erhalten. Stößt ein mäßig
H2 ca. 216 MJ erge-
schnelles, aber massereiches Teilchen auf ein leichtes Teil-
ben, ausreichend um
chen, so wird dieses auf hohe Geschwindigkeit beschleu-
1000 Liter Wasser um
nigt. In der oberen Atmosphäre kann diese genügen, um
52 °C zu erhitzen.
dem Schwerefeld der Erde zu entkommen.

121
KAPITEL 4 Demokrits Erben

O N
Sauerstoff – Lebenserhaltend und zerstörerisch Stickstoff – Unbemerkt um uns und für Pflanzen
zugleich unentbehrlich

Anmerkung: Da wir ihn zum Leben Mehr als drei Viertel der
Das „N“ auf den Fla- mit jedem Atemzug so Luft besteht aus Stick-
schenschultern der abge-
bildeten Stickstoffflasche
d ringend brauchen, stoff (lat. nitrogenium).
(rechts) steht nicht etwa vergisst man leicht, Doch wir bemerken
für das darin enthalten Ni- dass Sauerstoff (lat. ihn kaum. Das liegt
trogenium, sondern ist das
oxygenium) ein hoch- ganz offensichtlich an
Ergebnis eurokratischer
Normierungsbemühun- aggressives Element seiner chemischen Na-
gen, die dieses in DIN EN ist, das sich begierig tur. Stickstoff, der un-
1096-3 seit 1. Juli 2006
und unter großer Energiefreisetzung mit vielen ter den Bedingungen der Erdatmosphäre ebenfalls
für Gasflaschen zusam-
men mit neuem Farb- anderen verbindet. Das zeigt sich etwa bei einem als zweiatomiges Gas (N2) vorkommt, ist bekannt
code vorschreiben. „N“ Waldbrand oder darin, wie das Rosten von Eisen für seine notorische Reaktionsträgheit.
steht für „New“ (sic!). in unserer Zivilisation immense Schäden anrich- Und doch ist auch Stickstoff ein Hauptbe-
Daher ist das „N“ auch
auf Sauerstoffflaschen tet und nur durch allerlei Beschichtungen und standteil in sehr vielen wichtigen Lebensmolekülen
korrekt. (Nach derselben Tricks für einige Jahre im Zaum gehalten werden wie Eiweißen (Proteinen) und der Erbsubstanz
absurden Logik müsste kann. ANTOINE LAVOISIER
A erkannte Sauerstoff als DNA. Wir nehmen den Stickstoff, den alle Le-
bei der nächsten Reform
wohl „NN“ oder „N2“ für Element und seine Rolle bei der Verbrennung um bewesen in unzähligen biochemischen Prozessen
Sauerstoff vorgeschrieben 1779, einige Jahre, nachdem er von JOHN benötigen, mit den Proteinen der Nahrung auf und
werden!). PRIESTLEY und CARL WILHELM SCHEELE erstmals scheiden ihn schließlich im Harnstoff auch aus.
hergestellt worden war. Die Pflanzen, aus denen letztlich auch unser
Elementarer Sauerstoff kommt in zwei ver- Nahrungsstickstoff kommt, haben wegen der
schiedenen Formen vor, die beide bei Normal- Reaktionsträgheit ernsthafte Probleme, an ge-
temperatur gasförmig sind. Sie können sich da- nügend nutzbaren Stickstoff zu kommen. Den
her nicht nur durch die Kristallstrukturen der reaktionsträgen Stickstoff der Luft können sie
gefrorenen Formen unterscheiden. Vielmehr ist nicht unmittelbar nutzen. Einige beherbergen
hierfür entscheidend, wie viele Sauerstoffatome deshalb symbiotische Bakterien in ihren Wur-
zu einem Molekül zusammentreten. Normaler zeln, die den Trick beherrschen.
Sauerstoff, der zu etwa 21 Volumenprozent in Stickstoff ist die wichtigste Komponente in
der Luft vorkommt, besteht wie Wasserstoff aus Düngemitteln wie Harnstoff- oder Ammonium-
zweiatomigen Molekülen (O2). Daneben ist seit nitratdüngern, von denen jährlich etwa 120 Mio.
einigen Jahren aber auch der noch aggressivere Tonnen zum Einsatz kommen. Sie werden zu
dreiatomige Sauerstoff (O3) unter der Bezeich- einem großen Teil (allerdings mit enormem Ener-
nung Ozon zu trauriger Berühmtheit gelangt. Eine gieaufwand) aus Luft hergestellt. Auf diese Weise
spannende Geschichte ist auch, wie Sauerstoff in konnte die landwirtschaftliche Produktion auf
unsere Atmosphäre kam. Neben Kohlenstoff und das fünffache pro Flächeneinheit gesteigert wer-
Wasserstoff ist Sauerstoff eines der Elemente, die den. Ohne Stickstoffdünger könnte die Erde nicht
für höheres Leben der Art, wie wir es auf der Erde mehr annähernd die vielen Milliarden Menschen
kennen, völlig unentbehrlich ist. Sein Kreislauf – ernähren, die heute auf ihr leben. Hunger wäre
von Tieren verbraucht und von Pflanzen gebildet nicht nur ein politisches und Verteilungsproblem,
– sowie seine Rolle in fast allen Lebensmolekülen sondern er würde die meisten von uns treffen.
wird deshalb in den ÅKapiteln 7 und 12 noch
ausführlicher zur Sprache kommen. 4-3
In unserer kurzen exemplarischen Vorstellung Elemente des Lebens. Die sechs Elemente Wasserstoff,
Kohlenstoff, Stickstoff, Sauerstoff, Phosphor und Schwefel
einiger Elemente fehlt nun noch der Kandidat, der sind die unentbehrlichen Hauptingredenzien von Lebewe-
den Löwenanteil der Luft ausmacht und ebenfalls sen. Daneben spielen allerdings noch einige andere, wie
für das Leben unabdingbar ist. Calcium, Natrium und Kalium, wichtige Nebenrollen.

122
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Aufbau der Materie RUTHERFORD (1871 – 1937) im Jahre 1911 durch


Bestrahlung von Atomen mit Alphateilchen fest,
Als heutige Zeitungsleser, Radiohörer oder Fern- dass der größte Teil des Atoms leer sein muss. In
sehkonsumenten werden wir häufig mit dem seinem Modell konzentrierte sich die positive La-
Begriff Atom in verschiedenen Zusammenhän- dung im Kern, der etwa dreitausendmal kleiner
gen konfrontiert. Seit Jahrzehnten gibt es eine sein sollte als das gesamte Atom, während die
Diskussion über Nützlichkeit oder Gefährlich- negativ geladenen Elektronen sich um den Kern
keit der Atomkraftwerke und der Atomenergie. gruppieren. Dass die Elektronen den Atomkern
Was steckt genau hinter dem Begriff „Atom“? wie Planeten die Sonne umkreisen sollten, geht
Der Ausdruck selbst leitet sich vom griechischen allerdings nicht auf RUTHERFORD, sondern auf
Wort „atomos“ ab, was soviel wie „unteilbar, den japanischen Physiker NAGAOKA HANTA T RO
unzerlegbar“ bedeutet. (1865 – 1950) zurück (ÅAbbildung 4-4).
Es waren die griechischen Philosophen
DEMOKRIT und LEUKIPP, die diesen Begriff vor 4-5
Thomsons „Rosinenku-
etwa 2500 Jahren kreierten (ÅLeukipp und De- chen“. Nach THOMSON
mokrit – die frühen Atomisten, Seite 34). Die sollten Atome aus positiv
Vorstellung, dass die Welt aus Atomen aufge- geladenen Materiekugeln
bestehen, in denen nega-
baut sei, fand allerdings nur wenige Anhänger. tiv geladene Elektronen
Erst mit der Entwicklung eines mechanistischen gleichmäßig verteilt sind,

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Weltbildes durch Forscher wie GALILEO GALILEI wie die Rosinen in einem
Kuchen.
(1564–1642) und PIERRE GASSENDI (1592–1655)
trat die Atomtheorie wieder in den Vordergrund,
und in ihrem Kontext entstanden auch neue
Vorstellungen zum Elementbegriff. Er wurde
nicht mehr philosophisch, sondern empirisch
definiert: Ein Element ist etwas, das sich durch Obwohl sich seit RUTHERFORD das Bild über
bekannte Verfahren nicht mehr in andere Sub- den inneren Aufbau der Atome nochmals ge-
stanzen teilen lässt. Mit der Entdeckung weiterer hörig gewandelt hat, lag er nicht schlecht, was
chemischer Elemente im 18. und 19. Jahrhun- das grundsätzliche Größenverhältnis von Atom-
dert war auch bald klar, dass es offensichtlich kern und Elektronenhülle betrifft. Atome besit-
wesentlich mehr als die vier antiken Elemente zen einen Durchmesser von 10–10 m, der Kern
geben musste. Schon der französische Chemi- ist geradezu winzig, nämlich um einen Faktor
ker ANTOINE LAVOISIER
A konnte 23 chemische 10 000 bis 100 000 kleiner als das Atom. Trotz
Elemente unterscheiden. Der Engländer JOHN seiner geringen Größe sind im Kern aber etwa
DALTON
L (1766 – 1844) schuf schließlich das erste 99,9 Prozent der Masse konzentriert.
moderne Atommodell, in dem er das Atom als Nicht nur das Atom ist teilbar, sondern auch
kleinste Einheit der Materie definierte. der Kern, wie sich später herausstellte. Er be-
Nach der Entdeckung des Elektrons durch steht aus Protonen und Neutronen. Und sogar
JOSEPH JOHN THOMSON (1846 – 1940) konnten diese sind wieder aus fundamentaleren Teilchen
Physiker den tatsächlichen Aufbau eines Atoms zusammengesetzt, nämlich aus sogenannten
in den ersten beiden Deziennen des 20. Jahrhun- Quarks. Aber hierzu später. Atomkerne werden
derts entschlüsseln. Während THOMSON in sei- über eine starke Kraft zusammen gehalten,
g die
nem Rosinenkuchenmodell von 1903 noch von – wenig einfallsreich – auch genau so heißt. Sie
einem kompakten Atom ausging, in dessen posi- wirkt wie ein guter Kitt, um die positiv gelade-
tiv geladener Masse die negativ geladenen Elek- nen, sich abstoßenden Protonen zusammen
tronen gleichmäßig verteilt waren, stellte ERNEST zu halten. Die Kräfte im Atomke k rn sind

4-4
Rutherfordsches Atommodell. RUTHERFORD beschoss dünne Goldfolie mit Alphateilchen (Helium-
kernen). Die Art, wie diese Teilchen gestreut wurden, führte RUTHERFORD zum Schluss, dass fast die
gesamte Masse eines Atoms im Kern konzentriert sein und dieser extrem klein sein muss. Die Vor-
stellung von Elektronen, die den Atomkern wie Planeten die Sonne umkreisen (unteres Bild), geht
allerdings auf den japanischen Physiker NAGAOKA HANTA T RO (1865 – 1950) zurück.

12
23

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KAPITEL 4 Demokrits Erben

extrem stark, wirken aber nur auf sehr kurze konnte allerdings 1900 das Strahlungsspektrum
Distanz (ÅDer innere Aufbau der Nukleonen, ideal schwarzer Körper nur unter der Annahme
Seite 426). Atome sind die kleinsten reaktions- erklären, dass Körper elektromagnetische Strah-
fähigen Einheiten in der Chemie. Sie können sich lung (Wärmestrahlung) in Form fester Energie-
untereinander zu komplexen Molekülen und portionen emittieren und absorbieren (ÅStrah-
Festkörpern verbinden und sind die grundlegen- lungsgesetze von Stefan bis Planck, Seite 96).
den Bausteine der gesamten uns vertrauten be- Wenig später (1905) schrieb ALBERT EINSTEIN
lebten und unbelebten Materie. Alle chemischen seine Arbeit zum photoelektrischen Effekt (das
Vorgänge beruhen ausschließlich auf Wechsel- Herauslösen von Elektronen aus Metallen durch
wirkungen zwischen den Hüllenelektronen von Lichteinstrahlung), für die er 1921 den Nobel-
Atomen und deren Verhalten im Kraftfeld der preis erhielt. Dieser Effekt war nur erklärbar,
Kerne. Die Kerne selbst verändern sich in che- wenn Licht in Form von Energiepaketen, den so-
mischen Reaktionen nie, da die dabei auftreten- genannten Photonen, auftritt. Wie bei PLANCKs
den Kräfte viel geringer sind als die Kernkräfte. Strahlung des schwarzen Körpers verfügt dabei
Genau deshalb ist auch die Erzeugung von Gold jedes Photon über eine bestimmte Energie E,
aus Blei durch chemische Reaktionen unmöglich. die von seiner Frequenz ν (also der „Farbe“ des
Lichts) abhängig ist:
Seltsame Entdeckungen und Eigenschaften
E = h·ν
Nach RUTHERFORD endete die Ära der Atom-
modelle, die auf den Gesetzen der klassischen Die Größe h nennt man das Plancksche Wir-
Physik basierten. Die tatsächlich beobachteten kungsquantum. Es hat die Dimension Energie
4-6 und theoretisch erwarteten Eigenschaften von mal Zeit oder Ort mal Impuls, Physiker nennen
Massenverhältnisse als Atomen konnten in ihrem Rahmen nicht sinn- eine solche Größe „Wirkung“. Physikalische
Flächen.
voll in Einklang gebracht werden. Objekte bewegen sich immer so, dass die Wir-
In der Grafik entspricht
die Fläche etwa der Masse Schon GUSTATAV KIRCHHOFF (1824 – 1887) und kung minimal wird (oder bleibt). Der Apfel fällt
der Atombausteine. Das ROBERT BUNSEN (1811 – 1899) hatten 1859 fest- auf dem kürzesten Weg nach unten, und auch
Neutron n0 ist etwa so
gestellt, dass alle chemischen Elemente Licht das Licht bewegt sich geradlinig von einem
schwer wie das Proton p+
(nur ca. 0,14% schwerer). ganz bestimmter Frequenzen emittieren und ab- Punkt zum anderen. Das Wirkungsquantum
Das Elektron e– hat fast sorbieren, die sogenannten Spektrallinien. Gegen ist eine zentrale Größe in der Physik. Wäre es
eine 2000fach geringere Ende des 19. Jahrhunderts wurde deutlich, dass gleich null, gäbe es keine Quanteneffekte, die
Masse. Selbst alle Elektro-
nen eines schweren Atoms zumindest für den Wasserstoff die Frequenzen Welt würde sich „klassisch“ verhalten. h ist
wie Uran zusammenge- einem einfachen Gesetz folgten. (Å Abbildung allerdings sehr klein:
nommen würden also nur 4-8). Aber die klassische Physik war weder in der h = 6,626 068 96 (33) · 10−34 J · s.
einen kleinen Bruchteil
eines Kernbausteins aus- Lage, zu erklären, warum Atome Licht nur mit Licht hatte also sowohl Teilchen- als auch Wel-
machen. bestimmten Wellenlängen absorbieren und emit- leneigenschaften. Hatten dann Elektronen viel-
tieren können, noch wie dieses Gesetz zustande leicht auch Welleneigenschaften?
kommt. Das Rutherfordsche Atommodell hatte Im Jahr 1924 postulierte LOUIS DE BROGLIE
aber noch eine weitere Schwäche. Elektronen, (1892 – 1987) den Welle-Teilchen-Dualismus,
die wie Planeten um den Atomkern kreisen, wonach jedem Teilchen eine Materiewelle zu-
sollten nämlich nach den Gesetzen der Elektro- geordnet werden kann, deren Frequenz pro-
dynamik Energie in Form elektromagnetischer portional zur Energie ist. Seine Bestätigung
Wellen abstrahlen und deshalb in kürzester Zeit erhielt die Theorie bereits drei Jahre später:
in den Kern stürzen. 1927 wiesen die amerikanischen Physiker CLIN-
Auch an anderen Stellen begann zur glei- TON DAVISSON
A (1881 – 1958) und LESTER H.
chen Zeit das Gebäude der klassischen Physik GERMER (1896 – 1971) die Beugung von Elek-
zu wanken (ÅUmbruch: Die Quantentheorie, tronen am Gitter eines Nickelkristalls nach.
Seite 103). Spätestens seit THOMAS YOUNGs Der Welle-Teilchen-Dualismus schien eine sehr
Doppelspaltexperiment 1802 schien eindeutig anschauliche Begründung für das von NIELS
bewiesen zu sein, dass Licht eine elektromag- BOHR (1885 – 1962) bereits 1913 vorgeschla-
netische Wellenerscheinung ist. MAX PLANCK gene Atommodell zu liefern.
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12
1 24
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Photonenexperimente

Es gibt einfache Experimente, mit denen man


direkt nachweisen kann, dass Licht aus Ato-
men nur in ganz bestimmten Energiepaketen
abgegeben wird, die jeweils einer bestimm-
ten Lichtfarbe entsprechen. Sie können diese
diskreten Spektrallinien ganz einfach sehen,
wenn Sie eine Energiesparlampe an der Un-
terseite einer gewöhnlichen CD spiegeln. Sie
werden mehrere verschiedenfarbige Abbilder
der Lampe erkennen können, denn die Gas-
atome und die fluoreszierenden Leuchtstoffe
senden nur Licht ganz bestimmter Wellen-
längen aus. Erst in unserem Sehsystem wer-
den die ausgelösten Reize zu einem ungefähr
weißen Lichteindruck kombiniert. (Bei einer
alten Glühbirne oder Halogenlampe, die als
sogenannter schwarzer Strahler angesehen
werden kann, funktioniert die Sache übrigens
nicht. An der Abstrahlung sind hier Atome
eines Festkörpers beteiligt, die sich gegensei-
tig beeinflussen. Im Ergebnis sieht man dann
einen kontinuierlichen farbigen Streifen.)

4-8
Erlaubte Bahnen Spektrum des atomaren
Wasserstoffs. Die Spek-
M i t de m A to mm ode ll vo n N IELS B OHR trallinien im Spektrum des
Wasserstoffatoms folgen
(1885 – 1962) begann 1913 die Zeit der Quan-
einem einfachen Gesetz,
tentheorie. BOHR ging davon aus, dass Elek- in dem die Frequenz ν
tronen sich nur auf bestimmten, „erlaubten“ bzw. die Wellenlänge
Bahnen um den Atomkern bewegen. Auf diesen λ nur von zwei ganzen
Zahlen m und n abhängt.
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speziellen Bahnen sollte es nicht, wie von der Einen Grund für dieses
klassischen Theorie vorhergesagt, zu einer Ab- Verhalten liefert erst die
strahlung von Energie kommen. Da jeder erlaub- Quantentheorie.

ten Bahn eine bestimmte Energie des Elektrons


entspricht, konnte damit die Lichtabsorption gut
erklärt werden. Lichtabsorption in einem Atom
bedeutete, dass ein Elektron ein Photon absor-
biert und dadurch auf eine Bahn mit höherer
Energie gehoben wurde. Dies konnte aber nur
geschehen, wenn die Energie des Photons exakt
4-7 der Energiedifferenz zweier erlaubter Bahnen
Linienspektrum. Betrachtet man eine Energiesparlampe entsprach. BOHR konnte mit seinem einfachen
oder Leuchtstofflampe gespiegelt an der Unterseite einer
Modell die Spektrallinien des Wasserstoffatoms
silbernen CD, so sieht man ein sehr intensives Spektrum.
Durch Beugung an den feinen Strukturen der CD ent- erklären und sogar die darin vorkommende, bis
steht ein Gitterspektrum. Einzelne farbige Abbilder der dahin nur empirisch ermittelte Rydberg-Kons-
Lampe erkennt man, weil die Elektronen der Leuchtstoffe tante theoretisch herleiten. Mit Hilfe des Welle-
zwischen klar definierten Energieniveaus wechseln und
daher Licht genau der Differenzenergie abgeben, also in Teilchen-Dualismus hatte man ab 1924 sogar ein
ganz bestimmten Wellenlängen oder Farben. Modell für die Existenz erlaubter Bahnen: Ihre

12
25
KAPITEL 4 Demokrits Erben

4-9
Erlaubte Bahnen. Im
„Sonnensystemmodell“
kreisen negativ geladene
Elektronen in beliebigen
Abständen um den positiv
geladenen Atomkern,
dessen elektrische Anzie-
hung als Potenzialmulde
dargestellt ist (oben). Im
BOHRschen Modell gibt es
hingegen nur bestimmte
erlaubte Bahnen (darge-
stellt als Treppenstufen,
unten). Die potenzielle
Energie ist hier „gequan-
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telt“.

4-10
Stehende Wellen um einen Atomkern. Eine gute Ver-
anschaulichung, wie einzelne Energieniveaus statt eines
Bahnradien konnten gut mit den Wellenlängen kontinuierlichen Energiespektrums entstehen können,
bietet das Bild stehender Elektronenwellen um einen
der kreisenden Elektronen in Einklang gebracht Atomkern. Obwohl dieses Bild die Verhältnisse nicht
werden. Eine erlaubte Bahn war eine Bahn, auf exakt widerspiegelt, kann man sich leicht vorstellen, dass
der die Materiewelle eine stehende Welle bil- beispielsweise zweieinhalb Wellenzüge hier keinen Sinn
ergeben, denn sie würden sich mit der Zeit auslöschen.
det (ÅࡳAbbildung 4-10). Dennoch blieben viele Nur Ganzzahlen stellen in diesem Bild gültige Elektronen-
Fragen offen. Zwar konnte man bestimmte bahnen dar.
Aufspaltungen der Spektren durch Variationen
der erlaubten Bahnen erklären, wichtige De-
tails zu Spektren und besonders zum Verhältnis Operatoren und Unschärferelation
zwischen Atomstruktur und Periodensystem
blieben ungeklärt. Dies änderte sich erst, als Die Wellenfunktion beschreibt ein Teilchen
die sogenannte „ältere“ Quantentheorie BOHRs vollständig. Sie umfasst alles, was man von
ersetzt wurde durch die Quantentheorie ERW
R IN ihm wissen kann. Leider handelt es sich nicht
SCHRÖDINGERs und WERNER HEISENBERGs, in der um eine messbare physikalische Größe wie
ein neue Größe in den Vordergrund rückte: die Ort, Impuls (Masse mal Geschwindigkeit) oder
Wellenfunktion. Energie, sondern um eine recht abstrakte ma-
thematische Größe. Dies ist eine etwas un-
Wellenfunktion erquickliche Vorstellung, und es gab bereits
mehrere Versuche, der Wellenfunktion eine
Durch den Welle-Teilchen-Dualismus DE BRO- physikalische Interpretation zu geben, bisher
GLIEs bekamen die „erlaubten“ Bahnen des ohne anschauliches Ergebnis. Hat man die
Bohrschen Atommodells eine sinnvolle Bedeu- Wellenfunktion eines Teilchens mit Hilfe der
tung: Nur jene Bahnen sind stabil, bei denen Schrödinger-Gleichung ermittelt, ist es aller-
die Wellenlänge der Elektronen-Materiewellen dings nicht schwer, Ort, Impuls oder Energie
ein ganzzahliger Bruchteil des Bahnumfangs ist. zu berechnen. Je nach physikalischer Größe
ERW
R IN SCHRÖDINGER (1887 – 1961) verallgemei- wendet man eine bestimmte Rechenvorschrift
nerte 1926 dieses Konzept in der berühmten auf die Wellenfunktion an. Eine solche Vor-
Schrödinger-Gleichung (Å Kasten Schrödinger- schrift nennt man Operator. Zur Berechnung
Gleichung, Abbildung 4-12). Sie beschreibt die des Ortes dient der Ortsoperator, zur Berech-
sogenannte Wellenfunktion eines Teilchens in nung des Impulses der Impulsoperator und zur
einem beliebigen Energiefeld. Für den Fall eines Berechnung der Teilchenenergie der Hamilton-
freien Teilchens entspricht die Wellenfunktion Operator. Leider erhält man dabei nur unter
der DE BROGLIEschen Materiewelle. bestimmten Bedingungen eindeutige Werte für

126
Erde, Wasser, Luft und Feuer

diese Größen. Oft sind mehrere Werte oder 4-11


Unschärferelation. Hält
ganze Wertebereiche möglich. Die Anwendung
man ein Elektron in einer
eines Operators auf die Wellenfunktion liefert Box „gefangen“, so kann
nicht nur die möglichen Werte, sondern auch man zwar durch stetiges
Verkleinern der Box den
die Wahrscheinlichkeit, mit der jeder Wert bei
Ort des Elektrons immer
Messungen auftreten kann. Dies erscheint auf genauer bestimmen,
den ersten Blick unsinnig, schließlich sollten gleichzeitig aber wächst
diese physikalischen Größen eindeutig sein, da die Unsicherheit über
dessen Geschwindigkeit.
man ja bei ihrer Messung auch nur einen Wert Die Heisenbergsche Un-
erhält und nicht mehrere. In der Praxis stellt schärferelation drückt die

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sich allerdings heraus, dass immer dann, wenn Unmöglichkeit aus, beide
gleichzeitig beliebig genau
mehrere Werte theoretisch möglich sind, in zu messen: Das Produkt
Messreihen auch alle diese Werte vorkommen, aus der Unsicherheit von
jeder mit der durch die Theorie vorhergesagten Impuls- (p) und Ortsmes-
sung (x) kann nie den
Häufigkeit. Wert h unterschreiten. h
Teilchen können gezwungen sein, einen be- ist eine Fundamentalkon-
stimmten Wert einer physikalischen Größe an- Wesen der Welt und unserer Rolle als Beobachter stante der Quantenphysik,
das sogenannte Wir-
zunehmen. Eine Möglichkeit dazu haben wir darin. Die wesentlichen Standpunkte dazu sind kungsquantum. Ähnliche
schon kennengelernt: in Atomen können die in ÅKapitel 3 dargestellt. Relationen gibt es auch
Elektronen nur ganz bestimmte Energiewerte Unabhängig von ihren philosophischen Im- zwischen Energie und Zeit,
weshalb für winzige Zeit-
annehmen, da es nur ganz bestimmte „Bahnen“ plikationen ist die Wellenfunktion heute eine
räume auch Teilchen aus
gibt, auf denen sie sich bewegen können. Es gibt fest etablierte Größe in der Physik. Erst mit ih- dem „Nichts“ entstehen
auch Wege, einem Teilchen einen bestimmten rer Hilfe ist das Verhalten von Elementarteil- können: die sogenannten
Quantenfluktuationen des
Impuls aufzuprägen oder es an einem Ort fest- chen, Molekülen und Festkörpern befriedigend
Vakuums.
zuhalten. Dabei zeigt sich ein Effekt, der unter erklärbar. Und weder moderne Computer noch
dem Begriff Unschärferelation bekannt ist: Es ist Digitalkameras oder Kernspintomografen hätten
nicht möglich, bei einer Messung einen exakten ohne Quantenphysik entwickelt werden können.
Wert des Impulses zu erhalten und eine exakte
Ortangabe (ÅAbbildung 4-11). Die mathemati- Quantenzahlen
schen Eigenschaften der Wellenfunktion liefern
dafür eine einfache Begründung: wenn der Im- Die Tatsache, dass ein Elektron in einem Atom
pulsoperator angewandt auf die Wellenfunktion nur ganz bestimmte Energiewerte annehmen
eines Teilchens genau einen Wert liefert, so lie- kann, die Energie also „gequantelt“ ist, drückt
fert der Ortsoperator angewandt auf die gleiche sich auch in den zugehörigen Wellenfunktionen
Wellenfunktion ein breites Wertespektrum und aus. Wäre das Atom einfach ein rechteckiger
umgekehrt. Man sagt: die Operatoren physika- „Kasten“, in dem das Elektron sich nur von
lischer Größen, bei denen die Unschärferelation rechts nach links bewegen kann, so würden sie
zuschlägt, kommutieren (lat. commutare, ver- sich nur durch einen ganzzahligen Parameter n
tauschen) nicht. Es ist bei nicht-kommutierenden unterscheiden. Jedem Energiewert En entspräche
Operatoren nicht gleichgültig, ob erst der eine eine Wellenfunktion Ψn (Å Kasten Schrödinger-
und auf das Ergebnis der zweite angewandt Gleichung, Abbildung 4-12, Seite 128). Man
wird oder umgekehrt. Anschaulich kann man nennt n daher auch Hauptquantenzahl, da sie
sich das so vorstellen, dass durch eine Messung die Energie des Elektrons bestimmt. n kann im
des Ortes die Wellenfunktion des Teilchens so Allgemeinen Werte von 0 (dem tiefsten Energie-
verändert wird, dass eine unmittelbar danach zustand, der sogenannten Nullpunktsenergie)
vorgenommene Impulsmessung keine exakten bis unendlich annehmen, wobei das Elektron
Werte mehr liefert. so viel Energie besitzt, dass es den Kasten über-
Es gibt noch viele weitere Eigenschaften der windet und für immer als freies Teilchen ver-
Wellenfunktion, die unserer Vorstellung über schwindet. Die Energie, die man benötigt, um
das „Wesen“ physikalischer Objekte eklatant ein Elektron von einem gebundenen Zustand
zu widersprechen scheinen und die auch heute in den freien Zustand zu versetzen, bezeichnet
noch Anlass geben für Spekulationen über das man als dessen Ionisierungsenergie. Je tiefer der

127
KAPITEL 4 Demokrits Erben

Schrödinger-Gleichung

In den Vorstellungen der klassischen Physik exakt lösbar (Å Abbildung 4-12). In kompli-
sind Ort und Impuls (Geschwindigkeit mal zierteren Fällen sind nur Näherungslösungen
Masse) elementare Größen bei Teilchen, die verfügbar.
man im Prinzip unabhängig voneinander be- Die stationäre Schrödinger-Gleichung liefert
liebig genau messen kann. Die Natur der Wel- die möglichen Energiewerte, die ein Teilchen in
lenfunktion trägt der Tatsache Rechnung, dass einem Potenzial annehmen kann. Für das Was-
dies zumindest für sehr kleine Teilchen nicht serstoffatom liefert sie die Energieniveaus des
der Fall ist. Die Wellenfunktion, die mit dem Elektrons, die NIELS BOHR in Form „erlaubter“
griechischen Buchstaben Ψ bezeichnet wird, Elektronenbahnen zuvor postuliert hatte. Der
ist zwar selbst nicht messbar, aus ihr lassen Bahnbegriff ist allerdings etwas irreführend,
sich aber alle bekannten Größen der klassi- wie der nächste Abschnitt zeigt. Das Elektron
schen Physik ableiten. Man wendet dazu ma- „kreist“ nicht um den Atomkern, das einzige,
thematische Operationen auf sie an, sogenannte was die Wellenfunktion über den Aufenthalts-
Operatoren. Für jede klassische Größe gibt ort aussagen kann ist, mit welcher Wahrschein-
es einen entsprechenden Operator (nach dem lichkeit es sich an einem Ort x aufhält, diese
sogenannten Korrespondenzprinzip). Wahrscheinlichkeit ist nämlich gleich |Ψ(x)|2.
Aber wie bestimmt man die Wellenfunktion In der Schrödinger-Gleichung werden Teil-
eines Teilchens? chen stark vereinfacht behandelt. Es handelt
Am häufigsten wird hierzu die von ERWIN sich um unendlich kleine Materiepunkte, die
SCHRÖDINGER 1926 aufgestellte Schrödinger- sich zudem nicht zu schnell bewegen dürfen.
Gleichung verwendet. Sie beschreibt, wie sich Berücksichtigt man Drehimpulse, relativistische
die Wellenfunktion bei einem gegebenen Poten- Geschwindigkeiten, Magnetfelder und andere
zial (Å Abbildung 4-17, Seite 131) zeitlich und Phänomene, so erhält man komplexere Glei-
räumlich verändert. Ist das Potenzial zeitlich chungen, die allerdings auch die sogenannten
konstant, so vereinfacht sich die Gleichung Fein- und Hyperfeinstrukturen der Energieni-
und wird für einfache Systeme wie ein Elektron veaus von Atomen erklären können (ÅAbbil-
im Potenzial eines Protons (Wasserstoffatom) dung 4-19, Seite 133).

4-12
Stationäre Schrödinger-Gleichung. Die stationäre Schrödinger-Gleichung beschreibt die Wellenfunktion in ei-
nem zeitlich konstanten Potenzial. Der Hamilton-Operator steht für die Gesamtenergie des Teilchens, also für
potenzielle und kinetische Energie, E steht für den Wert der Energie selbst. Die Gleichung besagt, dass der
Hamilton-Operator angewandt auf die Wellenfunktion diese wieder reproduziert, multipliziert mit der Energie
E. Lösungen dieser Gleichung gibt es in der Regel nicht nur für einen Wert der Energie, sondern für mehrere. Ist
kein Potenzial vorhanden (oben), so handelt es sich um ein freies Teilchen. Als Wellenfunktion erhält man die de
Broglieschen Materiewellen, und es sind beliebige Werte für die Energie möglich. Die Energie tritt als Phasen-
geschwindigkeit der Welle in Erscheinung. In einem Potenzial (unten) ist die Wellenfunktion lokal begrenzt und
nimmt vom Energieniveau abhängige Formen an.

128
Erde, Wasser, Luft und Feuer

4-13
Quantelung. Die Wellenfunktion eines in einem Potenzialtopf gefangenen Teilchens kann nicht jede beliebige
Form annehmen, sie muss in den Topf „passen“ wie eine stehende Welle in einer Flöte (links). Da die Form der
Wellenfunktion von der Energie des Teilchens abhängig ist, sind nur diskrete Energiewerte möglich, die Energie
ist „gequantelt“ (rechts). Die Dichte dieser Energiewerte hängt von der Breite des Topfes ab: je breiter der Topf
ist desto mehr Energiewerte sind möglich. Im Grenzfall eines unendlich breiten Topfes liegen die Energiewerte
unendlich dicht, das Teilchen ist „frei“. Ein Teilchen kann nur dann auf die nächsthöhere Energiestufe wechseln,
wenn es durch ein Energiequant (etwa ein Photon) angeregt wird, das genau so groß ist wie die Energiedifferenz
beider Stufen. Deshalb absorbieren Elektronen in Atomen nur bestimmte Lichtfrequenzen. In der linken Darstel-
lung ist das Quadrat der Wellenfunktion in Abhängigkeit von der Energie dargestellt, also die Wahrscheinlichkeit,
das Teilchen an einem bestimmten Ort entlang des Potenzialtopf zu finden.

4-14
Wellenfunktion und Unschärferelation. Links sind Quadrate der Wellenfunktion eines in einer „Box“ (graue
Linien) gefangenen Elektrons dargestellt (farbige Kurven). Sie sind ein Maß für die jeweilige Aufenthaltswahr-
scheinlichkeit des Elektrons in der Box. Eine schmalere Box konzentriert die Aufenthaltswahrscheinlichkeit auf
einen kleineren Bereich (von rot über grün nach blau). Gleichzeitig wächst die Unsicherheit über die Geschwin-
digkeit des Elektrons in der Box (rechts). Eine breite Box (rote Kurven) lässt uns bezüglich des Orts im Unge-
wissen, führt aber zu einem nur wenig streuenden Impuls. Bei einer sehr schmalen Box (blau, links) sind wir im
Ungewissen über die Geschwindigkeit (blau, rechts). Im linken Bild ist auch erkennbar, dass sich das Elektron
sogar mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit außerhalb der Box befinden kann! Nach klassischem Verständnis
ist dies genauso unmöglich wie die Vorstellung, ein Ball könne von selbst aus einem Korb springen. Diesen nur
quantenphysikalisch erklärbaren Effekt nennt man Tunneleffekt: Die Teilchen durchtunneln gewissermaßen eine
unüberwindliche Barriere.

129
KAPITEL 4 Demokrits Erben

Energiezustand des Elektrons ist (also je kleiner beim feldfreien Niveau (m = 0) liegen. Diesen
n ist) desto größer ist diese Energie (Å Abbildung Effekt der Aufspaltung nennt man den norma-
4-12, Seite 128). Wird sie durch Photonen len Zeeman-Effekt. Zustände der Quantenzahl
zugeführt, benötigt man entsprechend hohe Fre- n, die nicht aufgespalten sind, bezeichnet man
quenzen (E = h · ν ). Deshalb ist Röntgenstrah- mit dem etwas seltsamen Ausdruck „entartet“.
lung viel gefährlicher als Licht, obwohl es sich
ebenfalls „nur“ um elektromagnetische Wellen
handelt. Durch die hohe Energie ihrer Photonen Quantenzahlen
werden Atome ionisiert. Dadurch zerbrechen
Bindungen, und Ionen können im Körper Scha-
den anrichten, indem sie ihrerseits mit anderen n l m
Molekülen reagieren. 1 0 0
2 0 0
Atome sind keine Kästen, sondern enthalten 1 –1, 0, 1
einen winzigen Kern, der eine positive Ladung 3 0 0
trägt. Trotzdem gilt für die Elektronen eines 1 –1, 0, 1
Atoms im Prinzip das Gleiche wie im einfachen 2 –2, –1, 0, 1, 2
Kastenmodell. Und hier kann man tatsächlich 4 0 0
1 –1, 0, 1
das Bild eines atomaren „Sonnensystems“ zu 2 –2, –1, 0, 1, 2
Hilfe nehmen. Ein Elektron, das sich in der Nähe 3 –3, –2, –1, 0, 1, 2, 3
des Kerns befindet, würde durch die elektrische
... ... ...
Anziehung auf diesen stürzen, wenn es ihn nicht
wie ein Planet mit hoher Geschwindigkeit um-
laufen würde. Die entstehende Zentrifugalkraft 4-15
Quantenzahlen. Für jeden Wert der Hauptquantenzahl
macht die Anziehungskraft des Kerns wieder
n gibt es n –1 mögliche Nebenquantenzahlen l, die
wett. Dem Umlauf des Elektrons um den Kern wiederum unterteilt sind in 2l +1 Magnetquantenzahlen.
entspricht ein Drehimpuls (der Drehimpuls hat Die Werte des Drehimpulses sind gleich
die Dimension Energie mal Zeit, das heißt, er ist m · h / 2π = m · 105,45727 · 10 –36 J · s. Die Aufspaltung der
Nebenquantenzahlen in 2l +1 Magnetquantenzahlen
eine Wirkung). Auch der Drehimpuls kann nicht gilt generell für jede Art von Drehimpuls, auch für
beliebige Werte annehmen, sondern ist gequan- den sogenannten Spin der Elementarteilchen. Der
telt. Aufgrund dieser Quantelung kann sich ein Grund hierfür sind universelle Symmetrieeigenschaften
quantenphysikalischer Größen, die in Kapitel 10
Elektron zwar in verschiedenen, aber nicht in be- ausführlicher behandelt werden.
liebigen Bahnabständen um den Kern bewegen.
Insgesamt gibt es für jede Hauptquantenzahl n2 Spin
Möglichkeiten. Die n2 verschiedenen Möglich-
keiten kann man noch etwas weiter sortieren. Schon auf Basis des einfachen Bohrschen Mo-
Jedem Wert von n sind n–1 Nebenquantenzah- dells konnte man die obigen Überlegungen an-
len l zugeordnet und jeder Nebenquantenzahl stellen und die Aufspaltung der Energieniveaus
2l + 1 Magnetquantenzahlen m. Letztere heißen vorhersagen. Eine Konsequenz dieser Aufspal-
so, weil sie das Verhalten des Elektrons in einem tung ist, dass sich ein Strahl aus Atomen mit
Magnetfeld bestimmen. Anschaulich betrachtet einem Elektron in einem Magnetfeld in 2l + 1
ist m so etwas wie die (gequantelte) Orientierung Strahlen aufspalten sollte, entsprechend der (zu-
der Elektronenbahn gegenüber dem Magnetfeld. fälligen) Orientierung der Elektronen. Ein Strahl
Da das kreisende Elektron wie ein kleiner Mag- aus Atomen, bei denen die Elektronen in einem
net wirkt (ähnlich wie eine stromdurchflossene Zustand mit der Nebenquantenzahl l = 0 sind
Spule), wirkt bei Vorhandensein eines äußeren (keine Drehung), sollte keine Aufspaltung erfah-
Magnetfeldes eine Kraft auf das Elektron, die ren, da bei l = 0 nur m = 0 möglich ist (kein Mag-
von der Orientierung der Elektronenbahn ab- netfeld). Bei einem Experiment mit Silberatomen
hängt. Die unterschiedlichen Kraftwirkungen stellte sich allerdings schon 1922 heraus, dass in
führen zu einer Aufspaltung der Energieniveaus einem Magnetfeld trotz l = 0 eine Aufspaltung
des Elektrons. Befindet es sich auf dem Niveau stattfindet, und zwar in zwei Strahlen! Genauere
n, so sind je nach Wert von m 2l +1 Energieni- Messungen verschiedener Atomspektren in die-
veaus möglich, die allerdings alle recht nahe ser Zeit zeigten zudem, dass die Energieniveaus

130
Erde, Wasser, Luft und Feuer

der Atome noch weitaus feinere Strukturen zeig-


ten, als durch die drei bekannten Quantenzahlen
n, l, m darstellbar sind (ÅTabelle 4-15).
Diese Ergebnisse deuteten darauf hin, dass
Elektronen noch eine weitere Eigenschaft besit-
zen: eine Größe, die nur zwei Werte annehmen
kann. Jedem dieser Werte musste ein magneti-
sches Moment gleicher Größe, aber unterschied-
lichen Vorzeichens zugeordnet werden, um die
Ablenkung im Magnetfeld zu erklären. Damit
wurden auch viele der beobachteten Aufspal-
tungen von Spektrallinien erklärbar.
So weit, so gut. Aber welche physikalische
Bedeutung hat diese Eigenschaft?
Es wurde vorgeschlagen, diese Eigenschaft
als Eigenrotation des Elektrons zu deuten, wes-
halb sie unter dem Namen Spin bekannt wurde sisch nicht zu erklären ist, auch die Tatsache, 4-16
(engl. für Drall). Die Eigenrotation des gelade- dass das Äquivalent der Rotationsgeschwin- Potenziale. Zwischen zwei
Atomen herrschen anzie-
nen Elektrons sollte wie der Bahndrehimpuls digkeit für jede Teilchenart exakt einen Wert hende und abstoßende
ein Magnetfeld erzeugen, das mit dem äußeren annehmen kann, ist mit klassischer Mechanik Kräfte, die als Potenziale
Magnetfeld interagiert. Allerdings konnte die nicht zu begründen. Im Laufe der Zeit stellte beschrieben werden
können. Für neutrale
Rotationsachse des Elektrons bezüglich des äu- sich heraus, dass der Spin ein Ausdruck eines Atome wird meist das
ßeren Magnetfeldes immer nur eine von zwei wesentlich fundamentaleren Prinzips der Natur Lennard-Jones-Potenzial
möglichen Orientierungen aufweisen, aufwärts ist: der Symmetrie (ÅࡳSymmetrien und Symme- verwendet, dessen Para-
meter ε und σ empirisch
und abwärts. Nur so ist die Aufspaltung in zwei triebrechung, Seite 434). bestimmt werden. Für das
Strahlen zu erklären. Der Spin eines Elektrons kann nur die Werte Edelgas Argon liegt r0 bei
Wenngleich das Bild des Spins als Eigenro- s = ±1/2 h / 2π [J · s] annehmen, das magnetische 0,382 nm.
tation auch heute noch gern verwendet wird, Moment ist dann μ = γ · s . Darin ist γ eine von
hat er wenig mit der klassischen Rotation eines der Teilchenart abhängige Konstante, das soge-
Körpers um seine Achse zu tun. Nicht nur, dass nannte gyromagnetische Verhältnis.
die Beschränkung auf zwei Drehrichtungen klas-

Kräfte und Potenzialkurven

Eine Potenzialkurve beschreibt beispielsweise Atome sind wechselseitig sowohl anziehenden


die potenzielle Energie („Lageenergie“) eines als auch abstoßenden Kräften ausgesetzt. An-
Körpers als Funktion des Abstands von einem ziehend wirken elektrostatische Kräfte, insbe-
Kraftzentrum. Das Kraftzentrum kann eine an- sondere zwischen ungleich geladenen Ionen.
ziehende oder abstoßende Wirkung haben. Es Abstoßend wirkt insbesondere das Pauli-Prin- 4-17
Potenzialbegriff. Von
hat sich eingebürgert, als tiefsten Punkt der po- zip, das verhindert, dass sich die Elektronen- einem Potenzial spricht
tenziellen Energie das anziehende Kraftzentrum hüllen der Atome durchdringen können. In man dann, wenn sich
zu nehmen und den Nullpunkt ins Unendliche zu der Summe ergibt sich ein Potenzialverlauf jedem Punkt eines Feldes
eindeutig ein Energiewert
verlegen. Um einen Körper von diesem Zentrum (rote Kurve), der bei größerem Abstand nega-
zuordnen lässt, wie dies
zu entfernen, muss also Energie aufgewendet tiv ist (also bei Annäherung wird Energie frei, z.B. für einen Stein oder
werden, die Potenzialkurve verläuft vom Negati- die Annäherung geschieht „von selbst“), bei den Mond im Schwere-
ven in Richtung Nulllinie (blaue Kurve in Abbil- feld der Erde der Fall ist.
engerem Zusammenrücken aber positiv wird
Der Energieunterschied
dung 4-16). Umgekehrt muss zur Annäherung an (man muss die Atome zur weiteren Annäherung zwischen zwei Punkten
ein abstoßendes Zentrum Energie aufgewendet „zwingen“). Bei einem Abstand r0 heben sich in einem solchen Feld ist
werden. Die Kurve verläuft in diesem Fall vom beide Tendenzen auf, r0 ist daher der Bindungs- unabhängig vom Weg,
der bei der Bewegung
negativen Unendlichen gegen null (grüne Kurve). abstand eines Moleküls. von Punkt A zum Punkt B
durchlaufen wird.

131
KAPITEL 4 Demokrits Erben

Pauli-Prinzip konkrete Form der kombinierten Wellenfunk-


tion einzugehen, bedeutet das: Ψe1,e2 = – Ψe2,e1.
Der österreichische Physiker WOLFGANG PAULI Offensichtlich können beide Elektronen unmög-
identifizierte 1925 als erster den Spin als eine lich den gleichen Zustand haben; es muss gelten:
vierte Quantenzahl s, die das Elektron charak- n1 ≠ n2 usw. Wäre nämlich alle Quantenzahlen
terisiert und nur zwei Werte annehmen kann. gleich, dürfte sich durch eine Vertauschung der
Um die detaillierte Struktur der Atomspektren Elektronen nichts ändern, auch nicht das Vorzei-
zu erklären, postulierte er das heute Pauli-Prin- chen der Wellenfunktion! Elektronen mit exakt
zip genannte Ausschlussprinzip: In einem Atom gleichem Zustand können demnach in der realen
(oder in jedem anderen abgeschlossenen System) Welt nicht vorkommen.
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muss sich jedes Elektron in mindestens einer Bei Teilchen mit ganzzahligem Spin behält
Quantenzahl von den anderen unterscheiden. die kombinierte Wellenfunktion ihr Vorzeichen,
Wie wir noch sehen werden, ist mit Hilfe des Vertauschungen von Teilchen bleiben also ohne
Pauli-Prinzips das Periodensystem der Elemente Wirkung. Teilchen mit ganzzahligem Spin kön-
einfach erklärbar. nen sich alle im gleichen Zustand befinden. Dies
Eine exakte Begründung ist nur im Rahmen ist eine wichtige Eigenschaft, auf die wir noch
4-18 der sogenannten Quantenfeldtheorie möglich, zurückkommen werden.
Welt ohne Pauli-Prinzip? aber das Prinzip hängt mit einer Konsequenz der
Die Tatsache, dass wir
quantenmechanischen Beschreibung von Teil- Bosonen, Fermionen und die
trotz weitgehend aus
Leerraum bestehenden chen zusammen, die man aus der klassischen Ausgedehntheit der Materie
Atomen nicht durch Physik nicht kennt. In der klassischen Physik
Wände gehen können, sind zwei Teilchen immer unterscheidbar. Selbst Mit der Weiterentwicklung der Quantenphysik
lässt sich auf das Pauli-
Prinzip zurückführen. wenn sie sich bezüglich Masse, Form, Größe, erkannte man, dass nicht nur Elektronen einen
Geschwindigkeit und so weiter exakt glichen, Spin besitzen, sondern auch alle anderen Ele-
gäbe es doch einen Unterschied: Sie können mentarteilchen. Der Wert der Spinquantenzahl
nicht zugleich am selben Ort sein. Man müsste s ist aber für jede Teilchenart konstant und un-
sich nur merken, welches Teilchen links und veränderlich. Bei den sogenannten Fermionen
welches rechts ist, und sie dann nicht mehr aus ist s = ±1/2, bei den Bosonen nimmt s ganzzahlige
Fermionische
den Augen verlieren. Wie sieht es aus quan- Werte an. Zu den Fermionen gehören alle Ele-
Materie
tenmechanischer Sicht aus? Aufgrund der Un- mentarteilchen, die unsere makroskopische Welt
Elektron e– schärferelation können wir den genauen Ort bestimmen: Elektronen, Protonen und Neutro-
Proton p+
Neutron n0 eines Teilchens nicht wissen (ohne bezüglich nen. Da jedes Teilchen mit einem halbzahligen
anderer Größen unsicher zu sein). Also hilft Spin dem Pauli-Prinzip unterliegt, können nicht
uns bei ansonsten gleichen Teilchen die Ortsan- nur Elektronen, sondern auch Protonen und
gabe nichts. Alles, was wir wissen können, sind Neutronen (und ihre Bestandteile, die Quarks)
die beiden Wellenfunktionen der Teilchen. Und keine gemeinsamen Quantenzustände einneh-
wären beide gleich, gäbe es keine Möglichkeit, men. Dies ist der Grund für die Ausgedehntheit
beide Teilchen zu unterscheiden. Jemand könnte der Materie: Zwei Atome können sich nicht
sie vertauschen, ohne dass wir es merkten! Aber beliebig nahe kommen, da bei der Überlagerung
können die Wellenfunktionen zweier Teilchen ihrer Elektronenhüllen zu wenig Quantenzu-
überhaupt gleich sein? stände für alle Elektronen frei wären. Das Ergeb-
Das kommt auf die Teilchenart an. Bei Teil- nis ist eine bei zunehmender Annäherung steil
chen mit ganzzahligem Spin geht es, bei solchen ansteigende Abstoßungskraft zwischen Atomen
mit halbzahligem geht es nicht, also auch nicht (ÅࡳAbbildungen 4-16 und 4-17, Seite 131).
bei Elektronen. Aus Gründen, die wir hier nicht Zu den Bosonen zählen alle Teilchen, die
erörtern können, ist nämlich die kombinierte Wechselwirkungen („Kräfte“ im klassischen
Wellenfunktion zweier Teilchen mit halbzahli- Sinn) vermitteln, also das Photon der elektro-
gem Spin so beschaffen, dass sie bei der Vertau- magnetischen Wechselwirkung sowie die Gluo-
schung beider das Vorzeichen wechselt. „Ver- nen der starken Wechselwirkung, welche Quarks
tauschung“ heißt hier einfach, dass man überall in Protonen und Neutronen binden. Ebenso die
dort, wo die Quantenzahlen für Elektron 1 ste- sogenannten Weakonen der schwachen Wechsel-
hen, die von Elektron 2 einsetzt. Ohne auf die wirkung. Das hypothetische Graviton, der Ver-

132
Erde, Wasser, Luft und Feuer

mittler der Gravitationskraft, hat einen Spin


s = 2, für alle anderen gilt s = 1. Für Bosonen
gilt das Pauli-Prinzip nicht, das heißt, sie können
gemeinsam einen Quantenzustand einnehmen. 5
4
3D 5/2 3D 5/2 2
1
Bei näherem Hinsehen... 3P 3/2 3D 3/2 3P 3/2 3D 3/2 3 +1/2 2
1
3 5/2 2, 3 ±1/2 1
3/2 0
1 −1/2
Bei höherer Auflösung der Messungen sind die 3S 1/2 3P 1/2 1/2 3S 1/2 3P 1/2 0 +1/2
1
0
Spektrallinien der Atome noch etwas feiner un-
2
terteilt. Auch ohne angelegtes Magnetfeld er- 2 2 P 3/2 3/2 2 P 3/2 1 +1/2 1
1
kennt man statt der Linien, die den Werten der 2 S 1/2
0 −1/2
Hauptquantenzahl n entsprechen, wesentlich 2 S 1/2 2 P 1/2 1/2 2 P 1/2

feinere Linien (ÅࡳAbbildung 4-19). 1 −1/2


0
1
Sie entstehen durch Effekte, die in dem ein-
fachen Modell, auf das wir uns bisher bezo- 0

gen haben, nicht berücksichtigt sind. So haben 1


wir nicht bedacht, dass die Geschwindigkeit 1 S 1/2 1/2
1 S 1/2 0 +1/2 1
0
der Elektronen durchaus in einem Bereich liegt,
in dem relativistische Effekte eine Rolle spie- Bohr Feinstruktur Lamb-Verschiebung Hyperfeinstruktur
len. Das bedeutet, dass die Massenzunahme der Lösungen der Spin-Bahn-Kopplung Strahlungs- Spin-Spin-Kopplung
Elektronen aufgrund ihrer Geschwindigkeit be- Schrödinger-Gleichung und relativistische korrektur (QED) (Energieskala 100fach
ohne Spin. Korrektur gestreckt)
rücksichtigt werden muss. 1928 entwickelte der Entartung:
britische Physiker PAUL DIRAC (1902 – 1984) eine
relativistische Form der Schrödinger-Gleichung, 4-19
die diesen Effekten Rechnung trägt. Die Be- Die einfache Form der Schrödinger-Glei-
rücksichtigung der relativistischen Masse des chung von Atomen behandelt Elektronen nur als unendlich kleine Massepunkte. Kom-
plexere Versionen berücksichtigen auch relativistische Effekte und die magnetische
Elektrons senkt die Energieniveaus der inneren Kopplung zwischen „Bahn“drehimpuls und Spin des Elektrons und erklären die zu
Elektronen etwas ab, da sie näher an den Kern beobachtende Aufspaltung der Grundniveaus. Die sogenannte Lamb-Verschiebung
heranrücken. Gleichzeitig hebt sie die Niveaus berücksichtigt zudem Vakuumfluktuationen des (gequantelten) elektromagnetischen
Feldes, und die Hyperfeinstruktur schließlich berücksichtigt unter anderem Einflüsse
der äußeren etwas an, da die Kernladung durch des Kernmagnetfeldes auf das Elektron. Sprünge zwischen den Niveaus der Hyper-
die inneren Elektronen stärker abgeschirmt wird. feinstruktur erzeugen sehr konstante Impulse, die man für die Zeitmessung in Atom-
Zudem kommt es zur sogenannten Spin-Bahn- uhren verwendet.
Kopplung, also zu einer Abhängigkeit zwischen wirkung führt dazu, dass nicht die einzelnen
Bahndrehimpuls und Spin eines Elektrons. Sie Drehimpulse eines Elektrons zählen, sondern der
müssen zusammengefasst werden zu einem Ge- Gesamtdrehimpuls J aller Elektronen:
samtdrehimpuls Jel = Lel + Sel. Die Quantenzahl
j des Gesamtdrehimpulses kann für jeden Wert
l > 0 des Bahndrehimpulses zwei Werte anneh- Die Summierung geschieht nicht über den Ge-
men: Jel = l ±1/2. Jedes Niveau spaltet sich also samtdrehimpuls Jel eines Elektrons, sondern über
(auch ohne Existenz eines äußeren Magnetfeldes) Bahndrehimpuls und Spin getrennt. Diese soge-
auf in zwei relativ eng beieinanderliegende Ni- nannte LS-Kopplung führt zu einer Verschiebung
veaus. Anschaulich gesprochen kommt der Kop- der Energieniveaus, abhängig von den Quanten-
peleffekt dadurch zustande, dass sich aus Sicht zahlen l, s und j
des Elektrons der positiv geladene Kern bewegt Weitere Aufspaltungen der Energieniveaus
und dadurch ein Magnetfeld erzeugt (aus Sicht entstehen durch virtuelle Teilchen und Vakuum-
des Kerns ist es genau anders herum). Je nach fluktuationen, die erst mit Hilfe der Quanten-
Orientierung (Spin) des Elektrons erhöht oder feldtheorien beschrieben werden können (ÅࡳWel-
erniedrigt das Feld die Energie des Elektrons. In lenfunktionen und Quantenfelder, Seite 431).
Atomen mit wenigen Elektronen ist die Wech- Ihre Effekte sind um etwa eine Größenordnung
selwirkung zwischen den Elektronen aufgrund kleiner als die der Spin-Bahn-Kopplung. Um den
ihrer elektrischen Felder stärker als der Effekt Faktor 1000 kleiner sind Kopplungen zwischen
der Spin-Bahn-Kopplung. Auch diese Wechsel- dem Magnetfeld des Kerns und dem der Elek-

133
KAPITEL 4 Demokrits Erben

tronen sowie Effekte durch die Inhomogenität diese Körnigkeit in sehr kleinem Maßstab sogar
der Ladungsverteilung im Kern. Ähnlich wie bei für Raum und Zeit... (Å Kapitel 10).
der Spin-Bahn-Kopplung können sie beschrieben

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werden durch einen Gesamtdrehimpuls F, der
Elektronendrehimpuls J und Kerndrehimpuls Das moderne Atommodell
I verbindet: F = J + I. Die zugehörigen Quan-
tenzahlen f sind ganzzahlig und bewegen sich
zwischen |j+i| ... |j-i|; für jeden Wert von j gibt es Orbitalmodell
also mehrere Aufspaltungen der Niveaus.
4-20 Wir haben bisher sehr allgemein über die Wel-
Gleichheit. Zwei Äpfel Gleichheit lenfunktion eines Elektrons im Atom gesprochen
sind „gleich“, aber doch und darüber, wie aus deren Form die Spektralli-
eben nicht ganz. Warum
aber ist reines Wasser im- Die frühere mangelnde Akzeptanz der Atomthe- nien der Elemente entstehen. Aber wie sieht die
mer gleich? Warum sind orien lag auch darin begründet, dass Anzahl und Gesamtwellenfunktion eines Atoms mit mehre-
zwei Goldatome nicht nur Formen der Atomarten völlig willkürlich schie- ren Elektronen aus? Und wie ergeben sich daraus
fast gleich, sondern ganz
genau gleich? Warum gibt nen. Was war gewonnen, wenn man tausend die chemischen Eigenschaften der Elemente?
es also bestimmte defi- verschiedene Atomarten einführte, um tausend Lässt sich die Ähnlichkeiten von Elementen und
nierte Elemente und nicht Materialeigenschaften zu erklären? Der Atomis- damit das Periodensystem mit dem Aufbau der
etwa eine kontinuierliche
Variation in den Eigen-
mus setzte sich im Gefolge des mechanistischen Gesamtwellenfunktion erklären?
schaften der Stoffe? Weltbildes durch, weil es letzten Endes doch Leider lässt sich die Schrödinger-Gleichung
gelang, eine kompakte Zahl atomarer Elemente bei den Elementen außer dem Wasserstoff nicht
zu definieren, mit deren Hilfe man recht gut die mehr exakt lösen, zu komplex sind die Wech-
materielle Welt beschreiben konnte. Am Ende selwirkungen zwischen den Elektronen. Es gibt
konnte man sogar den Aufbau der Atome selbst jedoch Näherungsverfahren, die dank schneller
4-21 entschlüsseln. Sie waren nicht unteilbar, sondern Computer inzwischen höchst präzise Ergebnisse
Atomorbitale. Unter ei- bestanden aus Kernen, um die Elektronen „krei- liefern. In vielen Fällen genügt bereits die Be-
nem Orbital versteht man
über Wahrscheinlichkeiten sen“. Das „atomare Sonnensystem“ hatte aller-

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definierte Aufenthaltsbe- dings eine zentrale Schwäche: So wenig, wie ein
reiche von Elektronen in Sonnensystem dem anderen gleicht, könnte ein
Atomhüllen. Sie werden
durch eine dreidimensio- Atom dem anderen gleichen. Aber offensichtlich
nale Wellenfunktion defi- gibt es gleichartige Atome! Dies ist eine Folge der
niert und sind vergleichbar Quantelung von Ort, Impuls und Energie der
den Schwingungen einer
Saite im eindimensionalen
subatomaren Teilchen. Anstelle eines beliebigen
bzw. einer Trommelmem- Spektrums von Werten sind nur ganz bestimmte
bran im zweidimensio- Werte möglich. Alle Teilchen in einem bestimm-
nalen Fall. Außer beim
ten Zustand haben genau diese Werte. Inzwi-
Wasserstoffatom besitzen
die möglichen Arten von schen ist klar, dass die „Körnigkeit“ für jede Art
Orbitalen einer Elektro- von Energie gilt, auch für Licht. Die Quantelung
nenschale (als s-, p-, d-,
physikalischer Größen garantiert, dass Atome
f-Orbitale bezeichnet)
etwas unterschiedliche und Elementarteilchen jeweils exakt gleich und
Energien. ununterscheidbar sein können. Und vielleicht gilt
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4-22
Radiale Verteilungsfunktion. Aus der Wellenfunktion
kann man die radiale Verteilungsfunktion berechnen. Sie
gibt die Aufenthaltswahrscheinlichkeit des Elektrons in
einem bestimmten Kernabstand an. a0 ist der sogenannte
Bohrsche Radius. Ihn erhält man im Bohrschen Modell als
Bahnradius auf dem tiefsten Energieniveau (n = 1).
s-Orbitale (l = 0) haben einen Hochpunkt nahe am Kern,
p-Orbitale (l = 1) immer außerhalb. Man erkennt, dass
mit wachsendem n das Elektron meist weiter weg vom
s p d f Kern zu finden ist.

134
Erde, Wasser, Luft und Feuer

rechnung der Wellenfunktion der Elektronen und kernnah, p-, d- und f-Orbitale haben eine
mit der größten Hauptquantenzahl n, da sie am sehr komplexe geometrische Struktur und sind
weitesten vom Atomkern entfernt und damit in einer gegebenen Schale stets weiter vom Kern
für chemische Reaktionen entscheidend sind. entfernt als das s-Orbital (Å Abbildung 4-22).
In der einfachsten Näherung werden die innen Aus der Form der Orbitale wird deutlich, wie
liegenden Elektronen pauschal als zusätzliche sehr der Begriff „Bahn“ hinkt, wenn man ver-
„negative Ladung“ des Kerns berücksichtigt, die sucht sich vorzustellen, welche Haken ein Elek-
die positive Kernladung abschirmt. tron schlagen müsste, um in der Spur zu bleiben.
Unter Berücksichtigung der oben beschriebe-
nen Effekte kann man ein Modell der Elektro- Das Auffüllen von Orbitalen
nenhülle der Atome aufstellen, das die meisten
der chemischen und physikalischen Eigenschaf- Ein neutrales Atom besitzt ebenso viele Elektro-
ten der Elemente und den Aufbau des Perioden- nen in den Schalen wie Protonen im Kern. Wie
systems erklärt. Es ist bekannt unter dem Namen verteilen sich nun diese Elektronen auf die Scha-
Orbitalmodell. len, Unterschalen und Orbitale? Generell werden
die Elektronen sich auf dem tiefsten möglichen
Von Schalen und Orbitalen Energieniveau anordnen, idealerweise also im
Zustand (n, l, m) = (1, 0, 0), dem 1s-Orbital. Auf-
Die Hauptquantenzahl n bestimmt primär die grund des Pauli-Prinzips können sich jedoch
Energie eines Elektrons. Gleichzeitig wächst mit maximal zwei Elektronen diesen Zustand teilen.
wachsendem n auch sein Abstand vom Atom- Ist dieser besetzt, muss das nächste Elektron auf
kern. Man spricht deshalb von unterschiedli- die L-Schale (n = 2) ausweichen und so fort. Das
chen Schalen, auf denen sich die Elektronen je Elektron des Wasserstoffs (H) findet bequem im
nach Quantenzahl n bewegen, und bezeichnet 1s-Orbital Platz, auch das zusätzliche Elektron
sie fortlaufend mit Großbuchstaben K, L, M des nächsten Elements Helium (He) passt noch
etc. Innerhalb einer Schale unterscheiden sich hinein. Lithium mit 3 Elektronen besetzt das
die Elektronen durch ihren Bahndrehimpuls l. 1s-Orbital mit zwei Elektronen, das dritte findet
Den jeweiligen Werten von l entsprechen ver- auf dem energetisch folgenden 2s-Orbital Platz.
schiedene Unterschalen im Orbitalmodell. Man Generell wächst die Energie mit steigender Un-
bezeichnet sie mit den Kleinbuchstaben s, p, d terschale s → p → d → f innerhalb einer Schale,
und f (höhere Werte von l sind zwar möglich, allerdings können sich Schalen auch überlappen,
werden aber aus energetischen Gründen bei den so dass mit dem s-Orbital einer oberen Schale
heute bekannten Elementen nicht belegt). n, l begonnen wird, obwohl die eigentlich darunter
und die Magnetquantenzahl m legen zusam- liegende Schale noch nicht voll besetzt ist.
men die Form der Wellenfunktion fest. Da das In den Unterschalen p, d, f haben die Elektro-
Quadrat dieser Funktion den wahrscheinlichen nen die Wahl zwischen mehr als einem Orbital,
Aufenthaltsbereich des Elektrons bestimmt, ist aufgrund der verschiedenen möglichen Werte der
4-23
damit gewissermaßen die „Bahn“ des Elektrons, Quantenzahl m. Es wird zunächst jedes Orbital Überlappende Schalen.
das sogenannte Orbital, festgelegt. Die räumli- einfach besetzt, bevor mit dem zweiten Elektron Bei Atomen mit meh-
che Form dieser Orbitale hängt vor allem von aufgefüllt wird. Aufgrund der unterschiedlichen reren Elektronen kön-
nen sich die Schalen
l und m ab. s-Orbitale (l = 0) sind kugelförmig räumlichen Orientierungen der Orbitale kann so überlappen. Vergrößert
gezeigt ist der Bereich
um die Kernladungs-
zahl Z = 20 (Calcium).
Da das s-Orbital der
4. Schale hier energe-
tisch tiefer liegt als das
3d-Orbital, wird bei
Kalium (K) und Cal-
cium (Ca) zunächst 4s
gefüllt, erst beim näch-
sten Element Scandium
(Sc) mit Z = 21 geht es
wieder in der dritten
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Schale weiter.

135
KAPITEL 4 Demokrits Erben

Element Z K (1) L (2) M (3) N (4) O (5) P (6) Q (7) Schreibweise


s s p s p d s p d f s p d f s p d f s
Wasserstoff (H) 1 1 1s 1
Helium (He) 2 2 1s2
Lithium (Li) 3 2 1 [He]2s1
Sauerstoff (O) 8 2 2 4 [He]2s22p4
Neon (Ne) 10 2 2 6 [He]2s22p6
Natrium (Na) 11 2 2 6 1 [Ne]3s1
Schwefel (S) 16 2 2 6 24 [Ne]3s23p4
Argon (Ar) 18 2 2 6 26 [Ne]3s23p6
Kalium (Ka) 19 2 2 6 26 1 [Ar]4s1
Eisen (Fe) 26 2 2 6 266 2 [Ar]3d64s2
Krypton (Kr) 36 2 2 6 2 6 10 26 [Ar]3d104s24p6
Silber (Ag) 47 2 2 6 2 6 10 2 6 10 1 [Kr]4d105s1
Xenon (Xe) 54 2 2 6 2 6 10 2 6 10 26 [Kr]4d105s25p6
Platin (Pt) 78 2 2 6 2 6 10 2 6 10 14 269 1 [Xe]4f145d96s1
Gold (Au) 79 2 2 6 2 6 10 2 6 10 14 2 6 10 1 [Xe]4f145d106s1
Radon (Rn) 86 2 2 6 2 6 10 2 6 10 14 2 6 10 26 [Xe]4f145d106s26p6
Uran (U) 92 2 2 6 2 6 10 2 6 10 14 2 6 10 3 261 2 [Rn] 5f36d17s2

die Entfernung der einander abstoßenden Elek- von Elementen und damit eine Begründung für
tronen maximiert werden (was die potenzielle die Anordnung der Elemente im Periodensystem
Energie verringert). Bei der einzelnen Besetzung (siehe nächsten Abschnitt). So verfügen die sehr
eines Orbitals orientieren sich die Spins der Elek- reaktionsfreudigen Alkalimetalle Lithium, Nat-
tronen so, dass die Zahl der gleichen Spins im rium und Kalium alle über ein Elektron in einer
Atom maximal ist (Hundsche Regel). ansonsten leeren Schale. Dieses Elektron sitzt im
Für die Elektronenkonfiguration der Ele- Vergleich zu den anderen Elektronen sehr „lo-
mente gibt es im Orbitalmodell eine einfache cker“, es kann leicht vom Atom gelöst werden.
Schreibweise. Man schreibt die Unterschalen Je leichter Außenelektronen eines Metalls abge-
beginnend mit der ersten Schale hintereinander, geben werden können, desto reaktionsfreudiger
wobei man für jede Unterschale die besetzten ist es. Umgekehrt verfügen die Edelgase über ab-
Orbitale angibt. Möchte man zusätzlich die Ver- geschlossene Schalen oder zumindest abgeschlos-
teilung der Elektronen auf die jeweiligen Orbi- sene Unterschalen. Ihre Elektronen sind schwer
tale einer Unterschale darstellen, so schreibt man vom Atom zu lösen, ihre Ionisierungsenergie
zum Beispiel für Schwefel: [Ne]3s23px23py13pz1. ist also hoch (ÅKasten Ionisierungsenergie und
Die oben stehende Tabelle gibt bereits einen Elektronenaffinität, Seite 146), Edelgase sind
ersten Einblick in die Ursache der Ähnlichkeiten daher sehr reaktionsträge. —

Warum Gold gelb und Quecksilber flüssig ist

Elektronen in s-Orbitalen sind besonders häufig in Kernnähe heben sich. Dies hat Folgen für die chemischen und mechani-
anzutreffen. Da die Geschwindigkeit aufgrund der stärkeren schen Eigenschaften der Elemente. So sollte Quecksilber bei
elektrostatischen Anziehung mit zunehmender Kernnähe Raumtemperatur fest sein, indem es durch eine Überlagerung
und -ladung zunimmt, spielen relativistische Effekte eine der s- und p-Orbitale (ÅAbbildung 4-21, Seite 134) Kristall-
Rolle. So sind die kernnahen Elektronen des Quecksilbers gitter bildet. Aufgrund der kleineren s-Orbitale passen jedoch
und Goldes durch ihre rasende Bewegung um ca. 23 Prozent beide nicht mehr richtig zusammen, die Bindungskräfte sind
schwerer als im Ruhezustand. Sie erreichen etwa 58 Prozent zu schwach, um den festen Zustand zu gewährleisten. Gold
der Lichtgeschwindigkeit. Die s-Elektronen rücken dadurch ist aus ähnlichem Grund gelb statt silbern, wie es ohne relati-
näher an den Kern heran, ihre Energieniveaus senken sich vistische Effekte sein sollte. Das durch s-Elektronen gebildete
entsprechend. Da sie so die positive Kernladung stärker ab- Leitungsband rückt näher an das durch d-Elektronen gebil-
schirmen, wandern die Elektronen auf den anderen Orbitalen dete Valenzband heran. Dadurch wird blaues Licht absorbiert,
(vor allem d und f) weiter nach außen, ihre Energieniveaus und Gold leuchtet in der Komplementärfarbe gelb.

136
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Elemente im Periodensystem ßeren Schalen eines Atoms auch entscheidend


für die Bindungen sind, die es eingeht. Obwohl
Ein Schema erklärt die Materie also die meisten Eigenschaften überhaupt nicht
an einzelnen Atomen auftreten, gehen sie doch
Grundsätzlich kann man die Eigenschaften von indirekt auf atomare Eigenschaften zurück. Die
Elementen in zwei Kategorien einteilen: erstens möglichen makroskopischen Eigenschaften wer-
die Grundeigenschaften wie etwa Ordnungszahl den also letztlich völlig vom Bau der Atome
(und damit Atommasse), Kernmagnetismus oder bestimmt. Einige Eigenschaften erschließen sich
Elektronegativität. Dies sind Eigenschaften der schon aus dem Atommodell des NIELS BOHR,
Atome selbst. Sie finden sich auch dann wieder, das noch zum Teil in der klassischen Denkweise
wenn das Atom als Bestandteil einer Verbin- verwurzelt war. So haben wir gesehen, dass sich
dung oder eines Kristalls auftritt, und sie können das Spektrum von Wasserstoff damit in groben
selbst an isolierten Atomen gemessen werden. Zügen beschreiben lässt. Will man allerdings die
Die zweite Kategorie von Eigenschaften be- Feinheiten modellieren und komplexere Mate-
zieht sich auf ein Element als einfache Substanz. rieeigenschaften ableiten, so führt kein Weg am
Ein einzelnes Goldatom oder Schwefelatom quantenmechanischen Atommodell HEISENBERGs
etwa besitzt keine gute oder schlechte elektrische und SCHRÖDINGERs vorbei. Auf quantenmecha-
Leitfähigkeit, keine Duktilität oder Sprödigkeit. nischen Näherungsrechnungen basierende Com-
Ebenso sind gelbe Farbe oder Glanz nichts, was puterprogramme können heute einige der gemes-
man für Atome sinnvoll definieren könnte. Sol- senen Eigenschaften von Stoffen näherungsweise
che Eigenschaften (im englischen als Bulk-Eigen- berechnen.
schaften bezeichnet), treten erst durch die Wech- Ein periodisches System der Elemente (kurz:
selwirkungen zwischen einer größeren Gruppe PSE), das etwa seiner heutigen Form entspricht,
(Cluster) von Teilchen auf. Bei Anordnungen nur wurde erstmals um 1869 etwa gleichzeitig von
weniger Atome hängen sie sogar stark von der DMITRI IWANOWITSCH MENDELEJ EW (1834 – 1907)
E EW
Größe der Clustergröße ab. Erst bei sehr vielen und LOTHAR MEYER (1830 – 1895) aufgestellt.
Teilchen nehmen sie die Werte an, die man an Im PSE wurden die Elemente zunächst nach
makroskopischen Körpern aus dem betreffenden aufsteigender Massenzahl geordnet. Dabei stellte
Material misst. Doch nicht nur die Anzahl der man Elemente mit ähnlichen Eigenschaften un-
Teilchen ist entscheidend, sondern auch deren tereinander. Solche Spalten ähnlicher Elemente
genaue Anordnung und der Bindungszustand. werden auch Gruppen genannt. Zeilen im Peri-
Daher sind solche Materieeigenschaften nur für odensystem heißen Perioden. Als zu Beginn des
bestimmte Aggregatzustände (genauer: Phasen) zwanzigsten Jahrhunderts der Atombau ent-
gültig. Unterschiedliche Kristallstrukturen oder schlüsselt wurde, stellte sich heraus, dass das
amorphe glasartige Anordnungen können sie völ- eigentliche Ordnungskriterium gar nicht die
lig verändern (es sei hier nur an die Kohlenstoff- Atommasse ist, sondern die damit ungefähr pro-
modifikationen Diamant und Graphit erinnert, portional steigende Anzahl positiver Ladungen 4-24
die unterschiedlicher nicht sein könnten). Auch (Protonen) im Atomkern, die daher auch als Mendelejew. Briefmarken-
Sonderausgabe der UdSSR
wenn sich Atome mit anderen zu Molekülen, Io- Ordnungszahl bezeichnet wird. Die für die 1969 zum 100-jährigen
nenkristallen oder Legierungen zusammenlagern, Masse ebenfalls bedeutenden Neutronen in allen Jubiläum der Entdeckung
haben deren Eigenschaften zweiter Kategorie Atomkernen außer dem Wasserstoffkern sind des Periodensystems.
nichts mit den an Reinelementen beobachteten nicht entscheidend für das chemische Verhalten.
zu tun. Die rötliche Färbung und hohe Leitfähig- Neutrale Atome – und nur auf solche bezieht
keit elementaren Kupfers verschwindet in seinen sich das PSE – müssen natürlich genau so viele
Verbindungen ebenso wie die Aggressivität des Elektronen in ihrer Hülle besitzen, wie ihrer
Fluors in dessen harmlosen Salzen. Kernladungszahl (Ordnungszahl) entspricht.
Wenn wir trotzdem davon sprechen, dass Ihre Verteilung auf die unterschiedlichen Schalen
Elemente ähnlicher Eigenschaften im Perioden- und Orbitale ergibt sich aus der Lage der Ener-
system jeweils in Gruppen übereinander ange- gieniveaus im Atom, die wir bereits angespro-
ordnet wurden und dass diese Ähnlichkeit einen chen haben.
ähnlichen Atombau widerspiegeln, dann liegt Aus den Quantenzahlen und dem Pauli-Prin-
dies daran, dass die Elektronenstruktur der äu- zip folgt die maximale Zahl von Elektronen, die

137
KAPITEL 4 Demokrits Erben

eine Schale aufnehmen kann (2, 8, 18, 32 etc.). ton, Xenon und Radon kennt man inzwischen
Aus der energetischen Lage der Orbitale folgt Verbindungen, meist zu extrem elektronegativen
aber, dass bei steigender Kernladungszahl zum Partnern wie Fluor, bei denen über die Einglie-
Beispiel die 3d-Orbitale erst nach dem s-Orbital derung eines Elektrons in die Elektronenschale
der nächsthöheren Schale gefüllt werden. Ur- mehr Energie frei wird, als etwa dem Xenon
sache ist der zwischen aufeinander folgenden verloren geht.
Hauptquantenzahlen bei wachsendem n immer
Schwach gebundene
geringer werdende Energieunterschied zwischen Metalle Außenelektronen
den Schalen. Man kann diesen Sachverhalt auch
so ausdrücken: Zustände mit 8 Außenelektronen Elemente, die nur einige wenige Elektronen in
(2 s- und 6 p-Elektronen) sind besonders stabil. ihrer äußersten Schale haben, geben diese leicht
Eine solche Schale, bei der alle s- und p-Orbitale unter Bildung positiver Ionen ab. Der verblei-
besetzt sind, wird als abgeschlossen bezeichnet. bende positiv geladene Atomrumpf (Kation) be-
Dies ist bei den Edelgasen der Fall, weshalb man sitzt dann nach außen die Edelgaskonfiguration
4-25 von Edelgaskonfiguration spricht. Eine Aus- der nächst darunter liegenden Schale. Ein solcher
Ionenarten.
nahme ist das Helium, dessen Elektronenschale Zustand ist für Metallatome wie Natrium, Ka-
Elektrisch positiv geladene (n = 1) nur ein s-Orbital besitzt und bereits mit lium oder Calcium typisch, die im Übrigen rund
Teilchen heißen Kationen zwei Elektronen voll ist. Die Elektronenvertei- 80 Prozent der Elemente ausmachen. Wie wir
Elektrisch negativ ge-
lung (die Summe der Aufenthaltswahrschein- noch sehen werden, erklärt die lockere Bindung
ladene Teilchen heißen lichkeiten der Außenelektronen aus den s- und der Außenelektronen an den Kern auch viele
Anionen p-Orbitalen) ist bei Edelgaskonfigurationen Stoffeigenschaften der Metalle. Atome aus hö-
besonders symmetrisch, nämlich genau kugel- heren Perioden wie Rubidium und Cäsium links
Anionen sind typischer-
weise deutlich größer als förmig. Obwohl Edelgase gewöhnlich als achte unten im Periodensystem gehören quasi zu den
Kationen. Gruppe ins Periodensystem eingeordnet werden, „typischsten“ Metallen, denn bei ihnen sind die
wollen wir sie hier als erste behandeln, denn bis einzelnen Außenelektronen (Valenzelektronen)
zu einem gewissen Grad kann das Verhalten aller wegen des großen Kernabstands am lockersten
anderen Elemente aus ihrem Bestreben erklärt gebunden.
werden, eine den Edelgasen ähnliche Elektro-
nenanordnung zu erreichen. Nichtmetalle Elektronenlücken

Edelgase Fehlen hingegen nur wenige Elektronen zur


Komplettierung einer 8er-Schale, so ist die Bil-
Oxidation
Konfiguration: He: 1s2, dung negativer Ionen (Anionen) durch Elek-
Oxidation ist Elektronen-
andere ...[n]s2 p6 tronenaufnahme begünstigt. Dieses Verhalten
abgabe.
Oxidationsstufe: 0 zeigen typischerweise Nichtmetalle wie Fluor,
Reduktion
Reduktion ist Elektronen-
Chlor oder Sauerstoff. Das Auffüllen einer Elek-
aufnahme. tronenlücke in der 8er-Schale unter Bildung von
He Ne Ar Kr Xe Rn Anionen bringt bei den ersten Perioden den
Oxidationsstufe
Kennzeichnet die in einer
höchsten Energiegewinn. Deshalb finden sich die
Verbindung gegenüber Die Edelgase Helium, Neon, Argon, Krypton, typischsten Nichtmetalle rechts oben im Perio-
dem Atom veränderte Xenon und das radioaktive Radon bilden die densystem (die Spalte mit den Edelgasen bleibt
Elektronenzahl.
VIII. und letzte Hauptgruppe des Periodensys- hierbei natürlich unberücksichtigt).
tems. Diese Elemente sind quasi Prototypen von
Atomen, die untereinander sehr wenig wechsel- Hauptgruppenelemente
wirken. Das weitgehende Fehlen interatomarer
Kräfte bedingt alle typischen Eigenschaften von
Edelgasen wie sehr niedrige Siedepunkte und Auffüllung der
die Bildung einatomiger Gase. Sie sind nicht s- und p-Orbitale
brennbar, geruch- und geschmacklos und ungif-
tig. Eigentlich sollten diese Elemente überhaupt
keine Verbindungen bilden, und die leichteren Elemente, bei denen mit fortschreitender Ord-
von ihnen halten sich daran auch. Nur von Kryp- nungszahl formal ein s- oder p-Elektron hinzu-

138
Erde, Wasser, Luft und Feuer

kommt, werden als s-Elemente bzw. p-Elemente Wasserstoff und Alkalimetalle


und gemeinsam als Hauptgruppenelemente be-
zeichnet. Entsprechend der Zahl ihrer Außenelek-
tronen unterscheidet man deshalb acht Haupt- Konfiguration: ...[n]s1
gruppen, die mit römischen Zahlen I– VIII durch- Oxidationsstufe: +1

nummeriert werden. Einige haben gebräuchliche


Eigennamen, während andere nur durch ihre
obersten zwei Mitglieder bezeichnet werden. H Li Na K Rb Cs Fr*
Wir wollen einige für die Hauptgruppen ty- (* nur radioaktive Isotope)
pischen Eigenschaften hier kurz ansprechen. In
den meisten Fällen ändern sich die genauen Werte Aus der I. Hauptgruppe, der Gruppe von Ele-
dieser Eigenschaften innerhalb einer Gruppe von menten mit einem Außenelektron, fällt gleich das
oben nach unten monoton. Insbesondere wächst erste, der Wasserstoff, deutlich aus der Reihe. Da
der Atom- bzw. Ionenradius wegen der hinzu- er als Gas offensichtlich nicht metallisch ist, wird
kommenden Schalen mit jeder Periode an. Bei er auch nicht zu den Alkalimetallen gerechnet.
Elementen, die positiv geladene Ionen (Kationen) Allerdings kann man nachweisen, dass auch Was-
bilden, ist der Ionenradius viel kleiner als der serstoff bei Temperaturen von mehreren tausend
Atomradius, insbesondere wenn alle Elektronen Grad Celsius und einem Druck von ca. 140 GPa
der Außenschale abgegeben wurden. Verstärkt (etwa 1 Million Bar) metallische Eigenschaften
wird dieser Effekt noch, weil die inneren Schalen annimmt (ÅGasplaneten, Seite 460).
bei stärkerer positiver Ladung durch die Cou- Obwohl die restlichen Elemente dieser
lomb-Anziehung kontrahiert werden. Umgekehrt Gruppe – Lithium, Natrium, Kalium, Rubidium,
haben die negativ geladenen Nichtmetallionen Caesium (Francium ist radioaktiv und zerfällt
(Anionen) durch Besetzung von Orbitalen in hö- binnen Minuten) – für den Chemiker wie oben
heren Schalen und durch die Abstoßung von Elek- erwähnt zu den typischsten Metallen überhaupt
tronen gemeinhin viel größere Ionenradien. In zählen, haben sie doch Stoffeigenschaften, die
vielen Gruppen verhält sich das oberste Element man im täglichen Leben nicht sofort mit Metal-
etwas abweichend von den anderen Mitgliedern len assoziiert. Sie sind fast so weich wie Butter
der Gruppe. Dies rührt von seinem sehr kleinen und können daher mit dem Messer geschnitten
Atomradius her und von der durch die stärkere werden. Das Markenzeichen aller Metalle, ihren
Anziehung des Atomkerns deutlich erhöhten Ioni- metallischen Glanz, zeigen sie nur an frischen
sationsenergie. Oft neigen diese Elemente deshalb Schnittstellen. Da sie leicht mit dem Sauerstoff
eher zur Ausbildung kovalenter Bindungen als bzw. der Feuchtigkeit in der Luft reagieren, lau-
zu Ionenbindungen. Ganz besonders gilt das, fen die Schnittflächen schnell an. Auf Wasser
wenn zum Erreichen der Edelgaskonfiguration schwimmen Lithium, Natrium und Kalium we-
gleich mehrere Elektronen abgegeben oder aufge- gen ihres geringen spezifischen Gewichts. Dabei
nommen werden müssten, also für die mittleren reagieren sie aber ungemein heftig, schmelzen, 4-27
Hauptgruppen II, IV und V. fangen von selbst Feuer oder führen wegen des Alkalielemente. Mit ihren
abgestuften Eigenschaften
entstehenden Wasserstoffs sogar zur Explosion. sind sie Paradebeispiele
Haupt- Gruppe Bezeichnung
gruppe (IUPAC) Der Schmelzpunkt der Metalle nimmt von 180 °C für die Erklärungskraft des
beim Lithium bis auf 28 °C beim Cäsium kon- Periodensystems.
I 1 Alkalimetalle
II 2 Erdalkalimetalle tinuierlich ab. Diverse Legierungen zwischen
III 13 Erdmetalle den Metallen sind sogar bei Raumtemperatur
IV 14 Kohlenstoff-Silicium-Gruppe flüssig. Die hohe Reaktivität der Alkalimetalle
V 15 Stickstoff-Phosphor-Gruppe erklärt sich aus ihrem Bestreben, ihr einziges
VI 16 Chalkogene
Außenelektron an andere Stoffe abzugeben. Sie
VII 17 Halogene
sind also extrem starke Reduktionsmittel. Die Al-
VIII 18 Edelgase
kalielemente selbst werden dabei oxidiert (ÅࡳDe-
4-26 finition von Oxidation und Reduktion in der
Hauptgruppen des Periodensystems. Zählung in römi-
Randspalte und Kasten Redox-Reaktion, Seite
schen Zahlen. Arabische Zahlen entsprechen der Num-
merierung nach IUPAC (International Union of Pure and 140). Die Reaktivität nimmt vom Lithium zum
Applied Chemistry). Cäsium hin noch zu. Um sie zu schützen, werden

139
KAPITEL 4 Demokrits Erben

Erdalkalimetalle
Redox-Reaktionen

Die Begriffe Oxidation und Reduktion sind heute nicht mehr an eine Konfiguration: ...[n]s2
Reaktion mit Sauerstoff gebunden, sondern werden viel allgemeiner Oxidationsstufe: +2
für alle Reaktionen mit Elektronenübertragung (Redox-Reaktionen)
benutzt. Dabei treten natürlich beide Reaktionen stets gemeinsam auf:
Ein Stoff gibt die Elektronen ab, der andere nimmt sie auf. Werden wie Be Mg Ca Sr Ba Ra*
bei der Reaktion von Metallen mit Sauerstoff elektrisch neutrale Teil- (* nur radioaktive Isotope)
chen oxidiert, so entstehen daraus positiv geladene Ionen (Kationen).
Neutrale Reaktionspartner werden dabei zu negativ geladenen Ionen Die II. Hauptgruppe des Periodensystems umfasst
(Anionen) umgesetzt. die Elemente Beryllium, Magnesium, Calcium,
Strontium, Barium und das radioaktive Radium.
Ihre Neigung, Elektronen abzugeben, ist deutlich
sie unter Petroleum aufbewahrt oder sogar unter geringer als bei den Alkalimetallen. Wie bei der
Luftausschluß in Glasampullen eingeschmolzen. ersten Hauptgruppe fällt das erste Element Be-
Die Reaktion mit Wasser führt zu Wasserstoffgas ryllium wegen seines extrem kleinen Atom- bzw.
und den Metallhydroxiden (MeOH), also zu ty- Ionenradius im Verhalten deutlich aus der Reihe.
pischen Alkalien oder Basen, deren stark ätzende Auch bei Magnesium besteht noch eine leichte
wässrige Lösungen auch als Laugen bezeichnet Tendenz zu nichtionischen Verbindungen. Die
werden (Natronlauge NaOH, Kalilauge KOH). restlichen bilden typische Ionenverbindungen und
Sie dienen als chemische Grundstoffe für viele Re- liegen in Lösungen als zweifach geladene Me-
aktionen, zum Beispiel zur Seifenherstellung. Vor tallkationen vor. Magnesium und Calcium sind
allem in Schwaben wird NaOH auch zur Her- mit 1,9 bzw. 3,4 Prozent häufig in der Erdkruste
stellung der berühmten Laugenbrezeln benutzt. anzutreffen. Sie sind Bestandteile zahlreicher Mi-
Interessant ist, dass sich Alkalimetalle in flüs- nerale und Gesteine. Ersteres verbrennt mit extrem
sigem Ammoniak (NH3) mit dunkelblauer Fär- heller Flamme zu MgO, weshalb man es früher für
bung lösen. Die Lösung ist elektrisch leitfähig. Blitzlichtbirnchen einsetzte. Calcium ist in Form
Das Außenelektron ist offensichtlich so schwach des Hydroxylapatits Ca5[OH |(PO4)3] der Haupt-
gebunden, dass es durch Ammoniakmoleküle bestandteil der mineralischen Komponenten von
abgelöst wird und sich frei in der Lösung bewe- Knochen und Zähnen und spielt eine große Rolle
gen kann. bei vielen Prozessen in lebenden Zellen, beispiels-
Insbesondere die Elemente Natrium und Ka- weise bei der Nervenleitung. Calciumsalze werden
lium sind wesentliche Bestandteile vieler Gesteine. als Futtermittelzusätze und als Bestandteile von
Sie treten allerdings in der Natur stets in Form Mineraldüngern verwendet. Barium kennt man in
ihrer Ionen auf. Kochsalz ist die Ionenverbindung Form seines Sulfats (BaSO4) als Röntgenkontrast-
aus Natrium und Chlor. Natriumionen und Kali- mittel zur Darstellung des Magen-Darm-Traktes.
umionen sind für Lebewesen in den Körperflüs- In Feuerwerkskörpern verwendet man Strontium
sigkeiten unentbehrliche Elektrolyte und werden für rote und Barium für grüne Effekte.
auch für die Nervenleitung benötigt.
In einer anderen Anwendung sehen wir Alka-
limetalle alljährlich besonders gerne: Ihre Salze
zeigen elementtypische Flammenfärbungen, die
in Feuerwerken zusammen mit denen einiger
Erdalkalimetalle genutzt werden.
H Li Na K Rb Cs Ca Sr Ba
4-28
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Spektren als Fingerabdrü-


cke der Elemente.
Links: Prinzipskizze zur
Entstehung eines Linien-
spektrums über ein
Prisma. Alternativ können
Spektren auch durch Beu-
gungsgitter entstehen.
Rechts: Spektren einiger
Elemente aus der I. und
II. Hauptgruppe. Darüber
sind die typischen Flam-
menfärbungen der Ele-
mente abgebildet. t
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Erdmetalle abgestuft. Die absolute Ausnahmestellung des


Lebenselements Kohlenstoff erklärt sich aus
der Elektronenkonfiguration, die seiner zen-
Konfiguration: ...[n]s2p1 tralen Stellung in Periodensystem entspricht,
Oxidationsstufe: +3 und der für kleine Atome typischen Tendenz zur
Ausbildung von kovalenten Bindungen (Atom-
bindungen), unter anderem mit seinesgleichen.
B Al Ga In Tl Auch das nächste Element der Gruppe, Sili-
cium, besitzt noch einige dieser Eigenschaf-
Die auch als Bor-Aluminium-Gruppe bezeich- ten, wenngleich in viel geringerem Ausmaß.
nete III. Hauptgruppe des Periodensystems ent- Für dieses Element ist seine große Affinität zu
hält das Halbmetall Bor und die Metalle Alumi- Sauerstoff sehr charakteristisch. Neben diesem
nium, Gallium, Indium und Thallium. Der Name kommt es in der Erdkruste mit 27,7 Prozent
der Gruppe leitet sich vom erdigen Aussehen der am zweithäufigsten vor. Es bildet zahlreiche
Oxide ab. Wieder macht Bor mit dem kleinsten gesteinsbildende Minerale, deren wichtigste als
Atom eine Ausnahme und bildet nicht gruppen- Silikate bezeichnet werden. Gewöhnlicher Sand
typische B3+-Ionen, sondern kovalente Bindun- ist Siliciumdioxid (SiO2). Silicium und auch
gen und sogar komplexere Dreizentrenbindun- Germanium dienen in der Computerindustrie
gen aus, auf die wir hier nicht eingehen können. als Basismaterial für die Halbleiterfertigung.
Die höheren Elemente der Gruppe haben eine Zinn und Blei sind uns bereits früher als Me-
verstärkte Tendenz, nicht nur in der Oxidations- talle begegnet, welche die Menschheit seit An-
zahl +3, sondern auch in +1 vorzukommen. Ihre beginn der Zivilisation nutzt.
Elektronen im äußersten s-Orbital haben also
aus energetischen Gründen eine immer geringer Stickstoff-Phosphor-Gruppe
werdende Tendenz, sich an Bindungen zu betei-
ligen. Von der ganzen Gruppe begegnen wir im
Alltag nur dem Aluminium. Mit 8,1 Prozent ist Konfiguration: ...[n]s2p3
es in der Erdkruste das dritthäufigste Element. Oxidationsstufen: +5,–3
Typisch für Aluminium ist seine extrem große
Affinität zu Sauerstoff. Aluminium wird aus
dem oxidischen Mineral Bauxit gewonnen, der N P As Sb Bi
das hauptsächlich in tropischem Klima entste-
hende Endprodukt der Verwitterung vieler alu- Die V. Hauptgruppe des Periodensystems bein-
miniumhaltiger Minerale darstellt. Die Elemente haltet Stickstoff, Phosphor, Arsen, Antimon und
Gallium und Indium werden für die Herstellung Bismut. Die Spannbreite der abgestuften Eigen-
von Halbleitern in der Computerindustrie und schaften ist in dieser Gruppe vom reaktionsträ-
der Solarzellenherstellung eingesetzt. gen Gas Stickstoff bis hin zum Metall Bismut
besonders groß. Alle diese Elemente haben wir
Kohlenstoff-Silicium-Gruppe bereits zu Beginn dieses Kapitels angesprochen.
Hier sei aber noch einmal auf die Bedeutung von
Stickstoff- und Phosphorverbindungen für das
Konfiguration: ...[n]s2p2 Pflanzenwachstum und für den Aufbau vieler
Oxidationsstufen: +2, +4 lebenswichtiger Verbindungen wie der DNA
hingewiesen. Abgesehen von dem nicht direkt
bioverwertbaren Stickstoffmolekül (N2) in der
C Si Ge Sn Pb Luft treten beide häufig zusammen mit Sauer-
stoff in komplexen Säureanionen auf (Nitrat
Die Elemente der IV. Hauptgruppe sind der NO3–, Phosphat PO43–), die Hauptbestandteile
nichtmetallische Kohlenstoff, die Halbmetalle von Düngemitteln sind. Neben dem Stickstoff-
Silicium und Germanium sowie die Metalle kreislauf ist auch der Phosphorkreislauf von
Zinn und Blei. Auch in dieser Gruppe sind die eminenter Bedeutung für alle Lebewesen auf
physikalischen Eigenschaften weitgehend stetig der Erde.

141
KAPITEL 4 Demokrits Erben

Chalkogene rin kommt es allerdings nur als recht harmloses


Fluorid-Anion vor. Als Reinelement (F2-Gas)
ist es so reaktiv, dass böse Chemikerzungen be-
haupten, niemand wisse so genau wie es riecht,
Konfiguration: ...[n]s2p4
Oxidationsstufe: – 2 da es einem schneller die Nase aboxidiert, als
man riechen kann. Tatsache ist, dass Fluor das
reaktionsfähigste Element überhaupt ist. Sogar
O S Se Te Po* gewöhnlicher Sand „verbrennt“ in einer Fluorat-
(* nur radioaktive Isotope) mosphäre. Aber gerade weil bei Verbindungen
mit Fluor so viel Energie frei wird, sind sie oft
Die VI. Hauptgruppe des Periodensystems be- extrem stabil, allen voran das bekannte Teflon
ginnt wieder mit zwei für alle Lebewesen essenzi- der Pfannen. Manche Fluorkohlenwasserstoffe
ellen Elementen, den bereits genannten Sauerstoff sind so stabil, dass man sie sogar wegen ihrer
und Schwefel. Daneben enthält die Gruppe das Fähigkeit, molekularen Sauerstoff zu lösen, als
Halbmetall Selen sowie das Metall Tellur und Blutersatz ausprobiert hat. Leider haben sie sich
das radioaktive Polonium. Die wichtigsten Ele- aber als Zerstörer der Ozonschicht einen zwei-
mente dieser Gruppe, Sauerstoff und Schwefel, felhaften Ruf erworben, denn unter den Bedin-
treten mit Partnern aus den ersten Hauptgrup- gungen der oberen Atmosphäre sind sie doch
pen meist als zweiwertige Anionen auf, wobei nicht stabil genug. Etwas weniger aggressiv, aber
sie ihre Elektronenschale auf die nächst höhere mit noch schlechterem Image, kommt das Chlor
Edelgaskonfiguration erweitern. Entsprechend daher. Gasförmiges Chlor und auch viele seiner
zeigt insbesondere Sauerstoff eine recht hohe Verbindungen sind giftig und greifen ebenfalls
Elektronegativität, also eine starke Tendenz, Elek- die Ozonschicht an. Wiederum ist das Chlorid-
tronen aufzunehmen. Diese Elemente haben aber Anion, wie wir es vom Kochsalz kennen, völlig
andererseits auch eine starke Tendenz zu kova- harmlos und sogar lebensnotwendig. Brom ist
lenten Bindungen (Atombindung), was sich ins- außer Quecksilber das einzige Element, das bei
besondere in Verbindungen mit Partnern aus der Zimmertemperatur flüssig ist. Über der Flüssig-
Mitte des Periodensystems zeigt. Auch komplexe keit bilden sich stets übelriechende und ätzende
Anionen wie Sulfat (SO42–) oder Sulfit (SO32–) Dämpfe. Als das noch angenehmste Element
beinhalten solche kovalenten Bindungsanteile. der Gruppe kann Iod gelten, auch wenn es für
Bakterien tödlich ist. Man macht sich dies in der
Halogene medizinischen Anwendung als Iodtinktur, einer
alkoholischen Lösung von Iod, zunutze.

Konfiguration: ...[n]s2p5 Nebengruppenelemente


Oxidationsstufe: –1

Konfiguration:
d-Elemente
F Cl Br I As* Oxidationsstufen:
(* nur radioaktive Isotope) variabel, oft +2, +3

Die VII. Hauptgruppe des Periodensystems sind Wir haben bisher die 44 Elemente gesprochen,
die Halogene („Salzbildner“) mit den Mitglie- die zu den Hauptgruppen gehören und deren
dern Fluor, Chlor, Brom, Iod und dem radio- Außenelektronenkonfigurationen durch Unter-
aktiven Astat. Sie bilden insbesondere mit den schiede in der Belegung der s- und p-Orbitalen
meisten Metallen typische Salze, von denen das charakterisiert sind.
Kochsalz (NaCl) nur das bekannteste Beispiel Doch was ist mit den d-Orbitalen? Wie aus
ist. Die Elektronegativität nimmt in der Gruppe dem Energieniveau-Schema zu entnehmen ist,
von oben nach unten ab. Als Reinstoffe sind kommt es bei höheren Perioden zu Überlappun-
die Elemente dieser Gruppe eher unangenehme gen der Energie von Orbitalen (ÅÜberlappende
Kandidaten. Nur von der Zahnpastawerbung Schalen, Abbildung 4-23, Seite 135) verschiede-
bekannt ist das extreme Nichtmetall Fluor. Da- ner Schalen. Bei Argon sind die s- und p-Orbitale

142
Erde, Wasser, Luft und Feuer

der dritten Schale voll aufgefüllt. Statt aber nun


bei den zwei nächsten Elementen Kalium und
Calcium das 3d-Orbital zu nutzen, wird zunächst
das energetisch niedriger liegende 4s-Orbital ge-
füllt. Erst ab Scandium belegen die nächsten zehn

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Elemente die 3d-Orbitale. Auf die Chemie hat das
Vorhandensein der 4s-Elektronen wichtige Aus-
wirkungen, denn die chemischen Eigenschaften
hängen sehr stark von den Elektronen der äu-
ßersten Schale ab, weniger von den weiter innen
liegenden. Die Elemente von Scandium bis Zink
gleichen sich deshalb in vielen Eigenschaften und
gehören zu den Nebengruppenelementen oder
Übergangsmetallen. In den darüber liegenden
Schalen kommt es zu einer ähnlichen Überlap-
pung der Energieniveaus, und es entstehen weitere
Nebengruppenelemente. Berücksichtigt man die
Nebengruppen bei der Nummerierung, so gelangt
man zu den in ÅAbbildung 4-26 in arabischen
Ziffern angegebenen Gruppennummern nach
IUPAC (International Union of Pure and Applied
Chemistry). Nach ihren bei formaler Ergänzung
von Elektronen genutzten Orbitalen werden Ne-
bengruppenelemente auch als d-Block-Elemente
oder einfach als d-Elemente bezeichnet. Unter ih-
nen finden sich auch viele sehr bekannte Elemente
wie Titan, Chrom, Eisen, Nickel, Kupfer, Zink
und Edelmetalle wie Silber, Platin, Gold, über die
wir im Kapitel Festkörper noch einiges erfahren
werden, und das flüssige Metall Quecksilber.
Das in der Erdkruste mit 5,63 Prozent ver- Lanthanoide und Actinoide 4-29
breitetste und in der technischen Zivilisation Schleifendarstellung des
Periodensystems.
meistgenutzte Nebengruppenelement ist Eisen. Schreibt man die Elemente
Zusammen mit Nickel herrscht es auch im Erd- Konfiguration:
des PSE nach aufsteigen-
f-Elemente
kern vor. Eisen und Nickel sind auch kernphy- der Ordnungszahl auf
Oxidationsstufen:
ein Papierband und klebt
sikalisch interessant. Sie bilden die stabilsten variabel, meist +3
es so zusammen, dass
Atomkerne. Es werden hohe Energiemengen frei, Hauptgruppenelemente
wenn man schwerere Atomkerne spaltet oder Einen ähnlichen Einschub wie durch die Neben- übereinander zu liegen
kommen, so erscheinen
leichtere verschmilzt (ÅKapitel 11). Viele der gruppenelemente erfährt das Periodensystem
die Nebengruppen als
Nebengruppenelemente wie Vanadium, Chrom nach dem Lanthan und nach dem radioaktiven schleifenartige Aus-
und Molybdän haben Bedeutung als Legierungs- Element Actinium. Diese Elemente, die Lantha- buchtung. Eine ähnliche
Schleife entsteht auch für
bestandteile korrosionsbeständiger Edelstähle. noiden und Actinoiden, füllen formal f-Orbitale
die Actinoiden und die
Andere Nebengruppenelemente, insbesondere auf und sind sich untereinander noch viel ähnli- Lanthanoiden.
Platinmetalle, werden in der chemischen Indus- cher, als das bei den Nebengruppenelemente der
trie verbreitet als Katalysatoren eingesetzt. Die Fall ist. Nur das Uran und das künstlich herge-
Vielfalt von Reaktionen, an denen sie teilnehmen stellte Plutonium aus der Actinoiden-Reihe hat es
können, wird auch dadurch begünstigt, dass sie bisher zu allgemeiner Bekanntheit gebracht. Die
in unterschiedlichen Oxidationsstufen auftreten. Elemente mit einer Ordnungszahl größer als 92
Viele Ionen von Nebengruppenelementen sind werden auch als Transurane bezeichnet. Diese in
stark gefärbt, da Energiestufen zwischen den Au- der Regel sehr kurzlebigen radioaktiven Elemente
ßenorbitalen niedrig sind und Absorptionen des- entstehen in der Natur höchstens kurzzeitig in
halb im sichtbaren Wellenlängenbereich liegen. Supernovaexplosionen (ÅKapitel 11). —

143
KAPITEL 4 Demokrits Erben

Teilchen finden zusammen (Saccharose C12H22O11) zu den vom Kandis-


zucker wohlbekannten großartigen Kristallen
Verbindungen zusammenlagern. In komplexeren Stoffen wie-
derum können Bereiche lokal unterschiedlicher
Die meisten Stoffe, die uns begegnen, sind nicht Zusammensetzungen und Strukturen ganz we-
reine Elemente, sondern Verbindungen aus ver- sentlich zu den makroskopischen Eigenschaften
schiedenen atomaren Teilchen. Ihre spezifischen beitragen. Beispiele hierfür sind unterschiedli-
Eigenschaften haben nur sehr indirekt mit den che Zonen in Eisenlegierungen oder gar synthe-
Eigenschaften der Elemente zu tun, aus denen tische Metamaterialien. Doch wollen wir uns
sie aufgebaut sind. So hat etwa die Verbindung im Folgenden zunächst etwas näher mit den
Cyanwasserstoff (HCN) nichts von den Eigen- grundlegenden Arten chemischer Bindungen
schaften ihrer ungiftigen Bestandteile Kohlen- befassen.
stoff (C), Sauerstoff (O) und Stickstoff (N). Sie
ist ein farbloses hochgiftiges Gas. Und auch Chemische Bindungen –
Kochsalz (Na+Cl –), mit dem wir unsere Speisen Bindungen zwischen Atomen
würzen, erinnert in nichts an das leicht brenn-
bare Alkalimetall Natrium und an das giftige Bindungen zwischen kleinsten Teilchen sind
Halogen Chlor. Vielmehr werden die Eigen - grundlegend für den Aufbau nahezu aller Stoffe,
schaften der Verbindungen von den räumlichen da sie über die dabei entstehenden Strukturen
und elektronischen Strukturen bestimmt, die für die allermeisten Eigenschaften von Materie
aufgrund der Wechselwirkungen zwischen den verantwortlich sind. Sie können zwischen Ato-
Teilchen entstehen. men verschiedener Elemente, aber auch zwischen
Als atomare Teilchen haben wir Atome und Atomen desselben Elements auftreten. Nur die
Ionen kennengelernt. Zwischen ihnen können Atome der Edelgase liegen normalerweise als
Wechselwirkungen lokaler Art bestehen, bei völlig ungebundene neutrale Einzelatome bzw.
denen eine meist kleine Gruppe von Atomen in Gasentladungslampen teilweise als einzelne
ein gemeinsames Elektronensystem ausbildet. positive Ionen vor.
Man spricht in diesen Fällen von Molekülen. Letztlich können alle Arten von chemischen
In einigen Fällen können auf diese Weise sogar Bindungen auf elektromagnetische Wechselwir-
riesige Moleküle entstehen. kungen zwischen positiv oder negativ geladenen
Neben Atomen können an solchen Gebilden Teilchen zurückgeführt werden. Die viel stär-
auch Ionen beteiligt sein, also Atome, die in keren Kernkräfte, die zwischen den Nukleonen
ihrem Bestreben, möglichst günstige Elektro- (Protonen und Neutronen des Atomkerns) in
nenkonfigurationen zu erreichen, Elektronen Atomkernen wirken, sind überhaupt nicht an
hinzugewonnen oder abgegeben haben. Ionen der Ausbildung chemischer Bindungen beteiligt,
bilden oft ausgedehnte räumliche Gitter, die da sie eine viel kürzere Reichweite besitzen, die
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für Salzkristalle charakteristisch sind. Dabei kaum über den Kernradius hinausreicht.
begegnen wir allen Arten von Mischformen und Warum lieben es Atome, Bindungen mit an-
übergeordneten Strukturen, die jeweils ganz deren oder ihresgleichen einzugehen? Die Ant-
wesentlich zu den individuellen Eigenschaften wort ist einfach: Atome gehen Bindungen dann
der Verbindungen beitragen. So besteht etwa ein, wenn der gebundene Zustand energetisch
das Mineral Gips (CaSO4) aus Metallkationen günstigster ist als der getrennte.
4-30 (Ca2+) und komplexen Sulfatanionen (SO42–), Da die symmetrischen Elektronenkonfigura-
Argon-Gasentladungs-
bei denen die beiden negativen Ladungen kei- tionen der Edelgase energetisch besonders güns-
lampe. Edelgase wie z. B.
Argon neigen nicht zur nem einzelnen Atom der Gruppe zugeordnet tig sind, werden insbesondere Bindungen be-
Ausbildung chemischer werden können. Diese Komponenten bilden vorzugt, bei denen die beteiligten Atome durch
Bindungen. Das Modell
dann, oft noch zusammen mit eingelagerten Austausch oder gemeinsame Nutzung von Elek-
eines einzelnen Argon-
atoms ist rechts oben ein- Wassermolekülen, ein räumlich ausgedehntes tronen diese Edelgaskonfiguration erreichen.
geblendet. Der Atomkern Ionengitter, das im konkreten Fall die größten Edelgase verfügen bereits über die energetisch
ist im Verhältnis zur Elek- bekannten Einkristalle von über zehn Metern optimale Konfiguration und gehen deshalb nur
tronenhülle etwa um den
Faktor 10 000 vergrößert Ausdehnung bilden kann. Andererseits kön- in Ausnahmefällen und unter ganz speziellen
dargestellt. nen sich auch neutrale Moleküle wie Zucker Bedingungen Bindungen ein.

144
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Bindungsarten und Bindungsstärken hängt allerdings noch vom Verhältnis der Ionen-
radien ab, also davon, wie gut die Kugeln anei-
Die Bindungen werden in starke Bindungen nander passen. Diese einfache Tatsache bildet
(Hauptvalenzbindungen) und schwache Bindun- die Basis für die Kristallographie.
gen (Nebenvalenzbindungen) unterteilt. Erstere Ionenbindungen entstehen zwischen zunächst
meint man normalerweise, wenn man von ei- neutralen Atomen, wenn ein Partner leicht ein

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ner chemischen Bindung spricht, zum Beispiel Elektron abgibt und der andere leicht eines auf-
bei einem Molekül oder in einem Kristall. Die nimmt, wenn also die Ionisierungsenergie eines
schwächsten Bindungen werden auch als Wech- Bindungspartners klein und die Elektronenaffini-
selwirkungen bezeichnet. tät des anderen groß sind (ÅKasten Ionisierungs-
Als starke Bindungen gelten Ionenbindungen energie und Elektronenaffinität, Seite 146).
und Atombindungen, deren Mischformen und Da Atome mit hoher Ionisierungsenergie meist
4-31
Metallbindungen. Sie sind zumindest so stark, auch eine hohe Elektronenaffinität haben, kön- Starke Bindungsarten.
dass sie bei Raumtemperatur stabil sind und ge- nen beide zur sogenannten Elektronegativität Ionenbindung, Atombin-
wöhnlich nicht durch Temperaturschwingungen zusammengefasst werden. In der Ionenbindung dung und Metallbindung.
oder Zusammenstöße zwischen Atomen getrennt übernimmt der stärker elektronegative Partner
werden können.
Damit Atome starke Bindungen eingehen
können, müssen sich ihre Elektronenhüllen über-
lappen oder Elektronen ausgetauscht werden.
Da dies am ehesten bei den äußeren Elektro-
nenschalen (ÅࡳDas moderne Atommodell, Seite
134) geschieht, sind vor allem diese an den
Bindungen beteiligt. Durch die Überlappung
kommt es zu einer Kopplung der Wellenfunk-
tionen der Elektronen. Die Form der neu gebil-

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deten gemeinsamen Wellenfunktion bestimmt
die Natur der Bindung.
Schwache Bindungen haben meist eine min-
destens zwanzigfach geringere Bindungsenergie
als Hauptvalenzbindungen. Die thermische Be-
wegung von Teilchen reicht bei Raumtemperatur
4-32
dazu aus, dass einzelne Nebenvalenzbindungen Bindungsarten. Bindungen nach abnehmender Bindungs-
sehr häufig gebrochen und neu geknüpft werden. stärke

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Ionenbindung
Am einfachsten lassen sich Bindungen zwischen
elektrisch positiv und elektrisch negativ gela-
denen Atomen (Kationen bzw. Anionen) ver-
stehen, da sie sich einfach direkt anziehen. Die
elektrostatische Anziehungskraft zweier Punkt-
ladungen hängt nach dem Coulombschen Gesetz
vom Quadrat ihrer Entfernung ab. Es ist unmit-
telbar einsichtig, dass es für solche Teilchen
energetisch am günstigsten ist, sich in einer Kris-
tallstruktur abwechselnd anzuordnen. Dadurch
sind Ionen, die sich anziehen, so nah wie möglich
beisammen, aber Ionen, die sich abstoßen,
4-33
gleichzeitig so weit wie möglich voneinander Bindungsstärken. Deutlich erkennbar ist der große Unter-
entfernt. Der genaue Typ der Kristallstruktur schied zwischen starken und schwachen Bindungen.

145
KAPITEL 4 Demokrits Erben

Ionisierungsenergie und Elektronenaffinität

Als Ionisierungsenergie bezeichnet man die Energie, die selbst, um beim Sprung zum darauffolgenden Alkalimetall
notwendig ist, um ein Elektron vom Atom zu lösen. Sie ist steil abzufallen (ÅAbbildung).
abhängig von der Kernladungszahl und dem Abstand des Mit zunehmender Kernladungszahl nimmt die Ionisie-
Elektrons vom Atomkern, da beide die Coulombsche An- rungsenergie ab, da der Abstand zwischen Elektron und
ziehung bestimmen. Deshalb steigt sie im Periodensystem Kern immer größer wird.
von links nach rechts an. Wichtig ist allerdings auch die Umgekehrt heißt die Energie, die bei der Aufnahme eines
Konfiguration der äußeren Schale. Die gefüllten äußeren Elektrons frei wird, Elektronenaffinität. Sie ist negativ für
Schalen der Edelgase sind energetisch optimale Konfigurati- Edelgasatome, da Energie aufgewendet werden muss, um sie
onen. Atome mit nur einem Elektron auf der äußeren Schale negativ zu ionisieren. Atome mit fast vollständig gefüllten
(Alkalimetalle) geben dieses leicht ab, da sie dadurch die Schalen sind dagegen leicht bereit, Elektronen aufzunehmen,
Edelgaskonfiguration erreichen. Ihre Ionisierungsenergie ist um die Edelgaskonfiguration zu erreichen, ihre Elektronen-
daher am geringsten. Am höchsten ist sie bei den Edelgasen affinität ist daher positiv.

Haupt- Ionisierungs- Elektronen-


Element
gruppe energie [eV] affinität [eV]

Natrium (N) I 5,14 0,55


Magnesium (Mg) II 7,65 –0,22
Aluminium (Al) IIIA 5,98 0,81
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Sauerstoff (O) VIA 13,62 1,46


Fluor (F) VIIA 17,42 3,40
Chlor (Cl) VIIA 12,97 3,62
Argon (Ar) VIIIA 15,76 –0,36

4-34
Ionisierungsenergie und Elektronenaffinität von Elementen.

ein Elektron, und es bilden sich elektrisch posi- Metallbindung


tiv und negativ geladene Ionen (Kationen und
Anionen). Metallatome zeichnen sich unter anderem da-
Da die elektrostatische Bindungskraft ku- durch aus, dass ihre äußerste Elektronenschale
gelsymmetrisch wirkt, kommt es in der Regel nur schwach mit Elektronen besetzt ist. Sie sind
nicht zu räumlich gerichteten Bindungen zwi- deshalb relativ leicht durch Abgabe dieser äußeren
schen zwei bestimmten Partnern (lokalisierten Elektronen ionisierbar. Mit einem elektronegativen
Bindungen), sondern zur Bildung eines in alle Partner wie Sauerstoff oder Chlor bilden sie sehr
Richtungen ausgedehnten Ionengitters. stabile Ionenverbindungen. Eine weitere Folge der
Die Elektronegativität nimmt im Perioden- leichten Ionisierbarkeit ist eine besondere Form der
system von links nach rechts und von unten Bindung zwischen Metallatomen: die sogenannte
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nach oben zu. Deshalb gehen die links stehenden Metallbindung. Metallatome können sich näm-
Alkali- und Erdalkalimetalle mit den rechts ste- lich wie Ionen zu Kristallstrukturen zusammenla-
henden Halogenen (Fluor, Chlor,...) besonders gern. Die Bindung zwischen äußeren Elektronen
starke Ionenbindungen ein. In der Praxis bildet und Atomkern wird dabei aufgrund der positiven
Cäsiumfluorid (CsF) den Extremfall größtmög- Ladungen der angrenzenden Atomkerne weiter
licher Differenz der Elektronegativitäten. geschwächt, und die Elektronen bewegen sich
4-35 schließlich praktisch frei zwischen den Atomen,
Atom- und Ionengrößen. Die Atome und Ionen der Elemente des Periodensystems be- sie bilden ein sogenanntes Elektronengas.
sitzen sehr unterschiedliche Größen. Generell sind Anionen desselben Elements größer,
Kationen kleiner als das Atom selbst. Die Atomgrößen nehmen mit der Anzahl der Scha- Die Gleichsetzung dieser freien Elektronen
len stark zu. Beim Wasserstoff-Kation verbleibt keine Elektronenhülle, es ist ein Proton. mit einem Gas ist natürlich eine stark verein-

146
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Gekoppelte Schwingungen

Ein anschauliches mechanisches Analogon des


Bändermodells ist die Kopplung einer Reihe
von gleichen Kugeln mittels Federn. Zwei ver-
bundene Kugeln schwingen mit einer für die
Federkonstante und die Kugelmasse charakte-
ristischen Frequenz. Verbindet man ein ganze
Kette von Kugeln über Federn, so entstehen
viele eng nebeneinanderliegende Frequenzen.
Den Federn entsprechen im Bändermodell die
elektrischen Abstoßungskräfte zwischen den

MEDIDIIIA
MEDIA
EED
MED D A
Elektronen. Das Quadrat der Frequenz ist pro-

CMMULT
MUL
U
MU TIME
LTI
ULTI
MULTI
LLT M
portional zur Energie.

2012
20
©2 01
201
0 12
1 ELSCH
ELS
LLS
2 WEEL CH
SSC
LSC C AR
H & PA
PA R CIENTIF
R SSC
RTNEER
PARTN
ARTN
PART
PAR C IENTIF
CIENT
IE NT
EN
IIENN TI
NTI
T IFFIIC
TIF
EENTIF
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4-36 4-37
Gekoppelte Schwingungen. Mit zunehmender Zahl Elektronengas. Die äu-
der Schwingungselemente n nimmt auch die Zahl der ßeren Elektronen können
Schwingungsfrequenzen zu, und damit auch die Zahl sich in einem Metall
der Energieniveaus, da diese vom Quadrat der Fre- relativ frei zwischen den
quenz abhängen. positiven Atomrümpfen
bewegen.

fachte Modellvorstellung. Auf ihrer Basis for- r nur niedrig genug sind. Je nachdem, wie weit die
mulierte aber der deutsche Physiker PAUL DRUDE Atome im Gitter voneinander entfernt sind und
(1863 – 1906) im Jahr 1900 noch vor der Ent- wie groß die Energiedifferenzen zwischen den
wicklung der Quantenmechanik eine Elektronen- Niveaus der Einzelatome sind, bleiben die Bänder
theorie der Metalle, die wichtige Eigenschaften der einzelnen Atome getrennt oder überlagern
wie ihre elektrische Leitfähigkeit gut beschrieb, sich. Im zweiten Fall können sich die Elektronen
insbesondere für Alkalimetalle, bei denen die praktisch ungehindert von Atom zu Atom im
äußeren Elektronen besonders „locker“ sitzen. Gitter bewegen. Da sich die Wellenfunktionen
der äußeren Elektronen stärker überlagern als
Das Bändermodell die der inneren, sind in den sogenannten Va-
lenzbändern meist nur die äußeren Elektronen
Viele physikalische Effekte kristalliner Festkör- beteiligt (ÅAbbildung 4-38). Metallbindungen
per lassen sich nur mit Hilfe quantenmechani- sind wie Ionenbindungen nicht räumlich gerich-
scher Modelle verstehen. Durch die periodische tet, sondern sie wirken gleichermaßen in alle
Struktur erhält man als Lösung der Schrödinger- Richtungen. Anisotropien entstehen höchstens
Gleichung statt weniger diskreter Energieniveaus durch die Gitterebenen. 4-38
der Elektronen (Schalen) sehr viele extrem dicht Energiebänder. Durch die
beieinander liegende Niveaus, die als Bänder Überlagerung der Wellen-
funktionen der Elektronen
bezeichnet werden. Dies ist eine Folge der Über-
im Metallgitter entstehen
lagerung der Wellenfunktionen der einzelnen aus den Einzelniveaus
Elektronen (ÅAbbildung 4-36). der Elektronenorbitale
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(1s, 2s,...) sogenannte


Die Niveaus innerhalb eines Bandes liegen
Energiebänder (graue
so dicht beieinander, dass die Elektronen allein Bereiche). Bei den äu-
aufgrund ihrer thermischen Energie praktisch ßeren Orbitalen können
frei von Niveau zu Niveau springen können, sich Bänder benachbarter
Atome überlagern (3p und
etwa so, wie man mit einem Fahrrad mühelos 3s) und ein Leitungsband
eine Treppe hochfahren kann, solange die Stufen ausbilden.

147
KAPITEL 4 Demokrits Erben

Atombindung Man kann zeigen, dass sich die Bindungselek-


tronen statistisch häufiger zwischen den Atom-
Aber wie entstehen eigentlich Bindungen zwi- kernen aufhalten als irgendwo sonst im Mo-
schen gleichen und nach außen hin elektrisch lekül. Sie dienen quasi beiden Herren. Diese
neutralen Atomen, zum Beispiel im Wasserstoff- Verteilung der Elektronen ist letztlich für den
molekül? Warum fällt ein so großer Energiege- elektrostatischen Energiegewinn bei der Annähe-
winn an, wenn sich zwei Wasserstoffatome zu rung verantwortlich. Bindungen zwischen zwei
einem Molekül vereinigen? Atomen ungefähr gleicher Elektronegativitäten
funktionieren über eines oder mehrere solcher
4-39 gemeinsam genutzter Elektronenpaare.
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Coulombanziehung und
Abstoßung. Die Kombi- Das Prinzip, nach dem Elektronen zwischen
nation von abstoßendem positiv geladenen Atomrümpfen wie eine Art
und anziehendem Poten- „Kitt“ wirken, kennen wir bereits in ähnlicher
zial führt zu einem ener-
getischen Optimum U0 Form von der Metallbindung. Ein wesentli-
beim Bindungsabstand r0. cher Unterschied zur Metallbindung ist aber,
dass bei Atombindungen in aller Regel nur
zwei Atomrümpfe beteiligt sind, und dass sich
die Elektronen deshalb nicht weit vom Ort
der Bindung zwischen den beteiligten Atomen
entfernen können. Im Modell der Orbitale ge-
sprochen: Nur die Orbitale der gebundenen
Atome überlappen sich und führen zu erhöh-
ter Ladungsdichte zwischen den Atomen. Die
lokale Bindung der Elektronen ist die Ursache
für die mangelnde Leitfähigkeit von Substanzen
Im Wasserstoffmolekül ziehen sich die positiven mit Atombindungen.
Kerne und die negativen Elektronen natürlich
an. In der Summe führt dies zu einem Energie- σ-Bindungen
gewinn, wenn sich beide Atome näherkommen.
Andererseits stoßen sich die beiden Kerne aber Das Orbitalmodell führt auch noch zu einer
ab, ebenso wie die beiden Elektronen unterei- weiteren Charakterisierung solcher Bindungen.
nander. Abstoßend wirkt vor allem das Pauli- Betrachten wir die Schalen, aus denen die bin-
Prinzip, wenn sich die Orbitale der beiden Elek- denden Elektronen stammen. Bei der betrachte-
tronen zu nahe kommen. Ab einem bestimmten ten Bindung im H2-Molekül ebenso wie bei den
Abstand überschreitet daher der Energiebedarf Bindungen zwischen Wasserstoff und Kohlen-
für eine weitere Annäherung den Energiegewinn stoff oder zwischen Kohlenstoffatomen gehören
durch die elektrostatische Anziehung. Dieser Ab- die Elektronen zu s-Orbitalen mit kugelsymme-
stand stellt somit das energetische Optimum dar trischer Ladungsverteilung. Schon rein intuitiv
und entspricht folglich dem Bindungsabstand wird klar, dass bei Überlagerung zweier solcher
im Molekül. Orbitale die Elektronendichte auf der Kernver-
bindungslinie erhöht ist. Man bezeichnet diesen
weit verbreiteten Typ von Bindungen zwischen
s-Elektronen als σ-Bindungen (der griechischen
Buchstabe sigma steht für „s“ und soll an den
Orbitaltyp erinnern).
4-40
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Wasserstoff-Molekülion.
Obwohl die Aufenthalts- π-Bindungen
wahrscheinlichkeit des
Elektrons pro Volumen-
einheit an den Kernen am Etwas komplizierter wird es, wenn an den
größten ist, erreicht sie Bindungen Elektronen beteiligt sind, die zu
auch dazwischen beträcht- p-Orbitalen gehören. Wir haben schon frü-
liche Werte.
her gesehen, dass die Aufenthaltsbereiche von

148
Erde, Wasser, Luft und Feuer

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Elektronen in p-Orbitalen nicht kugelsymme- zwischen reinen Atombindungen und reinen
trisch sind, sondern eine hantelförmige Struk- Ionenbindungen vor.
tur haben. Wenn die Bindungspartner über Auch im Wassermolekül finden wir zwischen
halb gefüllte p-Orbitale verfügen, kann eine den Wasserstoffatomen und dem Sauerstoff-
zusätzliche Art von Atombindung entstehen, atom polare Atombindungen, also verschobene
bei der sich zwei parallel liegende p-Orbitale Ladungen. Der negative und die zwei positi- 4-41
der Atome überlagern. Die höchsten Elektro- ven Ladungsschwerpunkte wirken zusammen Chlorwasserstoff. Das
Chlorwasserstoffmolekül
nendichten sind hier nicht auf der Kern-Kern- wie ein einziger elektrischer Dipol. Genau diese (Salzsäuregas, HCl) ist ein
Verbindungslinie zu finden, sondern an den asymmetrische Ladungsverschiebung ist es auch, typisches Beispiel für eine
Stellen größter Überlappung der p-Orbitale, die zu den stärksten zwischen Molekülen auftre- polare Atombindung.
also im Gegensatz zur σ-Bindung ober- und tenden Wechselwirkungen, den Wasserstoffbrü-
unterhalb der Verbindungsachse der Kerne. ckenbindungen, führen.
Das führt im Übrigen dazu, dass die beteiligten

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Atome sich nicht mehr um die Bindungsachse
gegeneinander verdrehen können. Man nennt Wasserstoffbrückenbindung
solche Bindungen π-Bindungen (von der grie-
chischen Bezeichnung für „p“). Sie sind generell Bei kleineren Molekülen wie Wasser lässt sich
etwas schwächer als σ-Bindungen und kommen das resultierende elektrische Feld des Mole-
meist nicht allein vor, sondern stets zusätzlich küls recht gut als Dipol beschreiben. Das elek- 4-42
zu einer ˰-Bindung. trostatische Abstandsgesetz sorgt dafür, dass Wasserstoffbrücken. Auch
in flüssigem Wasser sor-
zwischen zwei solchen Dipolen eine anziehende gen spontan entstehende
Doppel- und Dreifachbindungen Kraft übrig bleibt, die freilich sehr viel kleiner und wieder aufbrechende
ist als diejenige zwischen Anionen und Kat - Wasserstoffbrücken für
den im Vergleich zu Ver-
Besteht zwischen denselben Bindungspartnern ionen. Eine relativ starke Variante der Dipol- bindungen ähnlicher Mo-
eine σ- und eine π-Bindung, so bezeichnet man Dipol-Wechselwirkungen ist die Wasserstoff- lekülmasse ungewöhnlich
dies als Doppelbindung. brückenbindung. Sie hat große Bedeutung für hohen Siedepunkt.
Einige Atome besitzen sogar zwei p-Orbi- das außergewöhnliche physikalische Verhalten

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tale, die nur mit jeweils einem Elektron besetzt von Wasser und Eis (ÅKapitel 6).
sind. Sie können neben der σ-Bindung gleich Bei einer Wasserstoffbrückenbindung wech-
zwei π-Bindungen ausbilden, und es entsteht selwirkt ein positiv polarisiertes Wasserstoff-
eine Dreifachbindung. Kohlenstoffatome kön- atom mit den freien Elektronenpaaren eines
nen untereinander leicht Doppel- und Drei- Atoms (in der Regel Sauerstoff), an das es nicht
fachbindungen ausbilden. Oft sind an ihnen direkt gebunden ist. Die Stärke der Wechselwir- 4-43
aber auch andere Atome wie Sauerstoff oder kung erreicht etwa 5 Prozent derjenigen einer Aufbau von Eis. Wasser-
stoffbrücken bestimmen
Stickstoff beteiligt. Die erhöhte Reaktivität von normalen starken Bindung. Sie ist entschei -
die Struktur von Eiskri-
Mehrfachbindungen macht sie für viele chemi- dend für die meisten biochemischen Prozesse stallen.
sche Prozesse interessant. wie DNA-Replikation, Proteinbiosynthese und
Enzymreaktionen. Die Stärke einer Wasserstoff-
Polare Atombindungen brückenbindung liegt damit in einem Bereich,
in dem die normale thermische Molekülbewe-
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Die Elektronen, welche die Atombindungen gung schon bei Raumtemperatur ausreicht, eine
vermitteln, sind nicht in jedem Fall gleichmäßig dieser Bindungen ohne weiteres zu trennen.
zwischen den Bindungspartnern verteilt. Man- Bestehen mehrere Wasserstoffbrücken zwischen
che Atome ziehen Elektronen stärker zu sich 2 Molekülen, ist die Bindung zwar stabiler,
heran als andere. Man sagt, sie besitzen eine hö- aber minimale Einflüsse anderer Moleküle in
here Elektronegativität. Dadurch bilden sich in der Nähe, der Temperatur oder der Salzkon-
4-44
den meisten Molekülen Bereiche, die dauerhaft zentration einer Lösung reichen dennoch aus,
DNA. Wasserstoffbrücken
eine negative oder positive Teilladung besitzen. Bindungen entweder zu bilden oder zu lösen. zwischen den Nucleo-
Tatsächlich findet man reine Atombindungen Diese sensible Spielwiese zwischen ungebun- basen (Sprossen der Lei-
nur zwischen Atomen desselben Elements mit denem und gebundenem Zustand ist das typi- ter)halten die Stränge der
DNA zusammen. Wäh-
genau gleicher Elektronegativität. Sehr häu- sche Terrain aller Lebensprozesse, von denen in rend der Replikation wer-
fig kommen in Molekülen Übergangsformen ÅࡳKapitel 12 noch die Rede sein wird. den sie lokal aufgetrennt.

149
KAPITEL 4 Demokrits Erben

Van-der-Waals-Wechselwirkung seines Orbitals beschrieben wird, so kann man


sagen, dass in jedem Moment ein temporäres
Kühlt man ein Gas immer mehr ab, so erwartet Dipolfeld zwischen Elektron und Atomrumpf
man, dass daraus irgendwann eine Flüssigkeit besteht. Nur im statistischen Mittel gleichen sich
wird und schließlich ein Festkörper. Dies kommt diese Felder beim neutralen Atom oder Mole-
dadurch zustande, dass Wechselwirkungen zwi- kül aus. Diese Dipole erzeugen aber insgesamt
schen den Teilchen existieren, die unterhalb einer wieder eine leicht anziehende Wechselwirkung,
bestimmten Temperatur stärker sind als die ähnlich wie bei den oben diskutierten perma-
durch Wärme verursachte Bewegung. Für Teil- nenten Dipolen. Sie wird als Van-der-Waals-
chen, die eine elektrische Ladung oder ein per- Wechselwirkung bezeichnet.
manentes elektrisches Dipolmoment besitzen, Van-der-Waals-Wechselwirkungen sind noch
lässt sich dies leicht über die elektrische Anzie- deutlich schwächer als etwa Wasserstoffbrü-
hung erklären. Aber wie ist das zum Beispiel bei ckenbindungen. Trotzdem tragen sie entschei-
Edelgasen? Wir haben gelernt, dass sie als Ein- dend dazu bei, dass auch neutrale Moleküle wie
zelatome vorliegen. Auch haben sie keine Ten- Zucker Kristalle bilden und Geckos oder Fliegen
denz, Elektronen mit ihresgleichen auszutau- an der Zimmerdecke laufen können.
schen, und keine einfach besetzten Atomorbitale,
die zu einer Bindung führen könnten. Werden sie
also auch bei Abkühlung bis hinab zum absolu-
ten Nullpunkt der Temperatur niemals flüssig
oder fest?

4-46
Van-der-Waals-Wechselwirkung. Das Gas Argon wird
bei Abkühlung auf ca. –186 °C (87,29 K) flüssig und bei
bei –189 °C (83,78 K) sogar fest. Dieser Phasenübergang
basiert auf der schwachen, auch zwischen neutralen Ato-
men herrschenden Van-der-Waals-Wechselwirkung.
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Was geschieht wenn viele Teilchen


zusammentreffen?

Unsere Welt besteht nicht aus einzelnen Mole-


külen, sondern aus „Stoffportionen“, die aus
vielen Billiarden gleicher Moleküle aufgebaut
4-45 sind. Ein Liter Wasser enthält beispielsweise
Schmelzpunkte der Ele- He Ne Ar Kr Xe Rn
mente. Edelgase haben über 1025 Moleküle, eine Zahl mit 25 Nullen!
1,75 K 24,54 K 83,78 K 116 K 161,3 K 202 K
die tiefsten Schmelzpunkte Auf den ersten Blick können wir Gase, Flüssig-
aller Elemente. Trotzdem keiten und feste Stoffe unterscheiden, und es
schmelzen sie teilweise
weit über dem absolu- Nein, auch Edelgasatome, die nach außen hin ist offensichtlich, dass es mit der „Anziehungs-
ten Nullpunkt von 0 K überhaupt kein permanentes Dipolfeld besitzen, kraft“ der Teilchen zusammenhängen muss, ob
(-273,15 °C). ziehen sich offensichtlich an. Diese Wechselwir- ein Stoff bei einer bestimmten Temperatur als
kung ist bei Helium nur schwach ausgeprägt, Gas, Flüssigkeit oder Festkörper vorliegt. Sau-
nimmt aber mit der Größe der Atome bis hin erstoffmoleküle (O2) oder Argonatome verfügen
zum Radon deutlich zu. über geringe Anziehungskräfte, weshalb eine
Wie kommt dies zustande? Betrachtet man Ansammlung beider bei gewöhnlichen Tempe-
ein Elektron als Teilchen, dessen Aufenthalts- raturen als Gas vorliegt. Atome wie Natrium
wahrscheinlichkeit durch die Wellenfunktion und Chlor hingegen, die gerne Elektronen aus-

150
Erde, Wasser, Luft und Feuer

tauschen, verfügen über sehr starke elektrische lich kann man die mittlere Zahl der Schritte,
Anziehungskräfte (ionische Bindungen), sind nach denen man auf einen Menschen trifft, als
also fest. Warum genau ein Stoff bei gegebenen Maß für die Ordnung einer Menschenmenge
Temperatur- und Druckbedingungen einen be- nehmen. Dieses Prinzip wird angewandt, um
stimmten Aggregatzustand einnimmt, werden die Ordnung von Materie zu beschreiben. Die
wir später sehen (Å Aggregatzustand), hier geht sogenannte Paarverteilungsfunktion gibt an, mit
es zunächst darum, die verschiedenen Formen, welcher Wahrscheinlichkeit sich in einem gewis-
in denen Stoffe vorliegen können, kennen zu sen Abstand r von einem Teilchen ein anderes
lernen. Ein wichtiges Klassifikationsmerkmal ist befindet (Å Abbildung 4-47). Bei Festkörpern
dabei die innere Ordnung g eines Stoffes. mit kristalliner Struktur hat diese Funktion in
regelmäßigen Abständen Spitzen, auch über

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Nah- und Fernordnung weite Entfernungen hinweg. Man sagt, kristal-
line Festkörper haben eine Fernordnung. Bei
Es ist offensichtlich, dass ein Eiskristall im In- Flüssigkeiten ist der Abstand zu den nächsten
neren eine höhere Regelmäßigkeit besitzt als der Nachbarn noch relativ konstant, zum Beispiel
Wassertropfen, der entsteht, wenn er schmilzt. aufgrund der festen Bindungslängen von Was-
Aber auch der Wassertropfen hat zumindest serstoffbrücken, die in vielen Flüssigkeiten häu-
4-48
eine gewisse Regelmäßigkeit, wenn man ihn fig sind. Je weiter man jedoch voranschreitet, „Aggregatzustände“ von
mit der Dampfwolke vergleicht, die bei seiner desto stärker fällt die Zufälligkeit der Abstände Wasser und Menschen.
Verdunstung entsteht. Offensichtlich gibt es eine ins Gewicht. Flüssigkeiten verfügen lediglich Unterschiede in der
Nah- und Fernordnung
Abnahme der Ordnung von Festkörpern zu Ga- über eine Nahordnung. Bei Gasen schließlich charakterisieren die Ag-
sen. Wie kann man diese Ordnung quantitativ ist die Wahrscheinlichkeit, ein anderes Molekül gergatzustände. (Wasser-
beschreiben? zu treffen, unabhängig vom Abstand, die Ver- dampf selbst ist allerdings
unsichtbar. In Wolken
Stellen Sie sich drei verschiedene Menschen- teilung der Moleküle ist regellos. Aus geometri- kondensiert er zu winzigen
ansammlungen vor: eine volle Zuschauertribüne, schen Gründen fällt die Paarverteilungsfunktion Flüssigkeitströpfchen.)
ein Schulhof in der Pause und ein Fußballspiel
(ÅAbbildung 4-48). Gehen Sie in Gedanken
durch alle drei Bilder mit Kindern hindurch
und registrieren Sie, nach wie vielen Schritten
sie jeweils auf einen Menschen treffen. Auf der
Tribüne werden sie immer nach einer festen
Anzahl von Schritten einen Zuschauer passie-
ren. Auf dem Schulhof treffen sie in vergleichs-
weise regellosen Abständen auf einen Schüler,
aber da Menschen in der Regel einen gewissen
Mindestabstand halten, benötigen sie auch eine
Minimalzahl von Schritten von einem zum an-
deren. Auf dem Fußballplatz hingegen kann
es vorkommen, dass sie lange Zeit niemanden
treffen, die Zahl der Schritte von einem Fußbal-
ler zum nächsten schwankt stark. Offensicht-

4-47
Paarverteilungsfunktion. Die Paarverteilungsfunktion g(r) r
gibt die Wahrscheinlichkeit an, im Abstand r ein Teilchen
zu treffen. Sie ist so normiert, dass sie in einem Gas für
großes r den Wert 1 hat. Da bei Gasen kaum Kräfte
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zwischen den Teilchen wirken, sind sie in einem Volumen


gleichverteilt. Das heißt, die Paarverteilungsfunktion
fällt mit 1/rr2 auf den Wert 1 ab (oben). Bei Flüssigkeiten
(Mitte) ist es durch Dipolbindungen in einem bestimmten
Abstand wahrscheinlicher, ein zweites Molekül zu treffen
als im regellosen Fall (Nahordnung), bei Festkörpern (un-
ten) schwankt die Wahrscheinlichkeit periodisch mit dem
Abstand der Atome im Gitter (Fernordnung).

151
KAPITEL 4 Demokrits Erben

dann mit 1/r2 ab. Die Paarverteilungsfunktion Auch die Natur der Bindungen zwischen den
von Wasser hat aufgrund der Bildung von Was- Teilchen spielt eine große Rolle. Metall- und
serstoffbrücken zwischen den Molekülen eine Ionenbindungen sind isotrop, also richtungsun-
ausgeprägte Nahordnung. Mit zunehmender abhängig, weshalb die Teilchen relativ frei in
Temperatur wird diese allerdings zerstört, die ihrer gegenseitigen Orientierung sind. Atombin-
Maxima der Funktion werden also flacher und dungen sind oft räumlich in einer Ebene oder
breiter, und entferntere Maxima verschwinden. entlang einer Linie orientiert, was Moleküle
„sperriger“ macht und damit das Erreichen einer
Eine andere Klassifikation von Materie optimalen Konfiguration erschwert. Gerade die
Makromoleküle von Kunststoffen sind auf diese
Die räumliche Ordnung der Materie ist nicht Weise kaum vollständig zu kristallisieren.
unbedingt an Aggregatzustände gebunden. So
haben nicht nur Flüssigkeiten, sondern auch feste
Stoffe wie Gläser oder die meisten Kunststoffe
nur eine Nahordnung, man nennt sie deshalb
amorph. Metalle, viele Keramiken und auch ei-
nige Kunststoffe haben hingegen eine Kristall-
struktur: Eine räumliche Anordnung von einigen
Teilchen wiederholt sich in alle Raumrichtungen,

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das heißt, Kristalle haben eine Fernordnung.
Festkörper entstehen zum Beispiel, wenn
eine Flüssigkeit erstarrt. Dabei sollten sich die
Atome oder Moleküle, aus denen sie besteht,
eigentlich so anordnen, dass die Gesamtenergie
des Systems minimal ist. Nun haben kristalline
Strukturen eine höhere Packungsdichte und da- 4-50
Glasbildner. Siliciumdioxid (Quarz) bildet Kristalle (links),
mit eine geringere Gesamtenergie als amorphe sofern man es aus einer Schmelze nicht zu schnell ab-
Anordnungen. Warum entstehen letztere dann kühlt. Andernfalls bilden sich ein unregelmäßiges amor-
überhaupt? phes Netzwerk, ein Glas (rechts), dessen Struktur durch
Fremdatome wie Natrium (Na) beeinflusst werden kann.
Dafür gibt es verschiedene Gründe. Wird ein
Material etwa sehr schnell abgekühlt, so finden
die Teilchen keine Zeit, sich optimal anzuord- Sogenannte Glas- oder Netzwerkbildner wie Si-
nen. Auf diese Weise gelingt es sogar, sogenannte liciumdioxid formen ebenfalls leicht amorphe
metallische Gläser herzustellen, also amorphe Strukturen (ÅGläser – Nicht immer zerbrech-
Metalle. Allerdings ist hierfür eine extrem hohe lich, Seite 281). Sie bestehen im Allgemeinen
Abkühlungsgeschwindigkeit erforderlich: mehr aus polyedrischen Molekülen mit Sauerstoffa-
als 1 Million Grad Celsius pro Sekunde. tomen an Eckpunkten, die über kovalente Bin-
dungen unregelmäßig geformte dreidimensionale
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

Netzwerke bilden.
Die Unterscheidung zwischen Nah- und
Fernordnung ist eine Form der Kategorisierung,
die uns bei der Erklärung von Materialeigen-
schaften weiterhilft. Viele Materialeigenschaften
sind nämlich weniger eine Folge des Aggregat-
zustands als des Ordnungsgrads der Materie.

4-49
Klassifikation nach der Ordnung. Man kann Materialien
auch nach dem Grad ihrer inneren räumlichen Ordnung
klassifizieren und bekommt eine etwas andere Einteilung
als nach dem Aggregatzustand. Danach sind Gläser und
viele Kunststoffe eher mit den Flüssigkeiten verwandt als
mit kristallinen Feststoffen.

152
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Kristalle und Kristallgitter kristalle sind physikalisch und stofflich homogen


aufgebaut. Natürliche Stoffe bestehen oft nicht
Der Begriff „Kristall“ leitet sich vom griechischen aus idealen Einkristallen. Sie setzen sich meist aus
Wort „kryos“, Frost, ab, möglicherweise des- unregelmäßig ineinander verwachsenen kristalli-
halb, weil frühe Bergleute gefundene, dem Quarz nen Bereichen und werden dann als polykristalline
ähnliche, Bergkristalle für nicht schmelzbares Eis Festkörper bezeichnet. Kristalle bilden Komponen-
hielten. Bergkristalle und Eiskristalle stehen für ten von Böden und Gesteinen. Auch synthetische,
die riesige Spannbreite von Eigenschaften, die durch Menschen geschaffene Stoffe enthalten häu-

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


kristalline Festkörper aufweisen können. Von fig Kristalle. Man findet kristalline Strukturen als
Ausnahmen abgesehen, z. B. natürliche Gläser, Komponenten von Porzellan, Steingut, Beton und
Opal, Kohle, sind alle Gesteine der Erde und Ziegelsteinen. Auch Metalle und die meisten von
anderer Himmelskörper aus kristallinen Mine- der chemischen Industrie produzierten Feststoffe
ralen aufgebaut. Die meisten Gesteine bestehen sind Kristalle. Und sogar in vielen Kunststoffen 4-51
im Wesentlichen aus etwa dreißig Mineralen, die finden sich kristalline Bereiche, die wesentlich für Kristallbildung aus Lösun-
gen. Salzkristalle bilden
deshalb als Gesteinsbildner bezeichnet werden deren Eigenschaften sind. Ja sogar bei Lebewesen sich beim Eindunsten von
(Å Bausteine der Erdoberfläche, Seite 226). kommen nicht selten kristalline Strukturen vor, Meerwasser.
Kristalle sind also in unserer Umgebung sehr z. B. in Knochen, Zähnen, Gehäusen niederer Tiere
verbreitete. Aber es gibt auch wahre Exoten. Ei- und sogar als flüssige zweidimensionale Kristalle
nige davon werden wir später noch kennenlernen, in Zellmembranen.
etwa flüssige Kristalle und Plasmakristalle. Doch NICOLAUS STENO (1638 – 1686), der „Vater
Vorsicht, nicht alles, was nach Kristall aussieht der Geologie“, tat im Jahr 1669 den vielleicht
oder so heißt, ist auch Kristall. Selbst Bleikristall wichtigsten Schritt auf dem Weg, die scheinbar un-
ist – ungeachtet seines klangvollen Namens – in überschaubare Zahl in der Natur vorkommenden
Wirklichkeit überhaupt kein Kristall, sondern fast Kristallformen auf eine kleinere Zahl von Sym-
schon dessen Gegenteil, nämlich (geschliffenes) metrien und Bauprinzipien zurückzuführen. Bei

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


Glas. der Untersuchung an Quarzkristallen entdeckte
Kristalle treten uns millionenfach als kleine, er das Gesetz der Winkelkonstanz. Es besagt,
manchmal schon makroskopisch erkennbare und dass einander entsprechende Kristallflächen im-
meist durch ihre geometrischen Formen auffällige mer die gleichen Winkel zueinander bilden. Diese
Festkörper entgegen. Wir begegnen ihnen ständig. sind ganz unabhängig von Größe und Form eines 4-52
Manchmal erkennen wir sie sofort, wie bei einem Kristalls. Er erkannte, dass dies eine Eigenschaft Kristallbildung aus
großen Salzkristall, bei Kristallzucker oder bei aller kristallinen Minerale ist, und legte damit das Schmelzen. Perfekte Silici-
umkristalle werden aus der
einem Diamanten. Oft sehen wir Kristalle, ohne Fundament für die moderne Kristallographie.
Schmelze gezogen.
es überhaupt zu bemerken: etwa in natürlichen Eine andere Charakterisierung von Kristallen
Gesteinen, in Sand, in alltäglichen Gebrauchs- erfolgt nach deren Tracht (ÅAbbildung 4-56,
gegenständen oder in Stoffen, die uns als Pulver Seite 155). Aus dem Gesetz von STENO folgt
erscheinen. Hier sind die einzelnen Kriställchen nämlich, dass Kristalle eines Stoffes sehr wohl
so klein, miteinander verbacken oder in einen verschiedenes Aussehen haben können, obwohl
anderen Stoff eingebettet, dass ihre kristalline dieselben Kristallflächen beteiligt sind.
Natur nicht ohne Mikroskop erkennbar ist.
Als Kristalle werden Körper bezeichnet, in Bildung von Kristallen
denen die Atome in einem dreidimensionalen pe-
riodischen Gitter angeordnet sind. Sie besitzen also Natürliche Kristalle werden bei geologisch-mi-
eine die eine hohe Fernordnung. Dies prägt sich neralogischen Vorgängen gebildet, die sich in
im Idealfall auch makroskopisch in regelmäßig der Regel über sehr lange Zeiträume hinziehen
gestalteten und mehr oder weniger ebenen Au- – ideal langsam für eine perfekte Kristallbildung.
ßenflächen und geraden Kanten aus. Gewisserma- Synthetische Kristalle werden in wesentlich kür-r
ßen sieht man den Kristallen ihren regelmäßigen zerer Zeit erzeugt, prinzipiell entstehen sie aber 4-53
atomaren Aufbau auf den ersten Blick an. Ist ein nach genau den gleichen Prinzipien. Kristallbildung auss Gasen.
Ga
ganzer makroskopischer Körper im Wesentlichen Kristalle bilden sich meist als Ausfällungs- Kristalle, z. B. des Iods,
können auch durch Um-
durchgehend nach der gleichen Ordnung aufge- produkte aus einer flüssigen Phase. Sie entstehen kehrung der Sublimation
baut, so spricht man von einem Einkristall. Ein- beispielsweise aus Schmelzen bei deren Abküh- aus dem Gas entstehen.

153
KAPITEL 4 Demokrits Erben

lung. Ebenso können sie sich aus Lösungen bil- tisch, wie er vielleicht anmutet. Ohne ihn gäbe es
den, wenn die unter den gegebenen Bedingungen keine Reifbildung, und gefrorene Wäsche würde
maximal im Lösemittel lösliche Substanzmenge im Winter nicht trocknen.
überschritten wird. Dies kann etwa dadurch ge- Werden die thermodynamischen Bedingungen
schehen, dass ein Teil des Lösemittels verduns- für die Bildung eines Kristalls zum Beispiel durch
tet, dass sich die chemische Zusammensetzung Abkühlen einer Schmelze erreicht, so muss sich
ändert oder dass die Temperatur absinkt. noch nicht zwangsläufig ein Kristall abscheiden.
Eine Grundregel lautet: Je langsamer sich Hierzu muss zunächst ein Keim vorhanden sein,
Kristalle bilden, desto regelmäßiger werden sie. eine Mindestansammlung von Teilchen, von der
Im Extremfall entstehen durch sehr schnelles das Wachstum durch Anlagerung weiterer Teil-
Abschrecken sogar überhaupt keine Kristalle, chen ausgeht. Ist der Erstarrungspunkt unter-
sondern nur amorphe Festkörper (Gläser). schritten, ohne dass ein Kristallkeim vorhanden
Auch aus der Gasphase können sich direkt wäre, so spricht man von einer unterkühlten
Kristalle abscheiden. Den Vorgang nennt man Lösung oder Schmelze. Bei immer stärkerer Un-
Resublimation (Sublimation ist entsprechend der terkühlung reichen schließlich immer kleinere
direkte Übergang von der festen in die gasför- Agglomerationen von Teilchen aus, damit der
mige Phase). Wer schon einmal einen aktiven Kristall wächst und sich nicht umgekehrt wieder
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

Vulkan besucht hat, kennt das vielleicht offen- auflöst. Schließlich können sogar schon winzige
sichtlichste Beispiel: Schwefelhaltige vulkanische Unebenheiten der Oberfläche des Behälters zu
Gase scheiden an kühleren Stellen wunderschöne ersten Kristallisationspunkten werden.
gelbe Schwefelkristalle ab. Der direkte Übergang
zwischen Feststoff und Gasphase ist nicht so exo- Gitter und Elementarzellen
4-54
Kristalle durch Resublimation. Schwefelhaltige vulkanische Gase (hier am Ätna und den
Phlegräischen Feldern bei Neapel) scheiden sehr reine Schwefelkristalle ab. Sublima- Kristalle werden oft anhand der vorherrschen-
tions-/Resublimationszyklen werden auch technisch zur Reinigung chemischer Substan- den Bindungsart als Ionenkristalle oder als Mo-
zen eingesetzt. lekülkristalle bezeichnet. Sie bauen sich aus einer
kleinsten Wiederholeinheit dieser Teilchen (Atome,
Kristallsysteme und die 14 Bravais-Gitter Ionen und/oder Moleküle) auf, die man sich in
allen Raumrichtungen quasi „unendlich“ oft anei-
nandergesetzt vorstellen kann. Dabei bilden die für
Kubisches System
die Teilchen möglichen Positionen (Gitterpunkte)
Alle Achsen im Achsenkreuz sind gleich lang und schneiden sich im rechten Winkel
(a = b = c; α = β = γ ). Typische Kristallformen sind Hexaeder, Oktaeder, wie sie z. B. die ein in alle Richtungen ausgedehntes regelmäßiges
Minerale Granat Pyrit, und Halit (Steinsalz) ausbilden. Gitter. Seine Symmetrie ist entscheidend für die

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Kubisch Kubisch Kubisch


primitiv (sc) raumzentriert flächenzentriert
(bcc) (fcc)
Tetragonales System
Zwei gleich lange Achsen im Achsenkreuz, die dritte ist kürzer oder länger, alle Win-
kel dazwischen 90º (a = b ≠ c; α = β = γ); Typische Kristallformen sind quadratische Pris-
men und Doppelpyramiden, wie sie die Minerale Zirkon, Vesuvian und Wulfenit aus-
bilden.
4-55
Habitus. Unabhängig von den Details wird die grobe
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räumliche Gestalt eines Kristalls über die unterschiedliche


Ausdehnung in den drei Raumachsen beurteilt (tafelig,
isometrisch oder nadelig). Neben diesen drei Hauptka-
tegorien beschreiben Mineralogen den Habitus mit zahl-
reichen mehr oder weniger anschaulichen Begriffen. In
Tetragonal Tetragonal Gebrauch sind z. B. dicktafelig, körnig, würfelig, faserig,
primitiv raumzentriert radialfaserig, feinnadelig, kurzsäulig, langsäulig, spießig
(Fortsetzung Seite gegenüber)
und gedrungen.

154
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Ausbildung von Kristallformen und eine wichtige


Determinante für die Eigenschaften der jeweils Kristallsysteme und die 14 Bravais-Gitter
kristallisierten Substanz. Die 14 im Raum mögli-
chen Anordnungen werden nach AUGUSTE BRAV AVAIS Orthorhombisches System
(1811 –1863) als Bravais-Gitter bezeichnet und Drei verschieden lange Achsen im Achsenkreuz, alle schneiden sich in Winkeln von
90º (a ≠ b ≠ c; α = β = γ ); Typische Kristallformen sind Pinakoide (Tafeln), Prismen und
können nach ihrer Symmetrie in sieben Kristall- Doppelpyramiden wie sie z. B. die Minerale Aragonit, Chrysoberyll und Topas ausbil-
systeme eingeteilt werden. Es sei hier ausdrücklich den. Einige Klassifikationen fassen die beiden rechten Gruppen zusammen.
betont, dass diese Kristallsysteme und die Bravais-
Gitter eine rein mathematische Beschreibung von
Symmetrieeigenschaften in einem Kristall sind und
nicht direkt die physische Form der entsprechen-
den Kristalle repräsentieren. Allerdings bildet das Rhombisch Rhombisch Rhombisch Rhombisch
Gitter die Grundlage dafür, welche Kristallformen primitiv basiszentriert raumzentriert flächenzentriert
auftreten können.
Hexagonales System
Drei gleich lange Achsen in einer Ebene im Achsenkreuz schnei-
Wie viele Kristallformen gibt es? den sich im Winkel von 120º, eine vierte Achse ist unterschied-
lich lang und steht senkrecht auf der Ebene der anderen drei
Genau genommen kann ein Kristall makros- (a1 = a2 = a3 ≠ c; α = β ≠ γ ); Typische Formen sind pinakoidale Pris-
men und Doppelpyramiden, wie sie etwa die Minerale Nephelin,
kopisch natürlich jede beliebige äußere Form Apatit und Beryll ausbilden.
haben. Man denke nur an die berühmte „Kris-
tallkugel“ der Wahrsagergilde oder, etwas weni- exagonal
ger esoterisch, an die runden Wafer-Einkristalle Trigonales und Rhomboedrisches System
der Halbleiterindustrie. Solche Formen nehmen Trigonale Strukturen lassen sich auch im Hexagonalen System beschreiben (s.o.). Drei
Kristalle allerdings nicht „freiwillig“ an, son- gleich lange Achsen im Achsenkreuz, die sich in zwei Winkeln zu 90º und einem zu
60º schneiden; zwei gleiche Flächen stehen sich im geschlosse-
dern nur unter äußerem Zwang. Dieser kann nen Kristall gegenüber. (a = b = c; α = β ≠ γ ); Typische Kristallfor-
eine nachträgliche Bearbeitung sein, aber auch men sind Doppelpyramiden, Rhomboeder und Prismen, wie sie
einfach eine räumliche Beschränkung bei der z. B. die Minerale Korund, Calcit und Turmalin ausbilden.
Spezialfall rhomboedrisch: Drei gleich lange Achsen im Achsen-
Entstehung des Kristalls, der Kristallisation.
kreuz in verschiedenen Ebenen, drei gleiche nichtrechte Winkel
Solche „Fremdformen“ (Fachleute reden von (a1 = a2 = a3; α = β = γ ); Typische Formen sind Prismen und Dop-
xenomorphen Kristallen) werden wir aber hier pelpyramiden, wie sie beispielsweise die Minerale Baryt und
rhomboedrisch Olivin ausbilden.
nicht betrachten. Doch welche Kristallformen
nehmen die ca. 4600 bekannten Minerale und
die in die Millionen gehenden synthetische Stoffe Monoklines System
„von selbst“ (idiomorph) bei der Kristallisation Alle Achsen im Achsenkreuz sind unterschiedlich lang, zwei schneiden sich im rechten
Winkel, die dritte ist geneigt (a ≠ b ≠ c; α = β ≠ γ ); Typische Kristallformen sind eben-
ein? Was geschieht, wenn genügend Platz und falls pinakoidale Prismen wie etwa bei den Mineralen Gips, Orthoklas oder Ägerin.

Monoklin Monoklin
primitiv basiszentriert

Triklines System
Alle drei Achsen im Achsenkreuz sind verschieden lang und die
4-56
Winkel dazwischen unterschiedlich, aber nicht 90º (a ≠ b ≠ c;
Tracht. Nach dem Gesetz der Winkelkonstanz sind die
α ≠ β ≠ γ ); Typische Kristallformen sind pinakoidale Prismen
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relativen Winkel der Kristallflächen zueinander ein Bestim-


oder Doppelpyramiden, wie sie beispielsweise die Minerale Oli-
mungsmerkmal für das Kristallsystem, die Größen der Kris-
goklas, Axinit oder Türkis ausbilden.
tallflächen aber variabel. Die abgebildeten Bleisulfidkristalle
zeigen unterschiedliche Kristalltracht (bei gleichem Habi-
tus). Durch unterschiedliche Entwicklung der Kristallflächen
(bezeichnet nach ihren Kantenvektoren als 100, 110 und
Triklin
111) entstehen als geometrische Körper Übergänge zwi-
schen Würfel, Oktaeder und Rhombendodekaeder.

155
KAPITEL 4 Demokrits Erben

ausreichend Zeit zur Verfügung stehen, so dass nur eine sechseckige (hexagonale) Anordnung
sich jedes Teilchen seinen energetisch günstigsten eine optimale Packungsdichte erlaubt. Doch wie
Platz auf dem wachsenden Kristall aussuchen sieht es im dreidimensionalen Raum aus?
kann, und wenn auch keine Verunreinigungen
die Ausbildung eines idealen Kristalls behindern? Kugelpackungen
Von außen betrachtet gleichen manche Kris-
talle einfachen Würfeln. Andere wiederum bil- Die Lösung der Aufgabe, eine möglichst enge
den Platten, Nadeln, Sechsecksäulen oder noch Packung gleicher Kugeln zu erhalten, erinnert
kompliziertere Formen. Um der Vielfalt Herr zu sehr an die Art, wie in alten Burgen Kanonenku-
werden, unterscheidet man die äußere Kristall- geln gelagert wurden oder Gemüsehändler Obst
form phänomenologisch nach ihrem Habitus. Er aufstapeln. Auf gleich große Kugeln beschränken
wird ganz analog zur sonstigen Wortbedeutung wir uns zunächst, da sich damit die für die Praxis
bei Menschen verwendet, wo sie bezeichnet, ob wichtige Situation bei elementaren Metallen gut
ein Mensch eher gedrungen oder eher hoch- beschreiben lässt. Sorgfältig gestapelte Orangen
gewachsen ist (Å Abbildung 4-55, Seite 154). könnte man ohne Weiteres als Orangenkristall
Kristalle desselben Habitus ähneln sich auf den bezeichnen (Sie sollten aber nicht versuchen, sie
ersten Blick, obwohl ihr genauer Bau sehr wohl unter dieser Bezeichnung zu kaufen).
wichtige Unterschiede aufweisen kann. Umge-
kehrt können Kristalle aus demselben Material
abhängig von ihrer Entstehungsgeschichte durch- B A

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aus einen unterschiedlichen Habitus aufweisen.
A C
4-57 Eine weitere Einteilung, die schon ein wenig
Sechsecke. Die dichteste näheres Hinsehen erfordert, ist die „Tracht“ B B
Packung kreisförmiger
Objekte wie Münzen (ÅAbbildung 4-56, Seite 155). Die Tracht be-
A A
ergibt in der Ebene stets schreibt die Anordnung der Kristallflächen eines
Sechsecke (Hexagone). Kristallkörpers. Die Flächen können dabei bei Hexagonal dichteste Kubisch dichteste
Auch einzelne Schichten
von Kugeln haben diese
unterschiedlichen Kristallen durchaus verschie- Kugelpackung (hcp) Kugelpackung (ccp, fcc)
Symmetrie bei dichtester den groß sein. 4-59
Packung. Überraschen- Dichteste Kugelpackungen. Erstaunlicherweise gibt es
derweise gibt es aber zwei unterschiedliche Arten, wie man Kugeln gleicher
zwei unterschiedliche Atomare Ordnung, die man sieht Größe im Raum so stapeln kann, dass möglichst kleine
Möglichkeiten, solche Hohlräume bleiben.
Kugelschichten mit glei- Wir haben gesehen, dass zur Bildung von Fest-
cher Dichte übereinander
körpern stets eine anziehende Bindungskraft Natürlich bietet die erste Schicht wieder keine
zu stapeln (Å Abbildung
4-59). wirken muss, die mindestens so groß ist, dass andere Möglichkeit, als sie analog zu den Münzen
die Teilchen trotz ihrer thermischen Bewegung zu legen. Wir nennen sie die A-Schicht. Auf die
zusammenhalten. Es muss einfach energetisch entstehenden Lücken, wird die zweite Schicht,
günstiger sein, sich mit seinesgleichen zu as- die B-Schicht, platziert. Versucht man nun fort-
soziieren, als frei herumzufliegen oder in einer zufahren, so bemerkt man, dass es hierfür zwei
Lösung zu schwimmen. Möglichkeiten gibt: entweder man legt wieder
Die auffälligen ebenen Kristallflächen, Kan- eine A-Schicht darüber (so genannt, weil alle
ten und Ecken sind Ausdruck der durch das Kugeln exakt über Kugeln der A-Schicht zu liegen
Gitter gegebenen räumlichen periodischen Ord- kommen). Oder aber man nutzt die Lücken, die
nung, welche die Kristallbestandteile entweder sich weder über A- noch über B-Kugeln befinden.
aufgrund gerichteter kovalenter Bindungen (z.B. Man erreicht also eine ABAB-Anordnung oder
bei Diamant oder Graphit) oder einfach aus eine ABCA-Anordnung. Es stellt sich heraus, dass
Platzgründen (etwa bei Metallen oder Ionenkris- beide Anordnungen den Raum mit ca. 74 (genau
4-58
Wigner-Seitz-Zelle. Diese
tallen) annehmen. Die Metallstrukturen, die auf π / √18) Prozent exakt gleich gut ausnutzen. Man
Zelle entsteht, indem man ungerichteten Bindungen beruhen, lassen sich nennt die ABAB-Anordnung eine hexagonal dich-
auf den Verbindungs- verhältnismäßig einfach beschreiben. Doch wie teste Kugelpackung (hexagonal closest packing,
linien zu den nächsten genau sind die Teilchen darin angeordnet? hcp) und die ABCA-Anordnung eine kubisch
Nachbarn jeweils die
mittelsenkrechte Ebene In der Ebene wird bei einem Versuch mit glei- dichteste Kugelpackung (cubic closest packing,
einzieht (rot). chen Münzen auf dem Tisch sofort klar, dass hier ccp, oder face centered cubic, fcc).

156
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Elementarzellen Im einfachsten Fall befindet sich an jedem Git- Kristall =


Kristallsystem + Basis
terpunkt der Zelle ein Atom oder ein Ion. Es
Die Elementar- oder Einheitszelle bildet den geo- gibt aber auch Kristalle, bei denen jeder einzelne
metrischen Baustein eines Kristallgitters (ÅKas- Gitterpunkt aus ganzen Molekülen oder gar
ten Kristallsysteme und die 14 Bravais-Gitter, Molekülgruppen (Å Kristalle aus Viren) besteht. 4-61
Seite 154). Der komplette Kristall ist einfach Die materielle Grundlage eines Kristalls bezeich- Quasikristalle – Exoten
eine Wiederholung der Elementarzelle in alle net man als seine Basis. Ein bestimmter Kristall unter den Kristallen. Was
DANIEL SCHECHTMANN im Jahr
Richtungen. besteht also immer aus einem Kristallsystem und 1982 auf dem Röntgen-
einer Basis. Bei einatomiger Basis ordnet man beugungsdiagramm einer
A das Kristallsystem meist so an, dass die Ecken von ihm synthetisierten
Aluminium-Mangan-Legie-
der Elementarzellen gerade in den Atommittel- rung sah, war unerhört: Die
punkten liegen (Å Abbildung 4-60). In diesem Reflexe eines Kristalls mit
Fall ist die Geometrie des Kristalls besonders fünfzähliger Symmetrie! (A).
Fünfzählige Symmetrie galt
anschaulich darzustellen. Für viele physikalische als völlig unmöglich, da sich
Fragestellungen ist aber die sogenannte Wigner- Fünfecke in der Ebene nun
Seitz-Zelle praktischer (Å Abbildung 4-58). Man einmal nicht lückenlos anei-
sc nander legen lassen.
konstruiert sie, indem man zwischen jedem Git-
Tatsächlich aber hatte der
B terpunkt und seinen unmittelbaren Nachbarn die britische Mathematiker
Grenzen so zieht, dass alle Punkte innerhalb der ROGER PENROSE bereits in
Grenze näher am umschlossenen Gitterpunkt den 1960er Jahren spezielle
Parkettierungen der Fläche
liegen als an den anderen. Die Wigner-Seitz- mit Rauten untersucht.
Zelle ist offensichtlich eine Elementarzelle mit Im Jahr 1974 publizierte
dem kleinsten möglichen Volumen. Da sie sehr er zusammen mit ROBERT
AMMANN über aperiodische
einfach zu konstruieren ist, leistet sie bei der the- Kachel-Muster mit lokaler
bcc
oretischen Beschreibung elementarer physikali- fünfzähliger Symmetrie.
C scher Eigenschaften von Kristallen gute Dienste. Er nannte sie quasiperio-
disch. „Quasi“, weil sie
Um die Zahl der Teilchen pro Elementar- nicht über die für Kristalle
zelle zu bestimmen, muss man berücksichtigen,
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ansonsten typische Trans-


dass die Atome an den Ecken und Seitenflächen lationssymmetrie verfügen.
SCHECHTMANN erhielt für
zu mehreren Zellen gleichzeitig gehören. Beim seine Entdeckung realer
einfachen kubischen Gitter mit vier Teilchen in Quasikristalle dieser Struk-
den Ecken gehört jedes zu vier Würfeln, so dass tur 2011 den Nobelpreis.
fcc Noch heute wirken solche
hier nur ein Teilchen pro Zelle gezählt werden
Muster (B) auf den Betrach-
darf. Beim flächenzentrierten kubischen Gitter ter eigenartig faszinierend
4-60
Kubische Elementarzellen. Das hier exemplarisch darge- gehört jedes Teilchen auf den Seitenflächen zu und verwirrend zugleich.
Kurioserweise waren sie
stellte kubische Kristallsystem ist über seine Symmetrie- zwei Zellen, so dass sich mit den Eckpunkten
arabischen Künstlern offen-
elemente definiert. insgesamt vier Teilchen pro Zelle ergeben. Die bar schon lange bekannt,
A: Beim kubisch primitiven Gitter (simple cubic, sc) sind
nur die Eckpunkte mit Atomen belegt. Jedes Atom hat Packungsdichte eines Gitters berechnet sich aus man findet diese Symmetrie
der Anzahl Teilchen pro Zelle, der Zellengröße etwa in den Ornamenten
sechs nächste Nachbarn (Koordinationszahl = 6). Die
des Darb-i-Imam-Schreins
prozentuale Raumerfüllung dieses in der Natur selten und der maximalen Größe der als Kugeln gedach- in Isfahan.
vorkommenden Gitters ist bei gleichen Kugelradien nur
ca. 52 Prozent.
ten Teilchen. Diese Größe wird so gewählt, dass Inzwischen kennt man
die Teilchen gerade zusammenstoßen. Wie schon zahlreiche Legierungen aus
meist drei Komponenten,
B: Das kubisch raumzentrierte Gitter (body centered cubic, oben ausgeführt, haben hexagonale und flächen- die bei schneller Abkühlung
bcc) entsteht, wenn auch die Plätze in der Mitte der Ele-
mentarzelle belegt sind. Die Koordinationszahl ist 8, und
zentrierte Gitter die größten Packungsdichten. Quasikristalle bilden und
interessante Materialeigen-
der Raum wird zu 68 Prozent gefüllt. Viele Metalle, unter
schaften aufweisen (C).
anderem alle Alkalimetalle, kristallisieren in diesem Gitter.
Koordinationszahl Einige davon sind sogar in
bestimmten Temperatur-
C: Sind die Seitenflächen der Elementarzelle belegt, so
Oft wird auch die sogenannte Koordinationszahl bereichen die thermodyna-
kommt man zum kubisch flächenzentrierten Gitter (face
misch stabilsten Phasen. In
centered cubic, fcc). Jedes Atom hat hier 12 nächste eines Gitters angegeben. Sie beschreibt die Zahl Russland (Koryak-Berge auf
Nachbarn, und die Raumerfüllung erreicht mit ca. 74 Pro- der nächsten Nachbarn eines Teilchens im Gitter. der Kamtschatka-Halbinsel)
zent ihren höchstmöglichen Wert. Man spricht deshalb
Bei Ionenkristallen zählt man allerdings nur die fand man auch erstmals
auch von der kubisch dichtesten Kugelpackung (engl.
einen natürlichen Quasi-
cubic closest packing, ccp). (ÅAbbildung 4-59). Zahl der nächsten Teilchen mit entgegengesetz-
kristall (D). Ungewöhnliche
Verhältnisse von Sauerstoff-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

A B C D Isotopen deuten nach Un-


tersuchungen der Princeton
University darauf hin, dass
es sich um Bestandteile
eines Meteoriten handeln
könnte.
KAPITEL 4 Demokrits Erben

ter Ladung. Einfache kubische Kristalle haben Modifikationen


die Koordinationszahl sechs, flächenzentrierte
kubische Gitter die Zahl acht. Die Anionen (ne- Die Anordnung der Atome und Ionen in kon-
gativ geladen) und Kationen (positiv geladen) densierter Materie wie Kristallen und Molekülen
eines Ionenkristalls müssen im Mittel so ange- ist für die physikalischen und chemischen Eigen-
ordnet sein, dass sich ihre Ladungen ausgleichen. schaften eines Stoffs genau so wichtig wie die
Ist also das Kation zweifach positiv geladen und Identität der Atome selbst. Kommt ein Stoff in
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

das Anion einfach negativ, so muss die Koordi- mehreren Varianten vor, so bezeichnet man diese
nationszahl der Kationen doppelt so groß sein Erscheinung allgemein als Polymorphie (griech.
wie die der Anionen: Jedes Kation benötigt im „Vielgestaltigkeit“). Die einzelnen Varianten
Mittel doppelt so viele Anionen als Nachbarn werden dann Modifikationen genannt. Das Auf-
wie umgekehrt. treten unterschiedlicher Modifikationen bei che-
4-62 mischen Reinelementen nennt man Allotropie.
Kristalle aus Viren. Das
Tabakmosaikvirus (TMV) Teilchengröße in Elementarzellen Polymorphie bei Verbindungen bzw. allotrope
gehört zu den ersten un- Modifikationen eines Elements können zu Un-
tersuchten Viren. Sie befal- Neben der Ladung spielt bei Kristallen aus terschieden in nahezu allen Materialeigenschaf-
len Tabakpflanzen und lö-
sen die Tabakmosaikkrank- verschiedenen Teilchen natürlich auch deren ten führen, etwa Lichtbrechung, Farbe, Dichte,
heit aus. Die etwa 300 nm unterschiedliche Größe eine Rolle. So sind An- Härte, Schmelzpunkt, chemische Reaktivität,
langen Partikel bestehen ionen aufgrund der zusätzlichen Elektronen Leitfähigkeit. Wir haben bereits zu Beginn dieses
aus 2130 identischen Pro-
teinen, die sich regelmäßig meist größer als Kationen. Oft sind daher in Kapitels einige typische Beispiele kennengelernt.
um die Erbsubstanz (RNA) Ionenkristallen die Anionen an den Gitterpunk- So allen voran die Polymorphie zwischen Graphit
anordnen. Auch ganze ten eines Gitters angeordnet, während die Kat- (C, Dichte 2,1 – 2,3 g / cm3; Mohs-Härte 1) und
Virenröhrchen lagern sich
regelmäßig aneinander
ionen ein in dieses Gitter eingepasstes, zweites Diamant (C, Dichte 3,5 g / cm3; Mohs-Härte 10).
und bilden kristalline Gitter bilden. Aus Sicht der Anionen sitzen sie Bei Phosphor haben wir die weiße, rote und
Strukturen. Unter dem auf Zwischengitterplätzen. So bildet einerseits schwarze Modifikation erwähnt, bei Schwefel
Elektronenmikroskop kann
Natriumchlorid (Kochsalz, NaCl) ein flächen- und auch bei Zinn finden wir Modifikationen.
man sie nach Anfärbung
mit Schwermetallsalzen zentriertes kubisches Gitter, auf dem sich jeweils Polymorphie kommt offensichtlich am häufigs-
sichtbar machen. Chlorid- und Natriumionen abwechseln, wäh- ten bei Feststoffen vor, was nicht überraschen
rend beim Zinksulfid (Zinkblende, ZnS) trotz muss, sind doch hier die Anordnungen der Teil-
gleicher Ladungsverhältnisse die Zinkionen ku- chen offensichtlich stabil. Viele Elemente zeigen
bisch flächenzentriert angeordnet sind und die polymorphe Modifikationen in Abhängigkeit
Sulfidionen ein kubisches Gitter auf Zwischen- von thermodynamischen Verhältnissen (α-Eisen,
gitterplätzen bilden (ÅAbbildung 4-64). Das γγ-Eisen mit unterschiedlichen Gitterstrukturen,
Ionenradienverhältnis von Natrium- zu Chlor- Å Abbildung 4-82). Aber auch von gasförmigen
Ionen beträgt 0,536, während das zwischen Substanzen sind Modifikationen bekannt, so sind
Zink und Schwefel 0,402 beträgt. Auch kleinere die molekularen Gase Sauerstoff (O2) und Ozon
Moleküle, insbesondere die sehr kleinen Was- (O3) beides Modifikationen des Elements Sau-
sermoleküle, können in Kristallen Koordinati- erstoff. Diese Molekülmodifikationen können
onsplätze einnehmen. Man bezeichnet es dann bei Abkühlung selbst wieder in verschiedenen
als Kristallwasser, die entstehenden Stoffe als Gittern kristallisieren und so weitere Modifika-
Hydrate. Meist ist Kristallwasser nur locker tionen bilden.
4-63 gebunden, und ein solcher Kristall zerfällt bei Durch das Auffinden immer neuer metasta-
Kupfer(II)-sulfat. Blaue mäßiger Erhitzung. Beispielsweise verlieren die biler bzw. nur unter Extrembedingungen stabiler
Pentahydrat-Kristalle ge-
hen bei Erhitzen in farblo- wunderschön blauen Kristalle des Kupfersul- Modifikationen sowie durch die Beschäftigung
ses Anhydrit-Kupfersulfat fat-Pentahydrats (CuSO4 · 5 H2O) ab ca. 88 °C mit nanostrukturierten Metamaterialien kommen
über. sukzessive ihr Kristallwasser und gehen in das immer mehr exotische Stoffe zutage und sprengen
ungefärbte Anhydrit über. die Grenzen klassischer Modifikationen.
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4-64
Ionengitter. Abhängig von
den Radienverhältnissen
der beteiligten Ionen neh-
men Ionenkristalle unter-
schiedliche Strukturen an.

158
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Polymere – Zufall, dass die belebte Welt eine Welt der Koh-
alte Werkstoffe der Menschheit lenstoffpolymere ist, der organischen Polymere.
Polymere werden in späteren Kapiteln einen
Kristalle bestehen aus regelmäßigen Wieder- breiten Raum einnehmen. An dieser Stelle wer-
holungen einer Elementarzelle, die meist nur den wir uns nur über grundlegende Strukturen
wenige Atome umfasst. Auch die sogenannten und Eigenschaften auslassen. Das einfachste or-
Polymere (griech poly, viel, und méros, Teil) ganische Polymer ist gleichzeitig das häufigste in
sind aufgebaut aus elementaren molekularen der Welt der Kunststoffe, das Polyethylen:
Einheiten, den Monomeren. Was sie von den
bisher betrachteten Kristallen unterscheidet,
sind die vorherrschenden kovalenten Bindun-
gen. Da diese im Gegensatz zu ionischen Bin-
dungen starr sind und eine feste räumliche An-
ordnung der Partner bedingen, sind Polymere
„sperriger“. Sie können sich nicht in beliebiger Polyethylen selbst ist bereits sehr robust und
Form im Raum gruppieren: Es ist wesentlich widerstandsfähig. Die Widerstandsfähigkeit ge-
schwerer, Äste kompakt zu stapeln als Orangen. gen chemische Angriffe kann man jedoch noch
Polymere bilden meist Ketten, die Seitenketten enorm steigern, in dem man die Wasserstoff-
tragen können und teilweise miteinander ver- atome durch Fluoratome ersetzt. Man gelangt
netzt sind (Å Abbildung 4-65). so zum Polytetrafluorethylen, besser bekannt
Viele Moleküle können als Monomere dienen, unter dem Handelsnamen Teflon™:
weshalb auch die Zahl unterschiedlicher Poly-
mere sehr groß ist. Demgegenüber wirkt das
Reich der Kristalle und Mineralien geradezu
eintönig. So bestehen alle Lebewesen aus Poly-
meren, nämlich aus Proteinen, Lipiden, Nukle-
insäuren und Polysacchariden. Auch einer der Etwas üppiger fallen die Seitenketten beim Poly-
ältesten Werkstoffe der Menschheit, das Holz, styrol (zum Beispiel Styropor™) aus, dessen
hat seine Werkstoffeigenschaften vor allem den Monomer ein Sechseck aus C-Atomen (die man
Polymeren Cellulose und Lignin zu verdanken. nicht einzeln darstellt) enthält, dem sogenannten
Und natürlich sind Polymere als Kunststoffe aus Benzolring:
unserer heutigen Welt nicht mehr wegzudenken
(ÅAus dem Leben der Beuteltiere, Seite 291).

Welche Moleküle eignen sich als


Monomere?
4-65
Vernetzte Polymere. Aus-
So, wie man zur Bildung einer Menschenkette
schnitt aus der Struktur
mindestens zwei Arme braucht, sollte ein Mo- Nicht nur Ketten, auch komplexe Netzwerke las- des hochpolymeren Holz-
nomer mindestens aus einem Atom bestehen, sen sich mit organischen Monomeren bilden, wie Gerüststoffs Lignin.
das mit zwei benachbarten Atomen Bindungen das Lignin beweist, der Gerüststoff der Pflanzen.
bilden kann. Auf diese Weise vermag flüssiger Diese wenigen Beispiele zeigen bereits die
Schwefel lange Molekülketten zu bilden. Mole- große Vielseitigkeit der Polymere. Und diese
küle, die rechts und links über freie Bindungen Vielseitigkeit setzt sich auch bei den Material-
verfügen, sind generell gut geeignete Monomere. eigenschaften fort. Polymere sind reißfest (Ny-
Am einfachsten entstehen sie mit Atomen, die lon) oder elastisch (Gummi), lichtundurchlässig
selbst mehr als zwei Bindungen eingehen kön- oder transparent (Plexiglas), fest (Polyethylen)
nen, da dann noch Platz ist für Seitengruppen oder gelartig (Polyethylenglykol). Sie eignen sich
längs der Kette. Und da Kohlenstoff über 4 deshalb für eine Vielzahl von Anwendungsberei-
Valenzelektronen verfügt, also bis zu vier Bin- chen. In Organismen dienen sie als Membranen,
dungspartner haben kann, ist er besonders gut Enzyme, Baustoffe und – als DNA – zur Infor-
geeignet, Makromoleküle zu bilden. Es ist kein mationsspeicherung.

159
KAPITEL 4 Demokrits Erben

Klassifikation von Polymeren Haken und Ösen für feste Stoffe und runde für
Flüssigkeiten, aber auch bereits modern anmu-
Die Vielfalt der Polymere macht eine Klassifika- tende Vorstellungen von Kräften verschiedener
tion schwierig. Meist wird zwischen den in Le- Reichweite, welche die Bildung von immer grö-
bewesen vorkommenden Biopolymeren und den ßeren Zusammenballungen von Atomen erklä-
synthetischen Polymeren unterschieden. Eine ren sollten (ÅVon Minima Naturalia zu Atomen,
Zwischenstellung nehmen die chemisch modifi- Seite 64). Diese frühen „Kraft“modelle wiesen
zierten Biopolymere wie Celluloid oder Kunst- bereits eine gewisse Ähnlichkeit mit modernen,
seide ein. Synthetische Polymere, also Kunst- quantenphysikalisch begründeten Modellen auf.
stoffe im eigentlichen Sinn, werden meist auf- Ihr Nachteil war, dass über die Natur und Stärke
grund ihrer Materialeigenschaften klassifiziert. dieser Kräfte Ad-hoc–Annahmen getroffen wer-
Die Sperrigkeit der Moleküle und der Grad ihrer den mussten, da sie weder experimentell noch
Vernetzung sind hier bestimmend. Diese Sper- theoretisch bestimmt werden konnten. Dies ist
rigkeit wird vor allem bestimmt durch Größe dank der Quantentheorie heute anders. Und
und Anordnung der Seitenketten und die Art dennoch ist es keineswegs so, dass die Eigen-
der Bindungen der Kettenglieder. π-Bindungen schaften der Stoffe sich dadurch wie von selbst
können im Gegensatz zu σ-Bindungen nicht ergeben. Mit Ausnahme von Gasen bestehen
entlang der Bindungsachse rotieren, was die Ket- Stoffe aus mehr oder weniger festen Zusammen-
ten starrer macht (ÅAtombindung, Seite 148). ballungen vieler Atome, und ihre Eigenschaften
Große Seitenketten machen die Moleküle eben- sind nicht nur eine Funktion der Atome selbst,
falls unbeweglicher, insbesondere erschweren sie sondern auch davon, wie diese sich organisieren.
das Gleiten der Ketten aneinander. Wir haben eine wichtige Klasse solcher Stoffe
Thermoplaste sind Polymere, die durch Er- bereits kennengelernt: die Kristalle. Ihre Homo-
wärmung ähnlich wie Glas formbar, unterhalb genität bietet relativ einfache Ansätze, um ihre
der sogenannten Glasübergangstemperatur aber Eigenschaften theoretisch zu beschreiben. Für
fest sind. Sie bestehen aus unvernetzten, flexib- nicht-kristalline Stoffe wie Flüssigkeiten müssen
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

len Ketten. Zu den Thermoplasten gehören das andere Methoden gefunden werden. Wir werden
Polyethylen und das Plexiglas. Elastomere wie in diesem Abschnitt die wichtigsten Stoffeigen-
Gummi bestehen aus verknäulten Molekülen, schaften aus der Organisation ihrer Teilchen und
die sich durch Zug reversibel dehnen können. deren Eigenschaften qualitativ begründen. Eine
Sie sind deshalb elastisch. Duroplaste sind stark quantitative Ableitung ist meistens äußerst kom-
vernetzte, lineare oder verzweigte Molekülket- plex und vor allem bei Stoffen mit komplexer
ten. Sie sind daher hart und kaum elastisch. Im Struktur nur mit Hilfe von Computern möglich.
4-66
Gegensatz zu den Thermoplasten werden sie
Polymere. Polymere aus durch Erhitzen nicht weich, sondern zersetzen Das Ganze ist mehr als seine Teile: Emergenz
unverzweigten Ketten (a) sich. Polyurethan-Hartschaum als Dichtmasse
sind weicher, da die Ket-
ist ein häufig verwendetes Duroplast. — Die spontane Entstehung neuer Eigenschaften,
ten leichter gegeneinander
bewegt werden können. wenn sich Elemente zu einem Ganzen vereinigen,
Verzweigungen (b) kön- Eigenschaften der Stoffe wird als Emergenz (lat. emergere, auftauchen,
nen die Festigkeit erhö- hervorkommen, sich zeigen) bezeichnet. Es gibt
hen, da sie die Beweglich-
keit behindern. Vernetzte Das Ganze aus den Teilen viele Beispiele für Emergenz in unserer Welt,
Polymere (c, d) sind fester, von der Biologie und Medizin über die Chemie
aber auch spröder. Bereits die Atomisten der Antike sahen, dass und Physik bis in die Mathematik. Ein Beispiel
die Annahme kleinster Teilchen nicht erklärt, aus der Physik ist der Druck eines Gases in
warum es Stoffe mit unterschiedlichen Eigen- einem Gefäß. Er ist eine emergente Eigenschaft
schaften gibt. Warum ist Metall elastisch und des Gases, nicht die Eigenschaft eines Gasmo-
Stein brüchig? Warum sind beide hart und Was- leküls. Der Druck entsteht dadurch, dass zu
ser flüssig? Und warum ist Quecksilber flüssig, jedem Zeitpunkt sehr viele Moleküle gegen die
obwohl es ein Metall ist? Wie wir in ÅKapitel Gefäßwände stoßen, was dazu führt, dass diese
3 bereits gesehen haben, entstanden im Lauf nach außen „gedrückt“ werden. Druck ist ein
der Zeit unterschiedliche Modelle, um die Ei- Beispiel dafür, wie emergente Eigenschaften
genschaften der Stoffe zu erklären: Atome mit sich anschaulich aus dem kollektiven Verhal-

160
Erde, Wasser, Luft und Feuer

ten der elementaren Bausteine erklären lassen. kennen die meisten dieser Größen aus dem Alltag
Ein einzelnes Gasmolekül versetzt dem Gefäß und denken im Allgemeinen nicht darüber nach,
einen Stoß, ein gleichmäßiger Druck entsteht worin ihre Verlässlichkeit besteht. Vom Druck ei-
erst durch die kollektiven Stöße vieler Moleküle. nes Gases haben wir bereits gesprochen, weitere
Werden wir von einem Menschen angerempelt, Größen dieser Art sind die Temperatur, das Vo-
sprechen wir von einem Stoß, im Falle einer lumen, die Masse und die Energie eines Systems,
Menschenmenge, die sich uns entgegenstellt, um nur die wichtigsten zu nennen. Der Physiker
sprechen wir von Druck. nennt sie Zustandsgrößen, und sie ändern ihren
Andere emergente Eigenschaften sind weni- Wert nicht, wenn das System sich im Gleichge-
ger offensichtlich. Woher bekommt eine Schnee- wicht mit seiner Umgebung befindet. Auch ist
flocke ihre filigrane Struktur? Wie entsteht aus ihr Wert nur vom aktuellen Zustand des Systems
dem Zusammenspiel vieler Moleküle eine sich abhängig, nicht von seiner Vorgeschichte. Egal,
selbst vermehrende, autonome Bakterienzelle? ob ein Körper zuvor heiß oder eisgekühlt war,
Und wie entsteht Bewusstsein aus dem kollekti- wird er in ein zwanzig Grad Celsius warmes
ven Zusammenspiel der Neuronen unseres Ge- Zimmer gebracht, beträgt seine Temperatur am
hirns? Muss hier womöglich noch etwas anderes, Ende immer zwanzig Grad.

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der Geist, von außen dazukommen? Noch bevor die Menschen über den konkre-
Spricht man von Emergenz, so hat man dem ten Aufbau der Stoffe Bescheid wussten, entdeck-
Kind einen Namen gegeben, aber die Frage, wie ten sie einige dieser Zustandsgrößen und stellten
emergente Eigenschaften aus dem kollektiven wichtige Beziehungen zwischen ihnen auf, unter
Verhalten der Elemente entstehen, ist damit noch anderem:
nicht geklärt. Und je komplexer ein System ist,
desto schwieriger ist eine Erklärung. Bei Lebe- 1 den Energieerhaltungssatz, auch als erster
wesen wurde sie noch vor wenigen Jahrzehnten Hauptsatz der Wärmelehre bezeichnet; er pos-
als praktisch unmöglich betrachtet. Und doch tuliert die Äquivalenz von Wärme und mecha-
stellte sich heraus, dass sich selbst bei den kom- nischer Arbeit,

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plexesten Systemen Grundmuster identifizieren
lassen, die emergenten Eigenschaften zugrunde 2 den Masseerhaltungssatz,
liegen. Wir werden uns diesem faszinierenden
Thema in Kapitel 9 widmen. 3 den zweiten Hauptsatz der Wärmelehre,
Im Rest dieses Kapitels werden wir uns vor nach dem in zyklischen Prozessen die vollstän-
allem mit den eher alltäglichen Eigenschaften dige Umwandlung von Wärme in eine andere
von Stoffen beschäftigen. Wir werden erklären, Form der Energie unmöglich ist, 4-67
warum Stoffe hart oder weich, brüchig oder Emergenz. Komplexe Ei-
genschaften wie die Form
elastisch sind, warum Metalle den Strom leiten 4 die Zustandsgleichung der Gase, die den
einer Schneeflocke, das
und Isolatoren nicht, warum Glas durchsichtig Zusammenhang zwischen Druck, Temperatur Verhalten einer Bakterie
ist und Metalle das Licht reflektieren und vieles und Volumen idealer Gase beschreibt. oder die Entstehung des
mehr. menschlichen Geistes be-
ruhen ebenso auf den Or-
Es war die Geburtsstunde der klassischen Ther- r ganisationsstrukturen wie
Zustandsgrößen modynamik, der Wärmelehre. Erst einige Zeit auf einfachen Eigenschaf-
später, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, begann ten ihrer Komponenten.
Wenn Stoffe aus einer Vielzahl von Atomen be- man, die Zustandsgrößen und die Zustands-
stehen und diese auch keineswegs bewegungslos gleichung aus dem Verhalten kleinster Teilchen
verharren, wie kommt es dann, dass es doch abzuleiten (ÅࡳWärme und Materie, Seite 90).
vergleichsweise ruhig zugeht um uns herum? Die Es war die Geburtsstunde der sogenannten Sta-
Luft scheint überall recht gleichmäßig verteilt tistischen Physik, mit der wir uns noch im 9.
zu sein, Körper sind in der Regel gleichmäßig Kapitel beschäftigen werden. Die statistische
warm, Eis schmilzt beim Erwärmen, und beim Physik führt nicht nur den Druck eines Gases
Abkühlen erstarrt es wieder. Bei all dem Gewusel auf die Stöße der Gasmoleküle zurück, sondern
und Zittern der atomaren Welt, in der sichtbaren erklärt auch das Wesen der Temperatur: Sie ist
Welt gibt es offenbar Größen, die nicht vom ein Ausdruck der Atombewegungen. Je schneller
Zustand jedes einzelnen Atoms abhängen. Wir sie sich bewegen, desto höher ist die Temperatur.

161
KAPITEL 4 Demokrits Erben

Wenn wir einem Körper Energie zuführen, wird spontan zu Membranen, da diese Anordnung
er „heiß“: die zugeführte Energie wird in Bewe- entropisch günstiger ist.
gungsenergie der Atome umgesetzt. Der spontane Ablauf eines Prozesses ist mit-
hin nichts anderes als die Bewegung des Sys-
tems von einem weniger wahrscheinlichen in
einen wahrscheinlicheren Zustand. Entropie und
Energie sind miteinander verknüpft. Die Energie
eines Systems liegt teils als Bindungsenergie und
teils als Bewegungsenergie seiner Teilchen vor.
Die Zufuhr von Wärme führt in der Regel zu
einem Anstieg der ungeordneten Bewegungen
der Atome, also zu einer Zunahme der Entropie.
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Betrachtet man Prozesse bei konstantem


Druck und konstanter Temperatur, so kann man
eine weitere Zustandsgröße einführen, die sich
gegenläufig zur Entropie verhält: Ein Prozess
läuft spontan ab, wenn die sogenannte Freie
Enthalpie des Systems dabei sinkt. Der Vorteil
der freien Enthalpie gegenüber der Entropie
ist, dass sie nur vom System selbst abhängt,
nicht von dessen Umgebung, während bei der
4-68 Entropie immer das System und die Umgebung
Zustandsgleichung der Gase. Zwischen Druck, Volumen
und Temperatur eines idealen Gases besteht ein fester gemeinsam betrachtet werden müssen, da nur
Zusammenhang. Bei einem idealen Gas gibt es keine die Gesamtentropie abnehmen muss. Anschau-
Bindungskräfte zwischen den Gasmolekülen, sie verhal- lich ist die Freie Enthalpie der Energieanteil im
ten sich wie Billardkugeln. In realen Gasen wirken Kräfte
zwischen den Molekülen, die sich umso stärker bemerk- System, der nicht in ungeordneter Bewegung
bar machen, je näher die Moleküle einander kommen. gespeichert ist. Die Freie Enthalpie ist auch die
Deshalb weicht ihre Kurve bei hohem Druck von der Energiemenge, die durch chemische Reaktionen
Ideallinie ab (Quadrate).
gewonnen werden kann. Ist die Enthalpiediffe-
renz zwischen Ausgangs- und Endprodukten
Entropie und Freie Enthalpie einer Reaktion negativ, so läuft sie nach ihrem
Beginn ohne weiteres Zutun ab. Deshalb bren-
Der spontane Ablauf Viele Prozesse in der Natur laufen spontan ab: nen Benzin und Wasserstoff, bis gelöscht wird
eines Prozesses ist die Heißes Wasser kühlt ab, Salz löst sich in Was- oder der Brennstoff verbraucht ist.
Bewegung des Systems
von einem weniger ser, Benzin verbrennt, sobald es einmal ange-
wahrscheinlichen in ei- zündet ist. Noch bevor man die Grundlagen Wie viel wiegt ein Atom?
nen wahrscheinlicheren dieser spontanen Prozesse auf atomarer Ebene
Zustand.
verstand, definierten Physiker eine Zustands- Schon bevor man in der Lage war, die Masse
größe, die solche Vorgänge charakterisiert: die eines Atoms zu ermitteln, lag der Gedanke nahe,
Entropie. Ein Prozess läuft nur dann spontan dass die Atome verschiedener Elemente auch
ab, wenn in seinem Zug die Entropie ansteigt. unterschiedlich schwer sein mussten. So ließ sich
Dabei haftet der Entropie nichts Mystisches an, am einfachsten erklären, warum die Mengen-
obwohl dies manchmal so empfunden wird. verhältnisse der Ausgangsstoffe bei chemischen
Wie wir in ÅKapitel 9 sehen werden, ist sie eine Reaktionen immer konstant sind. 1805 veröf-
Größe, die lediglich die Wahrscheinlichkeiten fentlichte JOHN DALTON
L eine Tabelle relativer
von Zuständen bewertet. Da oft Unordnung Atomgewichte auf Basis des leichtesten Ele-
(Strukturlosigkeit) wahrscheinlicher ist als Ord- ments Wasserstoff, das das Gewicht „1“ erhielt
nung, sagt man gelegentlich, dass Entropie ein (Å Atomgewichte messen, Seite 74). Im Lauf
Maß für die Unordnung eines Systems sei. Es der Zeit zeigte sich, dass es aus experimentel-
gibt allerdings Fälle, in denen Entropiezuwachs len Gründen praktischer war, das schwerere
einhergeht mit einer Zunahme an Ordnung. So Element Sauerstoff als Referenz zu verwenden,
gruppieren sich manche Biomoleküle im Wasser ihm wurde das relative Atomgewicht 16 zuge-

162
Erde, Wasser, Luft und Feuer

teilt. Wenig später stellte man fest, dass es ver- lenstoffatome auch zwölfmal schwerer sein als
schiedene Isotope des Sauerstoffs gibt. Während tausend Wasserstoffatome. In 12 g Kohlenstoff
Chemiker die natürlich vorkommende Isotopen- sollten daher ebenso viele Atome enthalten sein
mischung des Sauerstoffs als Basis des relativen wie in 1 g Wasserstoff. Um Stoffmengen auf
Atomgewichts verwendeten, nutzten Physiker diese Weise zu vergleichen, wurde die Einheit
dafür das reine Isotop 16O, was dazu führte, dass Moll eingeführt.
zwei unterschiedliche Maßeinheiten parallel be-
nutzt wurden. Um diesen Missstand zu beheben, Ein Mol eines Stoffes enthält ebenso viele Atome Die atomare Massenein-
heit u ist ein Zwölftel des
wurde schließlich 1961 ein internationaler Stan- (oder Moleküle) wie genau zwölf Gramm Koh- Gewichts eines Kohlen-
dard auf Basis des reinen Kohlenstoffisotops 12C lenstoff (12C). stoffatoms des Isotops
12C.
eingeführt. Eine atomare Masseeinheit (atomic
mass unit) u ist seither definiert als ein Zwölftel Da in chemischen Reaktionen das Verhältnis
des Gewichts eines neutralen, nicht angeregten der Teilchenzahlen der Reaktionspartner kons-
Kohlenstoffatoms, das sechs Protonen und sechs tant ist, lassen sich mit Hilfe dieser Einheit die
Neutronen enthält: Mengenverhältnisse einer chemischen Reaktion
unabhängig von der Masse der Reaktionspartner
1 u = 1,660 538 782 (83) · 10 –24 g darstellen:

In der Biochemie ist neben u auch die Einheit 1 Sauerstoffatom + 2 Wasserstoffatome


Dalton (Da) gebräuchlich: 1 u = 1 Dalton (Da). → Wasser
Ginge man davon aus, dass Protonen und 1 Kohlenstoffatom + 2 Sauerstoffatome
→ Kohlendioxid
Neutronen gleich schwer sind, so sollten beide
1 u schwer sein. In Wirklichkeit sind die Neu- Reaktionsglei- O + 2H → H2O
chungen C + 2O → CO2
tronen allerdings etwas schwerer:
Mengenverhält- 1 Mol O + 2 Mol H → 1 Mol H2O
Protonenmasse = 1,007 276 466 88 u nisse in Mol 1 Mol C + 2 Mol O → 1 Mol CO2
Neutronenmasse = 1,008 664 915 78 u Mengenverhält- 16 g O + 2 g H → 18 g H2O
nisse in g 12 g C + 32 g O → 48 g CO2
Die Summe von sechs Protonen- und sechs Neu-
tronenmassen ist jedoch nicht gleich der Masse Avogadro-Konstante und Molvolumen
des Kohlenstoffkerns. Das ist eine Folge der
Äquivalenz zwischen Masse und Energie, die Offensichtlich sagen weder das Atomgewicht
in der berühmten Gleichung E = mc2 zum Aus- noch die Stoffmenge etwas darüber aus, wie
druck kommt. Der sogenannte Massendefektt von groß das eingenommene Volumen ist. Obwohl
Atomen entsteht dadurch, dass in ihnen ein Teil 1 g Wasserstoff die gleiche Anzahl Atome enthält
der Masse der Neutronen und Protonen als Bin- wie 12 g Kohlenstoff, nimmt ersterer offensicht-
dungsenergie vorliegt. Aus diesem Grund sind lich wesentlich mehr Volumen ein, schließlich
die Atome um etwa 0,8 Prozent leichter, als sie handelt es sich um ein Gas. 1811 erkannte der
rechnerisch sein sollten (beziehungsweise freie italienische Physiker AMADEO AVOGADRO, dass
Protonen und Neutronen entsprechend schwerer). gleiche Volumina verschiedener Gase die gleiche
Aufgrund des Massendefekts und der in den Anzahl Teilchen enthalten. Später gelang es, diese
natürlichen Vorkommen vorhandenen Isotopen- Anzahl tatsächlich zu bestimmen, und ihm zu
mischungen sind die relativen Atomgewichte Ehren wurde die Zahl der Atome oder Moleküle
der Elemente keine ganzzahligen Vielfache von pro Mol als Avogadro-Konstante bezeichnet:
u. Entsprechende Tabellen beziehen sich meist
auf die Zusammensetzung der natürlichen Vor- NA = 6,022 141 79 (30) · 1023 / mol
kommen.
1 Mol eines beliebigen Gases enthält genau NA Ein Mol enthält
6,022 · 1023 Teilchen.
Mol – ein Maß für die Stoffmenge Moleküle und hat unter Normalbedingungen
(0 °C und 1 atm) ein Volumen von 22,414 Li-
Ein Mol eines idealen Ga-
Weil ein Kohlenstoffatom zwölfmal schwerer ist tern. Man bezeichnet diese Zahl als das Molvo- ses sind bei Normalbedin-
als ein Wasserstoffatom, sollten tausend Koh- lumen eines Gases im betreffenden Zustand. Die gungen 22,414 Liter.

163
KAPITEL 4 Demokrits Erben

Anzahl von Teilchen pro Volumen von Gasen ist serverstärkten Kunststoffen hinsichtlich ihrer
bei gegebenen Werten von Druck und Tempe- elastischen Verformbarkeit. Metalle und Me-
ratur also immer gleich. Dies liegt daran, dass talllegierungen zeigen aufgrund ihres Metall-
in Gasen alle Teilchen weit voneinander ent- gitters eine anisotrope plastische und elastische
fernt sind, ihre Größe spielt also für die Dichte Verformbarkeit. Die magnetische Anisotropie
kaum eine Rolle. Erst bei hohem Druck weichen beschreibt die vorzugsweise Magnetisierungs-
Gase von diesem Verhalten deutlich ab. Bei richtung von ferromagnetischen Körpern. So hat
Flüssigkeiten und Festkörpern enthält ein Mol Eisen drei leichte Magnetisierungsrichtungen
zwar immer noch NA Teilchen, das Volumen entlang der Würfelkanten und vier schwere ent-
ist allerdings abhängig von den herrschenden lang der Raumdiagonalen. Die Erforschung der
Bindungskräften zwischen den Teilchen und magnetischen Anisotropie gewinnt eine wach-
von der Packungsdichte (ÅࡳAggregatzustand). sende Bedeutung für die Entwicklung neuer
Festplatten.
Nicht von allen Seiten gleich – Anisotropie

Bei Versuchen, Gesteine oder Minerale zu zer-

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


kleinern, kann jeder Sammler oft beobachten,
dass seine Objekte nur in ganz bestimmten
Richtungen spaltbar sind. Oder durchsichtige
Minerale zeigen charakteristische Lichtbre-
chungen. Dahinter steckt eine Eigenschaft von
kristallinen Festkörpern, die die Physiker An- 4-69
isotropie nennen. Der Begriff leitet sich von Doppelbrechung. Doppelbrechung bei einem Calcit-
den griechischen Worten an isos, nicht gleich, Kristall. Die Doppelbrechung entsteht durch die rich-
tungsabhängige Ausbreitungsgeschwindigkeit des Lichts
und tropos, Richtung, her und deutet damit an,
im Kristall (Anisotropie).
dass die Richtung eines bestimmten Verhaltens
von inneren Strukturen des jeweiligen Körpers
abhängt. Laut Definition bezeichnet Anisotropie Aggregatzustand
richtungsabhängige physikalische Eigenschaften
von kristallisierter Materie, also von natürli- Die vordergründigste Eigenschaft eines Stoffes
chen Kristallen, Mineralen, Gesteinen und selbst ist sein Aggregatzustand: Handelt es sich um
von Gesteinsschichten sowie von künstlichen einen Festkörper, eine Flüssigkeit oder ein Gas?
Werkstoffen, sofern sie eine innere Ordnung im Bereits die antiken Atomisten glaubten, dass
Aufbau aufweisen. der Aggregatzustand von der Beweglichkeit der
Die Anisotropie zeigt sich in verschiede- Atome abhängt. Je stärker sie aneinander kleben
nen Ausbildungen. Natürliche Kristalle sowie oder ineinander verhakt sind, desto fester sei
die daraus aufgebauten Minerale und Gesteine ein Stoff. Heute sprechen wir nicht mehr von
begünstigen aufgrund der periodischen Anord- Klebstoff, Haken und Ösen, sondern von Bin-
nung ihrer Atome in Kristallgittern anisotrope dungskräften, die zwischen den Atomen oder
Ausrichtungen der Spaltbarkeit, des Wachstums Molekülen eines Stoffes herrschen. Je größer
von ebenen Kristallflächen, der Wärmeleitfä- die Bindungskräfte sind, desto weniger beweg-
higkeit und der unterschiedlichen Härte, meist lich sind die Teilchen und desto fester ist ein
ausgerichtet entlang von Kristallachsen. Die An- Stoff. Ist die Bindungskraft groß, so wird zudem
isotropie bestimmt also maßgeblich die äußere mehr Energie benötigt, um sie voneinander zu
Gestalt eines Kristalls. Geschichtete Gesteine lösen. Und da zwischen Temperatur und Energie
wie z. B. kristalline Schiefer besitzen eine ausge- ein direkter Zusammenhang besteht, hängen
prägte Anisotropie, erkenntlich an ihrem Zerfall Schmelz- und Siedepunkt eines Stoffes von der
in dünne Blätter oder Lagen. Die Bruchfestigkeit Bindungsenergie seiner Teilchen ab. Herrschen
und Verformbarkeit von Gesteinen wird durch zwischen den Atomen oder Molekülen starke
die Anisotropie beeinflusst. Bindungskräfte, so rücken sie näher zusam-
Auch künstliche Werkstoffe zeigen Aniso- men, das heißt, ihre Dichte ist größer (ÅTabelle
tropie. Besonders ausgeprägt ist sie bei glasfa- 4-70).

164
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Kategorisierung von Aggregatzuständen Es gibt mehr als drei...

Offenbar kann man Aggregatzustände kategori- Kristalline Festkörper sind meistens anisotrop,
sieren nach der Beweglichkeit der Teilchen und da die räumliche Anordnung der Teilchen nicht
nach der Bindungsenergie. Bewegungsenergie ist in allen Richtungen gleich ist, ihre Fernordnung
immer dann vorhanden, wenn Teilchen um eine ist richtungsabhängig. Ausbreitungsvorgänge
Achse rotieren, hin- und herschwingen oder sich in diesen Körpern sind daher meist ebenfalls
wie Billardkugeln frei bewegen. Ob bei einer richtungsabhängig, was sich unter anderem als
gegebenen Temperatur ein Stoff fest, flüssig oder optische Doppelbrechung bemerkbar machen Absolute Temperatur T
gasförmig ist, hängt vom Verhältnis zwischen kann (ÅAbbildung 4-69). Flüssigkeiten und Wärmeenergie W~T
Bewegungs- und Bindungsenergie ab. In Fest- Gase sind in der Regel isotrop, da sie ledig-
körpern sind die Teilchen durch die starken Bin- lich über eine Nahordnung verfügen. Es gibt Bindungsenergie E
dungskräfte ortsfest, das heißt, die Bewegungs- bei Flüssigkeiten allerdings auch Ausnahmen, fest W < E
energie kann nur in Schwingungsbewegungen die sogenannten Mesophasen, deren wichtigste flüssig W  E
umgesetzt werden. Wird diese Energie größer als Vertreter die Flüssigkristalle sind, die wir alle gasförmig W >> E
die Bindungsenergie, so schmilzt der Körper. In von LCD-Bildschirmen (LCD = Liquid Crystal
Flüssigkeiten sind die Teilchen nicht ortsfest, al- Display) kennen. Sie verfügen in ein oder zwei
lerdings werden sie von den Bindungskräften in Raumrichtungen über eine Fernordnung, d. h.
ihrer Beweglichkeit gebremst wie ein einzelner sie sind wie Kristalle orientiert, während sie
Mensch in einer Menschenmenge. Bei Flüssig- in den verbleibenden Richtungen Flüssigkeiten
keiten liegt die Bewegungsenergie in der gleichen sind, also nur über eine Nahordnung verfügen.
Größenordnung wie die Bindungsenergie. Wird Es handelt sich also um eine Art kombinierten
durch zugeführte Wärme die Bewegung immer Aggregatzustand zwischen flüssig und fest. Was
heftiger, so können immer mehr Teilchen die sie so interessant macht, ist die Kombination
Flüssigkeit verlassen, die Flüssigkeit beginnt zu aus Anisotropie und Beweglichkeit. Die An-
sieden. Im gasförmigen Zustand schließlich ist isotropie bewirkt eine Vorzugsorientierung der
die Bewegungsenergie wesentlich größer als die Teilchen, ihre Beweglichkeit kann dazu aus-
Bindungsenergie, die Teilchen interagieren im genutzt werden, diese Richtung zum Beispiel
Wesentlichen nur noch über Zusammenstöße. durch Anlegen elektrischer Felder zu ändern.

Diamant Eisen Quecksilber Wasser Ethanol Sauerstoff Helium


(C) (Fe) (Hg) (H2O) (C2H5OH) (O2) (He)
Zustand bei Normal-
bedingungen fest fest flüssig flüssig flüssig gasförmig gasförmig

Bindungsart bei Wasserstoff- Wasserstoff-


Normalbedingungen Atombindung Metallbindung Metallbindung
brücken brücken
Van der Waals Van der Waals

Dichte [g/cm3] 3,51 7,86 13,60 1,00 0,79 0,00143 0,00018

g/Mol 12,00 55,85 200,6 18 46 32 4

Teilchen/cm3
1,76 · 1023 8,48 · 1022 4,08 · 1022 3,35 · 1022 1,03 · 1022 2,69 · 1019 2,68 · 1019

rel. Anzahl Teilchen


pro Vol. (Wasser = 1) 5,26 2,53 1,22 1 0,31 0,000804 0,000801

Schmelzpunkt bei
Normaldruck (°C) 3547 1536 -38,8 0 –114 – 218 -

Schmelzwärme 715
[kJ/mol] 15,0 2,3 6,01 4,6 0,2 -
(Sublimation)

4-70
Stoffe und Aggregatzustand. Ob Stoffe unter Normalbedingungen (0 °C und 1000 hPa = 1 bar) fest, flüssig oder gas-
förmig sind, hängt von der Bindungsstärke zwischen den beteiligten Atomen oder Molekülen ab. Höhere Bindungs-
kräfte sorgen auch für eine höhere Dichte des Stoffes, da die Teilchen näher zusammen rücken, und sie erhöhen den
Schmelzpunkt. Es muss zudem mehr Energie aufgewendet werden, um die Teilchen zu trennen (Schmelzwärme).

165
KAPITEL 4 Demokrits Erben

Das sogenannte Plasma, ein Gas aus ionisierten mehrere Phasen nebeneinander. Neben makro-
Atomen und Elektronen, wird oft als vierter Ag- skopischen Größen wie Dichte oder Magnetisie-
gregatzustand bezeichnet, da es über besondere rung wird eine Phase natürlich auch durch ihre

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Eigenschaften verfügt. Obwohl Plasmen auf der Fernordnung charakterisiert, zum Beispiel wenn
Erde relativ selten auftreten, sind sie kosmisch sich zwei Phasen durch ihre Kristallstruktur
von großer Bedeutung. Sowohl das Innere der unterscheiden. Graphit und Diamant sind zwei
Sterne als auch die Gaswolken im interstellaren Phasen des Kohlenstoffs, und die räumlichen
Raum bestehen aus Plasma. Ca. 99 Prozent der Ausrichtungen der Elementarmagnete repräsen-
normalen Materie im Universum liegt als Plasma tieren zwei Phasen eines Magneten.
vor. Wir werden uns diesem Aggregatzustand
ausführlich in ÅKapitel 8 widmen. Ein universelles Phänomen –
Phasenübergänge
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Phasen und Phasenübergang Diese sehr allgemeine Definition einer Phase,


bei der Magnetisierung, Aggregatzustand, Leit-
Umgangssprachlich wird meist nicht zwischen fähigkeit (und einiges mehr) unter einem Be-
Phasen und Aggregatzuständen unterschieden. griff zusammengefasst werden, ist keinesfalls nur
Man spricht von einer flüssigen Phase oder eine praktische Abstraktion. Es zeigt sich, dass
vom flüssigen Aggregatzustand. Es gibt jedoch Phasenübergänge gleichen Gesetzmäßigkeiten
4-71 gute Gründe dafür, zwischen beiden zu unter- folgen, besonders in den sogenannten kritischen
Plasma. Polarlicht ent-
steht durch Ionisierung scheiden. Physiker definieren den Begriff Phase Bereichen um die kritische Temperatur TC. Dort
der Luftatome in höheren allgemeiner, um einer Vielzahl von Phänomen laufen trotz völlig unterschiedlicher Wechselwir-
r
Schichten durch den so- gerecht zu werden, die sich mit unserem her- kungen nahezu identische Selbstorganisations-
genannten Sonnenwind,
einen Strom hochenerge- kömmlichen Begriff des Aggregatzustands nicht prozesse ab. In den letzten Jahrzehnten wuchs
tischer Teilchen, die von mehr fassen lassen. das Verständnis dieser Prozesse dank neuer ma-
der Sonne ausgesandt Für Physiker ist eine Phase ein homogener thematischer Methoden wie der Renormierungs-
werden. Das entstehende
Plasma leuchtet. In einer
Teil eines (heterogenen) Systems, der durchge- gruppentheorie, für die KENNETH WILSON 1982
Plasmalampe erfolgt die hend über gleiche makroskopische Eigenschaf- den Physik-Nobelpreis erhielt.
Ionisierung der enthalte- ten verfügt. Makroskopische Eigenschaften sind Wir haben bereits gesehen, dass unterschied-
nen Gasatome durch ein
starkes elektrisches Feld.
zum Beispiel die Dichte, der Brechungsindex, die liche Aggregatzustände nur existieren können,
elektrische Leitfähigkeit oder die Magnetisierung wenn zwischen den beteiligten Teilchen Kräfte
(ÅTabelle 4-72). Offensichtlich sind die Aggre- wirken. Der Wechsel vom festen in den flüssigen
gatzustände des Wassers gleichzeitig Phasen. Zustand bei steigender Temperatur bedeutet,
Eine Wasser-Öl-Emulsion hat aber einen Aggre- dass Bindungen zwischen den Teilchen durch
gatzustand und besteht aus zwei Phasen: beide deren zunehmende Wärmebewegung zerbre -
sind flüssig, die Öltröpfchen haben aber eine chen. Im Prinzip gilt dies für alle Arten von
andere Dichte und chemische Zusammenset- Phasenübergängen: Beim Wechsel vom supra-
zung als das umgebende Wasser. Auch in reinen leitenden in den leitenden Zustand „zerbricht“
Stoffen können unter bestimmten Bedingungen die Paarbindung zwischen Elektronen aufgrund
im gleichen Aggregatzustand mehrere Phasen der Wärmebewegung der Atome. Bei Magne-
bestehen. So existieren in Eis und in Eisen teils ten „zerbricht“ die parallele Ausrichtung der

4-72
Unterscheidungsgrößen Makroskopische Größe Phasen
bei Phasen. Phasen sind
durch die Wertebereiche Dichte Gas – Flüssigkeit – Festkörper
bestimmter Zustandsgrö-
ßen charakterisiert. Ihre Magnetisierung Paramagnet – Ferromagnet – Antiferromagnet
sprunghafte Änderung
charakterisiert einen Pha- Elektrisches Dipolmoment Paraelektrikum – Ferroelektrikum
senübergang.
Elektrische Leitfähigkeit Isolator – Metall – Supraleiter

Kristallstruktur z.B. α-Eisen (kubisch-raumzentriert) und γ-


γ Eisen (kubisch-flächenzentriert)

166
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Elementarmagnete durch deren zunehmende


4-74
Wärmebewegung und so fort. Phasendiagramme. In
Das Aufbrechen von Bindungen oder Umla- Phasendiagrammen wird
gerungen beim Phasenübergang erfordern Ener- der Zusammenhang zwi-
schen verschiedenen Zu-
gie, die sogenannte Schmelz-, Verdampfungs- standsgrößen (Tempera-
oder Magnetisierungswärme. Beim Wasserko- tur, Druck, Konzentration,
chen entfleucht diese Energie mit dem Dampf Feldstärke etc.) dargestellt.
Beim Überqueren cha-
in die Luft, ist also „verloren“. Man kann sie
rakteristischer Trennlinien
jedoch wiedergewinnen, in dem man den Dampf treten sprunghafte Zu-
wieder kondensiert. Dieser Effekt wird in Kühl- standsänderungen auf.
schränken und bei Handwärmern ausgenutzt
(ÅAbbildung 4-94, Seite 175).

miger Form vorliegt, sie zeigen auch, in welchen


Bereichen verschiedene Phasen koexistieren kön-
nen. Aus der sehr allgemein gültigen Gibbschen
Phasenregell folgt, dass Stoffe aus einer Kompo-
nente nur in genau einem Punkt, dem sogenann-
ten Tripelpunkt, in allen drei Aggregatzuständen
gleichzeitig existieren können. Die durchgezoge-
nen Linien eines p-T-Diagramms
T kennzeichnen
Druck- und Temperaturwerte, bei denen zwei
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Phasen koexistieren, man nennt sie deshalb auch


Koexistenzlinien. Auch der Verlauf dieser Linien
folgt einem allgemeinen, stoffunabhängigen Ge-
setz, der Clausius-Clapeyronschen Gleichung.
Ein für das Verständnis von Phasenübergän-
gen wichtiger Punkt ist der sogenannte kriti-
4-73 sche Punkt, der das Ende einer Koexistenzlinie
Phasenübergänge. Für Änderungen von Aggregatzustän-
den existieren Begriffe, die die einzelnen Phasenüber- kennzeichnet. Im H-T T-Diagramm ist er als Cu-
gänge bezeichnen. riepunktt bekannt, die zugehörige Temperatur
heißt Curie-Temperatur. Oberhalb des kritischen
Neben der Temperatur gibt es noch andere Grö- Punktes existiert keine Phasengrenze mehr, der
ßen, von denen ein Phasenübergang abhängig sein Unterschied zwischen Flüssigkeit und Gas ver-
kann. Diese Abhängigkeiten stellt man in soge- schwindet. Der Druck in der Gasphase wächst
nannten Phasendiagrammen dar. Die Aggregat- an diesem Punkt so stark an, dass die Dichte
zustände sind bei einfachen Stoffen außer von der des Gases derjenigen der Flüssigkeit entspricht.
Temperatur T nur noch vom Druck p abhängig, Oberhalb des Curie-Punktes sind auch Ferroma-
weshalb man hier von p-T-Phasendiagrammen
T gnete nicht mehr dauerhaft magnetisierbar. Über-
r
oder der Dampfdruckkurve spricht. Bei Ferroma- kritische Flüssigkeiten sind gute Lösungsmittel,
gneten stellt man die Magnetisierung als Funktion da sie die hohe Lösungsfähigkeit von Flüssigkei-
der Feldstärke H und der Temperatur T dar, man ten mit der geringen Viskosität von Gasen ver-
spricht von H-
HTT-Diagrammen (ÅࡳAbbildung 4-74 binden. Mit überkritischem Kohlendioxid lässt
bis 4-78). Bei Mischungen oder Stoffen, die sich sich beispielweise Koffein aus Kaffee entfernen,
bei Erwärmung zersetzen, sind neben p und T überkritisches Wasser löst Siliciumdioxid (Sand).
auch die Stoffkonzentrationen die bestimmenden
Größen. Da man dreidimensionale Diagramme Mischungen
nicht mehr auf Papier darstellen kann, muss man
sich auf eine Auswahl zweier Parameter beschrän- Bisher haben wir uns hauptsächlich um die ato-
ken (ÅMischungen). mare bzw. molekulare Struktur reiner Stoffe
p-T-Phasendiagramme stellen nicht nur dar, gekümmert, also solcher, die aus einer einzigen
wann ein Stoff in fester, flüssiger oder gasför- chemischen Verbindung oder aus einem Element

167
KAPITEL 4 Demokrits Erben

4-75 aber die Materie um uns herum genauer, so


Vereinfachtes Phasen-
diagramm des Wassers. werden wir feststellen, dass in der Realität
Der kritische Punkt des fast immer Mischungen vorliegen. Dies gilt
Wassers liegt bei 221 bar für alle Aggregatzustände. Im einfachsten Fall
(218 atm) und 647 K
(374 °C). Eis kommt bei handelt es sich dabei um molekular verteilte
hohem Druck in verschie- (homogene) Lösungen der Reinstoffe ineinan-
denen Phasen vor (hier der, wie zum Beispiel bei Zuckerwasser. Doch
nicht eingezeichnet).
das ist keineswegs immer so. Interessante Ef-
fekte treten insbesondere in Zusammenhang
mit Phasenübergängen auf. Hier werden kleine
Unterschiede in den Bindungskräften der ver-
schiedenen Teilchen ebenso entscheidend wie
zeitabhängige Vorgänge. Diese Erscheinungen
4-76 spielen sich fernab von thermischen Gleichge-
Phasendiagramm des
wichtszuständen ab und sind deshalb theore-
Kohlendioxids. Koh-
lendioxid liegt bei Nor- tisch viel schwieriger zu beschreiben. Aber für
malbedingungen (1 bar, das Verständnis vieler Materialeigenschaften
298 K/25 °C) nur in Gas- sind gerade diese dynamischen Prozesse ganz
form vor. Da die flüssige
Phase erst ab einem Druck entscheidend.
von 5,11 bar stabil ist Bei Stoffmischungen sind Phasenübergänge
(Tripelpunkt), sublimiert auch von den Konzentrationen der beteiligten
gefrorenes Kohlendioxid
bei Zimmertemperatur. Stoffe abhängig. In Phasendiagrammen ver-
zichtet man dann auf die p-Achse und stellt
stattdessen die Konzentration zusammen mit
der Temperatur dar. Die Konzentration be-
zeichnet die Dichte der Teilchen einer Sorte in
4-77 der Mischung und hat daher eine dem Druck
Phasendiagramm des
analoge Bedeutung (Partialdruck). Der Verlauf
Heliums. Da Helium-
atome kaum miteinander der Phasenübergänge spielt eine zentrale Rolle
wechselwirken, liegt der bei der Herstellung und Vergütung von Metall-
Siedepunkt unter 5 K legierungen einschließlich Stahl. Ob ein Stahl
(-268 °C). Bei tieferen
Temperaturen oder gerin- hart und spröde oder weich und zäh ist, hängt
gerem Druck bildet sich vom Eisen-Kohlenstoff-Mengenverhältnis, der
eine zweite flüssige Phase: Verarbeitungstemperatur und der Schnelligkeit
suprafluides Helium, das
keine Viskosität besitzt. des Abkühlens ab. Es lohnt sich also, Phasendia-
Fest wird Helium erst bei gramme von Mischungen näher anzuschauen.
hohen Drucken und tiefen Das Phasendiagramm einer Blei-Zinn-Legie-
Temperaturen.
rung, wie sie zum Löten verwendet wird, zeigt
bereits die wichtigsten Eigenschaften (ÅAbbil-
dung 4-80). Aus der flüssigen Phase L entsteht
4-78
Phasendiagramm eines abhängig von den Konzentrationen der Kompo-
Ferromagneten. Ein Fer- nenten bei Abkühlung zunächst ein Zweipha-
romagnet kann in einem sensystem, in dem feste (α oder β) und flüssige
externen Magnetfeld
zwei „Phasen“ zeigen: Phase koexistieren (α+L bzw. β+L). In den festen
Die Magnetisierung der Phasen bilden Zinn und Blei ein gemeinsames
Elementarmagnete steht Kristallgitter. Man kann auch sagen, der Partner
parallel bzw. antiparallel
zum äußeren Feld. mit der geringeren Konzentration ist im anderen
„gelöst“. Da abhängig von der Temperatur nur
aufgebaut sind. Strukturunterschiede beruhten eine bestimmte Menge Zinn bzw. Blei im jeweils
auf den Anordnungen, die diese Teilchen im anderen Stoff gelöst sein kann, fällt die über-
Wechselspiel zwischen Bindungskräften und schüssige Menge bei weiterer Abkühlung aus,
Wärmebewegung annehmen. Betrachten wir es entstehen Ausscheidungen. In diesem Zustand

168
Erde, Wasser, Luft und Feuer
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4-79
Lötzinn. Lötzinn wird in der Elektrotechnik dazu ver-
wendet, Stromleiter zu verbinden. Wichtig hierfür ist ein
niedriger Schmelzpunkt und ein gutes Schmelzverhalten.
Das Material muss bei Erhitzung über den Schmelzpunkt
sehr schnell dünnflüssig werden, um sich leicht über die
Oberflächen der zu verbindenden Teile zu verteilen.

existieren zwei feste Phasen α und β gleichzeitig


im Material.
Besonders interessant ist der Punkt, an dem aus
4-80
der flüssigen direkt die gemischten Phasen ent-
Phasendiagramm der Blei-Zinn-Legierungen
stehen. Im Blei-Zinn-Phasendiagramm liegt er
bei einer Zinn-Konzentration von 61,9 Prozent. Hypoeutektisch (A – D):
Es ist der Punkt mit der tiefsten Schmelztem- Bei einer Zinnkonzentration oberhalb 19 Prozent entstehen Körner der Phase α, mit unter-
r
schiedlichen Konzentrationen an Zinn. Diese 19 Prozent entsprechen der maximalen Lös-
peratur, weshalb er eutektischer Punktt (griech. lichkeit von Zinn in Blei bei der Schmelztemperatur am eutektischen Punkt
eutektos, gut zu schmelzen) genannt wird. Nicht (61,9 Prozent bei ca. 200 °C). Bei weiterer Abkühlung entsteht das Eutektikum α+β direkt
von ungefähr wird diese Konzentration auch aus der verbliebenen flüssigen Phase, zunächst angelagert an die bestehenden α-Körner,
mit der Zeit durchgehend als lamellenförmige Struktur, durchsetzt mit Körnern der α-Phase.
für Lötzinn verwendet. In dem entstehenden
Zweiphasensystem, dem Eutektikum, liegen Ausscheidungen (E – H):
beide Phasen in einer sehr gleichmäßigen, meist Bei einer geringen Konzentration an Zinn erstarrt die Legierung zunächst als Phase α, in
der das Zinn vollständig im Blei „gelöst“ ist. Bei weiterer Abkühlung übersteigt die Kon-
lamellenartigen Struktur vor, einem Zustand mit
zentration an Zinn die Löslichkeitsgrenze, das überschüssige Zinn scheidet sich (zusammen
oft sehr günstigen mechanischen Eigenschaften mit etwas darin gelöstem Blei) ab und bildet eine eigene, körnige Phase innerhalb der
(ÅDas Einmaleins der Werkstoffeigenschaften, Phase α.
Seite 174). Rechts und links des eutektischen
Eutektikum (F – I):
Punktes entstehen durch die Abkühlung über Am eutektischen Punkt bildet sich das Eutektikum α+β aus der flüssigen Phase. Dadurch
zwei Phasengrenzen hinweg körnige Strukturen entsteht letzten Endes eine durchgängige, lamellenartige Struktur.
mit je nach Konzentration und Abkühlungs-
prozess ganz unterschiedlichen physikalischen sen entstehen, ein sogenanntes Eutektoid. Die
Eigenschaften. Beim Gießen, Schmieden, Härten, Möglichkeit, die Eigenschaften von Stahl durch
Abschrecken oder Legieren geht es seit Jahr- Schmieden oder Glühen zu verändern, beruht
tausenden um nichts anderes als darum, diese auf diesen Phasenübergängen und den damit
Prozesse so zu steuern, dass die gewünschten einhergehenden Strukturumwandlungen (ÅDie
Eigenschaften entstehen. Während man früher hohe Kunst, Metalle zu härten, Seite 185).
im Wesentlichen auf Versuch und Irrtum an- Die Tatsache, dass Legierungen und manche
gewiesen war, kann man heute diese Prozesse Elemente mehrere feste Phasen haben, bereitet
gezielter steuern, da der Zusammenhang zwi- auch Schwierigkeiten. Da die Übergänge tem-
schen Materialeigenschaften, Materialstruktur peraturabhängig sind, können sich die mecha-
und Prozess wesentlich transparenter ist. nischen Eigenschaften von Werkstoffen bereits
Etwas komplexer als das Blei-Zinn-Phasen- weit unterhalb des Schmelzpunkts stark än-
diagramm ist das Phasendiagramm von Eisen-
4-81
Eisencarbid-Legierungen, zu denen der Stahl
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

Hypoeutektische Struktur. Eine hypoeutektische Blei-


gehört (ÅAbbildung 4-82, Seite 170). Neben Zinn-Legierung. Die dunklen Körner bilden die α-Phase
einem Eutektikum existiert bei niedrigeren mit hoher Bleikonzentration, die hellen Bereiche die
β-Phase mit hoher Zinn-Konzentration. In der Mitte
Temperaturen auch ein Phasenübergang Fest → erkennbar sind die lamellenartigen Strukturen, in denen
Fest, bei dem aus einer festen Phase zwei Pha- beide eutektische Phasen angeordnet sind.

169
KAPITEL 4 Demokrits Erben

4-82 zum Beispiel blaues Kupfersulfat, in heißem


Eisen-Eisencarbid-
Wasser bis zur Sättigung, lässt die Lösung lang-
Phasendiagramm. Das
Eisen-Eisencarbid-Pha- sam abkühlen und hängt dabei einen Faden
sendiagramm enthält ein hinein. Erst mit der Zeit bilden sich an ihm
Eutektikum γ+Fe
γ 3C und schöne farbige Kristalle. Stellt man eine mit
ein sogenanntes Eutek-
toid α+Fe3C, das durch © 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
destilliertem Wasser gefüllte Plastikflasche in ein
einen Phasenübergang Eisfach, so bleibt es (sofern die Flasche sauber
Fest → Fest aus der Phase war und nicht erschüttert wurde) flüssig, erst
γ entsteht.
beim Ausgießen gefriert es. Beide Effekte schei-
nen der Thermodynamik zu widersprechen, da
nicht sofort der Zustand mit der niedrigsten
Enthalpie eingenommen wird. Das Wasser sollte
im Eisfach gefrieren und das überschüssige Salz
beim Abkühlen wieder ausfallen. Auch Diamant
ist eine Phase des Kohlenstoffs, die es eigentlich
dern, was zum Versagen eines Bauteils führen nicht geben dürfte: Unter normalen Bedingungen
kann. Bei vielen Aluminiumlegierungen ist diese auf der Erde ist Graphit die thermodynamisch
Grenze schon bei 150 °C erreicht. stabilste Phase des Kohlenstoffs.
Diamanten gibt es zum Glück von Juwelie-
Phasenübergänge und Entropie ren dank der Fähigkeit vieler Systeme, in so-
genannten metastabilen Phasen zu existieren.
Wir haben zwar schon darüber gesprochen, Metastabile Phasen sind deshalb möglich, weil
warum ein Stoff schmilzt oder verdampft, aber der Übergang in die eigentlich stabilere Phase
wie kommt es, dass mehrere Phasen gleichzeitig eine gewisse Aktivierungsenergie erfordert, d. h.
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

bestehen können? Und warum schmilzt Kohlen- das System braucht gewissermaßen einen klei-
dioxid unter Normalruck nicht, sondern geht nen Schubs. Oft läuft der Umwandlungsprozess
sofort in die Gasphase über (Sublimation)? selbstständig weiter, sobald an einer Stelle die
Da es sich bei Phasenübergängen um spon- Aktivierungsenergie zugeführt wird, denn die an
tane Prozesse handelt, muss eine Entropiezu- dieser Stelle frei werdende Energie reicht häufig
nahme damit verbunden sein. Dies ist auch aus, um die Umsetzung weiterer Stoffportionen
anschaulich klar: Schmilzt ein Festkörper, so in ihrer unmittelbaren Umgebung anzustoßen.
steigt offensichtlich seine Unordnung. Sponta- Aktivierungsenergie ist auch für viele chemische
nes Schmelzen bei einer niedrigeren Temperatur Reaktionen notwendig: Obwohl Wasser ther-
als dem tatsächlichen Schmelzpunkt wird dage- modynamisch günstiger ist als eine Mischung
gen durch die Stärke der Bindungskräfte verhin- von Sauerstoff und Wasserstoff, benötigt man
dert. Statt der Entropie kann man auch die Freie für die Umwandlung eine Initialzündung. Aus
Enthalpie (ÅEntropie und Freie Enthalpie, Seite
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

dem gleichen Grund verbrennt auch Holz oder


162) heranziehen: Bei einer gegebenen Tempe- Benzin erst nach dem Anzünden. In Kombina-
ratur und gegebenem Druck ist die Phase mit
der niedrigsten Enthalpie thermodynamisch
stabil. Aus dem Verlauf der Enthalpien für die
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4-83 Phasen eines Stoffes ist daher erkennbar, wel-


Eutektische Struktur. Die cher Aggregatzustand bei welchen Bedingungen
lamellenartige Struktur
des Blei-Zinn-Eutektikums
vorliegen muss. Auch das Überspringen der
(oben) ist deutlich erkenn- Flüssigphase bei Sublimation ist eine Folge des
bar. Dunkle Lamellen stel- Enthalpieverlaufs (Å Abbildung 4-85).
len die α-Phase dar. Auch
das Eisen-Eisenkarbid-
System des Stahls bildet Von Diamanten und Wolken – 4-84
Eutektika. Unten ist die Metastabile Phasen Metastabilität. Metastabilität liegt vor, wenn aus einem
Struktur des sogenannten Zustand (links) der energetisch stabilere Zustand (rechts)
Perlits dargestellt. Die nur erreicht werden kann, wenn zuvor eine Aktivierungs-
dunklen Lamellen bilden Vielleicht kennen Sie dieses Experiment aus dem energie zugeführt wird, die den Energieberg (Mitte) über-
die Fe3C-Phase Chemieunterricht: Man löst ein farbiges Salz, winden hilft.

170
Erde, Wasser, Luft und Feuer

4-85
Enthalpie und Phasen. Die
molare freie Enthalpie Gm
eines Stoffes ist phasen-,
druck- und temperatur-
abhängig. Bei gegebenem
Druck und Temperatur
bildet sich stets die Phase
mit der niedrigsten freien
Enthalpie (dicke Linien).
Bei Kohlendioxid (rechts)
ist unter Normaldruck die
Enthalpie der flüssigen
Phase größer als die der
festen Phase, weshalb
tion mit dem Luftsauerstoff bilden beide Stoffe reich lassen sich durch gezieltes Einbringen von Kohlendioxid sublimiert.
metastabile Phasen. Die stabile Phase ist erreicht, Kristallisationskeimen auf kontrollierte Weise
wenn sich der Kohlenstoff aus dem Holz bzw. Kristalle züchten.
dem Benzin mit dem Sauerstoff zu Kohlendioxid
verbunden hat. Klassifikation von Phasenübergängen
Die Aktivierungsenergie bei chemischen Re-
aktion ist anschaulich erklärbar: Es müssen Phasenübergänge unterhalb der kritischen

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


oft zunächst ein paar bestehende Bindungen Temperatur sind offenbar mit einem abrupten
aufgebrochen werden, bevor die Reaktion be- Wechsel der physikalischen Eigenschaften
ginnen kann. Sobald sie begonnen hat, bricht eines Stoffes verbunden, am kritischen Punkt
die freiwerdende Energie weitere Bindungen scheint der Wechsel eher kontinuierlich zu
auf und so fort. sein: Flüssig- und Gasphase verschmelzen
4-86
Bei unterkühltem Wasser und übersättigter gewissermaßen miteinander. Der österreichische Keimbildung. In einem
Salzlösung spielt der Prozess der Keimbildung Physiker PAUL EHRENFEST (1880 – 1933) schlug Glas Mineralwasser bil-
(Nukleation) die entscheidende Rolle, den wir 1925 ein Schema vor, das Phasenübergänge den sich Gasblasen aus
Kohlendioxid bevorzugt
schon bei der Kristallbildung kennengelernt anhand der Größen klassifiziert, deren an einem Finger oder
haben. Damit Salz- oder Eiskristalle wachsen, Verläufe am Übergangspunkt unstetig sind. einem Löffel, deren raue
ist ein Kristallisationskeim einer bestimmten EHRENFEST unterschied Phasenübergänge erster Oberflächen als Keim fun-
gieren.
Mindestgröße notwendig, an dem sich wei- und höherer Ordnungen, je nachdem welche
tere Moleküle anlagern können. Ein solcher thermodynamischen Größen in ihrem Verlauf
Keim bildet ein winziges Volumen der stabilen "Sprünge" aufweisen.
Phase, ist also energetisch günstiger. Der Ener- Ein Übergang erster Ordnung liegt vor, wenn
giegewinn wird allerdings verringert durch die sich die Entropie schlagartig ändert. Dies trifft
neu entstehende Oberflächenspannung an der für Verdampfen oder Schmelzen unterhalb der
Grenzfläche zwischen fester und flüssiger Phase. kritischen Temperatur zu, wenn die Siede- oder
Unterschreitet ein Keim die Mindestgröße, so Schmelztemperatur erreicht ist. Dies ist anschau-
übersteigt die Energie der Oberflächenspannung lich verständlich, da sich an diesen Punkten die
den Energiegewinn der Phasenumwandlung, und Ordnung des Systems schlagartig ändert. Dies
der Keim ist nicht stabil und das Kristallwachs- 4-87
tum gehemmt. Bei Wasser liegt diese Mindest- Ostwald-Miers-Bereich.
größe bei –5 °C bei etwa 50 000 Molekülen, bei Erst oberhalb des kriti-
schen Keimradius rggrenz
–40 °C genügen 70 Moleküle, hier tritt die Eis- sinkt bei weiterer Anlage-
bildung sofort ein, da Zusammenlagerungen von rung die freie Enthalpie,
70 Molekülen in Wasser auch spontan entstehen darunter wird das Kri-
stallwachstum gehemmt.
(Clusterbildung). Normales Leitungswasser ist Dieser Bereich wird als
schwerer zu unterkühlen, da sich darin genug Ostwald-Miers-Bereich
Schwebstoffe befinden, die ersatzweise ebenfalls bezeichnet (blau hinter-
legt).
als Kristallisationskeime fungieren können.
Der Bereich des Phasendiagramms, in dem
übersättigte Phasen existieren können, wird
Ostwald-Miers-Bereich genannt. In diesem Be-

171
KAPITEL 4 Demokrits Erben

gilt auch in magnetischen Systemen. Hier spielt hungsweise zweiter Ordnung den Sachverhalt
das Magnetfeld B die Rolle der Temperatur. besser beschreiben.
Wird die Feldrichtung umgepolt, so drehen sich
auch die Elementarmagnete (die Spins), d. h. Ordnungsparameter
die sogenannte Magnetisierung m des Materials
springt. Anders sieht es am kritischen Punkt aus: Eine wesentliche Eigenschaft kontinuierlicher
Dort ist der Übergang zwischen zwei Phasen Phasenübergänge ist das Verschwinden be-
nicht schlagartig, beide Phasen scheinen ohne stimmter Kenngrößen oberhalb der kritischen
sichtbare Unterschiede ineinander überzugehen. Temperatur Tk. So verschwindet oberhalb Tk
Hier ändern sich jedoch andere Größen sprung- der Dichteunterschied zwischen flüssiger und
haft: Beim kritischen Punkt von Flüssigkeiten ist gasförmiger Phase (ÅKasten Kritische Punkt
dies ihre spezifische Wärme, bei Ferromagneten Trocknung). Bei einem Ferromagneten ver-
ist es deren Suszeptibilität. schwindet die spontane Magnetisierung und
Das Ehrenfestsche Schema ist für diese so- bei Supraleitern die sogenannte Energielücke im
genannten Phasenübergänge zweiter Ordnung Ein-Elektronenspektrum. Da diese Größen, wie
nicht korrekt: Es sagt Sprünge für Material- wir noch sehen werden, etwas mit der Ordnung
konstanten voraus; in Wirklichkeit steigen diese in einem System zu tun haben, nennt man sie
Größen aber nur sehr stark bis zu hohen Werten Ordnungsparameter.
an, um hernach wieder schnell zu fallen. Auch
liefert das Schema keine Begründung dafür, wa- Kritische Exponenten
rum eine Größe sich so verhält. Trotz dieser
Unzulänglichkeiten hat sich die Unterteilung in K ontinuierliche Phasenüber g än g e sind von
Phasenübergänge erster und zweiter Ordnung b esonderem p h y sikalischem Interesse, weil
bis heute gehalten, wenngleich die neuen Be- s ich hier ganz unterschiedliche Systeme
griffe diskontinuierlicher und kontinuierlicher fast völlig gleich verhalten. So weisen viele
Phasenübergang für die Übergänge erster bezie- Größen um die kritische Temperatur Tk herum

4-88 Diamant Metastabile Phase des Kohlenstoffs. Bei Normalbedingungen ist Graphit die stabile Phase.
Metastabile Phasen. Me-
tastabile Phasen verbergen Handwärmer Das in einem Handwärmer enthaltene Salz Natriumacetat schmilzt bei 58 °C. Beim Abküh-
sich hinter vielen Erschei- len verbleibt es in einem unterkühlten Zustand und gibt seine Schmelzwärme wieder frei,
nungen. wenn es erstarrt. Als „Keim“ dient ein eingelegtes Metallplättchen (ÅKasten von Wärme-
kissen und Kühlschränken, Seite 175).
Siedeverzug Wird ein Glas Wasser in der Mikrowelle erhitzt, kann es leicht zu einem Siedeverzug kom-
men: Das Wasser fängt erst beim Herausnehmen oder Umrühren explosionsartig an zu
kochen. Ein in das Glas gestellter Löffel als Keim verhindert diesen Siedeverzug. Beim Erhit-
zen auf dem Herd verhindert ihn die raue Oberfläche der Töpfe, da sich am heißen Boden
Dampfblasen bilden, die als Keime wirken.
Wolkenbildung In völlig reiner Luft ist unter Normalbedingungen kaum Wolkenbildung möglich. Winzige
Schwebeteilchen aus Staub, Rauch oder Bakterien dienen als Kristallisationskeime.
Moussierpunkt Das im Champagner gelöste Kohlendioxid ist nach dem Öffnen der Flasche in einem über-
sättigten Zustand, da es in der Flasche unter höherem Druck stand. Eine kleine Aufrauung
am Boden eines Sektglases, der sogenannte „Moussierpunkt“, dient als Keimzelle für auf-
steigende Gasperlen.
Thermolumineszenz In Keramiken werden durch radioaktive Strahlung Atome von ihren Gitterplätzen verscho-
ben. Dieser metastabile Zustand bleibt eingefroren, bis die Keramik erhitzt wird. Dabei
kehrt das Atom zurück, und die gespeicherte Energie wird als Licht emittiert. Thermolumi-
neszenz wird zur Altersbestimmung keramischer Objekte verwendet.
Impfkristalle Zur Züchtung von Einkristallen im sogenannten Czochralski-Verfahren verwendet man
in der Halbleiterindustrie Impfkristalle als Keime, die in geschmolzenes Silicium getaucht
werden.
Zinnpest Unterhalb von 13,2 °C bildet sich aus metallischem Zinn eine nicht-metallische Phase, die
Zinnpest. Zinngegenstände verwandeln sich dabei in grauschwarzes Zinnpulver. Diese
Umformung geschieht bei nicht zu tiefen Temperaturen nicht spontan, und das metallische
Zinn bildet einen metastabilen Zustand.
Martensit Martensit ist eine metastabile Phase des Stahls, die durch schnelles Abkühlen aus der
Schmelze entsteht. Es ist sehr hart und spröde.

172
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Kritische-Punkt-Trocknung (KPT)

Die KPT ist ein Verfahren zur Trocknung emp- gleichung der Phasen in ein überkritisches Fluid
findlicher biologischer Präparate für die Elek- über, und die sichtbare Phasengrenze (weißer
tronenmikroskopie, das Phasenübergänge be- Pfeil in Abbildung 4-90) verschwindet.
sonders raffiniert nutzt. Durch eine geschickte
Prozessführung wird vermieden, dass die an-
sonsten beim Verdampfen unvermeidlich auf-
tretenden Oberflächenkräfte feinste Strukturen
zerstören. Im Präparat wird zunächst das Wasser
durch immer höhere Anteile von Aceton ersetzt.
Dieses kann dann in einer Druckkammer durch
flüssiges Kohlendioxid ausgetauscht werden, da
es sich problemlos mit diesem mischt.
Druck und Temperatur werden nun lang-
sam über den kritischen Punkt hinaus erhöht

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(ÅAbbildung 4-89, von A nach B). Dabei geht 4-89
das flüssige CO2 im unteren Teil der Kam- Kritische-Punkt-Trocknung im CO2-Phasendiagramm.
mer, in welches das Präparat eingetaucht ist Der kritische Punkt wird durch geschickte Temperatur-
und Druckführung umschifft und die Phase kontinuier-
(in Abbildung 4-90 nicht sichtbar), und das lich von flüssig nach gasförmig überführt. Eingezeichnet
gasförmige CO2 darüber unter langsamer An- ist der Verlauf von Druck und Temperatur (rote Linie).

4-90
die gleiche Temperaturabhängigkeit auf. Es ist einleuchtend, dass sich Phasenübergänge Phasenwechsel am kri-
tischen Punkt. Am kriti-
Ordnungsparameter des Systems verhalten an Oberflächen (Dimensionalität 2) anders ver-r
schen Punk verschwindet
sich proportional zu ( T – T k ) x , während halten als räumliche (Dimensionalität 3). Um zu allmählich der Unterschied
sich Materialkonstanten wie s p ezifische verstehen, warum Stärke und Natur der Wechsel- zwischen Flüssigkeit und
Gas, hier am Beispiel des
Wärme, Kompressibilität und Suszeptibilität wirkungen kaum eine Rolle spielen, hilft uns die
Kohlendioxids. Die Zahl
proportional zu 1/(T – Tk)x verhalten. Die Zahl Paarverteilungsfunktion (ÅAbbildung 4-47, Seite von Gasblasen und Flüs-
unterschiedlicher kritischer Exponenten x ist 151). Sie gibt an, wie stark entfernte Teilchen sigkeitstropfen sind im
endlich, und ihre Werte sind seltsamerweise räumlich aneinander gebunden, d. h. korreliert Mittel gleich und es gibt
sie in allen Größen. Die
praktisch unabhängig von Natur und Stärke sind. Analoge Korrelationsfunktionen kann man Größe ist also skalenin-
der Wechselwirkungen zwischen den Elementen auch für andere Größen aufstellen, zum Beispiel variant, eine Eigenschaft
des Systems. Dabei ist es gleichgültig, ob es sich für magnetische Spins. Die sogenannte Spinkor-r vieler Phasenübergänge
am kritischen Punkt.
um Wechselwirkungen zwischen magnetischen relationsfunktion beschreibt dabei, wie stark
Spins, um elektrische Kräfte in Supraleitern magnetische Spins an entfernten Orten mitein-
oder um Van-der-Waals-Kräfte in Flüssigkeiten ander gekoppelt sind. An einem kontinuierlichen 4-91
und Gasen handelt. Die Exponenten hängen Phasenübergang zeigt sich nun Erstaunliches: Die Kritische Exponenten.
nur ab von der Dimensionalität des Systems, sogenannte Korrelationslänge, ein Maß für die Eine Auswahl kritischer
Exponenten x und der
der Reichweite der Wechselwirkungen und der Reichweite der Korrelation, wächst extrem stark physikalischen Größen, die
Anzahl Freiheitsgrade der Ordnungsparameter an. Während sie in anderen Temperaturberei- in der Nähe der kritischen
(ÅTabelle 4-91). chen nur wenige Atomlängen misst, kann sie im Temperatur Tk proportio-
nal sind zu [(T – Tk) / Tk]x.
Ordnungsparameter sind
zum Beispiel der Dichteun-
Exponent physikalische Größe gemessen (Gas) gemessen (Magnet) Ising-Modell (2d) Ising-Modell (3d) terschied zwischen flüssi-
ger und Gasphase oder die
α Wärmekapazität 0 0 0 0,11
Magnetisierung.
β Ordnungsparameter 0,35 0,34 0,125 0,325 Ising-Modelle basieren auf
der Renormierungsgrup-
Kompressibilität / pentheorie und liefern je
γ 1,37 1,33 1,75 1,24
Suszeptibilität nach Dimensionalität des
ν Korrelationslänge 0,64 0,65 1 0,63 Systems recht gute Vor-
hersagen.

173
KAPITEL 4 Demokrits Erben

Das Einmaleins der


Werkstoffeigenschaften
Feste Materialien waren von jeher für die Men-
schen hauptsächlich als Werkstoffe interessant.
Die Kunst bestand darin, ein für die jewei-
lige Aufgabe passendes Material zu finden. Ei-
nen harten Panzer, der ein Schwert aufhalten
konnte; ein Schwert, das zäh genug war, um
4-92 beim Schlag auf einen solchen Panzer nicht zu
Clusterbildung in Ferromagneten. Ein zweidimensionales
Ising-Modell eines Ferromagneten, bei dem die magne- zerbrechen; eine Strebe, die dem Druck eines
tische Orientierung eines Elementarmagneten entweder Daches standhielt, ein elastischer Bogen, der den
positiv (rot) oder negativ (farblos) sein kann. Die Simu- Pfeil möglichst weit vorantrieb, ein Draht, der
lation zeigt oberhalb der kritischen Temperatur Tk (links,
oben) kaum Clusterbildung. Je kleiner die Temperatur im
nicht brach: Die Anforderungen waren vielfältig
T Tk → 0, links unten), desto grö-
Verhältnis zu Tk wird (T/ und oft schwer zu vereinbaren. Der Panzer sollte
ßere Cluster bilden sich. Je größer ein Cluster ist, desto nicht nur hart, sondern möglichst leicht sein,
größer ist auch die Korrelationslänge der Spinkorrelati-
das Schwert trotz Zähigkeit sich nicht verfor-
onsfunktion (oben).
men, die Dachstrebe sollte möglichst dünn sein
Bereich der kritischen Temperatur Tausende von und so weiter.
Atomlängen betragen (ÅAbbildung 4-92). Um Jahrtausendelang war die Materialkunde
auf unser Menschenmengen-Beispiel zurückzu- vor allem eine Frage des Zugangs zu bestimm-
kommen: aus einem ungeordneten Haufen ent- ten Materialien und von Versuch und Irrtum
steht plötzlich eine im Gleichschritt laufende Pha- geprägt. Durch künstliche Werkstoffe wie Plas-
lanx. Da andererseits die Wechselwirkungskräfte tik, Nanomaterialien oder Verbundwerkstoffe
im Allgemeinen eine viel geringere Reichweite wuchsen in den letzten Jahrzehnten die Mög-
haben (viele fallen mit r–6 ab), spielen ihre Natur lichkeiten enorm, und vieles ist heute selbst-
und ihre lokale Stärke praktisch keine Rolle. verständlich, das noch vor Kurzem unmöglich
Mit Hilfe der sogenannten Renormierungs- schien: elastischer Beton, Stoffe härter als Dia-
gruppentheorie konnten diese Überlegungen mant oder elastischer als Stahl. Wir werden in
inzwischen auch theoretisch gut untermauert den folgenden Kapiteln einige dieser erstaunli-
werden. Mit ihrer Hilfe lassen sich Phasenüber- chen neuen Materialien kennenlernen. Obwohl
gänge in sogenannte Universalklassen einteilen, unser Wissen über den Aufbau von Werkstoffen
für die die gleichen Werte der kritischen Expo- in den letzten Jahrzehnten gewaltig wuchs, sind
nenten gelten. viele ihrer wichtigsten Eigenschaften nicht ohne
Die bekannteste Anwendung dieser Theorie weiteres aus „ersten Prinzipien“ berechenbar,
ist das sogenannte Ising-Modell, das ursprünglich da sie sich erst aus dem hochkomplexen Zu-
zur Erklärung des ferromagnetischen Phasen- sammenwirken einer Vielzahl von Teilchen und
übergangs entwickelt wurde, aber für alle Pha- Substrukturen ergeben. In diesem Abschnitt
senübergänge der gleichen Universalklasse an- werden wir zumindest qualitativ darstellen,
wendbar ist. Die Renormierungsgruppentheorie wie sich mechanische Materieeigenschaften aus
„funktioniert“ deshalb, weil die Systemstruktu- denen der kleinsten Teilchen und ihrer Organi-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

ren nahe der kritischen Temperatur selbstähnlich sationsstruktur ableiten lassen.


sind. Selbstähnliche Strukturen sehen in jedem Die Benennung und Kategorisierung me-
Maßstab gleich aus. Beispiele hierfür sind Küs- chanischer Werkstoffeigenschaften ist über die
tenlinien oder der Romanesco, eine Kreuzung aus Wissenschaften hinweg nicht immer einheit-
Blumenkohl und Broccoli (Å Abbildung 4-93). lich, sondern hängt vom jeweiligen Fokus ab:
4-93 Das bedeutet, dass man kleine Strukturen zu Stehen technische oder geologische Fragen im
Skalenunabhängige Struk-
turen. Romanesco, eine größeren Blöcken zusammenfassen kann und nur Vordergrund oder geht es um ihre Erklärung
Kreuzung von Blumenkohl die Gesamtwirkung betrachtet (zum Beispiel die mittels elementarer physikalischer Prinzipien.
und Broccoli, zeigt eine Gesamtmagnetisierung). Diesen Vorgang kann Letzteres ist unser Fokus, weshalb wir uns auf
ausgeprägte skalenunab-
hängige Struktur, also ist man so lange wiederholen, bis man makrosko- die in ÅTabelle 4-95 dargestellte Einteilung
sie „selbstähnlich“. pische Größenordnungen erreicht. konzentrieren.

174
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Von Wärmekissen und Kühlschränken

Sie kennen wahrscheinlich diese praktischen Handwärmer, ren Kräften, starken Wasserstoffbrücken in Wasser bewirken,
gefüllt mit einer gelartigen Masse aus dem geschmolzenen dass für das Schmelzen von Eis ebensoviel Energie benötigt
Salz Natriumacetat-Trihydrat. Man muss ein darin ein- wird, wie für die Erwärmung der gleichen Menge Wasser von
gebettetes Metallplättchen drücken, und schon erwärmt 0 °C auf 80 °C.
sich das Kissen, während das Gel langsam kristallisiert. Die Verdampfungswärme von Kühlmitteln auf Fluor-
Den Ausgangszustand erhält man wieder, wenn man das Kohlenwasserstoff-Basis (FKW) wird zur Kühlung in Kühl-
Kissen in heißes Wasser legt. Da man einem Handwärmer schränken ausgenutzt. Im Inneren des Kühlschranks ver-
die gespeicherte Wärme nicht anmerkt, spricht man von dampft das Mittel bei niederem Druck und entzieht dem
latenter Wärme (lat. latens, verborgen). Wärmekissen sind Kühlschrank die Verdampfungswärme. In den schwarzen
ein Beispiel dafür, wie man die bei Phasenübergängen ent- Rohren auf der Rückseite wird das Kühlmittel bei höherem
stehende Schmelzwärme nutzen kann. Die im heißen Wasser Druck kondensiert und gibt dabei die Verdampfungswärme
aufgenommene Schmelzwärme bleibt in der flüssigen Phase wieder an die Umgebung ab.
erhalten, und das Gel kann sich weit unter seine Schmelz- Auch durch Entmagnetisierung kann man kühlen, da
temperatur abkühlen, ohne erneut zu erstarren. Da das Salz bei diesem Phasenübergang ebenfalls Energie verbraucht
trotz Unterschreitung der Erstarrungstemperatur von 58 °C wird. Dieser Effekt wird in der Tiefsttemperaturphysik zur
flüssig bleibt, spricht man von einer unterkühlten Schmelze. Kühlung von Proben auf wenige Millionstel Grad über dem
Unterkühlung ist bei Stoffen möglich, die erst bei Vorhan- absoluten Nullpunkt genutzt.
densein eines Kristallisationskeims erstarren können.
Ein Kristallisationskeim kann ein Staubkorn oder eine
raue Oberfläche sein. Sorgt man für einen Kristallisations-
keim, so erstarrt der Stoff, und die gespeicherte Schmelz-
wärme wird wieder frei. Durch das Drücken des im Hand-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

kissen eingelagerten Metallblättchens werden winzige, in


den Ritzen des Metalls verborgene Keime aktiviert, und
der Erstarrungsvorgang beginnt. Dieser Effekt wird nicht
nur in Wärmekissen eingesetzt, sondern mittlerweile auch
großtechnisch in Latentenergiespeichern mit vielen Tonnen
Inhalt. So kann etwa Energie aus Windkraft für windstille 4-94
Zeiten oder Solarenergie für die Nacht gespeichert werden. Handwärmer. Handwärmekissen geben die beim Schmelzen gespei-
Die für das Schmelzen verbrauchte Energie ist natürlich cherte Energie beim Erstarren wieder ab. Das darin enthaltene Gel ist
ein wasserhaltiges Salz mit hoher Schmelzwärme und der Fähigkeit zur
abhängig von der Stärke der Bindungskräfte im festen Aggre- Unterkühlung. Stoffe, die durch reversible Phasenübergänge Energie
gatzustand. Die, verglichen mit anderen zwischenmolekula- speichern können, nennt man auch Phase Change Materials (PCM).

4-95
Eigenschaft Bedeutung Werkstoffeigenschaften.
Einige wichtige Begriffe
Verformbarkeit Art und Stärke der Formänderung eines Körpers bei Krafteinwirkung. aus der Werkstoffkunde.
Die Art der Formänderung kann elastisch, also reversibel, oder plastisch (irreversibel)
sein. Hierzu zählt auch die Duktilität, die starke Verformung bei Überlastung kurz vor
dem Zerbrechen und das sogenannte Kriechen: die langsame Verformung eines Ma-
terials unter konstanter Belastung. Von Festigkeit spricht man in Bezug auf die Grenze
zwischen elastischer und plastischer Verformung. Ein Werkstoff ist besonders fest, wenn
diese Grenze möglichst hoch ist.

Härte Widerstand, den ein Körper dem Eindringen (eines härteren Körpers) entgegenbringt.

Risszähigkeit Widerstand gegenüber Risswachstum

Wärmeausdehnung Die temperaturabhängige Ausdehnung der Materialien zählt zwar nicht zu den mecha-
nischen, sondern zu den thermischen Eigenschaften. Sie ist aber mit der Verformbarkeit
verwandt.

175
KAPITEL 4 Demokrits Erben

4-96
Spannungen und ihre Vom Federn, Dehnen, Fließen und
Kenngrößen. Im Bereich Kriechen
linearer Elastizität sind die
Zusammenhänge zwi- Verformt wird ein Körper nur dann, wenn 4-97
schen Verformung und
Kräfte auf ihn wirken. Je nachdem, wo die Spannungs-Dehnungs-Diagramm. Der Zusammenhang
Spannung linear. Die ent-
zwischen Spannung und Dehnung bzw. Stauchung fällt je
sprechenden Kenngrößen Kräfte ansetzen, kommt es dabei zu Dehnun- nach Material sehr unterschiedlich aus. Man kann in den
sind konstant und fast nur gen, Stauchungen oder gar Verzerrungen des meisten Fällen jedoch vier Phasen unterscheiden. Bei gerin-
material- und temperatu-
rabhängig (für anisotrope
Körpers: Ein Balken wird gebogen, wenn man gen Spannungen ist die Dehnung (fast) vollständig reversi-
bel, das Material ist elastisch. Im linear-
r elastischen Bereich
Materialien sind sie auch ihn einseitig belastet, und ein Pappkarton wird
verhält sich das Material wie eine Feder, der Zusammen-
richtungsabhängig). Für schief, wenn man sich nicht mittig auf ihn setzt. hang zwischen Spannung und Dehnung ist linear. Bei
den Zusammenhang zwi-
schen Druck/Zugspannung
Sobald es nicht mehr um starre Körper geht, größeren Spannungen verhält sich das Material plastisch,
muss der Verlauf der Kräfte an jedem Punkt der also bleibt die Verformung nach Wegfall der Spannung
und Dehnung/Stauchung
größtenteils bestehen (gestrichelter Pfeil). Oft beginnt das
gilt das Hookesche Gesetz Oberfläche und innerhalb des Körpers betrach- Material zunächst zu „fließen“, d.h. es dehnt sich weiter
mit dem Elastizitätsmodul
tet werden. Wichtig ist also nicht die Gesamt- aus, ohne dass die Spannung erhöht werden muss. Durch
E als „Federkonstante“.
kraft, sondern die Kraft pro Flächeneinheit, Umlagerungen in der Struktur kommt es oft zu einer Ver- r
Der Schubmodul G ver-
festigung, eine weitere Dehnung erfordert erhöhte Span-
bindet Schubspannung die sogenannte Spannung. Je nachdem, ob die nung. Nach dieser Phase folgt der Bruch.
und Scherwinkel und der
Kraft senkrecht oder parallel zu einer Fläche
Kompressionsmodul K
bestimmt, wie stark die einwirkt, nennt man sie Druck-/Zugspannung zusammen, das Material verhält sich wie eine
Volumenänderung bei bzw. Schub- oder Scherspannung (Å Abbildung Feder (Å Abbildung 4-97). Die Proportionali-
gleichmäßigem Druck ist. 4-96). Zwischen der Spannung und den resul- tätskonstante nennt man den Elastizitätsmodul
Im plastischen Fall sind E,
G und K keine Konstanten tierenden Verformungen des Körpers besteht E. Auch der Zusammenhang zwischen einer
mehr, sondern abhängig im Allgemeinen kein einfacher Zusammen- Schubspannung und dem Verzerrungswinkel
von der Dehnung, Sche- hang. Zum Glück aller Ingenieure gibt es aber ist bei solchen Werkstoffen (näherungsweise)
rung oder dem aktuellen
Volumen. Für Flüssigkeiten bei Metallen und anderen Werkstoffklassen linear, mit dem Schubmodul G als Proportio-
existiert ein Äquivalent Spannungsbereiche, in denen sich diese Mate- nalitätskonstante.
zum Schubmodul, die Vis- rialien weitgehend linear-elastisch verhalten: Wir alle wissen aber aus der Erfahrung mit
kosität.
Spannung und Dehnung hängen hier linear Federn in Kugelschreibern und ähnlichem, dass
4-98
Kenngrößen. Kenngrößen
Werkstoff Elastizitätsmodul E Schubmodul G Kompressionsmodul Poissonzahl ν
[GN/mm2] K [GN/mm2]
einiger Werkstoffe im [GN/mm2]
linear-elastischen Bereich. Stahl 195 – 210 79,3 160 3,3 – 3,7
Aluminium 70 25,5 76 3
Beton 22 – 45 9 –18 k.A. 5
Holz (parallel zur Faser) 7 – 20 k.A. k.A. 3
Glas 50 – 90 26,2 35 – 55 3,3 – 5,6
Kompakter Knochen 18 – 21 k.A. k.A. 2,6
Diamant 1141 k.A. 442 14,3
Aggregierte Diamant- k.A. k.A. 491 k.A.
Nano-Röhrchen (ADNR)
Wasser - - 2,1 -
Luft (isotherm) - - 0,0001 -

176
Erde, Wasser, Luft und Feuer

man sie überdehnen kann: Aus der Feder wird schwindigkeit ist. Auch einige Festkörper haben
ein verbogener Draht. Diese plastische Verfor- oberhalb der sogenannten Erweichungstempe-

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


mung ist irreversibel: aus dem Draht wird von ratur ein solches Fließverhalten, insbesondere
allein keine Feder mehr. Natürlich ist nicht nur Thermoplaste wie PVC oder PET und Gläser.
für die Herstellung von Kugelschreibern wichtig, Stoffe wie Joghurt oder Ketchup haben ein noch
ab welcher Spannung ein Material sich plas- differenzierteres Verhalten, man nennt sie Bing-
tisch verhält, wo also die sogenannte Dehn- ham-Fluide: Bei schwachen Schubspannungen
grenze liegt: Eine Brücke darf federn, wenn ein verhalten sie sich elastisch: Joghurt wabbelt im 4-99
Duktilität. Duktile Ma-
Zug darüber fährt, sofern sie hinterher ihre ur- Glas, wenn man es leicht hin und her bewegt. terialien wie Aluminium-
sprüngliche Form einnimmt und nicht „durch- Oberhalb einer bestimmten Spannungsgrenze Magnesium-Silicium-
hängt“(Å Abbildung 4-100). verhalten sie sich wie Flüssigkeiten: Schüttelt Legierungen schnüren sich
bei Zugversuchen vor dem
Duktilität, wie man die Fähigkeit zur plasti- man das Joghurt-Glas kräftig, wird er flüssig Brechen stark ein (links),
schen Verformung nennt, hat auch Vorteile, zum (ÅAbbildung 4-101). Besonders erwünscht ist im Extremfall bis zu einer
Beispiel in den Knautschzonen eines Autos. Die diese Eigenschaft bei nicht tropfenden Wand- dünnen Spitze (Mitte).
Spröde Materialien wie
plastische Verformung verbraucht Energie und farben. Erst durch den Druck der Walze an der Glas oder Keramik (rechts)
reduziert damit die Heftigkeit des Aufpralls für Wand werden sie flüssig. Die Viskosität kann brechen ohne merkliche
die Insassen. Selbst bei Bauwerken kann sie von andererseits auch mit der Schubspannung stei- Einschnürung.
Vorteil sein: die Fähigkeit des Stahls, vor dem gen, ein Effekt, der als Dilatanz bezeichnet wird
Bruch eine ausgeprägte plastische Verformungs- und dem seltsamen Verhalten der Hüpfknete zu-
phase zu durchlaufen, kann helfen Überlastun- grunde liegt: Zieht oder drückt man sie langsam,
gen zu erkennen, bevor es zum Bruch kommt so ist sie leicht formbar. Aber wenn man sie auf
(ÅࡳAbbildung 4-99). Glas hat diese Fähigkeit den Boden wirft, springt sie wie ein Gummi-
nicht, es ist spröde: Ist seine Dehngrenze er- ball. Auch Blut und blutähnliche Mischungen
reicht, so bricht es ohne Vorwarnung. sind dilatant, und mittelalterliche Wunder der
Der Begriff Viskositätt wird meist in Zusam- Blutverflüssigung sind auf solche Stoffe zurück-
menhang mit Flüssigkeiten verwendet. Sie ist zuführen. Sie waren bereits damals bekannt.
ein Maß für deren Zähigkeit beim Fließen. Man Ist die Viskosität nicht von der Schubspannung
kann sie sich als die Reibung der Flüssigkeits- abhängig, wie zum Beispiel bei Wasser, spricht
schichten aneinander denken. Die Viskosität ist man von Newtonschen Flüssigkeiten.
also ein Schubmodul, dessen wesentliches Cha- Auch bereits unterhalb der Dehngrenze, im 4-101
rakteristikum die Abhängigkeit von der Fließge- elastischen Bereich, können sich Materialien Viskosität. Newtonsche
Flüssigkeiten (Wasser) zei-
gen eine lineare Abhängig-
keit zwischen Schubspan-
nung und Schergeschwin-
digkeit. Dies gilt auch für
Bingham-Fluide,
sie beginnen allerdings
erst ab einer bestimmten
Schubspannung zu fließen,
darunter sind sie elastisch
(Ketchup). In beiden Fällen
kommt es entweder zu ei-
ner Entzähung bei steigen-
der Schergeschwindigkeit
wie beim kräftigen Schüt-
teln von Ketchup oder die
Masse wird zäher, wie bei
manchen Leimen.
4-100
Dehngrenze und Streckgrenze. Links: Die sogenannte Dehngrenze Rp, bei der der Übergang vom elastischen in den
plastischen Bereich erfolgt, ist oft nicht exakt bestimmbar. Man verwendet daher die 0.2%-Dehngrenze Rpp0,2,bei der
sich das Material irreversibel um 0,2 Prozent dehnt. Mitte: Stahl mit geringem Kohlenstoffgehalt zeigt ein besonderes
Dehnungsverhalten oberhalb der sogenannten Streckgrenze Re. Ab einem Spannungswert ReH gibt es abrupt nach, und
die Spannung sinkt dadurch bis zu einem unteren Wert ReL. Anschließend verformt es sich plastisch bei gleicher Span-
nung (sogenannte Lüders-Dehnung). Ist der Dehnungswertt AL erreicht, folgt eine Phase der Verfestigung. Es ist also
wieder mehr Spannung notwendig, um das Metall weiter zu dehnen. Ab der Zugfestigkeitsgrenze Rm erfolgt schließlich
die Einschnürung. Rechts. Spröde Materialien wie Keramiken und Gläser zeigen praktisch keine Dehngrenze. Am Ende
des elastischen Bereichs folgt sofort der Bruch. Der Quotient Δσ/Δε ist der Elastizitätsmodul E.

177
KAPITEL 4 Demokrits Erben

4-102
Einfach(er) – Elastische Materialien
Zeitabhängigkeit. Ideal-
elastische und duktile
Materialien dehnen sich Elastizität ist ein Idealzustand, der in keinem
nach dem Entfernen der realen Material gegeben ist. Und doch verhalten
mechanischen Spannung
nicht mehr. Bei viskosen sich viele Materialien in einem weiten Bereich
Materialien oder durch elastisch. Dies ist nicht nur für Brückenbauer
Kriechen verändert sich von Vorteil, sondern auch für Physiker, die das
die Dehnung mit der Zeit.
TG ist die sogenannte Verhalten von Materialien nicht nur messen,
Erweichungs- oder Glas- sondern auch verstehen möchten. Schon lange
übergangstemperatur, Tm bevor man wusste, wie Materialien aufgebaut
die Schmelztemperatur.
sind und welche Gesetze ihre kleinsten Teilchen
zusammenhalten, wurden die elementaren Zu-
sammenhänge zwischen mechanischer Span-
nung und Dehnung für elastische und viskose
unter dauernder Last mit der Zeit plastisch Materialien beschrieben. Der gefundene For-
verformen, sie „kriechen“. Kriechen ist tem- malismus ist sehr allgemein und gilt für feste
peraturabhängig. Es tritt ab etwa 40 Prozent und flüssige Stoffe gleichermaßen. In dieser
der Schmelztem p eratur ( g emessen in Kel - sogenannten Kontinuumsmechanik (von lat.
vin) auf, bei Leichtmetallen also schon bei continuus, zusammenhängend) verzichtet man
80 °C – 100 °C. Das Kriechen ist oft sehr lang- auf Hypothesen über den atomaren Aufbau
sam und kommt zum Beispiel bei Beton erst der Körper. Man nimmt an, dass jeder Körper
nach Jahren zum Stillstand. Da Beton durch unendlich teilbar ist, also ein Kontinuum dar-
Kriechen sein Volumen verringert, spannt man stellt. Elastizität bedeutet dann, dass sich jedes
ihn oft mit Hilfe von eingebetteten Stahlseilen noch so kleine Stück eines Körpers wie eine
vor, man spricht von Spannbeton. Kriechen ist Feder verhält. Plastizität kann als Stoßdämp-
eine äußerst unerwünschte Eigenschaft, da sich fer modelliert werden, der wie in Fahrzeugen
nicht nur das Volumen des Materials ändert, die Federschwingungen dämpft. So erfolgreich
sondern auch dessen Form und Festigkeit. Be- die Kontinuumsmechanik für die Beschreibung
sonders hinderlich ist Kriechen bei Bauteilen, mechanischer Prozesse auch ist, es fehlt ihr
die gleichzeitig starker Beanspruchung und ho- die Begründung aus „ersten Prinzipien“, wie
hen Temperaturen ausgesetzt sind, wie Druck- dies Physiker nennen. Größen wie der Elasti-
kessel oder Turbinenschaufeln. In vielen Fällen zitätsmodul müssen letzten Endes immer noch
erzwingt Kriechen eine Betriebstemperatur weit gemessen werden. Die Kontinuumsmechanik
4-103 unterhalb der Schmelztemperatur. kann nicht erklären, warum der Elastizitäts-
Bindungspotenzial. Der
Potenzialverlauf in einem modul von Glas einen anderen Wert besitzt als
Molekül hat ein Minimum von Blei.
U0 bei der Bindungslänge
r0, dem Abstand zwischen
2 Bindungspartnern. Das Elastizität und Bindungsenergie
Minimum ist ein Folge
eines anziehenden und Es ist naheliegend, den Elastizitätsmodul mit
eines abstoßenden Po-
tenzials. In der Nähe des
der Bindungsenergie der Atome oder Moleküle
Minimums entspricht der eines Materials in Verbindung zu bringen. Je
Potenzialverlauf weitge- stärker dessen Atome zusammenhalten, desto
hend dem einer Feder,
mehr Spannung wird aufzuwenden sein, um
dann verhält die Molekül-
bindung sich gegenüber sie auseinander zu ziehen, also den Körper
Zug oder Druck linear- zu dehnen. Der E-Modul sollte demnach mit
elastisch. Der dargestellte der Bindungsenergie steigen. Wie wir gesehen
Potenzialverlauf verläuft
in kristallinen Materialien haben (Å Abbildung 4-16, Seite 131), besteht
analog zwischen allen die potenzielle Energie von Atomen immer aus
Paaren benachbarter Teil- einem Anteil, der die abstoßende und einem
chen, weshalb der Körper
insgesamt auch linear-ela- Anteil, der die anziehende Kraft beschreibt.
stisches Verhalten zeigt. Beide sind abhängig vom Abstand der Atome,

178
Erde, Wasser, Luft und Feuer

4-105
Elastizitätsmodul. Für kri-
stalline Materialien (insbe-
sondere Metalle) stimmen
näherungsweise berech-
nete Werte des E-Moduls
(durchgezogene Linie)
gut mit den Messungen
überein. Dies gilt nicht für
Elastomere wie Gummi.

4-104
Potenzial und Elastizitätsmodul. Aus dem Potenzi-
alverlauf lässt sich der Elastizitätsmodul errechnen. Er
ist nur abhängig von der Bindungsenergie U0 und der
Bindungslänge (quasi-linearer Kraftverlauf F um r0). Nä-
herungsweise kann man die Bindungsenergie durch die
Schmelzenergie kT Tm ersetzen (da sie beim Schmelzen frei
wird) und anstelle der Bindungslänge das mittlere Atom-
volumen nehmen, das sich aus der Dichte berechnen
lässt. Je höher der Schmelzpunkt liegt, desto größer ist Wärmeausdehnung von Festkörpern und
der Elastizitätsmodul.
Bindungspotenzial

und die optimale Bindungslänge ist die, bei Auch der Wärmeausdehnungskoeffizient ist eine
der die Energie ein Minimum erreicht. Wird Folge des Kraftverlaufs bei Stauchung bzw. Deh-
ein Körper gedehnt, so werden offensichtlich nung von Bindungen. Wärme bedeutet ja nichts
die Bindungen gedehnt, die dafür notwendige anders, als dass die Atome um ihre Ruhelagen
Kraft entspricht der erforderlichen Spannung. schwingen. In der Potenzialdarstellung bedeutet
Der Verlauf der potenziellen Energie ist in der dies, dass sie vom tiefsten Punkt aus abwechselnd
Nähe der Bindungslänge nur wenig von dem links und rechts hoch und herunterschaukeln,
einer Feder verschieden, d.h. zwischen Deh- wie eine Kugel in einer Schüssel. Je heißer der
nung und Spannung besteht zumindest auf der Körper ist, desto höher fallen die Schwünge aus.
Ebene einzelner Bindungen wirklich ein linearer 4-106
Zusammenhang (Åࡳ Abbildungen 4-103 und Wärmeausdehnung. Ma-
terialien dehnen sich in
4-104). Berechnet man die Energie, die bei line- der Regel bei steigender
arer Rückstellkraft für eine schwache Dehnung Temperatur aus, weil die
oder Stauchung einer Bindung benötigt wird, Potenzialkurven bezüglich
des Bindungsabstands
so erhält man eine quadratischen Verlauf der asymmetrisch sind. Wird
Potenzialkurve. Man spricht auch von einem die Temperatur erhöht
harmonischen Oszillator. auf T1,2, dann wird die
Wärmeenergie in Schwin-
Bei kristallinen Materialien lässt sich auf-
gungsenergie U(T T1,2) – U0
grund ihrer Regelmäßigkeit die Berechnung der Teilchen umgesetzt.
auf den g esamten Kristall ausdehnen, und Die Schwingungsampli-
tude rmax – rmin ist abhän-
man erhält tatsächlich eine recht gute Über-
gig von der Temperatur,
einstimmung mit dem Experiment (Å Abbil- und aufgrund der Asym-
dung 4-105). Für Gummi, dem Prototyp eines metrie der Potenzialkurve
elastischen Materials, versagt diese einfache steigen die mittleren
Abstände der Atome, das
Rechnung allerdings. Wir kommen noch da- Material dehnt sich aus
rauf zurück. (dicke gestrichelte Kurve).

179
KAPITEL 4 Demokrits Erben

4-107 energie und damit auch Bindungskraft und Elas-


Wärmausdehnungskoeffi- tizität. Dies ist einer der Gründe, warum es
zient. Der Wärmeausdeh-
nungskoeffizient stimmt günstiger ist, Materialien warm zu verarbeiten.
für viele Elemente mit dem „Warm“ ist allerdings relativ: Stahl muss auf-
berechneten Wert (durch- grund seines höheren Schmelzpunktes natürlich
gezogene Kurve) überein.
Der berechnete Wert ist heißer verarbeitet werden als Aluminium.
umgekehrt proportional Materialien sind bei niedrigeren Tempera-
zur Schmelztemperatur turen weniger elastisch. Da sie sich gleichzeitig
Tm des Materials, weshalb
Metalle wie Wolfram (W)
aufgrund der geringeren Wärmeausdehnung „zu-
einen sehr geringen Koef- sammenziehen“, können Spannungen entstehen,
fizienten besitzen. die zum Bruch des Materials führen. Eine Ursa-
che für den katastrophalen Untergang der Titanic
war, dass die Sprödigkeit des verwendeten Stahls
bei den niedrigen Temperaturen im Nordatlantik
nicht richtig berücksichtigt wurde.

Aber wann bricht ein Material?

Wieder scheint die Antwort für kristalline Ma-


terialien einfach zu sein. Die für die Dehnung
einer Bindung aufzuwendende Kraft hat ein Ma-
Da das Potenzial asymmetrisch ist, sind die ximum bei einem Bindungsabstand rf (ÅࡳAbbil-
Schwünge in Richtung größerer Bindungslänge dung 4-108). Diese Kraft bzw. die zugehörige
etwas stärker, im Mittel dehnt sich das Material Spannung (Kraft pro Flächeneinheit) ist die
bei Erwärmung also aus (Å Abbildung 4-106, gesuchte Bruchgrenze. Ihr zugeordnet ist bei
Seite 179). Den Ausdehnungskoeffizienten elastischen Materialien eine Bruchdehnung εf,
kann man für kristalline Materialien relativ die bei kristallinen Materialien mit Ionen- oder
einfach berechnen. Er ist umgekehrt propor- Metallbindung etwa zwischen 18 und 30 Pro-
tional zur Schmelztemperatur. Auch in diesem zent liegen sollte.
Fall stimmen theoretische Werte und praktische Soweit die einfache Theorie. – Leider stimmt
Messungen gut überein (Å Abbildung 4-107). sie in diesem Fall kaum mit der Praxis überein.
Wir erwähnten bereits zu Beginn dieses Ab- Materialien brechen bei weit geringeren Span-
schnitts, dass die Elastizität eines Materials auch nungen, und sie bleiben oft nicht bis zum Bruch
von der Temperatur abhängt. Sie ahnen vielleicht elastisch, sondern deformieren sich zuvor. Dieses
warum, wenn Sie an die Wärmeausdehnung plastische Verhalten verringert die Angriffsfläche
denken: Da der Bindungsabstand aufgrund der der Kraft, und die Spannung erhöht sich.
Schwingungen größer wird, sinkt die Bindungs- Natürlich ist ein Grund für die Abweichung
zwischen Theorie und Praxis, dass nicht alle Ma-
4-108
Bruchgrenze. Theoretisch terialien kristallin sind, wodurch unsere Hoch-
sollte ein elastisches Mate- rechnung des Bindungsverhaltens auf den ge-
rial beim Bindungsabstand
samten Körper sehr fragwürdig wird. Aber auch
rf brechen, da dort die
Bindungskraft maximal ist. kristalline Körper verformen sich und brechen
Für ionische (und metalli- früher als erwartet. Um dies zu verstehen, müs-
sche) Bindungen liegt die- sen wir uns mit Fehlern beschäftigen, Fehlern
ser Wert zwischen 18 und
30 Prozent oberhalb des im Aufbau von Kristallen: Nobody is perfect.
normalen Bindungsabstan-
des r0. Dementsprechend
sollten solche Materialien Nichts ist vollkommen – Kristalldefekte
bei 18 – 30 Prozent Deh-
nung brechen. Leider bre- Wir haben schon darüber gesprochen, dass es
chen sie meist wesentlich perfekte Kristalle nicht gibt. Die Struktur eines
früher.
perfekten Kristalls muss sich in alle Richtungen
bis ins Unendliche wiederholen. Denn schon eine

180
Erde, Wasser, Luft und Feuer

4-109
Punktdefekte. In realen Kristallen sorgen Punktdefekte
für eine lokale Deformation des Kristallgitters. (a) Ein
Gitterplatz bleibt vakant, (b) ein Gitterplatz wird durch
ein kleineres bzw. ein größeres (c) Fremdatom eingenom-
men, (d) ein Fremdatom drängt sich dazwischen (intersti-
tielles Atom), (e) ein Atom verlässt einen Gitterplatz und
wird interstitiell (Frenkel-Versetzung), (f) in einem Ionen-
kristall fehlt ein Ionenpaar (Schottky-Defekt).

4-111
Oberfläche bricht die Symmetrie. Sie halten das Stufenversetzung. Bei der
für spitzfindig? Oberflächen spielen jedoch eine Stufenversetzung ist eine
Halbebene in das Gitter
wichtige Rolle. Da Oberflächenatome auf ener- eingefügt. Fährt man
getisch ungünstigeren Positionen sitzen, sind sie in einer geschlossenen
unter anderem bei der Rissbildung zu berücksich- Schleife beginnend bei x
um die Versetzung herum
tigen, denn Risse vergrößern die Oberfläche eines terschiedlichen Stoffen gibt es ein prominentes
(gestrichelte Linie), wobei
Materials, und dazu ist Energie aufzubringen. Beispiel: den Stahl. Viele seiner Eigenschaften man in jeder Richtung die
Aber auch innerhalb eines Kristalls sind Defekte sind auf Größe, Struktur und Zusammensetzung gleiche Anzahl Gitterstel-
len abmisst, so kommt
praktisch unvermeidlich. So können einzelne Git- der Körner zurückzuführen.
man nicht mehr bei x
terpositionen leer bleiben oder durch ein Fremd- Ein perfekter Einkristall ist aus energetischer an, sondern bei y. Der
atom besetzt werden, dessen abweichende Größe Sicht die optimale Konfiguration. Warum entste- Vektor von y nach x wird
das Gitter verzerrt. Auch können eigene oder hen dann überhaupt Gitterfehler? Burgers-Vektor genannt.
Bei Stufenversetzungen
Fremdatome verloren zwischen Gitterpositionen Unter anderem deshalb, weil eine optimale steht er senkrecht zur Ver-
stehen, wie Übriggebliebene bei der Reise nach Konfiguration bei der Kristallbildung aus Zeit- setzungsebene.
Jerusalem (ÅAbbildung 4-109). Ja, sogar ganze gründen nicht erreicht werden kann. Entsteht
Ebenen können verschoben sein oder sich dazwi- der Kristall zum Beispiel aus einer Schmelze, so
schendrängen, man spricht in diesem Fall von müsste diese sehr, sehr langsam abkühlen, um zu
Versetzungen. (ÅAbbildung 4-111 und 4-112). gewährleisten, dass jedes Atom oder Molekül Zeit
Wenn Sie übrigens einmal durch ein Weinbau- genug findet, einen optimalen Platz einzunehmen.
gebiet fahren, können Sie viele der möglichen Aber Zeit allein genügt nicht, weil nicht jedes
Kristalldefekte sozusagen beobachten. Winzer Teilchen die gleiche kinetische Energie trägt. Bei
pflanzen ihre Reben nämlich soweit möglich in gegebener Temperatur sind manche langsamer,
exakt gleichen Abständen – Weinberge sind also manche schneller. Warum dies so ist, werden 4-112
zweidimensionale Kristalle. Um alleinstehende wir in ÅKapitel 9 erfahren. Durch diese Ener- Schraubenversetzung. Bei
der Schraubenversetzung
Bäume herum kommt es zu Kristalldefekten gieunterschiede zwischen den Teilchen kann es ist das Gitter schraubenar-
durch „Fremdatome“. Ebenso sind Versetzungen vorkommen, dass langsame sehr früh an weniger tig verdreht. Der Burgers-
deutlich erkennbar, wenn sich die Rebstöcke über günstigen Stellen gebunden werden und dass Vektor b ist parallel zur
Versetzungsebene.
einen Hügel erstrecken, denn dann lässt sich das dadurch Leerstellen bleiben, manche dagegen
Gitter nicht mit gleichen Abständen durchhalten,
und es kommt zu Stufenversetzungen. 4-110
Kristallebenen auf dem Weinberg. An einem Weinberg kann man viele der auch an
Und letzten Endes handelt es sich bei den Kristallen auftretenden Erscheinungen wie etwa Gitterebenen, Korngrenzen und Kristall-
meisten Festkörpern nicht um Einkristalle aus baufehler beobachten.
einem Guss. Sie sind vielmehr aus vielen Kris-
tallen zusammengesetzt, sogenannten Körnern.
Diese können aus den gleichen Teilchen beste-
hen (mit anderer räumlicher Orientierung des
Gitters), aus einer anderen Phase des gleichen
Stoffs (das heißt mit anderer Kristallstruktur)
oder aus anderen Stoffen (ÅࡳAbbildung 4-113,
Seite 182). Mehrere Winzer haben sich also
nicht abgesprochen, in welche Richtungen sie
ihre Reihen pflanzen, ob diese „auf Lücke“ ste-
hen oder welche Rebsorten sie verwenden. Für
Körner unterschiedlicher Phasen und mit un-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

181
KAPITEL 4 Demokrits Erben

so schnell sind, dass sie am Schluss im Gitter wortlich. Dies wurde deutlich, als der russische
in Zwischenpositionen „hängen bleiben“. Man Physiker JAKOW ILJITSCH FRENKEL (1894 – 1952)
kann es sich vorstellen wie eine Gruppe aufgereg- im Jahre 1926 zeigte, dass plastische Verfor-
ter Schülerinnen und Schüler, die sich möglichst mung bei perfekten Kristallen um den Faktor
schnell in Reih und Glied aufstellen sollen, bis 1000 höhere Festigkeiten erwarten lässt, als man
der Lehrer „Stopp“ ruft. Die unterschiedlichen in Wirklichkeit beobachten konnte.
Energien der Teilchen haben aber auch zur Folge, Versetzungen sind Schwachpunkte einer
dass Leerstellen wandern können. Ein benachbar- r Kristallstruktur, da an ihnen die Bindungsener-
tes Gitteratom kann sich aufgrund einer aktuell gie zwischen den Gitterebenen geringer ist. Bei
höheren Energie „losreißen“ und in die Leerstelle steigender Spannung werden an dieser Stelle
springen, wobei es eine neue Leerstelle hinterlässt. bevorzugt Bindungen brechen, und das Ma -
Leerstellen haben dabei die Tendenz, sich an be- terial beginnt entlang einer Gleitebene in eine
stimmten Stellen zu sammeln, ein Phänomen, bestimmte Richtung zu gleiten (ÅࡳAbbildung
das beim Prozess des Alterns von Materialien 4-114). Besonders gut gelingt dies bei Mate-
eine wichtige Rolle spielt (ÅࡳSchleichende Ver- rialien mit Metallbindung. Ihre Richtungsun-
änderung – Das Altern, Seite 191). Auch Zwi- abhängigkeit erleichtert die Entstehung von
schengitteratome können auf diese Weise durch Gleitebenen. Da aber auch nach einem Gleiten
den Kristall wandern. Da die Häufigkeit dieser die lokale Bindungssituation zwischen unterei-
Wanderungsprozesse mit der Temperatur (also nander gleichen Metallatomrümpfen und dem
der mittleren Energie der Teilchen) zunimmt, „Elektronengas“ dieselbe bleibt, brechen die
spricht man von thermisch aktivierten Prozessen. meisten Metalle nicht, sondern sie sind duk-
Gitterfehler kann man also nicht vermei- til, d. h., sie lassen sich plastisch verformen.
den, aber ihre Zahl ist durchaus beeinflussbar. Materialien mit atomarer Bindung wie Poly-
Schnelles Abkühlen erhöht sie, sie kann aber mere oder Silicium sind dagegen spröde. Ihre
durch Erhitzen wieder verringert werden. Auch Bindungselektronen sind zwischen den beteilig-
andere Verfahren beeinflussen Natur und Anzahl ten Atompaaren lokalisiert. Einmal gebrochen,
4-113 von Defekten, und die Materialforschung macht restaurieren sie sich nicht ohne weiteres. Da
Körnigkeit. Reale Fest- aus der Not eine Tugend: Gitterfehler werden die Ionenbindung wesentlich stärker ist als die
stoffe bestehen nicht gezielt erzeugt, um Materialeigenschaften maßzu- Metallbindung (ÅAbbildung 4-33, Seite 145),
aus einem einheitlichen
Kristallgitter, sondern aus
schneidern. Die gesamte Chipproduktion beruht sind ionische Kristalle wie Salze oder Keramiken
vielen Körnern variabler darauf, Fremdatome in möglichst genau dosierter ebenfalls spröder als Metalle. Hierzu trägt ferner
Größen, in denen Kri- Häufigkeit in Siliciumeinkristallen zu platzieren. bei, dass sich bei Ionenbindungen elektrisch ent-
stallgitter im Raum unter-
schiedlich orientiert sind
gegengesetzt geladene Teilchen in Gitterebenen
(links). Mit polarisiertem Defekte und ihre Folgen gegenüberstehen und anziehen. Verformt sich ein
Licht kann die Orien- solcher Kristall zum Beispiel durch einen Schlag
tierung der Kristallgitter
Für die plastische Verformung von Materialien oder Belastung derart, dass sich die Ebenen um
sichtbar gemacht werden,
da unterschiedliche Inter- mit metallischer Bindung sind fast ausschließlich eine Atomdistanz versetzen, so werden alle Bin-
ferenzfarben auftreten. die oben beschriebenen Versetzungen verant- dungskräfte plötzlich abstoßend, da sich nun
gleiche Ladungen gegenüberstehen. Der Kristall
zerspringt.
Gleitebene und Gleitrichtung bilden zusam-
men das sogenannte Gleitsystem. Bei welcher
mechanischen Spannung ein Material zu gleiten
beginnt, hängt unter anderem von der Dichte
der Teilchen in der Gleitebene und Gleitrich-
tung ab sowie vom Abstand dieser Ebene zur
nächsten. Ist der Abstand groß, setzt Gleiten
schneller ein, da die Bindungsenergie zwischen
den Ebenen geringer ist. Liegen die Teilchen
in der Ebene dicht beisammen, so ist an einer
Versetzung der Burgers-Vektor kürzer, was das
Gleiten ebenfalls erleichtert, da eine geringere
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

18 2
18
Erde, Wasser, Luft und Feuer

4-114
Verformung durch Verset-
zung. Eine Versetzung ist
der ideale Angriffspunkt
für plastische Verformun-
gen. Liegt die Gleitebene
schräg zur Richtung
der Krafteinwirkung, so
entsteht eine Schubspan-
nung, die die Schichten
ober- und unterhalb der
Gleitebene auseinander
gleiten lässt.

Strecke bis zur nächsten stabilen Position zu- aneinander, was das Gleiten erschwert. hcp-
rückzulegen ist (ÅAbbildung 4-115). Kristalle können demnach spröde oder duktil
Teilchendichte und Ebenenabstand in einem sein (ÅAbbildung 4-116).
Kristall sind von dessen Struktur abhängig. Ma-
terialien mit kubisch-flächenzentrierter Kris- 4-115
tallstruktur (face-centered cubic, fcc) verfügen Gleiten und Bindungs-
über dicht gepackte Ebenen, an denen Gleiten energie. Wie leicht ein
Material entlang einer
leicht möglich ist, ihre kritische Gleitspannung Gleitebene zu gleiten be-
ist daher gering. Typische Vertreter dieser ginnt, hängt vor allem von
Klasse sind duktile Metalle wie Kupfer, Sil- deren Teilchendichte und
ihrem Abstand d zur näch-
ber oder Blei und natürlich Gold. Letzteres ist
sten Ebene ab. Je geringer
extrem duktil, man kann es zu nur 100 Atom- der Abstand, desto größer
l agen d ünnen Fo l ien aus h ämmern, d ie a l s die zwischen Ebenen
wirkende (negative) Bin-
Blattgold bezeichnet werden und sogar Licht
dungsenergie und desto
du r c h sc himm e rn l asse n . K ub i sc h-r au mz e n - höher der Widerstand ge-
trierte Kristalle (body-centered cubic, bcc) sind gen Gleiten. Die Teilchen-
weniger dicht gepackt und verfügen daher über abstände auf der Ebene
bestimmen die Länge des
eine höhere kritische Gleitspannung. Dass sie Burgers-Vektors b an ei-
trotzdem nicht spröde sind, liegt daran, dass ner Versetzung. Je kürzer
sie aufgrund ihrer besonderen Symmetrie über dieser ist, desto leichter
kann die Ebene gleiten.
viele nahezu gleich dicht gepackte Gleitsys- Eine hohe Teilchendichte
teme verfügen, die alle unterschiedlich ori- auf einer Gleitebene
entiert sind. Damit liegen im Belastungsfall verringert also die benö-
tigte Gleitspannung. Der
mehr Gleitsysteme parallel zu einer angeleg- Zusammenhang zwischen
ten Spannung, also ist die Spannung entlang Gleitspannung, Burgers-
irgendeines Gleitsystems hoch. Metalle mit Vektor b und Gleitebenen-
abstand d wird durch die
kubisch-raumzentrierter Struktur wie Titan, Peierls-Nabarro-Gleichung
Vanadium, Tantal sind daher zwar fester als ku- beschrieben.
bisch-flächenzentrierte Kristalle, aber trotzdem
plastisch verformbar. Bei Metallen mit hexago-
nal dichtester Kugelpackung (hexagonal close-
packed, hcp) wie Zink oder Magnesium ist die
Lage etwas komplizierter: Die Grundflächen
sind aufgrund ihrer Teilchendichte gute Glei-
tebenen, vergleichbar mit denen bei kubisch-
flächenzentrierten Kristallen. Allerdings sind
4-116
sie alle parallel zueinander orientiert, es ist also Dichteste Gleitebenen. Bei kubisch-raumzentrierten
unwahrscheinlich, dass sie bei einer angelegten Kristallen (bcc) liegen die dichtesten Gleitebenen auf den
Diagonalen (rote Kugeln). Sie sind weniger dicht gepackt
Spannung so liegen, dass eine ausreichende
als die ebenfalls diagonal liegenden Ebenen der kubisch-
Schubspannung entsteht. Auch liegen bei man- flächenzentrierten Kristalle (fcc). Bei hcp-Kristallen sind
chen hcp-Kristallen die Gleitebenen sehr dicht die Grundflächen die am dichtesten gepackten Ebenen.

183
KAPITEL 4 Demokrits Erben

Mehr Festigkeit durch Versetzungsstopper liche Energie zur Verfügung steht (ÅࡳAbbildung
4-117 und 4-118). Zusätzliche Spannung ak-
Fremdatome und Zwischengitteratome behin- tiviert zudem weitere Gleitsysteme mit stärke-
dern im Allgemeinen die Beweglichkeit von ren Bindungen. Das Material verformt sich bei
Versetzungen, da an ihnen das Gitter verzerrt gleichbleibender Spannung so lange, bis alle
ist. Gitterverzerrungen erhöhen die Bindungs- Versetzungen entweder „hängen bleiben“ oder
energie, d.h. es ist mehr Energie notwendig, um aus dem Material herausgewandert sind. Dieser
Atome gegeneinander zu verschieben. Dadurch Mechanismus erklärt, warum oft schon geringe
erhöht sich die Festigkeit des Materials. Das Beimischungen von Legierungsmetallen die me-
Gleiten einer Versetzung beginnt erst wieder, chanischen Eigenschaften eines metallischen
wenn die Spannung so weit steigt, dass zusätz- Werkstoffs deutlich verbessern.
Korngrenzen behindern Versetzungen wir-
4-117 kungsvoll aufgrund der unterschiedlichen Ori-
Versetzungsstopper. entierungen der Gleitebenen in den einzelnen
Gitterfehler können das
Wandern von Versetzun-
Körnern. Da sich mit abnehmender Korngröße
gen stoppen. So wird die die Zahl der Grenzflächen erhöht, steigt auch
linke Versetzung bei einer die Festigkeit. Eine besondere Form von Körnern
Wanderung nach links am
Punktdefekt „hängen“
sind Zusammenballungen von Fremdatomen, die
bleiben, bis die Spannung während des Abkühlungsprozesses entstehen, die
weiter wächst. Durch die sogenannten Ausscheidungen. Sie behindern Ver- r
höhere Teilchendichte
setzungen, da diese sich erst um die Ausscheidung
unterhalb der Versetzung
oben rechts wird das „herumbiegen“ müssen, um weiter zu wandern
Wandern nach rechts (ÅAbbildung 4-119). Auch eutektische Phasen
ebenfalls erschwert. Die von Legierungen sind sehr wirksame Verset-
Versetzung stoppt auch an
der Korngrenze. zungsstopper durch ihre gleichmäßige, feine, oft
lamellenförmige Struktur (ÅࡳAbbildung 4-120).
4-118 Optimal sind Strukturen, in denen eine sehr harte
Stoppen an Gitterfehlern.
Ein Gitterdefekt wie ein
Fremdatom (blau) kann
durch Verformung des
Gitters das Bindungs-
potenzial an dieser Stelle
erhöhen, das Gleiten kann
stoppen, bis durch weitere
Spannungserhöhung diese
zusätzliche Energie auf-
gebracht wird. Auch eine
Korngrenze stellt einen
solchen Potenzialwall dar.

4-119
Versetzungen und Aus-
scheidungen. Diese
elektronenmikroskopische
Aufnahme zeigt, wie
4-120
Versetzungen (weiße Li-
Festigkeit von Blei-Zinn-Legierungen. Blei-Zinnlegie-
nien) an Ausscheidungen
rungen zeigen konzentrationsabhängig unterschiedliche
„hängen“ bleiben. Die
Zugfestigkeiten aufgrund unterschiedlicher Strukturen.
Versetzung baucht sich
Bei geringen Konzentrationen handelt es sich um im
links und rechts aus, los-
Gitter eingebettete Fremdatome, die Versetzungsgleiten
reißen kann sie sich aller-
behindern. Bei höheren Konzentrationen treten Ausschei-
dings erst, wenn sich diese
dungen auf, an deren Oberflächen Versetzungen aufge-
Ausbauchungen jenseits
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

halten werden. Die lamellenförmige Struktur der eutek-


der Ausscheidung treffen
tischen Phasen bricht Versetzungen noch wirkungsvoller,
(Mitte).
am besten, wenn das gesamte Material als Eutektikum
vorliegt (bei 61,9% Zinn-Gehalt).

184
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Phase in einer weicheren fein verteilt ist. Die über-


r
wiegende weiche Phase ist bruchresistenter, die
harte Phase sorgt für die nötige Härte durch den
wirkungsvollen Stopp von Versetzungen (Å Ab-
bildung 4-121). Selbst wenn es nicht gelingt, eine
derartige Struktur direkt aus der Schmelze zu
erzeugen, kann man sie oft durch nachträgliche
Wärmebehandlung herstellen.
Es erscheint paradox, aber je höher die Zahl
der Versetzungen in einem Material ist, desto
fester ist es oft. Dies liegt daran, dass sich Ver-
setzungen beim Gleiten gegenseitig behindern.
Dieser Effekt ist allerdings auch von der Kris- die gewünschte Festigkeit erreicht ist, aber nicht 4-121
Optimale Kornstrukturen.
tallstruktur abhängig. Die bei vielen Metallen zu unbegrenzt. Irgendwann ist die Bruchgrenze er- Die Kornstruktur eines
beobachtende Phase der Verfestigung nach einer reicht, und das eigentlich duktile Material bricht Materials ist wesentlich
gewissen plastischen Verformung ist auf ihn an der Dehngrenze. Bei der Bearbeitung von für dessen Festigkeit. Ein
weiches Basismaterial (die
zurückzuführen. (ÅAbbildung 4-97, Seite 176). kaltumgeformten Materialien kommt es also auf Matrix) mit eingebetteten
die Vorgeschichte an (ÅAbbildung 4-122). Der harten Körnern ist gleich-
Härtungseffekt fällt am stärksten aus bei Mate- zeitig hart und zäh, da
Die hohe Kunst, Metalle zu härten sich Risse in einem dukti-
rialien mit kubisch-flächenzentrierter Struktur len Material weniger leicht
Schon unsere Vorfahren wussten, wie sich durch wie Kupfer und am schwächsten bei solchen ausbreiten (a). Kleine Kör-
Behandlung von Metallen deren Festigkeit er- mit hexagonal dichtester Kugelpackung (hcp) ner sind besser als große
(b) und runde besser
höhen lässt, ohne dass das Material zu spröde wie Titan. Technisch wird die Kaltumformung als eckige (c). Eine hohe
wird. Im Prinzip taten sie nichts anderes, als zum Beispiel beim Walzen von Blechen, beim Korndichte ist günstiger
möglichst effektiv Versetzungen im Material zu Schmieden oder beim Drahtziehen eingesetzt. als eine geringe (d).
stoppen. Eine bereits lange bekannte Methode Neben der erhöhten Festigkeit bieten diese Ver-
ist die Einbringung von Fremdatomen in das fahren eine kostengünstige Möglichkeit, Werk-
Kristallgitter, die sogenannte Mischkristallhär-
r stücke in die gewünschte Form zu bringen. Für
tung. Schon 0,5 Prozent Kohlenstoff machen Komponenten, die bei hohen Temperaturen ihre
aus weichem Eisen festen Stahl. Die Schmiede Festigkeit erhalten sollen, ist es allerdings weni-
vergangener Zeiten bedienten sich ihrer ohne ger geeignet, wie wir noch sehen werden.
es zu wissen, wenn sie Eisen in Holzkohle zum Durch Kaltumformungen und rasches Ab-
Glühen brachten oder Eisenstaub von Hühnern kühlen wird das Material in eine Struktur „ge-
verspeisen ließen, um den Kot danach wieder zwungen“, die aus energetischer Sicht nicht op-
einzuschmelzen, wie es vom altgermanischen timal ist. Durch rasches Abkühlen von Legierun-
Wieland dem Schmied in der Sage überliefert gen können metastabile Phasen entstehen, die
ist. Wendet man die Mischkristallhärtung nach- bei der tieferen Temperatur „eingefroren“ sind.
träglich äußerlich an, so erhält man Materialien Ein Beispiel ist eine auch in Stahl vorkommende
mit harter Oberfläche und duktilem Inneren. Kristallstruktur, die Martensit genannt wird und
Ein Schwert mit dieser Eigenschaft bleibt länger
4-122
scharf, ohne schnell zu brechen. Erhöhung der Dehn-
Eine ebenfalls alte Technik ist die Kaltum- grenze. Verformt man ein
formung, das Dehnen des Materials unterhalb Werkstück über die Dehn-
grenze RP(1) hinaus bis zur
der sogenannten Rekristallisationstemperatur. Spannung RP(2), so bleibt
Kaltumformung erhöht die Festigkeit, da durch es beim zweiten Versuch
Dehnung zusätzliche Versetzungen entstehen, bis zu dieser Grenze ela-
stisch.
die sich gegenseitig behindern. Weil sich gleich-
zeitig die Körner in Dehnrichtung drehen oder
strecken, wird das Material anisotrop: Während
in Dehnrichtung die Festigkeit zunimmt, erhöht
sich senkrecht dazu die Duktilität. Das Dehnen
kann zwar mehrmals wiederholt werden, bis

185
KAPITEL 4 Demokrits Erben

durch Abschrecken entsteht. Sie ist extrem hart,


aber gleichzeitig sehr spröde (ÅࡳMischungen, Reale Dehngrenze
Seite 167). Das „Quälen“ des Materials führt
auch zu Restspannungen im Kristall, die vor- Die theoretisch „ideale“ Dehngrenze liegt um
teilhaft oder schädlich sein können. Vorteilhaft etwa 3 Größenordnungen oberhalb der ge-
können sie beispielsweise sein, wenn an der messenen Werte, da sie sich auf die Verschie-
Oberfläche eine Spannung entsteht, die das Ma- bung von Kristallebenen in völlig defektfreien
terial zusammenzieht (Druckspannung), wäh- Kristallen bezieht. Dehnung tritt aber an Ver-
rend im Inneren eine Zugspannung herrscht. setzungen auf. Berücksichtigt man nur diese,
So funktionieren Sicherheitsgläser. Durch die so erhält man einen Wert für die Dehngrenze,
Druckspannung an der Oberfläche wird die die sogenannte Peierls-Nabarro-Spannung,
Neigung zur Rissbildung bei leichten Schlägen der deutlich näher an den gemessenen Wer-
reduziert. Durch einen kräftigen Schlag zerbricht ten liegt. Fremdstoffe, Körnigkeit und die
das Glas in ungefährliche kleinste Scherben, da Versetzungsdichte des Materials spielen aber
die Zugspannung im Inneren das Glas gewisser- r darüber hinaus entscheidende Rollen. In der
maßen auseinanderreißt. Nachteilig ist dagegen Werkstoffgeschichte der Menschheit ging es
eine Rest-Zugspannung an der Oberfläche eines im Grunde darum, diese Eigenschaften so zu
Balkens, der Biegespannungen ausgesetzt ist. Da manipulieren, dass die Dehngrenze so hoch
beim Biegen die größte Spannung an der Ober- wie möglich wird, ohne dass der Werkstoff
fläche entsteht, kann es dort zur Rissbildung bei deren Erreichung sofort bricht. Vor dem
kommen, noch bevor die Belastungsgrenze des zwanzigsten Jahrhundert kannte man diese
Balkens erreicht ist. Zusammenhänge noch nicht, man war weit-
Die aus energetischer Sicht ungünstige Kris- gehend aufs Probieren angewiesen. Aber ob-
tallstruktur hat zur Folge, dass sich das Ma- wohl sie heute bekannt sind, ist es keineswegs
terial bei Erwärmung neu orientiert, um die einfach oder gar immer möglich, Materialien
vorhandenen Restspannungen zu reduzieren. beliebig in die gewünschte Richtung zu ma-
Eine durch Abschrecken entstandene metasta- nipulieren.
bile Phase wird sich aus dem gleichen Grund in Die Dehngrenze hängt von der kritischen
die energetisch günstigere Phase umwandeln. Schubspannung ab, die parallel zur bevor-
Diese Effekte werden bei der Wärmebehand- zugten Gleitebene liegt. Geringe Abstände
lung von Werkstoffen, dem „Tempern“ oder zwischen Gleitebenen erhöhen dabei die Fes-
„Anlassen“, ausgenutzt. Was dabei alles ge- tigkeit ebenso wie ein großer Burgers-Vektor
schehen kann, hängt von der Temperatur, der (ein großer Atomabstand in der Ebene) und
Dauer und den Stoffkonzentrationen ab. Bleibt eine geringe Korngröße. Auch Fremdatome
die Temperatur unter der Rekristallisationstem- und nicht weit voneinander entfernte Aus-
4-123
Effekte des Temperns.
peratur, so werden Restspannungen reduziert, scheidungen heben die Festigkeit. Bei zu klei-
Nach der Kaltumformung indem verhakte Versetzungen sich lösen und eine nen Körnern oder zu vielen Ausscheidungen
enthält das Material viele Substruktur innerhalb der Körner bilden. Da sich spielen andere Effekte eine Rolle, die gegen-
Versetzungen (dunkle
Punkte), die sich beim
dadurch die Zahl der Versetzungen nicht ändert, läufig wirken können.
Erwärmen als verbun- bleibt die Festigkeit des Materials erhalten. Beim
dene Flächen formieren. Anlassen wandeln sich metastabile Phasen wie Heutzutage kann man durch entsprechende Wahl
Erwärmung über die Re-
das erwähnte Martensit teilweise um, und es ent- der Kohlenstoffkonzentration (plus etwaiger wei-
kristallisationstemperatur
Tr hinaus lässt daraus stehen Kornstrukturen mit unterschiedlichen Ei- terer Beimischungen) sowie des Abkühlungs- und
neue Körner entstehen, genschaften. Aus dem spröden, aber harten Mar- r Anlassprozesses die Werkstoffeigenschaften in
die Versetzungszahl sinkt, tensit des Stahls kann so eine ideale Mischung weiten Bereichen steuern.
ebenso die Festigkeit. Bei
noch stärkerer Erwärmung aus duktilem Perlit mit eingebetteten harten Mar-r Oberhalb der Rekristallisationstemperatur,
(ganz rechts) bilden sich tensitkörnern entstehen: ein vergüteter Stahl. die bei Aluminium schon bei 150 °C liegt, be-
große Körner, die Festig- Dass man Stahl durch eine Folge aus Abschre- ginnen sich die Körner entlang der durch die
keit sinkt weiter.
cken und Erhitzen hart und elastisch machen Versetzungen gebildeten Substruktur neu zu
kann, ist schon seit Jahrhunderten bekannt. Das formieren. Dadurch sinkt deren Zahl und da-
komplexe Phasendiagramm des Stahls bietet viele mit auch die Festigkeit des Materials. Bei noch
Möglichkeiten, die Materialstruktur zu steuern. höheren Temperaturen verschmelzen diese klei-

186
Erde, Wasser, Luft und Feuer

neren Körner zu größeren, was die Festigkeit Härte


weiter senkt (Å Abbildung 4-123). Die niedrige
Rekristallisationstemperatur von Leichtmetallen Nach dem so viel über Festigkeit gesprochen
wie Aluminium ist der Grund dafür, dass sie wurde, also über den Widerstand eines Mate-
sich trotz vieler Vorteile wie geringes Gewicht rials gegenüber Verformung und Bruch, fragen
und Korrosionsbeständigkeit für hohe Betriebs- Sie sich vielleicht, wo denn der Unterschied zur
temperaturen kaum eignen. Kornwachstum ist „Härte“ ist. Im alltäglichen Sprachgebrauch
auch ein Grund (aber nicht der einzige) für das verschwimmen die Grenzen zwischen beiden
„Durchbrennen“ klassischer Glühbirnen: Der Begriffen. Wenn aber ein Material ein anderes
Glühdraht aus Wolfram mit einer Rekristalli- schneiden, bohren oder ritzen kann, dann sagen
sationstemperatur von 1200 °C wird bei etwa wir meist, es sei „härter“. Auch in den Materi-
2500 °C betrieben. Bei dieser Temperatur findet alwissenschaften und in der Mineralogie wird
Korngrößenwachstum statt, der Wolframdraht Härte in diesem Sinn gebraucht: als Widerstand,
wird weniger elastisch und bricht leichter. den ein Körper dem Eindringen (eines härteren
Vielleicht ahnen sie es bereits: Auch Schwei- Körpers) entgegenbringt.
ßen verändert die Struktur des geschweißten Obwohl Härte und Festigkeit beide letzt-
Materials. Ein Grund, warum Schweißnähte lich eine Folge der Bindungsstärken zwischen
an Druckkesseln oder belasteten Trägern ein Atomen und deren Anordnung sind, gibt es im
Problem sein können, ist die mögliche Rekris- Allgemeinen keinen einfachen Zusammenhang.
tallisation oder gar Phasenumwandlung des um Für ionische Einkristalle und solche mit Atom-
die Schweißnaht liegenden Metalls, das dadurch bindung wurde die Härte inzwischen aus Bin-
seine Festigkeit verliert. Besonders „schonende“ dungsparametern hergeleitet, und für manche
Schweißverfahren sind deshalb das Elektro- und metallische Werkstoffe wie Stahl oder Alumi- 4-124
Einige wichtige Eindring-
das Laserschweißen. Bei diesen Verfahren sorgt niumlegierungen existiert ein empirisch ermit- härteprüfungen. Abhängig
die starke Fokussierung der Hitze für eine nur telter, nahezu linearer Zusammenhang zwischen von Material und Anwen-
kurz andauernde Erhitzung des umliegenden Zugfestigkeit und Brinell-Härte. Da man die dungsgebiet werden in
der Materialprüfung un-
Materials, was den Umfang der Rekristallisation Härte im Gegensatz zur Zugfestigkeit eines terschiedliche Härtetests
verringert. Werkstücks zerstörungsfrei prüfen kann, wäre angewendet.

Name Kürzel Verfahren Anwendung

Brinell-Härte HBW Eindrücken einer Hartmetallkugel in die Oberfläche. Aus dem Durchmesser des verbleiben- Bei weichen bis mittel-
den Abdrucks wird die Brinell-Härte berechnet. harten Materialien. Gut
Benannt nach dem schwedischen Ingenieur JOHAN AUGUST BRINELL (1849 – 1925), der es geeignet bei groben
1900 vorstellte. Oberflächen.

Vickers-Härte HV Eindrücken einer Diamantpyramide in die Oberfläche. Die Kraft ist wesentlich geringer als Bei harten Materialien
bei Brinell. Mit Hilfe eines Mikroskops werden die Diagonalen der Eindrückoberfläche ge- und oberflächengehärte-
messen. Aus der berechneten Oberfläche wird die Vickers-Härte berechnet. ten Werkstoffen.
Benannt nach den englischen Flugzeugwerken Vickers.

Rockwell-Härte HRx Vorbelasten der Oberfläche mit der Prüfspitze, anschließend Druck mit hoher Kraft, dann Häufig verwendetes Ver-
wieder Entlasten auf den Wert der Vorbelastung. Die Eindringtiefe der Vorbelastung dient fahren, da sehr schnelle
als Referenzebene für die Messung. Gemessen wird die Eindringtiefe, nicht die Eindrin- Messung.
goberfläche wie bei BRINELL oder VICKERS. Es werden verschiedene Eindringspitzen und Prüf-
kräfte je nach Werkstoff eingesetzt, was durch die weiteren Kürzel hinter HR gekennzeich-
net wird. So wird bei x = A, C, D und N eine konische Diamantspitze verwendet, bei B, H, K
und T eine Hartmetallkugel.

Shore-Härte Shore-x Eindrücken einer Stahlspitze in das Objekt. Gemessen wird die Eindringtiefe. x kennzeichnet Für Elastomere
unterschiedliche Messspitzen und Parameter je nach Werkstoffart.

Buchholz-Härte BH Gemessen wird die Länge der Eindrücklinie eines doppelkegelförmigen, spitzen Metallrades, Für Lacke
das mit definierter Kraft und für eine definierte Zeit auf die Oberfläche gedrückt wird. Die
Buchholz-Härte ist umgekehrt proportional zur Länge der Eindrücklinie.

187
KAPITEL 4 Demokrits Erben

eine direkte Beziehung wünschenswert. Neben moderne Varianten durchaus sehr gute Bruch-
ihrer Zerstörungsfreiheit haben Härtemessun- festigkeiten von bis zu 1600 MPa erreichen, ist
gen gegenüber Zugversuchen noch weitere Vor- auch bei ihnen die Bruchspannung wesentlich
teile: Sie sind schnell und einfach durchzuführen geringer als der theoretische Wert. Dies liegt vor
und erfordern keinen Ausbau des zu messenden allem daran, dass Keramiken Poren enthalten, die
Bauteils. Und um die Oberflächenhärte eines Quellen von Rissen sind, die sich unter Belastung
Materials oder kleinste Strukturen im Mikro- erweitern (Å Abbildung 5-15, Seite 229).
und Nanometer-Bereich zu messen, sind sie Gläser sind amorphe Materialien, deren Teil-
praktisch die einzige Wahl. chen ebenfalls durch Ionen- und Atombindungen
Es gibt viele verschiedene Härteprüfver- zusammenhalten (ÅWas ist Glas?, Seite 282). Sie
fahren, und jedes hat Vor- und Nachteile und sind daher nur wenig elastisch. Im Gegensatz zu
bevorzugte Anwendungsgebiete. Eine Umrech- Metallen und Keramiken kann bei Gläsern keine
nung der Werte ineinander ist nur eingeschränkt präzise Schmelztemperatur angegeben werden.
möglich, weshalb man sich bei Vergleichen auf Oberhalb der sogenannten Glasübergangstem-
ein Messverfahren einigen muss. peratur TG werden sie weich, der Übergang zur
In den meisten Prüfverfahren wird eine Flüssigkeit ist fließend. Die Existenz der weichen,
speziell geformte Messspitze mit definierter noch nicht flüssigen Phase ermöglicht erst die
Kraft und definiertem zeitlichen Verlauf in die Technik des Glasblasens. Unterhalb von TG bil-
Oberfläche gedrückt und anschließend die Ver- den Gläser eine zwar feste, aber nicht-kristalline
formung der Oberfläche gemessen (Å Tabelle Struktur (also keine Fernordnung). Ihre Sprödig-
4-124, Seite 187). Die Prüfverfahren sind in keit ist eine Folge der fehlenden Versetzungen, die
DIN/ISO-Normen genau festgelegt, um die Ver- sich in der unregelmäßigen Struktur nicht bilden
gleichbarkeit von Messungen zu gewährleisten. können. Gläser enthalten zudem bedingt durch
Ein etwas anderes Verfahren ist die Härteprü- den Abkühlungsprozess innere Spannungen, die
fung durch Ritzung, benannt nach ihrem Erfin- die Bruchfestigkeit ebenfalls ungünstig beeinflus-
der, dem Geologen CARL FRIEDRICH CHRISTIAN sen. Allerdings kann man Glas durch Erwärmung
MOHS (1773 – 1839). Er ordnete Mineralien auf eine Temperatur unterhalb von TG (ca. 450 °C
nach ihrer Fähigkeit, sich gegenseitig zu rit- bei Silikatgläsern) „entspannen“. Die erhöhte
zen. Stoffe wie Talk, die mit dem Fingernagel Temperatur bewirkt, dass Atome besser in ener-
geritzt werden können, haben die Mohs-Härte getisch günstigere Positionen wandern können.
1, während Diamant die (höchste) Mohs-Härte Durch geschicktes Einbringen von Kristal-
10 besitzt. Speziell für sehr harte Mineralien lisationskeimen ist es möglich, einen großen
wird auch die Rosiwal-Schleifhärte angegeben, Teil eines Glases in kristalline Körner zu ver-
ein Maß für den Widerstand gegenüber dem wandeln, man spricht von Glaskeramiken. So
Schleifen. Obwohl Diamant das härteste na- werden Spannungen reduziert und energetisch
türliche Mineral ist, lässt es sich schleifen, da optimalere Konfigurationen erreicht. Das Glas
ein Diamantkristall anisotrop ist. In gewissen bleibt zwar hart, ist aber bruchfester. Sie werden
Kristallebenen ist er weicher als in anderen. beispielsweise für Elektroherde und Teleskop-
spiegel eingesetzt (Å Herdplatten und Teleskop-
Hart, aber spröde – Keramiken und Gläser spiegel, Seite 286).

Keramische Materialien sind Stoffe mit starken Von spröde bis endlos elastisch –
Atom- oder Ionenbindungen und feinkörniger, Die Vielfalt der Polymere
kristalliner Struktur. Die starken Bindungen
führen zu einer geringen Elastizität und gro- Die Materialeigenschaften der Polymere sind
ßen Festigkeit. Leider verhindert die Stärke und durch die Form und Vernetzung der Ketten ge-
Gerichtetheit dieser Bindungen auch, dass Ver- prägt. Generell behindern starke chemische Bin-
setzungen gleiten können. Ein Hauptproblem dungen zwischen den Ketten, aber auch schon
besteht darin, dass kaum Mechanismen vorhan- große Seitengruppen die Beweglichkeit der Ket-
den sind, einen einmal entstandenen Riss wieder ten und erhöhen dadurch die Festigkeit. Starke
zu stoppen. Keramiken sind daher spröde und chemische Bindungen können die Beweglichkeit
brechen bei Überbelastung plötzlich. Obwohl aber so sehr einschränken, dass das Material

188
Erde, Wasser, Luft und Feuer

spröde wird. Schon stark polare Seitenatome 4-125


Spannungs-Dehnungs-
wie Chlor (im Polyvinylchlorid, PVC) können
Diagramm Elastomere.
aufgrund ihrer Van-der-Waals-Bindungen mit Elastomere sind anfangs
Nachbarketten die Sprödigkeit erhöhen. Die so- bei geringer Dehnung
nichtlinear-elastisch, wenn
genannten Duroplaste sind stark vernetzte, drei-
sich Ketten aufbiegen
dimensionale Strukturen. Sie sind sehr spröde bzw. aufwickeln. Danach
und bleiben bis zur Zersetzungstemperatur hart. folgt linear-elastisches
Zu ihren gehören die Epoxidharze und das frü- Verhalten, wenn sich die
Bindungen dehnen.
her häufig verwendete Bakelit, ein Phenolharz.
Aufgrund ihrer sehr ähnlichen Eigenschaften
werden Thermoplaste wie Plexiglas, Polyethylen-
terephthalat (PET) oder Polyvinylchlorid (PVC)
zu den Gläsern gerechnet. Sie sind unterhalb
der jeweiligen Temperatur TG hart und spröde, 4-126
darüber aber weich und leicht formbar. Im Ge- Spannungs-Dehnungs-
gensatz zu Glas bestehen sie aus organischen Mo- Diagramm Thermoplaste.
Thermoplaste zeigen
lekülketten (weshalb man auch von organischen
ausgeprägtes elastisch-
Gläsern spricht), die intern zwar durch starke plastisches Verhalten.
Atombindungen zusammengehalten werden, un- Im plastischen Bereich
orientieren sich die Ket-
tereinander aber durch schwache Van-der-Waals-
ten parallel, was zu einer
Kräfte. Oberhalb von TG brechen diese auf, und erhöhten Festigkeit führt,
die Molekülketten können aneinander vorbei ein Phänomen, das für die
gleiten. Ihre Länge behindert sie dabei, sodass Produktion von Nylonfa-
sern ausgenutzt wird.
Thermoplaste zähflüssig bleiben. Oberhalb der
(nicht scharf definierbaren) Schmelztemperatur
sind die Ketten frei beweglich. Bei sogenannten
Flüssigkristallpolymeren, wie sie für LCD-Bild-
schirme verwendet werden, bleiben sie aufgrund abstoßen. So enthält das Monomer des Natur-
starrer Bindungen und Seitenketten steif und kautschuks (Isopren) eine Methylgruppe (-CH3)
können wie Stäbe parallel ausgerichtet werden. als Seitenkette. In der sogenannten cis-Anord-
Diese kristallartige Ausrichtung verleiht ihnen nung liegen diese Gruppen alle auf der gleichen
anisotrope Eigenschaften wie richtungsabhängige Seite der Kette, was die gerade Ausrichtung
Lichtbrechung. Ihre Sprödigkeit unterhalb von der Ketten behindert. Sie sind eingebogen und
TG kommt daher, dass sich diese Ketten wie Spa- werden erst bei Zug gedehnt. Diese Form des
ghetti ineinander verwickeln. Durch Verfahren Kautschuks ist elastisch. In der trans-Anord-
wie das sogenannte Blasformen werden die Ket- nung, beim sogenannten Guttapercha (malai-
ten parallel ausgerichtet, das Material wird einem isch: getah, Gummi; percha, Baum) liegen die
Kristall ähnlich. Sie werden dadurch bruchfester, Seitenketten abwechselnd auf der einen oder
denn auch alle Van-der-Waals-Bindungen liegen der anderen Seite. Die Kette ist gerade, und das
parallel. Beim Blasformen wird der erhitzte, wei- Material ist steif und teilweise kristallin. Gutta-
che Kunststoff mittels Druckluft in eine Hohl- percha wird unter anderem in der Zahnmedizin
form gepresst, dem Glasblasen nicht unähnlich. in Wurzelfüllungen benutzt.
Auf diese Weise entstehen die dauerhaften PET- Sind die Moleküle der Elastomere nicht
Flaschen, die anstelle herkömmlicher Glasfla- vernetzt, zeigt das Material bei starkem Zug
schen eingesetzt werden. Auch der Effekt, dass viskoelastisches Verhalten (Å Vom Federn, Deh-
stark gebogenes Plastik an der Biegestelle heller nen, Fließen und Kriechen, Seite 176), eine
und fester wird, ist auf diese Parallelausrichtung Dehnung ist also nur teilweise reversibel. Je
der Ketten zurückzuführen. (ÅࡳAbbildung 4-126) stärker die Vernetzung der Moleküle ist, desto
Elastomere verdanken ihre hohe Elastizität weniger plastisch ist das Material, gleichzeitig
der Tatsache, dass ihre Ketten gebogen sind nimmt aber auch die Elastizität ab. Weiches
(ÅAbbildung 4-125). Diese Verbiegungen ent- Gummi kann auf diese Weise in Hartgummi
stehen durch Seitenketten, die sich gegenseitig umgewandelt werden, man spricht von Vul-

189
KAPITEL 4 Demokrits Erben

kanisierung (Å Vom Kautschuk zum Gummi, Riss anfängt zu wachsen (und zwar mit bis
Seite 302), da die Vernetzung durch Aufbau zu Schallgeschwindigkeit!), ist trivial: Dies ist
von Schwefelverbindungen zwischen den Ketten energetisch die günstigste Lösung.
erfolgt (Schwefel kommt elementar an Vulkan- Ein Material, das elastisch gedehnt wird,
schloten vor). speichert die dafür aufgebrachte Energie in
den Bindungen, die man sich wie kleine Fe-
Risszähigkeit dern vorstellen kann (ÅEinfach(er) – Elasti-
sche Materialien, Seite 178). Im Riss selbst
Die Frage, warum Materialien bei wesentlich ist nichts vorhanden, was Energie speichern
kleineren Spannungen brechen, als aufgrund kann. Wächst er, so kann sich das Material
der Bindungsenergien zu erwarten ist, haben wir der gespeicherten Energie entledigen, in dem
eigentlich noch nicht beantwortet. Wir haben es sie in Bewegungsenergie umsetzt. Dem ste-
geklärt, warum sich Metalle und andere Stoffe hen allerdings zwei andere Effekte entgegen.
verformen, bevor sie brechen, und dass der Durch eine Vergrößerung des Risses entsteht
Bruch zustande kommt, weil sich das Material eine größere Oberfläche im Material, was wie-
immer weiter einschnürt. Aber warum brechen derum Energie erfordert. Außerdem kommt es
Glas und andere spröde Materialien ebenfalls bei plastischen Materialien an der Rissspitze
früher als erwartet? Und auch Stahl- und Alu- zu starken Spannungen, die die Dehngrenze
miniumbauteile können spontan brechen und überschreiten können. Die dadurch einsetzende
tragische Unfälle verursachen. Vieles hat dabei plastische Verformung verzehrt ebenfalls ein
mit Alterungsprozessen des Materials zu tun, Teil der freiwerdenden elastischen Energie. Ein
die Thema des nächsten Abschnitts sind. Aber Riss wächst also genau dann, wenn die folgende
auch neue Materialien brechen bei zu kleinen Energiebilanz gilt (freiwerdende Energie wird
Spannungen. Warum tun sie das? negativ gerechnet):
Der englische Luftfahrtingenieur A L A N
ARNOLD GRIFFITH (1893 – 1963) stellte sich freiwerdende elastische Energie + Oberflächen-
diese Frage auch und kam zu dem Schluss, energie + Verformungsenergie < 0
dass f ü r Br üc h e Mikr o ri sse ve r a n two r t li c h
sind, die in jedem Material von Anfang an Die elastische Energie ist vom Rissvolumen
vorhanden sind. Die Frage war nun, wann abhängig. Da dieses schneller wächst als die
führen diese Risse zum Bruch und wie hängt Rissoberfläche, wachsen Risse sehr schnell,
die reale Bruchspannung mit Zahl und Länge sobald die Bruchspannung erreicht ist. Dies gilt
der Risse zusammen? Griffith konnte sowohl streng genommen nur für spröde Materialien,
praktisch als auch theoretisch zeigen, dass bei denen die Verformungsenergie gering ist.
die reale Bruchspannung proportional ist zur Es gibt plastische Materialien, bei denen die
Wurzel der Risslän g e des län g sten Risses. Verformung so groß sein kann, dass Risse nicht
Seine Ergebnisse wurden 1957 von GEORGE zum Bruch führen, sondern im Gegenteil die
R AN KI N I RW
R IN (1907 – 1998) für p lastische Festigkeit erhöhen. Man kann dies beim Biegen
Materialien erweitert. Der Grund , warum von Kunststoffen beobachten: Die Biegestelle
ab einer bestimmten Spannung der größte wird meist hell, das Material bricht aber trotz
extremer Verformung kaum. Elastische Ver-
4-127 formungs- und Oberflächenenergie sind beide
Eschede. Am 3. Juni 1998
starben bei einem ICE- von der Risslänge abhängig und aufgrund der
Unglück bei Eschede 101 Eigendynamik des Risswachstums ist klar, dass
Menschen. Grund für das der Bruch beim größten Riss entsteht. Dies
Unglück war der Bruch
eines Radreifen. erklärt auch den seltsamen Effekt, warum die
Teilstücke eines gebrochenen Stabes bei einer
höheren Spannung brechen als der unversehrte
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

Stab. Risse in den Teilstücken müssen kleiner


sein als der, der zum Bruch führte, es wird also
eine höhere Spannung benötigt, um sie wachsen
zu lassen.

190
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Leider gibt es kein Herstellungsverfahren, das


garantiert, dass alle Risse eine gewisse Mindest-
länge nicht überschreiten. Man muss daher Span-
nungsreserven bei der Materialdimensionierung
einplanen. Aber auch dann sind bei sicherheits-

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


relevanten Bauteilen regelmäßige Kontrollen auf
Mikrorisse unverzichtbar, eine Regel, die beim
Zugunglück in Eschede (ÅAbbildung 4-127)
offenbar nicht ausreichend eingehalten wurde.
Mikrorisse können auch durch Alterung oder
starke Beanspruchung neu entstehen bezie- hoch fliegenden Düsenflugzeugen, und obwohl
hungsweise auch unterhalb der Bruchgrenze der Flugzeugrumpf auf eine zweieinhalbfach
langsam wachsen, bis diese erreicht ist. größere Druckbelastung ausgelegt war, als im
Flugbetrieb auftreten konnte, brachen drei Flug-
Schleichende Veränderung – Das Altern zeuge in großer Höhe auseinander, alle Insassen
kamen dabei ums Leben. Wie Belastungsversu-
Alterserscheinungen begegnen uns überall, nicht che am Boden schließlich zeigten, führten die
zuletzt an uns selbst. Es gibt manche, die er- periodischen Druckbelastungen zwischen Boden
scheinen uns natürlich, selbst wenn wir nicht ge- und großen Höhen zu Materialermüdung an

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


nau wissen, wie sie zustande kommen. Dies gilt den Ecken der Kabinenfenster (ÅAbbildung
zum Beispiel für „Verschleißteile“ wie Bremsen 4-128, rechte Bilder). Es bildeten sich Risse, die
oder Kniegelenke. Sie sind ständigen Reibbelas- schließlich zum Zerbrechen des Rumpfes führ-
tungen ausgesetzt, und das Material scheint sich ten. Man hätte es ahnen können. Schon 1829
abzutragen. Aber warum wird ein Gummi mit führte der deutsche Bergbauingenieur WILHELM 4-128
der Zeit spröde? Oder warum bricht ein Draht, A. J. ALBERT (1787 – 1846) Dauerversuche mit Ermüdungsbruch. Die
wenn man ihn öfter hin und her biegt? Warum periodisch belasteten Eisenketten durch, die für tragischen Abstürze dreier
de Havilland Comet Pas-
„ermüden“ Materialien und brechen scheinbar die Förderung der Minenkörbe verwendet wur- sagierjets (links oben)
unvermittelt? den. Nach dem schweren Eisenbahnunglück in konnten auf Materialer-
Die Ursachen für das Altern sind außer- Versailles 1842 mit über 50 Toten aufgrund des müdung zurückgeführt
werden. Dauertests mit
ordentlich vielfältig, am augenfälligsten sind Achsbruchs einer Lokomotive wurde die Ma-
periodisch wechselndem
die Zersetzungsprozesse toter Organismen oder terialermüdung durch wechselnde Belastungen Kabinendruck am Boden
die Korrosion von Metallen. Bei ersteren sind Gegenstand intensiver Forschung. Bereits der demonstrierten, wie sich
Risse an den Ecken der
andere Organismen maßgeblich beteiligt, bei mit der Untersuchung des Unglücks beauftragte
Kabinenfenster bildeten,
letzteren handelt es sich meist um Oxidations- schottische Ingenieur WILLIAM J. M. RANKINE die schließlich zum Zerbre-
prozesse. In beiden Fällen wird das Material (1820 – 1872) stellte Haarrisse im Achsenma- chen des Rumpfes führten
chemisch umgewandelt, es entstehen neue Ver- terial fest, die offensichtlich Ursache des Un- (oben). Photos samt ein-
gezeichneter Pfeile und
bindungen und somit auch neue Materialeigen- glücks waren. Der deutsche Ingenieur AUGUST Kommentare stammen
schaften. Aus hartem, biegsamem Eisen entsteht WÖHLER (1819 – 1914) zeigte schließlich Mitte aus einem Untersuchungs-
spröder, körniger Rost. Auch photochemische des 19. Jahrhunderts, dass die Festigkeit von bericht des Ministery of
Aviation der U.S.A. von
Veränderungen wie das Ausbleichen von Farben Metall bei periodischen Dauerbelastungen deut- 1960.
in der Sonne sind letzten Endes chemische Pro- lich geringer ist als die statische Festigkeit. Die
zesse: Die energiereichen UV-Strahlen zerstören recht große Zahl von Achsbrüchen an Loko-
chemische Bindungen, insbesondere Mehrfach- motiven bis zu dieser Zeit war darauf zurück-
bindungen, die für die Absorption von Licht zuführen, dass man nur die statische Festigkeit
bestimmter Wellenlängen verantwortlich sind. berücksichtigte.
Wesentlich tückischer und lange verkannt Aber warum ist ein Material bei zyklischer
sind schleichende Veränderungen in Materialien, Belastung so viel weniger fest als normal?
die oft zu plötzlichem Versagen führen. Tragisch Die detaillierten Vorgänge sind sehr kom-
sind die Unfälle des ersten zivilen Passagierdü- plex und auch noch lange nicht vollkommen
senflugzeuges der Welt, der de Havilland Comet verstanden, aber wir treffen wieder auf alte
1953/54 (ÅAbbildung 4-128, linkes Bild). Man Bekannte: Versetzungen. Diesmal in Form so-
hatte zu dieser Zeit noch keine Erfahrungen mit genannter Gleitbänder. Sie spielen bei Ermü-

191
KAPITEL 4 Demokrits Erben

dungsbrüchen von kristallinen Materialien eine Hinter diesem Phänomen steckt das bereits zu
wesentliche Rolle. Anfang dieses Hauptabschnitts erwähnte Krie-
D u r c h Belastung entstehen im Material chen: das langsame plastische Verformen eines
vermehrt Versetzungen entlang der Gleitebe- Materials auch schon unterhalb der Dehngrenze.

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


nen, die bei zyklischen Belastungen hin und Kriechen kommt in allen Materialien vor, und
her wandern, wobei sich schließlich Stufen- verantwortlich dafür sind sogenannte thermisch
versetzungen zu ausgedehnten Bündeln grup- aktivierte Prozesse, also Prozesse, die bei erhöh-
pieren, da sie nicht ohne weiteres übereinan- ter Temperatur schneller ablaufen. Ein für das
4-129
der hinweg gleiten können. Das dazwischen Kriechen wichtiger thermisch aktivierter Pro-
Bündel. In elektronenmi- liegende Material, die sogenannte Matrix, ist zess ist die Diffusion, das zufällige Wandern
kroskopischen Aufnahmen praktisch stufenversetzungsfrei, enthält aber von Teilchen. Obwohl diese ziellos umhertor-
einer dauerbelasteten
noch Schraubenversetzungen. Die Belastung keln wie Betrunkene, bewirken kleine räumliche
Kupferprobe sind die Ver-
setzungsbündel als dunkle führt zu einer Härtung des Materials, da die oder energetische Unterschiede eine scheinbar
Streifen gut zu erkennen. Versetzungsbewegung gebremst ist. Auf dieser gerichtete Wanderungsbewegung. Auf diese Weise
In den dazwischen liegen-
Stufe entstehen zwar feine Kerbungen an der löst sich Farbe in Wasser ohne Umrühren auf,
den Bereichen (der Matrix)
sind teilweise Stufen- Oberfläche, das Material ist aber praktisch und haben Leerstellen in Kristallen und Span-
versetzungen als dunkle ermüdungsfrei. Wird die Zug-/Druckspannung nung die Tendenz, sich bevorzugt an die Enden
Striche zu sehen. Die Gleit- weiter erhöht, so formieren sich Versetzungen von Versetzungen anzulagern. Dadurch werden
ebene liegt parallel zur
Bildfläche. in schmalen Bändern. Sie wandern durch das diese verkürzt, wodurch die Versetzung etwaige
Material bis zur Oberfläche und haben einen Hindernisse „überklettern“ und weiter wandern
relativ regelmäßigen Abstand voneinander. In kann, das Material „kriecht“. Da dieses Kriechen
dieser Phase sinkt die Festigkeit deutlich, das eine Bewegung der Versetzungen als Ursache hat,
Material verhält sich plastisch. Die Bänder sind spricht man auch vom Versetzungskriechen. Ähn-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

an der Oberfläche als Einkerbungen oder Er- liches geschieht beim sogenannten Korngrenzen-
hebungen sichtbar. Man nennt sie persistente kriechen. Hier wandern Leerstellen in einem un-
Gleitbänder, da sie auch nach dem Entfernen ter Spannung stehenden Material bevorzugt in
wiederkehren. Feine Risse entwickeln sich Grenzen ein, die parallel zur Spannungsrichtung
4-130 bevorzugt in den Einkerbungen, da dort die liegen, und aus den senkrecht dazu stehenden he-
Bündel und Gleitbänder. Spannung am größten ist. Leerstellen, die in raus (da hier das Material dichter ist). Die Körner
In dieser Aufnahme er- Gleitbändern bevorzugt entstehen, diffundieren werden dadurch in Zugrichtung länger, das Ma-
kennt man die charakte-
ristischen Gleitbänder in in Richtung Oberfläche und lassen den Riss terial „kriecht“. Wem dieses nahezu intelligente
den mit PSB (persistent slip langsam bis zur Bruchgrenze wachsen. Verhalten von Leerstellen spanisch vorkommt
bands) bezeichneten Be- Nicht nur zyklische Belastungen führen zu (woher wissen Leerstellen, wo das Material dicht
reichen. Dazwischen liegen
Bereiche (V), in denen Ver-
langsamen Veränderungen des Materials. Ha- ist?) sei auf Å Kapitel 9 verwiesen, in dem es auch
setzungsbündel sichtbar ben Sie sich schon einmal gewundert, warum um das Thema Diffusion geht. Gewisse Analogien
sind. Mit eingezeichnet ist Schrauben wie von selbst locker werden? Oder bestehen auch zu Mikroorganismen, die das Licht
die Richtung des Burgers-
Vektors.
warum die Fahrradkette nach einiger Zeit ge- gezielt suchen oder ihm ausweichen können (Pho-
spannt werden muss? totaxis), obwohl sie nur die Lichtstärke, nicht

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


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BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

4-131 4-132
Gleitbänder. An der Oberfläche zyklisch belasteter Materialien bilden Gleitbänder oft Riss an einer Extrusion. Erkennbarer Riss (Pfeil) an einer
charakteristische Erhebungen (Extrusionen, links und Mitte) und Vertiefungen (Intrusio- Extrusion.
nen, rechts), die auch nach Glattpolieren wieder entstehen, weshalb man sie auch persi-
stente Gleitbänder nennt. Links ist die Richtung des Burgers-Vektors eingezeichnet.

192
Erde, Wasser, Luft und Feuer

aber seine Richtung feststellen können. Der Trick Wenn Körper schwingen
ist ganz einfach. Sie schwimmen einfach in eine
völlig zufällige Richtung los, wenn sie zu wenig Wellen und Schwingungen sind uns geläufig. Wir
bzw. zu viel Helligkeit wahrnehmen. Erreichen sprechen von Wasserwellen, Schallwellen, elek-
sie eine Stelle, an denen die Bedingungen besser tromagnetischen Wellen und „La Ola“-Wellen als
passen, stoppen sie die Fortbewegung. Insgesamt Massenphänomen in Stadien. Eine Schaukel
sieht man ein erstaunliches, quasi „intelligentes“ schwingt ebenso wie der Quarz in unserer Uhr
Aussuchen der optimalen Lichtverhältnisse. oder das Metronom auf dem Klavier. Und die
In nicht-kristallinen Materialien wie Kunst- Schwingungen der Klaviersaiten erzeugen Schall-
stoff kommt es unter konstanter Spannung durch wellen, die unser Ohr erreichen. Von Schall
Diffusion zu einem langsamen Entwirren von spricht man, wenn die Teilchen eines Mediums in
Molekülketten oder zur Umlagerung von Was- kleine Schwingungen versetzt werden, gleichgül-
serstoffbrücken. Auch das Zurückkriechen visko- tig, ob es sich um einen Festkörper, eine Flüssig-
elastischer Stoffe nach dem Dehnen ist ein Diffu- keit oder ein Gas handelt. Es ist auch unerheblich,
sionsvorgang, bei dem die Ketten langsam wieder ob diese Schwingungen noch im hörbaren Bereich
ihre alten, verknäuelten Positionen einnehmen (da sind oder nicht (ÅTabelle 4-137, Seite 195). Bei
diese energetisch günstiger sind und eine höhere Schallausbreitung in Festkörpern spricht man in
Entropie besitzen). Beton kriecht, weil Wasser der Akustik meist von Körperschall. Ein Körper
aus dem Zement-Gel herausgepresst wird, was zu kann auch als Ganzes schwingen wie eine Kla-
einer Volumenminderung führt. Dieser Prozess ist viersaite, eine Trommel oder eine Wassermenge.
erst nach Jahren abgeschlossen. Solche Körperschwingungen spielen eine große
Besonders gefährlich wird es, wenn Mikroriss- Rolle bei der Schallübertragung von einem Fest-
bildung und Korrosion zusammentreffen. Bei der körper zur Luft, denn sie erzeugen einen Großteil
sogenannten Spannungsrisskorrosion vergrößern der Schallenergie.
sich Risse weit unterhalb der Bruchgrenze, weil Schwingungen entstehen immer dann, wenn
chemische Substanzen, die in die Risse eindringen, sich ein System zumindest teilweise elastisch
an der Rissspitze mit dem Material reagieren. So verhält: Nach einer Störung versucht es, wieder
sind Chloridionen (Salzwasser!) und Schwefel- in den Ausgangszustand zurückzugelangen. Eine
wasserstoff (Öl- und Gasbohrungen!) gefährliche Feder hat diese Eigenschaft sehr ausgeprägt,
Korrosionsmittel für manche Stähle und Leicht- ein Kaugummi weniger. Inelastische Materialien
metalllegierungen. Äußerlich ist den Materialien dämpfen Schwingungen, weshalb eine schwin-
nichts anzumerken, der Bruch kann nach Minuten gende Feder in Öl schneller wieder zur Ruhe
oder Jahren erfolgen. Wesentlich ist die richtige kommt als in Luft. Elastische Schwingungen
Wahl der Legierungen für diese Anwendungsberei- lassen sich auch mathematisch sehr einfach be-
che. Spannungsrisskorrosion in den Stahldrähten schreiben: durch eine Sinusfunktion (ÅAbbil-
der Spannbetonkonstruktion war die Ursache für dung 4-134). Reine Töne sind Sinusschwingun-
den teilweisen Einsturz der Berliner Kongresshalle gen und Musikinstrumente, Stimmen oder Wind
(„Schwangere Auster“) im Mai 1980. erzeugen ein Gemisch aus Sinusschwingungen.
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

4-133 4-134
Spannungsrisskorrosion. Das Dach der Berliner Sinusschwingung. Linear-elastische Systeme wie eine Feder schwingen sinusförmig. Die
Kongresshalle stürzte am 21.05.1980 durch Spannungs- Frequenz ν wird in Schwingungen pro Sekunde bzw. Hertz [Hz] angegeben. Für physi-
risskorrosion der Spannbeton-Stahldrähte teilweise ein. kalische Darstellungen wird statt der Frequenz ν meist die Kreisfrequenz ω verwendet.

193
KAPITEL 4 Demokrits Erben

4-135 Eine Welle ist eine sich im Raum fortpflanzende


Longitudinalwellen. Bei
Schwingung; zur Schwingungsfrequenz kommt
Longitudinalwellen ver-
dichtet und verdünnt sich als weitere charakteristische Größe die Aus-
das Medium abwechselnd breitungsgeschwindigkeit hinzu. Schallwellen
längs der Ausbreitungs- können sich auf zwei unterschiedliche Weisen
richtung, Die Teilchen des
Mediums schwingen längs in Medien fortpflanzen. Bei Longitudinalwellen
diese Richtung hin und schwingt das Medium in Ausbreitungsrichtung,
her. Bei linearen Kräften der Stoff wird längs der Welle abwechselnd ver-
zwischen den Teilchen
schwankt der Druck p im dichtet und verdünnt (ÅAbbildung 4-135). Bei
Medium sinusförmig. c Transversalwellen schwingen die Teilchen senk-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

ist die Ausbreitungsge- recht zur Ausbreitungsrichtung (ÅAbbildung


schwindigkeit der Welle, λ
die Wellenlänge, d. h. die
4-136). Sie können sich nur bilden, wenn im
Länge einer Schwingungs- Medium Kräfte existieren, die einer Parallelver-
periode. k bezeichnet man schiebung der Teilchen elastischen Widerstand
als Wellenzahl.
entgegensetzen. Dies ist natürlich in Festkörpern
der Fall, in geringem Maße in Flüssigkeiten, aber
nicht in Gasen. Die Ausbreitungsgeschwindig-
keit ist daher von den Materialeigenschaften
4-136
abhängig, insbesondere von der Dichte und den
Transversalwellen. Trans- mechanischen Kenngrößen (ÅTabelle 4-138).
versalwellen treten in Generell gilt: Je dichter ein Material ist, desto
festen Medien auf – zum
langsamer breitet sich der Schall aus. Gleichzei-
Beispiel einem Metallstab
–, da in diesen Scherkräfte tig gilt aber, dass der Schall sich umso schneller
wirken können. Jeder fortpflanzt, je fester ein elastisches Medium,
Querschnitt des Stabes
also je größer der Elastizitätsmodul ist. Im All-
schwingt dabei periodisch
auf und ab (t-Richtung), gemeinen überwiegt der Einfluss des Elastizi-
während sich die Schwin- tätsmoduls, weshalb Schall sich in Festkörpern
gung längs des Stabes schneller als in Luft bewegt.
ausbreitet (x-Richtung).
Während bei Longitudi-
nalwellen der Druck p die Schallreflexion –
relevante Größe ist, ist es von Fledermäusen, Walen und Notsignalen
bei Transversalwellen die
Auslenkung a.
Wie Licht wird auch Schall an Materialgrenzen
Was man bei einem Musikinstrument als Ton gebrochen oder reflektiert, die Intensität der
heraushört, ist lediglich die Schwingung mit reflektierten Welle hängt von der Ausbreitungs-
der niedrigsten Frequenz, der Grundton. Die geschwindigkeit in den beiden Medien ab. Beim
Klangfärbung eines Instruments hängt vor allem Übergang zwischen Luft (geringe Geschwindig-
von den Anteilen an sogenannten Obertönen keit) und Festkörper (hohe Geschwindigkeit)
ab, deren Frequenzen ganzzahlige Vielfache der wird viel Schall reflektiert. Dieser Effekt hat
Frequenz des Grundtons sind. nicht nur die angenehme Folge, dass wir die
Tür schließen können, um es ruhig zu haben,
4-137 Bezeichnung Frequenz Hörgrenzen
Schallfrequenzen. Abhän-
Infraschall kleiner 16 Hz für Menschen nicht hörbar, kann Übelkeit und psychische Wirkungen her-
gig von seiner Frequenz vorrufen sowie bei sehr hohen Schallpegeln Organe schädigen
kann Schall von verschie-
denen Hörsystemen wahr- Hörschall 16 Hz – 20 kHz Kinder 20 kHz
genommen werden. Er bis 35 Jahren 15 kHz
unterscheidet sich durch Greise 5 kHz
Der Mensch vermag etwa 2000 Tonhöhen zu unterscheiden
die Art seiner Ausbreitung
sowie bei hoher Intensität Ultraschall 20 kHz – 1 GHz Katze 50 kHz
durch seine Wirkungen Hund 35 kHz
auf Lebewesen und Ma- Fledermäuse > 90 kHz
terialien. Großer Tümmler 150 kHz
Hyperschall größer 1 GHz

194
Erde, Wasser, Luft und Feuer

sondern ermöglicht es Fledermäusen auch,


Hindernisse und Beute zu orten. Gegenüber Schallgeschwindigkeit und Materialeigenschaften
Hörschall hat Ultraschall den Vorteil, dass die
Richtungsortung aufgrund der geringeren Wel- Schall besteht aus Longitudinalwellen und kann sich deshalb sowohl in
lenlänge präziser sein kann. Den gleichen Ef- Feststoffen als auch in Fluiden fortpflanzen. Die Schallgeschwindigkeit
fekt nutzen natürlich auch Sonargeräte und das ist abhängig von der Frequenz und bei allen Stoffen eine Funktion der
Echolot. Unter Wasser gibt es allerdings noch Dichte und Materialkonstanten wie Elastizitätsmodul E (Federkons-
einen weiteren Effekt, der für Wale die Benut- tante), Schubmodul G,
Material Schallgeschwindigkeit in m/s
zung des Telefons überflüssig macht: der soge- Querdehnungszahl v elastischer Aluminium: c = 3130; c = 5100
trans long
nannte SOFAR-Kanal (von engl. Sound Fixing und Kompressionsmo- Festkörper Beryllium: ctrans = 8880; clong = 12 900
and Ranging). Da die Schallgeschwindigkeit dul K. Transversalwellen PVC (hart): ctrans = 1060; clong = 2250
Seismische Wellen:
in den tiefen Zonen der Ozeane ein Minimum können nur in Festkör-
ctrans = 3000 – 4500 (s-Wellen)
zwischen 500 und 1000 Metern Tiefe besitzt pern auftreten, da nur clong = 5000 – 8000 (p-Wellen)
(ÅAbbildung 4-139, Seite 196), werden in in diesen Scherkräfte
diesem Bereich erzeugte Schallwellen sowohl wirken. In Flüssigkeiten Flüssigkeit Wasser (10 °C): clong = 1440
Wasser (0 °C): clong = 1407
an den oberen als auch den unteren Schichten und vor allem in Gasen Meerwasser: ca. clong = 1500
reflektiert, sie bleiben also in einer Tiefenschicht ist die Geschwindigkeit Öl (SAE 20/30): clong = 1740
konzentriert. Dadurch nimmt die Intensität des stark temperaturabhän-
Schalls nicht wie bei kugelförmiger Ausbreitung gig, u.a. eine Ursache des Gas Luft (20 °C): clong = 343,4
Luft (0 °C): clong = 331,5
mit dem Quadrat des Abstands ab, sondern sogenannten SOFAR - Helium (20 °C): clong = 981
linear. Der Kanal wirkt wie ein Hörrohr und eig- Kanals im Meer. Wasserstoff (20 °C): clong = 1280
net sich hervorragend zur Kommunikation über
weite Strecken. Buckelwale können dadurch Ruhe bitte! – Schalldämmung und Dämpfung
über Tausende von Kilometern miteinander „te-
lefonieren“. Militärisch wurde dieser Effekt für Haben Sie auch schon einmal Eierkartons an die
die Überwachung von U-Booten genutzt und Wand des Partykellers genagelt, um die Ohren
im Mercury-Raumfahrtprogramm sollte durch des Nachbarn zu schonen? Das hätten Sie sich
Detonation einer von der Kapsel ausgesetzten sparen können, denn die Schalldämmeigenschaf-
Sprengladung im SOFAR-Kanal in Notfällen ten von Eierkartons sind äußerst mäßig, vor allem
eine gelandete (und gesunkene) Kapsel aufge- in niederen Frequenzbereichen. Schaumstoffpyra-
spürt werden. Glücklicherweise musste dieses miden sind für den Partykeller wesentlich besser
Notfallprogramm niemals ausgeführt werden. geeignet. Man spricht von Schalldämmung, wenn

Bezeichnung Einheit Physikalische Bedeutung 4-138


Schallschnelle v Maximale Teilchengeschwindigkeit Messgrößen. Gebräuch-
während einer Schwingung. liche Messgrößen des
Schalls.
Schalldruck p Pascal Maximaler Druck während einer Düsenflugzeug (30 m entfernt): 200
[Pa] Schwingung. Fernseher (Zimmerlautstärke): 0,02
leises Atmen: 6,3 · 10-5
Hörschwelle (bei 2 kHz): 2 · 10-5
Schallintensität I W/m2 Schallleistung je durchstrahlter Flä-
cheneinheit
Bei ebenen Wellen gilt I = p · v
Schalldruckpegel LP Dezibel Verhältnis des effektiven Drucks zum Düsenflugzeug (30 m entfernt): 140
[dB] Druck p0 an der Hörschwelle in loga- Fernseher (Zimmerlautstärke, 1 m): 60
rithmischer Skala: leises Atmen: 10
LP = 20 · log10(p/p
/ 0) Hörschwelle: 0
6 dB bedeuten eine Verdopplung des
Drucks
Schallimpedanz ZF Ns/m3 „Härte“ des Materials bezüglich der Luft (20 °C): 413,5
Wellenausbreitung: Wasser (10 °C): 1 440 000
ZF = p/v = ρ · c (ρ: Dichte) Stahl: 45 000 000
Tonheit z Mel Maß für die wahrgenommene Ton- 100 mel = 100 Hz
höhe. Mel berücksichtigt, dass unsere 500 mel = 500 Hz
Tonhöhenwahrnehmung oberhalb 2000 mel = 3428,6 Hz
500 Hz nicht linear ist. 3000 mel = 9326,8 Hz

195
KAPITEL 4 Demokrits Erben

4-139
großen Oberfläche poröser Materialien mehrfach
Schallgeschwindigkeit
im Ozean. Temperatur-, reflektiert und im oberflächennahen Bereich ab-
Schallgeschwindigkeits- sorbiert wird. Aber auch Polstersessel oder Men-
und Druckverlauf im schen eignen sich hervorragend als Absorber, wie
Nordatlantik. Deutlich
erkennbar das Minimum wir bei jedem Umzug feststellen können, wenn
der Schallgeschwindig- wir ein letztes Mal durch die leeren Räume gehen.

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keit bei etwa 800 m.
In diesem Bereich liegt
der SOFAR-Kanal. Die Wellen mit zerstörerischer Kraft –
Schallgeschwindigkeit ist Seismische Wellen
in geringen Tiefen durch
den Temperaturverlauf
geprägt, in höheren Tiefen
Nicht jeder Tritt löst gleich ein Erdbeben aus,
durch den Druck. aber zumindest eine Art von Erdbebenwellen,
die sogenannten p-Wellen, sind den Schallwel-
4-140 len in Körpern sehr ähnlich. Erdbeben entstehen
Erdbebenwellen. Die
Bewegungen von s- und durch plötzliche horizontale oder vertikale Ver- r
p-Wellen sind aufgrund es darum geht, die Schallausbreitung in Nachbar- schiebungen von Erdschollen gegeneinander. Die
des Schichtaufbaus der räume zu unterbinden, und von Dämpfung, wenn meisten Beben entstehen dabei nicht direkt an
Erde und der variierenden
Dichte komplex. s- oder
die Schallabsorption im Mittelpunkt steht, wenn der Oberfläche, sondern in Tiefen bis zu mehre-
p-Wellen gelangen bis man also nicht will, dass es hallt. In Häusern ren hundert Kilometern. Für die weiträumigen
in den äußeren Kern der geht es insbesondere darum, den sogenannten Zerstörungen sind Erdbebenwellen (seismische
Erde, wo sie gebrochen
und teilweise ineinander
Trittschall zu dämmen. Meist wird hierfür ein Wellen) verantwortlich, die sich vom Epizentrum
umgewandelt werden schwimmender Estrich verlegt. Unter dem Ze- aus ausbreiten. Je näher an der Erdoberfläche ein
(K). Krümmungen sind ment wird eine Schicht Hartschaum oder Mine- Beben stattfindet, desto mehr Zerstörungen verur- r
eine Folge der in Richtung
ralwolle verlegt, um die Erschütterungen zu ab- sachen seismische Wellen direkt. Zum Beispiel trat
Erdmittelpunkt ansteigen-
den Dichte. An den mit S, sorbieren. Auch abgehängte Decken helfen durch das katastrophale Beben, das Anfang 2010 Haiti
SS, P, PP usw. markierten Reflexion, den Trittschall zu dämmen. Dämpfung erschütterte, in nur 10 km Tiefe auf. Die größten
Positionen können die
geschieht durch Absorption des Schalls in porösen Zerstörungen sind aber oft auch indirekte Folgen
angegebenen seismischen
Wellentypen gemessen Materialien wie Schaumstoff. Der Dämpfungs- dieser Wellen: Erdrutsche und Tsunamis. Vor allem
werden, wenn im „Focus“ effekt entsteht dadurch, dass der Schall an der nasser Boden verhält sich bei Erschütterungen wie
ein Erdbeben auftritt. eine Flüssigkeit, das heißt, er fließt weg und reißt
alles mit sich, was sich ihm in den Weg stellt.
Bei Erdbeben entstehen drei verschiedene
Arten von Wellen: die bekannten Longitudinal-
und Transversalwellen sowie Oberflächenwel-
len. Aufgrund des Dichtegradienten verlaufen
seismische Wellen in der Erde nicht geradlinig,
sondern sie folgen gekrümmten Bahnen. Die
Longitudinalwellen breiten sich im Erdmantel
und in der Erdkruste mit etwa 5 – 7 km/s aus.
Sie werden als erstes wahrgenommen, weshalb
man sie auch Primär- oder p-Wellen nennt. Die
Transversalwellen laufen etwa halb so schnell
durch den Erdmantel und treffen als nächstes
ein, weshalb man sie Sekundär- oder s-Wellen
nennt. Wie alle anderen Körperwellen ist die
Ausbreitungsgeschwindigkeit von den Materialei-
genschaften der Erdschichten abhängig (ÅKasten
Schallgeschwindigkeit und Materialeigenschaften,
Seite 195), die Wellen werden mehrfach gebeugt
und reflektiert. Körperwellen eignen sich gut für
die Analyse der Struktur des Erdmantels und der
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Erde, Wasser, Luft und Feuer

4-142
Oberflächenwellen. Bei
Rayleigh-Wellen (oben)
vollziehen die Bodenteil-
chen elliptische Bewe-
gungen, die mit der Tiefe
schwächer werden, ganz
ähnlich wie Wasserwellen.
Da sie sich an der Ober-
fläche fortpflanzen, nimmt
ihre Stärke linear ab statt
quadratisch. Rayleigh-
Wellen erzeugen die stärk-
sten Erschütterungen. Bei
Love-Wellen (unten) voll-
ziehen die Bodenteilchen
horizontale Bewegungen.
4-141
Seismische Wellen. Aufzeichnungen eines Erdbebens am E. H. LOVE (1863 – 1940), der sie 1911 in ei-
3. September 1998 in Chile durch einen Seismografen, nem mathematischen Modell erstmals beschrieb,
der Ost-West, Nord-Süd und vertikale Bewegungen des schwingen horizontal.
Erdbodens misst. Eingezeichnet sind die unterschiedlichen
Wellentypen. Rayleigh-Wellen treten nur in vertikaler
Richtung auf, Love-Wellen nur in seitlicher Richtung. Wärmekapazität
Frauen haben im Bett immer kalte Füße. Sagt
Erdkruste. So lassen sich auf diese Weise auch man(n). Ein Mittel, diesem Zustand abzuhelfen
Hinweise auf Öl- und Gaslagerstätten gewinnen. (es gibt allerdings auch andere), ist die altbe-
Treffen s- oder p-Wellen auf die Oberfläche, kannte Wärmflasche. Gefüllt mit heißem Wasser
so pflanzen sie sich dort als transversale Oberflä- verströmt sie eine wohlige Wärme – zumin-
chenwellen fort. Diese sind etwas langsamer als dest solange das Wasser noch heiß ist. Wasser
s-Wellen und kommen in zwei unterschiedlichen bleibt recht lange heiß, denn es hat eine hohe
Formen vor (ÅAbbildung 4-141 und 4-142): die Wärmekapazität. Die Wärmekapazität ist ein
Rayleigh-Wellen, die von dem englischen Physiker Maß dafür, wie viel Wärmeenergie ein Körper
LORD RAY A LEIGH (1842 – 1919) 1855 theoretisch abgibt, wenn er sich um 1 Grad Celsius abkühlt.
vorgesagt wurden, schwingen in vertikaler Rich- Eine Ein-Liter-Wärmflasche gibt dabei immerhin
tung ähnlich wie Wasserwellen. Da ihre Stärke 4,19 kJ (Kilojoule) oder 1 Kilokalorie an Wärme
nur linear abnimmt, sind sie am stärksten spürbar für ihre Füße ab. Die spezifische Wärmekapazi-
und richten den größten Schaden an. Die Love- tätt ist auf ein Kilogramm bezogen und wird in
Wellen nach dem englischen Mathematiker A. Kilojoule je Kilogramm und Kelvin (kJ/(kg·K))
4-143
Richterskala. Die populärste Maßeinheit für die Stärke
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eines Erdbebens ist die Richterskala. Sie ist ein Maß für
die maximale Amplitude einer seismischen Welle an der
Bruchzone. Seismologen benutzen heute allerdings be-
vorzugt die Moment-Magnitude, die ein direktes Maß
für die Kraft der Verschiebung an der Bruchzone ist. Sie
basiert auf dem sogenannten seismischen Moment, einer
Größe, die proportional zur Bruchfläche, zum Schubmo-
dul des Gesteins und zur mittleren Verschiebung an der
Störungsstelle ist.
Zur Ermittlung der Richter-Magnitude wird zunächst die
Amplitude der Seismometerschwingung in Millimetern
gemessen. Dann ermittelt man die Zeitdifferenz zwischen
dem Eintreffen der p-Wellen und dem Eintreffen der s-
Wellen. Letzteres ergibt auch direkt die Entfernung zum
Epizentrum. Wenn man nun beide Messwerte auf einer
genormten Zeitdifferenz- bzw. Amplitudenskala einträgt
und die beiden Punkte mit einer Linie verbindet, erhält
man den Wert der Richter-Magnitude auf der dazwi-
schenliegenden Richter-Skala. Diese ist theoretisch „nach
oben offen“, da keine Beschränkung auf eine größtmög-
liche Amplitude existiert.

197
KAPITEL 4 Demokrits Erben

Spezifische Wärmekapazität

Die spezifische Wärmekapazität wird mit dem tantes Volumen). cp ist größer als cv, da durch
Buchstaben c bezeichnet und bezieht sich auf eine Volumenausdehnung Energie abgegeben
ein Kilogramm eines Stoffes. Manchmal ist wird, die dann nicht mehr im Gas gespeichert
es praktischer, die Wärmekapazität nicht auf ist. Näherungsweise gilt bei Gasen: cp = cv + R/M,
die Masse, sondern auf die Anzahl Teilchen darin ist M die Molmasse, und R ist die allge-
zu beziehen. Man verwendet dann die mo- meine Gaskonstante (8,314472 J · mol–1 · K–1).
lare Wärmekapazität oder Molwärme cmol
[J · mol–1 · K–1], da ein Mol eines Stoffes im- Stoff cP[kJ/(kg·K)]
mer die gleiche Anzahl Teilchen enthält. Bei Aluminium 0,896
Dämmstoffen ist weder das Gewicht noch die Beton 0,88
Anzahl Teilchen relevant, hier kommt es auf die Eis 1,377 – 2,1
Kapazität pro Volumen an, man spricht von der Gusseisen 0,46 – 0,54
Wärmespeicherzahl s [J · m–3 · K–1]. Gelegentlich Glas 0,6 – 0,8
wird anstelle der Einheit Joule (J) die ältere Granit 0,79
Einheit Kalorien (cal) benutzt. Es gilt folgende Holz 1,7
Umrechnung: Wachs 2,931
1 J = 0,239 cal Ethanol 2,428
Maschinenöl 1,675
Vor allem bei Gasen hängt die Wärmekapazität
Wasser (20 °C) 4,187
davon ab, ob man Druck oder Volumen bei der
Luft 1,0054
Erwärmung konstant hält; man unterscheidet
Acetylen 1,465
zwischen cp (konstanter Druck) und cv (kons-

ausgedrückt. Wasser ist in punkto Wärmekapa- ist längst nicht so effektiv, er liefert bei gleichem
4-144
zität eine gute Wahl, denn es hat eine spezifische Gewicht wie die Wärmflasche nur 0,84 kJ.
Temperaturabhängigkeit
der spezifischen Wärme- Wärmekapazität von 4,19 kJ / (kg · K). Hätten Sie Aber warum haben Materialien verschiedene
kapazität. Aufgrund quan- ihre Wärmflasche mit reinem Alkohol gefüllt, Wärmekapazitäten?
tenmechanischer Effekte
würden Ihre Füße nur 2,43 kJ an Wärme abbe- Was wir als Wärme fühlen, sind Teilchenbe-
ist die Wärmekapazität
erst bei hohen Tempera- kommen, wenn sich die Flasche um ein Grad wegungen. Je schneller sich die Teilchen bewe-
turen konstant, sie steigt Celsius abkühlt. Auch ein Ziegelstein im Bett gen, desto höher die Temperatur des Körpers.
zunächst mit der dritten Die in einem Körper gespeicherte Wärmeenergie
Potenz der Temperatur.
Oberhalb der sogenann- steckt also in der Bewegungsenergie seiner Teil-
ten Debye-Temperatur chen. Teilchen können sich auf unterschiedliche
(rote und grüne Mar- Weise bewegen: Es gibt drei Raumrichtungen, in
kierung) nähert sie sich
dem konstanten Wert an denen sie sich geradlinig fortbewegen können,
(schwarze Linie). Die rote sie können um eine Achse rotieren, und sofern
Linie zeigt die spezifische mehrere Teilchen miteinander verbunden sind,
Wärmekapazität von
Kupfer, die grüne die von wie dies bei Molekülen oder Kristallen der Fall
Silicium. Keramische Ma- ist, können sie auch Schwingungsbewegungen
terialien haben meist eine ausführen. Man nennt diese Bewegungsmög-
höhere Debye-Temperatur
als Metalle, da diese vom
lichkeiten die Freiheitsgrade eines Teilchens.
Gitterabstand abhängt. Ein ungebundenes Teilchen, das so klein ist,
Bei der Debye-Temperatur dass die Rotationsenergie keine Rolle spielt,
sind alle vorhandenen
hat 3 Freiheitsgrade, da es sich in allen drei
Schwingungsmodi an-
geregt. Aufgrund anhar- Raumrichtungen bewegen kann. Der sogenannte
monischer Anteile in den Gleichverteilungssatz der statistischen Physik
Schwingungen steigt die
besagt, dass sich die Wärmeenergie im Mittel auf
spezifische Wärmekapa-
zität über den konstanten alle Freiheitsgrade gleichmäßig verteilt (ÅKasten
Wert hinaus. Freiheitsgrade, Seite 402).

198
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Mit diesen Vorstellungen konnte man bereits 4-145


im 19. Jahrhundert, noch bevor der Aufbau Phononen in einatomi-
gen Kristallen. Eine Kette
der Materie bekannt war, die spezifische Wär- gleichartiger Kristallatome
mekapazität von Gasen berechnen, indem man kann auf unterschiedlich-
Gasmoleküle wie Billardkugeln behandelte: So- ste Weise schwingen, hier
angedeutet durch drei
lange sie nicht zusammenstoßen, beeinflussen Schwingungsmodi (rote,
sie sich nicht. Allerdings gab es Abweichungen blaue und grüne Kurven
von experimentellen Daten, die damals nicht und Kugeln, oben). Die
Schwingungen können
erklärbar waren. So schien unter anderem Was-
sich auch überlagern,
serstoffgas (H2) laut Messungen statt acht nur wodurch insgesamt eine
drei Freiheitsgrade zu haben. Dies liegt daran, ALEXIS THÉRÈSE PETIT (1791 – 1820) an Metallen komplexe Schwingungs-
bewegung der Atome
dass die Rotations- und Schwingungsenergien durchführten. Es zeigte sich jedoch, dass das
entlang der Kette entsteht
nur diskrete Werte annehmen können, sie sind Dulong-Petitsche Gesetz nicht für alle Metalle (unten). Im eindimen-
„gequantelt“. Reicht die zur Verfügung stehende und grundsätzlich nur bei höheren Temperaturen sionalen Fall sind bei N
Energie nicht aus, eine Rotation anzuregen, wird zutrifft. In Wirklichkeit sinkt die spezifische Atomen in der Kette N
Schwingungsmodi mög-
dieser Freiheitsgrad nicht genutzt. Wäre dem Wärmekapazität mit der Temperatur. lich, d. h. die Kette hat N
nicht so, so wäre bei einem idealen Gas die spe- Warum dies so ist, war vor der Entwicklung Freiheitsgrade. In drei-
zifische Wärmekapazität eine Konstante, die nur der Quantentheorie ein Rätsel, und einer ihrer dimensionalen Kristallen
mit N Atomen gibt es 3N
von der Zahl der Freiheitsgrade, aber nicht von größten Erfolge war die Erklärung dieses Phäno- Schwingungsmodi. Der
der Temperatur abhängt. mens. In kristallinen Festkörpern breiten sich die Anschaulichkeit halber
Komplizierter wird es bei Flüssigkeiten, da Schwingungen als transversale und longitudinale sind die Schwingungen als
Transversalwellen darge-
hier mehr oder weniger schwache Bindungs- Wellen über das Kristallgitter aus. Die Schwin- stellt, aber auch Longitu-
kräfte zwischen den Teilchen wirken. Dies sind gungen sind gequantelt, und in Anlehnung an die dinalwellen treten auf.
z. B. die unter der Bezeichnung Van-der-Waals- Photonen des elektromagnetischen Feldes spricht
Kräfte zusammengefassten elektrischen Wech- man von Phononen. Jedem Phonon entspricht
selwirkungen zwischen permanent in Molekülen eine bestimmte Frequenz und Wellenlänge der
bestehenden oder auch nur zeitweise induzier- Gitterschwingungen. Je größer die (gequantelte)
ten Dipolen oder sogar die merklich stärkeren Schwingungsamplitude ist, desto mehr Phono-
Wasserstoffbrückenbindungen. Beim Erhitzen nen „enthält“ die Schwingung.
muss ein Teil der Wärmeenergie dafür verwendet Phononen existieren in mehratomigen Kris-
werden, diese Bindungen zwischen den Teilchen tallen in verschiedenen Frequenzbereichen, da
aufzubrechen, bevor sich diese frei bewegen Abstände und Bindungsstärken der Kristalla-
können. Die Wärmekapazität ist daher größer, tome unterschiedlich sind: Im niederfrequenten,
und ihre Füße werden länger gewärmt, weil sogenannten akustischen Bereich entsprechen
beim Abkühlen diese Energie wieder frei wird, die Schwingungen Schallwellen, man spricht 4-146
wenn die Bindungen neu entstehen. Da Wasser- daher von akustischen Phononen, und im oberen Phononen in mehratomi-
moleküle stärkere Wasserstoffbrückenbindungen Bereich liegen die Frequenzen im optischen Be- gen Kristallen. Kristalle,
die aus einer regelmä-
eingehen als Ethanolmoleküle, ist die spezifische reich, man spricht von optischen Phononen. Bei ßigen Anordnung von
Wärmekapazität von Wasser viel größer. Ionenkristallen wie dem Natriumchlorid (Koch- Elementarzellen mit zwei
Die Atome oder Moleküle fester Körper salz) können optische Phononen tatsächlich mit unterschiedlichen Atomen
bestehen (z. B. Natrium
sind nicht ungebunden, sondern können nur Licht oder Infrarotwellen wechselwirken. In und Chlor in Salz, darge-
um ihre Ruhelage schwingen. Beim Erwärmen einatomigen Kristallen können nur akustische stellt als kleine und große
wird fast die g esamte Wärmener g ie als Phononen entstehen. Kugeln) haben doppelt so
viele Schwingungsmodi,
Schwingungsenergie gespeichert. Ähnlich wie bei
und die beiden Atome der
Gasen gilt auch hier der Gleichverteilungssatz: Elementarzellen schwingen
Die Energie ist im Mittel gleichmäßig auf phasenverschoben zuein-
alle möglichen Schwingungszustände verteilt. ander (durchgezogene
bzw. gepunktete Linien).
Demzufolge sollte die Wärmekapazität von Das Spektrum der mög-
kristallinen Festkörpern eigentlich konstant lichen Schwingungsmodi
25 J / (mol · K) betragen (ÅࡳAbbildung 4-144). teilt sich zudem auf in
einen hochfrequenten und
Dies entsprach dem Resultat von Experimenten, einen niederfrequenten
die PIERRE LOUIS DULONG (1785 – 1838) und Teil (nicht dargestellt).

199
KAPITEL 4 Demokrits Erben

4-147 per transportiert, bis beide die gleiche Tempe-


Tiefe Temperaturen. Erst ratur besitzen. Eine quantitative Beschreibung
bei Temperaturen dicht
am absoluten Nullpunkt dieses Verhaltens wurde 1822 von dem franzö-
fällt der Anteil der freien sischen Mathematiker und Physiker JEAN BAP-
Elektronen an der Wärme- TISTE JOSEPH FOURIER (1768 – 1830) aufgestellt.
kapazität cv bei Metallen
ins Gewicht (rote Kurve). Nach dem Fourierschen Gesetz der Wärmelei-
Ihr Anteil ist linear von tung ist die pro Zeitspanne Δtt zwischen zwei
der Temperatur abhängig Punkten strömende Wärmemenge ΔQ propor-
(cV = a·T
T), während der
Anteil der Gitterschwin-
tional zum Temperaturunterschied zwischen
gungen proportional ist zu diesen Punkten. Die Proportionalitätskonstante
T3 (cc = b·T
T3, grüne Kurve). ist die Wärmeleitfähigkeit, die meist mit dem
griechischen Buchstaben λ (Lambda) bezeichnet
wird. Angewandt auf die Wärmeleitung durch
eine Hauswand lautet das Fouriersche Gesetz:

Im Gegensatz zu nicht leitfähigen Kristallen


tragen in Metallen auch die freien Elektronen
im Valenzband zur Wärmekapazität bei, da sie
kinetische Energie aufnehmen können. Dieser Offenbar strömt umso mehr Wärme nach außen,
Effekt ist allerdings nur bei Temperaturen von je größer die Temperaturdifferenz ist und je
wenigen Kelvin spürbar. Während bei Isolato- dünner und größer die Wände sind. Eine wärme-
ren die Wärmekapazität mit der dritten Potenz isolierte Wand (großes Lambda!) verbessert
der Temperatur steigt, beginnt bei Metallen der die Situation. Aber das wussten sie vermutlich
Anstieg zunächst linear, und erst oberhalb eini- schon. Das Fouriersche Gesetz hat die gleiche
ger Kelvin beginnt der T3-Bereich (ÅAbbildung Form wie das Diffusionsgesetz, das beschreibt,
4-147). wie sich Stoffkonzentrationen ausgleichen. Kon-
zentrations- und Temperaturunterschiede haben
Wärmeleitfähigkeit beide die Tendenz, sich auszugleichen, eine Folge
des zweiten Hauptsatzes der Wärmelehre.
Ist es in Ihrem Zimmer kälter als 37 °C? Ver-
mutlich schon. Fassen Sie bitte einmal ein Stück Wärmestrahlung und Konvektion
Holz oder Stoff an. Nun ein Metallstück. Was
fühlt sich kälter an? Natürlich das Metall! Aber Zwei Formen des Wärmetransports wurden von
warum, schließlich haben alle diese Körper FOURIER nicht berücksichtigt: Wärmestrahlung
die gleiche Temperatur, die Zimmertemperatur. und Konvektion. Die Menge an Wärmestrahlung
Offensichtlich ist es gar nicht die Temperatur (Infrarotstrahlung), die ein Körper aussendet, ist
eines Stoffes selbst, die unser subjektives Wär- eine Funktion seiner Temperatur. Und ein wesent-
meempfinden prägt, sondern etwas Anderes. licher Anstoß für die Entwicklung der Quanten-
Wir nennen diese Eigenschaft Wärmeleitfähig- theorie war, dass es im Rahmen der klassischen
keit. Sie beschreibt, wie leicht ein Körper Wär- Physik nicht gelang, diese Funktion im Einklang
meenergie transportieren kann. Dazu denken mit den experimentellen Daten zu berechnen
wir uns in eine Sauna von 80 °C. Man kann (ÅStrahlungsgesetze von Stefan bis Planck, Seite
das ohne weiteres aushalten, denn die Luft ist 96). Für den Wärmetransport zwischen Kör-
ein sehr schlechter Wärmeleiter, und unsere pern spielt die Wärmestrahlung allerdings eine
Körpertemperatur von 37 °C wird nur langsam geringe Rolle. Entscheidend ist sie im kosmi-
gesteigert. Man kann auch auf einer Holzbank schen Maßstab. Die lebensspendende Wärme der
sitzen. Hüten Sie sich aber vor dem Anfassen Sonne kann die Erde nur über Infrarotstrahlung
von Metallgegenständen, denn das würde un- erreichen, da durch das Vakuum des Weltraumes
weigerlich zu Brandblasen führen. natürlich keine Wärmeleitung möglich ist.
Bringt man zwei Körper unterschiedlicher Konvektion (von lat. convehere, zusam-
Temperaturen zusammen, so wird so lange mentragen, zusammenbringen) ist hingegen in
Wärmeenergie vom warmen zum kälteren Kör- jedem Haushalt relevant. Weder Wasser noch

200
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Luft sind besonders gute Wärmeleiter: Gäbe Etwas verwickelter ist der Prozess in Fest-
es keine Konvektion, so wäre die Luft wenige körpern. Ihre Atome sind in festen Strukturen
Zentimeter vom Ofen entfernt kalt und Wasser gebunden, Wärmetransport entsteht durch die
würde am Topfboden sehr schnell anfangen zu Ausbreitung von Gitterschwingungen (Phono-
kochen, während die oberen Schichten noch nen) bei kristallinen Körpern oder von Schwin-
kalt wären. Unter Konvektion versteht man gungen entlang von Molekülketten oder -net-
den Transport von Wärmenergie durch Teil- zen bei Polymeren und amorphen Materialien.
chenströme: Die Dichte der erwärmten Luft di- Auf der Basis des Welle-Teilchen-Dualismus
rekt am Heizkörper ist geringer als im übrigen der Quantentheorie kann man in kristallinen
Raum, weshalb sie aufgrund der Schwerkraft Festkörpern Phononen wie Teilchen behandeln
nach oben steigt, ihre Wärme an die umgebende (Å Umbruch: Die Quantentheorie, Seite 103),
Luft abgibt und wieder nach unten sinkt. Kon- die miteinander „kollidieren“ können. Sie ver-
vektionsströme im Kochtopf verteilen die am halten sich also auf ähnliche Weise wie Gasmo-
Boden zugeführte Wärme auf ähnliche Weise, leküle: Die Wärmeleitfähigkeit ist proportional
was man an den Schlieren im heißen Wasser er- zur spezifischen Wärmekapazität und zur mitt-
kennt. Sie entstehen durch Dichteunterschiede leren freien Weglänge der Phononen im Kristall.
des Wassers aufgrund unterschiedlicher Tempe- Aufgrund einer Besonderheit der Phononen im
raturen. Der Brechungsindex des Wassers ist ja Vergleich zu Gasmolekülen haben Kollisionen
von der Dichte abhängig. bei niedrigen Temperaturen kaum Auswirkun-
Fehlende Konvektion sorgt dafür, dass eine gen auf den Wärmetransport; die mittlere freie
Kerze im schwerelosen Raum nach kurzer Zeit Weglänge ist daher nur beschränkt durch die
verlöscht, nämlich dann, wenn der Sauerstoff Abmessungen des Kristalls selbst oder durch
in der Umgebung der Flamme verbraucht ist Gitterfehler, Korngrenzen und Fremdatome.
(dieses Experiment wurde auf der ISS auch In diesem Bereich ist die T3-Abhängigkeit der
durchgeführt). Auf der Erde sorgt die Kon- spezifischen Wärmekapazität maßgebend. Erst
vektion dafür, dass frische Luft seitlich nach- bei höheren Temperaturen spielen Phononen-
strömt, während die heiße Luft nach oben kollisionen eine dominierende Rolle, und die
entweicht. Im schwerelosen Raum sind Flam-
men kugelförmig, da keine Strömung sie nach 4-148
Wärmeleitfähigkeit von
oben zieht. Allerdings: Der geringste Luftzug Kristallen. Reine Einkri-
(zum Beispiel der Atem des Experimentators) stalle aus Lithiumfluorid
lässt die Flamme auch in der Schwerelosigkeit (LiF) zeigen das typische
Verhalten der Wärmeleit-
vergnügt weiterbrennen. fähigkeit nichtleitender
Kristalle: Bei geringen
Temperaturen ist die
Phononen und Elektronen Temperaturabhängigkeit
der spezifischen Wärme-
Jenseits von Infrarotstrahlung und Konvektion kapazität bestimmend. Die
erfolgt der Wärmetransport durch direkte In- mittlere freie Weglänge
der Phononen hängt nur
teraktion der Teilchen untereinander. Bei Ga-
von der Ausdehnung
sen und Flüssigkeiten handelt es sich dabei des Kristalls ab. Ab einer
im Wesentlichen um Stoßprozesse: Bringt man bestimmten Temperatur
ein heißes und ein kälteres Gas zusammen, so spielen Phononenstreuun-
gen innerhalb des Kristalls
können schnelle („heiße“) Gasmoleküle mit die wesentliche Rolle und
langsameren („kalten“) kollidieren, und nach die Wärmeleitfähigkeit
dem Stoß haben beide eine mittlere Geschwin- sinkt.

digkeit. Insgesamt stellt sich dadurch mit der


Zeit eine mittlere Temperatur ein. Die Wär-
meleitfähigkeit von Gasen kann man auf diese
Weise ebenfalls ausrechnen: Sie ist proportional
zur spezifischen Wärmekapazität cv und der
mittleren freien Weglänge der Gasmoleküle
zwischen zwei Kollisionen.

201
KAPITEL 4 Demokrits Erben

freie Weglänge sinkt, während die spezifische das heißt ihre mittlere freie Weglänge sinkt. Noch
Wärmekapazität relativ konstant bleibt. Folg- genauere Analysen berücksichtigen auch Wech-
lich sinkt die Wärmeleitfähigkeit (Å Abbildung selwirkungen zwischen den Elektronen. Wir
4-148, Seite 201). werden beim Phänomen der Supraleitung sehen,
wie wichtig Phononenstreuung und Elektron-
Metalle sind gute (Wärme-)Leiter Elektron-Wechselwirkungen sein können.

Metalle sind aufgrund der Beweglichkeit ihrer Von schlechten Wärmeleitern


Valenzelektronen bessere Wärmeleiter als nicht-
leitende Kristalle, denn der Wärmetransport Kristalline isolierende Stoffe wie Salze sind im All-
durch Elektronen ist um ein bis zwei Größen- gemeinen schlechtere Wärmeleiter als Metall, da
ordnungen wirksamer als der der Phononen. Ihre bei ihnen die Elektronenleitung entfällt. Es gibt aber
Wärmeleitfähigkeit ist verbunden mit der elek- auch Ausnahmen: Diamant und Siliciumcarbid sind
trischen Leitfähigkeit, da die Beweglichkeit der sehr gute Wärmeleiter. Dank ihrer starken Bindun-
Elektronen im Valenzband auch für sie verant- gen können sich Gitterschwingungen sehr schnell
wortlich ist. Empirisch wurde diese Verbindung ausbreiten, und die Phononen transportieren viel
schon 1853 von den Physikern GUSTA TAV HEINRICH Energie. In Keramiken beschränkt vor allem die
WIEDEMANN (1826 – 1899) und RUDOLPH FRANZ Porosität der Materialien die Wärmeleitfähigkeit.
(1826 – 1902) entdeckt (Wiedemann-Franzsches Aus diesem Grund ist Gasbeton ein wesentlich
Gesetz), aber erst PAUL DRUDE (1863 – 1906) und besserer Wärmeisolator als Beton. Generell gilt: Je
ARNOLD SOMMERFELD (1868 – 1951) konnten die- regelmäßiger und ausgedehnter das Gitter ist, desto
sen Effekt 1900 beziehungsweise 1933 theore- besser ist die Wärmeleitfähigkeit.
tisch begründen, in dem sie die Elektronen als Gas In amorphen Materialien wie Glas und in ver- r
behandelten. Während das Drudesche Modell netzten bzw. verketteten Materialien wie Polymeren
noch der klassischen Physik folgte, berücksich- können sich kaum Gitterschwingungen ausbreiten.
tigte Sommerfelds semiklassisches Modell die Aufgrund der unregelmäßigen Struktur schwingen
quantentheoretische Tatsache, dass die Energie die Moleküle nicht im Takt, sondern wild durchein-
eines Elektrons nicht jeden Wert, sondern nur dis- ander. Die Wärmeleitung von Molekül zu Molekül
krete Werte annehmen und keine zwei Elektronen ist dadurch längst nicht so effektiv wie durch Pho-
im selben Zustand sein können (Pauli-Prinzip). nonen. Generell gilt aber auch hier: Je höher der
Sommerfelds Theorie stimmt bei Temperaturen Vernetzungsgrad und je länger die Molekülketten
4-149 oberhalb von 200 K und unterhalb von 10 K sind, desto besser ist die Wärmeleitfähigkeit.
Spezifische Wärmeleitfä- recht gut mit den experimentellen Daten über-
higkeit. Die Wärmeleitfä-
higkeit von Festkörpern ein. Genauere Ergebnisse erhält man nur, wenn Mit Wärme Strom erzeugen
variiert über fünf Zehner- man das elektrische Potenzial der Atomkerne
potenzen. Flüssigkeiten und der gebundenen Elektronen berücksichtigt, Erwärmt man einen Metalldraht nur an einem
leiten Wärme in der Regel
schlechter, bei ihnen
die Leitungselektronen also nicht als völlig frei Ende, so breitet sich die Wärme aufgrund der Git-
herrscht die Wärmeüber- betrachtet. Dabei stellt sich heraus, dass neben terschwingungen und der Kollisionen der freien
tragung durch Konvekti- Unregelmäßigkeiten im Kristallgitter bei höheren Valenzelektronen entlang des Drahtes aus. Da
onsströmungen vor. Gase
Temperaturen die Phononen für die sinkende die Elektronen am heißen Ende eine höhere Ge-
sind generell viel schlech-
tere Wärmeleiter als Fest- (Wärme-)Leitfähigkeit verantwortlich sind. Die schwindigkeit besitzen als am kalten, bewegen
stoffe und Flüssigkeiten. Elektronen werden an diesen Phononen gestreut, sich im Mittel mehr Elektronen Richtung kaltes
Ende als umgekehrt. Aufgrund der elektrischen
Stoff ʄ [W·K–1·m–1] Stoff ʄ [W·K–1·m–1]
Ladungsverschiebung entsteht zwischen kaltem
Aluminium 221 Kork 0,035 – 0,046
Beton 2,1 Kupfer (rein) 393
und warmem Ende eine elektrische Spannung,
Diamant 1000 – 2500 Silber 429 die sogenannte Thermospannung. Die Spannung
Gasbeton 0,08 – 0,25 Ziegelmauerwerk 0,5 – 1,4 ist in erster Näherung proportional zur Tempera-
Glas 0,76 Quecksilber 8,3 turdifferenz zwischen beiden Enden und beträgt
Granit 2,8 Öl 0,13 – 0,15 bei Metallen wenige Mikrovolt je Grad Celsius,
Holz (senkr. zur Faser) 0,09 – 0,19 Wasser 0,58 bei Halbleitern ist sie etwa tausendmal größer.
Luft 0,0261 Die Proportionalitätskonstante wird als Seebeck-
Kohlenstoffnanoröhren 6000 Xenon 0,0051 Koeffizient bezeichnet, nach dem Entdecker des

202
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Effekts, THOMAS SEEBECK (1770 –1831). Sie ist 4-150


Thermoelement. Zwischen
materialabhängig, weil Elektronen in verschiedenen
unterschiedlichen Metallen
Materialien bei gleicher Temperatur unterschiedlich A und B tritt eine elektri-
viel kinetische Energie aufnehmen. Verbindet man sche Spannung auf, wenn
zwei Drähte unterschiedlichen Materials an einem ihre Verbindungstelle eine
andere Temperatur hat als
Ende miteinander und erwärmt die Verbundstelle, die Messpunkte für die
so entsteht zwischen den anderen Enden eine Ther- r Spannungsmessung. Dies
mospannung, die von der Temperaturdifferenz und kann zum Messen von
Temperaturen ebenso wie
der Differenz der beiden Seebeck-Koeffizienten zur Umwandlung thermi-
abhängt (ÅAbbildung 4-150). Anordnungen dieser scher in elektrische Energie
Art nennt man Thermoelemente. Sie lassen sich Atomen eines kristallinen Festkörpers leicht hin- genutzt werden. Wird
umgekehrt eine Spannung
nicht nur zur Temperaturmessung einsetzen, son- durch zu schlüpfen. Sie sind fast zweitausend angelegt und es fließt ein
dern auch zur Stromerzeugung. Allerdings beträgt Mal schwerer als Elektronen und spielen daher Strom, so entsteht zwi-
der Wirkungsgrad weniger als 10 Prozent. Den- für die Übertragung elektrischer Ladung nur an schen den Messpunkten
und der Kontaktstelle eine
noch haben Thermoelemente Anwendungsbereiche Oberflächen und in Flüssigkeiten eine Rolle. Temperaturdifferenz.
dort, wo ihre einfache Bauweise ohne bewegliche Auch diese Prozesse sind wichtig, insbesondere
Teile Vorteile bringt. So dienen sie in Isotopenbat- für Lebewesen.
terien dazu, die beim Zerfall radioaktiver Elemente Aber betrachten wir zunächst die Elektronen 4-151
entstehende Wärme in elektrischen Strom um- selbst. Damit Strom fließen kann, müssen sich Ladungstransport im Va-
kuum. Im Vakuum können
zuwandeln. Isotopenbatterien finden in Satelliten Elektronen bewegen können. Eigentlich können sich geladene Teilchen
Anwendung. Auch für die Nutzung der Abwärme sie das sogar im Vakuum. Wenn nur genügend wie Elektronen unter dem
von Motoren oder bei der Müllverbrennung wird Spannung zwischen zwei Elektroden anliegt, sich Einfluss eines elektrischen
Feldes bewegen. Dies wird
ihr Einsatz diskutiert. also auf einer Seite mehr Elektronen befinden, z. B. in der Elektronen-
Die Tatsache, dass die kinetische Energie der als auf der anderen Seite, so kommt es zu einem strahlröhre ausgenutzt.
Elektronen materialabhängig ist, kann man auch Überschlag, einem Funken oder Blitz. Die La- Elektronen werden dabei
durch Erhitzen eines Glüh-
zur Kühlung nutzen. Fließt ein Strom von einem dungen werden ausgeglichen. Noch besser geht
drahts aus einem Metall
Leiter mit Elektronen niedriger Energie in einen es, wenn man beispielsweise durch Aufheizen ei- freigesetzt (glühelektri-
mit hoher Energie, so geben die hochenergetischen ner der Elektroden dafür sorgt, dass Elektronen scher Effekt). Besonders
leicht geht das bei Metal-
Elektronen einen Teil ihrer Energie ab, wodurch aus dem Metall herausgeschubst werden. Nun
len, die im Periodensystem
sich der Leiter abkühlt. Dieser nach JEAN N PELTIER
L genügt schon ein geringes negatives Potenzial weit links und unten
(1785–1845) benannte Effekt wird in nach ihm an der aufgeheizten Elektrode, um einen Strom stehen. Bei ihnen sind die
benannten Peltier-Elementen zur Kühlung benutzt. fließen zu lassen. Die Elektronen fliegen nun frei Elektronen weniger fest
an die Atomkerne gebun-
Der Wirkungsgrad ist so gering wie bei Thermo- durch den Raum. Anders herum geht es nicht. den. Wird eine elektrische
elementen, weshalb man Peltier-Elemente nur dort Das nutzte man früher in Röhren alter Radios, Spannung zwischen dem
einsetzt, wo die erforderliche Kühlleistung gering ist um den Strom nur in einer Richtung fließen zu erhitzten Metall und einer
zweiten Elektrode ange-
oder sich der Einsatz von Kühlmitteln und Kom- lassen. Noch heute gibt es solche Röhren für legt, so bewegen sich die
pressoren aus Platzgründen verbietet. Spezialanwendungen. Elektronen im elektrischen
Feld vom erhitzten nega-
tiven Pol (Kathode) zum
Elektrische Leitfähigkeit Warum sind manche Stoffe elektrisch positiven Pol (Anode): Es
leitfähiger als andere? fließt ein Strom.
Elektrischer Strom besteht in der Bewegung
elektrisch geladener Teilchen durch den Raum. Metalle sind sehr gute elektrische Leiter. Me-
Dies sind in aller Regel Elektronen, die somit talle stehen im Periodensystem der Elemente
ihren Namen zu Recht tragen. Es sind genau im linken und unteren Bereich. Links heißt,
jene Elektronen, die auch die Hüllen der Atome dass die äußeren Schalen nur wenige Elektronen
gewöhnlicher Materie bilden: leichte Teilchen enthalten. Eine energetisch besonders günstige,
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mit einer negativen Elementarladung. In einer weil symmetrische Elektronenverteilung ergibt


Antimaterie-Welt würden ihre Counterparts, sich für diese Elemente leicht durch Abgabe
die positiv geladenen Positronen diese Rolle von Elektronen. Weit unten im Periodensystem
übernehmen. Doch in unserer Welt gewöhnlicher bedeutet, dass sich die äußeren Elektronen sehr
Atome sind die positiven Atombestandteile, die weit vom Kern entfernt befinden. Dessen posi-
Protonen, viel zu schwer, um zwischen anderen tive Ladung ist durch die weiter innen liegen-

203
KAPITEL 4 Demokrits Erben

den Elektronenschalen weitgehend abgeschirmt. Fall ist der Stromfluss mit einem Stofftransport
Beide Effekte zusammen bewirken, dass die Au- verbunden. Die Ionen werden an den Elektroden
ßenelektronen von Metallen nur recht locker durch Aufnahme bzw. Abgabe von Elektronen
an ihre Atomrümpfe gebunden sind. Schon die neutralisiert.
Wärmebewegung bei Raumtemperatur genügt,
um sie loszureißen. Liegen Metallatome wie Energiebänder
in metallischen Festkörpern oder Flüssigkeiten
(wie Quecksilber) eng beieinander, so können In Festkörpern entstehen aufgrund der Bindun-
sich diese äußeren Elektronen sehr leicht von gen zwischen den Atomen aus den einzelnen
ihrem angestammten Platz lösen und im gesam- Energieniveaus der Elektronen in den äußeren
ten Metall herumvagabundieren. Da sie sich Schalen sogenannte Energiebänder, in denen
gegenseitig abstoßen, werden sie sich im Metall die erlaubten Energiezustände sehr dicht bei-
im Mittel gleich verteilen. Allerdings können sie sammen liegen. (ÅAbbildung 4-153). Struktur
den Stoff nicht ohne weiteres verlassen, denn und Zahl der entstehenden Bänder sind je nach
würden einige fehlen, so verbliebe sofort ein Elektronenkonfiguration und Bindungsart der
stark positiv geladener Körper, der sie wieder beteiligten Atome verschieden. So bildet Na-
in den Verbund zurückzieht. Das sieht natür- trium aus den 3s- und 3p-Schalen jeweils ein
lich anders aus, wenn auf der einen Seite eines Band, während bei Kohlenstoff aus den 2s- und
Metallstücks ein Elektronenüberschuss herrscht 2p-Schalen durch die Hybridisierung zwei neue
und auf der anderen Seite ein Mangel. Unter dem Bänder entstehen. Zwischen den unterschiedli-
Einfluss eines elektrischen Feldes können sich chen Bändern bestehen sogenannte Bandlücken,
die negativ geladenen Elektronen ohne weiteres das heißt verbotene Energiebereiche. Damit ein
im Leiter verschieben. Werden von einer elektri- Elektron in das höhere Band wechseln kann,
schen Quelle an einer Stelle des Metalls ständig muss die der Lücke entsprechende Energie zu-
Elektronen zu- und an einer anderen Stelle wie- geführt werden, zum Beispiel durch ein Photon
der abgeführt, so kommt es zu einem kontinu- oder durch Wärmezufuhr. Eine solche Lücke
ierlichen Stromfluss. In schlechten Leitern sind besteht vor allem bei Festkörpern mit Atom-
die Elektronen weniger leicht beweglich. Mit oder Ionenbindung zwischen dem sogenannten
dieser Modellvorstellung kann man auch ver- Valenz- und dem Leitungsband. Im Valenzband
stehen, warum die Leitfähigkeit von Metallen in sind die äußeren, an den Bindungen beteiligten
der Regel bei höheren Temperaturen abnimmt. Elektronen (die Valenzelektronen) lokalisiert,
Höhere Temperatur bedeutet stärkeres Zittern während das direkt darüber liegende Leitungs-
der Atomrümpfe um ihre Ruhepositionen. Die band in der Regel leer ist. Dass zwischen bei-
4-152
Ionenleitfähigkeit. Leitet
Elektronen werden dann einfach häufiger und den eine Lücke existiert, ist leicht zu verstehen,
man elektrischen Strom heftiger angestoßen und aus ihrer Strömungs- wenn man bedenkt, dass eine gewisse Energie
durch eine Salzlösung, so richtung in Richtung des elektrischen Feldes notwendig ist, um die Bindungen zu lösen. Hat
wird er darin durch Ionen
geworfen, und ihre Bewegung unterliegt einem es allerdings ein Elektron geschafft, die Lücke
geleitet. Man kann dies
gut beobachten, wenn zunehmenden Widerstand. zu überspringen und in das Leitungsband zu
man einige Körnchen In Salzlösungen liegen Ionen (von griech. gelangen, kann es sich aufgrund der eng beiei-
Kaliumpermanganat hin-
ion, der Wandernde) vor, die durch Übertragung nander liegenden Energieniveaus praktisch frei
einstreut. Die stark gefärb-
ten Manganat-Anionen von Elektronen zwischen verschiedenen Teilchen bewegen. In Metallen sind die äußeren Elektro-
wandern in Richtung des zustande kommen. Diese negativ oder positiv nen frei beweglich, es gibt daher keine oder nur
positiven Pols. Die entge- geladenen Ionen wandern im elektrischen Feld in eine extrem schmale Lücke zwischen Valenz- und
gengesetzt wandernden
Kalium-Kationen sind nicht entgegengesetzte Richtungen und transportieren Leitungsband. Deshalb sind Metalle gute elek-
sichtbar. dabei Ladung (ÅAbbildung 4-152). In diesem trische Leiter. Anders verhält es sich bei Halblei-
tern wie reinem Silicium und bei Isolatoren wie
Diamant. Halbleiter besitzen eine kleine Bandlü-
cke von maximal 3 eV, in der Regel 0,5 – 1,5 eV.
Bei niedrigen Temperaturen verhalten sich Halb-
leiter wie Isolatoren, doch bei thermischer Anre-
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gung können die Bandlücken überwunden und


Elektronen aus dem Valenz- in das Leitungsband
Erde, Wasser, Luft und Feuer

4-154
Fermi-Verteilung. Die
Fermi-Verteilung be-
schreibt die Besetzungs-
wahrscheinlichkeiten von
Energiezuständen für
Fermionen, zu denen auch
die Elektronen gehören.
Beim Fermi-Niveau EF be-
trägt die Besetzungswahr-
scheinlichkeit 50 Prozent
bei Temperaturen über
0 Kelvin. Bei 0 Kelvin wä-
ren alle Zustände unter-
4-153
halb von EF besetzt
Bändermodell. Schematische Darstellung der Besetzung
(f(E) = 1), alle darüber
erlaubter Energiebänder durch Elektronen bei einem Iso-
liegenden Zustände sind
lator, Halbleiter und Metall.
unbesetzt (f(E) = 0).

wechseln. Im unteren Band hinterlassen sie ein Stromfluss aufgrund des sinkenden elektrischen
Loch, das von benachbarten Elektronen aufge- Widerstandes, was zu einem weiteren Ansteigen
füllt wird. Isolatoren haben eine Bandlücke von der Temperatur führt, und so fort. Bei Isolatoren
mehr als 3 eV. Die Elektronen liegen gebunden ist die Bandlücke meist so groß, dass auch die
im voll besetzten Valenzband vor. So können sie thermische Energie der schnellsten Elektronen
bestenfalls bei sehr hohem Energieaufwand die nicht ausreicht, sie zu überspringen.
Energielücke überwinden und in das unbesetzte
Leitungsband wechseln. Dotierung –
Wenig Stoff mit großer Wirkung
Fermi-Niveau
Reine Halbleiter sind ziemlich schlechte Leiter.
Auch in Festkörpern mit Energiebändern gilt So ist die Leitfähigkeit von Silicium hundertmil-
das Pauli-Prinzip, das es nicht zulässt, dass sich liardenmal geringer als die des Kupfers. Es gibt
zwei Elektronen den gleichen Zustand teilen. allerdings eine Möglichkeit, die Leitfähigkeit
Deshalb sind auch nahe beim absoluten Tem- durch kleine Zugaben dramatisch zu erhöhen:
peraturnullpunkt (0 Kelvin oder –273,15 °C) Ersetzt man nur etwa jedes fünfhunderttau-
höher liegende Energieniveaus besetzt. Das sendste Siliciumatom durch ein Boratom, so
Fermi-Niveau (EF), benannt nach dem italie- wird die Leitfähigkeit mehr als eine Million mal
nischen Physiker ENRICO FERMI (1901–1954), größer! Wie kann das sein?
ist das Energieniveau, bei dem am Temperatur- Den Vorgang, in einen Halbleiterkristall
nullpunkt alle Energiezustände mit Elektronen Fremdatome einzuschleusen, nennt man Do-
besetzt sind. Alle darüber liegenden Niveaus sind tierung. Es handelt sich um nichts anderes als
leer. Bei höheren Temperaturen sammeln sich die gezielte Erzeugung von Punktdefekten in
auch oberhalb des Fermi-Niveaus Elektronen an, Kristallgittern durch Fremdatome (ÅNichts ist
gleichzeitig entstehen unterhalb EF freie Niveaus. vollkommen – Kristalldefekte, Seite 180). Ent-
Die senkrechte Kante der Energieverteilung flacht scheidend für die Dotierung ist das Einschleusen
ab (ÅࡳAbbildung 4-154). Bei Metallen liegt das von Atomen, die entweder ein Valenzelektron
Fermi-Niveau innerhalb eines Bandes, während mehr oder eines weniger für die Bindung zur
es bei Halbleitern und Isolatoren in der Bandlücke Verfügung stellen können als die Halbleiteratome
zwischen Valenz- und Leitungsband liegt. Ist wie selbst. So stehen in Siliciumkristallen jeweils vier
bei Halbleitern die Lücke klein genug, so treten Elektronen pro Siliciumatom für kovalente Bin-
mit zunehmender Temperatur mehr Elektronen dungen zur Verfügung. Wird eines dieser Atome
in das Leitungsband über, die Leitfähigkeit von durch Phosphor ersetzt, der über fünf Valenzelek-
Halbleitern steigt daher mit steigender Tempera- tronen verfügt, so hängt eines dieser Elektronen
tur. Dies ist der Grund dafür, dass Halbleiterchips sozusagen „in der Luft“. Dies bedeutet, dass es
leicht „durchbrennen“, wenn sie zu heiß wer- r einen Energiezustand dicht unterhalb des Lei-
den: Durch steigende Temperaturen steigt der tungsbandes, aber oberhalb des Valenzbandes

205
KAPITEL 4 Demokrits Erben

4-155
Dotierung. Fremdatome
im Gitter mit einem Elek-
tron zuviel (Phosphor, P)
erzeugen Energieniveaus
(ED) dicht unterhalb des
Leitungsbands. Elektro-
nen auf diesem Niveau
gelangen leicht in das
Leitungsband und tragen
zur Leitfähigkeit bei (n-
Dotierung). Fremdatome
mit einem Elektron zu we-
nig (Bor, B) erzeugen Ni-
veaus (EEA) dicht oberhalb
des Valenzbandes. Diese
können durch Elektronen
aus dem Valenzband be-
einnimmt. Durch thermische Anregung gelangt die wiederum durch ein Valenzelektron besetzt
setzt werden. Die dadurch
im Band entstehenden dieses Elektron leicht in das Leitungsband. Wie werden kann, und so fort. Im Gegensatz zur Be-
„Löcher“ können sich als man nachrechnen kann, genügen bereits wenige wegung von Elektronen im Leitungsband könnte
quasi positive Ladungen Fremdatome, um die Leitfähigkeit markant zu er- man bei dieser Art der Dotierung also meinen,
in entgegengesetzter
Richtung wie Elektronen höhen. Dotiert man hingegen mit Fremdatomen, es bewegten sich „Löcher“. Die Löcher wandern
bewegen und damit zur die weniger als vier Valenzelektronen besitzen, bei einer angelegten Spannung in entgegengesetz-
Leitfähigkeit beitragen (p- wie zum Beispiel Bor, so bleibt gewissermaßen ter Richtung zu der der Elektronen und wirken
Dotierung).
eine Elektronenposition leer. Das Energieniveau wie eine positive Ladung, man spricht daher bei
dieser Leerstelle liegt allerdings aufgrund der Stö- dieser Art von Dotierung von p-Dotierung. Die
rung des Gitters durch das Fremdatom nicht in- Dotierung mit Fremdatomen mit überschüssi-
nerhalb, sondern dicht oberhalb des Valenzban- gen Elektronen nennt man n-Dotierung (n wie
des und kann leicht von einem anderen Elektron negativ). Die entstehenden Halbleiter nennt man
aus dem Valenzband besetzt werden. Dadurch entsprechend p- bzw. n-dotierte Halbleiter.
entsteht im Valenzband eine neue Leerstelle,
Sperrschichten – Der Trick der Chips
4-156
Sperrschicht. Die Kombi-
nation von n- und p-do- Auch dotierte Halbleiter wären wenig spannend,
tierten Halbleitern in einem wenn die Kombination von n- und p-dotierten
sogenannten pn-Übergang Halbleitern nicht einige ganz erstaunliche Ef-
lässt den Strom nur in ei-
ner Richtung fließen. Liegt fekte lieferte. Diese Effekte sind verantwortlich
eine positive Spannung an für den Siegeszug der Halbleiterchips.
der p-Seite (rechts) und Kombiniert man eine p-dotierte mit einer
eine negative Spannung
an der n-Schicht (links) n-dotierten Schicht, so vermag ein elektrischer
an, so wandern Elektronen Strom nur in eine Richtung zu fließen (ÅAbb.
und Löcher aufeinander 4-156) Ist die p-Seite positiv und die n-Seite
zu und neutralisieren sich
(Rekombination), also
negativ, so wandern beide Arten von Ladungs-
kann ein Strom fließen. trägern aufeinander zu und neutralisieren sich
Bei umgepolter Spannung am pn-Übergang. Bei entgegengesetzter Polung
verarmt der Bereich um
den Schichtübergang an
wandern die Ladungsträger in entgegengesetzte
Ladungsträgern, es kann Richtung und der Übergang verarmt an Ladungs-
keine Rekombination trägern, ein Stromfluss ist praktisch nicht mög-
stattfinden, der Halblei-
lich. Eine solche Anordnung bezeichnet man als
ter „sperrt“ den Strom,
weshalb man bei dieser Diode. Miteinander kombinierte Dioden vermö-
Anordnung auch von einer gen einen Wechselstrom in einen Gleichstrom zu
Sperrschicht spricht. verwandeln, weshalb sie vor allem in sogenann-
ten Gleichrichtern zum Einsatz kommen. Eine
Anordnung der Form npn oder pnp bildet einen
Transistor. Die Kombination von zwei Übergän-
gen bewirkt, dass durch einen geringen Strom

206
Erde, Wasser, Luft und Feuer

zwischen der mittleren und einer der äußeren 4-157


Tunneleffekt in Flash-
Schichten der Übergangswiderstand zwischen den
Speichern. In Flash-
beiden äußeren Schichten sinkt. Auf diese Weise Speichern wird Ladung
kann ein kleiner Strom einen großen Stromfluss auf einer kleinen isolierten
steuern: Der Transistor wirkt als Stromverstär- Schicht oberhalb einer
leitenden Halbleiterschicht

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ker. Die Gestaltungsmöglichkeiten von dotierten gespeichert.
Halbleiterstrukturen sind sehr vielfältig, aber ein Die Isolation erfolgt durch
Vorteil sticht besonders hervor: n- oder p-dotierte eine SiO2-Schicht, die nur
wenige Gitterlagen dick
Halbleiter lassen sich als extrem filigrane Struktu- ist. Die Tunnelwahrschein-
ren im Bereich von Millionstel Millimetern erzeu- lichkeit durch die Isolati-
gen, was erst die Herstellung von hochintegrier- r onsschicht ist abhängig
von deren Dicke und der
ten Halbleiterchips ermöglicht. Weder PCs noch Energie E der Elektronen in
Internet noch Smartphones wären möglich ohne der darunterliegenden lei-
die besonderen Eigenschaften von Halbleitern. benötigten hohen Spannung. Sie hat zur Folge, tenden Schicht im Verhält-
nis zur potenziellen Ener-
dass Flash-Speicher oft weniger als eine Million gie V der Isolationsschicht.
Verbotene Wege – Der Tunneleffekt Mal gelöscht werden können. Gestrichelt eingezeichnet
Der Tunneleffekt wird auch in Rastertun- sind die Dicken von einer
bis vier Ebenen des SiO2-
Die „Wellenartigkeit“ atomarer Teilchen ist für nelmikroskopen verwendet, von denen schon
Gitters.
den sogenannten Tunneleffekt verantwortlich in Kapitel 2 die Rede war und die geeignet sind, Man erkennt, dass durch
(ÅKasten Schrödinger-Gleichung, Seite 128). einzelne Atome leitfähiger Substanzen abzu- steigendes E (also stei-
gende Spannung) die
Atomare Teilchen können Energiebarrieren bilden. Eine weitere Anwendung sind die so-
Tunnelwahrscheinlichkeit
„durchtunneln“, auch wenn ihre Bewegungs- genannten Josephson-Kontakte, bei denen so- schnell so groß wird, dass
energie nicht ausreicht, die Barriere zu überwin- genannte Cooper-Paare aus zwei gekoppelten Elektronen die Isolati-
den. Isolierschichten aus Siliciumoxid zwischen Elektronen eine dünne Isolierschicht zwischen onsschicht in großer Zahl
durchtunneln können.
zwei Halbleiterschichten stellen solche Energie- zwei Supraleitern durchtunneln. Ab einer gewis-
barrieren dar. Legt man an diese Schichten eine sen Spannung an der Isolierschicht brechen die
Spannung an, so kann aufgrund der Isolations- Paare jedoch auseinander, und an der Schicht
schicht eigentlich kein Strom fließen. Durch den entsteht ein Spannungsabfall.
Tunneleffekt gelingt es dennoch Elektronen, die
Isolierschicht zu überwinden, wobei die Tunnel-
wahrscheinlichkeit mit der Größe der angelegten Vom Leiter zum Supraleiter
Spannung wächst. Sie ist außerdem umso höher,
je dünner die Isolierschicht ist. Ab einer bestimm- Das Ohmsche Gesetz I = U / R (Strom = Spannung
ten Spannung steigt die Tunnelwahrscheinlichkeit durch Widerstand) bzw. seine mit Hilfe des
so stark an, dass ein messbarer Strom fließt. Schweizer Kantons Uri besser zu merkende Um-
Der Tunneleffekt wird in sogenannten Flash- stellung U=R·II ist wohl den allermeisten noch
Speichern ausgenutzt, die beispielsweise in USB- aus der Schule vertraut. Ganz selbstverständlich
Sticks eingesetzt werden. In Flash-Speichern wird davon ausgegangen, dass dem Stromfluss
wird durch Anlegen einer Spannung zwischen ein elektrischer Widerstand entgegensteht. Dieser
zwei Halbleiterschichten etwas Ladung auf eine „Ohmsche“ Widerstand, also die begrenzte Leit-
winzige isolierte „Insel“ zwischen den Schichten fähigkeit der Stoffe für elektrischen Gleichstrom,
durch Tunneln transportiert. Entfernt man die konnte mit elastischen Stößen der Elektronen
Spannung, vermögen die Elektronen nicht mehr untereinander, mit positiven Atomrümpfen und
zurück zu tunneln (zumindest nicht in spürbarer Gitterstörstellen sowie als Wechselwirkungen
Zahl). Die Ladung bleibt ohne Stromzufuhr mit Gitterschwingungen erklärt werden. Durch
auf der Insel gespeichert. Legt man hingegen die Stoßprozesse wird auch Energie von den
eine entgegengesetzte Spannung an die beiden Elektronen auf das Atomgitter übertragen, und
Schichten an, so wird die Insel wieder entladen. der Leiter erwärmt sich, im Extremfall bis zur
Flash-Speicher halten ihre Ladung allerdings Weißglut wie im Glühfaden klassischer Glüh-
nicht ewig. Ein Problem ist insbesondere die birnen. Selbst bei Elektronen in Halbleitern und
langsame Zerstörung der Oxidschicht durch beim Stromtransport durch Ionen in Salzlösun-
Diffusionsprozesse aufgrund der beim Löschen gen lässt sich ohmscher Widerstand beobachten,

207
KAPITEL 4 Demokrits Erben

auch wenn hier komplexere Prozesse mitspielen. anziehend auf andere Elektronen und vermittelt
Aber was passiert, wenn man einen Leiter im- so eine schwache Bindungskraft. Durch die im
mer mehr abkühlt? Erwartungsgemäß geht der Vergleich zur Elektronengeschwindigkeit viel
elektrische Widerstand dabei zurück, und zwar langsamere Reaktion des aus vergleichsweise
bei metallischen Leitern um etwa 1/273 pro schweren Atomrümpfen bestehenden Gitters bil-
Kelvin Temperaturunterschied. Er sollte nahe det sich diese Anziehungszone etwa 100 nm hin-
beim absoluten Temperaturnullpunkt einen sehr ter einem Elektron. In diesem Abstand sind aber
geringen Wert erreichen. Trotzdem sollte der die Coulombschen Abstoßungskräfte zwischen
Wert null nicht erreicht werden, da nicht jeder den gleich geladenen Elektronen bereits vernach-
Beitrag verschwindet. lässigbar. Es kommt zur Bindung jeweils zweier
Doch im Jahr 1911 machte der Niederländer Elektronen, den sogenannten Cooper-Paaren.
HEIKE KAMERLINGH ONNES (1853 – 1926) eine Diese Paare sind es, die geleitet werden, nicht
überraschende Entdeckung: Bei Abkühlung von einzelne Elektronen. Fermionen unterliegen dem
Quecksilber auf weniger als 4,19 Kelvin verlor Pauli-Prinzip, wonach keine zwei solcher Teil-
das Metall jeglichen elektrischen Widerstand. chen denselben Quantenzustand einnehmen
Die meisten Metalle (außer Alkali- und Erdal- können. Koppeln sich aber zwei Elektronen mit
kalimetallen sowie Kupfer, Silber und Gold) und halbzahligem Spin zu Paaren, so verhält sich
viele Legierungen zeigen dieses Verhalten unter- diese Kombination wie ein einzelnes neues Teil-
halb einer für den jeweiligen Stoff charakteristi- chen mit ganzahligem Spin (Boson). Bosonen
schen Sprungtemperatur TC. Man sagt, sie seien verhalten sich aber völlig anders als Fermionen.
zu Supraleitern geworden (genau genommen: zu Sie sind geradezu gesellig und können prob-
Supraleitern des Typs 1). Stößt man zum Beispiel lemlos allesamt den gleichen Energiezustand
4-158 in einer ringförmig geschlossenen Drahtschleife einnehmen, natürlich auch gerne den niedrigsten
Meissner-Ochsenfeld- aus einem solchen Material von außen einen und damit stabilsten. So wird insgesamt ein
Effekt. Magnetfelder kön- Strom an, so fließt dieser dauerhaft von selbst Energiegewinn erzielt, und die Cooper-Paare
nen in Supraleiter nicht
eindringen. (B ist die mag- weiter, erkennbar an dem dadurch entstehenden bilden einen den ganzen Kristall umfassenden
netische Feldstärke) Magnetfeld. Energiezustand. In diesem Zustand werden die
Für dieses erstaunliche Verhalten wurde erst Cooper-Paare nicht mehr von lokalen Gitterstö-
im Rahmen der BCS-Theorie (JOHN BARDEEN, rungen beeinflusst, und der elektrische Wider-
LEON N. COOPER und JOHN R. SCHRIEFFER) 1957 stand verschwindet völlig.
eine Erklärung gefunden. Wie schon der Entde- Im Jahr 1986 entdeckten J O HANNE S
cker des Phänomens vermutete, lässt sich der G E O R G B EDN O RZ u n d K ARL A L EX M ÜL LE R
Leitungsmechanismus im Detail nur quanten- am IBM-Forschungszentrum bei Zürich, dass
mechanisch verstehen, denn er beruht auf den auch bestimmte Keramikverbindungen recht
4-159
Cooper-Paar-Kopplung. Eigenschaften der Elektronen, die einen halbzah- komplexer Zusammensetzung (wie das Cuprat
Durch die langsameren ligen Spin tragen und damit zu den Fermionen YBa2Cu3O7) Supraleitung zeigen, und dies sogar
Ausgleichsbewegungen
gehören. Im Kern läuft die Erklärung darauf schon bei viel höheren Sprungtemperaturen.
der schweren Atomrümpfe
entsteht hinter einem hinaus, dass sich Elektronen bei diesen tiefen Man nennt Stoffe mit einer Sprungtemperatur
bewegten Elektron eine Temperaturen über das Kristallgitter indirekt von über 23 Kelvin „Hochtemperatur“ -
positive Ladungsverdich- gegenseitig beeinflussen. Bewegt sich ein Elektron Supraleiter, obwohl dieser Begriff vielleicht
tung im Gitter. Nach der
BCS-Theorie erfolgt der durch einen Kristall mit geringer Störung durch auch bei den höchsten bekannten Werten (wie
Ladungstransport zumin- Wärmebewegung, so erzeugt es hinter sich eine 138 Kelvin bei Hg0.8Tl0.2Ba2Ca2Cu3O8) etwas
dest in Supraleitern erster Verdichtungszone positiver Ladung, denn es zieht gewagt erscheint. Auf der Erde kommen so
Art durch so entstehende
gekoppelte Elektronen- die Atomrümpfe in der Umgebung an. (ÅAbbil- n iedri g e Tem p eraturen nir g ends natürlich
paare, die sich wie Boso- dung 4-159). Diese Verdichtung wirkt wiederum vor. Immerhin benötigt man für die Kühlung
nen verhalten. kein flüssiges Helium mehr, sondern flüssiger
Stickstoff (Siedepunkt ca. 77 Kelvin) reicht
v ölli g aus. Für die technische Anwendun g
ist das angesichts des hohen Preises flüssigen
Heliums ein riesiger Unterschied.
Obwohl die Nutzung dieser Materieeigenschaft
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bisher also stets mit Kühlaufwand verbunden


Erde, Wasser, Luft und Feuer

ist, und auch die Sprödigkeit der Keramiken für Korngrenzen zurückgeführt. Die Titannitrid-
enorme Probleme bei der Herstellung entspre- Körner bilden untereinander sogenannte Jose-
chender Leiter sorgt, sind Supraleiter essenziell phson-Kontakte aus. Die oben beschriebenen
für viele Anwendungen, vor allem wenn es um die Cooper-Paare aus jeweils zwei eng gekoppelten
Erzeugung sehr starker Magnetfelder geht. Für Elektronen können sich nicht durch die Korn-
besonders beeindruckende Effekte sorgt auch die grenzen bewegen, sondern diese nur mit Hilfe
Beobachtung, dass Supraleiter alle Magnetfeldli- des quantenmechanischen Tunneleffekts über-
nien bis auf eine dünne Oberflächenschicht aus winden (ÅࡳVerbotene Wege – Der Tunneleffekt,
ihrem Inneren verdrängen (ÅAbbildung 4-158 Seite 207). Ein Ladungsträger befindet sich also
und Kasten Spontane Symmetriebrechung in mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit bereits im
Festkörpern, Seite 438). Aus diesem 1933 von benachbarten Korn, was in der Summe zu einem
WALT L HER MEISSNER und ROBERT OCHSENFELD messbaren Strom, dem Tunnelstrom führt. Al-
entdeckten Effekt folgt, dass ein Supraleiter über lerdings funktioniert der Leitungsmechanismus
einem Magnetfeld frei schweben kann. nicht, wenn es bei sehr niedrigen Temperaturen
Theoretisch verstanden sind diese Supraleiter zu einem Resonanzphänomen kommt, bei dem
vom Typ 2 allerdings noch längst nicht. Und man sich alle Kontakte als in Phase schwingende
deshalb gleicht die Suche nach neuen Stoffen Pendel vorstellen kann. Dadurch wird die Über-
mit noch höherer Sprungtemperatur eher einem trittswahrscheinlichkeit extrem gering, und das
Stochern im Nebel. Niemand weiß heute, ob Material wird zum Supraisolator. Was die Sache
jemals Supraleitung bei Raumtemperatur mög- möglicherweise für Quantencomputer interes-
lich sein wird. sant macht: Ähnlich wie die Supraleitfähigkeit
bei großen Magnetfeldern oder hohen Strömen
zusammenbricht, lässt sich die Superisolation
Supraisolation durch Magnetfelder oder hohe Spannungen ab-
schalten. Und gesteuerte Schalter sind die Herz-
Das Pendant zur Supraleitung wäre eine Su- stücke eines jeden Computers.
perisolation, ein unendlich hoher elektrischer
Widerstand.
Fast hundert Jahre hat es gedauert, bis es Magnetismus
im Jahr 2008 einer internationalen Gruppe
von Wissenschaftlern um VALERII VINOKUR am Magnetische Eigenschaften von Materie haben
Argonne National Laboratory in Illinois und uns bereits in Zusammenhang mit Phasenübergän-
A YANA BATURIN
TATY A A am Institut für Halbleiter- gen beschäftigt. Wir hatten dabei angemerkt, dass
physik in Nowosibirsk sowie Mitarbeitern der der Magnetismus von Festkörpern auf der mehr
Universität Regensburg, Deutschland, und der oder weniger einheitlichen Ausrichtung sogenann-
Universität Leuven, Belgien, endlich gelang, auch ter Elementarmagnete und deren Wechselwirkung
diesen Materiezustand nachzuweisen. miteinander erklärt werden kann. Was sind aber
Die Forscher hatten an einem ca. 1 nm dün- nun diese ominösen Elementarmagnete, und wie
nen Film aus Titannitrid gearbeitet, einem gold- lässt sich Magnetismus auf Basis von atomaren
farbenen Material, das häufig zur Beschichtung Teilchen verstehen? Auf welcher Grundkraft ba-
von Hartmetallwerkzeugen eingesetzt wird. Nor- r sieren die beobachteten Effekte, und wie ergeben
malerweise ist Titannitrid unterhalb von 4,86 K sich die magnetischen Materieeigenschaften aus
supraleitend. Herstellungsbedingt besitzen sehr atomaren und subatomaren Strukturen?
dünne Filme allerdings eine körnige Struktur, so Obwohl Magnetismus als Naturkraft seit
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

dass sich die Supraleitfähigkeit auf einzelne Inseln langem wissenschaftlich gut untersucht ist,
beschränkt. Dies erwies sich als Schlüssel für die hat er für viele Menschen bis heute etwas Un-
Superisolation. Unterhalb von 70 mK sank näm- heimliches. Schließlich handelt es sich um eine
lich die Leitfähigkeit dünner Schichten wieder und unsichtbare Kraft, die in solchen Größenord-
erreichte bei einer Temperatur von 20 mK den nungen der Distanz und Stärke wirkt, dass
Wert null, also einen unendlich hohen Widerstand. wir sie ähnlich gut wie die Gravitationskraft 4-160
Magnetit. Natürlich vor-
Dieses erstaunliche Verhalten wird auf quan- beobachten können. Im Gegensatz zu jener kommender Magneteisen-
tenmechanische Effekte der Ladungsträger an aber können Magnetkräfte leicht manipuliert stein (Fe2O3) aus Chile.

209
KAPITEL 4 Demokrits Erben

werden. Ein weiterer Unterschied ist, dass sie modells „Terella“, konnte GILBERT das Verhal-
nicht nur anziehend, sondern auch abstoßend ten von Magnetnadeln bis ins Detail erklären
wirken können. Physikalisch wird die Über- (Å Abbildung 4-161). Experimente mit einer
tragung magnetischer Kräfte heute durch ein absichtlich korrodierten Terella erlaubten ihm
unsichtbares Feld beschrieben, das Magnetfeld, sogar eine Erklärung für Kompassmissweisun-
und als Spezialfall des Elektromagnetismus be- gen im Nordatlantik.
handelt. Magnete üben auch Kräfte auf bewegte
elektrische Ladungen aus, und diese wiederum Magnetfeld
erzeugen stets Magnetfelder. Neben der genann-
ten Gravitation sowie der schwachen und der Der Begriff wurde zur Beschreibung der magne-
4-161 starken Kernkraft gilt der Elektromagnetismus tischen Wirkungen in einem bestimmten Raum-
Gilberts Terella. Modell
des Erdmagnetfelds mit als eine der vier Grundkräfte, die unsere Welt bereich eingeführt. Ein Magnetfeld kann durch
Magnetnadeln (aus „De zusammenhalten. magnetische Materialien, elektrische Ströme oder
Magnete“, 1600) Die Erscheinung des Magnetismus ist in die Änderung eines elektrischen Feldes entstehen.
China mindestens seit der Zeitenwende bekannt Materie mit magnetischen Eigenschaften erfährt
(ÅSeltsame Kräfte: Elektrizität und Magnetis- in einem Magnetfeld eine Kraft. Diese ist stets
mus, Seite 82). Um den Ursprung des Namens so gerichtet, dass ein energieärmerer Zustand
ranken sich zahlreiche Legenden. Eine davon erreicht wird, wenn die Materie der Kraft folgt.
geht auf die griechische Stadt Magnesia zurück,
in deren Umgebung magnetische Erze gefunden Magnetpole
wurden. Mythen und Sagen berichten auch von
riesigen Magnetbergen im Meer, die allen zu Magnetpole beschreiben die Stellen stärkster
nahe kommenden Schiffen die eisernen Nägel Kraftwirkung eines Magneten. Gleichnamige
aus den Planken rissen und sie so ins Verderben Pole stoßen sich ab, ungleichnamige ziehen sich
stürzten. Einem Mann namens Magnes sollen an. Im Gegensatz zu elektrischen Ladungen
4-162 in einer anderen Geschichte auf magnetischem konnten – obwohl von der Theorie nicht ausge-
Magnetpole und Ma- Boden sogar die Nägel aus den Schuhen gezogen schlossen – experimentell bisher keine magne-
gnetfeld. Magnetpole
worden sein. Alle diese Effekte würden aber so tischen Monopole als echte Elementarteilchen
begegnen uns stets im
Doppelpack. Aus didak- gewaltige Magnetfeldstärken erfordern, dass sie nachgewiesen werden. Magnetische Pole be-
tischen Gründen werden getrost als Seemannsgarn gelten dürfen. Mag- zeichnen daher zumeist die Aus- bzw. Eintritts-
magnetische Nordpole in
netismus in dieser Größenordnung kann nicht bereiche besonders dicht gepackter Feldlinien
der Physik stets rot darge-
stellt, Südpole grün. Ma- mit Dauermagneten erzielt werden und kommt an den Enden eines Dauermagneten. Allerdings
gnetische Feldinien sind schon gar nicht natürlich auf der Erde vor. wurden in bestimmten exotischen Keramikmate-
so definiert, dass sie im Der englische Arzt und Physiker WILLIAM rialien wie Dysprosiumtitanat (Dy2Ti2O7) inzwi-
Außenbereich eines Ferro-
magneten vom Nord- zum GILBERT (1544 – 1603) spielte für das wissen- schen Quasiteilchen entdeckt, die sich ähnlich
Südpol verlaufen, im In- schaftliche Verständnis magnetischer Kräfte eine wie magnetische Monopole verhalten. Dabei
nenraum aber vom Süd- ähnlich entscheidende Rolle wie seine Zeitge- handelt es sich jedoch um Wirbelschläuche von
zum Nordpol.
nossen KEPLER und GALILEI für das Verständnis Elementarmagneten, an deren Enden ähnliche
Achtung: In der Nähe des der Gravitation. Er sammelte sämtliche ihm magnetische Eigenschaften auftreten, wie man
geographischen Nordpols zugängliche Literatur über Magnetismus und bei einem echten Monopol erwarten würde.
der Erde liegt der magne-
tische Südpol!
Elektrizität (deren Bezeichnung er prägte), über-
prüfte die Berichte und führte zahlreiche eigene Feldlinien
Experimente durch. Sein Wissen fasste er in
dem im Jahre 1600 erschienenen monumentalen Feldlinien wurden zur Veranschaulichung der
Werk De magnete zusammen. Richtung und Stärke eines Feldes eingeführt.
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In seinen Versuchen benutzte GILBERT natür- Sie werden häufig zur Beschreibung elektrischer,
liche Magneteisensteine aus „loadstone“, dem magnetischer und gravitativer Felder eingesetzt.
Mineral Magnetit (Fe2O3), aber auch künstlich Magnetnadeln oder Eisenspäne an vielen Punk-
magnetisiertes Eisen. Er kannte den induzierten ten eines Magnetfeldes können den ungefähren
Magnetismus (die zeitweilige Magnetisierung Verlauf der magnetischen Feldlinien anzeigen.
von Eisen unter dem Einfluss eines Magneten). Bei magnetisierten Materialien scheinen die Feld-
Anhand einer magnetischen Kugel, seines Erd- linien an Magnet-Nordpolen zu entstehen und

21
2 1
100
Erde, Wasser, Luft und Feuer

im Außenraum bogenförmig zum Südpol hin zu nium oder Kupfer unterliegen keinen offensicht-

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verlaufen. Es zeigt sich, dass magnetische Feld- lichen magnetischen Kräften. Sie werden deshalb
linien sich im Inneren des Materials fortsetzen meist einfach als unmagnetisch bezeichnet. Dies
und wie auch bei elektrischen Magnetspulen ist allerdings eine grobe Vereinfachung. Wie
stets ringförmig geschlossen sind (ÅAbbildung bereits FARADAYA entdeckte, zeigen alle Stoffe zu-
4-162). Übrigens besitzt die Erde in der Nähe mindest in gewissem Ausmaß ein magnetisches
des geographischen Nordpols einen magneti- Verhalten, das aber nicht anziehend, sondern
4-163
schen Südpol. In leitfähigen Plasmen wie sie bei abstoßend wirkt. Abstoßende Kräfte kennen wir Dynamisches Schweben.
Sonneneruptionen vorkommen, können Ma- zwischen gleichnamigen Polen von Dauermagne- Ferromagnete können
gnetfelder, die durch entsprechende Feldlinien ten. Aber können Magnete wirklich auch Stoffe nicht statisch über absto-
ßenden Magnetfeldern
beschrieben werden, richtiggehend „verankert“ abstoßen, die selbst nicht magnetisiert sind? Im schweben, sondern nur
sein. Bei Bewegungen des Materials werden sie täglichen Leben hat wohl noch niemand beob- umklappen. Für rotie-
mitgerissen, sie können sich verformen oder achtet, dass ein Kühlschrankmagnet von dessen rende Magnete gilt dies
allerdings nicht. Ein
durch Zusammenstöße kontrahiert werden. Tür abgestoßen wurde. Und doch ist eben das genau ausbalancierter
möglich. Mehr noch: Dieses scheinbar exotische magnetischer Kreisel kann
Verhalten ist der Normalfall. Allerdings ist die über einem abstoßenden
Alles ist magnetisch Ferromagneten stabil
abstoßende Wirkung meist so schwach, dass sie schweben, solange er
Noch heute ist die Ermittlung der Nord-Süd- uns normalerweise nicht auffällt. Materie, bei nicht vom Luftwiderstand
Richtung über die Ausrichtung eines kleinen der diese magnetische Abstoßungskraft allein abgebremst wird.
Dauermagneten (eine Magnetnadel) im Erdma- wirkt oder die Anziehung überwiegt, nennt man

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


gnetfeld die bekannteste Anwendung des Mag- diamagnetisch. Verhältnismäßig starker Diama-
netismus, obwohl sie im Zeitalter des GPS und gnetismus findet sich bei dem Element Bismut.
angesichts viel genauerer Kreiselkompasse in der Auch die Kohlenstoffmodifikation Graphit ist
Praxis eine immer geringere Rolle spielt. Aber diamagnetisch. Da Graphit sehr leicht ist, kann
dafür begegnen uns täglich unzählige andere An- man sogar erreichen, dass kleinere Graphitstü-
4-164
wendungen dieser faszinierenden Materieeigen- cke über starken Magnetfeldern frei in der Luft
Diamagnetisches Schwe-
schaft: Magnethaftetiketten, Magnetverschlüsse, schweben. Man spricht von diamagnetischer ben. Bei diamagnetischen
magnetische Werkzeuge, magnetische Schalter Levitation (Anhebung). Übrigens wurde der glei- Materialien ist die absto-
(ÅAbbildung 4-165) und vor allem Magnete che Versuch unter Zuhilfenahme sehr starker ßende Wirkung zwar sehr
gering, aber sehr leichte
als Bestandteile unzähliger technischer Geräte Magnetfelder auch schon mit ganzen Fröschen diamagnetische Materia-
wie Motoren, Lautsprechern, Mikrofonen, bis gemacht, bei denen hauptsächlich das enthaltene lien schweben ohne wei-
hin zu Magnetschwebebahnen. Spricht man um- diamagnetische Wasser die Abstoßung vermit- teres stabil über starken
Permanentmagneten.
gangssprachlich von Magnetismus, so meinen telte.
wir eben diese starken magnetischen Wirkungen,
die wir seit unserer Kindheit bei Dauermagneten Bewegte Ladungen erzeugen Magnete
kennen. Wissenschaftler bezeichnen Stoffe, aus
denen man Dauermagnete herstellen kann, als Bewegte elektrische Ladungen erzeugen stets
ferromagnetisch, nach dem Element Eisen (lat. ein Magnetfeld. Das können zum einen im ma-
ferrum), das diese Eigenschaft zeigt. Die Mag- kroskopischen Bereich bewegte elektrisch gela-
netkraft auf einen Körper aus einem ferromag- dene Teilchen sein, etwa Elektronen, die sich im 4-165
Reed-Kontakt. Reed-Kon-
netischen Material ist oft stärker als die auf ihn Vakuum bewegen oder als elektrischer Strom takte sind unter Vakuum
wirkende Gewichtskraft. Er kann dann durch durch das Metall einer Spule fließen. Diese Ma- in Glas eingeschmolzene
den Magneten hochgehoben werden. gnetwirkungen werden durch die Maxwellschen elektrische Federkontakte,
die am Ende ein ferro-
Bleiben wir zunächst bei den direkt beob- Gleichungen beschrieben, mit deren Hilfe man magnetisches Material
achtbaren magnetischen Eigenschaften von Ma- Form und Wirkung elektromagnetischer Felder tragen. Durch das Mag-
terie. Welche Stoffe sind eigentlich magnetisch berechnen kann (Å Der theoretische Abschluss netfeld eines in die Nähe
gebrachten Dauermagne-
oder können dauerhaft magnetisiert werden und – Maxwell, Seite 86). So erzeugen in einer
ten oder einer elektrisch
welche nicht? Welche davon werden von Mag- Leiterschleife kreisende Ladungen ein Magnet- betriebenen Magnetspule
neten angezogen? Und werden manche vielleicht feld, das dem eines Stabmagneten entspricht. (Reed-Relais) schließt sich
auch abgestoßen? Und genau wie auf Stabmagneten wirkt auf der Kontakt und schaltet
zum Beispiel die Beleuch-
Nichtmetallische Stoffe wie Glas, Holz, Plastik, kreisende Ladungen in einem Magnetfeld eine tung eines Kühlschranks
Stein, Wasser und sogar viele Metalle wie Alumi- ein.

211
KAPITEL 4 Demokrits Erben

Kraft. Diese Kraft ist auch für das Drehen eines Magnetfeld verschwindet. Durch Variation der
Elektromotors verantwortlich. Zusammensetzung und des Herstellungsverfah-
Der Gedanke liegt nahe, dass die Bahnbewe- rens und damit der Kristallstrukturen lassen sich
gungen der Elektronen in Atomen, deren Eigen- hartmagnetische Stoffe erzeugen, die ihre Mag-
rotation und die Rotation des Atomkerns für die netisierung auch nach Entfernung eines äußeren
magnetischen Eigenschaften von Materie ver- Magnetfeldes dauerhaft beibehalten, aber auch
antwortlich sind. Allerdings sind die klassischen weichmagnetische Stoffe, die sie schnell wieder
Begriffe „Bahn“ und „Rotation“ in der Welt verlieren. Hartmagnetische Materialien können
der Atome aufgrund der Heisenbergschen Un- durch Hitzeeinwirkung (über den Curie-Punkt)
schärferelation nicht mehr anwendbar. Trotzdem oder durch schnell wechselnde Magnetfelder
kann man das Modell des Magnetismus durch wieder entmagnetisiert werden. Die Elementar-
Bahnbewegungen der Anschaulichkeit halber in magnete werden dabei quasi durcheinander ge-
vielen Fällen nutzen, da die korrekten quanten- schüttelt, und ihre Felder gleichen sich im Mittel
mechanischen Modelle im Prinzip zu gleichen aus. Die „Elementarmagnete“ sind ein einfaches
Ergebnissen führen (ÅSpin, Seite 130). Modell für das magnetische Verhalten einzelner
Magnetismus von Festkörpern setzt sich aus Atome oder Moleküle, aus denen ein solches
der Summe der magnetischen Eigenschaften magnetisches Material aufgebaut ist.
ihrer kleinsten Teilchen zusammen, den Ele-
mentarmagneten. Dies können Atome, Ionen, Magnetismus steckt in den Atomen
Moleküle oder auch quasi freie Elektronen sein,
wie sie in Metallen vorkommen. Insbesondere Wie oben erwähnt, erzeugen die Elektronen
der sehr starke Ferromagnetismus ist ein koope- der Atomhülle und sogar Kernteilchen Mag-
ratives Phänomen. Es entsteht durch Kopplung netfelder, die allerdings nicht mehr klassisch,
vieler solcher Elementarmagnete. Ferromagneti- sondern nur mithilfe der Quantentheorie zu
sche Materialien verstärken äußere Magnetfel- verstehen sind. Die Bewegung eines Elektrons in
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der durch Ausrichtung ihrer Elementarmagnete, der Atomhülle ist grundsätzlich verschieden von
und sie bleiben magnetisch, wenn das äußere der Bahnbewegung eines Planeten um die Sonne

Ströme und Magnetfelder

4-166
Magnetfeld einer Spule.
Das torusförmige Magnet-
feld einer Spule oder Lei-
terschleife ergibt sich aus
dem Ringfeld um einen
elektrischen Strom.

4-167
Kreisstrom und Magnetfelder. Der Stromfluss I durch einen Leiter erzeugt ein Magnetfeld (links). Ein Kreisstrom er-
zeugt ein Magnetfeld ähnlich dem eines Stabmagneten (Mitte). Magnetfeldlinien verlaufen im Außenbereich eines
Magneten vom Nordpol zum Südpol (rechts).

4-168
Magnetisches Moment. Das magnetische Moment μ eines Magneten
kennzeichnet die Richtung vom Süd- zum Nordpol des Magneten. Das
Drehmoment M, das einen solchen Magneten in einem externen Mag-
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netfeld B in Richtung der Feldlinien ausrichtet, hängt vom magnetischen


Moment ab. Analog dazu wirken die um den Atomkern kreisenden Elek-
tronen wie eine Leiterschleife, das Atom hat dadurch ebenfalls ein magne-
tisches Moment, das sich in einem externen Magnetfeld ausrichtet. Auch
der „Spin“ der Elektronen oder Kerne selbst erzeugt ein sehr geringes
magnetisches Moment, so dass er wie eine kreisende Ladung wirkt.

212
Erde, Wasser, Luft und Feuer

und selbst von der semiklassischen Vorstellung wie stark die Elementarmagnete miteinander
besonderer Bahnen im Bohrschen Atommodell. gekoppelt sind.
Korrekter ist das quantenmechanische Modell
von Orbitalen. Diese bestimmen die Form der Diamagnetismus
Aufenthaltswahrscheinlichkeiten von Elektronen
in der Atomhülle. Auch die quantenmechanische Das Zustandekommen von Diamagnetismus ist
Eigenschaft des Spins kann nur in sehr grober verhältnismäßig einfach oberflächlich zu be-
Näherung als die Rotation eines Teilchens um schreiben: Bringt man eine beliebige Substanz in
seine eigene Achse verstanden werden (Å Spin, ein magnetisches Feld, so induziert dieses in den

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Seite 130. Elektronenhüllen der Atome einen Kreisstrom
Trotzdem kann man die Grundkomponenten und dieser wiederum ein Magnetfeld (ÅAb-
des magnetischen Moments entsprechend dem bildung 4-167). Nach der Lenzschen Regel ist
klassischen Modell zumindest benennen. Der dieses dem äußeren Feld entgegen gerichtet und
größte Anteil beruht auf dem Bahndrehimpuls schwächt es daher im Inneren der Substanz ab.
der Elektronen in Atom- bzw. Molekülorbitalen, Diamagnetische Materie hat also die Tendenz,
ein geringerer auf deren Spin (Eigenrotation). Magnetfelder aus ihrem Inneren zu verdrängen, 4-169
Beides zusammen wird auch als magnetisches und es kommt zu der schwach abstoßenden NMR-Magnet. Histo-
rischer Magnet zur
Hüllenmoment bezeichnet. Hinzu kommt ein Wirkung. Bereits dieses klassische Modell er- Erzeugung sehr starker
kleiner Anteil des Kernmagnetismus aufgrund klärt, warum Diamagnetismus bei allen Stoffen Magnetfelder, wie sie für
des Spins der Kernteilchen, der Protonen und vorkommt. In Materialien, deren Atome, Ionen die Untersuchung des
Kernmagnetismus benö-
Neutronen. oder Moleküle keine ungepaarten Elektronen tigt werden (Universität
Die Spinanteile des Magnetfeldes entstehen, besitzen, ist Diamagnetismus die einzige Form Tübingen). Heute werden
da viele Elementarteilchen ein magnetisches des Magnetismus. für kernmagnetische Re-
sonanz (Nuclear Magnetic
Moment besitzen, so auch Elektronen, Proto- Resonance, NMR) in der
nen und Neutronen. Letzteres ist erst einmal Paramagnetismus Forschung und medizini-
verwunderlich, da das Neutron ja nach außen schen Bildgebung fast aus-
schließlich supraleitende
hin elektrisch neutral ist. Man kann das als Besitzen die Teilchen, aus denen ein Stoff auf-
Magnetspulen eingesetzt.
Hinweis darauf verstehen, dass dieses Teilchen gebaut ist, ein magnetisches Moment, so richtet
nicht wirklich elementar ist, sondern eine innere sich dieses parallel zum äußeren Magnetfeld aus
Struktur besitzt. (ÅMagnetfeld, Seite 210). Diese Ausrichtung
Elektronen sind sogenannte Fermionen, sie ist die energetisch günstigste. Damit wird das
besitzen einen halbzahligen Spin. Zwei solcher äußere Magnetfeld im Inneren der Substanz Elektron e–
μe = – 928,476377 · 10−26 J/T
Teilchen können nicht denselben Quantenzu- verstärkt. Paramagnetische Stoffe unterliegen
stand einnehmen. Als Regel ergibt sich daraus, deshalb einer magnetischen Anziehung, zumin- Proton p
dass sie sich in mindestens einer Quantenzahl dest dann, wenn der Effekt die stets auch vor- μp = 1,410606662 · 10–26 J/T
unterscheiden müssen (Å Pauli-Prinzip, Seite handene diamagnetische Abstoßung überwiegt.
Neutron n
132). Orbitale haben deshalb die Eigenschaft, Bei idealen Paramagneten beeinflussen sich die μn = – 0,96623641 · 10–26 J/T
dass sie maximal zwei Elektronen aufnehmen magnetischen Momente der einzelnen Teilchen
können, die sich dann in ihrem Spin (+1/2 oder nicht. Sie können sich unabhängig voneinander
4-170
– 1/ 2) unterscheiden. Orbitale, die mit zwei im Feld ausrichten, wobei sie aber durch die Magnetische Momente
Elektronen gegensätzlicher Spins gefüllt sind, Wärmebewegung ständig gestört werden. Para- der Atombausteine. Inte-
ressanterweise besitzt
tragen aber nichts zum magnetischen Moment magnetismus wird daher mit steigender Tempe-
auch das nach außen elek-
bei, denn die Momente der beiden Elektronen ratur schwächer. trisch neutrale Neutron ein
kompensieren sich gerade. Atome bzw. Mole- magnetisches Moment.
küle und daraus aufgebaute Materie, die nur Ferromagnetismus
gefüllte Orbitale besitzen, haben deshalb kein
permanentes magnetisches Hüllenmoment. Sie Die meisten der chemischen Elemente sind Me-
sind lediglich diamagnetisch. talle. Aber auch von diesen zeigen bei Raumtem-
Ist hingegen mindestens ein Orbital nur mit peratur nur die drei Übergangselemente Eisen,
einem Elektron besetzt, so kann sich dessen Cobalt und Nickel den starken Ferromagnetis-
magnetisches Moment auswirken. In diesem mus, der durch einen Magneten leicht nachzu-
Fall hängt das magnetische Verhalten davon ab, weisen ist. Neben reinem Eisen, Cobalt und Ni-

213
KAPITEL 4 Demokrits Erben

ckel sind auch viele Legierungen dieser Elemente an ihren Rändern, deren Magnetisierungsrich-
mit anderen Metallen sowie Verbindungen mit tung zufällig etwa mit der Feldrichtung überein-
Nichtmetallen stark magnetisch. Einige andere stimmt. Diese einheitliche Ausrichtung kann bei
Legierungen magnetisierbarer Elemente, zum den oben erwähnten hartmagnetischen Stoffen
Beispiel hochlegierte Edelstähle, zeigen ande- auch nach Entfernen des äußeren Feldes erhalten
rerseits kaum magnetische Eigenschaften. Sie bleiben, es entsteht ein Dauermagnet. Beim Erhit-
können dies leicht mit einem Magneten an Ihrer zen über die ferromagnetische Curie-Temperatur
Spüle ausprobieren. (ÅPhasenübergang, Seite 166) wird die Wärme-
Im Gegensatz zu paramagnetischen Stoffen bewegung so stark, dass sie die Kopplungskräfte
4-171
sind die magnetischen Momente der einzelnen zwischen den Elementarmagneten überwiegt und
Hysterese.Hartmagneti- Teilchen bei ferromagnetischen Stoffen nicht die Magnetisierung wieder aufhebt.
sches Material. unabhängig voneinander. Ihre Magnetfelder be-
einflussen sich und können sich auch spontan Ferrimagnetismus
parallel ausrichten. Die Kopplung und damit
gleiche Ausrichtung der magnetischen Momente Ähnlich wie beim Ferromagnetismus sind die
erstreckt sich dabei aber nicht einheitlich durch magnetischen Momente einzelner Teilchen auch
das ganze Material. Sie bildet einen unregelmä- beim Ferrimagnetismus gekoppelt. Es liegt aber
ßigen Flickenteppich. Diese als Weißsche Bezirke ein komplexerer Bau mit zwei verschiedene Arten
bezeichneten Bereiche gleicher Magnetisierung magnetischer Zentren vor. Die Spinmomente ei-
haben einen typischen Größenbereich von ca. nes bestimmten Typs magnetischer Zentren rich-
10 Nanometern bis hin zu wenigen Mikrome- ten sich dabei parallel aus, die des zweiten Typs
tern. Ihre Ausrichtung ist statistisch verteilt, so hingegen antiparallel dazu. Dieses führt zu einer
4-172 dass der Gesamtkörper ohne äußeres Magnetfeld teilweisen Kompensation der Felder und daher zu
Hysterese.Weichmag- unmagnetisch erscheint. Bei Anlegen eines äu- im Vergleich schwächerem Magnetismus.
netisches Verhalten von ßeren Magnetfeldes wachsen diejenigen Bezirke
Werkzeugstahl.

Singulett- und Triplettzustände

Für die magnetischen Eigenschaften eines Materials ist vor Elektronen aus, da aufgrund des Pauli-Prinzips gleich viele
allem die Eigenrotation der Elektronen verantwortlich, der Elektronen in „auf“ wie in „ab“- Richtung rotieren. Der
sogenannte Elektronenspin. Die Orientierung der Drehachse resultierende Spin ist 0, es liegt daher ein Singulett-Zustand
im Raum ist gequantelt, es gibt also nur eine eingeschränkte vor. Andere Verhältnisse gelten bei den Übergangsmetallen
Anzahl von Achsenrichtungen. Bei Elektronen sind dies genau wie Eisen oder Nickel, bei diesen liegen nur teilweise gefüllte
zwei, die man als „auf“ und „ab“ bezeichnen kann. Dies gilt Schalen vor, der resultierende Gesamtspin kann daher größer
für alle Teilchen mit einer Spinquantenzahl s = 1/2 (Fermionen). als 0 sein, es liegt ein Dublett, Triplett oder noch höherer Zu-
Zwischen Spinquantenzahl s und Anzahl der Raumrich- stand vor. Dies bedeutet, dass das Atom selbst ein Magnetfeld
tungen gilt der Zusammenhang: Anzahl Richtungen = 2·s+ 1. besitzt, das sich in einem externen Feld wie ein Stabmagnet in
Bosonen (s = 0) können daher nur entlang einer Achse ro- entgegengesetzter Richtung orientiert: Das Atom verhält sich
tieren. Die Anzahl der Raumrichtungen bezeichnet man als paramagnetisch. Allerdings liegen Eisen und Nickel im Allge-
Multiplizität: meinen als Festkörper vor, d. h. die atomaren „Elementarma-
s Multiplizität (2 · s + 1) Bezeichnung gnete“ beeinflussen sich gegenseitig. Dies führt dazu, dass sie
0 1 Singulett sich bevorzugt in dieselbe Richtung orientieren, das Metall ist
1/
2 2 Dublett ferromagnetisch. Je nach Struktur des Kristallgitters richten
1 3 Triplett sich die Elementarmagnete von Übergangsmetallen aber auch
2 4 Quadruplett antiparallel aus, das Metall ist dann antiferromagnetisch.
Auch in Molekülen können unbesetzte Elektronenschalen
Die Multiplizität spielt eine wichtige Rolle bei der Interaktion auftreten, in denen sich die Elektronenspins nicht ausgleichen.
von Molekülen und Atomen mit elektromagnetischen Wellen So ist das 2p-Orbital des Sauerstoffmoleküls (O2) mit zwei
und für das Verhalten im Magnetfeld, da das „rotierende“ Elektronen mit gleichgerichtetem Spin besetzt, das heißt, der
Elektron selbst ein Magnetfeld erzeugt. In einem Atom mit Gesamtspin ist 1, es liegt also ein Triplett-Zustand vor. Sau-
vollbesetzten Schalen gleichen sich die Spins der einzelnen erstoff ist daher paramagnetisch.

214
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Antiferromagnetismus Transparenz und Absorption


Auch beim Antiferromagnetismus sind die ma- Transparenz ist eine Eigenschaft, die wir von
gnetischen Momente einzelner Teilchen nicht Flüssigkeiten wie Wasser und Alkohol ebenso
unabhängig voneinander. Vielmehr richten sie kennen wie von Glas und vielen Kristallen. Auch
sich spontan antiparallel aus. Ein idealer An- etliche Kunststoffe sind transparent.
tiferromagnet zeigt somit nach außen hin kein Transparenz bedeutet zunächst einmal, dass
magnetisches Verhalten (außer dem stets vorhan- ein Stoff Licht weitgehend ungestört passieren
denen Diamagnetismus). Mit steigender Tempe- lässt, ohne es zu „verschlucken“ oder zu streuen.
ratur stört die Wärmebewegung die antiparallele Meist bezieht man sich dabei stillschweigend

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


Anordnung, so dass sich der Antiferromagnet auf den Wellenlängenbereich des sichtbaren
zunehmend wie ein Ferrimagnet verhält. Lichts, obwohl Materie in der Regel nur für
bestimmte Wellenlängen transparent ist. Auch
Organometallische Magnete kann es beim Durchtritt durch ein transparentes
Medium durchaus zu einer Ablenkung des Lichts 4-173
Dauermagnete sind eigentlich ein alter Hut. Nur kommen, eine Erscheinung, die man mithilfe Organometallischer Ma-
wenige Legierungen zeigen Ferromagnetismus. des Brechungsindex beschreibt. Er ist nur für gnet. Auch organische
Verbindungen können fer-
Dauermagnete enthalten stets Eisen, Nickel, Vakuum exakt gleich 1. Meist weicht er umso romagnetisches Verhalten
Cobalt oder Mangan. Ihre Herstellung benö- stärker von diesem Wert ab, je dichter das Me- zeigen.
tigte bisher energieaufwändige metallurgische dium ist.
Prozesse bei hohen Temperaturen. Die stärks- Wie kommt es nun dazu, dass Materie für
ten gegenwärtig bekannten Dauermagnete be- Licht bestimmter Wellenlängen transparent ist?
stehen aus einer Neodym-Eisen-Bor-Legierung Oder vielleicht sollte man besser danach fragen,
(Nd2Fe14B). Obwohl auch magnetische metall- wie es dazu kommt, dass manches Material eben
organische Verbindungen seit längerem bekannt nicht transparent ist.
sind, erlangten sie nie praktische Bedeutung, Licht kann man als elektromagnetische Welle
denn sie zeigen ihre interessanten Eigenschaften oder als Teilchen (Photonen) beschreiben. Wenn
nur bei sehr tiefen Temperaturen. Wissenschaft- das Licht nicht mit einem Medium in Wechselwir-
ler der University of Victoria und der University kung tritt, geht es naturgemäß einfach hindurch.
of British Columbia in Vancouver (Kanada) Um eine Wechselwirkung, die immer auch eine
konnten aber eine neue Klasse von Materialien Energieübertragung darstellt, zu ermöglichen,
entwickeln, die ihren Magnetismus auch bei muss in dem Material etwas vorhanden sein, das
Raumtemperatur behält und somit für viele tech- Energie in Portionen aufnehmen kann, die gerade
nische Anwendungen in Frage kommt. den Energien der Photonen entsprechen. Die Si-
Erstaunlich ist aber nicht nur die Tempe- tuation ähnelt derjenigen bei einer Stimmgabel,
raturstabilität der neuen dauermagnetischen die nur dann in Resonanz gerät, wenn ein gleich
Verbindung, sondern auch der energiesparende hoher Ton erklingt. Die Lichtenergie wird dabei
und in jedem chemischen Labor verhältnismäßig meist am Ende in Bewegungsenergie der Materie-
einfach durchzuführende Herstellungsprozess. teilchen, also in Wärme umgesetzt.
Eine bereits bekannte, organische Nickelver- Die Energie E der Photonen ist nach der
bindung, der Komplex Bis-(1,5-Cyclooctadien)- bekannten Formel E = h·ν über den Faktor h
Nickel, wurde hierzu in dem Lösungsmittel (Plancksches Wirkungsquantum) direkt pro-
Dichlorethan unter einer Schutzatmosphäre portional zur Frequenz ν des Lichts, also zum
durch jeweils mehrstündiges Rühren mit aro- Beispiel für blaues oder gar ultraviolettes Licht
matischen Cyanoverbindungen umgesetzt. Ab- viel höher als für rotes Licht oder für infrarote
filtrieren und trocknen, fertig ist der Magnet. Wärmestrahlung. Doch wo kann diese Energie
Nun, nicht ganz. Im letzten Schritt müssen die aufgenommen werden? Abhängig von der Wel-
Elementarmagnete des Materials genau wie bei lenlänge und vom genauen Aufbau der Materie
einem klassischen Dauermagneten aus metal- spielen hier unterschiedliche Systeme mit. Ener-
lischen Legierungen unter dem Einfluss eines giearmes infrarotes Licht etwa reicht gerade
sehr starken äußeren Feldes parallel ausgerich- aus, um bestimmte Molekülschwingungen oder
tet werden. Rotationen von Molekülen oder Molekülteilen

215
KAPITEL 4 Demokrits Erben

anzuregen. Demgemäß sind viele molekulare eindeutig zur Elektronenhülle dieses Ions. Auch
Stoffe für infrarotes Licht undurchsichtig. Sicht- sie benötigen eine Anregungsenergie, die nicht
bares Licht hingegen hat eine deutlich höhere mit der Energie von Photonen sichtbaren Lichts
Energie. Es ist in der Lage, locker gebundene erreicht wird.
oder weitgehend freie Elektronen anzuregen, Aber für Transparenz ist alles bisher Gesagte
wie sie etwa in Metallen vorkommen. Sie be- natürlich nicht die ganze Wahrheit. Eine wei-
völkern dort das sogenannte Leitungsband und tere Voraussetzung, dass ausgedehnte Körper
sind auch für die elektrische Leitfähigkeit ver- transparent erscheinen, ist ihre weitgehende
antwortlich. Durchsichtige Substanzen besitzen Homogenität, das heißt, dass der Stoff zumin-
keine auf diese Weise anregbaren beweglichen dest in Größenbereichen der Lichtwellenlänge
Elektronen. Bei Glas etwa sind die Elektronen und darüber keine körnige Struktur zeigt. Das
fest in den Sauerstoff- und Siliciumbindungen kann man sich leicht klar machen, wenn man
lokalisiert oder gehören zu den inneren Elektro- sich vorstellt, dass eine Glasscheibe zu Pulver
nenschalen der Atome. Ähnlich liegt der Fall bei zermahlen und als solches wieder in eine ähnli-
transparenten Kunststoffen oder Flüssigkeiten che Form verbacken würde. Die Zusammenset-
wie Wasser oder Alkohol. Auch hier bilden die zung des Stoffs ist noch immer gleich, allerdings
Elektronen Atombindungen (kovalente Bindun- gibt es viele Porenräume und unterschiedlich
gen) zwischen Atomen und sind nicht beweglich. geformte innere Oberflächen. Die Scheibe ist
Entsprechend sind alle diese Stoffe recht gute nun höchstens noch milchig durchscheinend,
elektrische Isolatoren. denn eindringendes Licht wird in alle denkba-
Für UV-Licht mit seiner noch höheren Ener- ren Richtungen reflektiert und gebrochen und
gie sind auch molekulare Stoffe nicht mehr verliert damit fast jegliche Richtungsinforma-
transparent. Seine Photonen enthalten so viel tion. Allerdings ist diese Richtungsinformation
Energie, dass sie sogar fest gebundene Elektro- wohl nicht vollständig verloren. In neuester Zeit
nen in höhere Energiezustände befördern kön- gelang durch Vermessung des durch opake Ma-
nen. Dabei kommt es häufig zum Bindungsbruch terialien tretenden Lichts und der dahinter be-
und damit zu chemischen Veränderungen, wie findlichen Objekte ein mathematisches Modell
wir sie von Plastik kennen, das zu lange in der der dazwischen stattfindenden Streuprozesse in
Sonne gelegen hat. Form einer Transmissionsmatrix herzustellen.
In Ionenkristallen wie zum Beispiel Natri- Verfügt man über eine solche Matrix, lässt sich
umchlorid gibt es keine Molekülbindungen, sogar Licht auf Objekte fokussieren, die hinter
sondern Ionenbindungen. Warum können auch dem streuenden Material liegen, und dahinter
sie transparent sein? Vielleicht können Sie es verborgene Objekte lassen sich wieder sichtbar
schon erraten? Die Elektronen sind hier zwar machen.
bei der Ionenbildung von einem Atom auf ein Wenn wir schon beim Begriff „milchig“
anderes übergegangen, aber sie gehören nun sind: Auch in der Milch tritt derselbe Effekt auf.
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

4-174 4-175 4-176 4-177 4-178


Hexagonale atomare Kalottenmodell des Mo- Kugelstabmodell. Die Stabmodell. Es werden Drahtgittermodell. Die
Strukturen eines Kristalls. leküls Indigo. Das raum- Atome sind verkleinert nur noch die Bindungen Räumlichkeit wird weiter
Ein Kraftmikroskop tastet füllende Modell stellt die dargestellt, um die Bin- dargestellt, die Art der be- reduziert, Darstellung des
die Probe in atomarer Auf- Atome in ungefähr realen dungsstruktur des Mo- teiligten Atome ergibt sich Bindungsgerüstes, die ei-
lösung ab, hier Siliicium. Größenverhältnissen dar. leküls besser erkennbar aus den Färbungen der ner Strukturformel bereits
werden zu lassen. Stabsegmente. sehr ähnelt

216
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Das Licht bricht sich an unzähligen winzigen fotografieren, dazu sind sie viel zu klein. Sicht- Farbe entsteht durch die
Wahrnehmung von Licht,
Fettkügelchen, die in der Flüssigkeit dispergiert bares Licht kann nur Objekte abbilden, die dessen Wellenlängen-
sind, und erzeugt so die weiße Farbe. Allerdings mindestens in der Größenordnung seiner Wel- verteilung von der des
besteht in diesem Fall wohl kaum Hoffnung, lenlänge (380 – 780 nm) liegen, also Objekte ab Tageslichts abweicht.
dass sich die Streuprozesse herausrechnen las- ca. 1/1000 mm (10-6 m) Größe. Typische Ein- Solche Abweichungen
sen. zelmoleküle haben Größen von nur wenigen entstehen durch frequenz-
abhängige Emission, Ab-
Nanometern (10-9 m), sie sind also für eine op- sorption oder Transmission
tische Abbildung viel zu klein. Mit raffinierten von Licht aufgrund von:
Struktur und Farbe Methoden wie etwa einem Feldemissionsmikro- Teilcheneigenschaften
skop (FEM) oder einem Rasterkraftmikroskop Flammenfärbungen durch
angeregte Metallionen
Wir haben schon im vorherigen Abschnitt gese- (Atomic Force Microscope, AFM) können heute
(Feuerwerk) oder gefärbte
hen, dass viele optische Eigenschaften nicht di- jedoch einzelne Atome und Moleküle tatsächlich Metallkationen (Atom-
rekt auf die Eigenschaften einzelner Atome oder abgebildet werden, wenn auch etwas indirekter und Ionenspektren)
Ionen zurückgehen, sondern davon abhängen, (Å Abbildung 4-174). Physikalischen Effekten
welche chemischen Bindungen und Strukturen Die auf diese Weise gewonnene Abbildung Interferenzfarben oder
Strukturfarben (bei
ausgebildet werden. Insbesondere gehören viele eines Moleküls zeigt die Ladungsverteilung der
Schmetterlingsflügeln)
Erscheinungsformen der Farbigkeit zu diesen Hüllenelektronen um die Atomrümpfe. Dabei
Chemischen Bindungen
sekundären Qualitäten. Wir wollen deshalb hier überlappen sich die Aufenthaltsbereiche der Farbmittel wie Indigo
einen kleinen Exkurs über die Darstellungsweise Elektronen so stark, dass ein an eine Weintraube (Jeans) oder Carotin
von Molekülen einschieben, da wir diese Kennt- erinnerndes Gebilde entsteht, bei der allerdings
nisse auch in den folgenden stofflichen Kapiteln die einzelnen „Beeren“ fließend ineinander
benötigen werden. übergehen. Werden diese Verhältnisse in einem
Modell maßstäblich dargestellt, spricht man
Strukturformeln – von einem Kalottenmodell (Å Abbildung 4-175).
Die Geheimsprache der Chemiker Es gibt ganze Baukästen, aus denen Chemiker
Moleküle aus Kugelteilen über Druckknöpfe
Je nach dem Zweck der Darstellung wählen Che- zusammenstecken können. Solche Darstellungen
miker mehr oder weniger vereinfachte Zeichnun- eignen sich vor allem dann, wenn es darum geht,
gen bzw. Schreibweisen für Moleküle. Formeln die Form eines Moleküls oder seine Passform
sind eine kompakte Darstellung dessen, was man in Enzymreaktionen zu beurteilen. Für die Be-
über den Aufbau einer Verbindung weiß und trachtung der an einer Verbindung beteiligten
in einem bestimmten Kontext zum Ausdruck Atome und deren Bindungsverhältnissen haben
bringen will. die Chemiker übersichtlichere Darstellungswei-
Ausgangspunkt sind immer die Vorstellun- sen gefunden, welche die realen Verhältnisse
gen über das wirkliche Aussehen der Moleküle. zunehmend abstrahieren. Deshalb gibt es zur
Natürlich kann man Moleküle nicht einfach so Darstellung desselben Moleküls verschiedene

C16H10N2O2
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4-179 4-180 4-181


Strukturformel. Element- Vereinfachte Strukturfor-
r Summenformel. Bei ihr wird nur die Elementarzusam-
symbole bezeichnen mel. C-Atome werden mensetzung der Verbindung betrachtet. Zuerst werden
Atome, Striche stehen nicht mehr bezeichnet, die C- und H-Atome genannt. Oft werden aber nicht
für je ein bindendes H-Atome an C-Atomen alle gleichen Atome aufaddiert, sondern man erwähnt
Elektronenpaar. Dop- werden mit ihren Bindun- die für das chemische Verhalten der Substanz wichtigen
pelbindungen sind gut gen weggelassen. (funktionellen) Gruppen getrennt in einer für sie typi-
erkennbar. schen Schreibweise (etwa CH3COOH für Essigsäure, hier
steht -COOH für die Carbonsäuregruppe).
217
KAPITEL 4 Demokrits Erben

Möglichkeiten. Häufig entscheidet der Anwen- der Regel mit vier anderen Atomen verbun-
dungszweck, welche davon zum Einsatz kommt. den ist. Eine zusätzliche Regel besagt, dass die
Es ist einfach nicht sinnvoll, in allen Fällen die Bindungen zwischen Wasserstoffatomen und
volle Information darzustellen. Im Kugelstabmo- Kohlenstoffatomen auch weggelassen werden
dell werden die Elektronenhüllen nicht mehr ge- dürfen; ihre Existenz ergibt sich einfach aus der
zeigt, vielmehr repräsentieren verschieden große geforderten Vierbindigkeit des Kohlenstoffa-
und je nach chemischem Element unterschied- toms. Alle Atome, die weder Wasserstoff noch
lich gefärbte Kugeln die Atome (ÅAbbildung Kohlenstoff sind, müssen durch ihre Symbole
4-176, Seite 216). Chemische Bindungen wer- kenntlich gemacht sein, sie heißen auch He-
den durch Stäbchen dargestellt. Um den inneren teroatome. Kohlenstoffatome und einige He-
Aufbau besser erkennbar zu machen, werden die teroatome können untereinander auch Mehr-
Kugelradien kleiner gewählt, als den Atomradien fachbindungen eingehen, die dann durch zwei
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entsprechen würde, bzw. die Bindungen werden bzw. drei Striche symbolisiert werden. Treten
überlang dargestellt. bei größeren Molekülen abwechselnd Einfach-
Lässt man die Atome einfach weg, kommt und Doppelbindungen auf, so spricht man
man zum Stabmodell eines Moleküls, das häufig von konjugierten Doppelbindungen, in ring-
in Computergrafiken verwendet wird (Å Abbil- förmigen, meist sechseckigen Strukturen von
dung 4-177, Seite 216). Die Bindungen selbst Aromatizität. Beide Strukturelemente zeigen
4-182
Tomatenfarbstoff „Lyco-
werden hier je nach den beteiligten Atomsorten die Erscheinung der Mesomerie, die Lage der
pin“ (C40H56)). Chemiker jeweils zur Hälfte eingefärbt. Nun ist es nur Doppelbindungen kann dann nicht mehr ein-
können aus der Struktur- r noch ein kleiner Schritt zum Drahtgittermo- deutig festgelegt werden, das Molekül kommt
formel Rückschlüsse auf
die Zusammensetzung
dell. Die Bindungen werden in diesem Fall nur in mehreren sogenannten mesomeren Grenz-
und sogar auf das un- noch als dünne Striche entsprechender Farbe strukturen vor. Betrachtet man die beteiligten
gefähre Verhalten eines angedeutet (Å Abbildung 4-178, Seite 216). Bindungselektronen, so stellt man fest, dass
Stoffes ziehen. Hier be-
Muss eine Formel in der Ebene wiedergegeben ihre Aufenthaltswahrscheinlichkeit über einen
wirkt das Fehlen polarer
(hydrophiler) Gruppen werden, so können die räumlichen Bindungen größeren Bereich des Moleküls verteilt ist, man
z. B. die Unlöslichkeit in natürlich nicht mehr korrekt dargestellt werden. spricht von delokalisierten Elektronen. Insbe-
Wasser und eine sehr gute Man beschränkt sich auf die Verknüpfungs- sondere bei Farbmitteln sind diese sehr wichtig,
Fettlöslichkeit. Die Aufein-
anderfolge von dreizehn struktur zwischen den Atomen und spricht von denn Elektronen in solchen Systemen lassen
abwechselnd einfach/ einer Strukturformel (Å Abbildung 4-179, Seite sich bereits durch sichtbares Licht mit geringer
doppelt gebundenen 217). Die Bindungen werden auch in der Re- Energie anregen. Das dabei absorbierte Licht ist
(konjugierten) Kohlen-
stoffatomen erzeugt eine gel nur noch in einheitlicher Farbe gezeigt. Um die eigentliche Ursache der Farbigkeit.
Absorption im blaugrünes trotzdem die wichtige Information über Atom- Interessiert man sich nur für die wichtigs-
Spektralbereich: Der Stoff sorten zu erhalten, werden die Atome durch ihr ten Zusammenhänge, lassen sich vereinfachte
strahlt orangerotes Licht
zurück. chemisches Symbol identifiziert. Durch einige Strukturformeln weiter zu Halbstrukturformeln
weitere Regeln kann die Darstellung zusätzlich reduzieren. Dabei werden nur noch die Bin-
vereinfacht werden, ohne an Informationsgehalt dungen zwischen den wichtigsten Molekülteilen
zu verlieren, und es ergeben sich die vereinfach- gezeichnet, einzelne Molekülteile werden nur
ten Strukturformeln, wie sie in vielen Büchern noch durch summarische Aufzählung der Atome
auftauchen (Å Abbildung 4-180, Seite 217). erwähnt. In Ausdrücken wie CH3-, -C2H5- oder
Was bedeuten nun aber die auf den ers- C6H5- erkennt der Chemiker leicht typische
ten Blick verwirrenden einfachen und doppel- Strukturelemente wie die Methyl-, Ethyl- bzw.
ten Striche, Sechsecke und Buchstaben in den Benzylgruppe, deren Struktur ihm bekannt ist.
Strukturformeln? Zunächst geht man davon Diese Darstellungsweise bildet den Übergang zur
aus, dass jede Stelle in der Formel, an der Stri- reinen Summenformel. Diese einfachste Formel
che zusammenstoßen oder enden, die Position für chemische Verbindungen ist am stärksten
eines Atoms markiert. Wird ein Atom nicht abstrahiert. Hier werden lediglich die an der Ver-
näher bezeichnet, gilt es als Kohlenstoffatom bindung beteiligten Atome erwähnt. Die Anzahl
oder als Wasserstoffatom. Die Entscheidung mehrfach vorkommender Atome werden über
zwischen diesen beiden Möglichkeiten ergibt kleine tiefgestellte Zahlen hinter den Buchstaben
sich immer klar daraus, dass Wasserstoff nur notiert. Ein typisches Beispiel ist die Summen-
eine Bindung ausbildet, Kohlenstoff aber in formel von Indigo (C16H10N2O2).

218
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Wann sind organische Stoffe farbig? OH-Gruppen, die über Wasserstoffbrücken den
Zucker im trockenen Zustand zusammenhalten
Gewöhnlich existieren in kleineren organischen (Å Wasserstoffbrückenbindung, Seite 149). In
Molekülen mit Einfachbindungen oder wenigen Flüssigkeiten gehen diese OH-Gruppen mit Was-
und isolierten Mehrfachbindungen keine Ener- sermolekülen solche Bindungen ein. Sobald die
gieniveaus, die zur Absorption von Licht im Flüssigkeit verdunstet ist, sorgen die OH-Grup-
sichtbaren Bereich geeignet wären. Diese Sub- pen wieder über Wasserstoffbrücken für den Zu-
stanzen sind daher farblos oder weiß (wenn sie sammenhalt der Zuckermoleküle untereinander.
das Licht durch ihre Oberflächenstruktur oder Diese OH-Gruppen bilden eine klebrige Schicht.
Körnung in verschiedene Richtungen streuen). Die Klebrigkeit kommt dadurch zustande, dass
Sie absorbieren Strahlung hauptsächlich im ener- Wasserstoffbrücken der Zuckermoleküle nicht
giereicheren ultravioletten Spektralbereich (UV). nur untereinander, sondern ebenso zu Molekü-
Mehr Energieniveaus mit geringeren Energie- len der Haut und zum Material des Tassenbo-
unterschieden bilden sich in organischen Mo- dens gebildet werden. Im Tassenboden sitzen
lekülen dann aus, wenn sich Elektronen über Silikate, die an ihrer Oberfläche ebenfalls freie
einen größeren Bereich des Moleküls relativ OH-Gruppen tragen. Steinsalz dagegen (NaCl)
frei bewegen können. Dies ist der Fall, wenn besitzt keine derartigen OH-Gruppen, die beiden
mehrere ebene (aromatische) Sechserringe oder Atome werden im Wasser getrennt und können
abwechselnde (konjugierte) Doppel- und Ein- beim Verschwinden der Flüssigkeit keine Brü-
fachbindungen zusammenkommen (man spricht ckenbindung mit dem Tassenboden eingehen.
dann von einem „delokalisierten ʋ-System“). Am Beispiel des Zuckers lässt sich zeigen,
Für die Bindungselektronen entstehen dadurch das Klebrigkeit im chemischen Sinne einerseits
viele mögliche Energiezustände, die energetisch die innere Kohäsion der Klebstoffpartikel ist,
nur wenig über dem Grundzustand liegen. Die verursacht durch atomare Anziehungskräfte
erforderlichen Anregungsenergien für Übergänge wie Wasserstoffbrücken, andererseits die starke
zwischen solchen niedrig liegenden Niveaus sind Wechselwirkung (Adhäsion) zwischen den zu
relativ gering, und es genügt bereits die Absorp- verklebenden Materialien.
tion des längerwelligen sichtbaren Lichtes.
Die genaue Lage der Absorptionsmaxima Schmiereffekte
bestimmt die Farbe der Stoffe. So kann ein er-
fahrener Chemiker bereits an der Strukturformel Fehlen starke intermolekulare Wechselwirkun-
einer Substanz erkennen, welche Farbe sie haben gen, so gleiten Moleküle leicht übereinander.
könnte. Farbvarianten organischer Stoffe lassen Ein typisches Beispiel ist die Gleitfähigkeit
sich in gewissem Rahmen durch gezielte Ände- nahezu jeden Materials auf mit Teflon (Poly-
rungen in der Molekülstruktur erreichen. tetrafluorethylen) beschichteter Pfannen. Die
leichte Beweglichkeit zwischen Schichten ist
Materialeigenschaft: klebrig umso eingeschränkter, je eher sich zwischen ih-
nen chemische Bindungen ausbilden können. Oft
Als klebrig bezeichnet man in der Alltagsspra- sind dies wiederum Wasserstoffbrücken, denn
che zähe Stoffe wie Honig oder Klebstoffe, die sehr viele Stoffe tragen eine oberflächliche Oxid-
gerne an Stellen haften bleiben, wo sie uner- oder Hydroxidschicht (wie Aluminium). Auch
wünscht sind. Auch Zucker klebt am Boden Stoffe wie Glas tragen solche Gruppen an ihrer
einer Kaffeetasse, Salz aber nicht am Boden Oberfläche,, ebenso
Oberfläche eben viele organische Verbindun-
eines Wasserglases, obwohl beide Substanzen gen (Cellulose, Zucker, Eiweiße). Solche polaren
zunächst makroskopisch unsichtbar in der jewei- S bstanzen bind
Su den zusätzlich an feuchter Luft
ligen Flüssigkeit aufgelöst sind und sich dann stets eine Schicht von Wassermolekülen, die als
absetzen. Das hängt mit der chemischen M ttler für kurzzeitige Bindungen zwischen
Mi
Struktur beider Stoffe zusamme m n. Zucker z ei polaren Materialien fungieren.
zw
gehört zu den Kohlenhydraten, die aus Auch raue Oberflächen erschweren das
Kohlenstoff-, Sauerstoff- und Wasser- G eiten, denn Unebenheiten aller Grö-
Gl
stoffatomen aufgebaut sind. Wasserstoff ßenordnungen können sich physikalisch
und Sauerstoff bilden im Zucker viele iin
neinander verhaken.

219
KAPITEL 4 Demokrits Erben

Beide Effekte bewirken, dass insbesondere der Dieser Schmelzpunkt ist vorteilhafterweise auch
Beginn des Gleitens erschwert ist, denn beste- nicht sehr scharf. Mineral- und Silikonöle zei-
hende Bindungen und Verhakungen müssen gen nämlich eine Mischzusammensetzung aus
zunächst gelöst werden. Man spricht von Haft- kurz- und langkettigen Molekülen mit jeweils
reibung und Gleitreibung, wobei letztere stets unterschiedlichen Schmelzpunkten. Das Ergebnis
leichter zu überwinden ist, weil sich Bindungen ist ein breiter Schmelzbereich, in dem sich die Vis-
4-183
Mineralöle. Im Gegensatz während der Bewegung nicht komplett wieder kosität nur graduell ändert. Durch Variation der
zu den Fetten und fetten bilden können. Zusammensetzung lassen sich diese Schmiermittel
Ölen bestehen reine Mi-
Extrem glatte und saubere Metalloberflä- leicht verschiedenen Einsatztemperaturen (wie
neralöle hauptsächlich aus
Kohlenwasserstoffketten chen können bei Berührung sogar spontan kalt im Sommer- und Winterbetrieb von Fahrzeugen)
(Paraffinen) unterschied- verschweißen, denn wie wir von der ÅMetall- anpassen. Aber nicht nur viskose unpolare Flüssig-
licher Kettenlängen mit bindung (Seite 146) her wissen, handelt es keiten dienen als Schmiermittel. Die Glitschigkeit
und ohne Verzweigun-
gen. sich dabei um ungerichtete Wechselwirkungen von Seifen beruht ebenso auf den geringen Wech-
zwischen Atomrümpfen und Elektronengas. selwirkungen zwischen unpolaren Molekülteilen.
Somit existiert bei engem Kontakt hochreiner Diese Salze langkettiger Fettsäuren besitzen ein
Metalloberflächen an der Grenzfläche überhaupt polares Ende, mit dem sie sich an Oberflächen
kein Unterschied mehr zu einer normalen Kris- heften, aber auch einen großen unpolaren Anteil,
tallebene im Material. der eine Haftung zwischen Oberflächen verhin-
In der Technik ist die Reibung zwischen be- dert (ÅSeifen – Mittler zwischen den Welten,
weglichen Teilen meist unerwünscht, denn sie Seite 338). Auch bestimmte Feststoffe in Pul-
führt zu Abrieb und mit der Zeit zur Zerstö- verform oder als Beimischungen zu Ölen können
rung des Materials. Deshalb werden Substan- die Aufgabe von Schmiermitteln übernehmen,
4-184 zen eingesetzt, um die Reibung zu verringern. allen voran Graphit und Molybdänsulfit. Diesen
Polydimethylsiloxan.
Die stärker polaren Diese Schmiermittel haben mehrere Aufgaben. festen Schmiermitteln ist gemeinsam, dass sich
Sauerstoff-Silicium- Sie müssen: ihre kovalenten Bindungen auf einzelne Schichten
Bindungen sind nach beschränken. Die Schichten sind untereinander
außen hin durch unpolare
Methylgruppen (CH3-) 1 die Oberflächen auf Abstand halten nur schwach gebunden und lassen sich deshalb
abgeschirmt. Maßge- leicht gegeneinander verschieben. —
schneiderte synthetische 2 Unebenheiten füllen
Silikonöle verhalten sich
daher ähnlich wie klas-
sische Öle, zeigen aber 3 eine Gleitschicht mit geringer Haftung aus-
eine bessere Langzeitsta- bilden.
bilität.

Obwohl die Verringerung der Reibung auch


durch konstruktive Lösungen (z.B. Kugel- und
Nadellager, Magnetfelder oder in den Trennspalt
eingeblasene Pressluft) unterstützt bzw. erreicht
werden kann, sind Flüssigkeiten oder Feststoffe als
Schmiermittel allgegenwärtig Die meisten dieser
Stoffe nutzen die nur geringen Wechselwirkungen
zwischen unpolaren Substanzen, die vornehmlich
Kohlenstoff- und Wasserstoff- oder Siliciumatome
enthalten. Hierzu gehören zuallererst die Ketten-
moleküle der Fette, der fetten Öle und Mineralöle
(ÅÖle, Fette und ihre Abkömmlinge, Seite 334)
bzw. Silikonöle. Deren Moleküle haften nur über
schwache unpolare Wechselwirkungen aneinander
und zeigen wenig Tendenz, sich mit den polaren
Gruppen dauerhaft an Metalloberflächen zu ver- r
binden. In der Nähe ihres Schmelzpunkts sind sie
andererseits genügend zähflüssig (hochviskos),
um einen dauerhaften Schmierfilm zu erzeugen.

220
KAPITEL 5

Erde und Feststoffe


Die Welt, auf der wir stehen
Vom Rohstoff zum Werkstoff
Metallische Werkstoffe
Anorganische Werkstoffe
Organische Materialien
Zum fünften Kapitel

„Erde“ nennen wir Menschen unseren Heimatplaneten, der Index, in dem Wissenschaftler jeden neu synthetisierten Stoff
nach der Planetenklassifikation ein „Gesteinsplanet“ ist. akribisch mit einer eindeutigen Nummer, der CAS-Nummer,
Das klassische „Element“ Erde steht auch als Metapher für kennzeichnen, weist tatsächlich schon über 50 Millionen Ein-
die unerschöpfliche Vielfalt von Festkörpern, denen wir in träge auf. Die Mehrzahl davon sind Feststoffe. Im Folgenden
der Natur begegnen und die wir gelernt haben, für unsere soll die Bezeichnung „synthetisch“ für vom Menschen ver-
Zwecke zu verändern. Deshalb soll uns der Begriff „Erde“ änderte Naturstoffe oder für völlig neue, in der Natur nicht
als Symbol und Synonym für den festen Aggregatzustand vorkommende Stoffe gebraucht werden. Obwohl dieses Buch
schlechthin dienen. Ihre „begreifbaren“ Bausteine verbinden hauptsächlich der Materie als Baustoff der Welt gewidmet ist,
wir am ehesten mit Materie in ihrer festen Erscheinungsform. werden die Grenze zur Materialwissenschaft zu überschrei-
Auch sogenannte „synthetische“ Stoffe können wir in diese ten und die künstlich aufgebauten Formen der Materie zu
Metapher einschließen, denn die Unterscheidung zwischen berücksichtigen sein.
natürlichen und künstlichen Stoffen ist selbst eine sehr künst-
liche Einteilung, da beide selbstverständlich aus den gleichen
natürlichen Atomen bestehen. Fast alle Festkörper, mit denen
wir es zu tun haben, entstammen direkt oder indirekt der
Erdkruste. Unser erster Blick in diesem Kapitel richtet sich
daher nach unten: auf die Welt auf der wir stehen.
Den Menschen unterscheidet von allen anderen Lebewe-
sen auf der Erde, dass er in der Lage ist, aus den „Rohstoffen“
der Erde „Werkstoffe“ zu gewinnen. Aus Ton entstehen so
Keramiken, aus Erz gewinnt der Mensch Metalle und aus
Bitumen und zerkleinertem Gestein wird ein solider Strassen-
belag. Die Anfänge dieser Fertigkeiten liegen weit zurück, und
viele Jahrtausende lang war die Werkstoffkunde vor allem
eine Frage von Versuch und Irrtum. Lange existierte keine
Theorie der Materie, die in der Lage war, vorherzusagen, wie
sich die Eigenschaften der Werkstoffe gezielt in die eine oder
andere Richtung verändern lassen. Und dennoch schritt die
Menscheit voran: von der Steinzeit in die Bronzezeit bis hin
zur Eisenzeit. In dieser befinden wir uns in einem gewissen
Sinn auch heute noch, selbst wenn Historiker im allgemeinen
ab dem Auftreten schriftlicher Zeugnisse keine Werkstoffe
mehr zur Klassifizierung von Perioden der Menschheitsge-
schichte nutzen. Natürlich hat sich seit der Frühgeschichte
der Menschheit manches getan, insbesondere seit dem Auf-
schwung der Naturwissenschaften, die uns eine Fülle völlig
neuer Materialien und Werkstoffe beschert haben: neben
den allgegenwärtigen Kunststoffen auch die Halbleiter, ohne
die die moderne Kommunikations- und Computertechnik
undenkbar wäre.
Die Beschäftigung mit Festkörpern führt daher heutzutage
sehr schnell zu den technischen Materialien und den mehrere
Millionen zählenden festen Stoffen, welche die Chemie bis
dato hervorgebracht hat. Der sogenannte Chemical Abstracts
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Erde und Feststoffe

Die Welt, auf der wir stehen Marmoraschenbecher zum Beispiel zeigt Eigen-
schaften, die wir am ehesten mit Feststoffen as-
Ein ganz besonderer Planet soziieren: Er ändert seine Form nicht ohne starke
Einwirkung von außen, er fühlt sich schwer
Materie in der Form, die wir „ergreifen“ kön- und kühl an. Wirft man ihn auf den Boden, so
nen, ist meist deutlich komplexer aufgebaut als zerbricht er. Andere Körper haben offensichtlich
in allen ihren anderen Erscheinungsformen, die völlig andere Eigenschaften.
man auch unter dem Begriff Fluide (Flüssigkei- Mehr als alle anderen Materieformen werden
ten und Gase) zusammenfasst. Zwischen den Feststoffe nicht nur von den offensichtlichen
Teilchen dieser „gefrorenen“ Materie herrschen Eigenschaften ihrer atomaren Bestandteile ge-
stärkere Kräfte, sie haften bleibend zusammen. prägt, sondern von den Strukturen, die diese
Und obwohl sich in diesem Aggregatzustand die auf verschiedenen Organisationsebenen bilden.
atomaren Bestandteile der Materie oft beliebig Das gilt bereits für natürliche, kristalline Fest-
gegeneinander verschieben lassen, behält die körper der Erdoberfläche mit ihren vielfältigen,
Materie aufgrund ihrer inneren Struktur ihre oft verblüffenden Eigenschaften. Dieses faszinie-
Gestalt bei. Oft sind es gerade die Unvollkom- rende Wechselspiel zwischen Komponenten und
menheiten und Fehler im Aufbau von Festkör- Struktur zeigt sich schon bei einfachen Modifi-
pern, die für wichtige Eigenschaften wie Härte kationen von chemischen Elementen, bei Legie-
oder Farbe hauptverantwortlich sind. rungen und Kunststoffen. Und damit bestimmen
Was ist überhaupt ein typischer Festkörper? sie durch ihre räumliche Anordnung die man-
Denken wir nur an einen Stein, ein Stück Eisen, nigfaltigen interessanten Eigenschaften, die wir
eine Kunststoffschachtel, ein Blatt Papier oder bei Festkörpern vorfinden. Wir haben uns die
gar an einen Wattebausch – all dies sind Fest- Materie als Materialien nutzbar gemacht, um
körper in verschiedenen Ausbildungsformen. Ein daraus unsere gesamte technische Zivilisation

Herkunft des Begriffs „Erde“

Die Herkunft des Namens „Erde“ ist umstrit- sachsen und Jüten brachten letzteren Begriff
ten. Sicher ist nur, dass sie der einzige Planet auf die Insel, wo er zum heutigen Wort „earth“
ist, deren Name sich nicht aus der griechi- umgeformt wurde.
schen oder römischen Mythologie herleitet. Auch für die fruchtbare, für Ackerbau
5-1
Vermutlich hängt der Begriff nicht mit dem nutzbare, lockere Auflage auf festem Gesteins- Alchimistisches Symbol.
griechischen Wort „éra“ zusammen, sondern untergrund im Gegensatz zum unfruchtbaren Die Alchimisten verwen-
geht auf die altgermanische Wurzel „eorðƃ“ Wüstensand wurde dieser Begriff verwandt. deten als Symbol für das
„Element“ Erde bzw. als
zurück. Mit „eorðƃ“ wurde das feste Land, Hier klingt die mythologische Bedeutung von Zutat zu ihren Rezepturen
die Landoberfläche, im Gegensatz zur Was- der Erde als eine tragende und gebärende Mut- ein auf der Spitze stehen-
serfläche bzw. die Oberwelt im Unterschied ter an, wie sie in vielen alten Kulturen ver- des Dreieck mit einem ho-
rizontalen Querstrich.
zur Unterwelt und zum Himmel bezeichnet. ehrt wurde. Auch im Brauchtum verwurzelte
Aus diesem Wortstamm entwickelten sich die Fruchtbarkeitsriten, Saat- und Erntebräuche
Worte „erda“ im Altgermanischen bzw. „er- haben solche mythologischen Bezüge. Als
tha“ im Altsächsischen. Zwischen ca. 250 und Name für unseren Planeten taucht „Erde“ erst
450 n. Chr. nach England einwandernde Angel- seit dem 14. Jahrhundert auf.

223
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

Dichte 5,52 g / cm3 aufzubauen. Aber es sind nur wenige Dutzend Bohrungen zugänglich sind, glauben wir heute
Masse 5,97 · 1024 kg Materialien, die für die Kulturgeschichte der Zi- durch geophysikalische Methoden den stoffli-
Mittlerer Radius 6370 km vilisation sowie in unserem täglichen Leben eine chen und strukturellen Aufbau des gesamten Erd-
Polabflachung 20 km bedeutende Rolle spielen. Wir haben gelernt, körpers einigermaßen zu kennen. Die Erdkugel
Bahnradius 149 600 000 km ihre Eigenschaften nach unseren Bedürfnissen wird in die drei Schalen Erdkruste, Erdmantel
Bahnexzentrizität 0,017 gezielt zu variieren und selbst Stoffe mit völlig und Erdkern gegliedert (Å Abbildung 5-3).
5-2 neuen exotischen Eigenschaften zu schaffen. In diesem Buch befassen wir uns nur mit
Die Erde als Planet. Wich- Mehr noch fallen sie aber bei modernen Meta- Feststoffen der Erdoberfläche bzw. mit denjeni-
tige geographische und
astronomische Daten un-
materialien ins Auge, die unglaubliche, geradezu gen, die aus geringer Tiefe gewonnen werden. Zu
seres Planeten. märchenhafte Eigenschaften aufweisen. denjenigen, die man „mit den Händen greifen“
Dieser feste Aggregatzustand der Materie kann, zählen Minerale, Gesteine und Erze. Diese
soll uns daher im ersten stofflichen Kapitel vor festen Bestandteile der Erdkruste nutzen wir
allen anderen beschäftigen. Obwohl Feststoffe, für die Schaffung von alltäglichen Gebrauchs-
bezogen auf das gesamte Universum, bei weitem gegenständen, für den Bau und die Ausstattung
nicht die häufigste Form der Materie sind, bil- unserer Häuser und für die Erzeugung neuer
den sie doch unzweifelhaft die interessantesten Werkstoffe.
Erscheinungsformen und verdienen daher eine Steine dienten bereits in prähistorischer Zeit
besonders breite Darstellung. als Baumaterial, als Werkstoff für Gebrauchs-
und Kunstgegenstände sowie als Schmuck.
Begriffe wie „felsenfest“, „grundsolide“ oder
Schalenbau der Erde „steinhart“ zeugen davon, dass die Erde und ihre
Bestandteile von uns als unveränderlich und „für
Obwohl nur die obersten Kilometer des gesamten die Ewigkeit gemacht“ wahrgenommen werden.
Erdkörpers für direkte Untersuchungen durch Dass diese Sichtweise bei genauerer Betrachtung
durchaus relativiert werden muss, werden wir
im Laufe dieses Kapitels noch erfahren. Gesteine
sind keineswegs so unveränderlich, Kristalle
nicht immer so komplett lupenrein, wie in unse-
rer idealisierten Vorstellung.

Wir leben auf einer „Eierschale“

Könnten wir die Erde maßstabsgetreu auf die


Größe eines Hühnereis schrumpfen, so wären die
Kontinente, auf denen wir leben, gerade einmal
so dick wie dessen Schale. Diese dünne Erdkruste
ist in sieben große und etwa ein Duzend klei-
nere Teile zerbrochen, die auf einer plastischen
Übergangsschicht zwischen Kruste und Mantel
„schwimmen". Geologisch werden diese Teile
Lithosphärenplatten genannt (Å Abbildung 5-4).
Größere Platten sind aus kontinentaler und
ozeanischer Kruste aufgebaut, kleinere nur aus
einer von beiden. Eine Lithosphärenplatte mit
beiden Krustentypen ist z. B. die Afrikanische
Platte. Kontinentale Kruste setzt sich aus einer
Vielzahl mineralogisch unterschiedlicher Ge-
5-3
Schalenbau der Erde. Das steine zusammen, deren Alter von der Entste-
unterschiedliche Verhal- hung der Erde vor ca. 4,6 Milliarden Jahren bis
ten von Erdbebenwellen
zur Gegenwart reicht. Die ozeanische Kruste ist
erlaubt Rückschlüsse auf
die Beschaffenheit des einheitlicher aus basaltischen Gesteinen aufge-
Erdinneren. baut und höchstens 200 Millionen Jahre alt.

224
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Diese Platten bedecken unseren Planeten voll- Sie setzt sich aus drei Sphären zusammen: Die
ständig und bilden die feste, auf Kontinenten oberste, gasförmige ist die Atmosphäre, dar-
bis 70 km, in den Ozeanen bis 10 km mächtige, auf folgt die Hydrosphäre, die alle Gewässer
oberste Schale der Erde. Der Geophysiker und wie Meere, Flüsse und Grundwasser umfasst.
Meteorologe ALFRED WEGENER (1880 – 1930) Auf einer Ebene oder darunter liegt die Litho-
stellte 1912 die Theorie auf, dass alle Landmas- sphäre mit Mineralen und Gesteinen. In deren
sen ursprünglich einen einzigen Superkontinent alleroberster, maximal wenige Meter mächtigen
bildeten, der vor ca. 200 Millionen Jahren in Auflage, der Bodenschicht, durchdringen sich
seine heutigen Einzelkontinente zerbrach. Diese alle drei Sphären.
Einzelteile drifteten auf einer plastisch-duktilen
Schicht, der Asthenosphäre, westwärts auseinan- Zusammensetzung der Erdkruste
der. Diese Theorie der Kontinentalverschiebung
wurde seit den 1960er Jahren zur Plattentekto- Nur die Kruste der Erde ist uns durch Bohrun-
nik-Theorie fortentwickelt. gen und Materialproben direkt zugänglich. Die
Geologen fassen unter dem Begriff Litho- bisher tiefste Bohrung erfolgte 1989 auf der rus-
sphäre die äußere, feste Schale, also die Kruste sischen Halbinsel Kola bis in 12,262 km Tiefe.
sowie den obersten Bereich des Erdmantels (li- Bis zu einer Tiefe von etwa 16 km wird die
thosphärischer Mantel) zusammen, ihre Un- Erdkruste hauptsächlich aus den in ÅTabelle 5-5
tergrenze wird durch eine temperaturbedingte (Seite 226) genannten Elementen aufgebaut.
Änderung der Festigkeit definiert. Ihre Mäch- Die meisten Angaben zur Zusammensetzung
tigkeit schwankt von wenigen Kilometern unter der Erdkruste beziehen sich auf diese durch-
Ozeanen bis zu 450 km unter alten Schilden. schnittliche Krustendicke. Vorherrschend sind
Der Bereich, in dem die Menschen mit den hier die Elemente Sauerstoff und Silicium, die in
verschiedensten Ausbildungen der Materie in Form diverser Silikate ca. 75 Prozent der Masse
Kontakt kommen, wird auch Erdhülle genannt. ausmachen. Die meisten Elemente kommen in

5-4
Lithosphärenplatten. Die starren Platten der Erdkruste (Lithosphäre) bestehen aus der basaltreichen und relativ dünnen
(5 – 10 km) ozeanischen Kruste bzw. aus der granitreichen dickeren (durchschnittlich ca. 35 km) kontinentalen Kruste.
Diese bilden die oberste Schicht des Erdmantels. Sie schwimmen auf der zähflüssigen, als Asthenosphäre bezeichneten
Mantelschicht und werden von Konvektionsströmungen im Erdmantel wie Eisschollen umhergetrieben. Ähnlich wie
hoch aufragende Schiffe einen großen Tiefgang besitzen, ist auch die kontinentale Kruste unter Gebirgsregionen am
dicksten. Sie erreicht dort eine Mächtigkeit von über 65 km.

225
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

Massen- Stoff- Mineralien und Gesteinen als Oxide vor (ÅTa- Bergbauhalden und auf Tausch- bzw. Verkaufs-
anteil mengen- belle 5-6). Alle übrigen Elemente sind nur in börsen nachgehen. Naturwissenschaftliche Mu-
anteil Spuren vorhanden, darunter auch so begehrte seen bieten interessante Einblicke in die bunte
Sauerstoff 49,4 55,1
Metalle wie Kupfer, Silber oder Gold oder das Welt der Minerale.
Silicium 25,8 16,3
biologisch immens wichtige Element Kohlenstoff. Der Begriff selbst geht auf die mittellateini-
Aluminium 7,57 5,0
Eisen 4,7 1,5
schen Worte mina(ra), Schacht, oder lat. minera-
Calcium 3,39 1,5 lis, Erzgestein, zurück und wurde im 16.Jahrhun-
Natrium 2,6 2,0 Bausteine der Erdoberfläche dert in den Sprachgebrauch eingeführt. Minerale
Kalium 2,4 1,1 sind natürlich vorkommende, meist chemisch
Magnesium 1,94 1,4 Alle natürlichen Feststoffe entstammen in der und physikalisch homogene, im Allgemeinen
Titan 0,63 0,4 Regel den obersten Schichten der Erdkruste bis anorganische, kristalline Festkörper, die durch
Wasserstoff 0,88 15,4 maximal 5 km Tiefe. Ihnen entnehmen wir alle einheitliche geologisch-mineralogische Prozesse
insgesamt 99,31 98,9 Erze, Minerale und Rohstoffe, die wir zu den uns gebildet werden. Sie sind die Bestandteile der
5-5 alltäglich umgebenden Materialien umbilden und Gesteine. Minerale, die direkt bei der Gesteins-
Die zehn häufigsten Ele- bearbeiten. Kristalline Festkörper wie Gesteine bildung entstehen, wie Amphibole oder Glimmer
mente der Erdkruste. Die
gehören neben pflanzlichen Rohstoffen zu den werden als Primärminerale bezeichnet; solche,
Angaben beziehen sich
auf eine durchschnittlich ältesten von Menschen verwendeten Werk- und die aus der Verwitterung oder der chemischen
16 km mächtige Erdkruste. Baustoffen. Gestein ist der geologische Begriff für Umwandlung vorhandener Minerale entstehen,
Die prozentualen Massen- typische Mineralmischungen, aus denen größere werden Sekundärminerale genannt. Die wichtigs-
und Stoffmengenanteile
unterscheiden sich wegen Teile der Erdkruste bestehen. Man unterscheidet ten Sekundärminerale sind Tonminerale.
der unterschiedlichen Magmatite, die aus Magma erstarrt sind, von Se- Nach ihren chemischen Hauptbestandteilen
Atommasse der Elemente dimentgesteinen, die sich aus Ablagerungen, auch werden die Minerale in zehn Mineralklassen
teilweise deutlich.
organischer Art, gebildet haben. Gesteine, die in unterteilt, welche durch römische Buchstaben
geologischen Prozessen einer starken druck- und gekennzeichnet sind. Die Klassifikation der Mi-
temperaturbedingten Umwandlung im Erdinne- nerale nach der Systematik von H. STRUNZ kom-
ren unterworfen waren, werden als metamor- r biniert zwei Prinzipien: Die Art der Anionen
Oxid Kontinen- Ozeanische phe Gesteine oder Metamorphite bezeichnet. In und den inneren Aufbau. Daraus ergeben sich
tale Kruste Kruste
diesem Kapitel wollen wir uns mit natürlichen nach der neuesten Einteilung 10 Mineralklassen
SiO2 57,3 49,5
Gesteinen, ihren wichtigsten Bausteinen, den (ÅKasten Mineralklassen). Die Mehrzahl sind
TiO2 0,9 1,5
Kristallen und Mineralen, ihrer chemischen Zu- anorganische Verbindungen; bis auf Vertreter der
Al2O3 15,9 16,0
FeO 9,1 10,5
sammensetzung sowie ihrer Nutzung und ihrer I. Mineralklasse (Elemente) sowie der X. Klasse
MgO 5,3 7,7 Umformung in höherwertigere Werkstoffe mit (Organische Minerale) handelt es sich um Salze.
CaO 7,4 11,3 veränderten Eigenschaften befassen. Über Kris- Gediegene Metalle wie Gold gehören zu den
Na2O 3,1 2,8 talle haben wir schon in Kapitel 4 gesprochen Mineralen der I. Klasse. Chemisch erzeugte Sub-
K 2O 1,1 0,15 und wir werden in diesem Kapitel weitere kristal- stanzen gelten nicht als Minerale; synthetische
line Substanzen kennenlernen. Doch was versteht Substanzen, die mit natürlichen Mineralen iden-
5-6
Krustentypen. Ungefähre man unter einem Mineral? tisch sind, heißen „synthetische Äquivalente“.
prozentuale Zusammen-
setzung ozeanischer und
kontinentaler Kruste. Die Eine bunte Vielfalt Tonminerale – klebrige Gesellen
Elementanteile sind auf
ihre Oxide umgerechnet. Am Wegrand, auf Bergbauhalden usw. ziehen Spaziergänge durch Feld und Flur sind beliebte
verschiedenfarbige, glitzernde, körnige Bestand- Freizeitaktivitäten. Selbst bei anhaltender Tro-
teile in Gesteinen die Aufmerksamkeit auf sich. ckenheit stößt man auf Wegen und abseits davon
Bei diesen „Körnern“ handelt es sich um Mi- auf Wasserlachen, die sich hartnäckig halten.
nerale (Plural auch „Mineralien"), die Kom- Nach Niederschlägen verwandeln sich besonders
Ionenaustausch ponenten von Gesteinen sind. Nach heutigem steile Wegabschnitte in unangenehme Rutsch-
Austausch schwach
Kenntnisstand gibt es ca. 4000 Minerale, doch bahnen, an Hosenbeinen und Schuhen breiten
gebundener geladener
Teilchen an zugänglichen nur 30 – 50 davon sind gesteinsbildend, und sich dünne Schmutzkrusten aus. Letztere lassen
Oberflächen von Fest- etwa 150 gelten als häufige Minerale. Die große sich im feuchten Zustand nur schwer entfernen,
körpern bei Kontakt mit Anzahl seltener, verschieden gestalteter und far- im trockenen Zustand kann man sie abbürsten.
Flüssigkeiten, die gleich-
sinnig geladene Ionen im biger Minerale bietet Mineraliensammlern ein Verursacht werden diese Phänomene durch Ton-
Überschuß enthalten. spannendes Hobby, dem sie mit Hammer auf minerale (Tone) im Boden und ihre Eigenschaften.

226
Erde, Wasser, Luft und Feuer

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Mineralklassen
# Klasse Beschreibung Beispiel
I Darunter fallen alle Metalle, Halbmetalle und Nichtmetalle, sofern sie als
Elemente
Reinelemente vorkommen. Sie bilden etwa 80 Minerale aus 24 verschiedenen
Elementen. Kupfer
II
Sulfide und Darunter fallen ca. 600 Minerale, von denen einige Sulfide (Sulfid-Anion S2–)
Sulfosalze wichtige Erze bilden (z.B. Eisen, Kupfer, Blei); ferner werden zu dieser Gruppe
alle Verbindungen von Metallen mit den Anionen der chalkogenen Elemente
(griech. Erzbildner) Selen (Se2–), Tellur (Te2–), Arsen (As3–), Antimon (Sb3–)
und Bismut (Bi3–) gezählt. Pyrit
III Verbindungen der Elemente Fluor, Chlor, Brom und Iod mit den Kationen
Halogenide
von Natrium (Na+) und Calcium (Ca2+) bilden ca. 140 Minerale.
Fluorit
IV
Oxide und Aus der Verbindung von Sauerstoff (O2–)und Hydroxid (OH–)
mit Metal-
Hydroxide len und Nichtmetallen sind etwa 400 Minerale bekannt. Das am weitesten
verbreitete Oxid mit zahlreichen Varianten von Quarz über Bergkristall bis
zum Achat ist das Siliciumdioxid SiO2. Sand
V Etwa 200 Minerale sind Salze der Kohlensäure, gebildet aus der Verbindung
Carbonate
und Nitrate des Anionkomplexes CO32–– mit den Kationen Ca2+ und/oder Mg2+. Das
bekannteste Mineral dieser Klasse ist CaCO3 in seiner metastabilen Form
Aragonit und der weit verbreiteten stabilen Form Calcit. Kalkstein
VI Etwa 125 schwer lösliche Minerale sind Salze der Borsäure (H3BO3), der
Borate
Metaborsäure (HBO2) und Tetraborsäure (H2B4O7).

Kernit
VII Etwa 300 Minerale sind Salze der Schwefelsäure mit dem Anionenkomplex
Sulfate
SO42–. Der bekannteste Vertreter diese Gruppe sind Anhydrit (CaSO4) bzw.
Gips (CaSO4 · 2 H2O). Gips
VIII Etwa 400 Minerale sind Sauerstoffsalze der Phosphorsäure (H3PO4), der
Phosphate,
Arsenate, Arsensäure (H3AsO4) und der Vanadiumsäure (H3VO4). Bekannte Minerale
Vanadate dieser Klasse sind Apatit, Türkis und Monazit.
Türkis
IX Silikate bilden mit heute 1085 bekannten Mineralen die mit Abstand größte
Silikate
und wichtigste Mineralgruppe in der Erdkruste und im Erdmantel. Grund-
baustein ist der SiO4-Tetraeder, bei dem ein Siliciumatom von vier Sauerstoff-
atomen umgeben ist. Im Erdmantel ist Olivin ein sehr häufiges Mineral. Die
wichtigsten gesteinsbildenden Minerale wie Glimmer, Amphibole, Pyroxene
und Feldspäte gehören zu den Silikaten. Letztere besitzen volumenmäßig einen
Anteil von 50–60 Prozent an der Erdkruste. Feldspäte und Glimmer bilden die
wichtigsten Ausgangsstoffe für die Verwitterungsbildung von Tonmineralen.
Synthetisch hergestellte Silikate liefern wichtige industrielle Werkstoffe, wie
Gläser oder Asbest, gelten aber nicht als Minerale. Kaolinit
X Eine kleine Anzahl von Substanzen, die durch biologische Prozesse erzeugt
Organische
Minerale wurden, werden zu den Mineralen gerechnet. So sind die Salze einiger orga-
nischer Säuren wie die der Oxalsäure Minerale, z. B. Whewellit oder Kleesalz
(Kaliumoxalat). Dagegen gelten alle Kohlen, Asbest und fossile Harze, wie
Bernstein, nicht als Minerale.
Abelsonit

227
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

Amphibol
Verbreitete Gruppe dop-
pelkettiger Silikate mit der
allgemeinen Formel
A0-1B2C5T8O22(OH)2

Glimmer
Verbreitete Gruppe von
Schichtsilikaten der allge-

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meinen Formel
I0,5–1 M2–3 [T
T4 O10 A2]

Die Buchstaben I, M, T, A
stehen für:
I: K+, Na+, Ca2+, Ba2+,
Rb+, Cs+, NH4+
M: Li+, Mg2+, Fe2+, Mn2+,
Zn2+, Al3+, Fe3+, Cr3+, 5-8 5-9
V3+, Ti4+ Tetraederschicht. Grundeinheit ist ein Siliciumion mit vier Oktaederschicht. Grundeinheit ist ein Magnesium- oder
T: Si4+, Al3+, Fe3+, B3+, tetraedrisch angeordneten Sauerstoffionen. Die Einheiten Aluminiumion, das oktaedrisch von sechs Hydroxidgrup-
Be2+ sind untereinander über gemeinsame Sauerstoffatome an pen umgeben ist. Die Einheiten sind untereinander über
A: OH–, F–, Cl–, O2–, S2– Ecken verbunden. gemeinsame Sauerstoffatome an Flächen verbunden.

Feldspate Tonminerale im engeren Sinne sind feinste


Verbreitete Gruppe (<2 Mikrometer), schichtartig aufgebaute, plätt-
von Gerüstsilikaten mit
der allgemeinen For- chenförmige Silikatminerale, die großenteils aus
mel (Ba,Ca,Na,K,NH4) verwitterten Glimmern oder Feldspäten durch
(Al,B,Si)4O8 Ionenaustausch entstehen. Sie können auch aus
Tonminerale verschiedenen Restprodukten chemischer Ver-
a. beliebige feinstkörnige witterung von Gesteinen und Mineralen neu
Minerale < 2 μm gebildet werden. Chemisch sind Tonminerale aus 5-10
b. fein- und feinstkörnige Zweischicht-Tonminerale. Die untere Schicht dieses
Schichtsilikate unterschiedlichen Kombinationen von Silicium-, Aluminiumsilikats ist aus siliciumhaltigen Tetraedern
Sauerstoff-, Aluminium- und Wasserstoffatomen (T-Schicht) zusammengesetzt, die obere Schicht aus
aufgebaut. aluminiumhaltigen Oktaedern (O-Schicht).
Tonminerale sind wichtige Komponenten
von Böden, die aufgrund ihres Baues einen we- kann auch durch ein Fe2+-Ion ersetzt sein. Nach
sentlichen Einfluss auf deren Wasserhaushalt Anzahl der beteiligten T- und O-Elementar-
und Fruchtbarkeit ausüben. Das Tonmineral schichten werden Zwei-, Drei- und Vierschicht-
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Kaolinit (ÅKaolin: Vom Ton zum weißen Gold, Tonminerale unterschieden. Daneben gibt es
Seite 232) bildet den Grundstoff für Keramik. Mischformen zwischen den einzelnen Typen,
Tonsedimente selbst bilden den Rohstoff für die sogenannten Wechsellagerungsminerale.
Ziegelsteine. Jedes Tonmineral p lättchen setzt sich dabei
Die Atome sind bei allen Tonmineralen in aus mehreren Abfolgen von T-O oder T-O-
zwei Elementarschichten angeordnet, nämlich T-Schichten zusammen, die durch Zwischen-
5-7
Tonminerale. Reine Tone
in der Tetraeder- (T) und in der Oktaederschicht schichten getrennt sind. Leere Zwischenschich-
aus Schichtsilikaten sind (O). Die negativ geladene Tetraederschicht be- ten werden als polar bezeichnet, mit Wasser
weiß. Die häufig anzutref- steht aus SiO4-Tetraedern, die untereinander und Kationen besetzte als unpolar. Unpolare
fenden intensiv gelben,
über gemeinsame Sauerstoffatome an Tetra- Zwischenschichten sind durch Kationenaus-
braunen und roten Fär-
bungen vieler tonhaltiger ederecken verknüpft sind. Mit ihren Spitzen tausch aufweitbar (ÅAbbildung 5-15). Infolge
Böden sind auf die Beimi- zeigen die Tetraeder zur Oktaederschicht hin. von Wasseraufnahme quellen einige Tonmine-
schungen von Eisen oder Di e O k taede r sc hi c h te n se l bst s in d aus rale auf und bilden unter anderem an Hosen-
Mangan zurückzuführen.
[Al(OH)6]- oder aus [Mg(OH)6]-Oktaedern beinen den eingangs erwähnten schmierigen
au f ge b aut. Da b ei ist ein A l uminium- o d er „Dreckfilm“. Bei Wasserentzug schrumpfen sie
Magnesiumatom von sechs Sauerstoffatomen wieder auf Staubkorngröße und lassen sich so
umgeben. Das zentrale Al3+- bzw. Mg2+-Ion leicht abbürsten.
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Schichtung der Tonminerale

Zweischicht-Tonminerale Dreischicht-Tonminerale Vierschicht-Tonminerale

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Zweischicht-Tonminerale be- Dreischicht-Tonminerale ha- Vierschicht-Tonminerale ha-
stehen aus einer Abfolge einer ben als Grundbaustein eine ben den Grundbaustein T-O-
T- und einer O-Schicht. Die mehrfache Folge von T-O-T- T-O, keine Zwischenschicht-
nach unten zeigenden Sauer- Schichten, getrennt durch un- Kationen und sind deshalb
stoffionen der Tetraeder bilden polare Zwischenschichten. An nicht quell- und aufweitfähig.
mit den oberen OH-Gruppen diesen stehen sich die negativ Wie bei den Zweischicht-Mi-
der Oktaeder aufgrund ihrer polarisierten Sauerstoffionen neralen bilden die Sauerstoff- 5-14
unterschie d lichen Polarität d er T-Schichten gegenüber Ionen d er Tetrae d erschicht Schrumpfungsrisse.
s ta b ile Wasserstoff b rücken und stoßen sich ab. Ein Zu- mit den OH-Ionen der Ok- Dreischicht-Tonminerale
können sich durch Was-
aus, die Verbindung wird da- sammenhalt der T-O-T-Stapel taederschicht stabile Wasser-
seraufnahme in unpolare
her als polare Zwischenschicht entsteht erst durch Einlage- stoffbrücken. Das häufigste Zwischenschichten um
bezeichnet. Deshalb können rung von Kationen (meist Al- Tonmineral dieser Gruppe ist mehr als 40 Prozent auf-
weiten: Der Ton quillt.
diese Tonminerale kaum durch kali- oder Erdalkali-Kationen) der Chlorit.
Diese Eigenschaft macht
Wasseraufnahme aufquellen in d en Zwisc h ensc h ic h ten. Böden mit Dreischicht-
und Nährstoffe können nur Dreischicht-Tone (z. B. Mont- Tonmineralen für die
am Rand angelagert werden. morillonit, Ilit) können in der Landwirtschaft interes-
sant, können sie doch
An Zweischicht-Tonmineralen Zwischenschicht Wasser ein- Dünger aufnehmen und
reiche Böden sind daher relativ lagern und quellen. Wasser- Wasser speichern. Bei
unfruchtbar. Bekanntester Ver- entzug führt zur Schrumpfung Wasserverlust schrumpfen
sie und zeigen auffällige
treter ist der Kaolinit. (ÅAbbildung 5-14). Trocknungsrisse auf un-
terschiedlichen Größen-
skalen.

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5-11 5-12 5-13


2-Schicht. Wiederholungen einfacher 3-Schicht. Einschluß von Metallka- 4-Schicht. Tetraeder und Oktaeder-
Tetraeder-Oktaeder-Doppelschichten tionen zwischen negativ geladenen Schichten in T-O-T-O-Anordnung. 5-15
(T-O). Tetraederschichten in T-O-T-An- Tonminerale als Speicher.
ordnung. Quellfähige Tonminerale
(hauptsächlich Dreischicht-
Tonminerale) speichern
Gebrannte Tonminerale – det. Spätestens ab 6000 v. Chr. stellte man in Wasser und Nährstoffe.
Zwischen den randlich oder
die Tonkeramiken Griechenland Steingutbehältnisse (Amphoren) ganzflächig aufgeweiteten
her. In Städten sieht man häufig noch Ziegel- negativ geladenen Schich-
gebäude, die sich zum Teil seit der Römerzeit ten können insbesondere
Metallkationen mit Katio-
Werkstoffe aus Tonmineralen erhalten haben, zum Teil aber auch aus neuester nen aus dem umgebenden
Zeit stammen. Medium ausgetauscht
Die Tonkeramik gehört zu den ältesten Ma- Die traditionelle Tonkeramik ist nach ih- werden.
terialien, die Menschen durch Veränderung ren Hauptkomponenten, den bei Wasserzugabe
von Naturstoffen herstellten. Ziegelsteine aus plastifizierbaren Ton(mineralen) benannt. Kao-
gebranntem Ton wurden als Baumaterial vor linit, Illit und Montmorillonit tragen mehr als
etwa 10 000 Jahren in Mesopotamien verwen- 20 Prozent zum Gesamtgewicht bei. Weitere
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

Vorgang Brenntempera- Keramikprodukt bezeichnet. Keramiken, die kein SiO2 enthalten


tur (in °C) und ausschließlich aus Oxiden bestehen (das
Austreiben des Wassers bei bis zu 120 °C heißt „oxidisch“ sind), heißen Oxidkeramiken.
Abspaltung des Hydratwassers der Tone bei Führen sie außer Sauerstoff auch Kohlenstoff
450 – 600 °C
oder Stickstoff als elektronegativen Bestandteil,
Verfestigung durch erste Grenzflächen- 900 – 1100 Ziegelwaren,
reaktionen Irdengut
nennt man sie Nichtoxidkeramiken. Chemisch
Verdichtung und teilweises Schmelzen 1150 – 1300 Steingut, Steinzeug, sind Keramiken also kristalline Mehrkompo-
(Sintern) Klinker nentenstoffe von Metallen oder Halbmetallen
Schmelzen 1300 – 1450 Porzellan mit Nichtmetallen (Salzen). Keramiken haben
1300 – 1800 feuerfeste Tonwaren stabile Kristallgitter, die durch starke Ionen- und
1600 – 1800 Oxidkeramiken Atombindungen (ÅTeilchen finden zusammen,
1700 – 2500 Nichtoxidkeramiken Seite 144) zusammengehalten werden; deren
Starrheit ist für die Brüchigkeit von Keramiken
Der Scherben Bestandteile sind Quarz, Feldspat, Glimmer und bei Beanspruchung verantwortlich.
Mit diesem Begriff wird
die gebrannte, noch un-
Kalk. Durch das Brennen wird ein als Sintern Nach der Korngröße werden Grobkeramik
glasierte, entweder poröse bezeichneter Prozess ausgelöst. Dabei schmilzt und Feinkeramik unterschieden. Erstere hat eine
oder dicht gesinterte das vor allem in den Feldspäten vorhandene Korngröße bis 0,1 Millimeter, ihr Scherben ist
Grundmasse der Keramik
Alkalioxid (K2O, Na2O) zunächst bei etwa porös und oft grobwandig. Kristalle und fremde
bezeichnet.
950 °C. In dieser alkalischen Schmelze löst sich Einsprenglinge sind mit bloßem Auge zu erken-
Quarz (er würde unter Standardbedingungen nen. Die Wasseraufnahmekapazität des Scher-
erst bei viel höherer Temperatur schmelzen). bens beträgt mehr als 6 Gewichtsprozent. Durch
Die Schmelze wird durch den Quarz zäher und Eisenverbindungen ist er oft rötlich gefärbt. Zu
verkittet die ungelösten Aluminiumsilikate, wel- dieser Gruppe gehören Baukeramiken wie Ziegel-
che die Hauptbestandteile der Tonkeramiken stein, Tonrohre, Terrakotta und Schamottsteine.
darstellen. Das Brennprodukt ist teilweise nicht Zur Feinkeramik zählen solche mit einer Korn-
wasserdicht. Wird Dichtigkeit gewünscht, so größe von weniger als 0,05 mm. Wichtige Ver-
muss die Oberfläche zusätzlich glasiert werden. treter sind Tonzeug, Steinzeug sowie Porzellan.
Rohstoffe sind verschiedene Tonsedimente, Erst auf der Basis feuerfester Keramikwerk-
Quarzsand und Feldspäte, die als plastische stoffe, die um 1500 in Freiberg/Sachsen ent-
Komponenten bezeichnet werden. Als Fluss- wickelt wurden, konnten Schmelztiegel erzeugt
mittel werden Kalk, als Plastifikatoren Leim, werden, die ab dem 19. Jahrhundert im indust-
Gelatine und Gummiarabikum hinzugefügt. Sie riellen Maßstab zum Schmelzen von Glas und
sorgen für eine bessere Formbarkeit des Materi- Metallen genutzt wurden. Für die chemische
5-16
Ungebrannter Ton. Unver- als und verbrennen beim Brennprozess. Industrie bildeten säurefestes Steinzeug und Por-
netzte Plättchen zellan lange Zeit unersetzbare Korrosionsschutz-
Keramik werkstoffe. Im Lauf der industriellen Revolution
ergänzten neue Keramiktypen die traditionelle
Der Begriff Keramik stammt aus dem Franzö- Tonkeramik. Als erste kam im 19. Jahrhundert
sischen, dort entlehnt aus dem Griechischen die Silicatkeramik hinzu, im 20.Jahrhundert folg-
keramos (Töpfererde) bzw. keramikéé (Töpfer- ten technische Hochleistungskeramiken. Noch
ware). Ursprünglich umfasste der Begriff nur heute wird die Form- und Hitzebeständigkeit
die aus formbaren Tonmassen hergestellten traditioneller Tonkeramiken geschätzt.
und wärmegehärteten Produkte. Heute wird
der Begriff ausgedehnt auf feinkörnige, meist Tongut
anorganische Stoffe, die bei Zimmertemperatur
unter Wasserzugabe plastisch formbar sind und Unter dem Begriff Tongut werden Tonkeramiken
bei Temperaturen von mehr als 900 °C durch zusammengefasst, deren Scherben nach einem
Sintern in einen harten, wasserfesten Körper Brand bei ca. 900 °C porös und wasserdurchläs-
5-17 überführt werden. Das durch das Sintern er- sig ist. Die Wasseraufnahmefähigkeit von Ton-
Gebrannter Ton. Die Alumi- zeugte Rohprodukt heißt „der Scherben“. Die gut liegt bei über 5 Prozent. Zu dieser Gruppe
niumsilikat-Körnchen werden
durch geschmolzene Bestand- klassischen Tonkeramiken werden aufgrund ih- gehören Baukeramiken wie Ziegelsteine und
teile verbacken. rer Grundbestandteile auch als Silikatkeramiken Gebrauchskeramiken wie Irdengut und Steingut.

230
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Baukeramiken 5-18
Tonkeramische Produkte.
Tonkeramische Produkte
begegnen uns im täglichen
Leben aller Kulturen von der
Ziegelsteine

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Steinzeit bis heute. Nach
Korngröße und Gefüge-
Früher ein vertrauter Anblick auf Gebäudebau- merkmalen des Scherbens
stellen, heute eher ein seltener: Paletten mit röt- unterscheidet man zwischen
Tongut und Tonzeug.
lichen Ziegelsteinen.
Der Ziegelstein, auch Backstein oder Ziegel,
ist der älteste künstliche Baustein der Mensch-
heit. Sein Name leitet sich vom lateinischen immer stärker mechanisiert und automatisiert:
Wort „tegula“, Dachziegel ab, ursprünglich ein Ziegelwerke liegen meist in unmittelbarer Nach-

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


kleinformatiger Quader mit einem Verhältnis barschaft von Tongruben; die Aufbereitung der
von Breite zu Länge von 2 : 1. Unregelmäßig Rohstoffe und die Formgebung der Ziegel erle-
handgeformte, luftgetrocknete Quader, Adoben digen große Maschinen. In den noch weichen
genannt, waren die ersten künstlichen Bausteine, Ton drücken spezielle Pressen Löcher hinein und
geschaffen in niederschlagsarmen Regionen im schneiden mittels eines Drahtschneiders aus der
Nahen Osten sowie in Südasien. Formschablo- endlosen Tonmasse Ziegel heraus. Die Rohzie- 5-19
nen wurden erstmals vor 7000 – 6500 Jahren gel werden dann bei Temperaturen um 100 °C Vollziegel. Wegen hohem
Gewicht und schlechter
in Mesopotamien verwandt, um 4000 v. Chr. 24 – 48 Stunden getrocknet. Wärmedämmung heute
wurden die ersten gebrannten Ziegel in Ägyp- Hohe Herstellungskosten, sowie hoher Ar- r selten eingesetzt.
ten hergestellt. Von dort verbreitete sich die beitskräfte- und Zeitaufwand führten dazu, dass
Verwendung des Ziegelsteins bald im gesam- der Ziegelstein von modernen Baustoffen wie
ten Mittelmeerraum. In den ersten nachchrist- Beton (Å Eintöniges Grau, buntes Graffiti) ver-

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


lichen Jahrhunderten brachten die Römer den drängt wurde. Im „modernisierten Gewande“ als
Ziegelstein nach Mitteleuropa. Eine Blütezeit Klinker findet man spezielle Ziegelsteine als „Ver-
r
erlebte der Ziegelstein – in Ermangelung an- blender“ vor Betonmauern oder als Pflastersteine.
derer, ergiebiger Natursteinquellen – ab dem Heute wird „Ziegel“ als Oberbegriff für eine
12. Jahrhundert in Norddeutschland, als dort Anzahl von keramisch gebundenen, künstlichen
die Bauten der Backsteingotik wie Rathäuser, Bausteinen aus gebranntem Ton verwendet, z. B. 5-20
Schlösser, Kirchen und vereinzelt Brücken er- Mauer-, Dachziegel, Bodenplatten und Klinker. Lochziegel. Noch immer
ein gefragter Baustein für
richtet wurden. Da die Herstellung von Ziegeln Rohstoffe für traditionelle Vollziegel bilden
Innenwände.
auf der Verwendung von Material aus lokalen je nach Ziegelart Mischungen aus tonhaltigen
Ton- bzw. Lehmgruben beruhte, fiel die Qualität (fetten) Lehmen und Tonen, denen bei zu fetten
der Bausteine zusammensetzungsbedingt in den Tonen Sande und Kalkgranulate beigemischt
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

folgenden Jahrhunderten sehr unterschiedlich werden. Diese Masse wird bei Temperaturen von
aus. Erst die Einführung des Ringofens im Jahr 900 – 1200 °C gebrannt. Gebrannte Ziegel bilden
1859 durch FRIEDRICH EDUARD HOFFMANN ein sehr widerstandfähiges, verwitterungsbestän-
(1818 – 1900) ermöglichte die Massenerzeugung diges Baumaterial. Bei normalem oxidierendem
von gleich hochwertigen Ziegeln. Damit war die Brennen führt ein hoher Aluminiumoxidgehalt
Voraussetzung geschaffen, den Bedarf an Milli- [Al2O3] zu braunen, ein hoher Kalkgehalt zu gel- 5-21
Klinkerpflaster.
arden genormter Ziegel für die Industrie- und ben und ein hoher Eisen-II-Oxid-Gehalt [Fe2O3]
Wohnbauten in den Wachstumszentren seit dem zu rötlichen Farbtönen. Durch den Brand wird
letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu decken. das Wasser ausgetrieben, der Ton verliert seine
Bis ins frühe 20. Jahrhundert waren Ziegel- Plastizität, und es bilden sich amorphe Glas-
steine ein wichtiges Baumaterial für den Haus- phasen, die dem Ziegel-Korngerüst eine große
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

bau. Der gründerzeitliche Wohnungsbau war Stabilität verleihen.


ohne Ziegelsteine undenkbar: In damaligen Da Ziegel heute der Wärmedämmung und
Miethäusern wurden bis zu 600 000 Ziegel ver- -speicherung dienen, werden dem Ton Zusatz-
baut; rasch wachsende Großstädte wie Berlin stoffe wie unbehandeltes Sägemehl, Kunst-
verbrauchten davon Milliarden. Im Laufe des stoffkügelchen und Abfälle aus der Papierher- 5-22
20. Jahrhunderts wurde die Ziegelherstellung stellung beigemischt, sogenannter Schaumton, Kalksandziegel.

231
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

der beim Brennvorgang mit Temperaturen von ältesten Keramik- und Kunsterzeugnissen der
800 – 1200 °C rückstandslos verbrennt. Der ge- Menschheit.
brannte Ziegelstein ist dann von zahllosen, luft- Steingut besteht zu 50 Prozent aus plasti-
gefüllten Poren durchsetzt (Porosierung), welche schem Ton, zu 45 Prozent aus Quarz und zu
eine gute Wärmespeicherung und Luftzirkula- 5 Prozent aus Feldspatpulver. Durch Brennen
tion ermöglichen. Unter dem Label „Poroton- entsteht ein nicht wasserdichter, heller und po-
ziegel“ werden derartige Bausteine vertrieben. röser, undurchsichtiger Scherben, der erst durch
Infolge dieser Herstellungsprozesse und An- Glasurauftrag dicht wird. Das Steingut wird zu
forderungen hat sich das Erscheinungsbild des Gebrauchsgütern des Alltags wie Waschbecken,
traditionellen „Klein- oder Vollziegels“ zum heu- Kloschüssel oder Alltagsgeschirr, u.a. Kaffeebe-
tigen Lochziegel gewandelt. Lochziegel werden cher, verarbeitet. Als Massenprodukt für Tafel-
inzwischen als umweltfreundliche, energiespa- geschirr trat das Steingut 1760 von England aus
rende Bausteine hauptsächlich zur Aufmauerung seinen Siegeszug an. Damals eröffnete JOSIAH
von Innenwänden genutzt. WEDGWOOD, ein Großvater von CHARLES DAR-
Der Klinker ist ein spezieller Ziegelstein: Bei WIN, seine bis heute bestehende Manufaktur.
Brenntemperaturen bis zu 1500 °C verschmilzt
die Rohmasse aus Schamotte, Feldspäten und Tonzeug
Tonen so stark, dass hochfeste, teilweise glasar-
tige, fast porenlose Bausteine entstehen. Klinker Unter dem Begriff Tonzeug werden Tonkerami-
sind frostbeständig, extrem druckfest und resis- ken zusammengefasst, die aufgrund der hohen
tent gegen Säuren und Laugen. Sie werden u.a. Brenntemperatur von über 1000 °C wasserdicht
als Fassadenverkleidung, im Ofenbau, bei der sind und deshalb nicht mehr glasiert werden
Auskleidung von Kanalschächten und als Pflas- müssen. Steinzeug und Porzellan bilden seine
tersteine von Wegen und Plätzen genutzt. beiden Hauptproduktgruppen, die nach Farbig-
Heute häufig sichtbare weiße Kalksandziegel keit unterschieden werden.
sind trotz ihres Namens keine echten Tonke-
ramiken. Denn sie werden aus quarzreichen Steinzeug
Sanden gemischt mit Kalkmilch aus Fett- oder
Magerkalken hergestellt. Diese ziegelartigen Bei der Herstellung von Steinzeug werden haupt-
Bausteine werden in speziellen Druckkesseln bei sächlich illitische Tone (ÅKasten Schichtung
circa 200 °C durch Dampfbehandlung erzeugt der Tonminerale, Seite 229) verwendet. Das
und gehärtet. Bei diesem Verfahren werden die porzellanähnliche, aber nicht durchscheinende
Oberflächen von Sandkörnern aufgeschlossen Brennprodukt ist hell bis braun und besteht
und die Kieselsäure kann mit dem Kalkhydrat durchschnittlich aus 25 – 55 Prozent Scherben-
reagieren. Neu gebildete Calciumhydrosilikate glas, 25 – 50 Prozent Quarz und Cristoballit
verkitten die Körnchen. Verwendet werden diese (eine Quarzvarietät) sowie aus 15 – 35 Prozent
dampfgehärteten Bausteine bei Innen- und Au- Mullit (ein Silikatmineral). Seit ca. 1350 wird
ßenwänden u.a. zum Schallschutz (ÅPorenbe- in Europa Steinzeug für Gebrauchsgegenstände
ton, Seite 248). gebrannt; bekanntes Beispiel ist Siegburger Stein-
zeug, überzogen mit einer harten, chemisch re-
sistenten Salzglasur (ein Natrium-Aluminium-
Gebrauchskeramiken Silikat [Na2Al2Si4O12]). Hauptprodukte bildeten
Steinzeugkrüge, die noch lange bei Bierfesten
im Umlauf waren. Heute wird Steinzeug haupt-
Irdengut sächlich für Boden- und Wandfliesen sowie für
Sanitärwaren genutzt.
Das farbige Irdengut wie Töpferwaren, Blu-
mentöp f e o d er Ge b rauc h stonge f ä ß e er h ä l t Kaolin: Vom Ton zum „weißen Gold“
seine rötliche Tönung durch Beimengung von
Eisenoxid. Sein Scherben ist porös, wasser- Tagtäglich kommt man im Alltagsleben direkt
durchlässig und weicher als der des Steinguts. oder indirekt mit Produkten aus Tonmineralen in
Töpferwaren und Terrakotta gehören zu den Kontakt, z.B. mit Trink- oder Essgeschirr; sonn-

232
Erde, Wasser, Luft und Feuer

tags oft mit Porzellangeschirr, dessen Rohstoff gen Seltenheit und seiner äußeren Eleganz wurde
Kaolin ist. Kaolin, auch Porzellanerde genannt, Porzellan im barocken Prachtstreben fast dem
ist ein weißes Tongestein, das neben Glimmer Gold gleichgesetzt. Der eigentliche Erfinder des
und Quarz hauptsächlich aus dem Zweischicht- europäischen Porzellans war der Chemiker und
Tonmineral Kaolinit besteht. Sein im 18. Jahr- Mineraloge EHRENFRIED WALTER VON TSCHIRN-
hundert eingeführter Name leitet sich von einem HAUS (1651 – 1708), dessen Arbeiten JOHANN
Vorkommen am Berg Gaoling in der chinesischen FRIEDRICH BÖTTCHER (1682 – 1719) nur vollen-
Provinz Jiangxi ab. Kaolin ist das Endprodukt dete. Der König erkannte rasch den Wert der
aus der Verwitterung feldspatreicher Gesteine Tschirnhaus-Böttcherschen Erfindung und ließ
wie Granit (ÅMagmatite und Metamorphite, 1710 in Meißen die erste europäische Porzellan-
Seite 244) in humiden Klimazonen. Chemisch manufaktur errichten.
ist reiner Kaolin ein natürliches Aluminiumsi- Rohstoffe für das Porzellan sind das Ton-
likathydrat [Al4(OH)8Si4O10] mit einer hohen gestein Kaolin (4 0 – 70 Prozent), Quarz
Schmelztemperatur von 1780 °C. Fügt man zu (15 – 35 Prozent) und Feldspat (10 – 30 Prozent).
Kaolin Wasser hinzu, so bildet er eine plastische wobei letzterer als Flussmittel dient.
Masse, die beliebig verformbar ist; nach der Wär- Je nach der Zusammensetzung unterschei-
mebehandlung bleibt die Form erhalten. Beim det man Weichporzellan mit den Anteilen
Sintervorgang wird oberhalb von 400 °C das re- 40/30/30 und Hartporzellan mit den Anteilen
lativ fest gebundene Kristallwasser ausgetrieben. 50/25/25. Durch das Brennen werden die mit
Neben seiner Hauptverwendung als Porzel- Quarz und Feldspat gemischten Tonminerale in
lanrohmasse dient Kaolin in der Papierherstel- harte, unlösliche Aluminiumsilikate wie Mullit
lung (Å Papier, Seite 289) als Füllstoff sowie als [(Al2O3)3 · (SiO2)2] und Sillimanit (Al2SiO5) um-
Aufheller, in der Kosmetikindustrie als Rohstoff gewandelt, die beide auch natürlich vorkommen.
zur Pudererzeugung. In einem letzten Arbeitsgang wird dann eine
Veredlung des Porzellans mittels Einbrennen
Porzellan von Glasur vorgenommen. Das so erzeugte Por- r
zellan besitzt große Härte und ist basen- und
Das wertvollste und am weitesten verbreitete säureresistent, lediglich Flusssäure (HF) kann
Tonzeug ist Porzellan. Die Herkunft der Na- Porzellan angreifen. Porzellan ist ein elektrischer
mens ist umstritten: Einige Quellen leiten ihn Nichtleiter, weshalb WERNER VON SIEMENS 1849
vom lateinischen Wort porcella, Schweinchen, Porzellanisolatoren beim Bau einer Telegrafen-
ab, in Anspielung auf den italienischen Namen leitung von Frankfurt/Main nach Berlin nutzen
„porcellana“ der Kaurischnecken (Cypraeidae); konnte. Außerdem zeigt sich dieser Werkstoff
andere leiten ihn von einem gleichnamigen por- hitze- und formbeständig, wie man bei heißem
tugiesischen Konsul ab, der das chinesische Por- Kaffee oder Tee in einer Tasse aus Meißner Por-
zellan erstmals nach Europa brachte. In China zellan feststellen kann.
wurde dieses tonkeramische Produkt um 620
n. Chr. erstmals erzeugt und der Herstellungs- Hochleistungskeramiken
prozess über Jahrhunderte geheim gehalten.
Erst die Gier europäischer Fürsten, insbe- Unter dem Begriff Hochleistungskeramiken
sondere das grenzenlose Verlangen des Königs (auch: technische Keramiken oder Sonderkera-
Friedrich August I. von Sachsen, brachte das miken) werden keramische Massen zusammen-
Wissen um die Porzellanerzeugung im 18. Jahr- gefasst, in deren Rohmasse der Tongehalt unter
hundert nach Europa. Aufgrund seiner damali- 20 Prozent liegt. Sie basieren auf synthetisch er-
5-23
Porzellan. Ausstellung des
Porzellan-Museums Mei-
ßen, Sachsen.
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

233
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

zeugten, plastischen Ausgangsstoffen, die durch Silikaten ist gering. Die wichtigsten Metalloxide
Brennen verdichtet und gehärtet werden, und sie sind Aluminiumoxid (Al2O3) mit 85 Prozent
erreichen sehr große Härten. Ihrer Korngröße Anteil, Magnesiumoxid (MgO), Titandioxid
nach gehören sie zu den Feinkeramiken, ihrer (TiO2) und Zirkoniumdioxid (ZrO2), selten
mineralogisch-chemischen Zusammensetzung kommen mehrkomponentige Mischoxide wie
entsprechend werden sie in Feldspat-, Oxid- und FeCr2O4 vor. Bei diesen Keramiken überwiegen
Nichtoxidkeramiken unterteilt. Derartige Kera- ionische Me-O-Bindungen (Å Ionenbindung,
miken bestehen aus kristallinen Phasen sowie Seite 145), ihre Kristalle werden aus dichten
einem hohen Anteil an Glasphase aus Silicium- Packungen von Sauerstoffionen aufgebaut, in
dioxid. In der Regel handelt es sich um neue, im deren Lücken Metallkationen eingelagert sind.
20. Jahrhundert entwickelte Keramikwerkstoffe Der Scherben besitzt nur eine geringe oder gar
wie Oxide, Nitride, Carbide, Boride, Silicide keine Glasphase. Aus diesem Kristallaufbau
und Titanate. ergeben sich hohe Verschleiß- und Hochtem-
peraturfestigkeit und Härte, hohe Zähigkeit,
Feldspatkeramiken gutes Isolationsvermögen und hohe Wärmeleit-
fähigkeit, aber auch Sprödigkeit und geringere
Heutige Dentalkeramiken werden in drei Grup- Toleranz gegenüber Temperaturschocks.
pen eingeteilt, in Feldspatkeramiken, in Oxidke- Die Anwendungsbereiche von Oxidkerami-
ramiken (ÅOxidkeramik) sowie in Glaskerami- ken sind vielfältig und hochwertig: Im Maschi-
ken. Diese Keramikmassen unterscheiden sich nenbau, in der Elektronik, in der Verfahrens-,
in ihrer stofflichen Zusammensetzung und in Hochtemperatur-, Elektro- und Medizintechnik
ihren Eigenschaften erheblich von den traditio- werden daraus unterschiedliche Beschichtungen
nellen Keramiken. Bei Feldspatkeramiken steigt und Bauteile hergestellt. Im medizinischen Be-
der Anteil von Feldspäten in der Rohmasse auf reich werden daraus Gelenk- oder Schulterpro-
über 60 Prozent, bei speziellen Dentalkeramiken thesen sowie insbesondere aus Zirkoniumdi-
sogar auf 70 – 80 Prozent. Weitere Bestandteile oxid Zahnersatzteile sowie Implantate erzeugt.
dieses Dreiststoffsystems sind Ton bzw. Kaolin Eine bedeutende Untergruppe derartiger Me-
(0 – 5 Prozent) sowie Quarz (15 – 25 Prozent). talloxidkeramiken sind die Piezokeramiken, zu
Mit geringen Mengen an Farbstoffen werden denen Blei-Zirkonat-Titanat (PZT, Pb(Zr,Ti)O3)
Zahnfarben möglichst naturgetreu nachgeahmt.
Unter Zugabe von Tonerde (Al2O3) oder
Zirkon (ZrSiO4) werden daraus spezielle mehr-
phasige Keramikwerkstoffe, die weitere Anfor-
derungen erfüllen. Im Fertigprodukt verleiht
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

insbesondere der Kalifeldspat (KAlSi3O8) diesem


Keramiktyp hohe Härte, eine höhere Wärme-
ausdehnung sowie chemische Beständigkeit. Die
Keramik enthält nicht schmelzbare Kristalle, die
in eine amorphe Glasphase eingebettet sind. Ein
hoher Anteil an Glasphase im fertig gebrannten 5-24
Oxidkeramiken. Zahnräder aus Zirkonoxid-Keramik (ZrO2).
Produkt verstärkt diese Eigenschaften. Abhängig
von der Brenntemperatur werden unterschiedli-
che Ersatzteile erzeugt, bei Temperaturen von
1260 – 1400 °C Prothesezähne, bei Temperaturen
von 1080 – 1260 °C Jacketkronen.
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

Oxidkeramiken

Diese neuen, keramischen Werkstoffe bestehen


zu über 90 Prozent aus einphasigen, hoch-
schmelzenden Metalloxiden, welche kostenauf- 5-25
wendig erzeugt werden müssen; ihr Anteil an Nichtoxidkeramiken. Gelenklager aus Siliciumnitrid (Si3N4).

234
Erde, Wasser, Luft und Feuer

gehört. PZT wird aufgrund seiner Eigenschaft, gewinnen wir einen schwachen Eindruck von
auf Veränderungen der elektrischen Feldstärke der großen Vielfalt der Gesteine auf der Erde.
mit Erwärmung oder Abkühlung zu reagie-
ren (elektrokalorischer Effekt) verstärkt in der Steine oder Gestein?
Kühltechnik eingesetzt.
Geowissenschaftler gebrauchen den Begriff
Nichtoxidkeramiken „Gestein“ für einen zusammenhängenden, ein-
heitlichen, harten, kartierbaren Schichtkörper,
Diese modernen Keramikstoffe entstehen zwar der ein Ergebnis geologischer Prozesse ist. Ab-
wie Tonkeramiken aus plastischen Rohmas- grenzbare Gesteinskörper weisen eine einheitli-
sen, die gebrannt werden. Sie bestehen jedoch che mineralische Zusammensetzung sowie glei-
aus synthetisch hergestellten Verbindungen wie che chemische und physikalische Eigenschaften
5-26
Carbiden, Nitriden oder Boriden. Dazu gehören auf. Für Petrographen (Gesteinskundler) sind Bunte Steine. Kies an der
unter anderem Siliciumcarbid (SiC), Siliciumni- Gesteine in der Regel natürliche, vielkörnige Südküste von England.
trid (Si3N4), Borcarbid (B4C), Bornitrid (BN), und heterogene Gemische von fest miteinander
Titancarbid (TiC) und Titanborid (Ti3B4). verbundenen Mineralaggregaten. Es gibt auch
Bei diesen keramischen Werkstoffen über- Einmineral-Gesteine, z. B. bestimmte Kalke.
wiegen kovalente Bindungen mit starken Ein Stein dagegen bezeichnet – oft umgangs-
Bindungsenergien und mit locker gepackten sprachlich – ein einzelnes, nicht mehr mit dem
Netzwerkstrukturen im Kristallgitter. Daraus Untergrund verbundenes, unterschiedlich gro-
ergeben sich als hervorstechende Eigenschaf- ß es Bruchstück von Gesteinen. Geowissen-
ten hohe Festigkeit und Härte, hohe chemi- schaftlich charakterisiert die Nachsilbe „...
sche Stabilität und Korrosionsresistenz sowie stein“ einen bestimmten mineralogisch-chemi-
Hitzbeständi g keit g e g enüber Tem p eraturen schen Gesteinstyp, z. B. Kalk- oder Sandstein.
zwischen 1800 und 3500 °C. Siliciumnitrid ist Gesteine bzw. Steine werden anhand der
beispielsweise bei Belastungen bis 800 MPa sta- Anordnung, der Verbindungen und der Art ihrer
bil. Diesen Eigenschaften stehen hohe Herstel- kleinsten Bausteine, der Kristalle und Minerale
lungskosten gegenüber, so dass diese Werkstoffe untergliedert; Petrologen (Steinkundler) bezeich-
nur für Bauteile eingesetzt werden, die hohen nen das als Gefüge. Nach ihrem Gefüge und
elektrischen, thermischen oder mechanischen ihrer geologisch-tektonischen Herkunft bzw.
Belastungen ausgesetzt sind, wie stark bean- Genese werden die Gesteine in drei große Klas-
spruchte Teile von Maschinen in der Industrie, sen eingeteilt (ÅAbbildung 5-28, Seite 236).
Spitzen von Schneidegeräten, temperaturbelas-
tete Teile von Autos, Schutzwesten für das flie- Bildung und Zerstörung von Gesteinen
gende und das Bodenpersonal in der Luftfahrt,
Bauteile für Hubschrauber und Ventile in der Bei einem Vulkanausbruch ist jeder Beobachter
Öl- und Gasindustrie. unmittelbar Zeuge einer Gesteinsneubildung.
Nimmt er Gesteine bzw. Steine in die Hand,
so gewinnt er aufgrund ihrer häufigen Härte
Gesteine – komplexe natürliche und Schwere den Eindruck, dass es sich um
feste, scheinbar für „die Ewigkeit“ geschaffene
Festkörper
Gebilde handelt. Doch der Eindruck täuscht:
Spätestens wenige Meter unter unseren Füßen Da unsere Erde ein „lebender Planet“ mit auf
beginnt das unbekannte Reich der Gesteine, Gesteine einwirkenden Kräften sowie aktivem
jener ausgedehnten kristallinen Festkörper, aus Magmatismus und Vulkanismus ist, unterliegen
denen unsere Erdoberfläche aufgebaut ist. Häu- diese einer ständigen, wiederholten Zerstörung,
fig sind die Gesteine unter einer mehr oder weni- Umwandlung und Neubildung. Doch in der
ger mächtigen Verwitterungsschicht oder unter kurzen menschlichen Lebensspanne ist dieser
einer Vegetationsdecke verborgen. Anhand von Umwandlungsprozess der Gesteine kaum zu
interessanten Steinen, die Kinder als „ungeheuer erkennen, weil sich der „Kreislauf der Gesteine“
wertvolle“ Schätze nach Hause tragen, oder (ÅAbbildung 5-27, Seite 236) über Hundert-
anhand von Steinen an Fluss- oder Meeresufern tausende bis Millionen von Jahren erstreckt.

235
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

Verwitterung
Tagtäglich, praktisch auf Schritt und Tritt, be-
gegnen wir Produkten der Verwitterung, dem
Verwitterungsschutt, der mit großer Mächtig-
keit die Erdoberfläche überzieht. Ein Spazier-
gänger geht über Sand, Lehm oder Kieselsteine,
an Berghängen entdeckt er verstreut größere
Gesteinsbrocken. Die Grundlage für den An-
bau von Feldfrüchten bildet der Ackerboden,
ein spezielles Verwitterungsprodukt, das sich
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

aus einer Mischung von verrottetem Pflan-


zenmaterial und anorganischem Mineral- und
Gesteinsschutt zusammensetzt. Der Begriff Ver-
witterung beschreibt den Prozess der Auflösung
und Zerkleinerung ehemals zusammenhängen-
5-27
Gesteinskreislauf. Gesteine werden ständig durch geologische Prozesse umgewandelt. der Gesteinsverbände an der Erdoberfläche oder
unmittelbar darunter durch exogene Kräfte wie
Sonneneinstrahlung, starke Temperaturschwan-
kungen (z. B. in Wüsten), Eis, Wasser und le-
bende Organismen. Eine Verwitterung findet
deshalb statt, weil die verwitternden Gesteine
unter anderen Temperatur-, Feuchtigkeits- und
Druckverhältnissen gebildet wurden, als jetzt
am jeweiligen Ort der Verwitterung herrschen.
Nach Art der wirkenden Verwitterungskräfte
unterscheidet man physikalische, chemische und
biogene Verwitterung.

Die physikalische Verwitterung

5-28 Unter physikalischer Verwitterung versteht man


Einteilung der Gesteine. Wir sehen nur Zwischen- oder Endstadien dieses eine rein mechanische Zertrümmerung und Zer-
Die Gesteine werden nach Umwandlungsvorgangs von großen Gesteins- kleinerung von kompakten Gesteinskörpern
ihrer Herkunft beziehungs-
weise Entstehungsge- bruchstücken bis hin zu Sandkörnern oder Ton- entlang von Klüften, Spalten oder Gesteinsgren-
schichte eingeteilt. mineralen. Auf der Erdoberfläche trägt die Ver- zen. Diesen Vorgang, bei dem die gesteinsbil-
witterung zur mechanischen Zerkleinerung und denden Minerale unverändert erhalten bleiben,
zur chemischen Auflösung von Gesteinskörpern nennt man Gesteinszerfall. Maßgebende Ursa-
bzw. -schichten bei. Eis, Wind und Wasser trans- che dafür sind Zug- und Dehnungsspannungen
Metamorphose
Umwandlung von Ge- portieren und verlagern die entstandenen Fels- im Gesteinsverband, ausgelöst durch starke
steinen unter Druck- und brocken, Steine, Kiese, Sande und Tone. Werden Temperaturschwankungen im Innern. Derar-
Temperatureinfluss diese lockeren Ablagerungen verfestigt, so bilden tige Temperaturschwankungen finden z. B. in
sich Sedimentgesteine. In der tieferen Erdkruste Wärmewüsten zwischen Tag und Nacht oder
und im oberen Erdmantel werden durch Kristal- in polaren Bereichen saisonal statt. In Spal-
lisation aufsteigender Schmelzen neue Gesteine, ten eingedrungene Salze oder Eis üben einen
exogene Kräfte die magmatischen Gesteine (Magmatite) gebil- zusätzlichen Kristallisationsdruck aus. Durch
Vorgänge, die von außen
(auf der Oberfläche) ein-
det. Oder es werden durch Kontakt und/oder die Bildung von Eiskristallen beim Gefrieren
wirken. Eindringen von heißen Schmelzen bestehende von Wasser ergibt sich eine Volumenzunahme
Gesteine umgewandelt. Diesen Prozess nennen von neun Prozent. Dabei wird ein Druck bis zu
endogene Kräfte
Geologen und Petrografen Metamorphose und 2200 bar auf das umgebende Gestein ausgeübt.
Vorgänge, die im Erdin-
nern oder aus dem Erdin- die so gebildeten Gesteine heißen entsprechend Auskristallisierendes Salz übt einen Kristallisa-
nern heraus einwirken. metamorphe Gesteine (Metamorphite). tionsdruck von etwa 300 bar aus, die meisten

236
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Gesteine halten jedoch nur einer Druckbelas- Die biologische Verwitterung


tung von etwa 250 bar stand.
Durch Pflanzen und Tiere findet sowohl me-
Die chemische Verwitterung chanische Zerkleinerung als auch chemische
A uflösung von Gesteinen statt. Wühlende
Diese Verwitterung, auch Lösungsverwitterung und grabende Tiere lockern Gesteine auf. Die
genannt, bewirkt eine Auflösung, Umwandlung Sprengkraft von Pflanzenschösslingen kann man
und Neubildung von Kristallen und Mineralen auf asphaltierten Gehwegen oder Straßen gut
in Gesteinen, ausgelöst durch Eindringen wässri- beobachten, wo Schösslinge den festen Belag
ger Lösungen von Kohlen-, Salz-, Schwefel- oder durchbrechen. Größere Pflanzen weiten durch
Huminsäuren in Gesteine. Huminsäuren sind ihre Wurzeln vorhandene Spalten und Klüfte
hochmolekulare organische Säuren, die bei der auf. Mit einem Druck von bis zu 100 bar zer-
Humusbildung im Boden entstehen. Folglich kleinern sie anstehende Gesteinsschichten. Ins-
kann chemische Verwitterung nur in ausreichend besondere niedrige Pflanzen wie Flechten und
feuchten Regionen der Erde stattfinden. Moose als Erstbesiedler von kahlen Felsflächen
Die Verwitterungswirkung beruht auf einer und künstlichen Mauerwerken greifen bei ihrer
Anlagerung von Wassermolekülen an ein Kris- Nährstoffaufnahme deren Oberfläche chemisch
tallgitter oder auf Ionenaustausch. Dadurch an. Dabei zerstören sie durch ihren Stoffwechsel
werden die Bindungskräfte im Kristallgitter ge- bis in ca. 2 – 3 Millimeter Tiefe das Kristallgitter.
lockert, einzelne Kationen werden abgeführt und Höhere Pflanzen geben während der Nahrungs-
schließlich bricht das Kristallgitter zusammen. aufnahme durch Wurzeln H+-Ionen (Säuren) ab
Am wirksamsten ist die hydrolytische Verwit- und begünstigen so die Hydrolyse. Verrottendes
terung (Hydrolyse), bei der Na+-, K+-, Mg2+-, Pflanzenmaterial liefert chemisch angreifende
Ca2+-, Fe2+- und Mn2+-Kationen durch Was- Huminsäuren.
ser und insbesondere H+-Ionen (Säuren) aus Das Produkt aller Verwitterungsprozesse
dem Kristallgitter gelöst werden. Die chemi- sind Lockermaterialien unterschiedlicher Zu-
sche Verwitterung wird auch als Gesteinszer- sammensetzung und Korngröße, die wiederum
satz bezeichnet. Besonders davon betroffen sind das Ausgangsmaterial für die Bildung von Sedi-
chloridhaltige Gesteine wie Steinsalz (NaCl), mentgesteinen bilden.
Carbonate wie Kalk (CaCO3) oder Sulfate wie
Gips (CaSO4 · 2 H2O). 5-29
Verwitterung. Einer der
Reaktionen der Kieselsäure (diese wird in Sedimentgesteine für die Landschaft in Dart-
mineralogischen Zusammenhängen oft mit ih- moore, Südwestengland,
rem Anhydrid, dem Siliciumdioxid, gleichge- Sedimentgesteine oder Sedimentite bilden eine charakteristischen „Tors“
(Hügel mit bis zu 10 m
setzt) mit Gesteinen führen zur sogenannten umfangreiche, vielfältige Hauptklasse von Ge- hohen verwitternden Gra-
Silikatverwitterung, die je nach Klimazone an- steinen. Sie werden u. a. aus den durch Verwit- nitfelsen).
ders ausgeprägt ist. Im basischen Milieu semi-
arider Klimaregionen (Halbwüsten) kann das
Siliciumdioxid gelöst und abgeführt werden.
Aluminiumhydroxid [Al(OH)3] sowie Eisen-
oxide werden ausgefällt und angereichert und
es entstehen Laterit und Bauxit (ÅLeichtmetalle
– Aluminium und Titan, Seite 270). In humi-
den (feuchten) Klimazonen erzeugen anwesende
Huminsäuren ein saures Milieu, in dem Silici-
umdioxid nicht gelöst werden kann. Vielmehr
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wird es zusammen mit Aluminiumhydroxid in


Form von Aluminiumsilikaten [Al2SiO5] aus
der Verwitterung von Feldspäten angereichert.
Aus diesen Anreicherungen werden Tonmine-
rale, wie Montmorillonit oder Kaolinit, neu
gebildet.

237
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

Geologische Zeitskala

5-31
Mineralzusammensetzung der Sedimentgesteine. Quarz
(Sand) bildet den Löwenanteil der Sedimentite. Weitere
Komponenten sind Glimmer und Feldspäte sowie die bei
Verwitterungsprozessen z. T. aus ihnen entstehenden Tonmi-
nerale. Carbonate sind größtenteils biogene Sedimente aus
Kalkschalen mariner Lebewesen wie Muscheln. Viele dieser
Minerale sind farblos. Enthaltene Anteile von Eisenoxiden
(Rost) oder Manganoxid (Braunstein) sind in der Regel für
starke gelbe, braune, schwarze oder rote Färbungen verant-
wortlich.

rend Tonminerale, Feldspäte und Eisenoxide nur


5-30 eine untergeordnete Rolle spielen.
Geologische Zeitskala. Die heute auf der kontinentalen Erdoberfläche verbreitet vorkom- Aufgrund ihrer Entstehung durch Ablage-
menden Sedimentgesteine können lokal oft spezifischen Erdzeitaltern zugeordnet werden, in rung oder Ausfällung über lange Zeiträume
denen sie abgelagert wurden. So entstanden z. B. in Deutschland im trockenen Wüstenklima
des Perm typischerweise kräftig rot gefärbte Sandsteinsedimente (Rotliegend) und Evaporite zeigen viele Sedimentite, bedingt durch Ma-
(Zechstein). Aus der Kreidezeit findet man oft Kalkablagerungen. t erialwechsel und Abla g erun g sverhältnisse,
eine deutliche Bankung (ÅRandspalte) bzw.
terung entstandenen Lockersedimenten durch Schichtung. Einige Sandsteine und Kalke sind
Verfestigung ohne chemische Umwandlung des jedoch massig, d. h. ohne Schichtung ausgebil-
Mineralbestandes (Lithifikation/Diagenese) vor det. Leuchtend bunte Färbung, hervorgerufen
Bankung Ort gebildet. Obwohl sie am Gesteinsbestand durch eingelagerte, oft eisenhaltige oder andere
In der Lithologie (Se- der gesamten Erdkruste nur einen Anteil von Metalle führende Minerale, machen viele Se-
dimentgesteinskunde) circa acht Prozent besitzen, gehören sie zu den dimentite zu attraktiven Gesteinen. Verschie-
bezeichnet „Bankung“
ein deutlich erkennba- wichtigsten Gesteinen, mit denen wir in Kontakt dene Bindemittel, Zemente genannt, verbacken
res, meist horizontales kommen. Sie überziehen den Meeresboden mit oder verkitten alle Bestandteile dieser Gesteine.
Schichtgefüge, dessen einer dünnen Schicht; vor allem aber bedecken Aufgrund ihrer leichten Gewinn- und Bear-
Lagen zwischen wenigen
Zentimetern und mehre-
sie etwa 75 Prozent der festen Landoberfläche beitbarkeit werden Sedimentgesteine vielfältig
ren Metern mächtig sein mit einer regional mehr als 1000 m mächtigen wirtschaftlich genutzt.
können. Bei Sediment- Schicht. Nach ihrer mineralischen Zusammensetzung
gesteinen werden solche
Absonderungen durch
Sedimentite setzen sich aus Bruchstücken un- und Genese (Entstehung) teilt man Sedimentite
einen Wechsel von Abla- terschiedlicher Größe bis hin zu winzigen Parti- in die folgenden drei Unterklassen ein:
gerung, Änderung der Ab- keln älterer, zerkleinerter Gesteine oder Minerale
lagerungsverhältnisse und
sowie aus organischen Resten zusammen. Alle 1 klastische Sedimentite (Trümmergesteine)
Sedimentationsunterbre-
chung hervorgerufen. Ein- diese gesteinsbildenden Komponenten durchlau-
zelne Bänke werden durch fen oft Jahrmillionen andauernde Prozesse, bis 2 chemische Sedimentite
Schichtfugen voneinander aus dem Lockermaterial ein festes Sedimentge-
getrennt. Bankungen sind
charakteristisch für Sand- stein geworden ist. Mineralogisch-chemisch do- 3 biogene Sedimentite
steine und Kalke. minieren Quarz, Glimmer und Carbonate, wäh-

238
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Sandsteine

Sandsteine sind eine weltweit anzutreffende


Gruppe vielfältig ausgeprägter Sedimentgesteine,
etwa ein Viertel aller Sedimentite gehören zu die-
sem Gesteinstyp. Entstanden sind sie aus verfes-
tigten und verkitteten Sandkörnern und weisen

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eine Korngröße zwischen 0,063 Millimeter und
2 Millimeter auf. Das Hauptmineral ist Quarz,
das in vielen Ausgangsgesteinen vorkommt und
aufgrund seiner Resistenz gegenüber physikali-
scher und chemischer Verwitterung umso mehr
angereichert wird, je länger die Verwitterung
5-32 andauert.
Trümmergestein. Konglomerat sogenannter klastischer Se-
dimentite unterschiedlicher Korngrößen (Südengland).
So können Sandsteine zu 80 – 90 Prozent aus

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Quarz bestehen, weitere Mineralkomponenten
sind Glimmer, Schwerminerale wie Apatit, Rutil,
Turmalin und Zirkon sowie vor allem Feldspäte.
Klastische Sedimentite Die Sandkörner können durch Tone, Kalke oder
Kieselsäure (SiO2) verkittet sein. Die Art des
Klastische Sedimentite (von griech. klastos, (ab) Bindemittels (Zement) bestimmt die Härte und
gebrochen), auch Trümmergesteine genannt, Verwitterungsresistenz des jeweiligen Sand- 5-33
sind körnige Gesteine, die aus Bruchstücken steins. Kalkgebundene Sandsteine sind anfällig Sandsteine. Roter Sand-
älterer Gesteine bzw. Minerale hervorgegangen gegenüber chemischer Verwitterung, tongebunde stein („Rotliegend“) ent-
stand in Mitteleuropa zum
sind. Sie werden nach der Korngröße in Gruppen quellen leicht auf und zerfallen dann, am resis- Beispiel im Perm (ÅGeo-
unterteilt. Klastite mit Partikeln größer als 2 mm tentesten sind kieselgebundene. Alle Sandsteine logische Zeitskala). Vor
mit abgerundeten Körnern heißen Konglome- sind sehr anfällig gegenüber Tausalzen. ca. 280 Millionen Jahren
herrschte hierzulande ein
rate, solche mit eckigen Körnern Brekzien (von Aufgrund ihrer Schichtung und Klüftung Wüstenklima. Zu finden
ital. breccia, Geröll), solche mit einzelnen grö- sowie ihrer relativen Weichheit sind jegliche sind solche Sedimente z. B.
ßeren Gesteinsbruchstücken Grauwacken. Sand- Sandsteine seit alters her als leicht zu gewin- bei Roxheim im Pfälzer
Wald (unten) oder an der
steine haben Korngrößen von 0,063 – 2 mm; nende Bauwerksteine genutzt worden. Vor dem
westlichen Südküste Eng-
Silt- oder Schluffsteine weisen Korngrößen von Aufkommen synthetischer Werksteine wurden lands bei Torquay (oben).
0,002 – 0,063 mm auf. Tonsteine schließlich Sandsteine über Hunderte von Kilometern als
werden aus Körnern kleiner als 0,002 mm auf- B aumaterial trans p ortiert: So stammen die
gebaut. Die beiden häufigsten und auch wirt- Steine des Stockholmer Schlosses aus dem mehr
schaftlich wichtigsten Gesteine dieser Gruppe als 1000 km entfernten Elbsandsteingebirge in
sind Sandsteine und Tonsteine. Sachsen. Ebenso nutzte man für den Wieder-

Lehm

Geologisch ist Lehm eine kalkarme Mischung durch Verwitterung älterer Gesteine. Es ist das
aus Feinsanden (Korngröße 0,2 – 0,063 Milli- älteste Baumaterial des Menschen und wird
meter), Schluff (Korngröße 0,063 – 0,002 Mil- seit rund 9000 Jahren genutzt. In trockenen
l imeter) und Ton (Korngröße kleiner als Regionen halten sich Lehmhäuser über Jahr-
0,002 Millimeter). Bei einem Tongehalt kleiner hunderte, in humiden Regionen muss Lehm
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als 35 Prozent spricht man von Magerlehm, bei vor Witterungseinflüssen geschützt werden. So
einem höheren von Fettlehm. Lehm entsteht wird er meist als Verputz genutzt. Seit wenigen
Jahrzehnten gewinnt Lehm als Baumaterial
5-34
wieder an Bedeutung, weil er die Wärme spei-
Lehm als Baumaterial. Rekonstruktion eines steinzeit-
lichen Dorfes unter Verwendung von Holz/Stroh/Lehm- chert und die Luftfeuchtigkeit reguliert.
Materialien (Unteruhldingen/Bodensee).

239
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

aufbau der kriegszerstörten Frauenkirche in Chemische Sedimentite oder


Dresden Sandsteine von dort. Ausscheidungsgesteine
In Baden – Württemberg weit verbreitet ist
der„Stubensandstein“ (ÅAbbildung 5-35), ein Auf diese Klasse von Gesteinen trifft man häufig,

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tongebundenes, relativ grobkörniges Gestein, als Hilfsmittel oder Rohstoffe spielen sie eine
aus dem die Tübinger Stiftskirche und der Kölner wichtige Rolle. Einige Wasserfälle zeichnen sich
Dom errichtet worden sind. Da er sich aufgrund dadurch aus, dass sie ihre Absturzstelle ständig
seiner schwachen, tonigen Bindung leicht zer- r vorbauen, berühmt sind diejenigen an den Plit-
mahlen ließ, wurden seine groben Quarzkörner witzer Seen in Kroatien. In Kochtöpfen oder
früher als Scheuermittel für Stubenfußböden Wasserkochern ärgert man sich über grauweiße
5-35
verwendet. Ablagerungen; zum Würzen nutzen wir ganz
Stubensandstein. Der Wie viele andere Sandsteine ist diese Art sehr selbstverständlich Steinsalz, ein wichtiges Dün-
meist ockergelb gefärbte anfällig gegenüber Umwelteinflüssen, insbeson- gemittel ist Kalisalz. Alle diese Stoffe gehören zu
Stein wird für Mauern und
dere gegenüber Verbrennungsgasen oder sau- den chemischen Sedimentiten.
zur Akzentuierung einge-
setzt (Dorfkirche Weilheim rem Regen, dessen Säuregehalt vor allem die als Diese werden durch Ausfällungen gelöster
bei Tübingen). Bindemittel im Sandstein wirkenden Kalke löst. Minerale aus übersättigten Lösungen gebildet.
Deshalb sind Baugerüste an derartigen Sand- Derartige Ausfällungen können ohne das Zu-
steingebäuden ein üblicher Anblick. tun von Organismen allein chemisch (Tropf-
steine) oder biogen durch die Tätigkeit von
Ton(ge)steine Organismen (wie Korallen) erfolgen. Eine wei-
tere Bildungsmöglichkeit ist die Evaporation,
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Diese weichen Sedimentgesteine sind das Pro- bei der gelöste Salze aus einer verdampfenden,
dukt stärkster physikalischer und chemischer wässrigen Lösung in trockenheißen Regionen
Zerstörung älterer Gesteine. Die Produkte haben ausgeschieden werden, vor allem aus Meer-
Korngrößen von weniger als 0,02 Millimeter wasser. Erreicht salzhaltiges Meerwasser einen
(Schluffsteine) beziehungsweise 0,002 Millimeter Sättigungsgrad von circa 70 Prozent, so fallen
(Tonsteine). Sie bestehen vorwiegend aus was- zunächst Carbonate, dann Sulfate und schließ-
5-36 serhaltigen, oft gelblich bis grau gefärbten Alu- lich Halite aus. Heute findet dieser Prozess zum
Tropfstein. Bärenhöhle, miniumsilikaten. Stärkere Beimengungen von Beispiel am Persischen Golf oder am Ostrand
Schwäbische Alb.
Metallverbindungen (oft Eisen und Mangan) des Kaspischen Meeres statt. Im oberen Perm,
führen zu rötlichen, violetten, grünlichen oder im Zechstein (ÅKasten Geologische Zeitskala,
schwarzen Farbtönen. Tonsteine sind mit einem Seite 238) wurden in Mitteleuropa mächtige,
Halite
Salze der Halogene (z. B. Anteil von 45 bis 55 Prozent die häufigsten Se- heute zum Teil wirtschaftlich genutzte Salz-
Fluoride und Chloride) dimentite. (ÅZiegelstein, Seite 231). schichten abgelagert.
Von den durch Verdunstung entstehenden
sogenannten Evaporiten wird Gips (CaSO 4)
bei Ausbesserungsarbeiten im Haus oder als
Schutzhülle für empfindliche Fossilfundstücke
genutzt. Unsere Speisen würzen wir mit Stein-
salz, viel wichtiger ist es jedoch als Rohstoff für
die chemische Industrie. Ohne Düngermittel aus
Kalisalzen hätte die landwirtschaftliche Pflan-
zenproduktion niemals das heutige Ertragsni-
veau erreicht.

Kalkstein

Kalksteine unterschiedlicher Bildungsart (Ge-


nese) sind das wichtigste und am weitesten ver-
breitete Gestein dieser Subklasse, sie bedecken
5-37
Chemische Sedimentite. Chemische Sedimente entstehen durch Ausfällen gelöster Minera- weltweit ca. 10 Prozent der Landoberfläche.
lien. Evaporite sind Ablagerungen aus verdampften Lösungen. Man trifft Kalke auf den Hochflächen der schwä-

240
Erde, Wasser, Luft und Feuer

bischen und fränkischen Alb, und am Nordrand gleichzeitiger starker Wärmeentwicklung Cal-
der Alpen steigen die bizarr schroffen Berge der ciumhydroxid, technisch auch Kalkhydrat ge-
Kalkalpen empor. nannt (CaO + H2O → Ca(OH)2). Diesen Vorgang
Kalksteine bestehen teilweise aus dem Mi- nennt man „Kalklöschen“. Der gelöschte Kalk
neral Aragonit (Å Kasten Aragonit, Seite 242), wird zum Beispiel als Beimischung zum Mörtel

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größtenteils jedoch aus dem chemisch anfälligen verwendet.
Mineral Calcit (ÅKasten Calcit, Seite 242). Sie
können durch kohlensäurehaltige Wässer oder Biogene Sedimentite
durch Schwefelsäure (H2SO4) gelöst werden.
Unterirdische Ausscheidungen aus kalkreichen Zu dieser dritten Subklasse der Sedimentite wer-
Sickerwässern bilden Tropfsteine in Form von den Gesteine gerechnet, die aus angehäuften und
Stalaktiten oder Stalagmiten, oberflächliche Aus- verfestigten Resten von Skelett- und Schalen- 5-38
Travertin. Dieser typischer-
scheidungen Travertin. Da viel gelöster Kalk bruchstücken von Organismen bestehen, die Kie- weise poröse Kalktuffstein
vom Lösungsort durch Fließgewässer fortgeführt selsäure oder Kalk produzieren, z. B. Kieselalgen entsteht als Ausfällungspro-
wird, bilden sich auch große unterirdische Hohl- oder Muscheln. Eine Sonderstellung nimmt das dukt an Süßwasserquellen.
Er wird häufig als Baustoff,
räume, Höhlen und Höhlensysteme. Perlmutt (Å Abbildung 5-44, Seite 244) ein, das z. B. für Fensterbänke oder
Doch nicht nur in der Natur finden pri- zwar keine Gesteine bildet, aber durchaus ver- Wandverkleidungen ge-
märe und sekundäre Kalkausscheidungen statt, festigte, harte Kleinobjekte wie Perlen. Bekannte nutzt und ist der „Marmor
des armen Mannes“. Trotz
sondern auch in der täglichen Wassernutzung Vorkommen derartiger biogener Kalke sind die
dieser Bezeichnung ist er
in Haushalten mit kalkhaltigem Trinkwasser steilwandigen, markanten Erhebungen der Riff- aber kein echter Marmor,
(ÅKasten Wasserhärte, Seite 340). Wasser- kalke auf der Alb und in den Alpen. Ein früher da er keine Metamorphose
spritzer an den Kacheln von Bad, Dusche oder wichtiges Schulutensil, die Schreibkreide, bestand durchgemacht hat.

Küche, in Spülen oder Waschbecken hinterlas- überwiegend aus winzigen, kalkigen Schalenres-
sen weiße Kalkflecken (warum diese stets einen ten von Kalkalgen der Ordnung Coccolithopho-
Rand bilden, werden wir in ÅKapitel 6 anspre- rida. Heute wird sie meist aus Gips hergestellt.
chen). Beim Erhitzen von kalkhaltigem Wasser
über 50 – 60 °C setzt sich am Boden von Wasser- Versteinerte Pflanzenreste
kochern oder in Kaffeemaschinen Kalk ab. Da-
bei handelt es sich Calciumcarbonat (CaCO3), Viele haben schon ein glänzendes, schwar-
das sich nach dem Entweichen des gasförmigen zes, entzündbares Gesteinsbruchstück in der
Kohlendioxids (CO2) aus dem wasserlöslichen Hand gehabt, ein Stück Kohle. Kohlen wer-
Calciumhydrogencarbonat [Ca(HCO3)2] bildet. den manchmal als in Gesteinen eingefangene
Das wasserunlösliche Carbonat bildet an Kris- und gespeicherte Sonnenenergie beschrieben,
tallisationskeimen auf dem Topfboden in Heiz- sind sie doch aus unter Druck und Temperatur
kesseln und Kaffeemaschinen den gefürchteten umgewandeltem, zersetztem Pflanzenmaterial
Kesselstein. Kristallographisch besteht dieser aus entstanden. Dieser Prozess wird als Inkohlung
dem Mineral Aragonit. bezeichnet. Kohlen bilden eine wirtschaftlich
Kalkstein wird wirtschaftlich sehr vielseitig wichtige Gruppe biogener Sedimentite. Ohne
genutzt. Früher wurden verschiedene Ausbil- ihre Energie wäre der industrielle Aufbau und
dungen als Baustein genutzt, so z. B. Travertin, Fortschritt im 19. und 20. Jahrhundert kaum
wovon Gebäude und Kirchen auf der Alb und möglich gewesen, das vorhandene Holz hätte
am Albrand zeugen. Heute dient er vorwiegend als Energielieferant nicht ausgereicht. 5-39
zur dekorativen Verkleidung von Gebäuden. Petrologisch sind Kohlen braune, braun- Sedimentgesteine. Die
Wird natürlicher Kalkstein auf Temperatu- schwarze bis schwarze, organische Sediment- berühmten weißen Kreide-
felsen von Dover bestehen
ren zwischen 900 und 1200 °C erhitzt, so wird gesteine. Chemisch gesehen bestehen sie aus aus ca. 65 bis über 100
Kohlendioxid abgespalten und es bildet sich schwerflüchtigen, unlöslichen, nicht kristallinen Millionen Jahre alten bio-
Calciumoxid, das als sogenannter Branntkalk Mischungen organischer Moleküle unterschied- genen Sedimentgesteinen
(nur ca. 0,01 mm durch-
eingesetzt wird (CaCO3 → CaO + CO2). Versetzt licher Größe und Struktur mit Beimengungen messende Kalkschalen von
man Branntkalk mit Wasser, so entsteht unter verschiedener Minerale. Coccolithophorida).
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241
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

Kalkminerale

Kalke sind hauptsächlich aus den zwei Mo- aus, die Carbonat-Ionen sind jeweils auf zwei
difikationen des Minerals Calciumcarbonat Ebenen in entgegengesetzter Richtung angeord-
(CaCO3) aufgebaut, Aragonit und Calcit. Diese net. Dagegen kristallisiert Calcit im trigonalen
haben zwar die gleiche Summenformel, unter- Kristallsystem (ÅKristallsysteme und die 14
scheiden sich aber in ihrer Kristallstruktur und Bravais-Gitter, Seite 155) aus, es kann körnig,
damit in ihren Symmetrien und Kristallformen faserig oder massiv ausgebildet sein.
sowie in ihrer Dichte. Aragonit, benannt nach Beide Modifikationen gehören zur Klasse
einem reichen Vorkommen dieses Minerals in der wasserfreien Carbonate ohne Fremdanio-
Aragonien (Nordost-Spanien), hat eine Dichte nen und sind Salze der Kohlensäure. Im Un-
von 2,93 g/cm3; Calcit, abgeleitet von dem terschied zum Aragonit kann Calcit wenige
griechischen Wort „chal“ und/oder dem la- Prozent Magnesiumcarbonat (MgCO3) führen.
teinischen „calx“ (beides bedeutet Kalk), hat Beide kommen sowohl als chemische Ausschei-
nur eine Dichte von 2,71 g/cm3. Aragonit kris- dungsgesteine (Evaporite) als auch als biogene
tallisiert im orthorhombischen Kristallsystem Sedimente vor.

Aragonit Calcit

Aragonit wird teilweise in warmen, flachma- Calcit (Kalkspat) ist dagegen eine thermisch
rinen Schelfbereichen und auf subtropischen stabile und druckresistente, häufige Modifi-
Kalkplattformen sowie in Salztonebenen se- kation des Calciumcarbonats. Dieses Mine-
miarider bis arider Klimaregionen gebildet. ral wird auch in Tropfsteinhöhlen abgesetzt,
Diese metastabile Modifikation geht bei hauptsächlich jedoch in warmen, marinen
Temperaturen über 400 °C und bei einem Flachwasserbereichen gebildet. Calcit zeigt
Druck von weniger als einer Atmosphäre in mit ca. 300 Kristallformen und zahlreichen,
Calcit über; deshalb findet man Aragonit nur durch Verunreinigungen hervorgerufenen
in jungen Sedimenten oder als Kesselstein Farbvarianten den größten Formenreichtum
in Töpfen und Rohrleitungen. Er ist auch aller Minerale. Er ist ein wichtiges, gesteins-
ein wesentlicher Bestandteil von Perlmutt bildendes Mineral. Seine geringe Härte von
(ÅAbbildung 5-45, Seite 244). Heute wird drei Mohs'schen Härtegraden sowie seine
dieses Mineral nur noch als Schmuckstein Verwitterungsanfälligkeit wird durch optische
und zum Anfertigen von Kunstgegenstän- Eigenschaften wie hohe Doppelbrechung, Flu-
den geschätzt, wirtschaftlich besitzt es keine oreszenz, Phosphoreszenz und Thermolumi-
große Bedeutung mehr. neszenz kompensiert. Ferner ist Calcit ein
unersetzbarer industrieller Rohstoff bei der
Dünger-, Glas- und Pigmentfarbenherstellung
sowie in der Metallurgie.
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

5-40 5-41
Aragonit. links: Natürlich vorkommendes Mineral Calcit. Das thermodynamisch stabilste Calciumcarbonat-
(Spanien); rechts: Abscheidung von Aragonit in einem Mineral.
Wasserrohr.

242
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Nach der Herkunft ihrer pflanzlichen Ausgangs- die Perlen. Der Begriff ist vom althochdeutschen
stoffe unterscheidet man zwei Kohlengruppen. Wort „perala“, die Helle, das Glänzende abge-
Aus Wasserpflanzen und Algen bildet sich am leitet. Die ohne weitere Bearbeitung offerierte
Grund von terrestrischen Gewässern entweder Schönheit und ihre Seltenheit machen diesen
Gyttja oder Sapropel (beides Faulschlammtypen), „biogenen Edelstein“ zu einem geschätzten Ge-
die im Laufe der Inkohlung zu wasserreichen schenk. Perlen werden weltweit als Symbol des
Sapropelkohlen wie Boghead- und Kännelkohle Glücks und der Liebe hoch geachtet.
werden. An den weltweiten Kohlevorräten haben Perlen sind trotz ihrer geringen Mohshärte
sie einen Anteil von weniger als 20 Prozent. Da- von 2,5 bis 4,5 harte, kugelige Gebilde mit ei-
gegen sind die wirtschaftlich wichtigen Humus- ner kristallinen Struktur, die zu 80 – 92 Prozent
kohlen aus Landpflanzen hervorgegangen. Hier aus Aragonit bestehen. Ferner sind etwas Calcit
bilden Lignin und Zellulose (ÅHolz, Seite 287) und Wasser eingelagert. Die plättchenartigen,
die pflanzlichen Ausgangsmaterialien. Daraus schichtweise angeordneten Aragonitkristalle
wurden wasserarme, kohlenstoffreiche Kohlen, werden durch eine Mischung aus Proteinen und

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


wie Steinkohlen. Mehr als 80 Prozent der welt- Conchiolin verkittet.
weiten Kohlevorräte gehören dazu. Erzeuger der Natur- und Zuchtperlen sind
Zusätzlich führt auch jede Kohle nicht verschiedene Süßwasser- und Meeresmollus-
brennbare mineralische Partikel, die als Asche ken (Weichtiere). Die früher weit verbreitete
anfallen. Die umgewandelten Pflanzenpartikel Flussperlmuschel (Margaritifera margaritifera)
werden in Analogie zu den Mineralen der Ge- ist inzwischen vom Aussterben bedroht. Heute 5-42
Stromatolithen. Stroma-
steine als Mazerale bezeichnet. Die beiden wirt- produzieren die marine Abalone-Schnecke und tolithen entstehen heute
schaftlich wichtigen Kohlearten sind Braun- und die Perlauster (Seeperlmuschel) der Gattung Pi- durch Biofilme von Cya-
Steinkohlen. Erstere wurden im Tertiär vor 65 nectada die meisten Natur- und Zuchtperlen. nobakterien. Sie bestehen
weitgehend aus Kalk. Fos-
bis 2,5 Millionen Jahren gebildet, letztere vor- Naturperlen sind solche, die ohne menschliche sile Stromatolithen wurden
wiegend im Karbon vor 345 bis 280 Millionen Eingriffe gebildet worden sind, bei Zuchtper- in 3,5 Mrd. Jahre alten
Jahren. Kohle ist weiterhin ein wichtiger fossiler len wird ausgewachsenen Meeresmuscheln per Sedimenten gefunden und
stellen die ältesten biogenen
Energieträger, ihr Anteil an weltweiten Vorräten Hand ein Zuchtkern und Mantelgewebe einer Gesteine auf der Erde dar.
wird auf etwa 80 Prozent beziffert. 25 – 26 Pro- Spendermuschel eingesetzt. Äußerlich unter- Die Abbildung zeigt heute
zent der erzeugten Primärenergie stammt aus scheiden sich Natur- und Zuchtperlen prak- lebende Stromatolithen an
der Westküste Australiens,
Kohle. Kohle ist zudem ein wertvoller Rohstoff tisch nicht (ÅAbbildungen 5-44 und 5-45, Seite
Ningaloo Reef.
für die chemische Industrie. 244).
Teer ist ein pyrolytisch zersetztes, chemisch Perlen sind „Abwehrsubstanzen“, mit denen
umgewandeltes Destillationsprodukt der Kohle, Mollusken zwischen Schale und Weichkörper
Bitumen dagegen ein fraktionelles, chemisch eingedrungene Keime isolieren. Dagegen spielen
unverändertes Destillationsprodukt des Erdöls eingedrungene Sandkörner wohl keine Rolle bei
(ÅAbbildung 5-60, Seite 251). der natürlichen Perlenentstehung. Die Eindring-
linge werden in einem Perlsack aus Mantelge-
Heiß begehrte Kugeln webe (Epithel) eingekapselt und dieser wird von
tausenden, dünnen Lagen aus Perlmutt umhüllt,
Ein natürliches, biogenes Festprodukt sind kleine so dass allmählich eine Perle heranwächst. Das
meist weißliche, ganz selten schwarze Kugeln, durchschnittliche Wachstum von Perlen beträgt

gebundener flüchtige Wasseranteil Sauerstoffanteil Heizwert in kJ/kg 5-43


Art Kohle. Nach dem Grad der
Kohlenstoff in % Bestandteile in % in % in % (Kilojoule je kg)
Umwandlung der Pflanzen-
Torf 48 – 65 40 – 63 35 reste in reinen Kohlenstoff
werden mehrere Kohlearten
Braunkohle 65 – 75 45 – 70 45 – 60 12 – 30 25 100 – 28 500 unterschieden. Neben dem
Kohlenstoffgehalt variieren
Steinkohle 75 – 90 10 – 45 1–7 < 2,5 – 9,8 32 850 – 35 650 auch Wassergehalt und
Heizwert beträchtlich.
Anthrazit 90 – 99 6 – 10 <2 < 2,5 bis 36 000

Graphit 98 – 100

243
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

ca. 0,6 Millimeter pro Jahr. Von der Färbung ren sie aus zu Tage tretenden Laven, nennt man
des dominierenden Aragonits hängt es ab, ob sie Ergussgesteine oder Vulkanite (Å Abbildung
eine Perle weißlich, gelblich, rosa oder grau 5-47). Eine besondere Gruppe bilden vulka-
glänzt. Seltene und hoch begehrte schwarze nische Gläser, deren wichtigster Vertreter der
Perlen wachsen vor allem in der Schwarzen Obsidian ist (ÅAbbildung 5-48).
Flügelauster (Pteria penguin). Bei Zuchtperlen Metamorphite (Å Abbildung 5-46) sind se-
kann man bereits zu Beginn des Wachstums die kundäre Gesteinsneubildungen, die durch ver-
Farbe bestimmen. Der Glanz der Perlen, auch schiedene Umwandlungsprozesse, oft unter Be-
Lüster genannt, geht auf unterschiedliche Licht- teiligung von zirkulierenden Lösungen, aus älte-
brechung und Reflexion an den Kristallgrenzen ren Gesteinen aller drei Hauptklassen entstehen.
des Aragonits zurück. Je feiner und zahlreicher Beide Klassen bilden eine kaum überschaubare
die Perlmutthüllen sind, desto stärker ist die Vielfalt von Gesteinen unterschiedlicher Färbung
Interferenz. und Körnung.
Da Perlen zu über 90 Prozent aus Calcium- In der Kultur- und Technikgeschichte der
carbonat bestehen, sind sie empfindlich gegen Menschheit spielten und spielen diese festen
Säure, Kosmetika und gegen die im Hautschweiß Naturprodukte eine wichtige Rolle. In der
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vorhandenen anorganischen Salze und organi- ältesten Kulturepoche, der Steinzeit, dienten
schen Substanzen. Säuren greifen den Aragonit magmatische und metamorphe Gesteine als
an, Kosmetika und Schweiß zerstören die Ober- r Werkstoffe für die Herstellung von Geräten
fläche. Dagegen schützt Hautfett die Perlen und und Werkzeugen. Bald nutzten die Menschen
trägt zum Erhalt ihres Lüsters bei. diese auch als Mauersteine zur Errichtung
von Mauern und Gebäuden. Während sie als
5-44 Mauersteine immer stärker durch synthetische
Perlen. Aufbau von Na-
tur- und Zuchtperlen. Echte Magmatite und Metamorphite – Bausteine ersetzt wurden, werden die zahlrei-
chen Magmatite und Metamorphite aufgrund
Perlen bestehen vollständig
aus weitgehend glatten
Produkte des Erdinneren
ihres äußeren Erscheinungsbildes und ihrer Ei-
Perlmutt-Kugelschalen
(oben). Im Meer erzeugte
Oft versteht man unter Gesteinen oder Steinen genschaften weiterhin vielfältig wirtschaftlich
Zuchtperlen besitzen einen kristalline Naturgebilde mit makroskopisch genutzt: Im Straßenbau sowie im Bahnbau die-
Fremdkörper als Kern. In erkennbaren Einzelpartikeln, wie man sie ge- nen sie als Schotter und als Pflaster, an und in
Flußmuscheln werden auch
häuft an Flussufern und Meeresgestaden oder Gebäuden und im Gartenbau als Begrenzungs-
kernlose Zuchtperlen er-
zeugt. Sie haben allerdings an Wegesrändern findet. Diesen Vorstellungen und Schmuckelemente. Selbst in den modernen
typischerweise eine viel un- entsprechen auch Kopfsteinpflaster, aus oben Werkstoffen Beton und Asphalt bilden stark
regelmäßigere Oberfläche.
abgerundeten, festen Natursteinen gräulicher, zerkleinerte Gesteine (Splitt) beider Klassen die
graurötlicher oder dunkler Färbung und die Grundmasse. —
länglichen Begrenzungssteine von Bürgerstei-
gen. In einigen Regionen Deutschlands be-
wundern wir kleine, mittelalterliche Feldstein-
Kirchen, deren Wände aus oft grob behau-
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enen, körnigen Natursteinquadern bestehen.


Derartige Gesteine gehören zu zwei weiteren
Hauptklassen, nämlich den magmatischen und
metamorphen Gesteinen (Å Tabelle: Einteilung
der Gesteine, Seite 236).
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Gesteine dieser beiden Klassen waren im


5-45 Erdmantel und in der unteren Erdkruste gro-
Perlmutt. Aufbau von Perl- ßer Wärme und hohem Druck ausgesetzt. Sie
mutt aus organischen (Pro-
werden durch tektonische Bewegungen oder
teinlagen) und anorgani-
schen Schichten (Aragonit). Vulkanismus an die Erdoberfläche befördert.
Die große Festigkeit beruht Magmatische Gesteine entstehen primär durch
vor allem auf der Tatsache, 5-46
Kristallisation aus glutflüssigen Schmelzen: Er-
dass sich Risse in dem Ma- Metamorphite. Der Vergleich weißen Carraramarmors mit
terial nicht leicht ausbreiten folgt die Auskristallisation im Erdinnern, so einem Gneis zeigt die große Spannbreite metamorpher Ge-
können. heißen sie Tiefengesteine oder Plutonite, erstar- steine.

244
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Vom Rohstoff zum Werkstoff Wohnhäuser, Brücken und Hafenanlagen, die


teils heute noch stehen. Das Wissen um diese
Die Kunst der Verwandlung Baustoffe ging nach dem Ende des römischen

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Reiches unter und wurde erst wieder im 18. bzw.
Schon antike griechische und römische Baumeis- 19. Jahrhundert neu entdeckt.
ter erkannten, dass natürliche, unbehandelte,
mineralische Baumaterialien wie Tone, Lehme Das unentbehrliche graue Pulver
oder Sand- und Kalksteine gegenüber Umwelt-
einflüssen nicht besonders resistent und oft we- Wer im vorigen Jahrhundert in der Nachbar-
nig standfest sind. Andererseits waren festere schaft von Baustoffwerken aufgewachsen ist, 5-47
Vulkanite. Erkaltete Laven
Bausteine wie Granite oder Basalte nicht überall dem war der Anblick eines grauen, pulvrigen werden rund um Vulkane
verfügbar und schwerer zu bearbeiten. Schon ge- Überzuges auf Büschen, Gräsern, Blumen, Stra- auch als Baumaterial ge-
mischte und feuerbehandelte, natürliche Materia- ßen und Häusern vertraut. Der Überzug stammt nutzt.
lien zeigten nicht nur größere Festigkeit, sondern vom Zementstaub.
auch längere Haltbarkeit. So ist nicht verwun- Zement ist ein anorganisches, nichtmetalli-
derlich, dass Vorläufer heute weit verbreiteter sches, hydraulisch erhärtendes Bindemittel für
Baustoffe wie Beton, Mörtel und Asphalt schon Mörtel und Beton. Chemisch ist Zement ein
von antiken Baumeistern entwickelt wurden. komplexes Stoffgemisch, das aus Calcium-, Si-
Asphalt benutzte man im antiken Mesopotamien licium-, Aluminium- und Eisenoxid mit geringen

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


seit etwa 2000 v. Chr. als Dichtungsmaterial für Beimengungen von Schwefel besteht. Die Zugabe
Gefäße und Boote, seit dem 7. Jahrhundert v.Chr. von Wasser (Anmachwasser) zu diesem Gemisch
im assyrischen und babylonischen Reich sowie löst eine chemisch-mineralogische Reaktion aus
in China als Mörtel. (ÅKasten Zementchemische Hydratation). Der
Ein betonähnlicher Baustoff wurde von rö- anfänglich noch flüssig-plastische Zementleim 5-48
mischen Baumeistern aus Griechenland und geht innerhalb eines bestimmten Zeitraumes in Obsidian. Vulkanisches
Phönizien im 3. Jahrhundert v. Chr. übernom- harten, festen Zementstein über. Dessen unlös- Glas entsteht durch sehr
schnelle Abkühlung zähflüs-
men und in der Kaiserzeit zu einem haltbaren, liche, kristalline Calciumverbindungen ergeben siger Laven mit geringem
künstlichen Baustein mit der Bezeichnung „opus das Bindemittel im Mörtel oder im Beton. Anteil flüchtiger Stoffe.
caementitium“ weiterentwickelt. Obwohl un- Der normale Portlandzement wird aus einem
ser heutiger Begriff „Zement“ daraus abgeleitet Gemisch von Kalk und Ton im Verhältnis 3 : 1
wurde, hat das moderne, erst im 19. Jahrhundert mit den Zuschlagstoffen Quarzsand und Eisen
entwickelte Baumaterial Zement damit nichts erzeugt, fein gemahlen und bei Brenntempera-
5-49
zu tun. Caementum meinte Bruchsteine, die mit turen von 1400 – 1450 ºC in Drehöfen gebrannt; Werkstoffe. Werkstoff ist
Kalkmörtel oder Puzzolanerde zu einem stabilen dabei werden Wasser und Kohlendioxid aus ein Sammelbegriff für alle
Baustein vermischt wurden. Mit dem heute auch der Rohmasse ausgetrieben. Das Brennen bis der Natur entnommenen
oder synthetisch erzeug-
als „römischer Beton“ bezeichneten Bauma- zur Sinterung führt zu Zementklinkern. Diese ten Stoffe mit technisch
terial errichteten die Römer Tempel, Theater, werden unter Zugabe von Gips oder Anhydrit nutzbaren Eigenschaften.

Metalle Nichtmetalle Verbundwerkstoffe

Eisenwerkstoffe Nicht-Eisenmetalle Minerale Naturstoffe Kunststoffe

Stähle Eisenguß Schwermetalle Leichtmetalle

Glasfaserverstärkte
Graphit
Blei Kunststoffe (GFK)
Aluminium Asbest Holz PVC
Baustahl Grauguß Kupfer Carbonfaserverstärkte
Magnesium Glas Leder Plexiglas
Zink Kunststoffe (CFK)
Beton
Stahlbeton
Möbel
Motorblöcke „Blei“stifte Gebäudebau Leichtbau
Wasserrohre Bleche Rohre
Träger Stützen Wärmeisolation Innenausbau Bootsbau
Elektrokabel Folien Schüsseln
Bleche Geländer Fenster Masten Fahrzeugrahmen
Bleche Flugzeugbau Flugzeugfenster
Brücken Flaschen Zäune Hochbau
Gebäude Bezüge

245
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

(ÅKasten Mineralklassen, Seite 290) und je Unscheinbar, aber wichtig


nach Zementsorte von Zusatzstoffen wie Hoch-
ofenschlacke oder Trass gemischt und erneut Ein unscheinbares, aber vor dem Betonzeitalter
gemahlen. Dann erst ist der eigentliche Zement unentbehrliches und bis heute wichtiges mine-
fertig. Zementstaub sowie angemachter Zement ralisches Bindemittel ist Mörtel. Der Mörtel,
reagieren mit einem pH-Wert von 13 stark al- regional auch Speis, ist ein seit der Antike be-
kalisch und werden daher als gesundheitlich kannter und genutzter Baustoff, dessen Name
reizend eingestuft. sich vom lateinischen Wort mortarium, zersto-
Zement ist ein neuzeitlicher Baustoff: Erst ßener Kalk ableitet. In der Bauwirtschaft wer-
1824 stellte der Engländer JOSEPH ASPDIN den Bindemittel, die nach Zugabe von Wasser
(1778 – 1855) ein künstliches Gemisch aus rasch erhärten, als Mörtel bezeichnet. Ohne
5-50
Kalkstein und Ton her, das mit Gips oder An- dieses Bindemittel konnte früher kein gemau-
Portlandzement. Bis heute
wohl der bekannteste mine- hydrit vermahlen wurde. Das noch nicht bis ertes Bauwerk errichtet werden. Heute sieht
ralische Baustoff. zur Sinterung gebrannte Produkt benannte er man Mörtel noch in Fugen älteren Ziegelmau-
nach der Halbinsel „Portland“ in Südengland erwerks, zwischen Fliesen, als Estrich sowie
Portlandzement und ließ sich dieses Bindemittel als Putz.
unter diesem Namen patentieren. Doch erst mit Nach dem Härtungsmilieu und der Resis-
der Anwendung höherer Brenntemperaturen, tenz gegenüber Wasser werden in der Bauwirt-
die zu einer Sinterung und zur Bildung von Ze- schaft zwei Gruppen von Mörteln unterschieden:
mentklinkern führten, entstand der heute üb- Luftmörtel und Wassermörtel. Ersterer besteht
liche Portlandzement. Im Jahr 1850 wurde in hauptsächlich aus Sand und Kalkteig, bindet nur
Deutschland die Produktion von Portlandzement unter Luft ab und ist durch Wasser angreifbar.
aufgenommen. Seitdem wurden neue Zement- Letzterer härtet auch unter Wasser aus und ist
arten entwickelt, die zwischen 1882 und 1994 ihm gegenüber resistent. Als Zuschlagstoff dient
schrittweise genormt wurden. Seit 2002 gilt eine hier eine hydraulische Substanz wie Puzzolan-
Europa-Zementnorm (EN 197-1) für die fünf erde oder Calciumhydroxid („Kalkhydrat“).
Hauptzementarten. Weltweit werden jährlich Der älteste Mörtel basierte auf einer Mi-
1,4 Milliarden Tonnen Zement erzeugt. schung von Kalk und Sand. Heute ist es ein brei-
artiges Gemisch aus natürlichen, mineralischen
Hydraulisch erhärtend und synthetischen Bindemitteln, Anmachwasser
Stoffe, die sowohl an der Zementchemische Hydratation und Zuschlagsstoffen wie Sand oder Bimsstein.
Luft als auch unter Wasser Durch Zusatz unterschiedlicher Bindemittel
erhärten (z. B. Zement und
Mörtel). In der Zementchemie werden alle Prozesse, werden Gipsmörtel, Magnesiamörtel, Zement-
die mit dem Verbrauch und dem Mischen mörtel oder Kunstharzmörtel mit unterschied-
von Wasser zusammenhängen, als Hydrata- lichen bautechnischen Eigenschaften erzeugt.
tion bezeichnet. Bei der zementchemischen Mauermörtel ist ein pastenartiges Baumaterial,
Hydratation ist Wasser der Reaktionspartner mit dem Lücken und Unebenheiten im Mauer-
bei einem mehrphasigen Prozess, der sich bis werk ausgefüllt werden. Dagegen dienen ähnlich
zu 28 Tage hinzieht. Anfangs werden Sulfat- zusammengesetzte Putzmörtel dazu, Wandober-
phasen gebildet, die ein plötzliches Erhärten flächen zu glätten oder zur Wärmedämmung,
des Zements verhindern und so die weitere zum Brandschutz und Sanieren. Je nach Haupt-
Verarbeitbarkeit gewährleisten. Dann werden bestandteilen werden Zement-, Gips- und Kalk-
unlösliche Calciumsilikathydrate gebildet, die putze angefertigt, für spezielle Zwecke auch
ein immer dichteres, die Poren im Zement Kunstharzputze, wasserabweisende Putze usw.
ausfüllendes Gefüge bilden. Schließlich wer- Diese Baustoffe erhärten entweder chemisch
den weitere Hydratationsprodukte wie Cal- durch die Hydratation hydraulischer Bestandteile
ciumhydroxid [Ca(OH)2], Calciumaluminat- wie Zement oder Calciumhydrat oder physika-
hydrat (Ca6Al2[(OH)12|(SO4)3] · 26 H2O) oder lisch durch Trocknung von Bestandteilen wie
Calciumaluminatferrit (Ca4Fe2O7 · n H2O) in Gips oder Kalk. Vom ähnlichen Beton unter-
das vorhandene Gefüge eingelagert, die zur scheidet sich Mörtel durch die Korngröße. Die
Härtung des Zements beitragen. Größe der Gesteinskörnung beträgt bei Mörtel
maximal 4 Millimeter.

246
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Puzzolane
Dekoration mit Mörtel - das Sgraffito
Puzzolane (Puzzolanerde) sind natürliche oder Eine besonders dekorative Verputzung von Außenwänden ist das
künstliche Stoffe, die lösliche Kieselsäure (SiO2) Sgraffito oder Scrafitto. Der Name leitet sich vom italienischen Wort
und/oder reaktionsfähiges Aluminiumoxid (Ton- „sgraffiare“, zerkratzen, ab. Dabei werden auf einer rauen Putzun-
erde, Al2O3) führen. Benannt sind sie nach reich- terlage nass in nass zwei oder drei verschiedenfarbige, etwa 0,5 cm
haltigen Vorkommen vulkanischer Aschen am starke Kalkputzschichten aufgetragen. Anschließend werden noch
Fuße des Vesuvs (bei Puzzuoli), die in römischer feucht Muster aus den Putzschichten herausgekratzt. So entstehen
Zeit zur Herstellung des „opus caementitiums“ reliefartige Verzierungen oder Bilder, die allerdings vor Feuchtigkeit
abgebaut wurden. Natürliche Puzzolane sind geschützt werden müssen. Heute noch wird Sgraffito in Bayern an-
vulkanische Aschen und Tuff sowie einige mag- gewandt, in der Renaissance war diese Putztechnik in Italien beliebt
matische und sedimentäre Gesteine, künstliches und breitete sich von dort nach Böhmen, Schlesien und Sachsen aus.
Ziegelmehl, basisch granulierte Hochofenschla- Reichen Sgraffitoschmuck weisen die Arkadenwand im Schloss zu
cke sowie Flugaschen bzw. Filterstäube aus Koh- Neuburg/Donau, das Rathaus von Mies (Stribro) und das Schloss von
lekraft- und Aluminiumwerken. Puzzolane sind Litomysl (Böhmen) auf.
nicht hydraulisch, sie erhärten nicht von selbst.
Aber sie reagieren mit Calciumhydroxid, bau- drähten einen eisenbewehrten Beton, damals Mo-
technisch Weißkalkhydrat, in Gegenwart von nierplatten genannt. Seit 1870 werden Schmuck-
Wasser. Durch diese Reaktion bilden sich Cal- teile für Fassaden, Ornamente, Säulen, Baluster
ciumsilikathydrate (CSH-Phasen) sowie Calci- und Statuen aus Beton hergestellt. Verbesserte

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


umaluminate (CAH-Phasen). Erst durch diese Herstellungsverfahren machten den Beton im
Verbindungen werden Puzzolane zu einem dau- 20. Jahrhundert zu dem Baustoff schlechthin;
erhaften Bindemittel für Zemente oder Mörtel. kaum ein großes Bauwerk kam ohne ihn aus.
Keinen allzu guten Ruf genossen die „Platten-
bauten“ aus vorgefertigten Betonteilen in den
Fließender Fels – grauer Alltag sozialistischen Ländern. Da sein Bindemittel „Ze- 5-51
Sgraffito. Sgraffito-In-
mentleim“ wasserresistent ist, kann Beton auch
schriften an einem Haus im
Treffend hat der Schauspieler PETER USTINOV unter Wasser gegossen werden; so geschehen Engadin (Graubünden).
(1921 – 2004) Beton einst als „fließenden Fels“ am Potsdamer Platz (Berlin), wo riesige Hoch-
charakterisiert. Ästheten weltweit beklagen oft hausfundamente in wassergefüllten Baugruben
die architektonische Eintönigkeit grauer Wände hergestellt wurden. Inzwischen ist es einer Ham-
als Grund für gesichtslose, austauschbare Bau- burger Designerin sogar gelungen, dünnwandiges
werke. Als Material derartiger Bauwerke, aber Geschirr und Vasen aus Beton herzustellen.
auch z. B. für bombensichere Bunkeranlagen Im Lauf des 20. Jahrhunderts ermöglichten
oder für Kanalisationsröhren, ist Beton seit ei- verbesserte Herstellungsverfahren, wie das Bren-
nem guten Jahrhundert ein allgegenwärtiger und nen über die Sintergrenze hinaus, die Erzeugung
heute der weltweit am meisten genutzte Baustoff. zahlreicher Betonarten mit ausgewählten Zusät-
Schon die alten Römer errichteten Bauwerke zen für unterschiedliche Verwendungszwecke.
mit druckfesten Bauteilen aus wasserbeständi- Neben dem Normalbeton werden heute Schwer-
gem Mörtel und Gesteinsbruchstücken, die in beton, Leichtbeton, Stahlbeton, Porenbeton, ul-
einer Schalung härteten. Diesen „römischen Be- trahochfester Beton, durchsichtiger Beton und
ton“ nannten die damaligen Baumeister „opus viele weitere Arten angeboten. Traditioneller
caementitium“. Der Begriff Beton geht auf das Beton ist ein gezielt synthetisch erzeugter, ze-
lateinische Wort bitumen, schlammiger Sand mentgebundener Stein, ein Drei-Stoff-Gemisch
oder Erdpech zurück. Im Altfranzösischen wurde aus natürlichen Gesteinskörnungen, wie Sand
daraus betum oder bethyn für Mauerwerk. Erst- und Kies, Zement (Kalkstein und Ton), Wasser
mals 1753 verwendete der französische Physi- sowie je nach Verwendungszweck aus weite-
ker und Ingenieur BERNARD FORÊT DE BÉLIDOR ren Zuschlagmitteln und -stoffen. Zement bil-
(1697 – 1761) Beton im Sinne eines wasserbe- det nach chemischer Reaktion mit Wasser das
ständigen Mörtels mit groben Zuschlägen. 1867 Bindemittel, den Zementleim, der die Gesteins- 5-52
Normalbeton. Ungefähre
schuf der französische Gärtner JOSEPH MONIER körnung verkittet. Die Trocknung des feuchten Zusammensetzung in Volu-
(1823 – 1906) durch das Eingießen von Eisen- Frischbetons (Abbinden) zieht sich über etwa menprozent.

247
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

24 Stunden hin. Gesteinskörnung wie Sand und planen Architekten Hochhäuser, wie sie bisher
Kies, Splitt und Schlacke sind Materialien, die nur in Stahlgerüst-Konstruktion möglich wa-
nicht chemisch reagieren, sondern nur zur Kon- ren, oder weitgespannte selbsttragende Brücken
sistenz und zum Volumen des Betons beitragen. aus diesem Baustoff. Im Labor wurde mit Glas
Ihr Volumenanteil schwankt je nach Betonart verschalter UHFB mit spiegelnder Oberfläche
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
um 70 Prozent, die Korngröße der Partikel getestet, so dass Designer hoffen, in naher Zu-
liegt heute entweder bei 16 Millimeter oder bei kunft Waschbecken und andere Gebrauchsgüter
32 Millimeter. Normaler Beton wiegt zwischen daraus herstellen zu können. Bisher wurden zwei
2000 und 2600 kg·m–3. Seine höchste Festigkeit Fußgängerbrücken aus diesem neuen Baustoff
5-53 liegt bei 60 N·mm–2. Der Zement hat einen An- errichtet (ÅAbbildung 5-53).
Gärtnerbrücke in Kassel teil von bis zu 30 Volumenprozenten.
(2005/6). Eine der ersten
Mit seinen unterschiedlichen Oberflächen- Er kann auch leicht sein
Brücken aus ultrahoch-
festem Beton (UHFB) in strukturen kann Beton in jede Form und Größe
Deutschland. gebracht werden. Er kann für Spezialzwecke Andere, moderne Betonarten sind Leichtbe-
eingesetzt werden, etwa zur Schalldämmung, tone, die nach DIN-Normen eine Rohdichte bis
zur Wärme- und Kältespeicherung und zum 2000 kg·m–3 aufweisen dürfen. Wie der traditio-
Feuerschutz. Beton ist wasserundurchlässig und nelle Beton bestehen sie aus einem Gemisch von
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resistent gegen Schimmelpilze und Tierfraß. Er Gesteinskörnung, Zement und Wasser mit zuge-
ist zwar sehr druckfest, wird aber erst durch setzten Leichtzuschlägen wie Blähton, Ziegel-
Einzug von Stahl zugfest (Stahlbeton). schrot, Holz, Polystyrol oder Luft. Die dadurch
Chemisch ist der traditionelle Beton jedoch erzielten Hohlräume machen diesen Baustoff
ein instabiler, ziemlich spröder Baustoff, der wesentlich leichter als traditionellen Beton. Nach
5-54
Gefügedichter Leichtbe- durch Säuren, konzentrierte Salzlösungen, sul- ihrer inneren Struktur werden ein gefügedichter
ton. Geschlossenes Gefüge. fathaltige Wässer (Sulfattreiben) oder Alkali- und der haufwerkporige Leichtbeton unterschie-
Als Zuschlagsstoffe werden Kieselsäure-Reaktion angegriffen und zerstört den (ÅAbbildung 5-54 und 5-55).
Blähton oder Blähgas ver-
wendet. Die Oberfläche ist wird und deshalb durch chemisch resistente
dicht, innere Hohlräume Überzüge geschützt werden muss. Ein Lego für Erwachsene
sind mit Zementleim ver-
füllt, was eine Rohdichte
von 600 – 2000 kg / m3 er- Härter und leichter als Stahl Unter dem Markennamen „Ytong“ ist ein spe-
gibt. Trotz geringen Eigen- zieller, künstlicher Baustein bekannt, der sich
gewichts besitzt dieser Be- Auf der Suche nach einem haltbareren und mit Feilen, Raspeln und Sägen bearbeiten lässt
ton ausreichende Festigkeit
für weitgespannte Brücken
druckfesteren zementgebundenen Werkstoff (Å Abbildung 5-56). Da selbst ein geschickter
oder Hochhäuser. wurde Ende des letzten Jahrhunderts einen Be- Nichtfachmann ihn passgenau vermauern kann,
ton namens „Ultrahochfester Beton“ (UHFB) wird er manchmal als „Lego für Erwachsene“
entwickelt. Den üblichen Komponenten Ze- bezeichnet. Dieser Baustein heißt zwar „Po-
ment, Gesteinskörnung und Wasser werden renbeton“ und wird zum Leichtbeton gerech-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

als Zusatzstoffe millimetergroße Stahl- oder net, ist aber kein Beton im traditionellen Sinne.
Kunststoffspäne sowie Silicastaub zugefügt. Die Ihm fehlt die Gesteinskörnung, also Sand und/
Korngröße der Gesteinskörnung ist auf 0,5 Mil- oder Kies. Stattdessen wird er aus Branntkalk
limeter beschränkt, der Wassergehalt reduziert. (ÅKalkstein), Zement, fein gemahlenem Quarz-
5-55
Die Zugabe des extrem feinen Silicastaubs be- sand und etwas Aluminiumpulver hergestellt.
Haufwerkporiger Leicht- wirkt eine deutliche Festigkeitssteigerung des Die beiden ersten Bestandteile dienen als mi-
beton. Offenes Gefüge mit Hochleistungsbetons auf Werte zwischen 150 neralisches Bindemittel, das Aluminium dient
zahlreichen Hohlräumen
und 250 N·mm–2. Silicastaub verändert die als Treibmittel. Bei seiner Reaktion mit der
und rauer Oberfläche. Die
Körner berühren sich nur Mikrostrukturen im Kontaktbereich zwischen alkalischen Mörtelmasse und Wasser bildet sich
an wenigen Stellen und dem Zementstein und dem Zuschlag, weil zu- zunächst Wasserstoffgas, welches das Material
sind aufgrund reduzierter
sätzlich festigkeitsverstärkende und bindende aufbläht. Es entstehen zahllose mit Wasserstoff-
Zugabe von Zementleim
oder Feinmörtel nur punk- Calciumsilikathydrate (CSH-Phasen) ausgebil- gas gefüllte Blasen. Dieses leicht flüchtige Gas
tuell verkittet. Deshalb det werden. Die hohe Gefügedichte von UHFB wird rasch durch Luft ersetzt. Damit sich das
besitzt diese Betonart eine verringert das Eindringen von schädlichen Chlo- Bindemittel Tobermorit (5 CaO · 6SiO2·5 H2O)
Rohdichte von nur ca.
400 kg / m3. Verwendet wird ridionen aus dem Tauwasser in den Baustoff. bildet, ein auch natürlich vorkommendes Mi-
er z. B. für Trennwände. Da er fast so fest ist wie Stahl, aber leichter, neral, muss die erhärtende Masse mit gesät-

248
Erde, Wasser, Luft und Feuer

tigtem Wasserdampf bei Temperaturen von Die Nutzung dieses Stoffes lässt sich bis in die
180 – 200 °C und einem Druck von 10 – 12 bar Antike zurückverfolgen. Im alten Mesopotamien
behandelt werden. Am Ende erhält man einen wurde Naturasphalt als Abdichtung für
Baustein, der zu 80 Volumenprozent aus Luft Flüssigkeitsbehälter genutzt, die alten Ägypter
und zu 20 Volumenprozent aus kristallinem balsamierten mit dem im Asphalt enthaltenen
Bindemittelgerüst besteht. Trotz dieser luftigen Bitumen (ÅKasten Bitumen, Seite 251) ihre
Struktur handelt es sich um einen tragfesten Toten ein; die Bezeichnung Mumien leitet

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


Baustein, der als Planstein oder -block bezeich- sich vom persischen Wort mumiya, Bitumen
net wird. Seine wertvollste Eigenschaft ist die ab. Erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts, als die
hohe Wärmedämmung, bedingt durch seine Fahrzeuge schwerer und der Straßenstaub immer
im Vergleich zu Lehm, Sandstein oder Beton unerträglicher wurde, setzte die Beschichtung
zehnmal geringere Wärmeleitfähigkeit. Deshalb der Straßen mit einem festeren, Staub und
wird dieses Baumaterial hauptsächlich für die Wasser abweisenden Belag, zunächst mit Teer,
Herstellung von Fertigteilen und Innenmau- dann mit Asphalt ein. In Deutschland wurde
erwerken zur Wärmedämmung genutzt. Bei 1838 der Hamburger Jungfernstieg als erste
Außenmauern muss es mit Schutzüberzügen Straße asphaltiert, Ende des 19. Jahrhunderts
versehen werden, da sich seine Poren leicht mit waren in europäischen Großstädten die meisten
Wasser vollsaugen und der Porenbeton dadurch Straßen mit einer Asphaltdecke überzogen. Der

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


zerstört wird. Aufstieg des Autos zum Massenverkehrsmittel
Die Entwicklung des Baustoffs Beton ist noch ist untrennbar mit der Asphaltierung der Straßen
lange nicht abgeschlossen. So wurde beispiels- verknüpft.
weise durchscheinender Beton vorgestellt, der Die Bezeichnung leitet sich vom griechischen
bei noch immer sehr guter Tragfähigkeit eine Wort ás p halto s , Erd p ech ab. Bis auf das
5-57
beträchtliche Menge lichtleitender Glasfasern Bindemittel gleicht insbesondere der technisch
Transparenter Beton.
enthalten kann und damit völlig neue architekto- erzeugte Asphalt dem Beton. LiTraCon® wird durch Glas-
nische Ideen erlaubt (ÅAbbildung 5-57). Andere Asphalt ist ein natürliches oder technisch fasern durchscheinend.
Neuentwicklungen wollen die Elastizität des hergestelltes Gemisch aus dem Bindemittel
Betons weiter verbessern, z. B. durch den Einbau Bitumen, einer Gesteinskörnung und
von in Bioreaktoren erzeugter Spinnenseide. So- Zuschlagsstoffen. Somit ist Asphalt ein
gar selbstheilender Beton ist in Entwicklung, der Gemisch aus organischer Materie (Bitumen)
kleinere Risse automatisch wieder verschließt. und anorganischen Mineralstoffen wie
Sande oder Splitt. Die Hauptbestandteile des
Bitumens sind hoch p ol y mere, aromatische
Von einer Dichtungsmasse zum Kohlenstoffverbindungen, die dem Erdöl ähneln
und mit mineralischen Bestandteilen eine feste
Straßenbelag
physikalische Bindung eingehen. Fast alle
Bereiste man die frühere DDR mit dem Auto, so häufigen Minerale und Gesteine sind im Asphalt
holperte man lange noch über Kopfsteinpflaster, vertreten. Alle Asphalte sind in unpolaren,
während in der alten Bundesrepublik Straßen organischen Lösungsmitteln löslich, dagegen in
mit einem schwarzen Belag vorherrschten. stark polaren wie Alkoholen, Säuren und Basen
Kopfstein-gepflasterte Straßen standen für unlöslich.
Rückständigkeit und mangelnde wirtschaftliche N atü rli c h e r A s p halt entsteht durch
Leistungsfähigkeit der DDR, waren schwarze Oxidation und Polymerisation (ÅPolymere,
Straßenbeläge seit Beginn des 20. Jahrhunderts Seite 292) von Erdöl. Asphaltite nennt man
doch Standard. Heute erfolgt kein Straßenneubau Naturas p halte mit einem Bitumen g ehalt
ohne diesen schwarzen Belag, den Asphalt. von 91 – 99 Prozent. Natürlicher Asphalt ist
eine klebrige, braunschwarze bis schwarze,
hochviskose Flüssigkeit, die an der Luft erhärtet.
Asphaltite werden besonders hart, spröde und
hoch glänzend. Naturasphalte kommen als
diffuse Verteilungen (Imprägnationen) in Kalk-
und Sandsteinen vor. Wirtschaftlich interessant
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5-56
Ytong. Beispiel eines künstlichen Mauersteins.
249
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

Gebräuchliche Asphaltsorten für Deckschichten

Asphaltbeton es bildet sich ein gegen Deformierung resisten-


Asphaltbeton enthält 0,5 – 0,8 mm großen Splitt, tes Splittgerüst. Diese Asphaltart kann in dün-
Sand, Füller (Gesteinskörner unter 0,09 mm nen Deckschichten von 1,0 – 1,5 cm aufgetragen
Durchmesser) und 6 – 7 Prozent Bitumen. Er werden. Diese sind sehr verschleißfest, verfor-
ist der am häufigsten im Straßenbau verwen- mungbeständig und schlucken Rollgeräusche.
dete Asphalt. Nach dem Betonprinzip (gleich- Splitt-Mastix-Asphalt wird für hochbelastete
mäßige Anteile aller Korngrößen) wird ein Verkehrsflächen wie Rollfelder oder Autobah-
Verzahnungsgerüst erzeugt, das hohen Belas- nen genutzt.
tungen standhält. Er wird im heißen Zustand
eingebaut, mit Walzen verdichtet und bildet Gussasphalt
hohlraumarme, glatte Oberflächen. Zur Er- Diese Asphaltart bildet ein Gemisch aus gro-
höhung der Griffigkeit wird Splitt mit Walzen ber und feiner Gesteinskörnung, Füller (Ge-
5-58 eingedrückt. Der so genannte Flüsterasphalt ist steinsmehl) und Bitumen, dessen Gehalt so
Strassenoberbau. Meist
besteht ein Strassenbelag ein Asphaltbeton grober Körnung mit vielen hoch gewählt wird, dass der Baustoff gieß- und
aus drei Asphaltschichten, Hohlräumen. Ihre große Zahl dämpft die Fahr- streichfähig ist. Da dieser Asphalt praktisch
die man aufgrund des geräusche um bis zu 50 Prozent. hohlraumfrei ist und kein Stützgerüst ausbildet,
bindenden Bitumens als ge-
bundene Schichten bezeich- muss als Bindemittel Hartbitumen eingesetzt
net. Darunter folgt in der Splitt-Mastix-Asphalt werden. Mit einer Verarbeitungstemperatur von
Regel eine Schotter- und In den 1960er Jahren wurde in der Bundesre- 220–260 °C ist er der einzige bei der Verarbei-
Frostschutzschicht. Letztere
ist wasserdurchlässig, um
publik der Splitt-Mastix-Asphalt (SMA) entwi- tung flüssige Asphalt. Gussasphalt ist beson-
die Bildung von Eis unter ckelt, der bis heute einen weltweiten Siegeszug ders standfest und alterungsbeständig. Seine
dem Asphalt zu verhindern. als Straßenbelag angetreten hat. Im SMA ist Porenfreiheit verhindert das Eindringen von
Moderne Strassenbau-
maschinen erlauben das
der mineralische Grobanteil mit 70 – 80 Prozent Mikroben. Er härtet unter Witterungseinflüssen
Einbauen der Deck- und sehr hoch, der des Füllers beträgt 8 – 12 Prozent nicht nach, ist resistent gegen Tausalze, Wasser
Binderschicht in einem Ar- und der des Bitumens 7 – 8 Prozent. Wegen und Chemikalien und wird von pflanzlichen
beitsgang.
des hohen Bitumengehalts sind ca. 0,3 Prozent Verwitterungsprodukten nicht angegriffen. Für
stabilisierende Zusätze wie mineralische oder Gussasphalt gibt es daher weite Einsatzmöglich-
organische Faserstoffe oder thermoplastische keiten: im Industrie- und Hochbau, als Estrich,
Kunststoffe erforderlich. Da die Splittpartikel als Abdichtung von Brücken und Tunneln oder
vom Bitumenmörtel umhüllt werden, sinkt der von Räumen zur Aufbewahrung von Nahrungs-
Hohlraumanteil unter 3,5 Volumenprozent und mitteln.

sind nur Asphaltseen wie im Irak, in Venezuela, 19. Jahrhundert entwickelt, als die wachsende
auf Trinidad, in der Schweiz oder sogar in Nachfrage nicht mehr aus natürlichen Quellen
5-59 Deutschland. Naturasphalte werden wegen gedeckt werden konnte. Die zähe Asphaltmasse
Asphaltsee in Trinidad. ihrer großen Härte heute hauptsächlich als passt sich leicht Bodenunebenheiten an, besitzt
Der 40 Hektar große Pitch-
Korrosionsschutz von Oberflächen verwendet, ein aus g ezeichnetes Haftvermö g en, nimmt
Lake auf Trinidad ist die
weltweit größte Lagerstätte Asphaltite zur Herstellung von Farben und hohe Belastungen auf und verteilt sie auf die
natürlichen Asphalts. Man Lacken. Technischer Asphalt (Petroleumasphalt) U nterla g e. Auf g rund dieser Ei g enschaften
vermutet, dass der See auf besteht aus einer Mischung von Bitumen mit eignen sich technische Asphalte hervorragend
einer Plattenspalte liegt,
durch die Öl an die Oberflä- verschieden Gesteinskörnungen und nach Bedarf als Deckschichten für Landebahnen, Wege und
che dringt. mit ausgewählten Zusatzmitteln. Er wurde im Straßen. Zur Kennzeichnung verschiedener
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Erde, Wasser, Luft und Feuer

Ve rk e hr s fl äc h e n we r de n inz w i sc h e n auc h Bitumen


eingefärbte Asphalte eingebaut. Auch als Herkunft Kohlen Erdöl
Abdichtungssystem im Wasser- und Deponiebau
Herstellung pyrolytische Zersetzung Destillation von Crackprodukten
werden sie genutzt. 2006 wurden 57 Millionen
Inhaltstoffe bis 95 % Aromate Aspaltene, Maltene
Tonnen Asphalt in Deutschland erzeugt. Bis
heute wurden auch in Hinblick auf Umweltschutz Gefahrenstoff krebserregend nicht krebserregend
mehrere verbesserte Asphaltarten entwickelt,
5-60
die sich in Größe und Zusammensetzung der Metallische Werkstoffe Teer und Bitumen. Unter-
Gesteinskörnung, ihrem Anteil und dem Anteil schiedliche Eigenschaften
des Bitumens am Mischgut unterscheiden. Neue Zeiten brechen an von Teer und Bitumen.
Asphalt ist wie Beton ein chemischer Stoff,
der im Laufe der Zeit altert, insbesondere sein E ine weitere, seit Jahrtausenden genutzte,
Bindemittel Bitumen verändert sich. An den umfangreiche Gruppe von Werkstoffen sind
Berührungsflächen mit Luftsauerstoff altert er Metalle und ihre Legierungen. Neben Keramiken
durch Oxidation, gleichzeitig setzt ein fortschrei- und Glas haben Metalle die Entwicklung und
tender Verlust der flüchtigen Substanzen ein, der Fortschritte der menschlichen Zivilisation und
Asphalt „ergraut“. Wärme und Licht verstärken Wirtschaft maßgeblich geprägt, was sich in der
den Verwitterungsprozess. Die Alterung führt zu Benennung von Kulturepochen widerspiegelt:
einer Verhärtung des ursprünglich elastischen As- Auf die lange Steinzeit, in der rein (gediegen)
phalts. Unter Belastung bilden sich Haarrisse, die vorkommende Metalle wie Gold, Silber und
sich durch eindringendes Wasser und besonders Kupfer durchaus bekannt waren, folgten die
im Winter durch Eis erweitern. Nun können Öle relativ kurze Kupferzeit, die ebenfalls kurze
und Fette das Bitumen angreifen. Schließlich wird Bronzezeit und die mindestens bis Mitte des
das Bindemittel immer weiter abgetragen. — letzten Jahrhunderts andauernde Eisenzeit.

Bitumen

Natürlicher Bitumen findet sich in Asphalt und Temperaturen zwischen 150 und 200°C schließ-
Asphaltgesteinen und als schwerster Bestandteil lich dünnflüssig. In diesem Zustand umhüllt es
in Erdöl. Heute fällt Bitumen überwiegend als die Mineralkörner und bildet bei Abkühlung ein
Restfraktion nach dem Cracken und der Des- fest haftendes Bindemittel, das dem Asphalt die
tillation von Erdöl an. Bitumen ist ein dunkles, erforderliche Festigkeit verleiht.
schwerflüchtiges Gemisch aus höheren Koh- Bitumen altert unter dem Einfluss von
lenwasserstoffen und heterozyklischen Verbin- Sauerstoff, Licht und Wärme. Durch Wärme
dungen. Neben den beiden Hauptelementen verdunsten immer mehr Ölanteile (Verduns- 5-61
Kohlenstoff und Wasserstoff enthält Bitumen tungsalterung), Luftsauerstoff reagiert mit Bitumen. Kolloidsystem aus
noch geringe Mengen an Schwefel, Sauerstoff Kohlenwasserstoffen (oxidative Alterung) und Asphaltkügelchen in Malte-
nen, die mit einer löslichen
und Stickstoff. Destilliertes Bitumen besteht zu durch Agglomeration werden die Asphaltene
Schicht aus Asphaltharzen
45 – 65 Prozent aus Ölen, zu 20 – 40 Prozent aus u nd Harze ver g rößert (Strukturalterun g ). umgeben sind. Beide zu-
Harzen (lösliche Maltene) und zu 15 – 25 Pro- Diese Prozesse bewirken, dass das Bitumen sammen bilden die so ge-
nannten Micellen.
zent aus unlöslichen Asphaltenen. Das Gemisch seine Haftfähigkeit verliert, verhärtet und der
wird als resolubles Kolloidsystem bezeichnet, Asphalt rissig wird.
in dem die an Asphaltenmicellen angelagerten In Mesopotamien wurde Bitumen als Mör-
Harze beliebig gelöst und wieder abgeschieden tel, später im Nahen Osten und in Indien als
werden können. Bitumen ist nicht wasserlöslich Dichtungsmittel und im antiken Rom schon im
und praktisch wasserundurchlässig. Es verhält Straßenbau verwendet. Von den jährlich etwa
sich wie eine Flüssigkeit mit temperaturabhängi- 3,5 Millionen Tonnen verbrauchtem Bitumen
ger Viskosität: Bei Raumtemperatur ist Bitumen in Deutschland gehen 75 – 80 Prozent in den
hart bis zähplastisch, mit zunehmender Erwär- Straßenbau, der Rest entfällt auf Abdichtungen
mung wird es immer weniger zähflüssig und bei im Hoch-, Wasser- und Deponiebau.
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251
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

Heute können schon Kinder Metalle wie Eisen, Kationen, d.h. sie geben die äußeren
Kupfer, Gold, Silber, Nickel und Aluminium Elektronen vollständig an die Nichtmetall-
benennen. Atome ab. Mit Basen wie Ammoniak und
Halogeniden können sie Komplexverbindungen
Vorkommen und Eigenschaften eingehen. Die meisten Metalle kristallisieren
in dem kubisch-flächenzentrierten oder im
Betrachtet man das Periodens y stem der kubisch-raumzentrierten Kristallsystem
5-62 Elemente, so stellt man fest, dass um die 80 (ÅKristallsysteme, Seite 154).
Erzgewinnung durch Elemente zu den Metallen gehören. Sie wurden
Feuer. Früher wurde zur
entweder durch Kernfusion in Sternen (bis Eisen) Einteilung der Metalle
Erzgewinnung oft Feuer
genutzt. Das Gestein wurde oder sonstige kosmische Prozesse gebildet (ÅWie
erhitzt und mit Wasser ab- die Atome in die Welt kamen, Seite 469). In der A ls Werkstoffe werden Metalle anhand
gelöscht. Das Gestein erhielt Erdkruste dominieren Nichtmetalle, Aluminium mehrerer Kriterien unterteilt. Nach Elementen
Risse und das Erz konnte
leichter herausgebrochen steht als erstes metallisches Element mit einem in Eisen- und Nichteisenmetalle, nach ihrer
werden. Masseanteil von nur 7,57 Prozent an dritter R eaktivität in Edelmetalle wie Gold oder
Ste ll e ( Å Zusammensetzung d er Er dk ruste, Platin, die kaum unter Umweltbedingungen
Seite 225). Anders der Erdkern, er besteht oxidieren oder korrodieren, und in unedle
Einteilungen der Metalle überwiegend aus Eisen, dem kernphysikalisch Metalle wie Eisen oder Nickel, nach ihrer
Eisenmetall – stabilsten Element. Unter den Bedingungen, Dichte in Schwermetalle (5,1 – 19,32 g / cm 3)
Nichteisenmetall
Edelmetall – die auf der Erdoberfläche und in der Erdkruste wie Chrom, Blei, Kupfer oder Gold und in
unedles Metall herrschen, kommen die meisten Metalle nur in Leichtmetalle (bis 5,0 g / cm3) wie Aluminium,
Schwermetall – Form von chemischen Verbindungen vor. Nur Magnesium und Titan. Eisen gehört zu den
Leichtmetall
Metall – Halbmetall wenige Edelmetalle findet man gediegen, die unedlen Metallen und ist ein Schwermetall,
Metall – Hartmetall meisten Metalle müssen aus Oxiden, Sulfiden Aluminium ist ein Leichtmetall sowie ein unedles
oder Carbonaten extrahiert werden. Metall. Außerhalb dieser Einteilungen stehen
Diese Aufbereitung vom Rohstoff Erz zum Halbmetalle wie Arsen, die sowohl metallische
Werkstoff Metall erfolgt generell in den drei als auch nichtmetallische Eigenschaften zeigen.
Bearbeitungsschritten Aufarbeitung, Reduktion Und als Hartmetalle werden besonders harte,
(Verhüttung) und Raffination, wobei die einzel- metallische Verbundstoffe bezeichnet.
nen Verfahren für die jeweiligen Metalle unter-
schiedlich sein können. Metallurgie
Bis auf Quecksilber bilden alle Metalle un-
ter Standardbedingungen (25 °C, 1 atm Druck) Metallurgie im ursprünglichen Sinn ist eine
Festkörper. Sie zeichnen sich durch einen spe- Bezeichnung für die Wissenschaft, die sich
ziellen Gitterbau sowie einen speziellen Bin- mit allen Metallen und ihrer wirtschaftlichen
dungstyp, die Metallbindung (ÅBindungsarten, Nutzung befasst: Sie beschäftigt sich mit der
Seite 145) aus. Bei Metallen sind die äußeren Suche, dem Auffinden und dem Ausbeuten
Elektronen (Valenzelektronen) frei beweglich von Erzlagerstätten, mit der Nutzbarmachung
über das gesamte Kristallgitter verteilt und kön- von Erzen sowie mit der Gewinnung und
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

nen mit geringer Ionisierungsenergie (weniger Verarbeitung von Metallen. Der Begriff selbst
als 10 eV) abgespalten werden. Die große Be- ist griechisch-lateinischen Ursprungs: Er leitet
weglichkeit der Valenzelektronen ist die Ursache sich von den griechischen Worten metallón,
für charakteristische Metalleigenschaften (ÅDas Bergwerk, Mine und ourgos, Arbeiter ab und
Einmaleins der Werkstoffeigenschaften, Seite ist über das neulateinische Wort metallurgia ins
5-63
GEORGIUS AGRICOLA 174): Spiegelglanz, Undurchsichtigkeit, gute Deutsche übernommen worden.
(1484 – 1555). Er gilt als elektrische und thermische Leitfähigkeit und ihre Früher wurden die Begriffe Metallurgie und
der Begründer der Minera-
Verformbarkeit (Duktilität). Verhüttung synonym gebraucht, heute bezieht
logie. Sein posthum 1556
veröffentlichtes Hauptwerk Eine Wärme b e h an dl ung f ü h rt b ei d en sich letzterer nur auf das kommerziell betriebene
über Metallkunde, Bergbau meisten Metallen zu einer Änderung ihrer Ausschmelzen von Metallen aus Erzen. Erste An-
und Hüttenwesen (De re Eigenschaften sowie zu einer Veränderung sätze einer Metallurgie lassen sich bereits im al-
metallica) galt über zwei
Jahrhunderte lang als Klassi- ihrer Mikrostruktur. In Verbindungen mit ten Mesopotamien nachweisen. Griechische und
ker zu diesem Thema. Nichtmetallen b il d en d ie meisten Metalle römische Metallurgen und Handwerker entwi-

252
Erde, Wasser, Luft und Feuer

ckelten die metallurgischen Kenntnisse über die


Metalle Gold, Kupfer, Silber, Blei, Zinn, Eisen
und Quecksilber weiter. Vom Mittelmeerraum
breitete sich das Wissen um die Gewinnung
und Verarbeitung von Metallen nach Europa
aus. Bis ins 19. Jahrhundert dienten kleine, mit
Holzkohle betriebene Schmelzöfen der Metall-
gewinnung. Über Jahrhunderte stand die Ei-
senmetallurgie im Vordergrund, erst ab Mitte
des 19. Jahrhunderts kam die in Europa fast
vergessene Kupfermetallurgie hinzu. Da Eisen
eines der wichtigsten Gebrauchsmetalle ist, ist
die Eisenmetallurgie bis heute einer der wich-
tigsten Zweige der Metallurgie. Heute ist die
Metallurgie in eine Vielzahl von Zweigen für die
einzelnen Metalle, aber auch in einige Verfah- 1 Prozent aus Zinn. Viele Menschen tragen 5-64
rensweisen aufgesplittert. Die Pyrometallurgie Metallgemische in Form von Amalgam-Füllungen Metallerze. Die meisten
Metallerze liegen als Oxide,
umfasst die thermische Weiterverarbeitung von oder Goldkronen im Mund. Heute gibt es mehrere Sulfide oder Carbonate
Metallen; die Hydrometallurgie befasste sich Zehntausend binäre oder ternäre Stoffgemische vor; Namenszusätze wie
ursprünglich mit kalten und warmen Trenn- mit metallischen Eigenschaften, Legierungen „Stein“, „Kies“ oder
„Spat“ weisen oft auf die
verfahren und Aufbereitung von Erzen mittels genannt. Sie bilden die Mehrzahl aller Metalle,
Verbindungsart hin. Unter
Wasser für die Verhüttung, heute wird auch die auf die man im Alltag trifft. Doch Legierungen „Kiesen“ werden allerdings
Extraktion von Metallen aus Erzen mittels Säu- sind keine Erfindungen der modernen Industrie. auch Metall-Arsen-Verbin-
dungen wie Rotnickelkies
ren, Basen, organischen Lösungen sowie Bak- Schon mit dem Beginn der Metallnutzung wurden
(NiAs) geführt. Sulfate und
terien dazu gerechnet. Zur Elektrometallurgie Gemische aus Kupfer mit Zinn (Bronze) als Carbonate werden durch
zählen verschiedene elektrolytische Verfahren, erste Legierung zur Herstellung von Geräten, „Rösten“ bzw. „Calcinie-
die Pulvermetallurgie ist ein explosionsgefähr- Schmuckstücken und Waffen genutzt. ren“ (starkes Erhitzen unter
Luftzufuhr) in die Oxide
liches Legierungsverfahren, um geschmolzene Der Begriff „Legierung“ leitet sich vom überführt, die anschließend
Metalle im flüssigen Zustand zu verdüsen oder lateinischen Wort ligare, zusammenbinden, zum Reinmetall reduziert
feste Metalle in ein Feingranulat zu verwan- ab. In der Mineralogie werden damit werden. Aus Metall-Arsen-
Verbindungen kann das
deln. Die Recyclingmetallurgie bezieht sich auf natürliche Mineralbildungen aus einem Reinmetall direkt durch Rö-
die metallurgische Aufbereitung und Wieder- oder mehreren metallischen Elementen mit sten gewonnen werden.
verwertung von Metallschrott. Eine bis heute einem nichtmetallischen Element bezeichnet,
wichtige Unterteilung ist die in Eisenmetallurgie die unter Hitzeeinwirkun g und Druck
und Nichteisenmetallurgie. entstanden sind (ÅMineralklassen, Seite 227).
Werkstofftechnisch sind Legierungen Stoffe,
Alltägliche Metalle – Legierungen die mittels einer kontrollierten Vereinigung
von mindestens einem Metall mit einem
Nur wenige Metalle wie Gold, Kupfer, Aluminium weiteren metallischen oder nichtmetallischen
oder Blei werden als Reinmetalle verarbeitet. Element entstehen. Legierungen sind also
Die meisten Metallgegenstände bestehen aus metallische Zwei- oder Mehrstoffs y steme
Metall g emischen oder Verbindun g en von für unterschiedlichste Anwendun g en. Das
Metallen mit Nichtmetallen. Das gewöhnliche Aus g an g selement heißt Grundmetall, die
Eisen trifft man kaum rein an, seine beiden zugefügte Komponente Legierungselement
Nutzungsformen Stahl und Gusseisen führen stets (Zusatz).
mehr oder weniger große Anteile Kohlenstoff. Legierungen werden erzeugt, um bestimmte
Besonders in Münzen sind Metallgemische Eigenschaften des Grundmetalls zu verbessern,
weit verbreitet: Zwar glänzen die 10-, 20- und z. B. Festigkeit oder Korrosionsbeständigkeit.
50-Cent-Stücke golden und ihr Münzmaterial Die veränderten Eigenschaften werden bei ein-
heißt „Nordisches Gold“, doch sie bestehen phasigen Legierungen vorwiegend durch ihre
zu 89 Prozent aus Kupfer, zu 5 Prozent aus chemische Zusammensetzung, bei mehrphasigen
Aluminium, zu 5 Prozent aus Zink und zu durch die Verteilung der Phasen, also durch ihr

253
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

Gefüge bestimmt (Å Phasen und Phasenüber- abgeschöpft werden können. Man nennt dieses
gang, Seite 166). Diese Stoffgemische zeigen Verfahren Flotation (engl. float, schwimmen).
stets eine niedrigere Leitfähigkeit sowie einen Bei chemischen Trennverfahren wie bei der
niedrigeren Schmelzpunkt als die beteiligten Gewinnung von Aluminiumoxid (Al2O3) werden
Reinmetalle; viele Legierungen haben keinen die unterschiedlichen chemischen Eigenschaften
fixen Schmelzpunkt, sondern einen Schmelz- eines Erzes genutzt.
bereich. Die metallischen Eigenschaften wie Während der Reduktion wird das Metall bei
Spiegelglanz, Wärmeleitfähigkeit, elektrische hohen Temperaturen zum oft noch verunreinigten
Leitfähigkeit bleiben allerdings erhalten. Bei in- Element reduziert. Da sich Oxide am leichtesten
termetallischen Verbindungen handelt es sich reduzieren lassen, müssen Sulfide und Carbonate
entweder um eine Mischung winziger Kristalle unter Luftzufuhr in Oxide überführt werden.
der beteiligten Metalle oder um Mischkristalle. Bei Sulfiden heißt das Verfahren Rösten, bei
Die Atome eines Metallgitters lassen sich näm- Carbonaten Calcinieren oder Rösten. Wichtige
lich relativ leicht durch Atome eines Fremdme- Reduktionsmittel sind Kohlenstoff, eingesetzt bei
talls ersetzen, wenn diese annähernd gleich groß der Eisengewinnung, Wasserstoff bei Titan und
sind. Sind letztere erheblich größer, so bildet Wolfram um eine Carbidbildung zu vermeiden.
sich ein verzerrtes Gitter. Kleinere Fremdatome Auch unedle Metalle wie Eisen werden
können dagegen in Zwischenräume des Gitters verwendet, zum Beispiel bei der Reduktion von
eingelagert werden. Kupfer. Metalle, bei denen diese Verfahren nicht
zu raffinierfähigen Rohmetallen führen, werden
Aufarbeitung und Verhüttung mittels Elektrolyse reduziert (z. B. Zink).
W ähren d d er R affination wer d en d ie
Die meisten Metalle kommen als mineralisch- R o h meta ll e von Beimisc h ungen gereinigt
chemische Mehrkomponentenverbindungen in und hoch (oft bis zu 99,9 Prozent Reinheit),
Gesteinen gemeinsam mit nicht metallführenden angereichert. Gegebenenfalls werden gleichzeitig
Bestandteilen vor. Derartige Gesteine nennt man bestimmte Zusätze (Legierungselemente)
Erze (ÅKasten Erz: Mythologie und Bedeutung, hinzugefügt, um dem Metall die geforderten
Seite 255), wirtschaftlich interessante Kon- Eigenschaften zu verleihen.
zentrationen und räumlich ausgedehnte Vor-
kommen metallführender Gesteine heißen
Erzlagerstätten. Die Abbauwürdigkeit solcher Vom Eisen zum Stahl
Lagerstätten wird von den jeweiligen technischen
Möglichkeiten und der Nachfrage gesteuert. Mit Fug und Recht kann man dem Metall
Bei Eisen ist eine Lagerstätte mit mindestens E i se n e in e e n tsc h e i de n de R o ll e be i de r
30 Prozent Eisengehalt abbauwürdig, bei poststeinzeitlichen Entwicklung von Technik
Kupfer schon mit 1 Prozent Kupfergehalt. Vom und Zivilisation zusprechen, eine mehr als 3500
Rohstoff Erz zum Reinmetall sind mehrere Jahre lange Kulturepoche ist nach ihm benannt.
Verfahrensschritte erforderlich, die von Metall Erste Hinweise auf eine Eisenverhüttung finden
zu Metall verschieden sein können. sich in der Türkei, im Bereich des ehemaligen
Während der Aufarbeitung werden durch Hethiter-Reiches zwischen 1600 und 1200 v. Chr.
physikalische oder chemische Verfahren oft Doch die Eisenzeit setzte um 1000 bis 900 v. Chr.
noch am Gewinnungsort unerwünschte oder im antiken Mesopotamien ein, als dort Eisen
wertlose Be g leitstoffe ab g etrennt und die Kupfer zunehmend als Material für Geräte
gewünschte Metallkomponente angereichert. und Waffen verdrängte. Über Anatolien und
Eventuell wird das metallhaltige Mineral in Ägypten verbreitete sich die Eisennutzung
eine für die weitere Verarbeitung günstige Form ü ber den g esamten Mittelmeerraum. Im
gebracht. Bei Kupfer-, Zink- und Bleierzen t ransalpinen Europa wird der Beginn der
wird das Erz fein gemahlen und in Wasser Ei se nz e i t z w i sc h e n 800 u n d 700 v. C hr.
aufgeschwemmt, wobei ständig Luft eingerührt angesetzt. Um 800 v. Chr. entdeckten Kelten in
wird. Die entstehenden Gasblasen haften an den den österreichischen Ostalpen das erste große
hydrophoben (wasserabweisenden) Partikeln Eisenerzvorkommen Europas. Ihre Bergleute,
und verleihen diesen Auftrieb, so dass sie Schmiede und Handwerker perfektionierten die

254
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Erz: Mythologie und Bedeutung

Die Herkunft des Wortes „Erz“ ist umstrit- was, das aus der Erde erschmolzen wurde, dann
ten. Viele Sprachwissenschaftler führen es auf „mineralhaltiges Eisen“. In der allgemeinen
das sumerische urudu, (rotes) Kupfer, zurück. geowissenschaftlichen Definition von „Erz“ als
Es wurde als arut((i)a ins Indogermanische ein mit einer Gangart (wertlose Nebenkompo-
übermittelt. Im Althochdeutschen taucht der nenten) verwachsenes metallhaltiges Mineral
Begriff als aruz(zi) auf. Über erize und eriz oder Mineralgemenge klingen diese Inhalte

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


entwickelte er sich zum heutigen Begriff „Erz“. noch an. Doch schon im Mittelalter setzte sich
Das Wort ist mit dem hebräischen erez, Erde, die bergmännische Bedeutung durch. Danach
heiliges Land (Eretz Israel, gelobtes Land) ver- ist Erz ein Gestein, dessen Metallgehalt den
wandt, ähnlich im Altgermanischen eorthó, Abbau lohnt. In den letzten Jahrzehnten wurde
Erde (engl. earth). der Begriffsinhalt erweitert. Danach ist Erz
Im Laufe der Zeit hat sich die Bedeutung ein Gestein, das abgebaut wird oder werden 5-65
Bänder-Eisenerz. Marines
des Begriffs verschoben. Stets hatte er etwas mit könnte, um etwas Wertvolles daraus zu ge-
Sedimentgestein aus Eisen-
Sammeln und Gewinnen von Stoffen zu tun. winnen. Damit gehören auch nichtmetallische, erz- und Quarzschichten.
Ursprünglich bezeichnet „Erz“ einen wertvol- gesteinsartige Rohstoffe wie Diamanten oder Sie entstanden vor mehr als
1,8 Milliarden Jahren, als
len, metallischen Gesteinsbrocken, den es lohnt selbst Steinsalz zu den Erzmineralen.
kein Sauerstoff in der At-
aufzuheben. Später bezeichnete man damit et- mosphäre und im Meer vor-
handen war, der das Eisen
Eisengewinnung und -verarbeitung weiter, ihre Schwachpunkt entpuppte sich immer mehr die schnell oxdiert hätte.

eisernen Waffen waren ebenso gefürchtet wie Brennstoffversorgung. Die wachsende Menge
gefragt. Um diese Zeit begann sich auch in Japan a n Eisenerz erforderte ständi g wachsende
und China die Eisenverhüttung zu entwickeln. Mengen an Holzkohle, was wiederum zur immer 5-66
Bis auf seltenes, meteoritisches Eisen kommt intensiveren Abholzung der Wälder im Umland Rennofen. Historische
das Metall in der Erdkruste nicht gediegen vor. von Eisenhütten führte. Schließlich trat bis zum Rennöfen sind oben offene,
meist aus Lehm errichtete,
Vielmehr ist es in mineralischen Verbindungen Ende des 17. Jahrhunderts zunehmend eine
60 – 150 cm aufragende
als Erz oberflächennah häufig zu finden. Schnell Verknappung und durch weitere Transportwege Schachtöfen mit einem gru-
entstanden Vorrichtungen zur Gewinnung von eine Verteuerung der Holzkohle ein. Mit der benförmigen Auslass, über
Schmiedeeisen, zuerst sogenannte Rennöfen Einführung von Koks als Brennstoff im Jahr den die flüssige Schlacke
herausrinnen sollte, daher
(ÅAbbildung 5-66). Aufgrund der aufwändigen 1709 in Coalbrookdale (England) wurde der die Bezeichnung Rennofen.
Gewinnung wurde Eisen anfänglich zu Schmuck, entscheidende Schritt zu modernen Hochöfen Beschickt wurde der Ofen
später vorwiegend zu Waffen wie Schwerter, und zur Massenproduktion von Roheisen und mit Lagen aus Holzkohle
und Eisenerz. Rennöfen
Schilde und Rüstungen verarbeitet. Mit Stahl vollzogen. erreichten Temperaturen
wachsender Nachfrage konnten Rennöfen E in moderner Hochofen (Å Abbildun g um 1200 – 1400 °C. Das
nicht mehr genug Roheisen liefern. Deshalb 5-68) läuft durchschnittlich 10 Jahre ohne Eisenerz wurde durch das
entstehende Kohlenmon-
w urde ab dem 13 . J ahrhundert ein neues, Unterbrechung und liefert täglich zwischen oxid zu Eisen reduziert, da
leistungsfähigeres Verhüttungsverfahren mit 7000 und mehr als 10 000 Tonnen Roheisen. die Schmelztemperatur des
größeren Verhüttungsöfen, Floßöfen genannt Für 1000 kg Roheisen müssen 1600 kg Erz, Eisens aber bei 1535 °C
liegt, bildete sich kein flüs-
(ÅRandspalte Floßofen, Seite 256), eingeführt, siges Roheisen, sondern ein
die im Tal an Wasserläufen angesiedelt wurden. halbfester Eisenschwamm,
Mit der Einführung neuer Schmelzöfen die sogenannte Luppe, die
zu etwa 60 Prozent aus
und verbesserter Verhüttungsverfahren mit
Schlacke und zu 40 Prozent
nachgeordneter oxidativer Reduzierung des aus Roheisen bestand. Um
Kohlenstoffgehalts im Roheisen (das Frischen) die Luppe zu entnehmen,
musste der Ofen aufgebro-
konnten regional bis zu 400 Jahrestonnen
chen werden. Aus ihr wurde
hochwertiges Gusseisen sowie schmiedbarer die Schlacke mühsam durch
Stahl erzeugt werden. Weitere Verbesserung der Hämmern ausgetrieben, um
Verhüttungsverfahren und Vergrößerung der Öfen verarbeitbares Schmiede-
eisen zu erhalten. Die Me-
in Richtung moderner Hochöfen ermöglichte tallausbeute belief sich auf
eine zunehmende Produktionssteigerung. Als maximal 50 Prozent.

255
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

Floßöfen 100 kg Zuschläge, 400 kg Koks, 10 000 kg Stahl wird durch Schmelz- und Reduktions-
Mittelalterliche Frühfor-
Kühlwasser und 1500 m3 Frischluft eingesetzt prozesse aus verschieden Erzen wie Roteisen-
men des modernen Hoch-
ofens. Die mit Holzkohle werden. Außer der genannte Menge Roheisen stein, Brauneisenstein oder Magneteisenstein
befeuerten Öfen waren fallen 350 kg Schlacke, 2600 kg Gichtgas sowie gewonnen. Einfache Gewinnungsverfahren um
bis zu fünf Meter hoch 30 kg Gichtstaub an. stahlähnliche Schmelzprodukte zu erzeugen,
und wurden an Wasser-
läufen angelegt. Ihre Höhe Was umgangssprachlich als Eisen bezeich- beherrschten schon antike Schmiede. Da sie in
und die wassergetriebenen net wird, ist eigentlich eine Eisen-Kohlenstoff- ihren Schmelzöfen jedoch nicht die Schmelztem-
Blasebälge ermöglichten Legierung, die zu etwa 90 Prozent aus Eisen, zu peratur des Eisens erreichen konnten, erhielten
Temperaturen über dem
Schmelzpunkt des Eisens. 4 – 5 Prozent aus Kohlenstoff, zu 3 Prozent aus sie mit Schlacke und zu hohem Kohlenstoff-
Das flüssige Roheisen floss Silicium, bis zu 6 Prozent aus Mangan sowie gehalt verunreinigte Produkte, die arbeitsauf-
aus dem Ofen in eine aus geringen Beimengungen Schwefel, Phosphor, wändig in schmiedbare Form überführt werden
besondere Sandwanne,
wo es erstarrte, daher die Chrom, Vanadium und Aluminium besteht. Auf- mussten. Mit der Verwendung von Koks als
Bezeichnung „Floßofen“. grund seines hohen Gehalts an Kohlenstoff ist Energieträger setzte ab Mitte des 19. Jahrhun-
Es führte jedoch drei bis das Hochofenprodukt im kalten Zustand spröde derts der Siegeszug von Stahl als einer der wich-
vier Prozent Kohlenstoff,
so dass es nicht schmied-
und nicht schmiedbar. Erst nach dem Frischen tigsten Werkstoffe ein. Dazu trugen ab 1855
bar war. Deshalb wurde es bildet es das Ausgangsmaterial für Stahl und verbesserte Schmelzverfahren wie das Bessemer-
anfänglich als Dreck- oder Gusseisen, die sich beide im Kohlenstoffgehalt Verfahren bei, mit dem erzeugten Stahl konn-
Schweineeisen bezeichnet.
unterscheiden. Führt das Roheisen Nebenkom- ten endlich auch explosionssichere Kanonen
Zur weiteren Verarbeitung
musste es „aufgefrischt“ ponenten wie Chrom, Vanadium und vor allem produziert werden. Mit dem Thomasverfahren
werden, wobei durch Re- Mangan, so erhält man weißes Roheisen mit ließ sich ab 1879 schmied- und haltbarer Stahl
duktion Begleitelemente
weißen Bruchflächen, bei Silicium und Alumi- in Massenproduktion erzeugen. Eine weitere
und vor allem Kohlenstoff
heraus gebrannt wurden. nium dagegen graues Roheisen. Ersteres wird zu Steigerung der Stahlproduktion ermöglichte das
Stahl, letzteres zu Gusseisen verarbeitet. Wirt- 1864 entwickelte Siemens-Martinverfahren, alle
schaftlich nutzbare Fe-C-Legierungen enthalten Verfahren ließen die weltweite Stahlproduktion
maximal 6,67 Prozent Kohlenstoff. von 1 Million Tonnen im Jahre 1880 auf 9 Milli-
onen Tonnen um 1900 hochschnellen. Die Mas-
Von Waffen zu Wolkenkratzern: Stahl senproduktion von gleichmäßig hochwertigem
Stahl schuf die Grundlage für die industrielle
Der Begriff Stahl leitet sich vom althochdeutschen Revolution im 19. Jahrhundert.
Wort stahal, der Harte, der Feste ab. In der H eute werden vorwiegend zwei Stahl -
Metallurgie werden alle Legierungen als Stahl erzeugungsverfahren genutzt, nämlich das
bezeichnet, deren Hauptbestandteil Eisen Sauerstoffblas- und das Elektrolichtbogen-
ist, und die durch Schmieden oder Walzen Verfahren. Bei dem ersten Verfahren wird
plastisch formbar sind. Bis heute wurden über flüssiges Roheisen in einem birnenförmigen,
2000 verschiedene Stahlsorten für spezielle feuerfest aus g ekleideten Konverterofen in
5-67 Anforderungen entwickelt. Stofflich ist Stahl Stahl umgewandelt. In den Ofen wird etwa
Eisenmetalle. Einteilung
der Eisenmetalle nach ih- eine Eisen-Kohlenstoff-Legierung mit einem 20 Minuten lang reiner Sauerstoff mit einem
rem Kohlenstoffgehalt. maximalen Kohlenstoffgehalt von 2,06 Prozent. Druck von 10 bar eingeblasen. Das führt zu
einer stark exotherm ablaufenden Oxidation des
Kohlenstoffs bei Temperaturen bis über 1600 °C.
Zusätzlich hinzugefügter Branntkalk (CaO)
bindet unerwünschte Begleitstoffe, es entsteht
Schlacke. Durch Zugabe von Schrott kann
die Heftigkeit der Reaktion geregelt werden.
Besonders bei phosphorarmen Roheisen wird
dieses Verfahren genutzt und liefert weltweit
den meisten Stahl.
D as Elektrolichtbo g enverfahren wird
eingesetzt, um Eisen- und Stahlschrott zu
recyceln. Bei Temperaturen von 3000 – 3500 °C
können auch schwer schmelzbare Legierungs-
elemente gelöst und entfernt werden. Der im

256
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Metallschrott gebundene Sauerstoff wird zur 5-68


Oxidation und zur Reduktion genutzt. Hochofen. Moderne
Hochöfen erreichen eine
Höhe von bis zu 50 m und
Eigenschaften von Stahl einen Durchmesser von
10 – 12 m. Die Wände sind
aus feuerfesten Steinen
Obwohl man den inneren Bau und die Eigen- gemauert und von einem
art des Stahls im 19. Jahrhundert noch nicht Stahlmantel umhüllt. Im
verstand, beherrschten Ingenieure die Verwen- Mauerwerk sind Kästen
eingelassen, durch die
dung von Stahl soweit, dass sie damit Hoch-

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ständig Kühlwasser fließt.
bauten und Fahrzeuge konstruieren konnten. In der Vorwärmzone
Mit der Massenproduktion und Beherrschung werden Eisenerz und Zu-
schlagstoffe vorgewärmt.
von Stahl konnte die Eisenbahn und ein halbes In der Reduktionszone
Jahrhundert später das Auto ihren Siegeszug wird Eisenoxid durch
als Verkehrsmittel antreten. Nur mit Stahl war Kohlenmonoxid zu Eisen
reduziert. In der Kohlungs-
es GUSTAVE EIFFEL (1832 – 1923) möglich, in
zone bildet sich ein Eisen-
Paris seinen weltberühmten Turm zu errichten. mit einem Gehalt von weniger als 0,25 Prozent Kohlenstoffgemisch. In der
Erst im 20. Jahrhundert entschlüsselten Forscher Kohlenstoff sind leicht verformbar und werden Schmelzzone verbrennt
Koks durch die eingebla-
den Aufbau und die Eigenschaften von Stahl. zur Herstellung von Blechen und Autokarosserien
sene Luft, das restliche
Aufgrund dieser Kenntnisse gelang es, das Stoff- verwendet; solche mit einem Gehalt zwischen Eisenoxid wird zu Eisen
gemisch Stahl und damit seine Eigenschaften zu 0,25 und 0,7 Prozent sind härter und weniger reduziert, das sich in flüssi-
verändern und so neue Stahlsorten zu schaffen. verformbar. Sie werden zu Eisenbahnschienen ger Form am Boden sam-
melt, darüber schwimmen
Die Eigenschaften von Stahl lassen sich auf oder Maschinenteilen verarbeitet. Stähle mit die Verbrennungsprodukte
dreierlei Weise verändern, durch Kaltverformen einem Gehalt von 0,7 bis 1,5 Prozent sind sehr als Schlacke. Das Roheisen
wie Walzen (Stahlbleche) oder Ziehen, durch hart und kaum verformbar. Daraus werden ist aufgrund des hohen
Kohlenstoffgehalts (ca.
Wärmebehandlung wie Glühen, Härten und Messer, Rasierklingen, chirurgische Instrumente 4 Prozent) sehr spröde.
Vergüten sowie durch Legieren. Die beiden und Werkzeuge hergestellt. Ebenso kann eine In Konverteröfen wird
ersten Verfahren bewirken eine Veränderung zu hohe Anzahl von Schwefelatomen im daher im zweiten Schritt
der Kohlenstoff verbrannt
im kristallinen Gefüge des Stahls, die dritte Eisengitter den Stahl völlig verspröden, deshalb („Frischen") und es ent-
führt zu einer Änderung in der stofflichen darf der Schwefelanteil bei Qualitätsstählen steht schmiedbarer Stahl.
Zusammensetzung (ÅDie hohe Kunst Metalle 0,025 Prozent nicht übersteigen.
zu härten, Seite 185 ) . Beim Glühen wird D urch Legieren werden Fremdmetalle
der Stahl erwärmt und in ruhender Luft wie Chrom, Nickel oder Titan hinzugefügt, 5-69
l angsam abgekühlt. Für das Härte n wird die ebenfalls die mechanischen Eigenschaften Elektrolichtbogenverfah-
das heiße Metall extrem schnell mit Hilfe verändern. Übersteigen die Legierungselemente ren. Stahlschrott wird durch
einen elektrischen Lichtbo-
von Abschreckungsmitteln wie Wasser oder einen Anteil von 5 Prozent, so spricht man von gen zwischen der Masse
Öl abgekühlt. Beim Vergüte n findet eine hochlegierten Stählen. Je nach Legierungselement und den Elektroden bei bis
Kombination von Härten und Erwärmen des erhält man Stähle mit speziellen Eigenschaften, zu 3500 °C geschmolzen.
Durch Beigabe von Kalk
Werkstücks unterhalb des Umwandlungspunktes zum Beispiel rostfreie oder hochfeste Stähle. Mit und Magnesiumoxid kön-
bei 996 Kelvin statt (ÅEi se n-Ei se n ca r b i d- Chrom lässt sich die Härte und Warmfestigkeit nen Legierungsbestandteile
Diagramm, Seite 259), um die Spannungen als Schlacke gebunden wer-
den. Sie schwimmt auf der
im Metall abzubauen. Alle Verfahren zielen Schmelze und schützt den
darauf ab, das Gefüge des Stahls und damit Stahl vor weiterer Oxida-
seine mechanischen Eigenschaften zu verändern, tion. Die Schlacke wird vor
dem Abstich der Schmelze
also härtere, beständigere oder duktilere Sorten abgegossen. Ein Ofen fasst
zu erzeugen. je nach Größe bis zu meh-
Bei der Stahlerzeugung wird darauf geachtet, reren hundert Tonnen Roh-
material. Die rechts gezeigte
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dass Beimen g un g en wie Kohlenstoff oder


Form ist ein mit Wechsel-
Schwefel, die zu seiner Versprödung führen, so strom betriebener Ofen, der
niedrig wie möglich gehalten werden. Schon die Strom fließt zwischen den
geringsten Veränderungen im Kohlenstoffgehalt Elektroden. Gleichstromöfen
haben nur eine Elektrode,
f ü h ren zu b e d euten d en Verän d erungen in der Strom fließt zwischen
Richtung Verhärtung und Versprödung: Stähle Elektrode und Gefäßboden.

257
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

der Stähle erhöhen, Nickel und Vanadium Besteck oder Kochtöpfe. Ferritische Stähle sind
verbessern deren Zähigkeit, Molybdän steigert ebenfalls rostfreie Sorten, die magnetisierbar
die Warmfestigkeit und Wolfram die Härte. und schweiß g eei g net sind. Marte n sitisc h e
Ständig wird an der Entwicklung verbesserter Stä h le (Å R andspalte, Seite 260) besitzen
und neuer Stahlsorten gearbeitet. So ist es einem die höchste Festigkeit und größte Härte. Sie
Max-Planck-Institut gelungen, neue Leichtstähle sind magnetisierbar, aber schlecht schweißbar.
mit erstaunlichen Eigenschaften zu entwickeln. Daraus werden Messer und Schneidewerkzeuge
Es handelt sich um Fünf-Komponenten- für die Lebensmittelindustrie erzeugt.
Legierungen aus Eisen, Kohlenstoff, Aluminium,
Silicium und Mangan in zwei Varianten. Die Gusseisen – des Stahls spröder Bruder
erste führt 15 Prozent Mangan sowie jeweils
3 Prozent Aluminium und Silicium. Dieser Ein weiteres Verarbeitungsprodukt des Roheisens
Stahl ist sehr fest, hält Spannungen bis ist das im Alltag häufige Gusseisen. Gusseiserne
1100 Megapascal stand und lässt sich auf Bratpfannen, Töpfe oder traditionelle Herdplatten
50 Prozent dehnen. In der zweiten Variante ist bestehen daraus, ebenso Kanaldeckel, Gullyroste,
der Mangananteil auf 25 Prozent erhöht, sie ist Hydranten, zahlreiche Werkzeuge, Maschinen-
weniger fest, kann aber dafür bis zu 90 Prozent und Werkzeugteile. Ende des 19. Jahrhunderts
gedehnt werden, ohne zu zerreißen (das sehr wur d en d araus o f t f i l igrane Brüc k en,
duktile Gold hält maximal eine 60-prozentige Wandelhallen oder Säulen in Gebäuden errichtet.
Dehnung aus!) Diese Wirkung wird durch Seinen Namen verdankt dieser Eisenwerkstoff
interstitiell ein g efü g te, leichtere Man g an-, der Tatsache, dass er in seine endgültige Form
Silicium- und Aluminiumatome im Eisengitter gegossen werden muss. Denn erkaltet ist Gusseisen
erzielt. Dadurch kippt das Kristallgitter aus der aufgrund seines höheren Kohlenstoffgehalts ein
kubisch-flächenzentrierten Austenitstruktur in harter, spröder, nicht schmiedbarer Werkstoff, der
die kubisch-raumzentrierte Martensitstruktur. nur noch mechanisch bearbeitet werden kann.
Die kollektive Scherung der Kristallgitterebenen Für das spröde Verhalten dieses Werkstoffes
ermöglicht diese ungewöhnliche Dehnung. sind sein grobkörnigeres Gefüge und der
Stahlsorten werden anhand verschiedener höhere Anteil von eingelagerten Fremdatomen,
Kriterien wie Verwendung oder Zusammen- insbesondere Kohlenstoff und Phosphor (P) im
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setzung eingeteilt, die sich zum Teil Gitter verantwortlich. Inzwischen sind weniger
überschneiden. Ein Hauptkriterium ist die spröde Gusseisensorten entwickelt worden, die
stoffliche Zusammensetzung, nämlich die Stoßbeanspruchung vertragen. In der Metallurgie
Einteilung in unlegierte und in legierte Stähle. werden alle Eisen-Kohlstoff-Silicium-Legierungen
Aus unlegierten Stählen mit unterschiedlichem (Fe-C-Si) mit einem C-Gehalt über 2,06 Prozent,
K o hl e n sto f f gehalt werden Werkzeuge, einem Si-Gehalt größer 1,5 Prozent sowie
Baustähle und Eisenbahnschienen hergestellt, mit geringen Anteilen an Chrom, Mangan
5-70 aber auch Konservendosen, Autokarosserien, oder Nickel als Gusseisen bezeichnet. Dessen
Konverterofen. Stahl-
erzeugung durch das Stahlfedern oder Messer. Etwa zwei Drittel Schmelzpunkt liegt bei 1150 °C. Gusseisen ist
Linz-Donawitz-Verfahren der Stahlproduktion entfällt auf diese Gruppe. sehr druckbeständig, aber anfällig gegen Zug-
im Konverterofen. Dem Legierte Stähle zeichnen sich durch den Zusatz und Biegespannungen. Es verfügt über gute
kohlenstoffreichen, flüssi-
gen Roheisen (1) wird Me- eines oder mehrerer Fremdmetalle aus. Sie werden Wärmeaufnahme und speichert Wärme lange,
tallschrott und Aluminium oft auch Edelstähle genannt, da sie nicht rosten. was man in der Küche oft schmerzhaft an Töpfen
beigefügt (2), zugegebe- Aus niedrig- und hochlegierten Stahlsorten auf längst abgestellten Herdplatten zu spüren
ner Kalk (3) bindet Be-
gleitstoffe. Sauerstoff wird
werden haltbare, harte Gebrauchsgegenstände bekommt.
unter hohem Druck über wie Möbel, Sanitäreinrichtungen, Rohrleitungen, N ach der Zusammensetzun g und der
eine wassergekühlte Lanze Grills, Küchengeräte und Messer hergestellt. E i nl agerungswe i se vo n K o hl e n sto ff in das
in die Schmelze geblasen,
Eine andere Einteilun g orientiert sich an Metallgitter unterscheidet man mehrere
das sogenannte „Frischen“
(4). Der Sauerstoff oxi- den von den Legierungselementen bedingten Gruppen von Gusseisen mit unterschiedlichen
diert die Begleitstoffe des Gefügeformen im Stahl. Zu den austenitischen Eigenschaften. Ist der Kohlenstoff in Form
Eisens. Die oben schwim-
Stählen gehören die meisten rostfreien Stähle. Sie von Zementit (Eisencarbid, Fe3C) gebunden,
mende Schlacke (5) und
der kohlenstoffarme Stahl sind nicht magnetisch und gut umformbar, weich so spricht man von weißem Gusseisen; tritt er
(6) werden abgegossen. und schweißgeeignet. Im Alltag nutzt man sie als als freie Phase (Graphit) auf, so liegt graues

258
Erde, Wasser, Luft und Feuer

5-71
Eisen-Eisencarbid-Dia-
gramm. Das Kristallgefüge
von Eisenwerkstoffen ist
abhängig von Kohlen-
stoffgehalt und Tempe-
ratur. Man stellt diese
Abhängigkeit im Eisen-
Eisencarbid-Diagramm
dar, wobei man sich auf
den technisch relevanten
Bereich bis 6,67 Prozent
Kohlenstoffgehalt be-
schränkt. Die Liquidusli-
nie markiert die Grenze
zur flüssigen Phase, die
Soliduslinie die Grenze
zum festen Zustand. Je
nach Kohlenstoffgehalt
bildet sich dort entweder
der Eisen-Kohlenstoff-
Mischkristall Austenit oder
ein Phasengemisch aus Ei-
sencarbid (Zementit, Fe3C)
und Austenit. Unterhalb
Gusseisen (Grauguss) vor. Ersteres entsteht bei Namen nach diesem Metall erhalten, erinnert 723 °C entsteht je nach
Kohlenstoffgehalt Perlit,
schneller Abkühlung. Normalerweise bildet sich seine rotbraune Unterseite doch an Rost. eingebettet in Ferrit oder
Graphit lamellenförmig aus; durch spezielle Auf unserem Planeten steht Eisen mit einem in Zementit. Letzteres
Behandlung der Schmelze unmittelbar vor dem Anteil von 4,7 Gewichtsprozent bis 10 km Tiefe macht das Material hart
und spröde (Gusseisen!).
Gießen, wie Entschwefelung oder Legierung mit in der Erdkruste sowie 8 Prozent in der gesamten
Perlit verfügt über eine
Mangan werden andere Graphitausbildungen Lithosphäre an vierter Stelle, im Weltall an lamellenartige Struktur aus
erzeugt. Wird die abgekühlte Schmelze nochmals neunter Stelle. Der Erdkern besteht vermutlich reinem Ferrit und Zementit
einer Glühbehandlung (Tempern) unterzogen, zu 80 Prozent aus Eisen. Dort dominiert Eisen, oder Graphit. Das Ferrit-
Perlit-Gefüge ist daher
so entsteht entweder schwarzer oder weißer weil es kernphysikalisch das stabilste Element elastisch (Stahl!).
Temperguss. ist. An der Erdoberfläche kommt dieses Metall
sehr selten rein als meteoritisches Eisen vor;
5-72
häufig sind dagegen eisenhaltige Minerale,
Gusseisen. Eigenschaf-
Eisen, Cobalt, Nickel – Mineralogen kennen über 400. Wirtschaftlich ten der verschiedenen
wichtig sind: Magnetit (Fe 3O 4) , Goethit Gusseisensorten.
das magnetische Dreigespann
Die drei Metalle Eisen, Cobalt und Nickel Name Eigenschaften Verwendung (Auswahl)
werden nicht wegen ihrer Nachbarschaft
im Periodens y stem, sondern we g en ihrer magnetisch, hohe Festigkeit Armaturen im Rohrleitungs-
auffälligen magnetischen Eigenschaften oft schwarzer Temperguss und Zähigkeit, gute Gießbar- bau, Kolben, Zahnräder,
keit Triebwerksteile
in einem Atemzu g g enannt. We g en ihrer
chemischen Ähnlichkeit nennt man sie auch weißer Temperguss
große Festigkeit, stahlartig Rohre, Bauteile der Elektro-
Eisenmetalle. zäh, schweißbar industrie, Schließanlagen

Wichtiger Sternenstaub – Weißes Gusseisen hart, sehr spröde Hartschalenguss


das Element Eisen
korrosionsbeständig, hohe Herdplatten, Bratpfannen,
Graues Gusseisen mit
Druckfestigkeit, gute Wärme- Töpfe, Ofenteile,
Die Bezeichnung Eisen leitet sich entweder Lamellengraphit
leitfähigkeit und -kapazität Motorengehäuse
vom gotischen Wort (e)isam, festes Metall
Graues Gusseisen mit gesteigerte Dehnungsfähig- Hydranten, Werkzeugma-
(im Gegensatz zur weichen Bronze) oder Kugelgraphit keit, Schlagzähigkeit, geringe schinen, Antriebsteile, För-
vom Keltischen isara, fest, hart ab. Auch der (Sphäroguss) Wärmeleitfähigkeit deranlagen, Fahrzeugbau
lateinische Name ferrum bedeutet hart oder Motorblöcke, Zylinder-
Graues Gusseisen mit geringe Wärmedehnung, hohe
köpfe, Schwungräder,
schwer. Der farbenprächtige Eisvogel hat seinen vermikularem (wurm- Wärmeleitfähigkeit, gute Ther-
Getriebegehäuse, Abgas-
förmigen) Graphit moschockbeständigkeit
krümmer
krümmer

259
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

Austenitische Stähle (α-FeO(OH)), Hämatit (Fe2O3), Brauneisenstein weder mit den damaligen Methoden verhütten,
Nichtrostende, gut form-
bare, nicht ferromagneti- (Fe2O3 · n H2O), Siderit (FeCO3), Magnetkies noch lieferten sie Silber, verströmten aber beim
sche Stahllegierungen mit (FeS) sowie Pyrit (FeS2). Das wirtschaftlich Rösten infolge eines geringen Arsengehalts einen
einem kubisch-flächenzen- wichtigste Eisenerz ist Magnetit mit etwa 40 knoblauchartigen Geruch. Daran konnte nur
trierten Kristallsystem.
Prozent Eisengehalt. ein böser Berggeist, ein Kobold schuld sein!
Martensitische Stähle Nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch Obwohl ihnen Cobalt als Metall unbekannt war,
Ferromagnetisches, meta- in der Biologie nimmt Eisen eine überragende nutzen antike Ägypter, Griechen und Römer
stabiles Kristallgefüge von Stellung ein. Für tierische Lebewesen ist es ein seine Oxide zur Blaufärbung von Gläsern.
Stahl, das durch Abschre-
ckung aus dem Austenit- essenzielles Spurenelement. Im Körper eines Auch Chinesen kannten die färbende Wirkung
gefüge entsteht. Dabei 70 kg schweren Menschen sind etwa vier bis fünf von Cobaltverbindungen. Und im Mittelalter
verzerrt sich das kubisch- Gramm Eisen gebunden, davon etwa 70 Prozent bezeichnete man Erze, mit denen sich Gläser
raumzentrierte Gitter, der
resultierende Werkstoff ist im Hämoglobin, 3,5 Prozent im Myoglobin blau färben ließen, als Cobalt. Als Metall
hart und spröde. sowie 25 Prozent in eisenhaltigen Proteinen. In wurde Cobalt erst 1735 vom schwedischen
Hämoglobin und Myoglobin bildet Eisen ein Mineralogen und Chemiker GEORG BRANDT
mehrfach gebundenes Zentralatom; sie dienen (1694 – 1768) erkannt und 1780 als Reinmetall
dem Sauerstofftransport zu den beziehungsweise isoliert. Doch bis Anfang des 20. Jahrhunderts
innerhalb der Zellen. Der tägliche Eisenbedarf besaß es außer als Rohstoff zur Herstellung
eines Menschen beträgt etwa 5 – 40 mg. von blauen Farbpigmenten wie Smalte kaum
wirtschaftliche Bedeutung. Erst seit den 1930er
Eigenschaften des Eisens Jahren begann sein Aufstieg zu einem wichtigen
technischen Gebrauchsmaterial.
Eisen (Fe) Eisen gehört zu den Übergangsmetallen und ist Außer in Meteoriten kommt Cobalt irdisch
ein unedles Schwermetall. Es ist in Reinform nicht gediegen vor, sondern in mineralischen
Dichte 7,87 g/ cm3 bläulich-weiß glänzend, relativ weich und zäh Verbindungen mit Schwefel und Arsen. Wichtige
und zeigt an Bruchflächen eine dunkelgraue Cobaltminerale sind Carrollit (CuS · Co2S3),
Normalpotenzial –0,44 V (Fe2+)
bis schwarze Farbe. Eisen hat eine relativ hohe Skutterdit [(Co, Ni)As3-x], Cobaltit (CoAsS)
Schmelzpunkt 1536 °C elektrische Leitfähigkeit, aber die geringste und Linneit [(Co2, Co3)2S4]. Außerdem ist es
Wärmeleitfähigkeit aller Eisenmetalle. Unterhalb ein Begleitmetall von Nickel- und Kupfererzen,
Mohs-Härte 4
der Schmelztemperatur kommt es in mehreren aus denen es als Nebenprodukt gewonnen wird.
Elektronen- Kristallmodifikationen vor (Å A bbildun g Cobalt ist ein ferromagnetisches, unedles, silbrig
[Ar]3d64s2
konfiguration
5-71, Seite 259), nur das sogenannte glänzendes Schwermetall. Dank Passivierung ist
Elektr. Leit-
fähigkeit
10 · 106 S/ m α-Eisen ist unterhalb der Curietem p eratur es bei Raumtemperatur korrosionsbeständig, sehr
Wärmeleit- (766 °C) ferromagnetisch, alle anderen sind hart, zäh und kaum formbar. Bei Erhitzung bildet
80 W·m–1 · K–1
fähigkeit paramagnetisch. das Metall ein schwarzes Oxid (Co ·Co2O3). Von
Gegen oxidierende Säuren wie konzentrierte oxidierenden Säuren wie konzentrierter Schwefel-
Schwefel- und Salpetersäure sowie gegen oder Salpetersäure wird Cobalt zersetzt.
Alkalilaugen ist metallisches Eisen resistent, Neben der traditionellen Nutzung zur Glasfär-
Cobalt (Co) aber von nicht oxidierenden Säuren wie bung und zur Herstellung von Farbpigmenten
Platz in der
29 Salzsäure wird Eisen gelöst. Eisen korrodiert in wird Cobalt heute vorwiegend als Legierungs-
Häufigkeitsskala
feuchter Luft oder Sauerstoff-haltigem Wasser element zur Herstellung von warmfesten und
Dichte 8,9 g/ cm3 leicht, es „rostet“ (ÅKorrosion, Opferanoden verschleißbeständi g en Stählen für Masch i -
und Rost, Seite 262). Deshalb sind kleine nenbauteile gebraucht. Mit Cobalt lassen sich
Normalpotenzial –0,28 V (Co2+)
Eisengegenstände aus älteren Kulturabschnitten Molybdän, Platin, Wolfram und Chrom leicht
Schmelzpunkt 1495 °C in feuchten Böden kaum zu finden. legieren. In Wolframcarbid bildet Cobalt das
Bindemittel eines extrem harten Sinterproduktes
Mohs-Härte 5
Bunt färbend: Cobalt
Elektronen-
[Ar]3d74s2
konfiguration
Seinen Namen verdankt Cobalt mittelalterlichen
Elektr. Leit-
16 · 106 S/ m Bergleuten, die dieses Metall für verhext hielten.
fähigkeit
Wärmeleit- Cobalthaltige Erze ähnelten aufgrund ihres
100 W·m–1 · K–1
fähigkeit Glanzes dem gesuchten Silber, ließen sich aber

5-73
Einsatzbereiche von Cobalt. Verwendungsbereiche der
260 2010 verfügbaren 76 363 Tonnen Cobalt (Cobalt Deve-
lopment Institute, 2011).
Erde, Wasser, Luft und Feuer

(ÅHartes zerschneiden – kein Problem, Seite 275) Tiefe in sulfidischen Erzen eingelagert. Erstere
für Schneidewerkzeuge. In den leistungsfähigen beinhalten ca. 78 P rozent der weltweit
Lithium-Ionen-Akkus für Mobiltelefone und bekannten Nickelvorräte. Hauptlieferanten
Laptops steckt ebenfalls Cobalt. für Rein-Nickel sind momentan sulfidische
Schließlich ist Cobalt ein lebenswichtiges Erze. Manganknollen auf den Tiefseeböden
Spurenelement. Cobalt bildet das Zentralatom we r de n mi t ca. 1 Pr o z e n t Ni c k e l a l s
des Vitamins B12 (Cobalamin), das u. a. bei p otenzielle Nickelreserven ein g estuft. Aus
der Blutbildung eine Rolle spielt. Der Mensch sulfidischen Erzen wird das reine Metall mittels 5-74
benötigt täglich 3 mg davon. pyrometallurgischer Verfahren wie Rösten und Nickel-Kobold. Dar-
Reduktion gewonnen. stellung des mit Nickel-
Das metallische Element Nickel gehört kugeln jonglierenden
Berggeist und Allergien: Nickel Nickel-Kobolds auf
zur Eisengruppe und ist ein Übergangsmetall. einer Gedenkmünze der
Auch der Name dieses Metalls geht auf einen Reines Nickel ist ein silberweißes, zähes, stark Mond Nickel Company.
den „Bergleuten übel wollenden“ Geist zurück. glänzendes Schwermetall. Es kristallisiert im Deren Gründer, der
Chemiker LUDWIG MOND
Erzgebirgische Bergleute versuchten, aus kubisch-flächenzentrierten Gittersystem. Reines (1839 – 1909), nutzte als
dem kupferähnlich roten Rotnickelkies-Erz Metall ist gegenüber Meer- und Süßwasser erster zur Gewinnung von
(Nickelarsenid, NiAs), Kupfer zu gewinnen, was sowie Luft bei Raumtemperatur beständig Reinnickel ein Verfahren,
bei dem Nickel zuerst in
natürlich nicht möglich war. Der Arsengehalt weil es rasch passiviert, ebenso gegenüber
gasförmiges Nickelcarbo-
bewirkte beim Rösten einen knoblauchartigen alkalischen Lösungen und gegen die meisten nyl umgesetzt wird, aus
Geruch. also hatte der böse „Nick“ auch dieses organischen Säuren. Stärkere Säuren – außer dem dann bei höheren
Temperaturen hochreines
Erz verhext. Salpetersäure – greifen das Metall an. Nickel ist
Nickel gewonnen werden
Nickel gehört wie Cobalt zu den Metallen, sehr empfindlich gegenüber schwefelhaltigen kann.
die schon in der Antike in Legierungen genutzt Gasen, mit denen es Nickelsulfid bildet, das
wurden, ohne dass man Nickel als elementa- bei höheren Temperaturen zerstört wird. Seine
res Metall erkannte. Früh tauchten erste ni- enorme wirtschaftliche Bedeutung verdankt
ckelhaltige Gegenstände und Münzen auf: In das Reinmetall der Tatsache, dass es sich gut
China fanden Archäologen ca. 3000 Jahre alte schmieden, schweißen, walzen und ausziehen
Gebrauchsgegenstände mit einem Nickelgehalt lässt und sich außerdem leicht legieren lässt.
bis zu 20 Prozent, aus dem damals griechisch- Nachdem MICHAEL FARRADAY ein Verfahren
indischen Baktrien stammen zwischen 200 und zur galvanischen Vernickelung entwickelt
165 v. Chr. geprägte Kupfer-Nickel-Münzen. hatte, setzte der Aufstieg von Nickel zum 5-75
Nickel gehört zu den ersten nach der Antike technischen Gebrauchsmetall ein, zunächst 1-Euro Münze. Sie enthält
entdeckten Metallen. Dem schwedischen Mi- als Münzmetall. Eine belgische Legierung aus im dunkleren Rand 5, im
Inneren 25 Prozent Nickel.
neralogen CRONSTEDT (1722 – 1765) gelang es 75 Prozent Kupfer und 25 Prozent Nickel erwies
1751 erstmals, das Metall rein darzustellen und sich als brauchbarstes Münzmetall. Ab 1865
er nannte es in Anlehnung an den Begriff „kop- wurde in den USA eine 5-Cent-Münze mit
parnickel“ Nickel. dieser Legierung geprägt, die im Volksmund Nickel (Ni)
Außer in Eisenmeteoriten mit 8 – 9 Prozent auch heute noch „(The) Nickel“ heißt. Reine
Anteil an der
kommt Nickel nirgends gediegen vor, sondern Nickelmünzen wurden erstmals 1881 in der 0,015 Gew.%
Erdkruste
nur zusammen mit Schwefel , Kieselsäure , Schweiz geprägt, in Deutschland gab es von Platz in der
22
Arsen oder Antimon oder in Erzen mit Kupfer, 1927 bis 1939 eine ebensolche 50-Pfennig- Häufigkeitsskala

Gold und anderen Metallen. Aufgrund des Münze. Heuti g e Euromünzen enthalten Dichte 8,9 g / cm3
N ickelgehaltes in Eisenmeteoriten nehmen unterschiedliche Anteile von Nickel, die Ein-
Normalpotenzial –0,25 V (Ni2+)
Geophysiker und Geologen an, dass der Erdkern Euromünze im dunkleren Rand 5 Prozent, im
zu 10 Prozent aus Nickel besteht. Wichtige Innern 25 Prozent. Die starke Korrosion an der Schmelzpunkt 1455 °C
nickelhalti g e Minerale sind Nickelblende Nahtstelle der beiden Nickellegierungen bewirkt
(Millerit, NiS), Nikelin (Rotnickel-Kies, NiAs) nach schweizer Untersuchungen eine 240 bis Mohs-Härte 4

mit einem Ni-Gehalt von 43 , 61 Prozent , 320fach höhere Freisetzung von Nickelionen Elektronen-
[Ar]3d84s2
konfiguration
Népouit (Garnierit, [(Ni,Mg)6(OH)8[Si4O10]]) beim Kontakt mit menschlichem Schweiß als
Elektr. Leit-
mit Nickelgehalten von 10 bis 20 Prozent. zugelassen. Etwa 6 Prozent der männlichen 14 · 106 S/ m
fähigkeit
Diese Minerale sind oberflächennah in stark und 11 Prozent der weiblichen Bundesbürger Wärmeleit-
90 W·m–1 · K–1
verwitterten Gesteinen (Laterit) und in größerer leiden an einer Nickelallergie, ausgelöst durch fähigkeit

261
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

Elektrochemische Span-
nungsreihe Korrosion, Opferanoden und Rost
In der elektrochemischen
Spannungsreihe werden
Metalle nach der Leichtig- Unter Korrosion versteht man eine Reaktion
keit geordnet, Elektronen
abzugeben, also oxidiert eines Werkstoffs mit der Umgebung, die zu einer
zu werden. Der Redoxre- Veränderung des Werkstoffs führt und dessen
Men+ + n e–

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


aktion Me Funktion beeinträchtigen kann. Ursprünglich
wird eine Spannung zuge-
ordnet, das sogenannte nur auf Metalle bezogen, wird der Begriff heute
Normal- oder Standardpo- auch auf andere Stoffe angewandt. Bei Metallen
tenzial. Es definiert, ob das unterscheidet man zwischen der physikalischen,
Metall leichter oder weni-
ger leicht als Wasserstoff
der chemischen und der elektrochemischen Kor- r
(H2 2 H+ + 2 e–) Elektro- rosion. Letztere ist die häufigste, besonders be- 5-78
nen abgibt. Gibt es leich- troffen sind Eisen, aber auch unedle Metalle Kontaktkorrosion. Kommt Eisen in Kontakt mit dem ed-
ter Elektronen ab, ist das
wie Zink, Cadmium, Chrom und Aluminium. leren Kupfer, so fließt ein Strom vom Eisen zum Kupfer,
Potenzial negativ, sonst
Die elektrochemische Korrosion ist eine Re- denn dieses besitzt weniger überschüssige Elektronen, da
positiv. Edle Metalle haben
es weniger Ionen an die Lösung abgibt. Dadurch wird der
ein positives Potenzial. doxreaktion, die meist unter Beteiligung von Korrosionsprozess beschleunigt.
Das Potenzial zwischen
Wasser stattfindet. Im ersten Schritt werden Me-
zwei Metallen entspricht
der Spannung zwischen tallatomen Elektronen entzogen (Oxidation), die Die Korrosion wird an Kontaktstellen zwischen
den Elektroden einer Bat- positiv geladenen Metallionen diffundieren in einem edleren und einem unedlen Metall be-
terie, die aus den jeweili- das Wasser. Im Metall verbleiben überschüssige schleunigt. Da bei ersterem weniger Ionen in
gen Metallen bestehen.
Es drückt also die Tatsache Elektronen. Sofern das Wasser rein, die Metall- das Wasser diffundieren, entsteht ein elektri-
aus, dass die Elektronen oberfläche homogen ist und die überschüssigen scher Strom zwischen beiden Metallen, der die
vom unedlen zum edlen Elektronen nicht abgeführt werden können, überschüssigen Elektronen abführt (ÅRand-
Metall fliessen (vom Mi-
nus- zum Pluspol). stellt sich schnell ein Gleichgewicht ein, das spalte elektrochemische Spannungsreihe).
eine weitere Lösung von Metallionen verhindert. Dieses Prinzip liegt „Opferanoden“ zu-
grunde, mit denen man Boiler vor Korrosion
5-76
schützt. Wird in den verzinkten Stahlboiler ein
Eisen im Wasser. Eisen
korrodiert in reinem Stab aus unedlerem Metall (meist Magnesium)
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

Wasser kaum, da sich eingebracht und elektrisch mit dem Kessel ver-
ein Gleichgewicht bildet bunden, so korrodiert das Magnesium anstelle
zwischen den gelösten po-
sitiven Eisenionen und den
des Boilermetalls. Bei der sogenannten Säure-
überschüssigen Elektronen oder Wasserstoffkorrosion übernehmen die als
im Metall. H3O+ - Ionen vorliegenden Protonen die Rolle
des Sauerstoffs. Auch wässrige Salzlösungen
Im Wasser gelöster Sauerstoff kann jedoch Elek- unterschiedlicher Konzentration, die auf ein
tronen aufnehmen (Reduktion) und mit dem Metallstück wirken, korrodieren das Metall.
Wasser Hydroxidionen (OH–) bilden. Diese Rost ist ein basisches Gemisch aus Eisen-
reagieren mit den gelösten Metallionen zu Me- oxid-hydroxid mit Wasser. Es bildet eine pulv-
tallhydroxiden und -oxiden, bei Eisen spricht rige, poröse Auflage von einigen Millimetern
man von Rost. Dadurch wird der Stromkreis Dicke. Rost bildet keine Schutzschicht, viel-
5-77 aus Elektronen und positiv geladenen Ionen mehr bewirken Sauerstoffzutritt durch die po-
Eisen und Sauerstoff. geschlossen, ein Gleichgewicht stellt sich nicht röse Deckschicht und elektrische Leitfähigkeit
Sauerstoff vermag die ein, es werden vielmehr immer mehr Ionen aus des feuchten Rostes eine anhaltende Korrosion
überschüssigen Elektronen
aufzunehmen; es entste-
dem Metall gelöst, es korrodiert. eisenhaltiger, unlegierter Metalle. Die Rostbil-
hen Hydroxidionen (OH–), dung geht mit einer Volumenzunahme einher;
die mit den gelösten Ei- gleichzeitig platzen trockene Rostflocken ab.
senionen Rost bilden, der
sich auf dem Metall ab-
Hält die Rostbildung an, so wird der betrof-
fene Gegenstand letztendlich völlig aufgelöst.
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

lagert. Dadurch entsteht


wie bei einer Batterie ein Ein großer Teil der weltweiten, jährlichen Ei-
geschlossener elektrischer
sengewinnung geht in den Ersatz verrosteter
Stromkreis aus Elektronen
im Metall und Ionen in der Gusseisen- und Stahlbauteile.
Lösung.

262
Erde, Wasser, Luft und Feuer

nickelhalti g en Schmuck, Brillenbü g el und 2004 gelang es auch, geringe Mengen amorphen
Münzen wie das Ein- und Zwei-Euro-Stück. Stahls mit glasartiger Struktur zu erzeugen.
Trotz seiner allergieauslösenden Wirkung Vorangegangen waren Computermodelle
benötigt der menschliche Körper etwa 50 μg binärer Stahlgemische. Auf dieser Grundlage
Nickel pro Kilogramm Körpergewicht. Mit wurden mit Legierungselementen wie Zirkon,
der Nahrung, insbesondere Brot und Gemüse, Yttrium oder den Metallen der Seltenen Erden
werden täglich zwischen 0,3 und 0,5 mg Nickel Stähle mit glasartiger Struktur und metallischen
aufgenommen. Andererseits gelten Nickelstäube Eigenschaften erzeugt. Legierungselemente
als kanzerogen, Nickelsalze sind in der Regel wie die großen Yttrium-Fremdatome stören
giftig, Nickeltetracarbonyl Ni(CO)4 ist hoch- die Ausbildung eines üblichen Metallgitters.
toxisch. Anfangs nahm man eine völlig ungeordnete,
Nicht nur für Münzen bildet Nickel ein zufällige Verteilung der Atome wie bei Glas im
wichtiges Legierungselement, sondern auch Metallkörper an, daher auch die Bezeichnung
für viele technisch genutzte Geräte. Mit Nickel „metallisches Glas“. Doch vor wenigen Jahren
lassen sich leicht Eisen, Mangan, Chrom oder gelang es, die innere Struktur derartiger
Kupfer legieren, schon geringe Anteile von Stahlkörper aufzudecken. Danach ordnen sich
Nickel in diesen Metallen verändern deren die Atome in energetisch besonders günstigen
Eigenschaften stark. So färben 15 Prozent dreidimensionalen, polyedrischen Strukturen
Nickelanteil das rötliche Kupfer silbrig- mit 7 bis 15 Atomen um ein Zentralatom an
weiß. Dank rascher Passivierung bildet (Å Abbildung 5-79). Aus diesen Strukturen
Nickel einen Korrosionsschutz auf ros t- bilden sich wiederum größere Cluster. Die
anfälligen Metalloberflächen von Stahl und Atome innerhalb eines solchen Metallkörpers
Gusseisen (Vernickelung). Heute wird Nickel sind kovalent gebunden ( Å B indungsarten
hauptsächlich zur Stahlveredelung eingesetzt. und Bindungsstärken, Seite 145). Die innere

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Häufig werden Nickel-Cadmiumbatterien Struktur bedingt wichtige, vom üblichen Stahl
(Ni-Cd-Batterien) angeboten. Das sogenannte abweichende Eigenschaften der amorphen
Raney-Nickel (85 Prozent Nickel und 15 Pro- Stähle: Sie sind wesentlich fester und zwei-
zent Aluminium) bildet einen guten Katalysator bis dreifach härter als kristalline Stähle, aber
in vie l en in d ustrie ll en Prozessen, so b ei im Gegensatz zu Gläsern und Keramiken
Hydrierungsreaktionen in der organischen elastisch verformbar. Da auch Korngrenzen als
Chemie oder bei Laborsynthesen. 5-79
Angriffspunkte für eine Korrosion fehlen, ist
Polyedrische Strukturen.
dieser Stahl sehr korrosionsbeständig und nicht
In dem durch große
magnetisch. Wie normale Metalle besitzt er eine Fremdatome gestörtem
Amorphes Metall – ein Material gute elektrische und Wärmeleitfähigkeit, kann Gitter des Stahls entstehen
erhitzt, formgegossen und maschinell verarbeitet polyedrische Strukturen
zwischen zwei Welten aus 7 bis 15 Eisenatomen,
werden. Die Verwendungsmöglichkeiten dieser die ein Fremdatom um-
Schon in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts Stahlsorten sind sehr vielfältig: chirurgische schließen.
gelang es, winzige Mengen amorpher Stähle zu Instrumente, nichtmagnetische Schiffsrümpfe,
erzeugen, indem man flüssigen Stahl innerhalb große Gebäude, Korrosionsschutzüberzüge oder
von einer Sekunde um einige Megakelvin (106 K/ s) Fahrradrahmen. Bisher wurden daraus Tennis-,
abkühlte. Dann haben die Atome keine Zeit, sich Golfschläger und Caddies gefertigt.
in einem regelmäßigen Metallgitter anzuordnen.
Doch diese Methoden erwiesen sich als zu teuer
und zu ineffektiv. In den nächsten Jahrzehnten Edelmetalle
ex p erimentierten Forscher mit Zwei- und
Mehrkomponenten-Legierungen verschiedener Bei der Erwähnung von Edelmetallen denken
Nichteisen-Metalle, bei denen ebenfalls nur viele sofort an das begehrte Gold sowie an Silber,
winzige Mengen von amorphen, glasartigen Sportler an die Siegermedaillen aus Gold, Silber
Metallen erzeugt werden konnten. Mittels dieser und Bronze. Allerdings bestehen Goldmedaillen
Versuche wurden Legierungselemente wie Zirkon zu 92,5 Prozent aus Silber, das mit 6 g reinem
gefunden, die die Abkühlungstemperatur auf Gold überzogen ist. Ein Chemiker wird sofort
100 bis 1 Kelvin pro Sekunde senkten. Im Jahr einwenden, dass Bronze kein elementares Metall,

263
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

Münzmetalle sondern eine Kupferlegierung ist. Doch nicht nur Gold –


So werden die drei Edel- Gold und Silber sind Edelmetalle, sondern auch Metall der Könige, König der Metalle
metalle Kupfer, Silber
und Gold bezeichnet, aus Kupfer, Platin, das bei Raumtemperatur flüssige
denen über Jahrtausende Quecksilber sowie einige seltene metallische Ele- In Wirtschaftkrisen steigt meist die Nachfrage
Münzen hergestellt wur- mente. Edelmetalle sind eine Untergruppe der nach Gold als Wertanlage. Das ist nicht neu,
den. Eigentlich müsste
auch Aluminium dazu
Schwermetalle. schon seit den ersten Goldfunden vor mehr als
gezählt werden, weil über Doch warum sind einige Metalle edel? Wir 7000 Jahren hat dieses Metall eine starke An-
40 Jahre in der ehemali- schätzen diese Metalle, weil sie nicht nur selten ziehungskraft auf den Menschen ausgeübt. Um
gen DDR 1-Pfennig- bis
2-Mark-Stücke aus diesem
sind, sondern auch in typischen Farben glän- es zu besitzen, sind Kriege geführt, Kontinente
Metall im Umlauf waren. zen und ihren Glanz im Gegensatz zu unedlen erobert und Kulturen wie die der südamerika-
Metallen wie Eisen nicht verlieren, wenn sie in nischen Inkas zerstört worden. Viele berühmte
Kontakt mit Wasser oder Luft kommen. Edel- Kultgegenstände und Artefakte sind aus Gold,
metalle reagieren schwach oder gar nicht mit Alchemisten versuchten immer wieder erfolglos
Wasser und Luftsauerstoff; sie oxidieren und Gold aus anderen Metallen zu erzeugen (Å Ele-
korrodieren nicht (Å Kasten Korrosion, Opfer- mente und Transmutation, Seite 61), Kunde
anoden und Rost, Seite 262). Die klassischen von Goldfunden lockten zahllose Goldsucher
Edelmetalle Gold, Silber und Platin werden in unwirtliche Regionen der Erde. Kein anderes
von Salzsäure nicht angegriffen. In der elek- Metall galt und gilt mehr als Symbol für Macht
trochemischen Spannungsreihe zeigen sie ein und Reichtum denn Gold. Diese Macht wird
positives Standardpotenzial von +1,69 V (Gold) in der berühmten Goldarie in der Oper Fidelio
bis +0,34 V (Kupfer) gegenüber Wasserstoff, vom Kerkermeister Rocco besungen:
während das unedle Eisen ein Potenzial von
–0,44 V besitzt (ÅRandspalte, Seite 262). Un- Hat man nicht auch Gold beineben, kann man
edle Metalle geben daher leichter Elektronen ab nicht ganz glücklich sein ..., Macht und Liebe
verschafft dir das Gold..., Es ist ein schönes
als edle, sie sind leichter oxidierbar. Oft werden Ding, das Gold..., es ist ein mächtig Ding, das
Metalle wie Kupfer und Quecksilber als Halb- Gold.
edelmetalle bezeichnet, da ihr Standardpotenzial
näher am Wasserstoff liegt und sie im Kontakt Die Wertschätzung dieses Metalls spiegelt sich in
mit Luftsauerstoff schneller korrodieren. der Bezeichnung für wichtige Rohstoffe wider, so
Im physikalischen Sinn gehören nur Gold, „schwarzes Gold“ für Erdöl oder „weißes Gold“
Kupfer und Silber zu den Edelmetallen, denn für Porzellan oder Baumwolle.
nur sie besitzen vollständig gefüllte d-Bänder
( Å Bändermodell, Seite 147), die praktisch Vorkommen und Gewinnung von Gold
nicht zur Reaktivität beitragen. Mit Ausnahme
des bei Raumtemperatur flüssigen Quecksilbers Gold (Au) ist ein seltenes, edles Schwerme-
(Å Warum Gold gelb und Quecksilber flüssig tall und kommt zwar gediegen, aber niemals
Gold (Au) ist, Seite 136) haben die echten Edelmetalle vollkommen rein vor, stets ist es eingebettet in
Anteil an der 4 · 10–7
einen ziemlich hohen Schmelzpunkt: Silber mit andere Gesteine und verunreinigt mit anderen
Erdkruste Gew.% 962 °C und Gold mit 1064 °C liegen am unteren Metallen wie Silber, Kupfer und Platin. Deshalb
Platz in der
75 Ende der Skala, die sehr seltenen Metalle Ru- glaubte man früher oft, dass Silber langfristig
Häufigkeitsskala
thenium mit 2250 °C und Iridium mit 2443 °C zu Gold reift. Gold findet man in drei Lager-
Dichte 19,32 g / cm3 am oberen Ende. Außer Rhenium zählen alle stättentypen: Primäre Lager liefern sogenanntes
Edelmetalle, auch die sehr seltenen wie Palla- Berggold in Form goldhaltiger Quarzgänge mit
Normalpotenzial 1,69 V (Au+)
dium oder Ruthenium, zu den Industriemetal- Begleitmineralen wie Pyrit oder Tellur. Sekun-
Schmelzpunkt 1064 °C len. Dort werden sie unter anderem als Kata- däre Vorkommen führen sogenanntes Wasch-
lysatoren oder Legierungselemente verwendet. gold (auch Seifengold), durch Verwitterung
Mohs-Härte 2,5
Wir werden uns an dieser Stelle mit den seit goldhaltiger Gesteine freigesetzte Goldflocken
Elektronen- alters her als Schmuck- und Münzmetalle ge- und -körner (Nuggets), die von fließendem
[Xe]4f145d106s1
konfiguration
nutzten Gold, Silber und Kupfer befassen. Die Wasser zusammengespült und abgelagert wor-
Elektr. Leit-
44 · 106 S/ m Eigenschaften des Quecksilbers sind ein Thema den sind. In Südafrika liegen reichhaltige Gold-
fähigkeit
Wärmeleit- von Kapitel 6 (ÅDas fließende Silber – Queck- vorkommen in tertiären Lagerstätten, in denen
318 W · m–1 ·K–1
fähigkeit silber, Seite 353). präkambrische goldhaltige Flussablagerungen

264
Erde, Wasser, Luft und Feuer

zu Konglomeraten verfestigt sind. Am einfachs- „Tafelsilber“ veräußern, dann heißt das, sie
ten ist die Gewinnung von Waschgold; dazu verkaufen wertvollen Staatsbesitz. Selbst ein
müssen Sande und Kiese nur ausgeschwemmt Land ist nach diesem Metall benannt worden,
werden. Mit Hilfe chemischer Verfahren unter nämlich Argentinien, nach der lateinischen Be-
Einsatz giftiger und umweltschädigender Stoffe zeichnung „argentum“ für Silber.
wie Quecksilber oder Cyaniden kann das Gold
von Begleitstoffen getrennt und mit metallur- Vorkommen und Gewinnung von Silber
gischen Verfahren wie Raffination aufbereitet
werden. Silber (Ag) kommt selten gediegen in Form von
Körnern und Dendriten in Gängen vor, meistens
Eigenschaften und Verwendung jedoch in sulfidischen, silberhaltigen Mineralen
wie Argentit (Silberglanz, Ag2S), Strohmeye-
Gold verdankt seine Wertschätzung und viel- rit (Kupfersilberglanz, AgCuS) und Proustit
seitige Verwendung einigen außergewöhnlichen (Ag3AsS3). Heute wird jedoch das meiste Silber
Eigenschaften. Es ist gegen die meisten Säuren als Nebenprodukt aus silberhaltigen Zink-,
resistent, auflösen lässt es sich nur mit Chlor, Kupfer und Bleierzen gewonnen. Reinsilber
Cyaniden, Quecksilber und Königswasser. wird mit hydrometallurgischen Verfahren, mit
Als „edelstes“ Edelmetall korrodiert es nicht, Rösten und Reduzieren sowie mit Raffination
behält also seinen Glanz und seine goldgelbe aus den Erzen gewonnen. (ÅAufarbeitung und
Farbe über einen langen Zeitraum bei. Reingold Verhüttung, Seite 254). Mittels dieser Aufar-
ist ein weiches Metall, das sich leicht verformen beitungsverfahren erhält man Feinsilber mit
lässt. Aus einem Gramm Gold lässt sich eine einem Gehalt von 99.9 Prozent.
Folie mit einer Stärke von 0,00125 mm zu einer
Fläche von einem Quadratmeter aushämmern Eigenschaften und Verwendung
(Blattgold!). Es ist das dehnbarste aller Metalle:
Aus einem Gramm kann man einen 0,006 mm Silber kristallisiert im kubisch-flächenzentrier-
Silber (Ag)
starken Faden auf 3 km Länge ausziehen. Weiter ten Kristallsystem. Als ziemlich reaktionsträ-
ist seine gute thermische und elektrische Leitfä- ges Edelmetall reagiert es kaum mit Wasser Anteil an der
7,9·10–6 Gew.%
Erdkruste
higkeit zu nennen. Jahrhundertelang war Gold und auch bei höheren Temperaturen nicht mit
Platz in der
das wichtigste Währungsmetall; seine Stellung Luftsauerstoff. Das ärgerliche Anlaufen wird 66
Häufigkeitsskala
als Währungsreserve hat es im 20. Jahrhundert durch in der Luft vorhandenen Schwefelwas- Dichte 10,5 g/ cm3
weitgehend verloren, doch etwa 30 Prozent der serstoff (H2S) verursacht, mit dem es sich zu
jährlichen Golderzeugung werden in Tresoren Silbersulfid (Ag2S) verbindet. Silber ist unlös- Normalpotenzial 0,8 V (Ag+)
in Form von Goldmünzen und Barren gehortet. lich in nichtoxidierenden Säuren wie Salzsäure,
Schmelzpunkt 962 °C
Als technischer Werkstoff besitzt Gold nur ge- löst sich aber in konzentrierter Salpeter- und
ringe Bedeutung, es wird vor allem in der Elek- Schwefelsäure. Reinsilber ist ein weiches, sehr Mohs-Härte 2,5
trotechnik und in der Elektronik, ferner in der duktiles Metall. Es lässt sich zu Folien von Elektronen-
Dentaltechnik verwendet. Etwa 60 Prozent des 0,003 mm Stärke auswalzen und zu bis zu [Kr]4d105s1
konfiguration
Goldes werden für Ausschmückung (Blattgold) 2 km langen Filigranfäden mit einem Gewicht Elektr. Leit-
63·106 S/ m
und Schmuckherstellung verbraucht. Es eignet von 0,1 – 1 Gramm dehnen. Silber besitzt die fähigkeit
Wärmeleit-
sich als Legierungselement und wird wegen höchste thermische und elektrische Leitfähig- 429 W·m–1 · K–1
fähigkeit
seiner geringen Härte oft mit Silber, Kupfer und keit aller Metalle. Innerhalb der Kupfergruppe
Platin gemischt. zeigt allein Silber nicht das farbige Aussehen,
denn bei diesem Metall führt die relativistische
Silber – Des Goldes kleiner Bruder Anhebung des 4d-Orbitals und die Absenkung
des 5s-Orbitals zu einer Energiedifferenz von
Wie Gold gilt auch Silber als recht sichere Wert- 3,9 eV. Aufgrund dieser Lücke kann Silber nur
anlage. Sportler freuen sich über eine Silberme- im UV-Spektralbereich zu Interbandübergängen
daille, man legt nur zu besonderen Anlässen von Elektronen aus dem obersten besetzten
Silberbesteck auf und wer „mit einem silbernen d-Band in das Leitungsband angeregt werden,
Löffel im Mund geboren“ wurde, der gehört nur ultraviolette Lichtquanten werden daher
zu den sehr Wohlhabenden. Wenn Politiker absorbiert. Silber reflektiert 99,5 Prozent des

265
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

einfallenden sichtbaren Lichtes und erscheint


deshalb silberweiß.
Silberfäden und Silberionen besitzen eine
antibakterielle Wirkung, die diejenige von gän-
gigen Antibiotika übertrifft. Silber kann gezielt
Bakterien, Pilze und sogar Tumorzellen abtö-
ten, indem es deren Energiegewinnung stört.
Die antibakterielle Wirkung wird bei modernen

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


Beschichtungen genutzt, in die Silber-Nanopar-
tikel eingearbeitet sind. Man findet sie auf den
Oberflächen von Lichtschaltern, Kühlschränken,
Küchenmöbeln oder medizintechnisch genutzten
Kunststoffen.
In den früheren Hochkulturen um das Mit- 5-80
telmeer wurde Silber hauptsächlich zu Münzen Kupferelektrolyse. An der Anode aus Rohkupfer gehen
verarbeitet. Erste Silbermünzen tauchten um Metallionen in Lösung. An der Kathode aus hochreinem
Kupfer scheiden sich die Kupferionen ab, während sich
600 v. Chr. in Griechenland auf. Zwischen 1485 edlere Metalle als „Anodenschamm“ am Boden absetzen
und 1550 stieg die Augsburger Kaufmannsfa- und unedlere in Lösung bleiben.
milie Fugger durch ihre Beteiligung an Tiroler
Silberbergwerken sowie durch die europaweite zeigt, dass heutige Ein- bis Fünf-Cent-Stücke
Kontrolle des Silberhandels zu den reichsten nur einen Kupferüberzug über einem Stahlkern
Kaufleuten Europas und zu Geldgebern von besitzen. Sichtbar in Kupfer glänzen die gro-
Fürsten und Kaisern auf. Bis ins 19. Jahrhundert ßen Kessel in Bierbrauereien. Nach Eisen ist
konnte Silber seine Stellung als Währungsreserve dieses Metall inzwischen zum zweitwichtigsten
und wichtigstes Münzmetall gegenüber Gold Gebrauchsmetall in der Industriegesellschaft
behaupten. Um 1871 erfolgte in Deutschland aufgestiegen.
die Umstellung auf Gold. Inzwischen werden
bis zu 95 Prozent des weltweit geförderten Sil- Vorkommen und Gewinnung von Kupfer
bers industriell verarbeitet, nur 5 Prozent gehen
in die Schmuckherstellung. Von 1850 bis zum Kupfer (Cu) kommt vereinzelt gediegen, über-
Aufkommen der digitalen Fotographie spielten wiegend jedoch in mineralischen Verbindun-
die Silberhalogenide Silberchlorid (AgCl) und gen und deren Erzen vor. Aufgrund seiner ho-
Silberbromid (AgBr) eine zentrale Rolle in der hen Affinität zu Schwefel überwiegen mit 85
Fotoindustrie als lichtempfindliche Beschichtung. Prozent sulfidische Erze, oxidische haben nur
Seine Reflexionseigenschaften machen Silber zu einen Anteil von 15 Prozent. Wichtige kup-
Kupfer (Cu) einem idealen Werkstoff für optische Geräte, ferhaltige Minerale sind Chalkopyrit (Kup-
seine hohe elektrische Leitfähigkeit für elektrische ferkies, CuFeS2), Bornit (Cu5FeS4) und Chal-
Anteil an der
0,006 Gew.% und elektronische Bauteile und in Legierungen kosin (Cu2S), wirtschaftlich interessant sind
Erdkruste
Platz in der
23
mit Kupfer, Nickel, Zinn und Zink eignet es sich auch Azurit (Cu3(CO3)2(OH)2) sowie Malachit
Häufigkeitsskala für elektrische Kontaktflächen. (Cu2[OH2)|CO3]). Je nach Erzart werden ver-
Dichte 8,92 g/ cm3 schiedene Gewinnungsarten eingesetzt. Sulfidi-
Kupfer sche Erze werden durch Flotation angereichert
Normalpotenzial 0,34 V (Cu2+)
und in einem Konverter zu Rohkupfer reduziert.
Schmelzpunkt 1085 °C Aus unserem heutigen Alltag ist Kupfer nicht Teilweise verwendet man auch Bakterien, um
mehr wegzudenken: Durch dieses Metall läuft aus Sulfiden lösliche Sulfate zu bilden. Oxi-
Mohs-Härte 3 unsere Stromversorgung, unser alltäglicher „Le- dische Erze werden durch Schwefelsäure in Sul-
Elektronenkon-
[Ar]3d104s1 benssaft“. Rohrleitungen, auch für die häusliche fate umgesetzt. Die löslichen Sulfate werden
figuration
Wasserversorgung und -entsorgung bestehen elektrolytisch oder chemisch zu Rohkupfer re-
Elektr. Leit-
59 · 106 S/ m aus Kupfer. Viele meinen, dass sie wie früher duziert. Rohkupfer wird im letzten Schritt durch
fähigkeit
Wärmeleit- bei Pfennigmünzen Kupfer im Portemonnaie Elektrolyse von edleren und unedleren Metallen
395 W·m–1 ·K–1
fähigkeit tragen; doch eine Prüfung mit einem Magneten gereinigt (ÅAbbildung 5-80).

266
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Eigenschaften und Verwendung 5-81


Einsatzbereiche von Kup-
fer. Verwendungsbereiche
Reines Kupfer ist ein zähes, weiches, hellrot der 22 099 Tonnen Kupfer
schimmerndes Edelmetall. Dennoch wird Kup- im Jahr 2009 (Internatio-
fer oft als Halbedelmetall eingestuft, weil es im nal Copper Study Group
2011).
Gegensatz zu den beiden anderen Metallen bei
Kontakt mit Luftsauerstoff langsam, oft über
Jahre, oxidiert und sich dabei mit einer dunklen
Oxidschicht überzieht. Bei der üblichen An-
wesenheit von Schwefeldioxid und Kohlendi-
oxid bildet sich ein grüner Überzug, die Patina
(ÅKasten Patina, Seite 269). Dieser dünne Be- Erzen. Kupfer war das erste Metall, das Steine
lag schützt darunter liegende Kupferschichten als Werkstoff verdrängte: die sogenannte Kup-
vor weiteren Angriffen. Kupfer kristallisiert im ferzeit dauerte je nach Region von etwa 5500 bis
kubischen-flächenzentrierten System und gehört 2500 v. Chr. Für Waffen erwies sich das Material
damit zu den Metallen, die sich leicht zu Folien bald als zu weich und wurde durch die we-
walzen lassen (ÅDefekte und ihre Folgen, Seite sentlich härtere Bronze ersetzt. In den nächsten
182). Auch seine Farbe geht wie die des Goldes Jahrhunderten diente Kupfer vornehmlich zur
auf relativistische Effekte zurück: Für Kupfer Herstellung von Münzen und Schmuck. Bis zum
ergibt sich zwischen Valenzband und Leitungs- 19. Jahrhundert geriet es als Gebrauchsmetall
band eine Energiedifferenz, die 539 nm Wellen- fast in Vergessenheit. Das änderte sich schlag-
länge entspricht. Daher absorbiert das Metall artig, als man seine hervorragende Leitfähigkeit
alle bläulichen und grünlichen Wellenlängen und für die Elektrifizierung erkannte. So stieg Kupfer
reflektiert orangene und rötliche. Dass Kupfer rasch zum wichtigen Gebrauchsmetall auf.
zu den Buntmetallen gezählt wird, bezieht sich Kupfer ist ein essenzielles Spurenelement für
nicht auf seine typische Farbe, sondern auf die Tiere, Menschen und Pflanzen. Bei letzteren
Farbigkeit seiner Verbindungen (ÅRandspalte ist es für die Chlorophyllsynthese erforderlich,
Buntmetall). beim Menschen erfüllt es wichtige Funktionen
Reines Kupfer ist ein leicht schmiedbares, gut im Stoffwechsel. Die täglich erforderliche Menge
lötbares, aber schlecht schweiß- und gießbares von 2 mg kann mit der Nahrung aufgenommen
Metall, das auch bei tiefen Temperaturen nicht werden.
versprödet und deshalb kalt verformbar ist. Es
besitzt eine Zugfestigkeit bis zu 200 MPa und Das Glockenmetall – Bronze
lässt sich auf 50 Prozent dehnen. Nach der Aus-
Buntmetall (Chemie)
bildung einer oxidativen Schutzschicht ist es an Friedrich Schiller lässt in seinem „Lied von der Übergangsmetalle, die
der Luft fast unbegrenzt haltbar und wird weder Glocke„ den Glockenmeister sagen: aufgrund des Einbezugs
vom Brauch- noch vom Trinkwasser angegriffen. von d-Orbitalen in che-
Kocht des Kupfers Brei! mische Bindungen farbige
Das Metall wird nur durch oxidierende Säuren Salze und Komplexe aus-
wie Salpetersäure gelöst. Seit der Antike ist die Schnell das Zinn herbei,
bilden.
Daß die zähe Glockenspeise
antibakterielle Wirkung von Kupfer bekannt. Fließe nach der rechten Weise! Buntmetall (Erz)
Seine wirtschaftlich wichtigsten Eigenschaften Metalle, deren Erze stets
sind dank frei beweglicher Elektronen die hohe Damit wird angedeutet, dass das Glockenmate- farbig sind, wie Blei, Cad-
thermische und elektrische Leitfähigkeit. Es lässt rial ein Metallgemisch aus Kupfer und Zinn ist, mium, Kupfer, Nickel und
Zink.
sich leicht mit anderen Metallen legieren, neben das als Bronze bezeichnet wird. Wie Kupfer ist
Zink und Zinn auch mit Aluminium, Silber, die Bronze auch heute noch ein wichtiger indus- Buntmetall (Metallurgie)
Magnesium, Beryllium und anderen für spezielle trieller Werkstoff. Sein Name leitet sich vom itali- Alle Gebrauchsmetalle au-
Einsatzbereiche. enischen bronzo ab, das vom lateinischen Begriff ßer Eisen und Edelmetalle.

Aufgrund seiner relativ niedrigen Schmelz- aes brundisium abstammt. Das antike, römische Buntmetall (Werkstoff-
temperatur gelang es schon Menschen im Alten Brundisium (Brindisi) war ein wichtiger Erzeu- kunde)
Orient vor etwa 6500 Jahren Rohkupfer aus car- gungs- und Handelsort für dieses Metall. Die Gebrauchsschwermetalle,
die aufgrund des Kupfer-
bonatischen und oxidischen Erzen zu erschmel- Bronze ist eine der ältesten gezielt hergestellten gehalts farbig sind, wie
zen, seit circa 4500 Jahren auch aus sulfidischen Legierungen der Menschheit. Dieses Metall löste Bronze oder Messing.

267
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

endgültig Stein und auch Kupfer als Werkstoff zeugt. Bronzen auf der Kupfer-Zinn-Basis werden
ab. Für die technisch-zivilisatorische Entwick- je nach Zinngehalt in Knetlegierung bis 7,5 Pro-
lung war dieses Metall so entscheidend, dass zent Zinn, Gusslegierung (9 – 12 Prozent) sowie
eine Kulturepoche nach ihm benannt wurde, die Glockenbronze (20 – 25 Prozent ) unterteilt.
Bronzezeit. Diese dauerte je nach Region von ca.
3200 bis 700v. Chr. Die im Vergleich zum Kupfer Eigenschaften und Verwendung
wesentlich härtere Bronze wurde erstmals vor
etwa 5500 Jahren für die Herstellung von Gerä- Bronze ist eine nicht magnetische Kupferlegie-
ten und Waffen genutzt. Obwohl in der Antike rung mit einer Dichte von 8,8 g / cm3; bei der
weder für Kupfer noch für Zinn die erforderliche gebräuchlichsten Mischung aus 10 Prozent Zinn
Schmelztemperatur zu erreichen war, konnten und 90 Prozent Kupfer liegt der Schmelzpunkt
antike Handwerker dank der eutektischen Ei- bei 1000 °C, er sinkt jedoch mit zunehmendem
genschaften der Mischung (Å Mischungen, Seite Zinnanteil. Ihre Mohs-Härte liegt bei 4 bis 5.
167) beide Metalle zu Bronze vereinen. Außer Mit steigender Zinnführung über 10 Prozent sin-
Gebrauchsgegenständen und Waffen prägte man ken die elektrische und thermische Leitfähigkeit
daraus Münzen und schuf Kultgegenstände. Die und das Metall versprödet, dafür nehmen Fes-
berühmte Himmelsscheibe von Nebra besteht tigkeit und Härte zu. Bronze zeichnet sich auch
aus Bronze mit einem Zinnanteil von 2 Prozent. durch hervorragende Dauerschwingfestigkeit
In Europa dienten Bronzen mit einem Zinnge- sowie hohe Korrosionsbeständigkeit aus. Anfäl-
halt von 20 Prozent vom Mittelalter bis in die lig ist Bronze jedoch für Schwefelverbindungen
Neuzeit zum Gießen von Glocken, mit 10 Pro- in der Luft. Je nach Zinngehalt ändert sich die
zent Zinn zur Herstellung von Geschützen und Farbe von lachsrot über grünlich-gelb bis hin zu
Kanonen. Im 19. Jahrhundert wurden daraus einem weichen Goldton. Letzterer macht Bronze
Statuen, Denkmäler und sakrale Kunstgegen- weiterhin für Schmuckzwecke attraktiv. Heute
stände gefertigt, zum Beispiel riesige figurenge- wird das Metall hauptsächlich in technischen
schmückte Leuchter in Wallfahrtskirchen. Heute Bereichen verwendet: für Getriebe und Pumpen,
wird Bronze als Sammelbegriff für Legierungen für Bauteile in der Mess- und Regeltechnik, in
verwendet, deren Hauptbestandteil Kupfer ist, der Daten- und Nachrichtenübertragung, in der
meistens handelt es sich um Mehrstoffgemische; Unterhaltungs- und Haushaltstechnik.
eine häufige Legierung ist Aluminiumbronze mit
5 bis 12 Prozent Aluminium und 3,5 bis 7 Pro- Es ist nicht alles Gold, was glänzt
5-82
zent Eisen. Weitere Zulegierungen sind Zink,
Kupferlegierungen. Zu-
sammensetzung von Kup- Blei, Nickel oder Phosphor. Derartige Legierun- Eine heute wirtschaftlich bedeutendere Kupfer-
ferlegierungen. gen werden gezielt für spezielle Einsatzzwecke er- legierung als Bronze kennt jeder noch aus den
Zeiten der D-Mark, als prägefrische Fünf- oder
Zehnpfennig-Münzen im Portemonnaie glänz-
ten. Ihre Farbe verdankten sie wie viele gold-
farbene Leuchter, dekorative Möbelbeschläge,
Türgriffe oder Badezimmerarmaturen dem Mes-
sing. Auch Spitzen von Kugelschreiberminen
bestehen daraus.
Messing ist ein Metallgemisch aus Kupfer
und Zink. Beide Metalle lassen sich zwar in
jedem Verhältnis zueinander mischen, aber mit
einem Zinkgehalt höher als 50 Prozent wird jede
Legierung technisch unbrauchbar. Gemische mit
einem Zinkgehalt unter 18 Prozent werden als
Tombak bezeichnet, mit mehr als 18 Prozent
als Messing. Das Metall gehört zu den ältesten,
gezielt von Menschen erzeugten Legierungen, es
soll in China sowie im indisch-persischen Kul-
turraum erfunden worden sein. Von der Antike

268
Erde, Wasser, Luft und Feuer

bis ins europäische Mittelalter diente Messing


häufiger als Bronze zur Herstellung von Mün-
Patina
zen, Gefäßen und Schmuckstücken, dann verlor
das Metall für Jahrhunderte seine Bedeutung als Ältere Gebäudedächer wie dasjenige des Bel-
Gebrauchsmetall. Zusammen mit Kupfer wurde vedere-Schlosses in Prag oder die Freiheitssta-
es erst im 19. Jahrhundert wiederentdeckt. Bis tue in New York leuchten hellgrün. Antike,
ins 18. Jahrhundert wurde Messing mittels des aus dem Boden geborgene Gegenstände aus
sogenannten Zementationsverfahrens erzeugt. Bronze und Münzen sind mit einer grau-grün, 5-83
Zerkleinertes Kupfer wird mit Holzkohle und braungefleckten Schicht überzogen. Es han- Münze mit Patina. Alte
fein vermahlenem Zinkerz (Galmei genannt, delt sich um Patina, eine Korrosionsschicht, chinesische Münze
Zinkcarbonat, Zn[CO3]) im Verhältnis 1 : 2 in die sich auf Kupfer, Bronze und Messing im aus der Han-Dynastie
(206 v. Chr. – 220 n.Chr.).
einem Tiegel auf etwa 1000 °C erhitzt. Dabei Kontakt mit Sauerstoff und Niederschlägen
verdampft das Zink aufgrund seiner Siedetem- bildet. Schon nach wenigen Tagen nimmt
peratur von 907 °C, diffundiert in das Kupfer Kupfer durch Entstehung von Kupfer-I-Oxid
und bildet Messing mit einem Zinkgehalt von (Cu2O) ein dunkles Rot an, nach mehreren
maximal 32 – 33 Prozent. Da man das Zink bei Monaten färben sich die Kupferoberflächen
diesem Prozess nicht sah, glaubten damalige dank der Bildung von Kupfer-II-Oxid (CuO)
Metallurgen, dass Galmei eine Farbe ist. Zwar schwarz. Bei senkrechten Kupferflächen
hatte der deutsche Apotheker und Chemiker endet hier die Belagbildung. Auf geneigten
JOHANN RUDOLF GLAUBER (1604 – 1670) schon Flächen bilden sich unter Einwirkung von
1657 entdeckt, dass sich Messing aus metalli- Kohlen- oder Schwefeldioxid, in Meeres-
schem Zink und Kupfer erzeugen lässt. Doch nähe auch von Chloriden, nahezu unlösliche
dieses Verfahren wurde erst im 19. Jahrhundert basische, farbige Kupfersalze, oft Malachit
eingeführt und ist heute das einzige verwendete und Lazurit. Mit den Jahren entsteht Kup-
Verfahren. fercarbonat (CuC03· Cu(OH)2, Kupfersulfat
(CuSO4· Cu(OH)2 und in Meeresnähe Kup-
Eigenschaften und Verwendung von ferchlorid (CuCl2· 3 Cu(OH)2). Oft besteht die
Messing Patina aus einem Gemisch mehrerer Kupfer-
salze. Die Barriere aus Patinakristallen schützt
Messing ist ein Metallgemisch, dessen Eigen- die tiefer liegenden Metallschichten gegen
schaften sich stark mit seinem Zinkgehalt än- aggressive Luftinhaltsstoffe und vor weiterer
dern. Generell ist dieses Metall etwas härter Korrosion.
als reines Kupfer, doch viel weicher als Bronze.
Bis zu einem maximalen Zinkgehalt von 37,5 sein Schmelzpunkt (von 925 °C auf 900 °C) und
Prozent wird Zink homogen im kubisch-flä- seine Dichte, ebenso nehmen elektrische und
chenzentrierten Kristallgitter des Kupfers gelöst. Wärmeleitfähigkeit ab. Noch anders verhält
Deshalb bleibt die Verformungsfähigkeit des sich die Färbung der Mischung: Bis zu einem
Kupfers erhalten und Messing lässt sich im kal- Zinkgehalt von ca. 37 Prozent ändert diese sich
ten Zustand walzen und schmieden, aber nicht von kupferähnlichem Rotbraun über Goldgelb
durch Wärmebehandlung aushärten. Oberhalb zu einem Weißgelb, danach stellen sich wieder
dieses Wertes ist die Aufnahmefähigkeit des rötere Farbtöne ein.
Kupfers erschöpft; bei Werten zwischen 37,5 Um bestimmte Eigenschaften zu erreichen,
und 46 Prozent Zinkgehalt bilden sich zusätz- werden weitere Metalle zulegiert, so erhöht
liche kubisch-raumzentrierte Mischkristalle mit Blei die Zerspanbarkeit von Messing. Kommen
Kupfer, wobei Härte und Festigkeit steigen, aber andere Zulegierungen wie Aluminium hinzu,
die Verformbarkeit sinkt. Messing zeichnet sich spricht man von Sondermessingen. Gängige
durch hohe Korrosionsbeständigkeit und Un- Gemische haben einen Zinkgehalt zwischen
empfindlichkeit gegen atmosphärische Einflüsse 20 und 40 Prozent, die wichtigste Legierung
sowie gute Dehnbarkeit aus. Das Metall ist be- ist CuZn37, eine Messingsorte mit 37 Prozent
ständig gegen Wasser, Dampf und Salzlösun- Zink. Die einfache Möglichkeit, Messingeigen-
gen, wird aber von Schwefel- und Salzsäure schaften durch geeignete Legierungen gezielt zu
angegriffen. Mit wachsendem Zinkgehalt sinken bestimmen, macht dieses Metall zur bekanntes-

269
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

Halbzeug ten und am häufigsten genutzten Kupferlegie- 80 000 – 150 000 Ampere verbraucht. Deshalb
Als Halbzeug werden vor-
rung. Als Halbzeug wird Messing in Form von werden Aluminiumhütten stets in der Nachbar-
gefertigte Rohmaterialfor-
men wie Bleche, Stangen Bändern, Blechen, Rohren, Stangen und Drähten schaft von leistungsstarken Kraftwerken errich-
oder Rohre bezeichnet, die angeboten, verarbeitet wird es zu Türgriffen, tet. Aluminium mit einem Reinheitsgrad von
den Ausgangspunkt für Beschlägen, Handläufen, Schlössern, zu Blechen, 99,99 Prozent wurde erstmals 1920 erzeugt.
die Weiterverarbeitung zu
Endprodukten bilden. Blechblasinstrumenten, Sanitärarmaturen, Lam-
penfassungen, Kerzenhaltern usw. Eigenschaften und Verwendung

Reines Aluminium ist ein zähes, zunächst sil-


Leichtmetalle – berweißes, weiches Metall, das rasch mit Luft
reagiert und sich mit einer etwa 0,01 μm starken
Aluminium und Titan
Oxidschicht überzieht. Sie schützt das Metall vor
In den ehemaligen Ostblock-Staaten können weiterer Oxidation und verleiht ihm hohe Korro-
Aluminium (Al)
sich viele noch gut an silbergraue Münzen und sionsbeständigkeit. Mittels Elektrolyse wird diese
Anteil an der
7,57 Gew.% an gleichfarbige, leichte Bestecke erinnern. Sie Schicht in oxidierenden Lösungen künstlich auf
Erdkruste
Platz in der waren aus Aluminium gefertigt, dessen Na- mehrere Mikrometer verstärkt (Eloxalschicht).
3
Häufigkeitsskala men sich vom lateinischen Wort alumen für Das Metall zeichnet sich durch eine relativ hohe
Dichte 2,7 g/ cm3 Alaunerde ableitet. Es wurde spät, nämlich erst elektrische und Wärmeleitfähigkeit aus, in reiner
1825 vom dänischen Physiker und Philosophen Form lässt es sich gut gießen oder auswalzen
Normalpotenzial –1,7 V (Al3+) HANS CHRISTIAN OERSTEDT (1777 – 1851) ent- und ist sehr dehnbar. Aufgrund seiner geringen
deckt. Die Erzeugung von metallischem Alumi- Härte wird es oft legiert; es ist gut legierbar mit
Schmelzpunkt 660 °C
nium war im 19. Jahrhundert derartig aufwendig den Leichtmetallen Titan und Magnesium sowie
Mohs-Härte 2,75 und kostspielig, dass es als wertvoller als Gold mit dem Schwermetall Kupfer und kann prob-
Elektronen- angesehen wurde. So speiste Kaiser Napoleon III lemlos rein recycelt werden. Diese Eigenschaf-
[Ne]3s23p1
konfiguration mit Aluminiumbesteck und von Aluminiumtel- ten verhelfen dem Metall zu einem vielfältigen
Elektr. Leit- lern, der Hofstaat durfte nur mit „ordinärem“ Einsatz in der Bauindustrie und in der Technik.
37 · 106 S/ m
fähigkeit
Gold- oder Silberbesteck essen! Im Haushalt trifft man es oft als Getränkedosen
Wärmeleit-
237W·m–1 · K–1 oder Alufolie, seltener als Kochtopf an. Alumi-
fähigkeit
Vorkommen und Gewinnung von nium wird im Fahrzeug- und Flugzeugbau, im
Aluminium Maschinenbau, für Container, Bleche, Rohre,
Stromschienen und für Umwicklungen, und we-
Aluminium (Al) ist das häufigste Metall in der gen seines hohen Reflektionsvermögens in der
Erdkruste. Aufgrund seiner Reaktionsfreudig- Optik und in der Lichttechnik genutzt.
keit kommt es niemals gediegen, sondern nur in
chemischen Verbindungen vor. Es ist Bestandteil Titan
vieler gesteinsbildenden Minerale wie Feldspä-
ten oder Tonmineralen (ÅTonminerale – kleb- Für Brillenträger ist ein Gestell aus Titan der
rige Gesellen, Seite 226) und Edelsteinen wie Renner, da es sehr stabil und gleichzeitig biegsam
Rubin oder Smaragd. Das wirtschaftlich wich- ist. Schmuck aus diesem Metall gilt als chic und
tigste Aluminiumerz ist das Verwitterungspro- exklusiv. Titandioxid (TiO2) ist aufgrund seiner
dukt Bauxit, ein Gemenge aus 70 – 75 Prozent extremen Stabilität eines der am meisten produ-
Tonerde (Aluminiumoxid, Al2O3), 20 – 25 Pro- zierten Farbpigmente. Heute gilt Titan als eines
zent Eisen-III-Oxid (Fe2O3), etwas Titandioxid der wichtigsten Gebrauchsmetalle. Bis 1946 war
(TiO2) sowie wenigen weiteren Bestandteilen. dem nicht so, es wurde nur in kleinen Mengen
Das Reinmetall wird in zwei Schritten ge- im Labor erzeugt. Schon 1791 entdeckte der
wonnen: Zunächst wird die Tonerde mit Hilfe britische Pfarrer WILLIAM GREGOR (1761 – 1817)
von Natronlauge, Druck und Wärme von Be- das Element und 1795 stieß der deutsche Chemi-
gleitstoffen getrennt und anschließend mittels ker MARTIN HEINRICH KLAPPROTH (1743 – 1817)
einer sehr energieaufwändigen Elektrolyse in auf das Mineral Rutil (ein Titanoxid) und be-
Aluminium und Sauerstoff zerlegt. Um eine nannte es nach altgriechischen Sagengestalten,
Tonne Reinaluminium zu erzeugen, werden den Titanen, Titan. Da dieses Metall sich nur
13 500 kWh Strom bei einer Stromstärke von sehr energieaufwendig und kostspielig aus sei-

270
Erde, Wasser, Luft und Feuer

nen Verbindungen isolieren lässt, wurde erst- mit Wasser oder Luft sofort mit einer dünnen
Titan (Ti)
mals 1910 Reintitan erzeugt. Erst als der Lu- Oxidschicht, die darunter liegende Metallschich-
xemburger Chemiker WILLIAM JUSTIN KROLL ten vor weiterer Korrosion schützt. Titan lässt Anteil an der
0,6 Gew.%
Erdkruste
(1889 – 1973) 1938 ein technisch praktikables, sich außerdem gut mit Aluminium, Molybdän, Platz in der
aber weiterhin teures Verfahren für die Gewin- Mangan, Chrom, Eisen usw. legieren. 9
Häufigkeitsskala
nung von Reintitan entwickelte, begann 1946 Schon diese Eigenschaften machen Titan Dichte 4,5 g/ cm3
mit der kommerziellen Gewinnung der Aufstieg zu einem gefragten Werkstoff mit einer breiten
von Titan zu einem wichtigen Gebrauchsmetall Verwendungspalette: Neben Brillengestellen, Normalpotenzial –1,77 V (Ti2+)
mit einer breiten Anwendungspalette. Schmuckgegenstücken und sehr leichten Golf-
Schmelzpunkt 1668 °C
schlägern wird das Metall vor allem in der Welt-
Vorkommen und Gewinnung von Titan raumtechnik, im Autobau und aufgrund seiner Mohs-Härte 6
hohen Resistenzen in der Ölindustrie, in Ent- Elektronen-
[Ar]4s23d2
Titan (Ti) ist ein metallisches Element, das auch salzungsanlagen sowie beim Bau von Behältern konfiguration
im Weltraum recht häufig ist. Es ist weit verbrei- für chemische Verbindungen und Lösungen ver- Elektr. Leit-
2,6 · 106 S/ m
fähigkeit
tet, aber selten angereichert, dafür in zahlreichen braucht. Seine antiallergische Eigenschaft sowie
Wärmeleit-
Gesteinen und Mineralen, oft vergesellschaftet seine absolute Biokompatibilität heben dieses 22 W·m–1 · K–1
fähigkeit
mit Eisenerz. Es verbindet sich leicht mit vielen Metall weit über andere Werkstoffe hinaus: Ti-
anderen Elementen und kommt deshalb niemals tan eignet sich hervorragend für Zahnimplantate

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


gediegen vor. Die beiden wirtschaftlich wichtigs- und Gelenkprothesen für Hüfte und Knie sowie
ten titanhaltigen Minerale sind Rutil (TiO2) und für künstliche Herzklappen. Dank der bestän-
Ilmenit (Titaneisenerz, FeTiO3). digen Oxidschicht kommt es beim Kontakt von
Das Reinerz wird mittels zweier Redukti- Körperzellen mit Titan zu keiner unnatürlichen
onsverfahren gewonnen: entweder mit Mag- Konzentration von Ionen. Knochenzellen an
nesium als Reduktionsmittel (Kroll-Verfahren) der Titanoberfläche vermehren sich normal, die 5-84
oder mit Natrium (Hunter-Verfahren). Nach Titanimplantate und -gelenke werden ohne bio- Titan. Bandscheiben-
vier Zwischenschritten erhält man den soge- logische Reaktionen umwachsen. implantate aus Titan.
nannten Titanschwamm mit einem Gehalt von
60 – 65 Prozent Titan. Verunreinigungen werden
mittels fraktionierter Destillation abgetrennt und Verrufenes Schwermetall – Blei
der Titanschwamm dann zu hochreinem Titan
umgeschmolzen. Früher war Blei im Alltag weiter verbreitet als
heute: Manch ein Westernheld oder Mordopfer
Eigenschaften und Verwendung ist an einer „Bleivergiftung“ gestorben, also von
Bleikugeln getötet worden. Man nutzte Wasser-
Reintitan ist ein silberweißes, unedles Leichtme- rohre aus Blei, und auch Wein würzte man gerne
tall, das zu den Übergangsmetallen gehört. Es mit Bleiacetat, das man daher Bleizucker nannte.
kristallisiert in zwei Modifikationen: bis 882 °C Auch der alte Sylvesterbrauch des Bleigießens ist
in hexagonal dichtester Kugelpackung, bei hö- noch nicht vergessen. Blei gehört zu den schon in
heren Temperaturen im kubisch-raumzentrierten der Antike bekannten Metallen; bereits um etwa
System. Titan ist fast so hart wie Stahl und be- 2500 v. Chr. wurde es im alten Orient verarbei-
sitzt eine hohe Festigkeit und Beständigkeit. Es tet, hauptsächlich um Bronze zu erzeugen. Erst
lässt sich leicht dehnen und ist gut schmiedbar, die alten Römer nutzten Blei in großen Mengen
aber ein schlechter Wärmeleiter. Das Metall für Wasserleitungen, als Baustoff und für Trink-
kann nur im Vakuum geschmolzen werden, denn becher und Essgeschirr, da es leicht zu gewinnen
bei hohen Temperaturen reagiert es rasch und und zu verarbeiten war. Im Mittelalter wurden
heftig mit umgebenden Gasen. Es ist das ein- repräsentative Gebäude mit Bleidächern gedeckt,
zige Element, das in einer Stickstoffatmosphäre dekorative Glasfenstergemälde wurden mit Blei-
brennt. Es ist hoch korrosionsbeständig gegen stegen verbunden. Die Lettern für den Buchdruck
Luft, Meerwasser und gegen fast alle kalten Säu- wurden aus Blei gefertigt, ebenso Pistolen- und
ren und Basen, es wird nur von erhitzten Säuren Gewehrkugeln. Mit der einsetzenden Industria-
und Flusssäure (HF) angegriffen. Unter Normal- lisierung im 19. Jahrhundert stieg Blei zu einem
verhältnissen überzieht sich Titan bei Kontakt wichtigen Gebrauchsmetall für die chemische

271
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

Industrie auf, war Blei doch das damals einzig unlöslich, weil sich schnell dünne Salzüberzüge
Blei (Pb)
bekannte Metall, das Schwefelsäuredämpfen wi- beim Kontakt mit diesen Säuren bilden (mecha-
Anteil an der 0,0018 derstand. In den 1920ern war Blei das wichtigste nische Passivierung). Im sauerstofffreien Wasser
Erdkruste Gew.%
Platz in der Nicht-Eisen-Gebrauchsmetall. Dann sank seine ist das Metall ebenfalls unlöslich. Dagegen löst
37
Häufigkeitsskala Bedeutung vorübergehend, aber inzwischen ist Salpetersäure das Metall, es entsteht Bleinitrit.
Dichte 11,34 g/ cm3 es wieder ein wichtiges, technisch-industrielles Bei Kontakt mit Wasser und Luftsauerstoff bil-
Gebrauchsmetall. Bis weit ins 20. Jahrhundert det sich langsam Bleihydroxid (Pb(OH)2) das
Normalpotenzial –0,13 V hinein wurden viele Leitungsrohre für Wasser die mattgraue Färbung der Metalloberfläche be-
aus Blei gefertigt, doch heute ist es weitgehend wirkt. In Anwesenheit von Kohlensäure werden
Schmelzpunkt 327 °C
aus Wasserleitungen und Gebrauchsgegenstän- Wasserrohre von einer dünnen Auflage aus Blei-
Mohs-Härte 1,5 den verbannt. Da man mit Blei graue Striche hydroxid/Blei-II-carbonat (Pb(OH)2 · 2 PbCO3)
Elektronen- [Xe]4f145d10 auf Papier erzeugen kann, kam der Bleistift zu ausgekleidet, die angeblich den Eintritt von ge-
konfiguration 6s26p2 seinem Namen. Doch seit Jahrhunderten besteht löstem Blei ins Wasser verhindert. Gelöstes Blei
Elektr. Leit- die Bleistiftmine aus Graphit, das man im Mit- und alle seine Verbindungen sind starke Gifte.
4,7 · 106 S/ m
fähigkeit
telalter für ein Bleierz hielt. Im menschlichen Körper hemmt Blei das Enzym,
Wärmeleit-
35 W·m–1 · K–1 das für die Einbindung des Eisenatoms in den
fähigkeit
Vorkommen und Gewinnung roten Blutfarbstoff zuständig ist und stört damit
die Zellatmung. Als Umweltgift wirkt es unter
Blei (Pb) ist ein metallisches Element, das selten anderem hemmend auf die Chlorophyllsynthese
gediegen, sondern meistens in mineralogisch- von Pflanzen. Wegen ihrer Toxizität sind Bleibe-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

chemischen Verbindungen vorkommt. Bekannte hälter für Lebensmittel verboten, auch werden
bleihaltige Minerale sind Cerussit (PbCO3), An- Farbmittel auf Bleibasis kaum noch vermalt, und
glesit (PbSO4) sowie Galenit (Bleisulfid, PbS). seit den 70er Jahren werden keine Bleirohre für
Letzteres bildet das Erz, aus dem heute neues die Wasserversorgung mehr verlegt. Auch das
Blei gewonnen wird. Bleierze sind häufig ver- Antiklopfmittel Bleitetraethyl (Pb(C2H5)4) ist
5-85 gesellschaftet mit anderen Metallen wie Zink, im Benzin europaweit nicht mehr zugelassen.
Galenit. Bleisulfid-Kristalle, Antimon, Kupfer und Silber; für die Silberge- Trotz seiner Giftigkeit wird Blei wegen seiner
Galenit oder Bleiglanz, aus
Missouri, U.S.A.
winnung stellen diese Erze sogar eine wichtige Korrosionsbeständigkeit und einfachen Verar-
Quelle dar. Für die Gewinnung metallischen beitungsmöglichkeit weiter als Metall und Le-
Bleis wird heute meistens das umweltschonende gierungselement genutzt, z. B. in Form von Blech
Direktschmelzverfahren angewendet. Hier er- oder Folien, zur Innenbeschichtung von Rohren
folgt Rösten und anschließende Reduktion in und Tanks und zur Verkleidung von Kabeln.
einem Reaktor, in den reiner Sauerstoff eingebla- Etwa 60 Prozent des Bleis dient der Herstel-
sen wird. Das erhaltene sogenanntes Werkblei ist lung von Akkumulatoren. Wegen seiner hohen
noch bis zu 5 Prozent mit Kupfer, Silber, Gold, Dichte wird es im Strahlenschutz eingesetzt –
Antimon oder Bismut verunreinigt. Mittels Elek- wohl jeder kennt die schweren Bleischürzen, die
trolyse werden die Begleitstoffe entfernt. Eine man bei Röntgenuntersuchungen tragen muss.
wichtige Quelle zur Gewinnung von Reinblei ist
das Recyceln von Bleigegenständen.
Buntes Allerlei – Chrom
Eigenschaften und Verwendung
Alltagsgegenstände wie Reifenfelgen, Schrau-
Blei kristallisiert im kubisch-flächenzentrierten benschlüssel, Wasserhähne oder grüne Weinfla-
System, was ihm wie Kupfer, Gold und Silber schen enthalten als Bestandteil das Metall Chrom.
hohe Verformbarkeit verleiht. Es gehört zu den Auch Edelsteine wie Smaragde verdanken ihm
Schwermetallen und ist ein unedles, diamagne- ihre grüne Färbung. Dieses wichtige Schwermetall
tisches Metall (ÅDiamagnetismus, Seite 213). wird nur als Legierungselement verarbeitet.
Durch seine Verformbarkeit und geringe Härte 1761 fand der deutsche Mineraloge JO-
lassen sich aus Blei leicht Drähte und Bleche her- HANN GOTTLIEB LEHMANN (1719 – 1767) im
stellen. Seine elektrische und Wärmeleitfähigkeit Ural ein neues Mineral, das aufgrund seiner
ist im Vergleich zu Metallen wie Kupfer gering. Färbung Krokoit benannt wurde. 1797 gelang
Blei ist in Schwefel-, Phosphor- und Flusssäure es dem französischen Chemiker LOUIS-NICOLAS

272
Erde, Wasser, Luft und Feuer

VAUQUELIN (1763 – 1829) aus diesem Mineral kationen, im kubisch-raumzentrierten System


Chrom (Cr)
Chrom(III)oxid (Cr2O3) und Salzsäure zu ge- und in hexagonal dichtester Kugelpackung.
winnen und ein Jahr später erzeugte er durch Das Metall ist sehr hart – die geringste Ver- Anteil an der
0,005 Gew.%
Erdkruste
dessen Reduktion mit Holzkohle erstmals das unreinigung mit Wasserstoff oder Sauerstoff
Platz in der
verunreinigte Metall. Im 19. Jahrhundert wur- macht es zum härtesten aller Gebrauchsmetalle Häufigkeitsskala
20
den nicht das Metall, sondern ausschließlich – aber auch ziemlich spröde. Wirtschaftlich
Dichte 7,14 g/ cm3
seine Verbindungen zur Färbung von Gläsern interessant ist die hohe Korrosionsbeständig-
und Keramik verwendet. Trotz seiner Giftigkeit keit des Metalls dank rascher Passivierung Normalpotenzial –0,74 V (Cr3+)
war das aus Krokoit erzeugte leuchtende Gelb, beim Kontakt mit konzentrierten oxidierenden
ein Blei(II)chromat (PbCrO4), eine geschätzte Säuren wie Salpeter- oder Schwefelsäure. Es Schmelzpunkt 1907 °C
Malerfarbe. Diese Farbe firmierte bis weit ins bildet sich eine dünne Oxidschicht (Cr2O3),
20. Jahrhundert als Kennfarbe der Deutschen die das Metall gegen Wasser, Sauerstoff und Mohs-Härte 8,5

Post (Postgelb, heute Ginstergelb), der Maler nicht oxidierende Säuren schützt. Metallisches Elektronen-
[Ar]3d54s1
VINCENT VAV N GOGH (1853 – 1890) benutzte sie Chrom und Chrom(III)-Verbindungen sind un- konfiguration
Elektr. Leit-
in seinem berühmten Sonnenblumenbild. Erst giftig, Chrom(VI)-Verbindungen dagegen sind 80 · 106 S/ m
fähigkeit
mit dem Thermitverfahren für hochschmelzende hochgiftig und kanzerogen. Sie verätzen die Wärmeleit-
Metalle, das der deutsche Chemiker JOHANNES Schleimhäute und führen zu nicht abheilenden 94 W·m–1 · K–1
fähigkeit
WILHELM GOLDSCHMIDT (1861 – 1923) erfand, Geschwüren; es treten schwere Erkrankungen
stand eine preiswerte, effektive, bis heute ange- von Magen und Darm, sowie Leber und Nieren-
wendete Gewinnungsmethode für reines Chrom schäden ein. Umstritten ist die Rolle von Cr(III)
im großindustriellen Maßstab zur Verfügung. im menschlichen Körper. Nach einigen Quellen
Doch erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts wird bilden Chrom(III)-Ionen ein wichtiges Spuren-
das Metall verstärkt für korrosions- und hitze- element für die Insulinsynthese und damit für
beständige Legierungen genutzt. die Regulierung des Blutzuckerspiegels.
Aufgrund seiner Eigenschaften findet Chrom
Vorkommen und Gewinnung vielfältige Verwendung, hauptsächlich als Legie-
rungselement. Etwa 60 Prozent des neu gewon-
Chrom (Cr), abgeleitet von griechischen Wort nenen Chroms wird in Form von Ferrochrom
chroma, Farbe, kommt auf der Erde nicht gedie- als Legierungselement für Stahl verarbeitet und
gen, sondern nur in Verbindungen vor. Die beiden verleiht diesem eine hohe mechanische Bean-
wichtigsten Chromerze sind Krokoit (Rotbleierz, spruchbarkeit. Dem Korrosionsschutz dient die
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
PbCrO4) und Chromit (FeCr2O4). Nur letzteres Hartverchromung vieler Metalle mittels einer
wird zur Chromgewinnung ausgebeutet. Nach bis zu 1 mm starken Chromschicht. Auch Me-
der Flotation der Erze und der Herauslösung tallgebrauchsgegenstände werden zur Verschö-
von Chrommineralen mittels Schwefelsäure kann nerung mit einer bis zu 0,3 mm starken Chrom-
reines Chrom durch elektrolytische Abscheidung schicht überzogen. Außerdem werden Chromat-
von Cr3+ -Ionen aus der schwefeligen Lösung (CrO42–) und Dichromatverbindungen (Cr2O72–) 5-86
gewonnen werden. Nach dem Goldschmidtschen als starke Oxidationsmittel verwendet, und die Chrom. Hochreine, künst-
lich hergestellte Chromkri-
Thermitverfahren wird unter Zusatz von Alumi- farbigen Komplexe der Chromverbindungen lie-
stalle und ein Chromwür-
niumpulver und Silicium Chromoxid zu reinem fern Pigmente für Farbmittel und Lacke. fel mit 1 cm Kantenlänge.
Chrom reduziert. Am häufigsten wird jedoch
unreines Ferrochrom durch Direktreduktion von
Chromit in einem Lichtbogen-Ofen bei 2800 °C Ein Schwergewicht – Uran
erzeugt. Ferrochrom enthält zwischen 52 und
75 Prozent Chrom, 0,1 bis 10 Prozent Kohlen- Uran gehört zu den spät entdeckten Elemen-
stoff sowie 0,02 bis 12 Prozent Silicium. ten, seine Verbindungen wurden jedoch – wie
jüngste Analysen beweisen – schon in der
Eigenschaften und Verwendung Antike zum Färben von Gläsern verwendet.
1789 gelang es dem Apotheker und Chemiker
Reines Chrom ist ein bläulich-weiß glänzen- MARTIN HEINRICH KLAPROTH, aus dem Mineral
des, unedles, gut schmiedbares und formbares Pechblende (Uraninit, UO2) ein schwarzes Pul-
Schwermetall. Es kristallisiert in zwei Modifi- ver zu isolieren, das er nach dem ein Jahr zuvor

273
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

entdeckten Planeten Uranus Uran nannte. Doch Eigenschaften und Verwendung


KLAPROTH hatte nur Uranoxid gefunden; das
reine Metall konnte erst der französische Che- Uran ist ein metallisches, radioaktives, reakti-
miker EUGÈNE-MELCHIOR PÉLIGOT (1811 – 1890) onsfreudiges Element aus der Gruppe der Ac-
darstellen. Seine Radioaktivität entdeckte 1896 tinoide. Reines Uran glänzt silbrig, mit seiner
ANTOINE HENRI BECQUEREL, die Bedeutung auch im Vergleich zu Blei sehr hohen Dichte ist
dieser Eigenschaft erkannte seine Schülerin es sprichwörtlich ein Schwermetall. Es besitzt
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

MARIE CURIE, sie prägte das Wort „radioak- eine für Metalle geringe thermische und elek-
tiv“ für die von Uranverbindungen ausgehenden trische Leitfähigkeit. Natürliches Uran besteht
Strahlungen. In den ersten 150 Jahren nach seiner aus einer Mischung von drei instabilen Isotopen,
Entdeckung führte Uran in der Nutzung und in 238U (99,27 %) mit einer Halbwertzeit von rund

5-87
der Wissenschaft ein Schattendasein. Im 19. Jahr- 4,5 Milliarden Jahren, 235U (0,72 %) mit einer
Uran. Eine Scheibe hoch-
hundert wurden etwa zwei Drittel der Uranpro- Halbwertzeit von rund 704 Millionen Jahren
angereichertes Uran. duktion zur Färbung von Glas und Keramik und 234U (0,0055 %) mit einer Halbwertzeit
verwendet. Metallisches Uranpulver entzündet von 245 000 Jahren. Zur Altersbestimmung von
sich selbst sehr leicht (pyrophore Eigenschaft), Meteoriten nutzen Astrophysiker unter ande-
deshalb wurde es für Gasanzünder, Feuerzeuge rem das Verhältnis der Radionuklide 235U zu
und sogar für Kinderspielzeug mit Funkenflug 238U. Uran ist ein natürlicher Alphastrahler und

genutzt. Nach der Entdeckung der Kernspal- die einzige natürliche Substanz, die zu einer
tung 1938 durch OTTO HAHN (1879 – 1968) nuklearen Kettenreaktion fähig ist. Uran und
und FRITZ STRASSMANN (1902 – 1980) änderte seine Zerfallsprodukte erzeugen laufend einige
sich die Wertschätzung des Metalls radikal, denn kurzlebige, teils gasförmige Tochternuklide wie
nach Berechnungen sollten bei der Spaltung von das hoch radioaktive Gas Radon. An der Luft
Uran durch Kettenreaktionen unvorstellbare überzieht sich das Metall rasch mit einer Oxi-
Energiemengen freigesetzt werden. Das energe- dationschicht, von Säuren wird es langsam an-
tische Potenzial des Urans wurde zunächst nur gegriffen, in Alkalien ist es stabil.
für militärische, erst nach fast 20 Jahren auch Uran ist als Schwermetall in größeren Do-
für zivile Zwecke genutzt. sen wie alle Schwermetalle giftig. Aufgrund
seiner langen Halbwertzeiten ist Uran selbst
Vorkommen und Gewinnung nur schwach radiotoxisch; hoch radiotoxisch
sind jedoch seine Tochternuklide Thorium,
Uran ist ein metallisches Element und abgesehen Radium, Polonium und das Edelgas Radon.
Uran (U)
von winzigen, 1971 entdeckten Spuren natür- Ebenso gesundheitsgefährdend sind seine Ver-
Anteil an der 0,0004 lichen Plutoniums, das schwerste, in größeren bindungen, insbesondere die wasserlöslichen
Erdkruste Gew.%
Mengen natürlich vorkommende Element. Die Uran-VI-Komplexe.
Platz in der Häu-
figkeitsskala
54 obere Erdkruste enthält 2,4 – 4,0 g / t Uran; nach Uran wird fast ausschließlich als Brennstoff
Schätzungen beträgt die Uranmenge in den obers- für Atomkraftwerke und für Nuklearwaffen
Dichte 19,1 g/ cm3
ten 33 cm Boden pro Quadratkilometer etwa 1,5 verbraucht. Da nur Uranisotope mit ungerader
Normalpotenzial –1,66 V (U3+)
Tonnen. Mineralogen kennen über 200 uranhal- Neutronenzahl durch thermische Neutronen
tige Minerale; als Uranlieferanten nutzbar sind relativ leicht spaltbar sind, muss 235U (92 Pro-
Schmelzpunkt 1133 °C nur Coffinit (USiO4) und Uraninit (Pechblende, tonen plus 143 Neutronen) angereichert wer-
UO2). In Sandsteinen liegen mit 33 Prozent die den. Für Kernkraftwerke genügt eine schwache
Mohs-Härte 2,5 – 3 meisten Uranvererzungen, gefolgt von Pegmati- Anreicherung auf 2 – 4 Prozent, für Kernwaffen
Elektronen- ten (grobkörnigem magmatischen Gestein) mit wird auf mehr als 80 Prozent angereichert.
[Rn]5ff36d147s2
konfiguration 20 sowie von hydrothermalen Gangvorkommen Nach der Anreicherung bleibt sogenanntes
Elektr. Leit- und intramagmatischen Vererzungen mit jeweils abgereichertes Uran übrig, dessen Konzentra-
3,5 S / m
fähigkeit
15 Prozent. Weltweit werden die abbauwürdigen tion an spaltbarem 235U geringer als im natürli-
Wärmeleit-
28 W·m–1 · K–1 Uranvorräte auf rund 5,5 Millionen Tonnen bezif- f chen Uran ist. Abgereichertes Uran dient in der
fähigkeit
fert, der jährliche Uranverbrauch beträgt 69 100 Atomindustrie zur Abschirmung und militärisch
Tonnen, die momentane Jahresförderung 43 000 zur Herstellung von panzerbrechender Muni-
Tonnen. Abgebaut werden zur Zeit Uranvorkom- tion. 238U kann auch in Schnellen Brütern zur
men mit einem Urangehalt von 0,1 – 0,5 Prozent. Plutoniumerzeugung gebraucht werden.

274
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Starke Luftikusse – ner dünnen Metallhaut umschlossen, die Hohlku-


Metallschäume geln bilden eine spezielle Hohlkugelstruktur aus
(ÅAbbildung 5-88).

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Metallschaum ist ein Feststoff zellularer Struk-
tur und zufällig verteilten, gasgefüllten Poren Eigenschaften und Verwendung
und Hohlräumen. Er ähnelt Honigwaben und
besteht zu 85 Prozent aus Luft und 15 Prozent Metallschäume bewahren metallische Eigen-
Metall. Schon vor mehr als 60 Jahren wurden schaften wie Wärmeausdehnung und spezifische
Verfahren zur Herstellung von Metallschäumen Wärmekapazität ihrer Ausgangsmetalle, bieten
5-88
entwickelt, nach ersten Erfolgen gerieten sie aber eine Anzahl verbesserter oder zusätzlicher
Aluschaum. Metallschaum
aber wegen teurer und schwer kontrollierbarer Eigenschaften, die je nach Metallschaumtyp aus Aluminium.
Herstellungsverfahren wieder in Vergessenheit. in Abhängigkeit von Legierung, Aufschäum-
Doch nach Erfolgen bei der Aufschäumung nicht bedingungen, Herstellungsverfahren oder Po-
metallischer Werkstoffe begann man sich in den rengröße variieren. Allen gemeinsam ist eine
1990er Jahren wieder für die vergessenen Me- hohe Biegesteifigkeit bis zu 1 GPa und eine hohe
tallschäume zu interessieren und entwickelte Festigkeit von 10 MPa dank ihrer zellularen
neue Verfahren für deren Herstellung. Struktur bei erheblich geringerem Gewicht als
das Ursprungsmetall. Aluminiumschaum er-
Herstellung und Sorten reicht eine Dichte von 0,07 – 0,7 g / cm3 (Alumi-
nium: 2,702 g / cm3) und eine Wärmeleitfähig-
Derzeit gibt es zwei konkurrierende technische keit von nur 3,5 – 12 W · m–1 · K–1 (Aluminium:
Verfahren zur Erzeugung von Metallschäumen. 237 W · m–1 · K–1). Ferner besitzen diese Metall-
Nach dem schmelzmetallurgischen Schäumver- schäume eine stark verminderte elektrische Leit-
fahren werden Gase in eine Metallschmelze fähigkeit. Weitere zu nennende Eigenschaften
eingeblasen und viskositätserhöhende Legie- sind ein hohes Potenzial zur Crash-Energie-Ab-
rungselemente oder unlösbare Festkörper wie sorption, hohe Schalldämmung, sowie Hitze-
Siliciumcarbid zugefügt. Nach dem von Fraun- und Feuerbeständigkeit. Alle diese Eigenschaften
hofer-Instituten entwickelten Metallpulverver- sind einzeln nicht einzigartig, wohl aber ihre
fahren wird Metallpulver mit einem Metallhy- Kombination in einem Werkstoff. Entsprechend
drid wie Titandihydrid (TiH2), Zirkon- oder ihren Eigenschaften werden Metallschäume in-
Magnesiumhydrid vermischt. Die Mischung zwischen teils schon verarbeitet, teils wird ihre
wird mittels Pressen zu einem Vormaterial ver- Nutzung vorbereitet: für akustische und ther-
dichtet und anschließend auf eine Temperatur mische Dämmschichten, mit Mikrozellen für
oberhalb der Schmelztemperatur erhitzt. Das Hochtemperaturfilter in der chemischen Indus-
Metallhydrid setzt Wasserstoffgas frei, welches trie, als geschlossenporige Schäume zum Schutz
das Pulvergemisch aufschäumt. Aus Energieg- gegen Stoß- und Druckeinwirkungen bei stark
ründen werden Metalle mit niedrigem Schmelz- belasteten Maschinenteilen, für Crashschutz- 5-89
punkt wie Aluminium, Magnesium, Zinn oder elemente, für Hitzeschutzschilder, im Fahrzeug- Metallpulververfahren.
Kupfer bevorzugt. Eisen- oder Bleischäume wur- r und Satellitenbau und so weiter. Herstellung von Metall-
schäumen aus Metall-
den probehalber erzeugt, gelten jedoch eher als pulver und Treibmitteln.
„akademische Laborkuriositäten“. Industriell Als Treibmittel kommen
verarbeitet werden zur Zeit nur Aluminium- Hartes zerschneiden – Metallhydride wie Titandi-
hydrid zum Einsatz, die bei
und Zinnschäume. Je nach Herstellungsver-
kein Problem Erwärmung Wasserstoff
fahren und Nutzungszweck werden entweder freigeben.
offenporige oder geschlossenporige Schäume Um sehr harte Stoffe schneiden und bearbei-
erzeugt. Offenporige Metallschäume (Metall- ten zu können, suchten Materialforscher schon
schwämme) mit vernetzten Poren sind Knochen- lange nach einem geeigneten Material. Bereits
gewebe nachempfunden. Je nach Herstellungs- 1914 gelang es, ein solches Material in Form
und Verarbeitungsverfahren können die Poren von Wolframcarbid (WC) zu erzeugen, das sich
kugel-, linsenförmig oder länglich sein, mit einer zunächst technisch als unbrauchbar erwies. Erst
Größe von 0,6 – 4,5 mm. Bei geschlossenporigen 1926 konnte die Firma Krupp einen metallischen
Metallschäumen werden die Gasblasen von ei- Verbundstoff aus Wolframcarbid und Cobalt

275
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

unter dem Handelsnamen Widia (Wie Diamant) um bis zu 25 Volumenprozent, je kleiner die
auf den Markt bringen, der die Anforderungen Korngröße, desto stärker.
erfüllte. Seither wurden nicht nur die Eigenschaf- Neben dem traditionellen Wolframcarbid-
ten dieses Stoffs erheblich verbessert, sondern Cobalt-Hartmetall, das zu 90 – 94 Prozent aus
auch weitere Sorten dieser metallischen Ver- WC und 6 – 10 Prozent aus Cobalt besteht, wer-
bundwerkstoffe mit sehr vielfältigen Eigenschaf- den inzwischen weitere Sorten erzeugt, deren
ten unter der Gruppenbezeichnung Hartmetalle Eigenschaften sich aufgrund ihrer Zusammenset-
entwickelt. Die Geräte eines Zahnarztes, die zung und ihrer Gefügestruktur erheblich von den
harten Zahnschmelz abschleifen müssen, die traditionellen unterscheiden. Auch Mehrkom-
großen Bohrgeräte von Tunnelbauern und die ponenten-Sorten wie WC-Ni-Cr-Hartmetalle
kreischenden Trennschneider für Beton bestehen werden angeboten. Eine spezielle Untergruppe
häufig aus diesem Material. sind die 1931 entwickelten Wolframcarbid-
freien Cermets (engl. ceramic + metal), bei denen
Herstellung und Eigenschaften hauptsächlich Titancarbid (TiC) oder Titannitrid
(TiN), seltener Tantalcarbid den Hartstoff und
Hartmetalle sind Werkstoffe aus einem metal- bis zu 20 Prozent Niob, Nickel oder Molybdän
lischen Hartstoff wie Titancarbid (TiC), WC, die metallische Bindungsphase bilden (ÅHoch-
Titannitrit (TiN) und einem zähen Metall. Bei leistungskeramiken, Seite 233).
den Hartstoffen handelt es sich um sogenannte Hartmetalle vereinen die Härte und Ver-
Einlagerungsmischkristalle. Die kleineren Koh- schleißfestigkeit von Hartstoffen mit der Zähig-
lenstoff- oder Stickstoffatome lagern sich in keit von weichen Bindemetallen wie Cobalt. Je
die Zwischenräume des Metallgitters ein. Weil kleiner die Korngröße der Hartstoffe ist, desto
Hartmetalle aus zwei oder mehr Komponenten härter, aber auch spröder werden die Werk-
bestehen, werden sie zu den Verbundstoffen stoffe. Momentan werden WC-Co-Hartme-
gezählt. Diese Werkstoffe werden durch Sin- talle mit Korngrößen-Mischungen des Carbids
tern hergestellt. Im ersten Schritt werden die zwischen 0,05 und etwa 2 μm angeboten. Für
Ausgangsmaterialien fein gemahlen und das besondere Anforderungen an die Zähigkeit,
entstehende Pulver annähernd in die zukünf- wie sie beispielsweise an Meisel für den Erz-
tige Form gepresst, den sogenannten Grünling. abbau gestellt werden, sind auch Korngrößen
Gegebenenfalls erfolgt noch eine mechani- bis 20 μm üblich. Manche Sorten, wie WC-Ni-
sche Nachbearbeitung. Anschließend wird der Cr-Hartmetalle, sind chemisch beständig, alle
Grünling unter sehr hohem Druck langsam bis sind hoch warmfest und ertragen Schneidetem-
maximal 1600 °C erhitzt, so dass das Metall, peraturen von 1100 – 1200 °C. Aufgrund ihrer
aber nicht der Hartstoff schmilzt. Das flüssige Eigenschaften werden sie vor allem dort einge-
Metall benetzt die entstehenden Wolframcarbid- setzt, wo harte Stoffe bearbeitet werden müssen,
Kristallite und füllt die Poren zwischen ihnen also zum Schneiden und Bohren von Fliesen,
vollständig aus; über Diffusion dringen Metal- Glas, Beton, sowie als Schleifmittel für Stähle,
latome auch in die Kristallite ein. Diese soge- als Schneidewerkzeuge in Gesteinsmühlen, in
nannte Sinterung verbäckt die Hartstoffteilchen der Stanz- und Umformtechnik, im Berg- und
über das Metall fest miteinander. Durch das Tagebau. Künstliche Diamanten können nur mit
5-90 praktisch völlige Verschwinden der Poren (im Hilfe von Hartmetall-Stempeln gepresst werden.
Hartstoffe. Eigenschaften Gegensatz zu Keramiken) schrumpft die Masse In der Medizintechnik werden biokompatible
wichtiger Hartstoffe und Cermets für Implantate genutzt. Viele Hartme-
ihrer Metalle
tallwerkzeuge werden heutzutage mit Hartstof-
Hartstoff
Schmelzpunkt Schmelzpunkt Härte Härte fen beschichtet, um ihre Oberfläche noch ver-
in °C Metall in °C (Vickers) (Mohs) schleißfester und härter zu machen. Dabei kann
Titancarbid (TiC) 3140 1725 3200 9 – 9,5 man durch Verwendung unterschiedlicher Lagen
von Beschichtungen die Werkstoffeigenschaften
Tantalcarbid (TaC) 3880 2990 2600 9 – 10
optimieren. Auch die Abscheidung von Diamant
Titannitrid (TiN) 2950 1725 2450 8–9 (Kohlenstoff) als Beschichtung ist möglich. Die
Beschichtung erfolgt meist durch Aufdampfen
Wolframcarbid (WC) 2870 3370 2400 9
des gasförmigen Beschichtungsmaterials.

276
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Grenzgänger: Halbmetalle
Unter der Sammelbezeichnung Halbmetalle wer-
den Elemente zusammengefasst, die sich che-
misch und physikalisch teils wie Metalle, teils
wie Nichtmetalle verhalten. Wurden sie früher
nach ihrer Stellung im Periodensystem definiert,
werden sie heute als kristalline Feststoffe mit
einer bestimmten Bandstruktur charakterisiert
(ÅAbbildung 5-91). Zu diesen Grenzgängern
gehören Bor, Silicium, Germanium, Arsen, An-
timon, Tellur, Polonium, Selen und Astat. Nach
heutiger Auffassung sind Bor, Silicium, Arsen
und Tellur typische Halbmetalle, während Ger- 5-91
manium, Antimon und Polonium eher Metalle, Volumenminderung ein. Die meisten Halbme- Bändermodell. Die Band-
Selen und Astat eher Nichtmetalle sind. talle und ihre Oxide verhalten sich amphoter, sie lücke zwischen Valenz-
und Leitungsband ist bei
lösen sich sowohl in Säuren als auch in Basen. Halbleitern kleiner als 3 eV,
Eigenschaften von Halbmetallen Ihre Oxide bilden mit Wasser im Unterschied weshalb bei höheren Tem-
zu den meist wasserunlöslichen Metalloxiden peraturen (steigender Fer-
mienergie EF) Elektronen
Halbmetalle teilen einige Eigenschaften, die sie Säuren. Ihre äußere Elektronenschale ist mit aus dem Valenz- in das
von echten Metallen unterscheiden. Unter Nor- 3 – 6 Elektronen besetzt, deshalb können sie bei Leitungsband wechseln
malbedingungen bilden viele Angehörige dieser chemischen Reaktionen entweder Elektronen können.
Gruppe eine Modifikation mit metallischen und aufnehmen oder abgeben.
eine mit nichtmetallischen Eigenschaften aus, so
Antimon, Arsen und Tellur. Dies gilt allerdings Wirtschaftliche Nutzung
auch für Metalle wie Zinn oder Nichtmetalle
wie Phosphor. Allen Halbmetallen gemeinsam Halbmetalle sind unsichtbar in zahlreichen Ge-
ist bei Zimmertemperatur eine geringe ther- genständen verborgen. Als Legierungselemente
mische und elektrische Leitfähigkeit. Letztere dienen oft Tellur und Antimon, aber auch Sili-
steigt jedoch – im Gegensatz zu Metallen – mit cium und Arsen. Zur Herstellung von chemi-
wachsender Temperatur, so nimmt sie bei Bor bei schen und kosmetischen Produkten dienen Bor
einer Temperaturerhöhung von 20 °C auf 600 °C und Arsen, als Halbleiter in der Elektronik und
um das Hundertfache zu. Auch durch gezielte zur Herstellung elektronischer Chips Bor, vor
Einbringung von Fremdatomen aus anderen allem aber Silicium und Germanium, in der
Hauptgruppen (Dotieren) kann die elektrische Nuklearmedizin Astat. Im Folgenden wollen wir
Leitfähigkeit deutlich erhöht werden, weshalb zwei bekannte Halbmetalle, nämlich Silicium
die meisten Halbmetalle zu den Halbleitern ge- und Arsen, vorstellen.
hören (ÅEnergiebänder, Seite 204). Typisches
Merkmal von Halbleitern sind Bandabstände Kein Surfen ohne Silicium
zwischen Valenz- und Leitungsband kleiner als
3 eV. Die thermische Energie der Valenzelek- Silicium (auch: Silizium, Si, engl. silicon) umgibt
tronen erlaubt es gerade, diese Lücke zu über- uns „verborgen“ in zahllosen Alltagsgegenstän-
winden und ins Leitungsband zu wechseln. Da den, doch nur wenige kommen mit elementa-
diese Energie mit steigender Temperatur wächst, rem Silicium in Kontakt. Bekannte Gesteine,
steigt auch die Leitfähigkeit der Halbleiter mit viele Baustoffe und Tonkeramiken enthalten
der Temperatur. Die Halbmetalle Bor, Tellur, Silicium. Traditionelle Gläser enthalten als
Silicium und Germanium sind typische Halb- wichtigen Grundstoff dieses Element. Compu-
leiter, umgekehrt sind nicht alle Halbleiter auch ter- und Elektronikbauteile enthalten es, aus si-
Halbmetalle. liciumhaltigen Verbindungen werden polymere
Halbmetalle lassen sich generell nicht Kunststoffe erzeugt. Als Element wurde Silicium
schmieden oder kalt hämmern, beim Schmelzen relativ spät entdeckt. Unabhängig voneinander
tritt – im Gegensatz zu echten Metallen - eine stellten 1787 ANTOINE LAURENT DE LAVOI A SIER

277
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

und wenige Jahre später der Engländer HUMPHRY SiO2. Freies SiO2 kommt natürlich am häufigs-
Silicium (Si)
DAVY
A das Element dar, hielten es jedoch für eine ten als Quarz, der thermodynamisch stabilsten
Anteil an der
ca. 27 Gew.% Verbindung. Den beiden französischen Chemi- Form vor.
Erdkruste
kern JOSEPH LOUIS GAYA -LUSSAC (1778– 1850) und Einige Organismen verwenden Kieselsäure
Platz in der Häu-
figkeitsskala
2 LOUIS JACQUES THÉNARD (1777 – 1857) gelang es (ÅRandspalte) als Baustoff für ihre Schalen oder
1811 erstmals unreines, amorphes Silicium zu Stützskelette. Tierische Mikroorganismen wie
Dichte 2,336 g/ cm3
gewinnen, 1824 glückte es dem schwedischen Radiolarien (Strahlentierchen), Diatomeen (Kie-
Schmelzpunkt 1410 °C
Chemiker JÖNS JAKOB BERZELIUS reines, amor- selalgen) oder Kieselschwämme erzeugen kiese-
phes Silicium zu isolieren. BERZELIUS erkannte als lige Exoskelette. Ebenso schaffen sich Schach-
Mohs-Härte 6,5 Erster den elementaren Charakter dieses Stoffs. telhalme, Bambuspflanzen oder Hirse mit Hilfe
Elektronen-
Das gesamte 19. Jahrhundert hindurch, als sich von SiO2 eine feste Stütze. Im menschlichen
[Ne]3s23p2 die großindustrielle Produktion von Stahl, Ze- Körper ist nur ca. 1,4 g Silicium als essenzielles
konfiguration
Elektr. Leit- ment und Glas entwickelte, diente Silicium als Spurenelement vorhanden. Besonders für schnell
< 10–3 S/ m
fähigkeit wichtiges Legierungselement und Hilfsprodukt wachsende Zellen wie Haare, Nägel und Haut
Wärmeleit- in anderen Industriezweigen. Im 20. Jahrhundert ist SiO2 essenziell. In den Hautzellen unterstützt
149W·m–1 · K–1
fähigkeit
entdeckte man die Halbleiter-Eigenschaft dieses Silicium die Bindung von Feuchtigkeit und den
Elements. Damit stieg Silicium zu einem Schlüs- Hautstoffwechsel. Auch für die Knochenbildung
selrohstoff für die Elektronikindustrie und die ist dieses Element unentbehrlich.
Photovoltaik auf. Für industrielle Nutzungen wird aus natürli-
chem SiO2, meistens aus quarzhaltigen Rohstof-
Vorkommen und Gewinnung von Silicium fen, elementares Silicium gewonnen. Als Legie-
rungselement wird Rohsilicium mit einer Reinheit
Kieselsäure Silicium ist ein halbmetallisches Element, als Si- von 98 Prozent mittels Reduktion von Silicium-
Kieselsäuren sind Sauer-
liciumdioxid (SiO2) nimmt dieses Element in der dioxid mit Kohle, Magnesium oder Aluminium
stoffsäuren des Siliciums.
Die einfachste ist die Or- kontinentalen Kruste in Form von Silikaten oder erzeugt. Doch für die Herstellung von Solarzel-
thokieselsäure (H4SiO4), Quarz mit 57,3 Prozent und in der ozeanischen len oder Halbleitern genügt dieser Reinheitsgrad
eine schwache Säure, die Kruste mit 49,5 Prozent Anteil die erste Stelle nicht, dafür ist sogenanntes Reinstsilicium erfor-
rasch zu Dikieselsäure
(H6Si2O7) kondensiert. Ein gesteinsbildender Verbindungen ein. Geophysi- derlich. Dabei wird durch einen mehrstufigen
weiterer Vertreter ist die ker nehmen an, dass im Erdmantel silikatische chemisch-thermischen Prozess aus Rohsilicium
Metakieselsäure (H2SiO3). Minerale wie Olivin [(Mg,Fe)SiO4] und Mag- zunächst das hochentzündliche, flüssige Trichlor- r
Kieselgele sind hoch-
kondensierte, amorphe nesium-Perowskit [(Mg,Fe)SiO3] weit verbreitet silan (SiHCl3) erzeugt, das dann nach mehreren
Polykieselsäuren. Natür- sind. Silicium kommt stets gebunden, meist als Destillationsschritten bei hohen Temperaturen
liche Kieselsäure kommt Oxid in zahllosen Modifikationen vor, seltener gecracked wird, wobei polykristallines, sogenann-
in einigen Pflanzen wie
Schachtelhalmen und in
als gasförmiges Siliciumtetrafluorid (SiF4) oder tes Solarsilicium, mit einem Reinheitsgrad von
Wasser gelöst vor. sehr selten als natürliches Siliciumcarbid (Mois- 99,99 Prozent abgeschieden wird. Durch erneutes
sanit, SiC). Als Oxid ist es ein Baustein vieler Aufschmelzen und langsames Kristallwachstum
Minerale wie Feldspäte oder Glimmer, Silikate aus der Schmelze erhält man schließlich höchstrei-
bilden die umfangreichste Mineralklasse mit nes, monokristallines Halbleiter-Silicium, das eine
5-92
mehr als 1000 Vertretern (ÅKasten Mineralklas- Verunreinigung von weniger als 1 ppb aufweisen
Silicium. Verwendungsfel- sen, Seite 227). Auch Halbedelsteine wie Achat, darf, also weniger als ein Fremdatom auf eine
der von Silicium heute. Jaspis oder Opal bestehen hauptsächlich aus Milliarde Siliciumatome.

Eigenschaften und Verwendung

Elementares Silicium ist reaktionsträge, da es


rasch passiviert. Es ist ein dunkelgraues, me-
tallisch glänzendes, sprödes Halbmetall, das zu
den leichten Elementen gehört, es weist aber
eine Dichteanomalie auf, denn seine Dichte ist
im flüssigen Zustand höher als im festen. Reines
Silicium kristallisiert im kubisch-flächenzentrier-
r
tem System mit einer diamantähnlichen Struktur,

278
Erde, Wasser, Luft und Feuer

die für seine große Härte verantwortlich ist. Sili- sind heute mit zwanzig bis vierzig Nanometern
cium kann in hochreiner Form mit monokristal- extrem fein. Moderne Grafikchips enthalten
liner, polykristalliner (c-Silicium) und amorpher auf einer etwa 2,5 x 2,5 cm großen Fläche drei
Struktur (a-Silicium) erzeugt werden. In Verbin- Milliarden Schalteinheiten (Transistoren). Zum
dungen tritt Silicium selten 5- oder 6-wertig auf, Vergleich: ENIAC, einer der ersten Elektronen-
am häufigsten 4-wertig. Denn wie Kohlenstoff rechner (1946), verfügte über 17 468 Schaltein-
besitzt ein Siliciumatom eine mit vier Elektronen heiten (Elektronenröhren) auf einer Fläche von
nur halbgefüllte äußere Schale (ÅVon Schalen 10 m x 17 m.
und Orbitalen, Seite 135), die jeweils mit einem
Elektron der vier Nachbaratome ein Paar bilden Mordgift und Halbleiter: Arsen
können. Im Gegensatz zum Kohlenstoff geht es
aber kaum Doppelbindungen ein. Die Einfach- Dank seiner toxischen Eigenschaften genießt
bindungen mit Sauerstoff sind sehr stabil, da die dieses Element bis heute einen denkbar schlech-
äußeren Elektronen des Sauerstoffs die leeren ten Ruf als Mordgift. In vielen Kriminalfilmen
d-Orbitale des Siliciums „mitnutzen“ können und -romanen, z. B. von AGAT A HA C HRIST IE
(starke kovalente Bindung). Im Gegensatz zum (1890 –1976), wird es zu Mordtaten genutzt.
Kohlendioxid (CO2) aus der gleichen Gruppe ist Auch in der Realität war Arsen seit der Antike
Siliciumdioxid ein dreidimensionaler Festkörper, ein beliebtes Gift. Zahlreiche Fürsten, Kardinäle
bei dem sich zwei SiO2-Moleküle zu SiO4-Tetra- und Päpste fielen ihm zum Opfer. Zu einer beson-
eder verbinden (ÅAbbildung 5-8, Seite 228). deren Meisterschaft, unliebsame Personen damit
Diese tetraedrische Anordnung der Atome ist zu beseitigen, brachte es das spanisch-vatikani-
elektrisch nicht neutral, weshalb sich die Tetra- sche Adelsgeschlecht der Borgias (Alexander VI.).
eder an den Ecken zu den zahlreichen, ketten-, Bis etwa 1840 wurden 90 bis 95 Prozent aller
ring- oder schichtförmigen Silikaten verbinden. Giftmorde mit Arsenik, auch „Erbschaftspulver“
Damit haben die positiv geladenen Siliciumkerne genannt, verübt. Seit Einführung der Marshschen
den maximalen Abstand voneinander. SiO4-Te- Nachweismethode verlor das Gift an Bedeutung, 5-93
traeder bilden den Ausgangsstoff für wichtige können damit doch auch nach dem Tod des Op- Chipherstellung. Um feine
Strukturen auf einem Sili-
Kunststoffe. In Wasser ist elementares Silicium fers noch kleinste Mengen nachgewiesen werden. cium-Wafer aufzubauen,
unlöslich, mit Ausnahme von Flusssäure wird Im ersten Weltkrieg wurden aus arsenhaltigen werden fotolithografische
es von Säuren nicht angegriffen. Mit erhitzten Verbindungen tödliche chemische Kampfstoffe Verfahren genutzt. Der
aufgetragene Fotolack
Laugen reagiert es und setzt Wasserstoffgas frei. wie Grün- oder Blaukreuz entwickelt.
wird mit einer Fotomaske
Metallurgisches Silicium dient als Rohstoff Schon in der Antike wurden die beiden gelben, abgedeckt, die die Struk-
zur Herstellung von Dichtungen, Ölen, Silikon sulfidischen Arsenminerale Auripigment (Orpi- turen der aufzubauenden
Schicht enthält. Nach der
und Silikonharzen. In Silikonen sind SiO4-Tetra- ment, As2S3) und Realgar (As4S4) genutzt, um
Belichtung (oben), wird
eder durch organische Reste modifiziert. Als Silber golden und Kupfer weiß zu färben; der der unbelichtete (oder
Legierungselement wird es für Weißblech, Stähle griechische Arzt DIOSKORIDES (um 50 n. Chr.) belichtete, je nach Verfah-
(Siliciumstahl 2,5 – 4,0 Prozent Si), Kupfer- und verordnete Realgar als Asthmamittel. Im antiken ren) Lack chemisch ent-
fernt. Das Substrat kann
Aluminiumlegierungen genutzt. Die Bedeutung Rom verwendete man Arsensulfide als Maler- an den freiliegenden Stel-
des Siliciums spiegelt sich in der Namensgebung farbe und zum Enthaaren. PARACELSUS führte len durch Ionenbeschuß
Silicon Valley für eine Hochtechnologie-Region arsenhaltige Mittel wieder in die Medizin ein. Als (Mitte, links) dotiert bzw.
durch Aufdampfen oder
in Kalifornien wieder. Polykristallines Solarsili- eigentlicher Entdecker gilt ALBERTUS MAGNUS, der andere Beschichtungsver-
cium wird hauptsächlich in ÅSolarzellen (Kasten um 1250 die Herstellung von unreinem Arsen aus fahren (Mitte, rechts) be-
Seite 280) verarbeitet. Das höchstreine, mono- Auripigment beschrieb, doch erst dem deutschen schichtet werden. Dieser
Prozess kann Schicht für
kristalline Silicium ist ein wichtiger Rohstoff für Mediziner JOHANN SCHRÖDER (1600 – 1664) und Schicht wiederholt wer-
die Herstellung von Mikrochips. Dazu wird der dem französischen Chemiker NICOLAS LEMERY den, wobei in den ober-
als runder Block vorliegende Silicium-Einkristall (1645 – 1715) gelang es durch Erhitzen von sten Schichten die metal-
lischen Leitungsbahnen
in etwa 1 Millimeter dünne Scheiben zersägt, Arsen(III)-oxid mit Holzkohle reines, metallisches aufgetragen werden.
die sogenannten Wafer. Auf diesen werden in Arsen zu erzeugen. LAVOIA SIER erkannte, dass es
einem mehrstufigen, komplizierten Prozess die sich bei Arsen um ein Element handelt. Seinen
filigranen Schaltkreise aufgebaut, wobei man heutigen Namen, abgeleitet von der griechischen
von fotolithografischen Verfahren Gebrauch Bezeichnung arsenikon für das Mineral Auripig-
macht (ÅAbbildung 5-93). Die Detailstrukturen ment, erhielt es erst im 19. Jahrhundert.

279
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

Solarzellen

Etwa 95 Prozent der weltweit erzeugten Solar- herstellbar. Dabei verwendet man oft amorphes
zellen basieren auf dem Halbleiter Silicium. Sie Silicium, dessen Wirkungsgrad im kommerzi-
funktionieren nach dem sogenannten inneren ellen Bereich zwar noch unter dem polykris-
photoelektrischen Effekt. Halbleiter leiten den talliner Zellen liegt, aber im Labor werden
Strom recht gut, wenn genug Elektronen die bereits Werte um 20 Prozent erzielt. Aufgrund
Bandlücke zwischen Valenz- und Leitungsband des Bedarfs an erneuerbaren Energien entstehen
überwinden können. Die dafür benötigte Ener- derzeit nicht nur eine Vielzahl neuer, kosten-
gie kann auch von Photonen geliefert werden. günstiger Verfahren zur Produktion von Silici-
Bei photoelektrischen Widerständen verringert umzellen, es werden auch zunehmend andere
sich auf diese Weise der Widerstand in Abhän- Materialien, unter anderem auf organischer
gigkeit vom Lichteinfall. Die bei der Absorp- Basis, geprüft und eingesetzt. Bezüglich Kosten
5-94
tion entstehenden Elektron-Loch-Paare werden und Energieeffizienz ist daher eine ähnliche
Raumladungszone. durch die angelegte Spannung getrennt bevor sie Entwicklung zu erwarten wie seinerzeit bei
Wichtig für den photo- wieder rekombinieren können. Sie fließen als Mikroprozessoren und Speicherbausteinen.
elektrischen Effekt von
elektrischer Strom in entgegengesetzter Rich-
Halbleitersolarzellen ist die
Existenz eines geladenen tung durch den Widerstand. Für die Strom-
Bereichs um die Sperr- erzeugung (photovoltaischer Effekt) oder die
schicht, die sogenannte Strahlungsmessung (Photodiode) werden diese
Raumladungszone. Sie
entsteht, weil Löcher (rot) Paare nicht durch eine von außen angelegte
aus dem p-Bereich in den Spannung voneinander getrennt, sondern durch
n-Bereich diffundieren, das elektrische Feld der sogenannten Raumla-
während Elektronen (blau)
die andere Richtung dungszone eines p-n-Übergangs (ÅAbbildung
nehmen. Die Diffusion er- 5-94). Dadurch fließt bei Lichteinfall selbstän-
zeugt ein elektrisches Feld dig ein elektrischer Strom durch eine Solarzelle.
senkrecht zur Sperrschicht,
das die Ladungsträger Den maximalen Wirkungsgrad (über 20
wieder zurückdriften läßt. Prozenz) erzielt man mit hochreinem monokris-
Das Gleichgewicht zwi- tallinen Silicium, wie es bei der Chipherstellung
schen beiden Bewegungen
ist bei der sogenannten
verwendet wird. Das Verfahren ist allerdings
5-96
Diffusionsspannung er- teuer und energieintensiv, was sich ungüns- Solarzelle. Eine Siliciumsolarzelle besteht aus einer
reicht; bei Silicium beträgt tig auf die Gesamtenergiebilanz auswirkt. Die sehr dünnen, stark n-dotierten Schicht, einer schwach
sie 0,6 bis 0,7 V. p-dotierten Zwischenschicht und einer stark dotierten
meisten in Solarpanelen verwendeten Solar-
p-Schicht. Die Raumladungszone dehnt sich über den
zellen sind daher polykristallin, was zwar den schwach dotierten Bereich aus. Einfallende Photonen ka-
Wirkungsgrad auf etwa 16 Prozent sinken lässt, tapultieren darin Elektronen (blau) aus dem Valenzband
aber die Energiebilanz und die Kosten deutlich V in das Leitungsband L (unten). Dank des elektrischen
Feldes in der Raumladungszone driften Elektronen zur n-
verbessert. Auch extrem dünne, sehr leichte und die entstandenen Löcher zur p-Seite (rechts), wo sie
und sogar biegsame Solarzellenelemente sind über Kontaktelektroden abgegriffen werden.

Vorkommen und Gewinnung von Arsen und einige Getreide. Da wir aus unserer Umwelt
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

ständig Arsenverbindungen aufnehmen, enthalten


Arsen gehört zwar zu den seltenen Elementen, fast alle unsere Organe dieses Element. Gediegen
dennoch ist es in Spuren überall verbreitet. Arsen kommt Arsen selten als sogenanntes Scherbenko-
wird zu einem Drittel durch vulkanische Exhala- balt vor; meist liegt es in Arsensulfiden wie Auri-
tionen und zu zwei Dritteln durch anthropogene pigment und Realgar oder in Metallarseniden wie
5-95
Aktivitäten neu in die Umwelt eingetragen. In Arsenkupfer (Cu3As), Rotnickelkies (NiAs), Co-
Solarpanel.
Auf einem Solarpanel aus magmatischen und vulkanischen Gesteinen sind baltglanz (CoAsS), Arsenikalkies (FeAs2) sowie
polykristallinem Silicium bis 5 g / t, in Böden bis 10 g / t, im Grundwasser Arsenkies (FeAsS) vor. Die beiden letzteren sind
erkennt man anhand der zwischen 1 – 2 g / l, in der städtischen Luft bis zu wirtschaftlich wichtige Arsenerze. Metallisches
Schattierungen die unter-
schiedliche Orientierung 200 ng/m3 vorhanden. Fast alle Lebensmittel ent- Arsen wird heute vorwiegend als Nebenprodukt
der Kristallebenen. halten Arsen, besonders hoch belastet sind Fisch beim Rösten von sulfidischen Kupfer-, Cobalt-

280
Erde, Wasser, Luft und Feuer

oder Golderzen gewonnen, die alle Schmelz- die mit der Zeit die drei- bis vierfache Menge
Arsen (As)
punkte über 1000 °C haben. Graues Arsen su- der tödlichen Dosis konsumieren konnten. Dann
blimiert schon bei 613 °C. Mittels Rösten von bewirkt Arsenik ein wohliges Wärmegefühl und Anteil an der
0,0002 Gew.%
Erdkruste
arsenhaltigen Erzen in sogenannten Gifthütten eine Leistungsteigerung.
Platz in der
bildet sich zunächst flüchtiger Hüttenrauch, gas- Jährlich werden etwa 50 000 Tonnen Arsenik Häufigkeitsskala
52
förmiges Arsentrioxid (Arsenik, As2O3). Durch weltweit produziert. Etwa 70 Prozent dienen
Dichte
Abkühlung und Verdichtung in langen Tonröhren zur Holzbehandlung, 22 Prozent zu Erzeugung
graues As 5,72 g / cm3
erhält man dann verunreinigtes, pulverförmiges von landwirtschaftlichen Chemikalien und der gelbes As 1,97 g / cm3
Arsenik, das berüchtigte Mordgift, das, durch Rest zur Glasherstellung. Metallisches, graues schwarzes As 4,7 – 5,1 g / cm3
weitere Sublimation über Holzkohle von Verun- Arsen wird hauptsächlich Blei und Kupfer zur
graues As subli-
reinigungen befreit, zu metallischem Arsen wird. Erhöhung der Festigkeit als Legierungselement Schmelzpunkt
miert bei 613 °C
Für den Einsatz in der Halbleitertechnik be- zugefügt. Und hochreines Arsen bildet einen
nötigt man hochreines Arsen mit einem Rein- wichtigen Verbindungshalbleiter in der Elektro- Mohs-Härte 3,5 (graues As)
heitsgrad von mindestens 99,99999 Prozent, nik und in der Photovoltaik als Gallium-Arsenid
Elektronen-
dass durch Reduktion von mehrfach destillier- (GaAs) oder Indium-Arsenid (InAs). — konfiguration
[Ar]3d104s24p3
tem Arsen(III)-chlorid (AsCl3) im Wasserstoff-
Elektr. Leit- 3,45 · 10–3 S / m
strom hergestellt werden kann. Anorganische Werkstoffe fähigkeit (graues As)

Eigenschaften und Verwendung Gläser – Nicht immer zerbrechlich Wärmeleit-


50 W·m–1 · K–1
fähigkeit
Aufgrund seiner physikalischen Eigenschaften Ohne verglaste Fenster können wir uns Häuser
zählt Arsen zwar zu den Halbmetallen, doch je kaum vorstellen, Glasflaschen, Gläser oder glä-
nach Modifikation verhält es sich wie ein Metall serne Bildschirme von Fernsehern und Monitoren
oder Nichtmetall. Arsen kommt in drei allotro- gehören zu den selbstverständlichsten Alltagsdin-
pen Modifikationen vor. Graues Arsen ist eine gen. Dabei ist diese Nutzungsart von Glas teil-
kristalline, metallisch grau glänzende Form, die weise gar nicht so alt, wohingegen Glas selbst zu
den Strom leitet; gelbes Arsen bildet metastabile, den ältesten Werkstoffen der Menschheit zählt.
nichtmetallische Kristalle, und schwarzes Arsen Heute wird Glas als künstliche Substanz wahr-
ist ein sehr hartes, amorphes Nichtmetall. Am genommen, doch es gibt auch natürliche Gläser
häufigsten ist graues, metallisches Arsen. Ar- wie kosmische Tektite und Moldavite sowie vul-
sen verbindet sich leicht mit fast allen Metallen, kanischen Obsidian (ÅMagmatite und Metamor- r
Schwefel, Chlor, Brom und Iod. An der Luft phite – Produkte des Erdinneren, Seite 244).
brennt metallisches Arsen und bildet gasförmiges Obsidian gehört zu den ältesten, von Menschen
Arsentrioxid. Reines, metallisches Arsen ist kaum genutzten Materialien, zunächst ob seiner schar-
toxisch, ebenso seine schwer löslichen Sulfide. fen Bruchkanten als Schneidewerkzeug, seit den
Auch die organischen Verbindungen wie Arsenzu- Hethitern auch als Rohstoff zur Herstellung von
cker, Arsenobetain (C5H11AsO2) und Arsenocho- Gefäßen und Kunstgegenständen. Erste Nach-
lin (C5H14AsO+), die in Fischen, Meeresfrüchten weise von synthetisch hergestelltem Glas stam-
und Pflanzen vorkommen, sind es nicht. Dagegen men aus dem alten Ägypten und Mesopotamien,
sind Halogeno- und Oxo-Verbindungen des drei- wo um 1500 v. Chr. Glasprodukte auftauchten.
wertigen Arsens, insbesondere Arsenik, hochgif- Die Römer übernahmen aus ihrer Provinz Syrien
tig. Arsenik ist krebserregend und blockiert unter die Kenntnisse der Glasherstellung, verbesserten
anderem den zellulären Energiestoffwechsel, die sie und machten die Glaserzeugung in Gallien
DNA-Reparatur und rezeptorvermittelte Trans- und im Kölner Umland bekannt. Später über-
portvorgänge im Körper. Eigentlich gelten 0,6 nahmen die Franken die Produktionsstätten für
bis 1,4 mg oral aufgenommenes Arsenik für den Glas. Doch der Schwerpunkt der europäischen
Menschen als tödlich, doch erstaunlicherweise Glasmacherei lag ab dem 13. Jahrhundert auf
kann sich der Körper daran gewöhnen, so dass der venezianischen Insel Murano, wo sich auch
die aufgenommene Menge ohne letale Folgen die europäische Glaskunst entwickelte. Nach der
langsam bis auf 0,4 Gramm je Kilogramm Kör- Eroberung Konstantinopels durch ein Kreuzfah-
pergewicht gesteigert werden kann. Im 19. Jahr- rerheer 1204 gelangte das Wissen um die Her-
hundert waren sogenannte Arsenikesser bekannt, stellung von Hohlglas nach Venedig. Das heute

281
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

gewöhnliche Fensterglas wurde im 12. Jahrhun- können. Während reine Metalle aufgrund ihrer
dert ertsmals hergestellt und vor allem in Fenster beweglichen Metallbindungen extrem schnelle
repräsentativer Gebäude eingebaut. Die heutige Abkühlungsraten zur Verglasung benötigen,
(Wein-)Flasche wurde 1615 in England einge- sind aus Mischungen von Siliciumdioxid und
führt, ihre Herstellung aus lokalen Rohstoffen Alkalioxiden leicht Gläser herzustellen. Die Sau-
wie Quarzsanden verbreitete sich bald über ganz erstoffatome der SiO4-Tetraeder verbinden sich
Europa. Abgesehen von Fensterscheiben diente miteinander und formen netzartige Strukturen.
Glas über Jahrhunderte nur als Werkstoff für Im Gegensatz zu Metallen, deren metallische
die Erzeugung von Gefäßen und Schmuck. Das Bindungen richtungsunabhängig sind, sind
änderte sich erst Ende des 19. Jahrhunderts mit diese Netze wesentlich sperriger. Kühlt also
der Einführung maschinell erzeugter Glassorten. eine Schmelze aus Siliciumoxid ab, so behin-
Seit dem letzten Drittel des 20.Jahrhunderts wird dern die entstehenden Teilnetze die Beweglich-
Glas in vielen Bereichen zunehmend durch spe- keit der noch freien Moleküle zunehmend. Bei
zielle Kunststoffe mit ähnlichen Eigenschaften Kristallen tritt die Erstarrung bei Erreichen der
verdrängt. Schmelztemperatur sehr abrupt ein, bei Gläsern
erfolgt der Übergang in den erstarrten Zustand
5-97 dagegen allmählich. Zwischen der sogenannten
Netzwerkwandler. Was ist Glas?
Die atomaren Disiloxan- Erweichungs- oder Glasübergangstemperatur
bindungen (Si-O-Si) in Der Begriff leitet sich vom germanischen Wort TG, unterhalb der Glas nicht mehr fließen kann,
einem Quarz brechen glasa, das zunächst Bernstein, dann etwas Glän- und der Temperatur Tm, ab der das Glas als
durch Natriumoxid auf,
da zu viele Sauerstoff- zendes bezeichnet. Wissenschaftlich handelt es flüssig bezeichnet wird, können weit mehr als
atome vorhanden sind. sich um einen Sammelbegriff für eine große hundert Grad Celsius liegen. Man definiert diese
Natriumionen lagern sich Anzahl anorganische Stoffe, die sich in einem Temperaturen auf der Basis der Viskosität des
zwischen die Tetraeder
und bilden Ionenbindun- speziellen amorphen Zustand befinden (ÅEine Glases. Bei TG beträgt diese etwa 1012 Pa·s, bei
gen mit den freiliegenden andere Klassifikation von Materie, Seite 115), Tm 10 Pa·s, was der Viskosität von flüssiger
Sauerstoffatomen. Die eben dem Glaszustand. Im Gegensatz zu Kris- Sahne entspricht. Dieser breite Übergangsbe-
Netzwerkbildung wird
dadurch erschwert, die
tallen verfügen Gläser wie alle amorphen Fest- reich zwischen Flüssigkeit und Festkörper er-
Glasübergangstemperatur körper über keine Fernordnung, sondern bilden möglicht die flexible Verarbeitung von Glas. Bei
sinkt. Mit zunehmendem unregelmäßig geformte Netzwerke oder – bei der sogenannten Formgebungstemperatur (103
Anteil an Natriumoxid
Kunststoffgläsern – unregelmäßig angeordnete bis 105 Pa·s) lässt sich Glas optimal bearbeiten
bildet sich überhaupt kein
Glas mehr. und miteinander verbundene Ketten. Im Gegen- und plastisch verformen.
satz zu anderen amorphen Festkörpern gehen Glas besteht in der Regel aus drei Kom-
Gläser bei Erwärmung nicht in einen kristalli- ponenten, dem Netzwerkbildner (Glasbildner),
nen, sondern in den flüssigen Zustand über. In dem Netwerkwandler (Glaswandler) und Sta-
einem gewissen Sinn wirken Gläser wie einge- bilisatoren. Der Netzwerkbildner formt das
frorene Flüssigkeiten, denen bei der Erstarrung Grundgerüst des Glases, meist handelt es sich
keine Zeit blieb, kristalline Strukturen zu bilden. um Quarzsand (SiO2), es eignen sich aber auch
Wie aber entstehen Gläser? Leider ist der andere Substanzen wie Bortrioxid (B2O3). Netz-
Mechanismus des Übergangs von einer Schmelze werkwandler wie Natriumoxid (Na2O) oder
in den Glaszustand auch heute noch nicht voll Kaliumoxid (K2O) stören das SiO2-Netzwerk
verstanden. Klar ist, dass die Abkühlungsge- und verändern so die chemisch-physikalischen
schwindigkeit eine wesentliche Rolle spielt. Ist Eigenschaften, zum Beispiel in dem sie die Glas-
sie sehr hoch, so finden die Atome oder Mole- übergangstemperatur verringern. (ÅAbbildung
küle nicht genügend Zeit, den energieärmsten, 4-50, Seite 152, Abbildung 5-97). Stabilisato-
in der Regel kristallinen Zustand einzuneh- ren wie Kalk, Aluminiumoxid (Al2O3), Titandi-
men, bevor Bindungskräfte ihre thermische Be- oxid (TiO2), Eisen-(II)-oxid (FeO) und andere
wegungsenergie überwinden. Die Flüssigkeit bewirken, dass Glas nach dem Abkühlen hart
„friert“ gewissermaßen in einem energetisch wird.
ungünstigen Zustand ein. Wie schnell dafür Normales Glas wird aus einer fein gemah-
abgekühlt werden muss, hängt von der Struk- lenen, gut vermischten Grundmasse aus reinem
tur der beteiligten Moleküle und der Stärke Quarzsand, Soda (Natriumcarbonat, Na2CO3)
der Bindungen ab, mit denen sie sich vernetzen oder Pottasche (Kaliumcarbonat, K2CO3), Kalk-

282
Erde, Wasser, Luft und Feuer

stein oder Kreidekalke erzeugt. Heute werden tes Glas für ein breites Lichtband durchlässig
je nach Anforderungen für spezielle Glassorten (ÅTransparenz und Absorption, Seite 215), Färbesubstanz Farbe

Oxide von bis zu 45 weiteren Elementen zuge- es lässt zwischen 75 und 90 Prozent des ein-
Eisen(II)oxid und Grün – —
fügt. Dieses Gemisch wird in Schmelzöfen bei fallenden Lichtes durch. Jede Glassorte besitzt Chrom(III)oxid Blaugrün
Temperaturen bis 1000 °C geschmolzen, ab etwa eine andere Durchlässigkeit. Ultraviolettes Licht
Eisen(II)oxid und
800 und 900 °C beginnen die Einzelbestandteile besitzt dagegen ausreichend Energie, um Elek- Mangan(IV)oxid
Braun
des Gemisches zu schmelzen und zu verbacken. tronen anzuregen. Deshalb wirkt mit UV-Licht
Bei Temperaturen von 1450 – 1550 °C wird die bestrahltes Fensterglas trüb. Mangan(IV)oxid Violett
Schmelze geläutert, das heißt Gaseinschlüsse
und Fehler werden beseitigt, schließlich bil- Farbiges Glas Cobalt(II,III)oxid Blau
det sich eine dünnflüssige, klare, blasenfreie
Schmelze. Glasfärbungen entstehen durch Zusatzstoffe
Kupfer(II)oxid Blau
im Glas, insbesondere durch Oxide von Über-
Eigenschaften gangsmetallen wie Eisen, Chrom oder Cobalt. Kupfer(I)oxid, Rot
Bei dieser sogenannten Ionenfärbung des Gla- Kupfer (Kupferrubin)
Aus der amorphen Struktur von Glas leiten sich ses spalten sich die d-Orbitale der Metallionen Rosa
Selen
viele seiner Eigenschaften wie Sprödigkeit und (Å Von Schalen und Orbitalen, Seite 135) durch (Rosalin)
Zerbrechlichkeit, Durchsichtigkeit und Resistenz Wechselwirkung mit den umliegenden Ionen in
Selen und Cad- Rot (Sonnen-
gegen Chemikalien ab. Übliches Flaschen- oder höher- und niederenergetische Orbitale auf. Da miumsulfid brillen)
Fensterglas besitzt eine Dichte von 2,5 g / cm3 die d-Orbitale der Übergangsmetalle nur zum
Gelb (Son-
sowie eine geringe elektrische und thermische Teil gefüllt sind, können Elektronen durch Ab- Cadmiumsulfid
nenbrillen)
Leitfähigkeit. Alle diese Eigenschaften variieren sorption von Photonen vom tieferliegenden zum
jedoch stark je nach Glassorte (ÅTabelle Glas- höherliegenden Orbital wechseln. Die Energiedif- Gelbgrün flu-
Uran (früher)
oreszierend
sorten, Seite 284). Glas ist ein spröder und ferenz zwischen den Orbitalen entspricht wegen
ziemlich harter Werkstoff mit einer Mohs-Härte E = hν der Frequenz ν der absorbierten Photo- Gold
Rubinrot
(Goldpurpur)
von 5 – 7. Es ist empfindlich gegen Zugspan- nen und bestimmt damit die Farbe des Glases
nungen und hat bei niedrigen Temperaturen (ÅAbbildung 5-98). Umgekehrt kann man durch Orange bis
Silbersalze,
gelb
eine niedrige Elastizitätsgrenze (ÅVom Federn, Beigabe eines Oxids, das die Komplementärfarbe Silber
(Silbergelb)
Dehnen, Fließen und Kriechen, Seite 176), bei erzeugt, ein Glas entfärben. In diesem Fall wird
5-98
deren Überschreitung es sofort bricht. Generell sozusagen die Absorptionsbilanz wieder ausge-
Glasfarben.
hängt die Bruchfestigkeit von der Oberfläche glichen und das Glas erscheint farblos. Da die Eine Auswahl an Zu-
und der Glassorte ab. Oxidationsstufe des verwendeten Metalls einen satzstoffen, die Gläsern
Bei Zimmertemperatur ist Glas gegen nahezu großen Einfluss auf die Farbe besitzt, kann man charakteristische Färbun-
gen verleihen. Stoffe wie
alle Chemikalien beständig, lediglich Flusssäure auch entfärben, in dem man das Metall in der metallisches Gold, Silber,
(HF) kann es angreifen, indem sie das Silicium- Schmelze in eine farblose Oxidationsstufe über- Kupfer oder Selen färben
dioxid in Hexafluorokieselsäure (H2SiF6) um- führt. Entfärbemittel wurden früher „Glasma- Glas als feinverteilte Na-
nopartikel bzw. Kolloide.
wandelt. Gegenüber Wasser ist Glas nicht völlig cherseifen“ genannt. Zusätzliche Substanzen
resistent. Wasser vermag Metallionen aus dem Eine andere Form der Färbung ist die An- wie Schwefel oder Mi-
Glas herauszulösen und so das Glas an der Ober- lauffärbung. Löst man geringe Mengen von Na- schungen der Färbestoffe
können die Färbungen
fläche aufzurauen (Säure-Basereaktion, Proto- nopartikeln aus Gold, Kupfer oder Silber in der noch intensivieren oder
lyse). Deshalb wird billiges Glas nach mehrma- Glasschmelze und erwärmt das Glas nach dem modifizieren. Auch die
ligem, heißem Waschen mit Reinigungsmitteln in Erstarren wieder langsam für etwa 30 Minuten nichtfärbenden Zusatz-
stoffe des Glases spielen
Geschirrspülern trüb. Auch längeres Erwärmen auf 400 – 500 °C, so bilden sich mikrokristalline eine große Rolle für die
unterhalb der Glasübergangstemperatur führt Partikelinseln, sogenannte Kolloide, die die Wel- Farbgebung.
zur Teilkristallisation und damit Trübung des lenlängen des einfallenden Lichtes unterschied-
Glases. Seine optische Durchsichtigkeit ist dar- lich absorbieren, brechen oder reflektieren.
auf zurückzuführen, dass keine freien Elektro- Dichroitisches Glas (von griech. dichroos,
nen im Glas existieren; sie sind vielmehr fest an zweifarbig) wechselt seine Farbe je nach Blick-
Silicium- oder Sauerstoffatome gebunden. Das winkel beziehungsweise Beleuchtungsrichtung.
normale, sichtbare Licht besitzt nicht genügend Die Farbwirkung entsteht durch dünne Beschich-
Energie, um diese Elektronen durch Photonen- tungen des Glases mit Metalloxiden. Die an
absorption anzuregen. Deshalb ist ungefärb- den Schichtgrenzen entstehenden Reflexionen

283
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

erzeugen wellenlägen- und winkelabhängige In- das Ziehen auf. Trinkgläser werden durch Ziehen
terferenzen, was zu Auslöschungen bestimmter erzeugt. Heute werden circa 95 Prozent des Flach-
Wellenlängen führt. glases mittels des 1960 industriell eingeführten
Floatverfahrens erzeugt. Dabei wird die Glas-
Flach oder hohl schmelze fortlaufend über ein Bad aus flüssigem
Zinn geleitet. Glas schwimmt auf Zinn wie ein
Als Hohlglas wird Glas bezeichnet, das für Ölfilm, was zu sehr glatten Glasoberflächen führt.
Verpackungszwecke hergestellt wird und ver- Das Glas wird am kühleren Ende herausgezogen.
schließbar ist. Erzeugte man Hohlgläser bis ins Nachdem es in einem Kühlofen spannungsfrei
19. Jahrhundert mundgeblasen, erfolgt ihre Her- heruntergekühlt ist, wird es geschnitten.
stellung seit 1903 durch maschinelle Blasverfah-
5-99 ren. Neuere Verfahren sind das Pressen in einer
Glassorten.
Übersicht über die wich-
vorgefertigten Form mittels eines Stempels und Glasfasern
tigsten Glassorten. Etwa das Schleuderverfahren, bei dem sich in einer
90 Prozent der gegenwär- rotierenden Flüssigkeit ein Hohlraum (Schleu- Zieht man geschmolzenes Glas zu langen Fäden
tig produzierten Gläser
derparabel) bildet. In Deutschland entfällt etwa aus, offenbart dieses an sich spröde Material
sind Kalknatrongläser.
Die angegebenen Werte 75 Prozent der Glasproduktion auf Hohlglas. ungewohnte mechanische und optische Eigen-
für die Glasübergangs- Unter Flachglas versteht man Glas, das zu schaften. In Kunststoffen und Baustoffen wirken
temperatur TG, die Form-
Scheiben geformt ist; bekanntester Vertreter ist diese Glasfasern materialversteifend; so befinden
gebungstemperatur TF
und die Bestandteile sind das Fensterglas. Ein traditionelles Herstellungs- sich makroskopisch nicht sichtbar Glasfasern
Durchschnittswerte. verfahren ist das Walzen, im 20.Jahrhundert kam in zahlreichen Bauteilen und Gebrauchsgegen-

Bestandteile TG und TF
Name Eigenschaften Verwendung
in Gew.% in °C

58 SiO2
Luxusglaswaren,
9 K 2O
Bleiglas TF: 400 – 500 farblos, weich, Ziergegenstände,
24 PbO
(Bleikristall) TG: 470 glänzend, stark lichtbrechend Edelsteinimitate,
4 Na2O
Strahlenschutz
2 B2O3
72,8 SiO2
Fensterscheiben,
13,8 Na2O
TF: 1015 – 1045 Glasgefäße,
Kalk-Natron- 8,6 CaO gut lichtdurchlässig, empfindlich gegenüber Tem-
TG: 710 – 735 Flaschen, Spiegel,
Glas (Normalglas) 3,6 MgO peratursprüngen
Temperglas,
1,2 K 2O
beschichtete Gläser
1,2 Fe2O3
Siedekolben,
89 SiO2
Bechergläser,
Erdalkali-Borosilikatglas 7 B2O3 TF: 700 – 900 hart, chemische Resistenz, beständig gegenüber
Thermometer,
(Jenaer Glas) 4 MgO TG: 650 Temperatursprüngen
Glühlampen,
4 CaO
Backformen
80,6 SiO2
12,6 B2O3 Laborgläser,
hart, farblos, hohe chemische Resistenz, hohe
4,2 Na2O TG: 815 – 1260 Mikrowellen,
Borosilikat (Duran) thermische Belastbarkeit, beständig gegenüber
2,2 Al2O3 TF: 820 Leuchtröhren,
Temperatursprüngen
0,1 CaO (Halogenlampen)
0,1 Cl
66 SiO2
1 Na 2 O
niedrige Wärmeausdehnung, hohe chemische und
Alumosilikatglas 9 MgO TF: 950 – 1235 Hochtemperaturglühlampen
Temperaturbeständigkeit, Festigkeit
20 Al2O3
4 B2O3

Linsen für UV-Optik, Dampf-


durchlässig für Wellenlängen von 200 – 2500 nm,
Quarzglas TF: > 2000 lampen, Raumfahrzeugfenster,
100 SiO2 beständig gegenüber Temperatursprüngen, hohe
(Kieselglas) TG: 1585 Sichtfenster für Öfen, Motoren
chemische Beständigkeit
usw.

284
Erde, Wasser, Luft und Feuer

ständen, von Teilen der Autokarosserie bis zu plasten wie Polyamid oder Polystyrol und aus
Tennisschlägern. Glasfasern fungieren auch als Duroplasten (ÅVon Plasten und Elasten, Seite
hervorragende Medien für die Datenübertra- 294) wie Epoxid- und Phenolharze entstehen
gung, ohne sie wären die modernen Hochleis- mit Glasfasern sogenannte Faserverbundwerk-
tungs-Kommunikationstechniken nicht möglich. stoffe. Glasfaserverstärkte Kunststoffe weisen
Obwohl ihre Nutzung erst in den letzten verbesserte Biege-, Zug- und Schlagfestigkeit
Jahrzehnten explosionsartig zunahm, wurden sowie höhere Beständigkeit gegen Chemikalien
Glasfasern schon in der Antike hergestellt. Im al- auf. Sie werden für Golf- und Tennisschläger,
ten Ägypten und im römischen Reich verwendete für Karosserieteile von Autos, für Rotorblät-
man grobe Glasfasern, um Gefäße und Vasen ter von Hubschraubern und Windrädern, für
damit zu verzieren. Diese Kunst wurde in der Re- Rohrleitungen und Behälter in Kraftwerken und
publik Venedig vom 16. bis zum 18. Jahrhundert der chemischen Industrie und sogar für Fuß-
stetig verbessert. Doch die modernen Glasfasern gängerbrücken genutzt. In Beton eingebrachte
gehen auf Glasbläser im Thüringer Wald zurück, Glasfasern dienen der Bewehrung, indem sie die
die zu Dekorationszwecken im 18. Jahrhundert Rissbildung vermindern. Da Glasfasern nicht
sogenanntes Feen- oder Engelshaar erzeugten. rosten, ermöglichen sie dünne Betonschichten
Die Nutzung von Glasfasern als optisches Über- und filigrane Gestaltungen. Auch technische
tragungsmedium ist dagegen sehr jung. Zwar Gewebe, vor allem Vliesstoffe, werden aus Glas-
wurde schon 1934 das Patent für ein optisches fasern hergestellt, wobei die Fasern ungeordnet
Telefonsystem erteilt, doch erst Laser lieferten durcheinander liegen. Diese werden unter ande-
eine geeignete Lichtquelle und erst ab 1962 wa- rem als medizinische Textilien, als Innenfutter
ren Photodioden als geeignete Empfangselemente von Schuhen oder Einlegesohlen, als Staub- und
verfügbar. Seit den 1970er Jahren werden Glas- Flüssigkeitsfilter in der Industrie und als Boden-
fasern zur Datenübetragung effektiv genutzt; belag verwendet.
allein in Deutschland sind inzwischen mehrere
Millionen Kilometer zu diesem Zweck verlegt. Wirkung als Lichtwellenleiter

Herstellung und Eigenschaften Oft werden Glasfasern auch als Lichtwellenlei-


ter bezeichnet. Neben solchen aus Glas gibt es
Glasfaser ist ein Sammelbegriff für zu Fasern jedoch auch Lichtwellenleiter aus Kunststoffen.
verarbeitetes Glas mit Durchmessern im μm-Be- Licht als Signalübermittler erlaubt eine wesent-
reich. Glasfasern werden aus der Glasschmelze lich höhere Datenübertragungsrate als Kupfer-
mittels verschiedener Verfahren erzeugt; das kabel. Im Labor erreichte Werte lagen 2011 bei
älteste ist das sogenannte Stabziehverfahren, über 60 Terabit pro Sekunde (1Terabit = 1 Billion
bei dem ein eingespannter Glasstab über einen bit) pro Faser, üblich sind heute Raten um 40
Brenner gezogen wird. Aus Granulaten werden Gigabit pro Sekunde.
mittels des Düsenziehverfahrens und des Dü- Heutige zylinderförmige Glasfasern bestehen
senblasverfahrens Fasern erzeugt. Ein weiteres im wesentlichen aus einem Kernglas und einem
Verfahren ist das Schleuderverfahren, bei dem Mantelglas, das durch diverse weitere Schichten
von einer rotierenden Scheibe einzelne Tropfen geschützt ist (ÅAbbildung 5-100, Seite 286).
beim Drehen weggeschleudert werden und dabei Sowohl das Kernglas (Durchmesser 3 μm – ca.
Fäden bilden. Glasfasern werden aus hochrei- 1000 μm) wie auch das Mantelglas (Durchmes-
nem Quarzglas hergestellt. ser 50 μm bis 150 μm) bestehen aus hochreinem
Quarzglas mit hoher Lichtbrechung, jedoch mit
Einsatz in Kunststoffen und Geweben unterschiedlichem Brechungsindex (optischer
Dichte). Dieser ist beim Kernglas etwas größer
Ein wichtiger Verwendungsbereich von Glasfa- als beim Mantelglas. Dadurch kommt es an der
sern ist ihre Nutzung als Verstärkungsfasern in Grenzschicht zwischen Kern und Mantel zur To-
Kunststoffen und Geweben. Als Beimengung zu talreflexion von Lichtstrahlen, die im Kern ver-
Kunststoffen bewirken sie gezielte Veränderun- laufen. Es gibt auch Fasern, bei denen der Bre-
gen der Festigkeit, des Korrosionswiderstandes chungsindex kontinuierlich zwischen Kern und
oder der Wärmeleitfähigkeit. Aus Thermo- Mantel verändert wird, um Laufzeitunterschiede

285
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

absorbiert und mit geringerer Energie und damit


Frequenz wieder emittiert. Die Raman-Streuung
kann durch Füllen des Faserkern-Hohlraums mit
Xenon vermieden werden.

Glaskeramik – Herdplatten und


Teleskopspiegel
Modernen Kochöfen fehlen die traditionellen
gusseisernen Herdplatten, stattdessen präsentie-
ren sie eine schwarze, glatte, glasige Oberfläche.
5-100 zwischen den Schwingungsmoden zu kompensie- Beim Aufheizen werden diese rotglühend, doch
Lichtwellenleiter. Durch ren. Diese Laufzeitunterschiede bezeichnet man ihre Umgebung bleibt kühl. Woraus bestehen
den unterschiedlichen als Dispersion. Sie führt zu Interferenzen, die diese modernen Kochplatten? Ihr Werkstoff ist
Brechungsindex von Kern-
und Mantelglas bleibt das
die Übertragungsqualität beeinträchtigen. Unter ein teilkristalliner Verbundstoff, genauer ein Ge-
Licht im Kern gefangen. den Schwingungsmoden versteht man die Form, misch aus amorphen Glasbereichen mit kristalli-
in der das elektromagnetische Feld des Lichts nen Keramikbereichen; er wird als Glaskeramik
in der Faser schwingt. Bei sogenannten Multi- bezeichnet. Entdeckt wurde dieser Werkstoff
mode-Fasern breitet sich das Licht in mehreren zufällig 1954 durch den amerikanischen Glas-
Moden aus, während bei Singlemode-Fasern chemiker STA T NLEY DONALD STOOKEY (*1915),
nur die Grundschwingung vorhanden ist. Die doch zu einem industriellen Werkstoff wurde er
Singlemode-Übertragung ist bei den üblichen von einer bekannten Mainzer Glasfabrik Ende
Wellenlängen auf Kerndurchmesser kleiner als der 1960er Jahre entwickelt.
etwa 10 μm beschränkt.
Der Mantel wird von einer starken schwach Herstellung und Eigenschaften
lichtbrechenden Schutzbeschichtung umgeben,
das Ganze umhüllt von einer dickeren Schicht Glaskeramik wird in drei Stufen hergestellt.
aus weichem Kunststoff. Ein Faserbündel be- Zuerst wird die Rohmasse mit Zusätzen von
steht aus bis zu 72 Einzelfasern. Je länger der Keimbildnern ähnlich der Glasherstellung bei
Übertragungsweg ist, desto mehr verlieren die Temperaturen über 1500°C aufgeschmolzen. Als
eingespeisten Lichtimpulse durch Absorption Rohmasse wird industriell vorwiegend das soge-
und durch Streuverluste an Energie. Da Single- nannte LAS-System eingesetzt, einem Gemisch
mode-Fasern weniger Dispersion aufweisen als aus Lithiumoxid, Aluminiumoxid und Silicium-
Multimode-Fasern, sind damit Längen bis zu dioxid. Andere Systeme verwenden anstelle des
100 km ohne Verstärkung möglich; bei letzteren Lithiums Magnesium oder Zink. Als Keimbild-
sind es maximal einige Kilometer. ner wird ein Gemisch aus Zirkonium (IV)- und
Leistungsverluste entstehen unter anderem Titan (IV)-oxid zugefügt. In der zweiten Stufe
durch Absorption des Lichts, zum Beispiel indem wird die abkühlende Schmelze mittels Ziehen,
Molekülbindungen zu Schwingungen angeregt Pressen oder Gießen in die gewünschte Form
werden. Insbesondere eingelagertes Wasser lie- gebracht. In der dritten Stufe wird die Schmelze
fert ungünstige Absorptionsmaxima. Die Licht- erneut auf etwa 1100 °C erwärmt, dabei tritt
strahlen werden auch durch die unregelmäßige, eine unvollständige Kristallisation ein, die soge-
amorphe Struktur des Glases gestreut. Eine Mög- nannte Keramisierung. Es bilden sich feinste, po-
lichkeit, diesem Energieverlust entgegenzuwirken, lykristalline Bereiche neben amorph-glasigen, die
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

bieten strukturierte Glasfasern, die wie Bienenwa- Glaskeramik. Im Unterschied zur Tonkeramik
ben mit einem hohlen Kern im Innern aufgebaut finden sich zwischen den Kristallen keine Poren,
sind. In dem luftgefüllten Kern können wesentlich sondern es entsteht ein Gefüge mit regellos in der
intensivere Lichtpulse übertragen werden, aber es Glasphase verteilten Kristallen. Glaskeramiken
tritt eine Verzerrung der Lichtimpulse durch in- besitzen einen gegen Null tendierenden Wärme-
5-101 elastische Streuung der Photonen an den Luftmo- ausdehnungskoeffizient (10–7 K–1), da die Glas-
Ceran-Kochfeld. lekülen (Raman-Streuung) auf. Photonen werden phase einen positiven, die Keramikphase einen

286
Erde, Wasser, Luft und Feuer

negativen Ausdehnungskoeffizienten zeigt. Die


geringe Wärmeausdehnung bewirkt, dass Glas-
keramik bis 800 °C großen Temperatursprüngen
standhält. Eine hohe Durchlässigkeit für Infra-
rotstrahlung bei gleichzeitig geringer Wärme-
leitfähigkeit hat zur Folge, dass ein auf das Feld
gestellter Topf heiß wird, aber nicht die Fläche

DRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


nebenan. Die heterogene Zusammensetzung der
Glaskeramik verhindert das Risswachstum und
verleiht ihr eine hohe mechanische Festigkeit.

BILDRECHTE
Nutzung

Geringe Wärmeausdehnung, hohe Wärme- sierend auf Holz als Brennmaterial. Ötzi, der 5-102
durchlässigkeit und mechanische Festigkeit er- berühmte Mann aus dem Eis der Alpen, führte Holzaufbau. Die Rinde be-
möglichen Einsatzbereiche, in denen hohe Tem- hölzerne Geräte auf seinem letzten Weg mit sich. steht aus Borke und Bast,
das darunter liegende
peraturbeanspruchungen auftreten. Unter dem Bereits im alten Ägypten, im antiken Griechen- Kambium enthält die tei-
Markennamen „Zerodur“ wird Glaskeramik als land und im römischen Reich wurden große lungsfähigen Zellen des
Spiegelträger für Teleskope, für Sichtfenster von Mengen an Holz in Gebäude und Schiffe ver- Stammes, von denen das
Wachstum ausgeht. Das
Raumfahrzeugen, als Rahmen und Träger für baut. Diese Doppelnutzung von Holz als Brenn- innen liegende Splintholz
Lithographiemaschinen sowie in Messgeräten und Baustoff dauerte das gesamte Mittelalter speichert Nährstoffe und
verarbeitet. Als „Ceran“ wird Glaskeramik für und die Neuzeit hindurch bis ins 19. Jahrhundert leitet diese und Wasser
in Richtung Baumkrone.
Koch- und Backgeschirr, vor allem aber für Herd- an. Auch die beginnende, auf Eisenverhüttung
Das Kernholz besteht aus
platten verwendet. Transparente Sorten werden und -verarbeitung fußende Industrialisierung abgestorbenen Zellen. Der
für Sichtfenster in Feuerungsanlagen genutzt. Für nutzte Holz als Brennstoff. Für unsere Großel- Teil innerhalb des Kambi-
ums wird auch als Xylem,
medizinische Anwendungen sind biokompatible tern waren hölzerne Alltagsgegenstände noch
der außenliegende als
Glaskeramiksorten entwickelt worden, bei denen gang und gäbe. Erst im 19. Jahrhundert kamen Phloem bezeichnet.
Apatit, Apatit-Wollasonit oder Apatit-Glimmer die Nutzung als Rohstoff für Papier, für die
die Hauptkristallisationsphasen bilden. Unter chemische Industrie sowie für die frühe Kunst-
dem Markennamen Ceravital, Cerabone und stofferzeugung hinzu.
Bioverit werden sie in der Dentaltechnik oder als
Zwischenstücke zur Knochenstabilisierung nach Was ist Holz?
Brüchen eingesetzt. —
Das deutsche Wort Holz leitet sich vom germa-
Organische Materialien nischen holta, Abgehauenes, ab. Wissenschaftler
verstehen darunter das vom Kambium nach
Von Hölzern, Fasern und Beuteln innen abgeschiedene tote Pflanzengewebe (se-
kundäres Xylem). Ein Schnitt durch einen Baum-
Neben Steinen und einzelnen Metallen gehört stamm offenbart dessen Aufbau. Von außen
Holz zu den Rohstoffen, die die Menschheit von nach innen lassen sich Borke, Bast, Kambium,
Anbeginn begleitet und ihre zivilisatorische Ent- Splint- und Kernholz unterscheiden (ÅAbbil-
wicklung maßgeblich beeinflusst haben. Wäh- dung 5-102).
rend Steine, Bronze oder unlegierte Metalle weit- Die Borke besteht aus äußeren abgestorbenen
gehend aus unserem Alltag verdrängt worden Zellen, bei vielen Baumarten erkennbar an ihrer
sind, erfreut sich Holz wachsender Beliebtheit. Rissigkeit; daran schließen sich lebende Zellen
Das liegt daran, dass Holz ein nachwachsender, an, die vom Kambium nach außen gebildet und
leicht zu gewinnender und zu verarbeitender in ihrer Gesamtheit als Bast bezeichnet werden.
Rohstoff ist. Fast 400 000 Jahre alte, hölzerne Borke und Bast werden als Phloem zusammen-
Wurfspeere zeugen von einer frühen Nutzung gefasst. Der eigentliche Wachstumsbereich eines
des Holzes durch Menschen. Ein bedeutender Baumes ist der schmale Kambium-Ring. Dabei
Entwicklungsschritt der Menschheit wurde handelt es sich um teilungsfähige Zellen, die das
durch die Nutzung von Feuer eingeleitet, ba- Dickenwachstum eines Baumes bewirken. Diese

287
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

Zellen leiten Wasser und Nährstoffe von den fester Baustoff. Unter Hygroskopizität versteht
Wurzeln bis in die Blätter. Zum Stammesinneren man die Neigung des Holzes dank seiner großen
folgt der mehr oder minder breite Splintholz- inneren Oberfläche, Feuchtigkeit aus seiner Um-
Ring. In diesen Zellen werden Stärke, Eiweiße gebung aufzunehmen und auch wieder abzuge-
und Spurenelemente angereichert. Manche Bau- ben. Ein Feuchtigkeitsgefälle zwischen Holz und
marten wie Ahorn, Birke oder Erle bestehen Umgebung wird durch Feuchtigkeitsaufnahme
nur aus Splintholz. Bei anderen, wie bei der oder -abgabe ausgeglichen; bestimmend ist dabei
Eiche bildet das sogenannte Kernholz den in- ein von der Holzart abhängiger Fasersättigungs-
neren Stamm. Dieser Bereich besteht aus abge- punkt. Mit der Feuchtigkeitszunahme geht eine
storbenen Zellen, er fungiert als Stützgewebe Volumenzunahme, das Quellen, einher, mit der
eines Baumes. Der innerste Ring heißt Mark. Abgabe ein Volumenschrumpfen, das Schwin-
Hier werden vor allem Öle, Harze, Gerb- und den. Umgangssprachlich sagt man, das Holz
Farbstoffe eingelagert, phenolische Substanzen arbeitet. Das Quellen und Schwinden vollzieht
verleihen diesem Stammbereich oft eine dunkle sich jedoch nicht gleichmäßig, sondern infolge
Färbung. Splint- und Kernholz bilden das Xylem. der Anisotropie abhängig von der Zell- und
Dieser Aufbau unterscheidet sich von Baumart Faserausrichtung in unterschiedlichem Umfang:
zu Baumart. In tangentialer Richtung (senkrecht, parallel
Nadelholz Laubholz
Nach seinen chemischen Bestandteilen setzt zu den Jahresringen) führt das Schwinden zu
sich Holz aus den Gerüstsubstanzen Cellulose einem Schrumpfen von etwa 10 Prozent, in
Cellulose 42 – 49 % 42 – 51 %
(ÅKasten Cellulose, Seite 290) und Hemicel- radialer Richtung (horizontal, parallel zu den
Hemi-
24 – 30 % 27 – 40 % lulose, der Füllsubstanz Lignin und der Kittsub- Holzstrahlen) von etwa 5 Prozent und in axialer
cellulose
stanz Pektin zusammen, die einen Anteil von Richtung (quer zu Wuchsrichtung der Faser) von
Lignin 25 – 30 % 18 – 24 %
95 Prozent ausmachen. Die restlich 5 Prozent 0,1 – 0,5 Prozent.
5-103 entfallen auf Extraktstoffe, anorganische und Die Anisotropie von Holz spürt man auch
Holzbestandteile. organische Inhaltsstoffe wie Fette, Harze, Ei- beim Spalten von Holzklötzen oder Baumstäm-
Zusammensetzung mit-
weiße, Stärke, Zucker, Farbstoffe, Gerbstoffe, men: beide lassen sich sehr leicht in tangentialer,
teleuropäischer Hölzer.
Zusätzlich enthalten die Mineralstoffe usw. Letztere beeinflussen oft die aber schwer in axialer Richtung spalten. Auch
Hölzer bis zu 10 % Ex- chemischen, biologischen und physikalischen das akustische Verhalten von Holz hängt von
traktstoffe und Asche.
Eigenschaften des Holzes. Cellulose, ein lang- der Anisotropie ab. Die Schallgeschwindigkeit
kettiges Makromolekül, und Hemicellulose, ein beträgt faserparallel 4000 – 6000 m / s, quer zu
kurzkettiges, verzweigtes Makromolekül, bauen den Fasern nur 400 – 2000 m / s.
die Zellwände auf. Lignin, ein dreidimensiona- Eine weitere, wirtschaftlich interessante
les Makromolekül bewirkt im Cellulosegerüst Eigenschaft ist das thermische Verhalten von
der Zellwände die Verholzung, Pektin, ein wei- Holz. Aufgrund seiner Porosität ist Holz mit
teres dreidimensionales Makromolekül, hält die 0,13 – 0,22 W · m · K–1 ein schlechter Wärmeleiter.
Zellen im Gewebeverband zusammen. Cellulose Die stark feuchtigkeitsabhängige Wärmekapazi-
und Lignin sind die wirtschaftlich interessanten tät schwankt zwischen 1,4 kJ · kg–1 · K–1 (Fichte)
Substanzen von Holz (ÅTabelle 5-103). und 2,4 kJ · kg–1 · K–1 (Eiche). So speichern in
Aus seiner Struktur und Zusammensetzung winterkalten Regionen der Erde (Holz)-Block-
leiten sich drei grundlegende Eigenschaften von häuser genügend Wärme für ihre Bewohner an
Rohdichte und Porosität.
Die Rohdichte eines Stof-
Holz ab, nämlich seine Porosität oder Roh- eisigen Frosttagen. Holz besitzt nur eine geringe
fes ist seine Masse pro Vo- dichte (ÅRandspalte), seine Hygroskopizität elektrische Leitfähigkeit von etwa 3 Ohm (Was-
lumeneinheit, unabhängig sowie seine Anisotropie. Die Rohdichte wechselt ser 81 Ohm).
davon, wie porös der Stoff
von Baumart zu Baumart und wird vom Was- Holz ist zwar abhängig vom Porenvolumen
ist. Je größer die Porosität,
desto geringer die Roh- sergehalt des Holzes beeinflusst: Je höher der bei Temperaturen zwischen 300 – 450 °C ent-
dichte. Die Porosität wird Wassergehalt, desto höher die Rohdichte. Frisch flammbar, vorteilhaft ist jedoch seine geringe Ab-
als das Verhältnis zwischen
eingeschlagenes Nadelholz enthält 55 – 70 Pro- brandgeschwindigkeit von 0,5 – 0,65 mm / min.
Hohlraumvolumen und
Gesamtvolumen eines zent Wasser, Laubholz 40 – 80 Prozent. Mit ei- So kann sich auf seiner Oberfläche eine iso-
Stoffes definiert. Die dich- ner Rohdichte von circa 460 kg / m3 (Tanne und lierende Kohleschicht bilden, die eine Abgabe
teste Kugelpackung hat Fichte) bis 710 kg / m3 (Buche und Eiche) ist von Gasen nach außen verhindert und damit
eine Porosität von 0,26,
aufgeschütteter Sand bis Holz im Vergleich zu Beton (2300 kg / m3) oder ein Fortschreiten des Verbrennungsprozesses
zu 0,4. Eisen (7870 kg / m3) ein leichter, aber dennoch nach innen stark abbremst. Bei großen Holz-

288
Erde, Wasser, Luft und Feuer

querschnitten erreicht die Temperatur im In- ersetzt worden. Chemisch aufbereitete Inhalts-
nern maximal 100 °C, deshalb behält Holz im stoffe wie Cellulose werden zur Herstellung von
Brandfall sehr lange seine tragende Funktion. Zellstoff und vor allem zur Herstellung von
Eine thermische Zersetzung des Holzes setzt bei Papier verarbeitet. Untersucht wird auch eine
Temperaturen ab 105 °C ein und erreicht ihren wirtschaftliche Gewinnung von Methanol und
Höhepunkt bei 275 °C. Ethanol aus Holz.
Holz ist sehr anfällig gegenüber Schädlingen
wie Insekten, Pilzen oder Bakterien. Zahlreiche
Pilzgruppen (außer Schimmelpilzen) bauen das Papier – Ein unentbehrliches
Holzgewebe enzymatisch ab. Holzzerstörende
Kommunikationsmittel
Insekten benötigen eine Holzfeuchte von min-
destens 10 Prozent. Sie befallen besonders das Selbst im Zeitalter von eBooks und Smartpho-
nahrhafte Splintholz. Bei hoher Feuchtigkeit, nes gehört Papier noch zu den Stoffen, die wir
wie sie oft auf dem Waldboden vorhanden ist, täglich häufig in den Händen halten. In Deutsch-
können auch Bakterien Holz angreifen. Cellulose land werden jährlich circa 22 Millionen Ton-
und Hemicellulose werden bei Holzfeuchten von nen Papier für den Druck von Tageszeitungen
20 – 40 Prozent und Temperaturen von 0 – 40 °C verbraucht, pro Woche 210 tonnenschwere Pa-
zersetzt (Braunfäule). Schon der geringste Mas- pierrollen. Als Beobachter steht man staunend
senverlust von Holz durch die Einwirkung von vor den riesigen, modernen Zeitungsdruckma-
Holzschädlingen verringert dessen Festigkeit. schinen, die vorne Papierrolle auf Papierrolle
verschlucken und dafür Zeitung um Zeitung
Nutzung ausspucken. In Zeitungs- oder Buchläden lockt
eine „Flut“ von Zeitungen, Zeitschriften und
Holz ist seit alters her ein wichtiger Brennstoff, Büchern Käufer. Doch nicht nur in Form be-
bis zu Verwendung von Steinkohle oder Koks druckten Materials werden wir mit Papier kon-
war Holz der einzige Energielieferant für die frontiert: Papiertaschentücher haben die tradi-
Verhüttung und Verarbeitung von Metallen. Der tionellen Stofftaschentücher abgelöst, papierne
mittlere Heizwert europäischer Hölzer liegt bei Wischtücher werden angepriesen, auch als Ver-
13 – 20 MJ / kg, der von Steinkohle bei 30 MJ / kg. packungsmaterial ist Papier heute noch überall
Holz ist ein umweltfreundlicher Brennstoff. Es anzutreffen und umgewandelte Textillumpen
enthält keinen Schwefel und bei seiner Verbren- schätzen wir in Form von Banknoten sehr.
nung wird nur die Menge an CO2 freigesetzt, Als Beschreibmaterial hat sich Papier gegen-
die beim Wachstum aufgenommen wurde. Einer über allen früheren Vertretern wie Tontafeln im
Tonne Holz entsprechen ungefähr 1,87 t CO2. alten Orient, Wachstafeln im alten Rom oder
Noch heute wird etwa 50 Prozent des weltweiten Pergament im mittelalterlichen Europa durchge-
Holzeinschlages vorwiegend in weniger entwi- setzt und die Zivilisation maßgeblich beeinflusst.
ckelten Ländern für diesen Zweck verbraucht. Sein Name leitet sich von der griechischen Be-
Seit alters her wird Holz auch als Bau-, Kon- zeichnung Papyros für eine Schilfart am Nil her,
struktions- und Werkstoff verwendet. Lange Zeit aus deren Fasern die alten Ägypter ein Beschreib-
wurden Häuser und Schiffe aus Holz gebaut, material erzeugten. Das heutige Papier soll ein
5-104
ganze Wälder verschwanden als Stützanlagen chinesischer Agrarminister 105 n. Chr. erfunden
Holzvielfalt. Die Struk-
in Bergwerken, Gebäude und ganze Städte wie haben, indem er es aus dem Faserbrei von Maul-
tur- und Farbvielfalt von
Venedig wurden auf Holzpfählen gegründet. Im beerbaumrinde und Ramiegras herstellte. Im Hölzern macht einen Teil
Tief- und Hochbau erfüllt Holz weiterhin seine 5. Jahrhundert nutzte der chinesische Kaiserhof seines Reizes aus.
1 Eiche
Rolle als stützendes Hilfsmaterial. Bis heute schon Toilettenpapier, im 7. Jahrhundert kam
2 Mahagoni
dient Holz als Werkstoff für die Möbelherstel- erstmals Papiergeld in China in Umlauf, das 3 Walnuss
lung, für die Erzeugung vieler Musikinstrumente wegen starken Wertverlustes aber 1425 wieder 4 Rosenholz
und Kunstobjekte. Dagegen ist Holz bei alltägli- abgeschafft wurde. Mit Spezialpapier versuchte 5 Schwedische Birke
6 Rotbuche
chen Gebrauchgegenständen in industrialisierten man Fälschern von Banknoten schon damals ihr 7 Vogelaugenahorn
Ländern weitgehend durch andere Werkstoffe Handwerk zu erschweren. Banknoten wurden 8 Ebenholz
WEIS,
HWEIS, 9
WEIS S. 529

28
2 89
ILDRECH
BILDRECH A HW
NAC
BILDNAC
TE SIEHEE BILDNA
ECHTE
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

im 14. Jahrhundert in Japan, Persien, Indien und FRIEDRICH GOTTLOB KELLER (1816 – 1895) mit
Vietnam ausgegeben. dem sogenannten Holzschliff einen reichlich
Jahrhunderte lang hüteten die Chinesen das verfügbaren Ersatzstoff nutzbar zu machen.
Geheimnis der Papierherstellung, doch ab Mitte Die Einführung verbesserter Aufschließungs-
des 8. Jahrhunderts kannten Araber die Papier- methoden von Papierrohstoffen und maschinel-
herstellung, verbesserten sie und führten bis ler Herstellungsverfahren ermöglichte seit Ende
heute verwendete Papiermaße ein. So geht das des 19. Jahrhunderts eine bis dahin unerreichte
Ries (500 Blatt Papier) auf das arabische Wort Papiermenge in zahlreichen Sorten zu erzeugen.
rizma, Bündel von 500 Bogen, zurück. In Bag-
dad erschien 870 das erste auf Papier gedruckte Herstellung und Eigenschaften
Buch. Über die Araber gelangte die Kenntnis
der Papierherstellung im 12. Jahrhundert nach Doch was ist Papier? Es besteht aus mecha-
Europa, zunächst in das damals arabische Va- nisch oder chemisch aufgeschlossenen Pflan-
lencia, in dessen Umgebung Flachs einen her- r zenfasern und hat bei seiner Herstellung stets
vorragenden Rohstoff für Papier lieferte. Mit der einen Entwässerungsprozess zu durchlaufen. Als
rapiden Zunahme von Urkunden und Akten im Entwässerungsprodukt entsteht ein Faserfilz, der
14. Jahrhundert verdrängte das billigere, in grö- anschließend getrocknet, verdichtet und geformt
ßeren Mengen erzeugbare Papier das bis dahin wird. Für einen Chemiker stellt sich Papier in
gebräuchliche Pergament aus Tierhäuten; die Ein- erster Linie als komplexes Kohlenhydrat dar,
führung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern denn Cellulose, der Grundstoff aller Papiersor-
im 15. Jahrhundert durch JOHANNES GUTENBERG ten, ist ein Polysaccharid (ÅKasten Cellulose).
(1400 – 1468) steigerte die Nachfrage weiter. Früher waren Lumpen der einzige Lieferant
Bis ins 19. Jahrhundert waren Hadern (Lum- für Papierfasern. Diese Leinentextilreste wurden
pen, Hadern ist abgeleitet vom althochdeutschen in Papiermühlen zerschnitten, gewaschen, einem
hadera, Schafspelz) der alleinige Rohstoff für 5 bis 30 Tage dauernden Faulungsprozess aus-
Papier. Obwohl schon im 18. Jahrhundert ein gesetzt, dann gekocht und schließlich in einem
Mangel an Hadern bestand, gelang es erst 1843 Stampfwerk zerfasert. Damit erhielt man prak-
tisch reine Cellulosefasern. Dieser Zerfaserungs-
Cellulose prozess wurde im Laufe der Jahrhunderte im-
mer mehr mechanisiert. Im letzten Arbeitsgang
Cellulose (C6H10O5) ist ein Polysaccha- wurden die entstandenen Fasern gereinigt und
rid
d (Vielfachzucker), bei dem 6000 – 12 000 im 19. Jahrhundert mit Chlor gebleicht. Heute
β-Glucose-Moleküle lange, unverzweigte Ket- werden Hadern nur noch für besonders wert-
ten bilden. Die Glucosebausteine sind jeweils volle, stark beanspruchte Papiere wie Urkunden
um 180° gedreht miteinander verknüpft, was oder Banknoten verwendet, etwa 95 Prozent des
5-105
zu einer geraden Kette führt. Die Molekül- Papiers entsteht aus Holz als Primärrohstoff.
Cellulose. Cellulose ist ein ketten werden zusätzlich versteift, da sich Papierhersteller nutzen drei Verfahren, um
Polymer, dessen Monomer zwischen den Glucosebausteinen Wasserstoff- Fasern für die Papierherstellung zu gewinnen.
Cellubiose aus zwei um
180° gegeneinander ver-
brücken ausbilden. Auch die Molekülketten Das älteste ist das Holzschliffverfahren, bei dem
drehten Glucosemolekülen sind miteinander durch Wasserstoffbrücken das Holz mechanisch zerfasert wird; es findet
besteht, die über ein Sau- verbunden und lagern sich zu stäbchenförmi- keine Abtrennung von Lignin und Hemicellulose
erstoffatom kovalent mit-
gen Mikrokristallen zusammen. Auf diesen statt. Die daraus hergestellten Papiere werden
einander verbunden sind
(glycosidische Bindung). Brücken beruht die Stabilität der natürlichen als holzhaltige (ligninhaltige) Papiere angeboten.
Cellulosefasern. Mehrere Molekülketten über- Weißer Holzschliff wird aus geschälten Holz-
einander bilden Molekülbündel, die Fibrillen stämmen gewonnen, die mit viel Wasser fein
aufbauen. Zahlreiche Fibrillen bilden dann zerkleinert werden. Die feine, stark verdünnte
sichtbare Cellulosefasern. Derartige Molekül- Fasermasse enthält chemisch unverändert noch
bündel setzen sich aus amorphen Bereichen alle Bestandteile des Holzes wie Cellulose, Li-
zusammen, die die Flexibilität und Elastizi- gnin, Harze, Kork usw. Zur Gewinnung von
tät, sowie aus kristallinen Bereichen, die die braunem Holzschliff werden ungeschliffene
Festigkeit und Steifheit von Papier bewirken. Stammteile erst in Kesseln gedämpft und dann
geschliffen. Die gewonnenen Fasern sind weicher

290
Erde, Wasser, Luft und Feuer

und geschmeidiger. Holzschliff wird bevorzugt Aus dem Leben der Beuteltiere
aus Nadelhölzern gewonnen, da sie längere Fa-
sern mit besserer Verfilzbarkeit als Laubhölzer Wenn man diese Überschrift eines Zeitungs-
liefern. Werden die Fasern bei der Mahlung zer- artikels liest, erwartet man einen Bericht über
schnitten (rösche Mahlung), entstehen weiche, die australische Tierwelt. Doch weit gefehlt: Es
samtige und saugfähige Papiere, durch schmie- geht um den Verbrauch von Plastiktüten. Einst
rige Mahlung zerquetschte Fasern liefern feste, als Fortschritt gepriesen, werden sie heute in
harte Papiere mit geringer Saugfähigkeit. Zeitungsartikeln verteufelt. Im genannten Bei-
Beim Zellstoffverfahren wird Cellulose direkt trag verspottet und kritisiert der Verfasser den
aus dem Holz gewonnen, indem die störenden jährlichen Verbrauch von ca. 13 Milliarden Plas-
Holzbestandteile wie Hemicellulose und Lignin tiktüten in Großbritannien. Spiegel-Online vom
mittels Chemikalien gelöst und abgeführt wer- 13.10.2007 beklagt unter der Überschrift „Ein
den. Das erzeugte Fasermaterial wurde früher Beutel erstickt die Welt“ die Folgen des übermä-
mit organischen Chlorverbindungen gebleicht, ßigen Plastiktütenabfalls. Inzwischen umkreist
heute nimmt man Wasserstoffperoxid (H2O2), sogar eine Plastiktüte die Erde. Die Wissen-
Sauerstoff oder Ozon. Erst nach der Bleiche schaftsrubrik der Berliner Zeitung g (07.02.2008)
erhalten die Fasern den gewünschten Weißgrad hat der Plastiktüte unter der Überschrift „Sieges- Bisphenol A –
ein endokriner Disruptor
und die gewünschte Saugfähigkeit. Nach dem zug der Polyethylene“ eine ganze Seite gewidmet. So bezeichnet man Stoffe,
Zellstoffverfahren erzeugte Papiere werden als In Deutschland werden laut der Abendzeitung die den Hormonhaushalt
holzfreie Produkte angeboten. München (23.02.2010) pro Kopf und Jahr 65 von Tieren und Menschen
stören. Sie sind sehr
In den letzten Jahren hat das Altpapierstoff- Plastiktüten verbraucht. Auf derselben Seite wird gefährlich, da sie auch
verfahren erheblich an Bedeutung gewonnen. unter der Unterschrift „So giftig ist Plastik“ in winzigsten Mengen
Wie der Name besagt, ist hier gebrauchtes Alt- vor gesundheitsgefährdenden Inhaltsstoffen wie wirksam sind und zum
Beispiel zu Fehlbildungen
papier der Faserlieferant, mit gegenwärtig bis Bisphenol A (C15H16O2, ÅRandspalte) gewarnt.
der Geschlechtsorgane
zu 65 Prozent Rohstoffanteil. Bei ausreichender Vor allem das geringe Gewicht, das Fehlen während der embryona-
Wässerung lässt sich das Papier leicht zerfasern, von Korrosion, das Entfallen von Oberflächen- len Entwicklung führen
der Energieaufwand ist also geringer als bei den schutz, ihre Beständigkeit sowie die unendlichen können. Man hat die in
Kunststoffen (wie Ausklei-
anderen Verfahren. Ein Problem stellt jedoch die Formungs- und Einsatzmöglichkeiten haben die dungen von Konservendo-
Entfernung von Druckfarben und -tinten dar. explosionsartige Verbreitung dieser Stoffe be- sen) enthaltene Substanz
Im sogenannten Deinking-Verfahren werden die wirkt. Sie sind längst aus der Rolle eines be- Bisphenol A im Verdacht,
die männliche Samenpro-
Farben mit Chemikalien gelöst und durch Flo- staunten Ersatzstoffes in die eines der wichtig- duktion zu stören, auch
tation entfernt, was aber nur bis zu maximal 70 sten Werkstoffe hineingewachsen. Die enorme ein Zusammenhang mit
Prozent gelingt. Deshalb zeigt Recyclingpapier weltweite Verbreitung von Kunststoffen hat Fettleibigkeit und anderen
Zivilisationskrankheiten
stets einen grauen Schimmer. dazu geführt, dass einige Zeithistoriker schon wird vermutet. Die Subs-
Heutige Papiere bestehen aus einer Grund- vom Plastikzeitalter sprechen. Die massenhafte tanz bindet an eine Viel-
matrix verfilzter Cellulosefasern und enthalten Verbreitung von Kunststoffen hat gravierende zahl von Hormonrezepto-
ren in Zelle und Zellkern
zusätzlich Füllstoffe wie Silikone (Kaolin, Tal- Folgen für die Umwelt nach sich gezogen. Fast und blockiert dadurch die
kum), Carbonate (Magnesiumcarbonat, Calci- alle Vertreter sind biologisch nicht abbaubar und Funktion des natürlichen
umcarbonat), Oxide (Titandioxid) oder Sulfate sehr lange haltbar. Hormons.
(Schwerspat), die die winzigen Faserzwischen-
räume füllen. Durch sie erhalten Papiere eine Geschichte
glattere Oberfläche und werden kompakter und
undurchsichtiger. Ihr Anteil kann je nach Pa- Plastik ist der umgangssprachliche, vom Engli-
piersorte bis 30 Prozent betragen. Leimstoffe schen plastics entlehnte Begriff für Kunststoffe.
wie natürliche oder künstliche Harze machen Diesen Begriff prägte 1910 der Münchner Che-
die Papiere beschreib- oder bedruckbar, weil sie miker ERNST RICHARD ESCALES (1863 – 1924)
deren Saugfähigkeit herabsetzen. Weiter verlei- für eine Gruppe neuer synthetischer Werkstoffe.
hen Leimstoffe ihnen eine höhere Reißfestigkeit. Doch erste Vorstufen, nämlich synthetisch
Weißpigmente wie Calciumsilikate oder Zinksul- verbesserte Naturstoffe, datieren um das Jahr
fite dienen der optischen Aufhellung der Papier-
r 1530, als der Augsburger Benediktinerpater
sorten, und mit wasserlöslichen Farbmitteln oder WOLFGANG SEIDEL auf der Basis von denatu-
sonstigen Pigmenten werden Papiere eingefärbt. riertem Milcheiweiß (Casein) einen Stoff hart

291
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

wie Knochen, das halbsynthetische Kunsthorn, Plastikstoffe sind Polymere


erzeugte. Im 17. und 18. Jahrhundert brachten
Forscher aus Brasilien einen weißen zähen Pflan- Als Kunststoffe werden durch chemische Umset-
zensaft, den Naturkautschuk (Å Vom Kautschuk zungen erzeugte, makromolekulare, organische
zum Gummi, Seite 302), nach Europa. Nach Stoffe bezeichnet, deren Moleküle nicht in der
zahlreichen Versuchen gelang es dem amerika- Natur vorkommen. Wegen ihrer Herstellung und
nischen Chemiker CHARLES NELSON GOODYEAR Struktur zählen auch die heute vielfach genutzten
(1800 – 1860), ihn in Gummi umzuwandeln und Silikone zu den polymeren Kunststoffen. Das
damit den ersten, bis heute genutzten halbsynthe- Grundgerüst von Silikonen besteht aus Si-O-Si
tischen Kunststoff zu erzeugen. Auf der Suche Ketten (Siloxan-Bindung), bei denen an jedem
nach einem Ersatz für teure, natürliche Rohstoffe Siliciumatom zwei Sauerstoffatome durch Me-
wie Elfenbein oder Edelholz gelang es Chemikern thyl-, Vinyl- bzw. Phenylgruppen substituiert
im 19. Jahrhundert, weitere makromolekulare sind (Å Abbildungen 5-106 bis 5-109). Bei al-
Naturstoffe chemisch zu verändern und daraus len Kunststoffen handelt es sich um Gemische
halbsynthetische Kunststoffe zu erzeugen. An unterschiedlich langer, miteinander verknüpfter
5-106 erster Stelle ist Cellulose zu nennen, aus der Molekülketten. Ihrer Herstellung nach sind die
Phenylgruppe. Die Phe- CHRISTIAN FRIEDRICH SCHÖNBEIN (1799 – 1868) oben erwähnten Stoffe Celluloid oder Galalith
nylgruppe kennzeichnet
einen Benzolrest und ist in
durch Zugabe von Schwefelsäure 1846 Cellu- chemisch veränderte Naturstoffe, das heißt halb-
der organischen Chemie losenitrat (Schießbaumwolle) erzeugte. Um das synthetische Kunststoffe. Die Masse der heuti-
häufig anzutreffen. Bei teure Elfenbein für Billardkugeln zu ersetzen, gen Kunststoffe sind jedoch aus Erdöl-, Erdgas-
Phenol steht R für die
entwickelte der Amerikaner JOHN N WESLEY HYAYATT und Kohlederivaten erzeugte, vollsynthetische
Hydroxy-Gruppe, die für
Alkohole bestimmend ist. (1837 – 1920) auf der Basis von Cellulosenit- Werkstoffe. Weltweit werden etwa 4 Prozent,
rat und Campher 1872 den neuen Werkstoff in Deutschland etwa 6 Prozent Erdöl zu Kunst-
Celluloid (Å Von Billardbällen und brennenden stoffen verarbeitet. Wichtige Ausgangsstoffe für
Filmen, Seite 297). 1897 schufen die Chemi- ihre Herstellung sind Ethin (Acetylen, C2H2), die
ker ADOLF SPITTELER und WILHELM KRISCHE aus farblose Flüssigkeit Benzol (Benzen, C6H6) sowie
Casein und Formaldehyd einen neuen halbsyn- Ethylen (Ethen, C2H4) und Propen (Propylen,
thetischen Kunststoff, das Galalith. Diese Stoffe C3H6). Sowohl die halbsynthetischen als auch
zählen zu den sogenannten Biokunststoffen, die die vollsynthetischen Stoffe sind primär aus den
in den letzten Jahren eine Renaissance erleben. Elementen Kohlenstoff (C), Wasserstoff (H), Sau-
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erzeugte der erstoff (O), Stickstoff (N) und Schwefel (S) auf-
belgisch-amerikanische Chemiker LEO HENDRIK gebaut (CHONS) und bilden Kohlenstoffketten.
BAEKELAND (1863 – 1944) den ersten vollsynthe-
tischen Kunststoff, nämlich Bakelit (ÅEndlich Polymere
ein vielversprechender Ersatzstoff, Seite 298),
5-107 eine Verbindung von Phenol und Formaldehyd. Die Grundbausteine von Kunststoffen, die Mo-
Alkylgruppen. Alkylgrup- Dies war der erste Massenkunststoff. Doch erst nomere (griech. mono, ein und meros, Teil),
pen sind Molekülreste aus nachdem der Chemiker HERMANN STA T UDINGER sind niedermolekular und verbinden sich in
Kohlenwasserstoffketten.
R kennzeichnet einen
(1881 – 1965) das Prinzip der Verknüpfung von Polymerisations-Reaktionen (auch nur Poly-
beliebigen Molekülteil. Monomeren zu Polymeren erklären konnte, wur- r Reaktionen genannt) zu Polymeren. Polymere
Die Namen folgen dem den ab 1930 immer neue vollsynthetische Kunst- bestehen aus kettenförmigen Wiederholungen
zugehörigen Kohlenwas-
serstoff. Methan – Methyl,
stoffe entwickelt. Seit etwa 1950 verdrängen sie dieser Grundbausteine, wie wir es bereits bei
Ethan – Ethyl usw. traditionelle Werkstoffe wie Holz, Metalle oder der Cellulose gesehen haben. Gibt es nur eine
Glas. Zufällig steht am Anfang der massenhaften Sorte von Grundbausteinen, so spricht man von
Verbreitung von Kunststoffgegenständen im All- Homo-Polymerisation, gibt es mehrere, von
tagsleben der Kugelschreiber, dessen Plastikhülle Co-Polymerisation. Wie bei Menschen auch,
schon 1938 von den Gebrüdern BIRÓ patentiert, können sich Ketten nur bilden, wenn die Mo-
aber erst 1950 von dem Franzosen MARCEL BICH nomere mindestens zwei „Arme“ besitzen, also
(1914 – 1994) unter dem Namen Bic zur Markt- Stellen, an denen eine Verknüpfung möglich
reife entwickelt wurde. Gegenwärtig existieren ist. Oft sind dies C=C - Doppelbindungen, die
zwar über 200 verschiedene Marken-Kunststoffe, bei der Verknüpfung in zwei Einfachbindungen
doch als Massenprodukte wichtig sind etwa 20. verwandelt werden, aber auch das Öffnen von

292
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Ringen mit neuer Verbindung der „Enden“ ist (PVC), Polymethylmethacrylat (PMMA), Poly-
eine häufig anzutreffende Verknüpfungsweise. styrol (PS) und Polytetrafluorethylen (PTFE). Zu
Der Basisstrang eines Polymers besteht meist den durch Polyaddition aus unterschiedlichen
aus langen Kohlenwasserstoffketten, an denen Monomeren entstehenden Polymeren zählen
seitlich Molekülgruppen angeordnet sind. Die Polyurethane und Epoxidharze, bekannteste
Größe und Bindungsfähigkeit dieser Seitenmo- Vertreter der Polykondensate sind Polyamide
leküle bestimmen zu einem guten Teil die phy- (Nylon, Perlon) und Polyester. Der älteste voll-
sikalischen und chemischen Eigenschaften des synthetische Kunststoff Bakelit ist ebenfalls ein
Polymers. Große Seitengruppen behindern die Polykondensat. Polykondensation ist eine Stu-
Beweglichkeit der Ketten und führen zu härte- fenwachstumsreaktion. Zunächst wachsen aus
ren Kunststoffen. Sind die Gruppen elektrisch Dimeren, dann aus Oligomeren immer längere
polarisiert oder sehr reaktionsfreudig, so bilden Ketten, solange noch reaktionsfähige Gruppen
sich anstelle von langen Fasern Netzwerke, die vorhanden sind. Da die Abtrennung niedermo-
die Festigkeit ebenfalls erhöhen. lekularer Spaltprodukte wie Wasser, Ammo-
Man unterscheidet Polymerisationsreakti-
onen nach der Art des Kettenwachstums und Art Name 5-108
danach, ob am Ende nur das Polymer oder noch
Vinylgruppe. So wird der
weitere Stoffe entstehen. Wächst eine Kette nur Natürliche Polymere an ein Molekül gebundene
an einem Ende durch Anhängen eines Mono- Ethen-Rest bezeichnet.
mers, so spricht man von Kettenwachstumsre- Polysaccharide Stärke, Cellulose Aufgrund der reaktionsfä-
higen Doppelbindung und
aktionen. Sie benötigen einen Starter, der das der Möglichkeit, lange
reaktive, verknüpfungsfähige Zentrum in Mono- Proteine Wolle, Tierhorn, Schnäbel Kohlenwasserstoffketten
meren erzeugt, zum Beispiel durch Aufbrechen zu bilden, sind solche
Thermoplaste Naturkautschuk Moleküle gut geeignet zur
einer Doppelbindung (ÅAbbildung 5-110). Um
Polymerisation. Vinylchlo-
die dann einsetzende Kettenbildung zu stoppen, Chemisch modifizierte natürliche, organische rid ist das Monomer des
benötigt man eine Abbruchreaktion, da man Polymere Polyvinylchlorids (PVC),
aus Styrol entsteht Poly-
oft Ketten ganz bestimmter durchschnittlicher Regenerierte Cellulose Reyon, Kunstseide styrol.
Längen erzeugen will. Bei der Stufenwachstums-
reaktion bestehen die „Arme“ der Moleküle aus Cellulosederivate Celluloid, Cellophan
unterschiedlichen, reaktionsfähigen Gruppen,
Proteinderivate
die sich ohne Starter miteinander verbinden Galalith
(Casein)
können. Dabei wachsen die Ketten nicht Mo-
lekül für Molekül, sondern es bilden sich aus Stärkederivate Klebstoffe
den Monomeren schnell Dimere, und weitere Vulkanisierter Kaut-
Oligomere (griech. oligoi, wenige), die sich auch Gummi
schuk
miteinander verknüpfen. Es ist klar, dass Stu-
Anorganische Polymere
fenwachstumsreaktionen im Allgemeinen zwi-
schen zwei unterschiedlichen Grundbausteinen Polysiloxane Silikone
entstehen (Co-Polymerisation), die man zuerst
zusammenbringen muss. Synthetische Polymere
Entstehen während der Polymerisation neben
dem Polymer noch weitere niedermolekulare Polyvinylchlorid (PVC),
Polyethylen (PE),
Reaktionsprodukte, spricht man von Polykon-
Polystyrol (PS),
densation, andernfalls von Polyaddition. Zu- Polymerisate Polytetraflourethylen
mindest im deutschsprachigen Raum hat es sich (PTFE, Teflon®, Gore-Tex®),
Polymethylmetacrylat
allerdings eingebürgert, von Polyaddition nur zu
(PMMA, Plexiglas®)
sprechen, wenn es sich um Stufenwachstumsre-
aktionen handelt. Bei Polyaddition von gleich- Polyurethan (PUR)
Polyaddukte
Epoxidharze
artigen Monomeren, die kettenförmig wachsen,
5-109
spricht man im engeren Sinn von Polymerisa- Polyethylenterephthalat
Polykondensate (PET), Polyamid (PA), Polymerklassen. Eintei-
tion. Zu dieser Klasse von Polymeren gehören lung der Polymere nach
Polycarbonate (PC)
Polyethylen (PE), Polypropylen, Polyvinylchlorid ihrer Herkunft.

293
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

5-110
Polymerisation. Die Po-
lymerisation von Ethylen
zu Polyethylen startet mit
einem zuvor erzeugten
Phenyl-Radikal, das ein
freies Elektron (Punkt)
besitzt. Das Radikal geht
eine Bindung mit einem
Ethylenmolekül ein, wobei
dessen Doppelbindung
gelöst wird. Damit ent-
steht am anderen Ende
ein freies Elektron an das
sich ein weiteres Ethylen-
molekül anlagern kann.
Die Kette wächst auf diese
Weise an einem Ende.

Polyaddition
Polyurethan-Polymere
entstehen durch Polyad-
dition eines Dialkohols,
erkenntlich an zwei Hy-

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


droxy-Gruppen und eines
Diisocyanats. R bzw. R*
stehen für unterschiedliche
Gruppen. Die Additionsre-
aktion beinhaltet die Um-
lagerung des Wasserstoffs
der Hydroxy-Gruppe an
das Stickstoffatom der niak, Chlorwasserstoff oder Methanol aus den in den amorphen Zonen bilden sie regellose
Ioscyanat-Gruppe. Das
entstehende Dimer kann Zwischenprodukten immer schwieriger wird, Knäuel, in denen sich diese Kräfte kaum aus-
an beiden Seiten weiter- können letztendlich nur Makromoleküle mit wirken.
wachsen und sich auch Molekülmassen von 10 000 – 20 000 aufgebaut Je höher der Anteil der verknäulten Bereiche
mit weiteren Oligomeren
verbinden.
werden. Bei Polykondensation können ketten- ist, desto elastischer reagieren die Stoffe (ÅVom
förmige, unverzweigte oder verzweigte sowie Federn, Dehnen, Fließen und Kriechen, Seite
Polykondensation vernetzte Makromoleküle gebildet werden, da 176); die kristallinen Bereiche sorgen gleichzei-
Die Erzeugung von Nylon
die Reaktionspartner an beiden Enden funktio- tig für Härte. Aus dieser Struktur resultiert die
aus Hexamethylendiamin
und Adipinsäure ist eine ty- nelle Gruppen besitzen. wichtigste Eigenschaft dieser Kunststoffklasse,
pische Kondensationsreak- ihre dem Glas ähnliche Warmverformbarkeit. Sie
tion, bei der durch Zusam-
Von Plasten und Elasten haben keinen definierten Schmelzpunkt, sondern
menlagerung der Carboxy-
Gruppe der Säure mit der einen Schmelzbereich, der je nach Kunststoffart
Amino-Gruppe des Amins Kunststoffe werden anhand ihrer Struktur und zwischen 70 und 340 °C liegt. Bei Zufuhr von
in jedem Schritt ein Wasser- der daraus resultierenden Eigenschaften in drei Wärme oberhalb der Glasübergangstemperatur
molekül freigesetzt wird. Da
ein anfangs entstehendes Klassen unterteilt, in Thermoplaste, Duroplaste gehen sie vom spröden in einen viskoelastischen
Dimer (unten) an beiden und Elastoplaste (Elastomere). und schließlich flüssigen Zustand über. Durch
Enden diese funktionellen Die wichtigsten Thermoplaste werden mittels die Erwärmung schwinden die schwachen Wech-
Gruppen trägt, kann es an
beiden Enden weiterwach- Polymerisation erzeugt. Die Massenproduktion selwirkungen zwischen den Molekülketten, so
sen und sich auch mit ande- von Thermoplasten setzte mit der Umstellung dass diese gegeneinander verschoben werden
ren Oligomeren verbinden. von der Kohlen- auf die billigere Erdölchemie und aneinander vorbeigleiten können. In den
Auf die gleiche Weise
verbinden sich Aminosäuren
in den 1950er Jahren ein. Kunststoffe dieser erweichten Zuständen können sie in jede be-
(die beide Gruppen tragen) Klasse bestehen aus langen, unverzweigten oder liebige Form gebracht und gegossen, gepresst,
zu Peptiden und Peptide zu verzweigten, chemisch nicht vernetzten Ketten- geblasen oder gesponnen werden. Nach der Ab-
Proteinen (Eiweißen).
molekülen. Die fadenförmigen Makromoleküle kühlung werden sie fest und behalten die gege-
bilden oft in einem Kunststoff kristalline und bene Form bei. Da sie schmelzbar sind, können
amorphe Bereiche gleichzeitig aus. In kristallinen sie geschweißt oder im kalten Zustand gebohrt,
Bereichen sind die Moleküle parallel angeord- gesägt oder gefräst werden. Die Formgebung
net und durch Van-der-Waals-Kräfte gebunden, ist reversibel, Thermoplaste können jederzeit

294
Erde, Wasser, Luft und Feuer

wieder aufgeschmolzen und neu geformt wer- sie aus ungeordneten, stark verknäulten Mo-
den. Sie sind recyclingfähig, jedoch muss beim lekülketten aufgebaut, die selbst nur schwach
Recyceln auf möglichst große Sortenreinheit aneinander gebunden sind. Andererseits sind
geachtet werden. Gebräuchliche Thermoplaste sie durch weitmaschige Vernetzungsbrücken
sind Polyamide, Polystyrole und Polyethylene. miteinander kovalent verknüpft. Ihre Vernet-
Einzelne wie Polyethylen (Polyethen), Polystyrol, zung kann nur durch Zerstörung des Materi-
Polypropylen (Polypropen) können als Brenn- als gelöst werden. Einzelne Kettenabschnitte
stoff mit ähnlich hohem Heizwert wie Heizöl sind leicht bewegbar, die Makromoleküle selbst
genutzt werden. Inzwischen geben eine wach- kaum. Daraus ergibt sich ihre wesentliche Ei-
sende Zahl von Ländern Polymergeldscheine genschaft, ihr elastisches Verhalten wie wir es
heraus. Den Anfang machte Australien 1988 mit vom Gummiband kennen. Werden Elastomere
Geldscheinen aus dreischichtigen Kunststofffo- Druck oder Zug ausgesetzt, so strecken sich die 5-111
lien, bestehend aus Polyethylen, Polypropylen beweglichen, verknäulten Molekülketten und Thermoplaste. Sie beste-
und Polyethylen. Mit einem nicht kopierbaren bilden ein festes Material. Im kalten Zustand hen aus unverzweigten
(oben) oder verzweigten
Sichtfenster versehen, sind diese Banknoten er- können sie auf mehr als die doppelte Länge (unten) Ketten, die nicht
heblich fälschungssicherer als herkömmliches gedehnt werden. Sobald die Belastung endet, miteinander verbunden
Papiergeld. Seitdem haben Länder wie Israel, kehren sie in den ursprünglichen Zustand zu- sind.
China und Mexiko entweder einzelne Bankno- rück. Elastomere sind weicher als Duroplaste
ten aus Kunststoffen oder komplette Serien wie und wie diese hitzebeständig. Sie können nicht
Rumänien herausgegeben. erneut aufgeschmolzen werden und zersetzen
Wichtige Vertreter der Duroplaste werden sich je nach Sorte bei Temperaturen zwischen
durch Polyaddition oder Polykondensation aus 100 und 250 °C, bei Temperaturen unter -50 °C
zwei Ausgangsmonomeren erzeugt. Es entste- werden sie glashart. Bei Erwärmung schrump-
hen räumlich vernetzte, kovalent gebundene fen sie, erweichen aber nicht. Elastomere sind
Makromoleküle bzw. Molekülketten. Diese wetter- und quellbeständig sowie resistent ge-
Atombindungen können bei Erwärmung kaum gen Öle, Treibstoffe, verdünnte Säuren, Basen,
gebrochen werden, die Moleküle lassen sich Salzlösungen, Gase und viele Lösungsmittel. Die
nicht gegeneinander verschieben. Duroplaste gebräuchlichsten Elastomere sind alle unter-
sind daher nach dem Erhärten nicht erneut er- schiedlich vernetzten Kautschuksorten (ÅVom
weich- oder schmelzbar, sie müssen im initialen Kautschuk zum Gummi, Seite 302).
plastischen Zustand in die gewünschte Form Seit Anfang der 1980er Jahre sind soge-
gebracht werden. Erkaltet sind sie hart und steif nannte thermoplastische Elastomere (TPE) auf
und können nur noch mechanisch formverän- dem Markt. Sie vereinen Eigenschaften von 5-112
Duroplaste. Duroplaste
dert oder verklebt werden. Einige Duroplaste Elastomeren mit Thermoplasten, d. h. im kal- bestehen aus vernetzten,
sind sehr witterungsbeständig, alle besitzen ten Zustand lassen sie sich wie erstere dehnen. kovalent verbunden Ket-
ein gutes Isolationsvermögen. Sie haben eine Gleichzeitig können sie unter Wärmezufuhr ten, die teils verzweigt
sind. Sie sind kaum ge-
hohe Oberflächenhärte, neigen nur sehr wenig wie letztere wiederholt aufgeschmolzen und geneinander beweglich,
zum Kriechen und zeichnen sich durch extreme dann plastisch verformt werden, ohne dass sie der Kunststoff ist unelas-
Temperatur- und Chemikalienbeständigkeit aus sich dabei zersetzen. Entweder wird eine ther- tisch.
(hitzebeständig je nach Sorte zwischen 130 und moplastische Matrix mit teilvernetztem oder
280 °C). Duroplaste können beim Recyceln nur unvernetztem Kautschuk versetzt (Blenden),
granuliert und dann als Füllstoffe verwendet oder es erfolgt eine Co-Polymerisation von har-
werden. Der älteste, vollsynthetische Kunststoff ten und weichen Blöcken. Die harten Segmente Denaturierung
Strukturelle Veränderung
Bakelit ist ein Duroplast. Heute zählen Phe- (Hartphase) bilden sogenannte Domänen, die von kettenartigen Biomo-
nol- und Epoxidharze zu den gebräuchlichen als physikalische Vernetzungsstellen fungieren. lekülen durch Wärme oder
Duroplasten. Zu bekannten Verwendungen Diese Vernetzungspunkte werden als Kristallite chemische Substanzen wie
Säuren. Bekanntestes Bei-
von Duroplasten gehört der Trabant („Trabbi, bezeichnet; sie lösen sich bei Erwärmung auf, spiel ist die Umwandlung
Rennpappe“), dessen Karosserie vollständig aus ohne dass sich die Makromoleküle auflösen. des zähflüssigen Eiweißes
einem Duroplast gefertigt wurde. Thermoplastischen Elastomere ersetzen nicht eines Hühnereis. Beim
Kochen ordnen sich die
Elastoplaste werden durch Polymerisation das traditionelle Gummi, sondern bieten zu-
Moleküle unumkehrbar
erzeugt, strukturell stehen sie zwischen den sätzliche Werkstoffe mit vielfältigen Verwen- räumlich anders an und
Thermo- und den Duroplasten. Einerseits sind dungsmöglichkeiten. das Eiweiß wird fest.

295
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

Kunstfaser – Die neue Wolle rasch den Markt eroberte. Zu dieser zweiten
Generation der Kunstfasern gehören auch Perlon
Kunstfaser ist ein Sammelbegriff für mehrere (1938) und vor allem Polyester, bis heute die
Klassen künstlich erzeugter Fasern. Dazu gehö- wichtigste Kunstfaser. Sie wurden vorwiegend
ren auch anorganische Fasern wie Keramikfa- für technische und militärische Zwecke verar-
5-113
sern, Nanotubenfasern (Kohlenstoffnanoröhr- beitet. Ab etwa 1950 erlebte die Kunstfaserpro-
Polypropylen. Kohlenwas-
serstoffketten mit seitlichen
chen) und silikatische Fasern (Glaswolle, Glas- duktion einen enormen Aufschwung, weil die
Methylgruppen. seide). In diesem Abschnitt geht es um die große gesteigerte Nachfrage nach Textilfasern wegen
und weit verbreitete Klasse der organischen Che- begrenzter Weideflächen (Wolle) oder Anbau-
miefasern, zu denen Fasern aus natürlichen und flächen (Flachs, Baumwolle) nicht mehr mit
synthetischen Polymeren gehören. natürlichen Fasern abgedeckt werden konnte.
Beim Kauf von Kleidungstücken oder Wohn- In dieser Zeit wurden Kunstfasern der drit-
textilien verraten Etiketten, dass die meisten ten Generation entwickelt. Es handelte sich
Gewebe größtenteils aus Kunstfasern bestehen. zum Teil um schon länger vorhandene Sorten
Über Jahrtausende jedoch dienten Fasern tie- wie Polyurethan oder Polyacryl, deren chemi-
5-114
rischer Herkunft wie Wolle oder pflanzlichen sche und physikalische Eigenschaften verän-
Polyvinylchlorid (PVC).
Kohlenwasserstoffketten Ursprungs wie Flachsfasern und im 19.Jahrhun- dert wurden, um bekleidungsphysiologischen
mit Chlor als Seitengruppe. dert Baumwolle zur Herstellung von Geweben Anforderungen wie Wärmerückhaltevermögen,
unterschiedlichster Art. Doch schon im 17. Jahr- Feuchtigkeitsaufnahme oder Hautverträglich-
hundert gab es erste Bemühungen, künstliche Fa- keit zu entsprechen. Verbessert werden sollten
sern zu erzeugen. Der Engländer ROBERT HOOKE auch Glanz, Lichtbeständigkeit, Waschbarkeit
(1635 – 1703) versuchte aus einer gelatineartigen und Wetterbeständigkeit. 1959 wurde auf der
Masse Fäden zu ziehen. Von Erfolg gekrönt Basis von Polyurethan eine neue Faser mit elas-
waren Versuche, Kunstfasern herzustellen, erst tischen Eigenschaften unter dem Markennamen
im 19. Jahrhundert dank der Entwicklung der Elastan auf den Markt gebracht. Diese Fasern
Kohlen- und Cellulosechemie. zeigen eine hohe Elastizität und Dehnbarkeit
5-115
bis 700 Prozent und werden unter anderem für
Polystyrol. Kohlenwasser-
Fasergenerationen Unterwäsche und Strümpfe verwendet. 1961
stoffketten mit seitlichen
Phenylgruppen. folgte die Polypropylenfaser, die die größte
Die erste Generation von Kunstfasern, entwi- Oberflächenspannung aller synthetischen Fa-
ckelt ab etwa 1880, beruhte auf der chemi - sern besitzt. Sie ist daher wasserabweisend, zeigt
schen Umwandlung von Cellulose. 1883 führte hohes elektrisches Isoliervermögen und verrottet
der englische Chemiker JOSEPH WILSON SWAN nicht. Sie wird vor allem bei Sportwäsche und
(1838 – 1914) das Nitroverfahren ein, bei dem Outdoorkleidung verarbeitet.
die Nitro-Kunstseide entstand. 1892 entstand Die jüngste Generation bilden die ab 1986
Kupfer-Kunstseide mittels des Kupferkunst- eingeführten Mikrofasern. Sie bestehen aus be-
5-116 seide-Verfahrens (Aufbereitung von Cellulose reits zuvor bekannten Faserstoffen, nämlich Po-
Polyethylenterephthalat durch Kupferammoniak), das MAX FREMERY lyamid, Polyacryl oder Polyester. Sie weisen aber
(PET). Kohlenwasserstoff-
(1859 – 1932) und JOHANN URBAN (1863 – 1940) nur eine Stärke von 0,2 – 0,9 dtex (ÅRandspalte)
ketten mit eingebetteten
Phenyl- und Estergruppen entwickelten. 1891 schufen die englischen Che- auf. Damit sind sie halb so stark wie Seidenfäden
(CO-O). miker CHARLES FREDERIC CROSS (1855 – 1935), und viel feiner als menschliches Haar. Gewebe
E DWA RD J OHN B EVA V N ( 1856 – 1 921 ) und oder Stoffe aus Mikrofasern sind sehr weich,
CLAYTON
A BEADLE (1868 – 1917) das Viskose- wind- und wasserabweisend und dennoch at-
Seide-Verfahren (Viskose-Kunstseide). 1913 ent- mungsaktiv und enorm formbeständig. So findet
stand mittels des Celluloseacetat-Verfahrens die man sie als kuschelige Bettwäsche, in Kleidungs-
Acetat-Kunstseide. Viskose war die erste halbsyn- stücken oder in der Polsterung. Als Reinigungs-
thetische Kunstfaser, die seit 1917 in Deutschland tücher nehmen sie im trockenen Zustand Staub
industriell erzeugt wird. oder Feuchtigkeit auf. Nicht die Fasern selbst
5-117 1935 gelang einem amerikanischen Team saugen die Flüssigkeit auf, sondern ihre hohe
Polycarbonat. Esterverbin- unter Leitung des Chemikers WALLACE HUME Dichte schafft winzige Poren und Luftkammern.
dung zwischen zweiwerti-
gen Alkoholen (hier Bisphe- CAROTHERS (1896 – 1937) die Entwicklung von Diese füllen sich beim Aufwischen durch ihre
nol A) und Kohlensäure. Nylon, der ersten vollsynthetischen Faser, die Kapillarwirkung.

296
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Heute dominieren Fasern auf Viskose- oder Erd- Faden wird zu einem Faserband gestreckt und dtex
ölbasis. 2006 wurden insgesamt 41,2 Millionen schließlich zu einem Vorgarn verzogen. Meist dtex ist ein Maß für die
längenbezogene Masse
Tonnen Chemiefasern erzeugt, davon entfielen werden zunächst Endlosfäden, sogenannte Fila- von Fasern.
auf cellulosische Fasern 3,5 Millionen, auf voll- mente, erzeugt. Durch das parallele Anordnen 1 dtex = 1 g Fasergewicht
synthetische 37,7 Millionen. von Molekülketten bilden sich in den meisten bei 10 km Länge.
Fadensorten kristalline Teilbereiche, die die Fes-
Herstellung tigkeit der Fäden erhöhen; Polypropylenfäden
sind reine Kristalle. Bei den meisten Chemiefasern
Für die Erzeugung vollsynthetischer Fasern eig- werden die Molekülketten über Wasserstoffbrü-
nen sich nur Kunststoffe, deren Molekülketten cken oder Van-der-Waals-Kräfte verknüpft.
gestreckt und parallel zueinander gelagert wer-
den können. Aus einer geschmolzenen Masse
werden Fasern mittels dreier Verfahren gezogen. Ausgewählte Kunststoffe
Beim Trockenspinnverfahren werden die Fäden
aus einer Lösung durch eine Düse gepresst und
die verdunstenden Lösungsmittel abgesaugt. Mit Von Billardbällen und brennenden Filmen
diesem Verfahren werden Acryl- und Elastanfa-
sern erzeugt. Beim Nassspinnverfahren werden Der erste halbsynthetische Kunststoff auf Cel-
die Spinnfäden durch eine Fällreaktion in einem lulosebasis verdankt seine Entdeckung einem
Koagulationsbad fadenförmig ausgeschieden. amerikanischen Billardspieler, der sich über un-
Die Lösungsmittel werden durch Chemikalien gerade laufende Billardbälle aus teurem Elfenbein
neutralisiert und die Fäden verfestigen sich. Da- ärgerte. Zufällig beschäftigten sich damals die
mit werden Viskose und Cupro erzeugt. Beim Gebrüder JOHN WESLEY HYA YATT (1837 – 1920)
Schmelzspinnverfahren werden geschmolzene Po- und ISAIAH SMITH HYA YATT mit der 1848 entdeck-
lymere durch eine Spinndüse gepresst, erstarren ten Schießbaumwolle (Nitrocellulose). Aus Ni-
dahinter und bilden Fäden. Dieses Verfahren wird trocellulose lässt sich ein klarer, durchsichtiger,
bei thermoplastischen Kunststoffen wie Polyami- sehr spröder und explosiver Film erzeugen. Sie
5-118
den und Polyestern angewandt. Von der Form der „zähmten“ nach einem vom britischen Chemiker Chemiefasern. Einteilung
Spinndüse hängt der Faserquerschnitt ab, rund, ALEXANDER PARKES (1813 – 1890) entwickelten organischer Chemiefasern
drei- oder vieleckig oder flach. Der austretende Verfahren den gefährlichen Stoff, indem sie ihm und einige Handelsnamen.

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

297
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

den Weichmacher Campher zusetzten. Dieser löst pen aus Celluloid gefertigt. Doch Celluloid blieb
die Nitrocellulose und bildet beim Abkühlen eine weiterhin feuergefährlich. Außerdem neigt dieser
neue Struktur. Damit erhielten sie einen glaskla- Stoff ungeschützt zur Zersetzung, da Campher
ren Stoff, der leicht einfärbbar und bei niedrigen leicht flüchtig ist. Deshalb wurde Celluloid rasch
Temperaturen plastisch verformbar war. Unter durch weniger gefährliche und haltbarere Stoffe
dem Namen „Celluloid“ ließen sich die Brüder ersetzt; 1951 wurde die Produktion von Cellu-
HYA
YATT diesen ersten Thermoplast patentieren. loidfilmen eingestellt. Heute werden aus diesem
So konnten auch Billardbälle aus diesem Ersatz- Material vorwiegend Tischtennisbälle erzeugt.
material produziert werden. Celluloid besteht zu
70 – 80 Prozent aus Nitrocellulose, bis zu 30 Pro- Endlich ein vielversprechender Ersatzstoff
zent aus Campher, zu 0 – 14 Prozent aus dem
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

Gleitmittel Ethanol und zu 0 – 15 Prozent aus LEO HENRIK BAEKELAND experimentierte 1905
Farbmitteln. Ein weiterer Zufall wollte es, dass mit Phenol und Formaldehyd und stellte fest,
der Reverend HANNIBAL GOODWIN N (1822 – 1900) dass sich beide mit dem Katalysator Salzsäure
für das Zeigen von Bibeltexten ausgerechnet ei- zu einem Kunstharz polykondensieren lassen.
5-119 nen aus diesem Material erzeugten Film wählte Da alle Bestandteile in großen Mengen herge-
Celluloid-Puppe. Eine und GEORGE EASTMAN N (1854 – 1932) unter seinen stellt werden konnten, ließ sich dieser Stoff billig
Puppe aus Celluloid um Zuhörern weilte. EASTMAN entwickelte auf der erzeugen. Unter dem Produktnamen Bakelit ließ
1950. Basis von Celluloid einen Roll-Kleinfilm (Kodak). sich BAEKELAND seine Erfindung patentieren.
Um 1910 wurde in Deutschland die industrielle
5-120 Großproduktion von Bakelit aufgenommen.
Bakelit. Bakelit entsteht Zwischen 1920 und 1940 erlebte dieses Phe-
durch Polykondensation nolharz bei Telefon- und Radiogehäusen, bei
von Phenol und Formal-
dehyd mit Salzsäure als
Griffen für Haushaltsgeräte, bei Lichtschaltern
Katalysator. Es entsteht ein und Steckdosen, Schmuck- und Ziergegenstän-
Dimer und Wasser (oben). den seinen Anwendungshöhepunkt. Heute wird
Dimere können sich zu Oli-
gomeren weiter verbinden.
der Stoff meist versteckt in Maschinenbauteilen,
Aufgrund der Symmetrie Zahnrädern, Leiterplatten in der Elektroindus-
des Benzolrings entsteht trie oder als flammenhemmendes Bindemittel
eine räumlich vernetzte
in Hartfaserplatten und Schaumstoffen genutzt.
Struktur anstelle linearer
Ketten, die Bakelit eine Bakelit war der erste Kunststoff aus rein syn-
große Härte verleiht (rot). thetischen Bestandteilen. Als Duroplast ist er nur
Die Volksempfänger im
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

initial als Pressmasse plastisch formbar, zeichnet


Dritten Reich besaßen ein
Gehäuse aus Bakelit (Hin- sich aber durch Resistenz gegen mechanische
tergrund). Einwirkungen, Hitze und Säuren aus. Ferner ist
er sehr haltbar. Bakelit kommt nur in braunen
und schwarzen Farbtönen vor, dunkelt nach und
lässt sich nicht einfärben.
Als Trägermaterial für Filme fand Celluloid dank
EASTMAN rasch Verbreitung, ebenso als Ersatz Eine Wunderfaser für erotische Strümpfe
für teure und seltene Naturstoffe wie Schildplatt,
Ebenholz oder Elfenbein. Celluloid lässt sich kalt 1940 wurden innerhalb weniger Tage 4 Milli-
schneiden, lochen, sägen, bohren und stanzen und onen Paare brauner Damenstrümpfe aus einer
5-121
Nylonfasern. Wasserstoff- warm durch Biegen oder Pressen neu gestalten. Im neuartigen Faser namens Nylon verkauft, inner-
brücken (rot) zwischen Wasser ist es beständig, in organischen Lösungen halb des gleichen Jahres waren es in den USA
den Nylon-Molekülen instabil, in Benzin und Benzol unlöslich. Bald 64 Millionen Paare. Mit dem Kriegseintritt der
sorgen für die Stabilität
der Faser bei gleichzeitiger wurden Kämme, Messergriffe, Brillengestelle, USA Ende 1941 verschwand Nylon vorüber-
Biegsamkeit. Kugelschreibergehäuse und Spielzeug wie Pup- gehend vom zivilen Markt, doch schon 1945
verkaufte ein New Yorker Kaufhaus innerhalb
von 6 Stunden wieder 50 000 Paare.
Das ab 1939 industriell erzeugte Nylon war
die erste vollsynthetisch erzeugte Textilfaser, die
Erde, Wasser, Luft und Feuer

entwickelt wurde, um von japanischer Rohseide Buntspechte mögen Polystyrol


unabhängig zu werden. Es handelt sich um ein
Polyamid, das mittels Polykondensation aus den Stehen Bäume in der Nähe, so durchlöchern
Monomeren Hexamethylendiamin (C6H12N2) Spechte immer häufiger auf der Suche nach In-
und Adipinsäure (C6H10O4) erzeugt wird. Das sekten Fassaden mit Schaumdämmstoffen und
erzeugte Makromolekül heißt Polyamid 6.6 bzw. hämmern sogar Bruthöhlen hinein. Biologen
Nylon 6.6 (die Ziffern bezeichnen die Zahl der vermuten, dass die Vögel die Schaumstoffe mit

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


Kohlenstoffatome der beiden Ausgangsmono- morschem Holz verwechseln. Inzwischen nisten
mere, ÅAbbildungen 5-121 und 5-124). Die auch die eingeschleppten Halsbandsittiche in
einzelnen Monomere in den Fäden sind durch diesen Wärmedämmungen. Beim Auspacken
eine Peptidbindung (-NH-CO-) verknüpft, die von Geräten ärgert man sich über weißes Ver-
einzelnen Kettenfäden werden durch Wasser- packungsmaterial, das beim Brechen in weiße
stoffbrücken zusammengehalten. Nylon ist ein Kügelchen zerfällt. Sowohl beim Dämm- als 5-122
symmetrisch aufgebauter, teilkristalliner Ther- auch beim Verpackungsmaterial handelt es sich Nylonstrümpfe. Strümpfe
aus Polyamidfaser auf der
moplast mit einem Schmelzpunkt von 260 °C. um Schaumstoffe auf Polystyrolbasis (Å Abbil-
Leibziger Herbstmesse
Nach dem Spinnen und Erkalten müssen dung 5-115). Aufgeschäumtes Polystyrol wird 1954.
die Fasern um etwa 400 Prozent gestreckt wer- seit 1951 je nach Herstellungsverfahren unter
den; erst dann stellen sich die hohe Festigkeit dem Markennamen „Styropor“ oder „Styrodur“
und Elastizität ein. Nylonfasern sind flexibel, vertrieben.
durchsichtig und seidig weich. Sie sind bestän- Styropor (EPS, expandiertes Polystyrol) wird
dig gegenüber Fettstoffen, Lösungsmitteln und durch Aufschäumen von Polystyrolgranulat er-
Alkalien, werden aber von Säuren angegrif- zeugt. Das Granulat, mit etwa 5 Prozent Pentan
fen. Sie sind sehr reiß- und scheuerfest, leicht (C5H12) als Treibmittel versetzt, wird mit heißem
waschbar, schnelltrocknend und knitterfrei. In Wasser oder Wasserdampf bis 90 °C erhitzt und

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Damenstrümpfen ist Nylon heute weitgehend bläht sich dadurch um 20 – 50 Volumenprozent
durch Elastan- bzw. Lycrafaser ersetzt, aber auf. Das Treibmittel verdampft, es bildet sich ein
in Kleidungs- und technischen Textilien ist es geschlossenporiger Schaum aus verschweißten
zusammen mit anderen Fasern verwoben. Ab- 2 – 3 mm großen Kügelchen, der bis zu 98 Pro-
riebfeste, unzerbrechliche und hitzebeständige zent aus Luft und zu 2 Prozent aus Gerüstma-
Gegenstände wie Dübel, Schrauben, Gleitlager, terial besteht. Wird in einem Extruder in das
Isolationsteile, Zahnräder, Lager und Lager- erhitzte Granulat ein Treibgas – früher Fluor- 5-123

buchsen enthalten Nylongewebe. kohlenwasserstoffe (FCKW), heute oft CO2 – di- Styropor. Extrudiertes Po-
lystyrol (EPS) als Verpak-
1940 entwickelte der deutsche Chemiker rekt eingeblasen, so bildet sich ein kleinporiger, kungsmaterial.
PAUL SCHLACK (1897 – 1987) ein ähnliches Ma- geschlossenzelliger, eingefärbter Schaumstoff, in
terial unter dem Markennamen Perlon. Auch dessen Poren das Treibgas eingeschlossen bleibt.
Perlon ist ein Polyamid, das jedoch nicht mittels Dieser Schaumstoff heißt Styrodur (XPS, extru-
Polykondensation, sondern mittels ringöffnen- diertes Polystyrol). Beiden thermoplastischen,
der Polymerisation aus nur einem Monomer teilkristallinen Hartschaumstoffen gemeinsam
(e-Caprolactam, C6H11NO) hergestellt wird. ist eine relativ hohe Festigkeit; zudem sind sie 5-124
Perlon hat sehr ähnliche Eigenschaften wie Ny- dank der geschlossenen Poren nicht hygrosko- Nylon und Perlon. Perlon
besteht aus nur einem
lon, aber mit 215 °C einen niedrigeren Schmelz- pisch. Vor allem bilden beide dank ihrer gasge- Monomer, einer Amino-
punkt. Es ist fester als Nylon, etwas unelasti- füllten Poren ein hervorragendes Isoliermaterial carbonsäure mit sechs
scher, rauer und kratziger und beult leicht aus, mit sehr geringer Wärmeleitfähigkeit. Auf Bau- Kohlenstoffatomen, wes-
halb man es kurz als PA 6
weil sich zwischen den Kettenfäden weniger stellen lassen sich beide problemlos mechanisch (Polyamid 6) bezeichnet.
Wasserstoffbrücken bilden. Deshalb eroberten bearbeiten. Nylon ist ein Co-Polymer
Perlonstrümpfe erst allmählich die deutsche Da- Styropor ist biologisch nicht abbaubar; es ist aus einer Dicarbonsäure
und einem Diamin mit
menwelt. Auch Perlon weist eine hohe Knick- leicht, porös, zäh und fest und gegen wässrige jeweils sechs Kohlenstoff-
bruch-, Reiß- und Scheuerfestigkeit auf und ist Laugen und Mineralsäuren resistent, wird aber atomen, daher PA 6.6.
resistent gegen Verrottung und Motten. Wie
Nylon wird es für zahlreiche Textilien genutzt,
ferner für Taue, Seile, Borsten und Zahnbürsten.
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

von unpolaren Lösungsmitteln wie Benzin oder auch Milchbehälter und Bierflaschen aus diesem
langkettigen Aldehyden angegriffen. Es ist schwer Material auf dem Markt zu etablieren.
entflammbar, aber nur bis 70 – 85 °C temperatur- PET ist ein thermoplastischer Kunststoff aus
sicher. Da es gegen UV-Licht empfindlich ist, kann der Gruppe der Polyesterwerkstoffe, das aus
Styropor nicht bei Außenisolationen verwendet den Monomeren Terephthalsäure (C8H6O8, eine
werden. Deshalb wird dieser Schaumstoff haupt- Dicarbonsäure) und Ethylenglykol (C2H6O2, ein
sächlich als Isoliermaterial für Kühl- und Wärme- Dialkohol) mittels Polykondensation erzeugt
anlagen, für Kindersitze, Sturzhelme oder Trink- wird (ÅAbbildung 5-125). Das Produkt die-
becher und als Verpackungsschutz verwendet. Die ser Reaktion ist ein linear gesättigter Polyes-
chemische Resistenz des Styrodur-Schaumstoffes ter, dessen Moleküle Dipole sind, denn seine
ist die gleiche wie bei Styropor. Styrodur ist hoch Sauerstoffatome sind negativ, die benachbarten
druckfest, elastisch, wasserabweisend, gut wär- Kohlenstoffatome positiv polarisiert. Zwischen
medämmend, schwer entflammbar, frostresistent, den einzelnen Molekülen wirken daher starke
resistent gegen Insekten und Pilzbefall, aber nicht zwischenmolekulare Kräfte. PET wird in zwei
sicher vor Spechten und Halsbandsittichen. Sty- Varianten hergestellt, in einer amorphen und
rodur ist das wichtigste Isoliermaterial für Au- in einer teilkristallinen mit einem Kristallisati-
ßendämmung von Hausfassaden im Bauwesen. onsgrad bis zu 70 Prozent. Nur letztere eignet
sich zur Herstellung von synthetischen Fasern.
Vom Faden zur Flasche – PET Auch Flaschen werden aus der teilkristallinen
Variante erzeugt, 1 – 500 μm dicke Folien aus der
Den Kunststoff PET (Polyethylenterephthalat) amorphen. Die teilkristalline Variante zeichnet
bringen die meisten von uns mit Getränkefla- sich durch hohe Festigkeit und Steifigkeit, harte,
schen in Verbindung, die die traditionelle Glas- polierfähige Oberfläche, günstiges Gleit- und
flasche verdrängt haben. PET wurde 1941 in Verschleißverhalten sowie hohe chemische Be-
England als Ersatz für japanische Seide entwi- ständigkeit aus. Bei der amorphen Variante sind
ckelt und ab 1946 großindustriell erzeugt. Bis hohe Zähigkeit, hohe Transparenz, Beständigkeit
in die 1960er Jahre diente es fast nur zur Her- gegen Spannungsrissbildung, günstiges Gleit- und
stellung von Polyesterfasern wie Trevira, Diolen Verschleißverhalten und Lebensmittelechtheit zu
oder Dralon. Diese Fasern waren (und sind) sehr nennen. Aufgrund seiner vielfältigen Einsatzmög-
beliebt, weil sie knitterfrei, reißfest, form- und lichkeiten gehört PET mit weltweiten Produk-
witterungsbeständig und kaum hygroskopisch tionsmengen von 40 Millionen Tonnen (2007)
sind. Seit Mitte der 1950er Jahre erzeugt man zu den sechs wichtigsten Massenkunststoffen.
daraus Klarsichtfolien; wegen der schwierigen Neben der Verarbeitung zu Flaschen und Folien
Verarbeitbarkeit konnte man PET aber erst ab wird PET in Textilien, bei technischen Bauteilen
Mitte 1970 als Konstruktionswerkstoff nutzten. wie Zahnrädern sowie als Trägermaterial für
Die ersten PET-Flaschen tauchten 1984 in der Tonbänder und Filme eingesetzt.
Schweiz auf, seit 1990 erobern im Streckblas-
verfahren (ÅVon spröde bis endlos elastisch – Von der Atombombe zur Bratpfanne –
Die Vielfalt der Polymere, Seite 115) erzeugte Teflon
Flaschen für kohlensäurehaltige Getränke zu-
nehmend den Markt. Momentan versucht man, Heute gehören teflonbeschichtete Pfannen und
5-125 Töpfe zur Standardausrüstung vieler Küchen. Im
PET. Polyethylentere- Volksmund werden Politiker, die mehrere Affä-
phthalat entsteht durch ren ohne Schaden für ihr Amt überstehen, als
Polykondensation aus dem Teflon-Politiker verspottet. Auch das als Wun-
zweifachen Alkohol (Diol)
Glykol und der Dicarbon-
derkunststoff gepriesene Teflon® verdankt seine
säure Terephthalsäure; es Entdeckung einem Zufall und seine Anwen-
handelt sich also um einen dung im Küchenbereich angeblich einer franzö-
Polyester. Ester sind Ver-
bindungen aus Säuren und
sischen Hausfrau; es ist kein Abfallprodukt der
Alkoholen. Raumfahrt. Bei der Suche nach einem weniger
gefährlichen Kühlmittel für Eisschränke experi-
mentierte der amerikanische Chemieingenieur

300
Erde, Wasser, Luft und Feuer

ROY PLUNKETT (1910 – 1994) mit Tetrafluor- Eine spezielle Anwendung findet Polytetra-
ethylen (C2F4), einem Gas, das er bei – 80 °C fluorethylen als hauchdünne Membranen in so-
aufbewahrte. Zu seinem Erstaunen enthielt sein genannten Funktionstextilien mit dem Marken-
Behälter 1938 anstelle des Gases ein weißes, namen Gore-Tex®. Angeblich soll der Sohn eines
pulvriges Material, das auf nichts reagierte ehemaligen Mitarbeiters eines großen amerikani-
und für das man zunächst keinen technischen schen Chemiekonzerns, ROBERT W. GORE, mehr-
Verwendungszweck fand. Erst als Mitarbeiter fach versucht haben, einen erhitzten Teflonstab
des „Manhattan-Projektes“ verzweifelt einen vorsichtig zu dehnen. Doch jedes Mal zerbrach
Behälter für das extrem korrosive Uranhexa- der Stab. Schließlich riss er einen glühend heißen
fluorid (UF6) suchten, entsann man sich dieser Stab wütend gewaltsam auseinander und ent-
merkwürdigen Substanz, die sich auch bewährte. deckte dabei, dass sich Teflon sehr weit zu einer
Angeblich soll die Gattin des französischen Che- dichten, haltbaren Folie dehnen lässt. In solchen
mikers MARC GREGOIRE 1954 vorgeschlagen Teflonfolien sind die Molekülfasern teilweise
haben, eine Pfanne mit der klebrigen Masse zu fadenartig gestreckt und bilden eine durchläs-

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


bestreichen, die ihr Gatte für seine Angelschnur sige Membran. Diese Membranen werden unter
benutzte – ein voller Erfolg. 1954 trat Teflon anderem mit anderen Kunstoffen zu Gore-Tex-
seinen Siegeszug als Beschichtungsmaterial an. Laminat verleimt. Aus dem Laminat werden
Teflon (Polytetrafluorethylen, PTFE) ist ein Textilien hergestellt (ÅAbbildung 5-127).
teilkristalliner Hochleistungskunststoff und ge- Die Membran enthält bis zu 1,4 Milliarden
hört zu den Thermoplasten, denn er besteht aus Poren pro Quadratzentimeter, wobei eine ein- 5-126
linearen, unverzweigten Ketten. Er wird durch zelne Pore 20 000 Mal kleiner als ein Wasser- Teflon. Polytetrafluorethy-
Polymerisation nach dem Plunkett-Verfahren dampftropfen ist, aber 700 Mal so groß wie ein len (PTFE) entsteht durch
Polymerisation aus dem
aus Tetrafluorethylen unter hohem Druck her- Wassermolekül. Daraus resultiert die vielgeprie- sehr instabilen Tetrafluor-
gestellt. Seine Makromoleküle setzen sich aus sene Wasserundurchlässigkeit, Winddichtigkeit ethylen. Teflon selbst ist
5000 bis 100 000 Einzelbausteinen zusammen. und Atmungsaktivität von Gore-Tex-Kleidung indes sehr stabil und reakti-
onsträge.
Entscheidend für seine Eigenschaften ist die feste und -schuhen. Gore-Tex-Membranen werden
Bindung zwischen den Kohlenstoff- und Fluora- inzwischen auch in der Gefäß- und Herzchirur-
tomen. Diese Bindungen vermögen selbst starke gie verwendet.
Säuren und die meisten basischen Lösungsmittel
nicht aufzubrechen, nur starke Reduktionsmittel Ein Glas, das nicht splittert – Plexiglas
greifen Teflon an. Der Kunststoff ist daher sehr
reaktionsträge und seine sehr niedrige Ober- Auf der Suche nach einem Kautschukersatz ent-
flächenspannung bewirkt zusätzlich, dass fast wickelten Forscher 1928 unabhängig voneinan-
nichts auf diesem Kunststoff haften bleibt. Da- der in England, Deutschland und Spanien einen
mit umgekehrt der Kunststoff haftet, muss die neuen, glasähnlichen Kunststoff, der heute Besu-
Trägeroberfläche aufgeraut werden. Ferner weist chern das Betrachten von Meeresbewohnern in
Teflon einen sehr niedrigen Reibungskoeffizien- Großaquarien oder Fluggästen den Blick aus dem
ten und eine hohe Wärmeausdehnung auf. Fast Flugzeug ermöglicht. Besucher von Handwerks-
unerreicht ist die Temperaturverträglichkeit von messen dürfen mit Spezialhämmern mit voller
–200 bis +300 °C; Teflon schmilzt bei 327 °C Kraft auf Platten aus diesem Werkstoff einschla-
und setzt dabei giftige Fluorverbindungen frei. gen. Chemiker nennen ihn Polymethylmetha-
Aufgrund dieser Eigenschaften wird Teflon crylat (PMMA), bekannt geworden ist er unter
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

überall für Beschichtungen oder als Ausklei- den Handelsnamen Acrylglas bzw. Plexiglas®.
dungswerkstoff eingesetzt, wo es Oberflächen Plexiglas wird aus den gesundheitsschädli-
vor Temperatur- und Witterungseinflüssen, vor chen Ausgangssubstanzen Aceton, Blausäure,
mechanischen Beschädigungen oder vor aggres- Schwefelsäure und Methanol hergestellt. Das
siven Chemikalien zu schützen gilt. So findet wichtigste Herstellungsverfahren ist die Poly-
man es als Kratzschutz auf Brillengläsern, auf merisation eines Monomers namens Methacryl- 5-127
Glasfasergewebe, bei Auskleidungen von Rohren säuremethylester (C5H8O2), das erzeugte Poly- Gore-Tex. In Gore- Tex - Fo-
und Behältern in Chemieanlagen, bei röhrenarti- merisat Plexiglas ist völlig ungiftig. lien sind die Teflonfasern
zum Teil fadenartig ge-
gen Implantaten in der Medizin, in der Elektro- Plexiglas ist ein thermoplastischer, polarer, streckt und bilden eine
und Raumfahrtindustrie und auf Bratpfannen. amorpher Kunststoff aus der Gruppe der Poly- durchlässige Membran.

301
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

Gummi einen Stoff mit klebrigen und elastischen


Eigenschaften. Wissenschaftlich versteht man
unter Gummi einen halbsynthetischen Kunst-
stoff, der aus Kautschuk erzeugt wird und als
Werkstoff für eine Vielzahl von Produkten dient.
Gummibärchen bestehen allerdings nicht daraus.

Vom Kautschuk zum Gummi


5-128 acrylate. Seine ineinander verflochtenen Mole-
Plexiglas. Polymethyl- külketten (lat. plectere, flechten) verleihen dem Der natürliche Rohstoff Kautschuk war mit-
methacrylat (PMMA) ent-
steht durch Polymerisation Plexiglas hohe Elastizität und Schlagfestigkeit; tel- und südamerikanischen Indianern be-
eines Esters der Methacryl- ferner ist es hart und splitterfest. Andererseits reits lange bekannt und wurde von ihnen
säure und Methanol. ist es spröde, kerbungs- und spannungsrissemp- zur Herstellung von Bällen genutzt, als er im
findlich. Das Glas ist auch gegen Witterungsein- 18. Jahrhundert in den Blick der Europäer ge-
flüsse, Licht und UV-Strahlung beständig. So riet. 1736 bereisten der französische Mathe-
trübt Plexiglas auch nach Jahrzehnten im Freien matiker und Astronom CHARLES MARIE DE LA
nicht ein. Mineralisches Glas übertrifft dieser CONDAMINE (1701 – 1774) und der Ingenieur
Werkstoff mit einer Lichtdurchlässigkeit je nach FRANÇOIS FRESNEAU (1703 – 1770) den südame-
Dicke von 89 bis 92 Prozent erheblich. So ist rikanischen Urwald. Bei den dortigen Indianern
eine 33 cm starke Plexiglasscheibe eines großen fanden sie eine dunkle, harte Masse, die diese
Schauaquariums noch durchsichtig, was bei nor- aus der Rinde eines Baumes gewannen, den
malem Glas nicht der Fall wäre. Die genannten FRESNEAU bald im heutigen Guayana entdeckte.
Eigenschaften ermöglichten auch eine Plexiglas- Aus Brasilien gelangte diese Masse 1759 erst-
überdachung des Münchner Olympiastadions mals nach Europa. Da der Saft schnell gerinnt
mit einer Fläche von 38 000 m2. Schließlich ist und beim Eintrocknen verhärtet, konnten die
dieser Werkstoff beständig gegen Säuren und Europäer zunächst mit der exotischen Masse
Laugen mittlerer Konzentration. Er ist auch nichts anfangen, bis 1761 Terpentin und Ether
wärmebeständig bis 95 – 100 °C und bei höheren als Lösungsmittel dafür entdeckt wurden. Erste
Temperaturen warmverformbar. Gegenstände aus diesem Material, im frühen
Plexiglas wird dort eingesetzt, wo splitterfreie 19. Jahrhundert zum Beispiel Stiefel, erfreuten
Verglasungen aus einem leichten, gut formbaren sich keiner langen Beliebtheit, denn der Natur-
Werkstoff gefordert werden: als optische Linsen kautschuk wurde bei Hitze weich und fing an zu
für Brillen oder Lupen, in der Fahrzeugindustrie riechen, bei Kälte dagegen wurde er brüchig. Erst
für Blinker, Dachverglasungen, Außenscheiben, eine bahnbrechende Erfindung des Amerikaners
im Haushalt, im Bauwesen für Abdichtungen, CHARLES GOODYEAR (1800 – 1860) lieferte einen
Flachdächer oder Schaufenster, in der Zahnme- temperaturunempfindlichen, brauchbaren Werk-
dizin verstärkt für Prothesen und so weiter. stoff. Er erzeugte Gummi, indem er natürlichen
Rohkautschuk mit Schwefel erhitzte, ein Prozess,
der als Vulkanisation bezeichnet wird. Damit
Von Gummiadlern und -bären
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

begann der Aufstieg von Gummi als Werkstoff,


und die Nachfrage nach Kautschuk wuchs. Bis in
Gummi ist heute in etwa 30 000 Alltagsgegen- die ersten Dezennien des 20. Jahrhunderts blieb
ständen meist unsichtbar (Wäsche) eingearbeitet. der im brasilianischen Amazonas-Urwald wild
Der allgemeine Bekanntheitsgrad dieses Materi- wachsende Kautschukbaum (Hervea brasiliensis)
Gummibärchen als spiegelt sich in zahlreichen umgangssprach- der einzige Lieferant dieses begehrten Rohstoffs.
Sie enthalten trotz ihres lichen Begriffen mit Gummi wieder. So wird ein Das bescherte Brasilien von 1839 – 1910 einen
Namens keinen Kaut- zähes Hähnchen als Gummiadler bezeichnet und Kautschukboom. 1876 gelang es den Briten, Sa-
schuk, sondern werden
aus gelartigen Stoffen wie Gummi ist Kurzwort für Kondome oder Haar- men dieses Baumes außer Landes zu schmuggeln
Maisstärke, Pektine oder gummis. Ein Gummiband oder einen Radier- und fortan wurden vor allem in Ceylon, Burma
Gelatine gebildet und mit gummi benutzen wir häufig, über die klebrigen (Myamar) sowie auf Java Kautschukplantagen
Fruchtzucker, Aromastof-
fen, Weinsäure und Farb- Reste von Kaugummi an Schuhen ärgern wir angelegt. 1900 wurde erstmals Plantagenkaut-
stoffen verfeinert. uns oft. Unbewusst verbinden die meisten mit schuk geliefert. Heute wird der Kautschukbaum

302
Erde, Wasser, Luft und Feuer

im tropischen Gürtel bis etwa zum 30. Breiten- auf Erdölbasis erzeugte Isopren. Man hofft, die
grad beidseits des Äquators angebaut. Isoprenerzeugung in einigen Jahren industriell
Bald konnten auch Plantagen die ständig nutzen zu können und so vom teurer werdenden
steigende Nachfrage nach Rohkautschuk nicht Erdöl unabhängig zu werden.
mehr decken. Außerdem waren aufsteigende
Industrieländer wie Deutschland nicht mehr ge- Kautschuk ist nicht nur Pflanzensaft
willt, sich dem Preismonopol der Briten und Nie-
derländer zu beugen. Dem deutschen Chemiker Kautschuk ist eine Sammelbezeichnung für
FRITZ HOFMANN (1866 – 1956) gelang es 1909, mehrere makromolekulare, elastische Polymere.
einen synthetischen Kautschuk für die Gummi- Dazu zählen der Naturkautschuk, also Milch-
herstellung auf Basis von Butadien (CH2=CH– säfte verschiedener Pflanzen, sowie Kautschuk
CH=CH2) zu entwickeln. Ab 1915 wurde dieser mit einem Anteil von 18 Prozent Füllstoffen,
Synthesekautschuk, genannt BUNA, in Lever- durch Schwefelzusatz vernetzter Kautschuk
kusen industriell erzeugt. 1929 entwickelte der (Gummi) und schließlich die aus Erdöl- und Emulsionspolymerisation
Die Monomere werden als
Chemiker WALTER BOCK die Emulsionspolyme- Erdgasderivaten künstlich erzeugten Kautschuk- Emulsion in Wasser gelöst;
risation (ÅRandspalte) aus Butadien und Styrol sorten. Sein Name leitet sich von der Bezeich- der Starter ist wasser-
und schuf damit den ersten wirtschaftlich nutz- nung peruanischer Indianer für ein baumartiges löslich. Das entstehende
Polymer ist kolloidal im
baren Synthesekautschuk, den bis heute wichti- Wolfsmilchgewächs ab, den sie Cao (Baum) Wasser gelöst.
gen Styrol-Butadien-Kautschuk (SBR); ein Jahr und ochu (Träne) also tränenden Baum nann-
später erfanden ERICH KONRAD und EDUARD ten. Dieser Parakautschukbaum (Hevea brasi-
TSCHUNKUR den öl- und benzinresistenten Buta- liensis) ist mit 90 Prozent Anteil der wichtigste
dien-Acrylnitril-Kautschuk (NBR). In den 1930er Lieferant von Naturkautschuk. Der aus der
Jahren nahmen die USA die Produktion von angeschnittenen Rinde austretende Milchsaft
synthetischem Kautschuk auf und entwickelten heißt Latex, eine Emulsion aus Polyisopren,
in den nächsten Jahrzehnten für spezielle Anwen- 55 – 70 Prozent Wasser, und etwas Harz, Eiweiß
dungszwecke weitere Sorten. Im Zweiten Welt- und Zucker. Das langkettige Polyisopren liegt
krieg förderte Deutschland den Aufbau weiterer als kolloidale Dispersion in der milchigen Flüs-
BUNA-Produktionsstätten. Gegenwärtig beträgt sigkeit vor. Die Polyisopren-Tröpfchen haben
der Anteil des synthetischen Kautschuks an der einen Durchmesser von 0,15 – 0,3 mm. Auch
Gesamterzeugung etwa 70 Prozent. Wurde spezielle Löwenzahnarten in Mittelasien, der in
Gummi anfangs hauptsächlich aus der Vernet- Mexiko beheimatete Guayule-Strauch sowie der
zung von Kautschuk mit Schwefel erzeugt, so aus Mittelamerika stammende Breiapfelbaum
werden momentan etwa 25 verschiedene Stoffe liefern Latexsäfte, die inzwischen zur Gummi-
zugesetzt, um Gummis für ausgewählte Anwen- herstellung genutzt werden.
dungsbereiche zu erhalten. Zugesetzt werden Naturkautschuk ist viskoelastisch und besitzt
5-129
Lösungsmittel, Vulkanisierungsbeschleuniger, eine hohe Zug- und Weiterreißfestigkeit. Seine
Polyisopren. Polyisopren
Füll- und Farbstoffe sowie Antioxidanzien. Elastizität ist eine Folge der räumlichen Anord-
kommt in der cis- und der
Da die weltweite Nachfrage nach Naturkaut- nung der Methylgruppen in den Polyisopren-Ket- trans-Form vor. In der cis-
schuk rapide steigt, wollen ein amerikanischer ten (ÅAbbildung 5-129). Bei 3– 4°C ist es spröde, Form sorgt die enge Nach-
barschaft der Methylgruppe
Reifenhersteller und eine Biotech-Firma mit bei 20 °C elastisch, aber schon ab 30 °C plastisch
und des Wasserstoffatoms
Hilfe des Bakteriums Escherichia coli (E.coli) und klebrig. Aufgrund der eingeschränkten Elasti- an der C=C-Doppelbindung
Bioisopren erzeugen. Bei E.coli fällt in geringen zität, der schlechten Witterungsbeständigkeit und dafür, dass sich die Kette
Mengen Isopren als Stoffwechselprodukt an. Unbeständigkeit gegen oxidierende Chemikalien nicht gerade ausrichten
kann (farbig hinterlegt).
Durch Hinzufügung eines Pflanzengenoms, das und Kohlenwasserstoffe ist Latex nur bedingt trans-Polyisopren kann
ein Enzym für die Synthese von Isopren besitzt, als Werkstoff geeignet. Es existiert allerdings ein hingegen gerade Ketten
ist es gelungen, die Menge von Isopren im Labor Verfahren, das die Werkstoffeigenschaften ent- bilden, die sich kristallartig
parallel ausrichten und über
deutlich zu erhöhen. Das bei Zimmertemperatur scheidend verbessert, die Vulkanisation, die Latex van-der-Waals-Kräfte an-
entweichende Gas ist wesentlich reiner als das in Gummi verwandelt. einander haften.

303
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

Vulkanisation weise eine fortschreitende Verhärtung, da der


Sauerstoff die Schwefelatome zwischen den Mo-
Vulkanisation ist ein Verfahren, mit dem die lekülsträngen ersetzt. Damit nimmt die Reiß-
Polyisoprenketten miteinander vernetzt werden, festigkeit stark ab, das Gummi bekommt Risse
und zwar so, dass sie weiterhin in der Lage und zerfällt. Dieses Phänomen kann man bei
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
sind, sich bei Zug zu strecken, ohne sich jedoch alten Gummibändern beobachten. Gummi wird
gegeneinander zu verschieben. Dies erhöht die zudem unterhalb der Glasübergangstemperatur
Elastizität und verhindert die plastische Defor- spröde. Der Alterungsprozess wird ebenfalls
mation. Bei der Vulkanisation wird die Natur- durch Kontakt mit reaktiven Metallen wie Kup-
kautschukmasse unter Zugabe von Schwefel fer, Eisen oder Mangan ausgelöst, weshalb sie
5-130 oder Schwefelverbindungen für einige Minuten als Gummigifte bezeichnet werden. Bei Dau-
Vulkanisiertes Polypropy- einer Temperatur um 170 °C und hohem Druck erbelastung neigt natürliches Gummi ebenfalls
len. Schwefel (gelb) bildet ausgesetzt. Der Schwefel greift bevorzugt die zu Materialermüdung. Schließlich wird es von
stabile, kovalente Bindungs- C=C-Doppelbindungen der Polyisoprenketten an Ölen und Fetten angegriffen, ist aber resistent
brücken zwischen den Po- und bildet mehr oder weniger lange Ketten aus gegenüber Laugen und schwachen Säuren.
lyisoprenketten, die unter- Schwefelatomen zwischen ihnen. Diese Querver-
schiedlich lang sein können netzung erlaubt weiterhin das abschnittsweise Synthetisches Gummi
und so die Elastizität des Strecken der Ketten; diese können sich allerdings
Werkstoffs erhalten und nicht mehr irreversibel gegeneinander bewegen. Für technische Anwendungen werden seit den
gleichzeitig die Festigkeit Je mehr Quervernetzungen entstehen, desto här- 1930er Jahren auf der Basis von synthetischem
erhöhen. Nicht dargestellt ter wird der Werkstoff (Å Tabelle). Kautschuk Gummisorten entwickelt, die Anfor-
sind die Methylketten und derungen nach Alterungsbeständigkeit, Bestän-
Wasserstoffatome. Natürliches Gummi digkeit gegen Öle, Fette und Benzin besser erfül-
len als natürliches Gummi. Inzwischen wurden
Natürliches Gummi besteht aus Latex, Wasser über 30 verschiedene synthetische Gummisor- r
und 5 – 8 Prozent Schwefel. In Reinform ist es ten entwickelt. Grundbaustein vieler künstlicher
durchscheinend beigefarbig. Durch Beimischung Kautschukarten ist das synthetisch polymerisierte
von Ruß oder Carbon-Black wird Reifengummi Isopren. Die drei wichtigsten Sorten sind Styrol-
schwarz eingefärbt. Da es empfindlich ist ge- Butadien-Kautschuk (SBR), der Chloropren-
genüber Ozon, UV-Licht und Dauernässe, ist Kautschuk (CR) und der Butyl-Kautschuk (IIR).
es ohne zusätzlichen Schutz nicht alterungsbe- Während Styrol-Butadien-Kautschuk und Butyl-
ständig. Die Aufnahme von Sauerstoff bewirkt Kautschuk wie üblich mit Schwefel vulkanisiert
einen Kettenabbruch (Erweichen) beziehungs- werden, lässt sich Chloropren-Kautschuk-Gel
nur mit Metalloxiden wie Zinkoxid (ZnO) oder
Vulkanisierter Kautschuk Magnesiumoxid (MgO) zu Gummi umwandeln.
Natürlicher Kautschuk
(Gummi)
unvernetzte Polymer-
ketten
vernetzte Ketten Styrol-Butadien-Kautschuk (SBR)

weich, klebrig hart, wenig klebrig Der älteste und gegenwärtig mengenmäßig wich-
tigste Synthesekautschuk ist ein Co-Polymerisat
geringe Zugfestigkeit,
hohe Zugfestigkeit, fest aus Styrol und 1,3-Butadien. Erzeugt wird SBR
nicht fest
entweder durch kalte Emulsionspolymerisation
geringe Elastizität hohe Elastizität
bei 5 °C oder mit warmer bei 45 – 55 °C. Daraus
beständig von 10–60 °C
einsetzbar zwischen -40° erzeugte technische Gummiartikel sind bestän-
und +100°C diger gegen Witterungseinflüsse als solche aus
5-131
geringe Abriebfestigkeit hohe Abriebfestigkeit Naturgummi sowie resistent gegen schwache
Styrol-Butadien-
Säuren und Basen. Aber sie quellen in Mineral-
Kautschuk. Durch Co- kann viel Wasser aufneh-
Polymerisation von Styrol men
wasserabweisend ölen, Schmierfetten und Benzin stark auf. Die
und 1,3-Butadien entsteht
löslich in Lösungsmitteln nicht löslich in üblichen
Anwendungstemperatur liegt zwischen –40 °C
zunächst das Co-Polymer,
wie Terpentin Lösungsmitteln und +70 °C. SBR-Gummi wird zu Dichtungen,
das mit Schwefel vulkani-
siert werden kann zu Styrol- Transportbändern und vor allem zu Laufflächen
schmelzbar nicht schmelzbar
Butadien-Kautschuk. von Reifen verarbeitet.

304
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Chloropren-Kautschuk (CR, Neopren)

Ein weiterer, 1930 synthetisch entwickelter Kau-


tschuk ist CR, der seit 1938 unter dem Mar-
kennamen Neopren bekannt ist. Er wird durch
Emulsionspolymerisation aus 2-Chlor-1,3-Bu-
tadien erzeugt. Die Doppelbindungen der Po-
lychloroprenketten sind zu etwa 90 Prozent in
trans-Stellung angeordnet, nur etwa jede zehnte
Doppelbindungen liegt in cis-Stellung vor (Å Ab-
bildung 5-132). Daher sind die Ketten weitge- tierende Doppelbindungen mehr verfügt. Daraus 5-132
hend gerade und kristallisieren leicht. Die damit resultiert ein weicher, elastischer Werkstoff mit Polychloropren. Polychlo-
roprenketten bilden über-
einhergehende Verhärtung wird bei Klebstoffen guter Beständigkeit gegen Wärme und Sauerstoff
wiegend 1,4-trans-Stellun-
auf Polychloropren-Basis ausgenutzt. Für An- sowie gegen Säuren und Laugen; ferner zeigt er gen an Doppelbindungen,
wendungsfälle, in denen dies nicht erwünscht ist, hohe mechanische Dämpfungseigenschaften und was gerade Ketten liefert.
wird die Kristallisation unter anderem durch den einen hohen elektrischen Widerstand. Empfind- Nur an etwa jeder zehnten
Doppelbindung formiert
Einsatz von Co-Monomeren verhindert. Eine lich ist Butylkautschuk gegen Öle und Fette und sich eine 1,4-cis-Stellung,
Vulkanisation erfolgt mit Hilfe von Metalloxi- chlorhaltige Lösungsmittel. Er wird zu Dichtun- die Kette bekommt einen
den, wobei die Vernetzung mit den Chloratomen gen, Membranen und Säureschutzauskleidun- „Knick“. An manchen
Stellen der Ketten findet
nur an Stellen erfolgt, in der eine sogenannte gen von Behältern und Rohren, zu Vibratoren, sich auch eine Allyl-Konfi-
Allylkonfiguration vorliegt. In dieser Konfigura- Heißgutförderbändern und vor allem zu Reifen-, guration (rechts), an denen
tion ist das Chloratom schwächer gebunden und Heiz- und Dampfschläuchen verarbeitet. das Chloratom schwach
gebunden ist und sich gut
dadurch reaktionsfreudiger. Eine Allylkonfigura- vernetzen lässt.
tion liegt nur an wenigen Stellen einer Kette vor, Ein klebendes Ärgernis – Kaugummi
dem Grad der Vernetzung sind daher Grenzen
gesetzt. Vernetztes Polychloropren ist schwer Kaugummi ist keine Erfindung unserer Zeit,
entflammbar und abriebfest, ferner witterungs-, man fand bereits Reste von Kaumassen aus Kationische Polymerisa-
ozon-, wärme- und ölbeständig. Es quillt nicht in der Steinzeit. Auch die Römer kannten eine tion
Bei der kationischen Poly-
Mineralölen, Fetten und Wasser, aber in Benzin, kaugummiartige Masse, ebenso Indianer aus merisation erfolgt das Ket-
Estern, Ethern und Ketonen. Diese Vulkanisate Mittelamerika. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts tenwachstum nicht durch
werden im Automobilbau zu Dichtungen, Keil- bildeten Säfte und Harze weniger Bäume die die Bildung eines Radikals,
sondern – nach Zugabe
riemen und Kabelummantelungen verarbeitet. Kaumasse. In Europa war es das Harz des einer Säure – durch die Bil-
Mit Hilfe von Treibgasen geschäumtes Neopren nur auf der Insel Chios wachsenden Mastix- dung eines Kations (Pro-
eignet sich aufgrund seiner hervorragenden Iso- Baumes, in Mittelamerika der getrocknete Saft tonierung), an das sich ein
weiteres Monomer binden
liereigenschaften zur Herstellung von Flaschen- (Chicle) des Breiapfelbaumes (Zapotebaum) und
kann, das daraufhin sei-
kühlern, Schutzhüllen, Sportbandagen und vor in Nordamerika derjenige des Amberbaumes nerseits protoniert wird.
allem von Tauchanzügen. (sweet gum). In den USA wurde ab 1869 Chicle
zur Produktion von Kauriegeln genutzt. Der ei-
Butylkautschuk gentliche Siegeszug des Kaugummis in den USA
(Isobutylen-Isopropen-Kautschuk, IIR) begann mit WILLIAM WRIGLEY JR. (1861 – 1932),
Wrigley‘s Spearmintt ist eine bis heute bekannte
Im Zweiten Weltkrieg kam ein neuer synthe- Kaugummisorte. 1928 schuf WALTER E. DIEMER Kauen und Denken
tischer Kautschuk auf den Markt: Butylkaut- (1904 – 1998) durch Zugabe von Farbstoffen ei- Das Kauen von Kaugummi
soll einer Studie zufolge
schuk. Er bildet ein Co-Polymerisat aus dem nen elastischeren Kaugummi, den Bubble-Gum, das Konzentrationsvermö-
gasförmigen Isobuten (C4H8) und dem flüssigen mit dem sich Blasen erzeugen lassen. Nach 1945 gen und die Leistungsfä-
Isopren (C5H8). Butylkautschuk wird durch ka- machten amerikanische Soldaten Kaugummi higkeit steigern, weil die
anhaltende Tätigkeit des
tionische Polymerisation (ÅRandspalte) erzeugt. in Deutschland bekannt. Heute bilden Styrol-
Kauapparates die Blutzu-
Zur Vernetzung werden nur etwa 2 – 5 Prozent Butadien-Kautschuk, Butylkautschuk und vor fuhr zum Gehirn um bis zu
der im Polyisopren vorhandenen Doppelbin- allem Polyisobutylen die Kaumasse, der Süß- 25 Prozent erhöht. Leider
untersuchten die Autoren
dungen benötigt. Deshalb kann dieses Polymer stoffe und Füllstoffe wie Aluminiumoxid oder
der Studie nicht gleich-
durch 95 Prozent Isobutyl ersetzt werden, wel- Zellulose zugesetzt werden, nebst einer Reihe zeitig die Intelligenz von
ches nach der Polymerisation über keine resul- weiterer Substanzen. Kühen.

305
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe

Selbstheilende Werkstoffe durchzogen, in denen sich die Reaktionsflüssig-


keiten befinden. Bei einer Beschädigung brechen
Viele Werkstoffe sind organischem Gewebe weit diese Röhrchen und die einsetzende Polymeri-
überlegen. Sie sind härter, belastbarer, hitzefester, sation verschließt die Schadstelle wieder. Ein
resistent gegenüber agressiven Chemikalien und wesentlicher Vorteil des Kanalsystems besteht
so weiter. In einem Punkt jedoch ist lebendes darin, dass die Röhrchen nach der Herstellung
Gewebe bisher unerreicht: in seiner Fähigkeit gefüllt werden können, und dies mehrmals, so
zur Selbstheilung. Kleine Hautverletzungen – dass mehrfache Beschädigungen der gleichen
von uns oft kaum bemerkt – heilen innerhalb Stelle repariert werden können. Mehr als 40
weniger Tage und Lebewesen wie manche Stru- aufeinanderfolgende Reparaturen wurden be-
5-133 delwürmer sind in der Lage, sich aus Bruchstü- reits demonstriert. Ein Nachteil des Kanalsys-
Kapselsystem. Durch einen cken ihrer selbst neu zu erschaffen. Wäre es nicht tems ist der komplexere Herstellungsprozess
Riss im Material platzen mit
Monomermolekülen (rot) wunderbar, wenn sich unsere Lieblingsvase von und die stärkere Beeinflussung der Materialei-
und Katalysator (blau) ge- selbst wieder zusammensetzen würde, nachdem genschaften. Relativ leicht ist die Anwendung
füllte Kapseln. Es kommt zur wir sie fallen ließen? in Schichtverbundwerkstoffen, dort kann das
Polymerisation und der Riss
wird aufgefüllt.
Eine Vase, die sich aus ihren Scherben selbst Kanalnetzwerk zwischen den Schichten eingela-
wieder zusammensetzt, mag noch Zukunftsmu- gert werden. Auch das Verweben mit den Ver-
sik sein, doch es ist heute bereits möglich, Werk- stärkungsfasern eines Faserverbundwerkstoffes
stoffe so zu gestalten, dass Schäden in gewissen wurde bereits erfolgreich angewandt.
Grenzen selbst heilen. Besonders geeignet hierfür Ein Nachteil beider Systeme ist die Tatsache,
sind Materialien, die strukturelle Ähnlichkeit mit dass der Heilungsprozess mit einer Volumen-
organischem Gewebe besitzen: Polymere und vergrößerung einhergeht, was bei Werkstücken
Verbundwerkstoffe. Aber auch selbstheilender meist nicht erwünscht ist. Sogenannte intrinsische
Beton ist möglich. Verfahren sind hier besser geeignet. Hier erfolgt
Derzeit werden drei Techniken für die Selbst- die Reparatur durch Substanzen im Basismaterial
heilung genutzt. Beim sogenannten Kapselsystem selbst, wobei in der Regel eine Aktivierung, z. B.
werden in das Material winzige Kapseln eingebet- durch Wärme oder UV-Licht, erforderlich ist.
tet. Sie enthalten Monomere, die auslaufen und So können sich Molekülketten wieder ineinan-
5-134
polymerisieren, sobald die Kapseln durch eine der verflechten oder neue Bindungen eingehen.
Kanalsystem. Im Kanalsy-
stem werden die Reaktions- Beschädigung brechen. Der erforderliche Kata- Im fertigen Beton eingelagerte Zementteilchen
flüssigkeiten in einem Netz- lysator ist im Material enthalten oder in anderen können bei einem Riss mit dem eindringenden
werk aus Kanälen geführt, Kapseln gespeichert. Das neu entstehende Poly- Wasser reagieren und durch Hydratation den Riss
die bei einem Riss brechen
und ihren Inhalt freisetzen.
mer verschließt die Schadstelle wieder. Ein Vorteil wieder verschließen (Å Kasten Zementchemische
des Kapselsystems ist das relativ einfache Herstel- Hydratation, Seite 246). Sogar die Einbettung
lungsverfahren. Die Kapseln lassen sich z. B. als mineralienbildender Bakteriensporen in den Be-
Öl-in-Wasser-Emulsion erzeugen (Å Emulsionen, ton ist möglich. Die Bakterien bilden nach dem
Seite 329) und in das geschmolzene Grundma- Eindringen von Wasser Mineralien, die den Riss
terial einrühren. Die kleinen Kugeln beeinflussen wieder verschließen. Da intrinsische Verfahren
die Werkstoffeigenschaften weniger als beim Ka- kein neues Material einbringen und der Wir-
nalsystem. Nachteilig ist, dass eine Beschädigung kungsradius molekularer Selbstheilung eher ge-
an einer Stelle nur einmal repariert werden kann. ring ist, können mit diesem Verfahren nur kleine
Im sogenannten Kanalsystem ist der Werk- Beschädigungen repariert werden.
stoff von einem Netzwerk winziger Röhrchen, Keines dieser Verfahren wurde bereits im in-
zum Beispiel aus 15 μm dünnen Glasfasern, dustriellen Maßstab eingesetzt. So ist noch offen,
ob sie sich im oft rauen Alltag, dem Werkstoffe
5-135 5-136 ausgesetzt sind, bewähren werden. Doch die
Intrinsisches System. Im Rissheilung. Ein intrinsisches System ist gut dafür geeignet, Verwendung selbstheilender Werkstoffe als Be-
Grundmaterial vorhandene schmale Risse in einem Material (A) ohne Volumenerhöhung
Moleküle (blau) ragen in zu schließen (B). Voraussetzung dafür ist, dass die Risse schichtungen im Korrosionsschutz liegt vielleicht
den Riss hinein und ver- nicht zu breit sind für intermolekulare Reaktionen über den nicht mehr fern. Hier sind die zu behebenden
binden sich neu mit den Spalt hinweg. Der hier dargestellte Ausschnitt ist etwa 30 μm Schäden oft klein, aber folgenreich, so dass der
Molekülen der gegenüber- breit. Für die Heilung von Rissen in Beton sollte die Rissbreite
liegenden Seite, z. B. über 60 μm nicht übersteigen. Einsatz selbstheilender Beschichtungen hohe
Wasserstoffbrücken. Kosteneinsparungen bedeuten kann. —
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

306
KAPITEL 6

Wasser
... und der flüssige Aggregatzustand

Flüssigkeiten, eine Materieform ohne Form


Wasser, das nasse Element
Stoffgemische, ein schönes Durcheinander
Öle, Fette und ihre Abkömmlinge
Alkohole, mehr als ein Genussmittel
Exotische Flüssigkeiten
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Zum sechsten Kapitel

„Wasser“ ist dieses Kapitel über Flüssigkeiten überschrieben. nämlich mit einigen anderen, etwa Glas, zu den sogenannten
Wohl zu Recht, und nicht nur als Hommage an die vier klas- amorphen Stoffen zusammenfassen. Wegen ihrer fehlenden
sischen Elemente. Ohne jeden Zweifel ist Wasser genau das, inneren Fernordnung stellt man sie der kristallinen Materie
was jedem von uns zunächst in den Sinn kommt, wenn es um gegenüber. Doch bleiben wir fürs Erste beim intuitiveren
Flüssigkeiten geht. Im Vergleich zu allen anderen flüssigen Begriff der Flüssigkeit.
Stoffen nimmt es in unserem Denken und Fühlen einen so Ist nun also Wasser „der“ Prototyp einer Flüssigkeit? Ja
prominenten Platz ein, dass alles andere als unbedeutende und nein. Unzweifelhaft ist seine Bedeutung für das Leben
Ausnahme daher kommt. Nach kurzem Nachdenken fällt uns auf der Erde so überwältigend, dass ihm ganz besonderer
weiteres ein: Flüssigkeiten wie Blut und Milch oder andere Raum in einem Kapitel über Flüssigkeiten gebührt. Aber ein
Getränke – Tee, Kaffee, Limonaden, Säfte, Bier oder Wein. Bei guter Prototyp ist Wasser keinesfalls. Gerade das Wasser un-
fast allem aber handelt es sich doch vorwiegend um Wasser, terscheidet sich nämlich bei genauerer Untersuchung in fast
dem einige gelöste Substanzen oder fein verteilte Beimengun- allen wichtigen Aspekten ganz und gar vom Gros der sons-
gen einen spezifischen Charakter verleihen. Wasser, wohin tigen Flüssigkeiten. Das macht es zu einem allgegenwärtigen
man auf der Erde auch schaut. Selbst Nebel und Wolken, die Exoten. Dieses scheinbar so einfache, harmlose „Element“
zu jeder Zeit mehr als die Hälfte der Erdoberfläche bedecken: wird seit Jahrhunderten intensiv untersucht und doch hat die
kondensierte Tröpfchen von Wasser. Wissenschaft es bis heute noch nicht annähernd vollständig
Aber was gibt es noch, außer Wasser und den vielen kom- verstanden. Damit ist reichlich Stoff vorhanden für Spekula-
plexen Flüssigkeiten, die zu einem wesentlichen Teil daraus tionen, die im Wasser besondere Gedächtnisfähigkeiten und
bestehen? Erst wirklich hochprozentiges wie Rum bringt uns mystische Eigenschaften verorten und die uns z. B. in Form
weiter. Da ist eine andere Flüssigkeit tonangebend und für den von Homöopathie und Bach-Blütenlehre begegnen. Aber
unmäßigen Konsumenten bald auch verhaltensbestimmend! auch für ernsthafte Wissenschaftler sind die ganz besonderen
Neben Alkohol (Ethanol) gibt es auch flüssige Lösungsmittel Strukturen des Wassers im Glas vor uns stets für eine Über-
wie Aceton, Pflanzenöl, Erdöl oder dessen Derivat Benzin. raschung gut. Zwischen den gut verstandenen Eigenschaften
Und sogar einige wenige „echte“ chemische Elemente, gibt es, des einzelnen Wassermoleküls und den resultierenden Ei-
die bei Zimmertemperatur in der flüssigen Phase vorliegen – genschaften des „Lebenselements“ Wasser liegen noch viele
Quecksilber und Brom. offene wissenschaftliche Fragen.
Grenzbereiche des flüssigen Zustands begegnen uns oft, In diesem Kapitel werden wir uns mit einigen dieser Zu-
ohne dass wir sie bemerken. So etwa extrem zähflüssige Stoffe sammenhänge beschäftigen. Darüber werden wir natürlich
oder solche mit Besonderheiten, wie sie bei sogenannten nicht die anderen flüssigen Stoffe vergessen und die Eigen-
Nicht-newtonschen Flüssigkeiten auftreten. Erweitern wir schaften, die feste und gasförmige Materie in den Grenzbe-
den Horizont über unseren angestammten Temperaturbereich reichen zum flüssigen Aggregatzustand zeigt.
hinaus zu ganz niedrigen und ganz hohen Temperaturen, so
treten zu diesen noch viele andere Exoten, die einen tieferen
Blick auf den flüssigen Materiezustand zu einer spannenden
Entdeckungsreise machen.
Bei entsprechender Abkühlung können gasförmige Ele-
mente wie Helium flüssig, ja sogar „superflüssig“ werden.
Nach Erhitzung gehen fast alle festen Stoffe, wie etwa Me-
talle, in Flüssigkeiten über. Selbst die zähen Magmen in der
Erde und die Lava, die wir an Vulkanen schließlich zu Gesicht
bekommen, haben manche Eigenschaften von Flüssigkeiten.
So viele Flüssigkeiten: Und doch, eigentlich gibt es diesen
Begriff offiziell schon gar nicht mehr. Wie wir noch sehen
werden, kann man die uns als flüssig geläufigen Substanzen
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Wasser

Flüssigkeiten mengehalten werden, die dennoch stark genug

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sind, die Teilchen nicht einfach wie bei Gasen
Eine Materieform ohne Form aufgrund der Wärmebewegung davonfliegen zu
lassen. Innerhalb des Flüssigkeitsvolumens kom-
Einleitend haben wir neben dem Wasser auch pensieren sich die Kräfte, welche die Nachbarn
schon eine Anzahl anderer Flüssigkeiten erwähnt. auf ein Teilchen im zeitlichen Mittel ausüben.
Natürlich deshalb, weil der flüssige Zustand In diesem Sinne sind Teilchen im Inneren einer
nicht stoffspezifisch ist, sondern abhängig von Flüssigkeit „frei“ beweglich.
Druck und Temperatur. Angesichts der verschie- Oft werden Flüssigkeiten als Aggregat-
denartigen Ausbildungen stellt sich die Frage, z ustand definiert, in dem Stoffe form-
welche gemeinsamen Eigenschaften Flüssigkei- unbeständig, aber volumenbeständig sind. Die-
ten eigentlich charakterisieren. Mit Flüssigkeiten selbe Flüssigkeit kann sich also in verschiedenen
verbinden wir normalerweise den Vorgang eines Gefäßen, sei es in einer Tasse oder einer langen
richtungsbezogenen Fließens und die Tatsache, Vase, an die jeweilige Form des Behältnisses an-
dass man davon unter Umständen nass werden passen. Dabei ändert sich das Volumen der Flüs-
kann. Doch für Wissenschaftler sind Flüssigkei- sigkeit nicht. Andererseits ist es bei Flüssigkeiten
ten gar nicht so leicht zu erklären. Im Gegensatz nicht wie bei Gasen möglich, sie so ohne Weiteres
zu den weit fortgeschrittenen Modellen für Fest- auf ein kleineres Volumen zusammen zu drücken.
stoffe und für die verhältnismäßig einfach zu Auf submikroskopischer Ebene bilden Flüs-
modellierenden Gase, konnte bisher kein umfas- sigkeiten eine kondensierte Materie aus frei ver-
sendes Modell für Merkmale und Eigenschaften schiebbaren Teilchen (Atomen bzw. Molekülen
aller Flüssigkeiten erarbeitet werden. oder Molekül-Cluster). Ein typisches Merkmal
Eine erste modellhafte Annäherung daran flüssiger Stoffe – mit Ausnahme flüssiger Me-
erklärt eine „ideale Flüssigkeit“ als Ansammlung talle – ist die fehlende Fernordnung ihrer Bau-
winziger Kügelchen, die von relativ schwachen steine. Nahordnung ist gleichwohl vorhanden
Anziehungskräften (Kohäsionskräften) zusam- (Å Nah- und Fernordnung, Seite 151). Man
weiß, dass sich die Teilchen in Flüssigkeiten ähn-
lich anordnen wie in Kristallen, aber häufig in
Form fünfeckiger Gebilde, die in der klassischen
Kristallographie gar nicht vorkommen (Å Abbil-
dung 6-3, Seite 310). Diese sind jedoch zeitlich
nicht stabil, sondern verändern sich innerhalb
weniger als einer Pikosekunde (1 ps = 10–12 s).
Teilchen können vibrieren, ihre Plätze tauschen
und aneinander vorbei gleiten. Dadurch ändern
sich – wie bei Gasen – ihre Abstände ständig. Die
Teilchenabstände in Flüssigkeiten sind aber im
zeitlichen Mittel nur wenig größer als bei Fest-
stoffen (ausgerechnet Wasser bildet da aber eine
6-1
Strukturmodell einer Flüssigkeit. Dichte Packung mit
gewisse Ausnahme, siehe unten). Es gibt kaum
kleinen Lücken. Flüssigkeiten erreichen fast die Teilchen- größere Freiräume zwischen den Bausteinen,
dichte von Feststoffen. Da jedoch die Anziehungskraft wohl aber kleinere Lücken. Man kann die Situ-
zwischen den Teilchen immer wieder durch die thermi-
ation vergleichen mit einem Gedränge in einem
sche Energie überwunden wird, bilden sich kleinere Zwi-
schenräume. Sie erlauben es den Teilchen, sich gegenein- Kaufhaus. Man kann sich in jede Richtung bewe-
ander zu bewegen. gen, kommt aber trotzdem nur langsam voran.

309
KAPITEL 6 Wasser

Weil nur sehr wenig Platz vorhanden ist, voll- fest flüssig gasf.
ziehen sich der Stofftransport und die Durchmi- Beweglichkeit nein ja ja
schung mit gelösten Bestandteilen (Å Diffusion Dichte hoch hoch niedrig
als Irrfahrt, Seite 404) im Vergleich zu Gasen Volumenkonstanz ja ja nein
relativ langsam. Wärmeleitfähigkeit hoch hoch niedrig

Strukturmodell einer Flüssigkeit 6-4


Vergleich. Typische Eigenschaften von Flüssigkeiten,
Aufgrund der Gedrängtheit der Teilchen sind Feststoffen und Gasen.
Flüssigkeiten nur wenig kompressibel. Nur in-
nerhalb des vorgegebenen Volumens sind die
Teilchen relativ frei beweglich. Da die Moleküle
durch allseitig wirkende, intermolekulare Ko-
häsionskräfte, z. B. durch Wasserstoffbrücken,
6-2 zusammengehalten werden, können nur wenige
Stoffe ohne Gestalt. Eine aus dem jeweiligen Volumen entweichen. Viele
Flüssigkeit verformt sich Flüssigkeiten wie Wasser, Alkohol oder Ether
leicht beim Kippen eines
Gefäßes (oben), hebt aber verdunsten allerdings bei Zimmertemperatur,
ein extremes Gewicht also unterhalb ihrer Siedetemperatur. Das hängt
(unten), da sie kaum kom- mit den unterschiedlichen kinetischen Energien
pressibel ist.
aller Teilchen innerhalb eines Volumens zusam-
men: Einige Teilchen mit höherer kinetischer
Energie bewegen sich deutlich schneller; ihnen
gelingt es, den Teilchenverband der Flüssigkeit 6-5
Ausreißer auf der Flucht. Die Temperatur geht mit der
zu verlassen. Indem sie ihre Energie mitnehmen, durchschnittlichen Geschwindigkeit der Teilchen einher.
entziehen sie diese dem System. Die zurückblei- Dabei sind jedoch aufgrund der ständigen Stöße nicht
bende Flüssigkeit besitzt dann weniger Energie alle Teilchen gleich schnell. Ihre Geschwindigkeiten
verteilen sich nach einer bestimmten Gesetzmäßigkeit,
und ist kühler. Da das System stets dem thermi- die als Maxwell-Boltzmann-Verteilung bezeichnet wird
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schen Gleichgewicht zustrebt, nimmt die Flüs- (ÅAbbildungen 9-10 und 9-11, Seite 401). Aus der
sigkeit Wärmeenergie aus der Umgebung auf. Form dieser Verteilung, die sich der waagerechten Achse
nur asymptotisch nähert, wird klar, dass stets einige der
Die Energiezufuhr beschleunigt wiederum einige Teilchen schnell genug sind, um die Flüssigkeit zu verlas-
Teilchen, und es wiederholt sich der obige Vor- sen, wenn sie sich gerade an der Oberfläche befinden.
gang so lange, bis alle Flüssigkeit verdunstet ist.
Die Bewegungsgeschwindigkeit von Teilchen
in Flüssigkeiten ist temperaturabhängig. Mit
steigender Temperatur bewegen sie sich schnel-
ler und benötigen dann etwas mehr Raum, die
Flüssigkeit dehnt sich aus.
Bei einem sommerlichen Spaziergang kann
man auf Wasserlachen oder auf Tümpeln kleine,
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

schlanke Insekten mit extrem langen Beinen be-


6-3 obachten, die mühelos auf dem Wasser laufen;
Fünfzählige Umgebungs- dabei handelt es sich um die „Wasserläufer“
symmetrien. In Flüssig-
(Gerris Lacustris), eine Wanzenart. Für diesen
keiten kommen kurzzeitig
existierende Nahordnun- Effekt ist die hohe Oberflächenspannung von
gen vor, die vorwiegend Wasser verantwortlich. Sie sorgt auch für den 6-6
fünfzählige Symmetrie- Wasserläufer. Wasserläufer (Gerridae) sind eine Familie
schwach gewölbten Flüssigkeitsberg (Meniskus)
achsen aufweisen. Ein der Wanzen. Mit Hilfe eines sehr feinen, lufthaltigen
bemerkenswerter Zufall: bei übervoll eingeschenkten Gläsern. Die Ober- Haarfilzes entgehen sie der Benetzung und können sich
Bereits im Altertum war flächenspannung ist eine Folge der Diskontinui- unter Nutzung der Oberflächenspannung in ruckartigen
dem Wasser als flüssigem tät der Kraftwirkungen an den Grenzflächen von Bewegungen und sogar Sprüngen sicher auf dem Wasser
Element der fünfzählig bewegen. Sehr schön zu sehen ist die Eindellung des
symmetrische Ikosaeder verschiedenen Stoffen oder Phasen (ÅKasten Wassers, dessen Oberfläche sich unter diesen Umständen
zugeordnet. Oberflächenspannung). — wie ein Gummituch verhält.

310
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Oberflächenspannung

Die Oberflächenspannung, auch Grenzflä- Wirkung entspricht einer elastischen Haut, die
chenspannung genannt, ist eine Eigenschaft sich desto stärker einer Kugelform annähert,
der Phasengrenze zwischen Festkörpern oder je stärker die Grenzflächenspannung wirkt. In
Flüssigkeiten hin zur umgebenden Gas- bzw. engen Gefäßen führt dies zur Ausbildung eines
Dampfphase. Besonders augenfällig wird sie Meniskus, also zu einer gewölbten Oberfläche
bei Flüssigkeiten, da diese als Fluide allen auf- auf einer Flüssigkeit. Die Oberflächenspannung
6-7
tretenden Kräften leicht nachgeben. Oberflä- wird als Kraft pro Längeneinheit definiert und Kräftediagramm zur
chenspannung wird durch zwischenmolekulare in der Einheit mN/m (10–3 Newton/Meter) Oberflächenspannung.
Anziehungskräfte (Kohäsionskräfte) verur- angegeben. Kohäsionskräfte auf ein
Molekül im Inneren einer
sacht. Im Inneren ist jedes Flüssigkeitsmolekül Wie stark die Oberflächenspannung ist, Flüssigkeit gleichen sich
rundum von anderen umgeben, deren Anzie- lässt sich an südamerikanischen Blattschnei- im zeitlichen Mittel aus.
hungskräfte sich im zeitlichen Mittel aufheben. derameisen zeigen: Diese gelten als Herkulesse Oberflächenmoleküle
jedoch unterliegen Wech-
An der Oberfläche hingegen grenzt ein Molekül unter den Ameisen, können sie doch ein Mehr- selwirkungen, die eine
nur seitlich und zum Flüssigkeitsinneren hin faches ihres Körpergewichts tragen. Wird ein resultierende Kraft ins
an Nachbarn – die anziehenden Kräfte sind solches Insekt von einem Regentropfen getrof- Flüssigkeitsvolumen hinein
ergeben (rot).
nicht ausgeglichen. Es verbleibt eine starke fen, der es einschließt, so bedeutet das seinen
Kraft, die versucht, das Molekül ins Innere sicheren Tod. Trotz ihrer Kräfte vermag die
zu ziehen (Å Abbildung 6-7). Den Zustand Blattschneiderameise wegen der starken Ober-
minimaler Energie erreicht eine Flüssigkeit, flächenspannung nicht die Haut des Tropfens
wenn sie diese Kräfte minimiert, ihre Oberflä- zu durchstoßen und sich aus dem Gefängnis
che also so weit wie möglich verkleinert. Die zu befreien.

Rheologie – Alles fließt Newtonsche Flüssigkeiten

Bei fließfähigen Stoffen unterscheidet man New- Newtonsche Flüssigkeiten sind solche mit ge-
tonsche und Nicht-newtonsche Flüssigkeiten. ringer Viskosität, die dem von ISAAC NEWTON
Ihr Fließverhalten (rheologisches Verhalten, von formulierten Gesetz folgen, nach dem zwischen
griechisch rhei, fließen) hängt von den Wech- Schergeschwindigkeit und Schubspannung ein
selwirkungskräften zwischen ihren Teilchen ab linearer Zusammenhang besteht. Die dynamische
(Å Das Einmaleins der Werkstoffeigenschaften, Viskosität η ist dabei konstant. Daraus ergibt sich
Seite 174). Diese prägen die innere Reibung ein parabolisches Geschwindigkeitsprofil bei Strö-
der Flüssigkeit und damit deren Zähigkeit oder mungen durch Röhren. Solche Flüssigkeiten be-
Viskosität. Die sogenannte dynamische Viskosität sitzen keine Fließgrenze. Sobald sie einer äußeren
η bestimmt, wie das Geschwindigkeitsprofil in ei- Kraft ausgesetzt werden, beginnen sie zu fließen,
ner Flüssigkeit verläuft, wenn an ihrer Oberfläche oft schon infolge ihrer eigenen Gewichtskraft.
eine Schubspannung wirkt, also eine Kraft längs Sie erleiden einen linearen Druckabfall in Fließ-
der Oberfläche (ÅAbbildung 6-8, Seite 312). richtung. Wichtige Newtonsche Fluide sind Gase,
Auf Wasser gehen.
Die Änderung der Geschwindigkeit in Abhän- Öle, Alkohole, Benzin, Quecksilber und Wasser. Mischt man in einem fla-
gigkeit vom Abstand zur Oberfläche wird als chen Behälter Maisstärke
mit Wasser, so verwandelt
Schergeschwindigkeit oder Schergefälle bezeich- Nicht-newtonsche Flüssigkeiten sich dieses in eine Nicht-
net. Sie ist gleichzeitig ein Maß für das Ausmaß newtonsche Flüssigkeit
der Deformation der Flüssigkeit längs des Quer- r Nicht-newtonsche Flüssigkeiten zeichnen sich mit dilatantem Fließ-
schnitts. Die Viskosität wird meist in der Einheit durch eine mittlere bis hohe, nichtlineare und verhalten.Nun kann ein
Mensch schnell darüber
Millipascalsekunde (mPa·s = 1000 · N · s · m–2) an- zeitabhängige Viskosität aus. Diese ist nicht kon- laufen, ohne einzusinken,
gegeben. Auch die Einheit Poise (P = 0,1 Pa · s) stant, sondern abhängig von der Scherspannung weil sich die Flüssigkeit
ist gebräuchlich. Die sogenannte kinematische und von Deformationen. Deshalb zeigen sie ein unter Druck kurzzeitig
verfestigt. Bleibt er stehen,
Viskosität ist das Verhältnis von dynamischer nicht-parabolisches Geschwindigkeitsprofil. Flüs- sinkt er aufgrund seines
Viskosität zur Dichte der Flüssigkeit. sigkeiten dieser Gruppe besitzen eine unscharfe Gewichts ein.

3 11
KAPITEL 6 Wasser

6-8
Viskosität. Ein zwischen einer bewegten und einer unbe-
wegten Platte liegendes Fluid erfährt durch Reibung an
der bewegten Platte eine Schubspannung τ0 . Durch die
innere Reibung in der Flüssigkeit entsteht auch zwischen
Flüssigkeitsschichten eine Schubspannung, die tieferlie-
gende Bereiche der Flüssigkeit in Bewegung versetzt. Die
Fließgeschwindigkeit v sinkt jedoch mit dem Abstand zur
bewegten Platte und wird null an der ruhenden. Ihre Än-
derung in Abhängigkeit vom Abstand wird Scherge-
schwindigkeit oder Schergefälle genannt. In Newton-
schen Flüssigkeiten ist die Schubspannung τ proportional
zum Schergefälle, die Proportionalitätskonstante ist die
dynamische Viskosität η. Dies führt zu einem paraboli-
schen Verlauf des Geschwindigkeitsprofils in der Flüssig-
keit. Bei Nicht-newtonschen Fluiden ist η nicht konstant,
sondern hängt nichtlinear von der Fließgeschwindigkeit
und der Deformation der Flüssigkeitsschichten ab.

oder gar keine Fließgrenze und zeigen ein stark proportionalen Zunahme der Viskosität. Bei
temperaturabhängiges Fließverhalten. Nach ih- der Scherung tritt eine Volumenzunahme, also
rem Fließverhalten lassen sich Nicht-newtonsche eine Dilatation ein. Typische Vertreter dilatan-
Flüssigkeiten in vier Untergruppen einteilen ter Flüssigkeiten sind Farben, Druckerschwärze
(ÅAbbildung 6-9). oder Blut. Vermischt man unter Umrühren Mais-
Bei Flüssigkeiten mit strukturviskosem oder stärke mit etwas Wasser, so entsteht daraus ein
pseudoplastischem Fließverhalten) nimmt mit zäher Brei. Unter Druck verfestigt sich die Masse
steigender Schergeschwindigkeit die Viskosität wieder. Technisch zählen dazu neue Werkstoffe
ab, weil innere Strukturen zusammenbrechen wie bestimmte Polymerdispersionen (ÅAus dem
und die Flüssigkeitsmoleküle sich zur Strömung Leben der Beuteltiere, Seite 291).
einregeln. Dadurch werden die Stoffe fließfähi- Viskoelastisches Fließverhalten zeigen Sub-
6-9
ger, weil einzelne Fließschichten leichter aneinan- stanzen, die rheologisch zwischen Feststoffen
Klassifikation von Flüssig- der vorbeigleiten können. Typische strukturvis- und Flüssigkeiten stehen und sich sowohl wie
keiten. Flüssigkeiten lassen kose Stoffe sind Polymerschmelzen, Mayonnaise elastische Feststoffe als auch wie viskose Flüssig-
sich anhand des Verhält-
nisses von Scherspannung
oder Klebstoffe. keiten verhalten. Unter Scherbeanspruchung wer-
zu Schergeschwindigkeit (Visko)plastisches Fließverhalten zeigen Flüs- den sie Flüssigkeiten und beginnen zu kriechen.
klassifizieren: sigkeiten, die sich unterhalb einer bestimmten Sobald der Schervorgang beendet ist, nimmt die
Schubspannung wie Feststoffe verhalten, beim Spannung ab, und die Stoffe kehren nach einer
1: dilatantes Fließverhalten
Überschreiten dieser sogenannten Fließgrenze gewissen Zeit in den Grundzustand zurück. (Re-
2: pseudoplastisches Fließ- aber wie eine Flüssigkeit. Verhalten sie sich laxation). Besonders pharmazeutische und kos-
verhalten oberhalb der Fließgrenze wie eine Newtonsche metische Gele zeigen Kriechen und Relaxation.
3: viskoelastisches Fließ- Flüssigkeit, nennt man sie Bingham-Fluide. Dazu Dieser erste Überblick lässt die ganze Spann-
verhalten gehören Zahnpasta oder Ketchup. Erstere wird breite des Verhaltens von Flüssigkeiten erahnen.
flüssig, wenn man genügend Druck auf die Tube Doch beschäftigen wir uns zunächst mit dem
4: Bingham-Fluide
ausübt. Sinkt die Viskosität mit steigender Scher- Nächstliegenden, dem Wasser.
5: Casson-plastisches Fluid geschwindigkeit, spricht man auch von Casson- Antike Philosophen stuften Wasser als eines
(z. B. Schokolade) plastischen Fluiden (z. B. Schokolade). der vier Elemente ein, für THALES von Milet war
Dilatantes Fließverhalten findet man insbe- es der Urstoff schlechthin (Å Wasser und Luft –
sondere bei Suspensionen mit hohem Feststoff- Thales und Anaximenes, Seite 31). Aufgrund
anteil, d. h. eng gepackten, dispersen Substanzen. des alltäglichen Umgangs glaubt man eine ganz
Steigende Schubspannung, also wachsende tan- einfache Flüssigkeit vor sich zu haben. Dem ist
gentiale Krafteinwirkung, führt zu einer über- aber bei Weitem nicht so! —
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6-10
Silly Putty. Eine typische Nicht-newtonsche Flüssigkeit.
Bei kurzer, stoßartiger Belastung reagiert das Material
völlig elastisch und prallt bei einem Wurf wie ein Gum-
miball zurück. Auf Zeitskalen von Minuten und Stunden
verhält es sich dagegen wie eine Flüssigkeit und läuft
auf einer Unterlage auseinander (Bilder: Abstände von
jeweils 10 Minuten).

312
Erde,, Wa
Wasssser, Luft und Feuer

Wasser Wassermoleküle an Moleküle derr


Hautoberfläche heften. Wasser hat
Das nasse Element die Haut benetzt, unter Bildung
von netzartigen Strukturen fließt
Durch das Glas Mineralwasser auf dem Garten- es ab. Doch bald spürt man an
tisch sehe ich hindurch. Oder eigentlich doch den Fingern eine zunehmende Ab-
nicht ganz. Die Dinge dahinter wirken eigenartig kühlung. Das hängt mit der ÅVer-
verzerrt und schwer zuzuordnen. Gasbläschen dunstung (Seite 318) des Wassers
bilden sich scheinbar aus dem Nichts am Boden zusammen. Physiker bezeichnen diee-
des Glases und perlen in langen Ketten hoch. sen Vorgang als adiabatische Kühlung.
Oben bilden sie kleine Kuppeln und platzen „Nass“ ist offensichtlich keine Eigen-
schließlich. Am Rand scheint sich die Wasser- schaft, sondern eine Empfindung, bei der
fläche ein wenig am Glas hoch zu ziehen. Der Berührung und Kühle gemeinsam auftre-
Strohhalm, der darin steckt, wirkt wie abge- ten. Wenn man als Kind beim Plantschen im
knickt, wo er in die Flüssigkeit eintaucht. Das Wasser die Empfindung „nass“ in Kombination
Sonnenlicht, das durch das Glas fällt, zeichnet mit Wasser verinnerlicht hat, so verbindet man
helle Kurven und Farben des Regenbogens auf einen Wasserfleck auf dem Tisch, ein frisch aus
die weiße Tischdecke. Ich trinke davon, und der Waschmaschine entnommenes Wäschestück,
es fühlt sich kühl an, obwohl es nicht aus dem eine Pfütze mit dieser Empfindung. Wasser an
Kühlschrank kommt. sich ist nicht nass!! Ein nasses Hemd bedeutet,

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


Was sagen uns diese und andere einfache dass es vollständig mit Wasser benetzt ist. Üb-
Beobachtungen über Wasser? rigens kann man technisch auch sog s enanntes
Das scheinbar so harmlose, einfache „Ele- „trockenes“ Wasser herstellen. Das seit 1968 in
ment“ wird seit Jahrhunderten intensiv unter- der Kosmetikindustrie bekannte Pulve
v r fühlt sich
sucht, aber bis heute haben die Wissenschaftler trocken an, obwohl es zu 95 Prozent aus Wasser
seine Struktur nicht annähernd vollständig ver- besteht. Mikrometergroße Wasserkü-
standen. Dieser Umstand nährt Spekulationen, gelchen sind dabei mit einer extrem
die im Wasser besondere Gedächtnisfähigkeiten dünnen Silikatschicht überzogen.
oder mystische Eigenschaften vermuten, die uns Das Material könnte sich zukünftig
dann u. a.in der Homöopathie als Thesen ange- wegen seiner großen Oberfläche zum m
boten werden. Gasaustauch für die Speicherung von Erd-
Wasser wird umgangssprachlich oft als das gas in Form von Methanhydrat (ÅAbbildung
„nasse Element“ bezeichnet, mit ihm verbindet 7-28, Seite 379) eignen.
man Nässe als eine wesentliche Eigenschaft.
Doch beim Versuch, jemandem zu erklären,
warum Wasser nass ist, kommt man in Erklä- Die Erde, ein Wasserplanet
rungsnot. Am besten lässt sich die Empfindung
Nässe nachvollziehen, wenn man Finger in ein Obwohl die Erde von den Astronomen zu den
Behältnis mit Wasser taucht. Dann hat man zum inneren Gesteinsplaneten unseres Sonnensystems
einen den Eindruck, dass sich das Wasser um die gerechnet wird, kann man sie mit gutem Recht
Finger herum bewegt; zum anderen fühlt sich die als Planeten des Wassers bezeichnen: Wasser
Flüssigkeit kühl an. Zieht man die Finger aus ist der häufigste Stoff auf der Erdoberfläche
dem Wasser, so sind sie mit einem Wasserfilm – Wasser, wohin man schaut. Es ist die Grund-
überzogen. Er haftet dort, weil sich die polaren voraussetzung für die Entfaltung des Lebens auf

Wasser nahe der


Menge [km3] Anteil [%]
Erdoberfläche

Weltmeere 1 348 000 000 97,39

Polareis, Meereis,
27 820 000 2,01
Gletscher

Grundwasser,
8 062 000 0,58
Bodenfeuchte

Seen und Flüsse 225 000 0,02 3 13


Atmosphäre 13 000 0,001
KAPITEL 6 Wasser

unserem Planeten. Es ist in allen Teilsphären der physiologischen Prozesse im wässrigen Milieu
Geosphäre, in großen Speichern sowie in allen ablaufen.
Lebewesen vorhanden. Etwa 70 Prozent der Nach den bisherigen Kenntnissen ist das Vor-
r
Erdoberfläche sind wasserbedeckt. Wasser hat handensein von flüssigem Wasser die ausschlag-
sich in riesigen Speicherbecken, den Ozeanen, gebende Voraussetzung für das Leben auf Erden.
angesammelt, die auch als „Endlager“ für gelö- Der Frage, wie und woher die Wassermengen
ste Mineralstoffe dienen. Kleinere, aber für die auf die Erde kamen, werden wir in ÅKapitel 11
6-11 menschliche Wasserversorgung bedeutendere nachgehen.
Die Wasserhalbkugel. Reservoire sind die zahllosen Flüsse und Seen
Aus einem bestimmten auf dem Festland.
Blickwinkel erscheint die
Matrix des Lebens
Erde als nahezu vollstän-
Doch Wasser ist ebenso in teils unsichtbaren
dig mit Wasser bedeckt. Reservoiren angereichert. In der Atmosphäre Wasser ist quasi die Matrix des Lebens. Alle
sind in Wolken und Nebel, die zu jeder Zeit physiologischen Prozesse auf der Erde laufen im
mehr als die Hälfte den Himmel bedecken, kon- wässrigen Milieu ab. Fast alle Zellen der höhe-
densierte Wassertröpfchen verborgen. Noch grö- ren Lebewesen bestehen zu 70 – 90 Prozent aus
Täglicher Wasserbe- 2,5 – 3,0 ßer ist die unsichtbare Wassermenge unter der Wasser. Der menschliche Körper enthält je nach
darf des Menschen Liter
Erdoberfläche, d. h. in der Lithosphäre und im Alter 55 – 78 Gewichtsprozent Wasser; der Was-
Aufnahme Erdmantel (Å Schalenbau der Erde, Seite 224). sergehalt reicht von 5 Prozent in den Zähnen bis
Grundwasserströme fließen im Boden und in 93,3 Prozent in Blut und Lymphe.
Nahrung 1,0 Liter tieferen Sedimentschichten. Wasser ist auch an Auch Pflanzen sind großenteils „Wasserge-
Boden- bzw. Sedimentpartikel gebunden, sowie bilde“. Vergleicht man frische Wiesenpflanzen,
Getränke 1,2 Liter
an Minerale und Gesteine. So enthalten z. B. im die zu 70 – 80 Gewichtsprozent aus Wasser be-
Oxidationsprodukt
0,3 Liter Meer gebildete Magmatite ca. 3 Gewichtspro- stehen, mit bis zwei Tage altem Heu, so erkennt
des Stoffwechsels
zent Wasser. Selbst im tieferen Erdmantel wird man rasch an den verdorrten und zusammenge-
Abgabe Wasser mit einem Anteil von ca. 0,2 Gewichts- schrumpelten Pflanzenresten die Rolle des Was-
prozent vermutet, was aufgrund der enormen sers. Weitere Beispiele sind Wassermelonen mit
Harn 1,5 Liter Masse des Mantels die zweifache Wassermenge einem Wassergehalt von 93 Gewichtsprozent,
aller Ozeane bedeuten würde. Kürbisse, Rhabarber oder Kopfsalat von 95 Ge-
Schweiß 0,6 Liter
Das Oberflächenwasser auf dem Festland ist wichtsprozent und Gurken von 96 Gewichtspro-
Atemluft 0,3 Liter ungleichmäßig verteilt: Ausgedehnten wasser- zent. Angesichts des geringen Massenanteils von
armen Wüstenregionen stehen Landstriche mit nur 0,88 Prozent des Wasserstoffs am Aufbau der
Kot 0,1 Liter einem Wasserüberangebot gegenüber. Der Welt- Erde ist diese Verbreitung eigentlich erstaunlich,
gesundheitsorganisation zufolge gelten 1000 m3 zieht man jedoch den Stoffanteil von Wasserstoff
(1 Million Liter) Wasser pro Kopf und Jahr als (15,4 %) und Sauerstoff (55,1 %) an der Erdkru-
Minimum für eine ausreichende Versorgung. ste in Betracht (ÅTabelle 5-5, Seite 226), so
In Deutschland besteht ein Bedarf von ca. 150 l wird die Bedeutung des Wassers klar.
Trinkwasser pro Kopf und Tag.
Dass sich die Süßwassermenge auf dem Fest-
land trotz des Wasserverbrauchs von 3000 km3 Das Wassermolekül
pro Tag kaum vermindert, liegt am Wasser-
kreislauf: Jährlich verdunsten ca. 430 000 km3 Das Wassermolekül zählt zu den n am
reines Wasser über den Ozeanen (das Salz bleibt beste n u n te r suc h te n M o l e k ü
üle n
zurück) sowie 70 000 km3 über dem Festland, überhaupt. Aber zwischen den Ei- E
also insgesamt 500 000 km3. Als Niederschlag genschaften des einzelnen Wasser--
fallen ca. 390 000 km3 über den Meeren und moleküls und den Eigenschaf-
110 000 km3 über dem Festland. ten des Molekülnetzes Wasser
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Auch im menschlichen Körper findet ein liegen Welten. Betrachten wir


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„lokaler“ Wasserkreislauf statt: Ein Erwach- zunächst das Wassermolekül genauer. er.
sener benötigt ca. 2,5 – 3,0 l Wasser pro Tag. Seine S ummenformel lautet
Bereits bei einem Wasserverlust von 0,5 Prozent H2O, es setzt sich also aus zwei
des Körpergewichts stellt sich ein Durstgefühl Wasserstoffatomen und einem
ein. Der Körper bedarf des Wassers, da alle Sauerstoffatom zusammen. Es

314
Erde, Wasser, Luft und Feuer

„Water is composed of two gins, oxygin and hydrogin. Oxygin is pure gin. Hydrogin is gin

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and water.“

(Angebliches Zitat eines 11-jährigen Schülers aus einer Prüfungsarbeit)

ist das häufigste Molekül auf der Erde mit ei- von 0 – 100 °C flüssig ist. Da jedes Sauerstoff-
ner festgelegten Geometrie in Form eines weit atom an der Spitze eines tetraedrischen Netz-
geöffneten V. Aufgrund seiner hohen Bildungs- werks von Bindungen sitzt, ist Wasser wesentli-
enthalpie von 286 kJ · mol–1 ist es sehr stabil. Für cher stärker strukturiert als die meisten anderen
eine thermische Wasserspaltung ist eine Tempe- Flüssigkeiten.
ratur von mehr 2500 °C nötig. Mit elektrischem 6-13
Strom gelingt die Spaltung von Wasser wesent- Elektrolyse. Sauerstoff
Wasser – keine normale Flüssigkeit und Wasserstoff entstehen
lich leichter. Erhöht man die Leitfähigkeit durch im Volumenverhältnis 1:2.
geringen Zusatz eines Salzes oder einer Säure, so Begleiten Sie uns nun anhand von Beispielen
genügt eine Spannung von wenigen Volt, um es aus dem Alltagsleben und -erleben durch die
in seine Bestandteile zu zerlegen (Elektrolyse). geheimnisvolle Welt des Wassers.
Zwischen den Wasserstoffatomen und dem Reinstes Wasser ist eine geschmack- und
Sauerstoffatom besteht jeweils eine kovalente
valente geruchlo
geruchlose Flüssigkeit, die Licht verstärkt
Bindung mit einem Bindungswinkel von ca. im roteen und im infraroten Bereich absor-
104,45° (ÅTeilchen finden zusammen, biert. Deshalb erscheint es bei dicke-
Seite 144). Die hohe Elektronegativi- rren Schichten blau schimmernd und
tät des Sauerstoffatoms (3,44) gegen- wird dementsprechend auf Karten
über der des Wasserstoffatoms (2,2) sstets in blauen Farbtönen wiederge-
bewirkt, dass die Elektronen der Wasserstoff- geben. Doch in der Natur kommt Reinstwasser

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atome stark vom Sauerstoffatom angezogen nie vor, es führt immer einige gelöste Stoffe,
werden. Die Differenz der Elektronegativitäten bekannt sind die so genannten Mineralwässer.
verleiht der kovalenten Bindung einen partiellen Deshalb müsste man natürliches Wasser eigent-
Ionen-Charakter. Aufgrund der Ladungsvertei- lich als Lösung bezeichnen (Å Lösungen, Seite
lung ist das Wassermolekül ein recht starker, 326). Reinstes Wasser wird in Labors erzeugt
permanenter elektrischer Dipol und damit ein und als destilliertes Wasser angeboten.
polares Molekül (Å Abbildung 6-14). Zwischen Wasser ist alles andere als eine normale
6-14
zwei Dipolen ist aufgrund der Teilladungen eine Flüssigkeit, vielmehr ist es ein allgegenwärtiger Dipol. Die elektrische
elektrostatische Anziehung, die Dipol-Dipol- Exot. Inzwischen kennen Wissenschaftler über Ladung ist im Wassermo-
Kraft, wirksam. Daraus resultieren einige be- sechzig Anomalien gegenüber normalen Flüs- lekül ungleich verteilt, es
wirkt nach außen als Dipol
sondere Eigenschaften des Wassers, von denen sigkeiten (Å Randspalte, Seite 316). Die Ab- mit positiven (δ+) und
wir einige in den folgenden Abschnitten kennen normitäten des Wassers ermöglichen überhaupt negativen (δ-) Ladungs-
lernen werden. das Leben auf der Erde. Die meisten von ihnen zentren.
Die polaren Wassermoleküle können unter- haben ihre Ursache in der Art und Weise, wie
einander wechselwirken, jedes Molekül kann Wassermoleküle miteinander wechselwirken.
Wasserstoffbrückenbindungen mit bis zu vier Flüssiges Wasser bildet ein ungeordne-
Nachbarn eingehen. Die Wasserstoffbrücken tes Netzwerk von Molekülen, das durch die
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bestimmen maßgeblich spezifische Eigenschaften schwachen Bindungen der Wasserstoffbrücken


des Wassers wie dessen Dichte, Wärmekapazität zusammengehalten wird. Doch die Anordnung
und -leitfähigkeit, sowie seine Eigenschaften als der Wassermoleküle und ihre Wechselwirkungen
Lösungsmittel. Sie sind auch dafür verantwort- ändern sich ständig: Wasserstoffbrücken werden
lich, dass Wasser trotz seiner geringen Molmasse laufend gebrochen und wieder neu geformt, und
von 18,01528 g · mol–1 im Temperaturbereich zwar innerhalb von wenigen Femtosekunden.
6-12 6-15
Elektronegativitätsunterschied. Die starke Polarität von Wasserstoffbrücken.
Wasser erklärt sich aus den Elektronegativitäten seiner Mit ihrer Polarität bilden
Atome und aus dem Bindungswinkel, der von 180° ab- Wassermoleküle ausge-
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weicht. Für die Definition der Elektronegativität gibt es dehnte Wasserstoff-


mehrere Möglichkeiten. Die Elektronegativität nach PAU- brücken.
LING stellt deren Differenzen in den Mitttelpunkt.

3 15
KAPITEL 6 Wasser

Einige Anomalien des Vom Nebel zum Eis Auch die aus unserer Sicht „günstige“ Lage
Wassers.
Man kennt heute über
des Tripelpunkts von Wasser ist eine Folge der
sechzig Anomalien des Wasser ist die einzige Flüssigkeit, die in der Wasserstoffbrücken. Am Tripelpunkt befinden
Wassers gegegüber dem Natur gleichzeitig in nennenswerten Mengen sich alle drei Zustände des Wassers im Gleich-
Verhalten von Stoffen ver-
in allen drei Aggregatzuständen vorkommt. Ein gewicht. Dieses wird durch gleichzeitige Bil-
gleichbarer Molekülgröße.
Sie sind vor allem eine Wanderer kann in den Bergen an regnerischen, dung von Wasserdampf mittels Sublimation und
Folge der polaren Natur wolkenverhangenen Tagen an Gletschertoren Verdunstung, durch Kondensation von Wasser-
und der Struktur der Was- alle drei Zustandsformen des Wassers beobach- dampf zu Wasser und durch Gefrieren von Was-
sermoleküle.
ten: Aus einer torähnlichen Öffnung ergießt sich ser zu Eis aufrechterhalten. Ändern sich Druck
Dichteanomalie klares, kaltes Wasser in einen schnell fließenden oder Temperatur, so erhöht sich der Anteil einer
Eis bei 0 °C ist weniger Bach. Darüber türmt sich „festes Wasser“ in Phase auf Kosten der beiden anderen, ohne dass
dicht als Wasser bei 4 °C.
Form des Gletschereises auf; in der Luft und in diese bei den Druck- und Temperaturverhältnis-
Hoher Schmelz- und Sie- den Wolken darüber ist auch der gasförmige Zu- sen auf der Erde völlig verschwinden. Deshalb ist
depunkt stand des Wassers vorhanden. Generell hängt der Wasser stets in allen drei Zuständen in größeren
Wasser hat für seine Mol-
masse einen sehr hohen Aggregatzustand von der Temperatur und dem Mengen vorhanden.
Schmelz- bzw. Siede- Druck ab. Dieser Zusammenhang wird in Form
punkt; ein Glück für das eines Phasendiagramms dargestellt. Auch einige
Leben auf der Erde.
Verdampfen
der besonderen Eigenschaften des Wassers lassen
Feste Modifikationen sich anhand seines Phasendiagramms erklären. Wasserdampf gehört zu den Alltagserfahrungen.
Wasser hat mehr feste Das Phasendiagramm des Wassers (ÅPha- Umgangssprachlich werden damit die sichtbaren
Modifikationen (Eis) als
sen und Phasenübergang, Seite 166) weicht Dampfschwaden des schon wieder kondensierten
jeder andere bekannte
Stoff. deutlich von dem anderer Flüssigkeiten ab. Die Wasserdampfs über einem Teekessel bezeichnet,
Schmelzdruckkurve, also die Grenze zwischen Naturwissenschaftler verstehen darunter aber
Druckaufschmelzung
Eis und Wasser, verläuft nach links oben und den unsichtbaren Anteil von gasförmigem Was-
Aufgrund der Struktur des
Phasendiagramms sinkt nicht nach rechts oben, sie weist also eine ne- ser in der Atmosphäre (ÅKapitel 7, Seite 359).
bei Druckerhöhung der gative Steigung auf (ÅAbbildung 6-16). Daher Im Sommer stöhnen wir über die schweißtrei-
Schmelzpunkt des Was- bleibt Wasser oberhalb des Tripelpunkts auch benden, Wasserdampf gesättigten Luftmassen
sers, weshalb Gletscher
auf einem Wasserfilm glei- bei hohem Druck flüssig. Die negative Steigung aus dem Süden, die auf ihrem Weg zu uns den
ten können. der Kurve ist eine Folge der Tatsache, dass Eis Atlantik oder das Mittelmeer überquert haben.
eine geringere Dichte besitzt als Wasser. Wasser Feuchte Luft führt bis zu vier Volumenprozent
Wärmekapazität
Wasser hat eine unge- erreicht seine maximale Dichte (und damit das Wasserdampf, abhängig von der Temperatur.
wöhnlich hohe spezifische kleinste Volumen) bei einer Temperatur von Wie viele Wassermoleküle sich in der Luft über
Wärmekapazität. Sie ist im 3,98 °C, darunter beginnt die Dichte wieder einer Wasseroberfläche befinden, hängt von der
flüssigen Zustand zudem
doppelt so hoch wie im
zu sinken. Eisberge schwimmen aufgrund der jeweiligen Verdunstungs- und Kondensations-
festen oder gasförmigen. geringeren Dichte des Eises, und Gletscher „flie- rate ab. Solange sich an Druck und Temperatur
ßen“, weil sich an ihrer Unterseite durch den nichts ändert, befindet sich das System Wasser-
Oberflächenspannung
Wasser hat eine unge-
hohen Druck das Eis verflüssigt. Für die Fische Luft in einem Gleichgewichtszustand (ÅKasten
wöhnlich hohe Oberflä- in Seen ist dieses atypische Verhalten im Winter Dampfdruck und Luftfeuchtigkeit).
chenspannung. lebensrettend. Da kaltes Wasser nach oben steigt Eine alltägliche Form der Verdampfung kann
und gefriert, bleibt meist am Grund des Sees das man beim Aufbereiten von Heißgetränken beob-
Viskosität
Wasser hat im Vergleich Wasser flüssig (ÅAbbildung 6-22, Seite 322). achten. Dabei wird Wasser mittels Wärmezufuhr
zu anderen niedermole- Diese sogenannte Dichteanomalie des Was- zum Kochen gebracht, damit sich die im Tee
kularen Flüssigkeiten wie sers ist vor allem eine Folge der polaren Natur oder Kaffee enthaltenen Stoffe besser lösen kön-
Alkohol eine sehr hohe
Viskosität. des Wassermoleküls und dessen Fähigkeit, Was- nen. Reines Wasser kocht, sobald der Dampf-
serstoffbrücken zu bilden. Im festen Zustand druck größer oder gleich dem Umgebungsdruck
Schallgeschwindigkeit verhindert die polare Ladungsverteilung der ist, also immer entlang der Dampfdruckkurve
Die Schallgeschwindigkeit
in Wasser steigt mit der Wassermoleküle ein dichtes Zusammenrücken im Phasendiagramm. Unter Normalverhältnis-
Temperatur. innerhalb eines festen Kristallgitters, im flüssigen sen (1,013 bar) wird dieser Druck bei 100 °C
Zustand können sie sich aufgrund der größeren erreicht. Um flüssiges Wasser zu erwärmen,
Beweglichkeit dichter anordnen, Wasserstoff- muss sehr viel Energie zugeführt werden, denn
brücken neutralisieren dabei teilweise die polare Wasser besitzt – abgesehen von Helium – die
Wirkung der Einzelmoleküle. höchste spezifische Wärmekapazität aller Stoffe.

316
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Dampfdruck und Luftfeuchtigkeit

Evakuiert man ein Gefäß mit Wasser bei Zim-


mertemperatur, so wird das Wasser zu sieden
beginnen, um nach einer gewissen Zeit wieder
aufzuhören. Ein Blick auf die Dampfdruckkurve
im Phasendiagramm liefert eine Erklärung für
dieses Verhalten.
Bei einem Druck von 0 bar ist die Gasform
der einzige stabile Aggregatzustand des Wassers
(Punkt 1 im Diagramm). Es verdampft deshalb,
so dass der Druck im Gefäß so lange ansteigt,
bis die Dampfdruckkurve bei einem Druck von
0,032 bar erreicht ist (Punkt 2 im Diagramm).
Hier stehen Wasser und Dampf miteinander
im Gleichgewicht, und es treten im Mittel ge- allein vom Wasser bestimmt wird. Außerhalb 6-16
nauso viele Wassermoleküle aus der Gasphase abgeschlossener Gefäße herrscht kein Gleich- Dampfdruck. Wasser
beginnt in einem luft-
ins Wasser über wie umgekehrt. Man spricht gewicht: Die Temperatur ändert sich, und leeren Gefäß (Luftdruck
auch vom Sättigungsdampfdruck, da der über Luftbewegungen entfernen den Wasserdampf p = 0 bar) zu verdamp-
dem Wasser liegende Raum mit Wasserdampf vom Ort der Verdunstung. Der Druck der als fen (1), bis nach einiger
Zeit ein Gleichgewicht
gesättigt ist. Dampf vorliegenden Wassermoleküle, der Par- zwischen flüssiger und
Das Vorhandensein der Luft in einem Zim- tialdruck, kann daher deutlich niedriger sein gasförmiger Phase erreicht
mer verhindert, dass Wasser bei Zimmertempe- als der Sättigungsdampfdruck. Ein Maß für ist (2). Dieser Punkt liegt
exakt auf der Dampf-
ratur zu sieden beginnt, da der Luftdruck von den Partialdruck des Wasserdampfs in der Luft
druckkurve im Phasen-
1 bar die flüssige Phase stabilisiert. Allerdings ist die sogenannte relative Luftfeuchtigkeit. Sie diagramm. Bei gegebener
gelingt es schnellen Wassermolekülen trotzdem, entspricht dem prozentualen Verhältnis zwi- Temperatur liegt der Sätti-
die Wasseroberfläche zu verlassen, man spricht schen tatsächlichem Dampfdruck und dem gungsdampfdruck bis zum
kritischen Punkt immer auf
von Verdunstung. Solange die Luft wenige Was- Sättigungsdampfdruck. Bei 25 °C entsprechen der Dampfdruckkurve.
sermoleküle enthält, werden im Mittel mehr 50 Prozent relative Luftfeuchtigkeit also einem
Moleküle die Flüssigkeit verlassen als zu ihr Dampfdruck von 0,016 bar, da der Sättigungs-
zurückkehren. Der Gleichgewichtszustand ist dampfdruck bei dieser Temperatur 0,032 bar
wie im luftleeren Fall erreicht, wenn so viele beträgt. Sinkt die Temperatur, so sinkt auch
Wassermoleküle in der Gasphase sind, wie dem der Sättigungsdampfdruck. Bei 5 °C beträgt er
Sättigungsdampfdruck (0,032 bar bei 25 °C) nur noch 0,00876 bar. Die Luft ist übersättigt,
entspricht. Offenbar kann der Druck des Was- und der Wasserdampf beginnt zu kondensieren,
serdampfs völlig unabhängig vom Druck der beispielsweise auf Brillengläsern, wenn man im
Luft betrachtet werden, ein Gesetz, das für alle Winter in die warme Stube zurückkehrt. Da
Gasmischungen zutrifft, sofern keine nennens- die Brillengläser viel kälter sind als die Luft im
werten Kräfte zwischen ihren Teilchen wirken. Raum, sinkt der Sättigungsdampfdruck an ihrer
Nach seinem Entdecker JOHN DALTON ist es als Oberfläche, und der Wasserdampf der Luft kon-
Daltonsches Gesetz bekannt (Å Von Gasen und densiert auf den Gläsern. Wolken entstehen im
Flüssigkeiten zur Atomtheorie, Seite 73), man Prinzip auf die gleiche Weise. Die Temperatur,
nennt es aber auch das Gesetz der Partialdrücke. bei der eine Kondensation bei gesättigter Luft
In einem luftgefüllten, abgeschlossenen Ge- stattfindet, nennt man in der Meteorologie die
fäß mit etwas Wasser darin wird sich bei kon- Taupunkttemperatur oder einfach Taupunkt.
stanter Temperatur über kurz oder lang der Solange der Wasserdampf nicht konden-
Sättigungsdampfdruck des Wassers als Gleich- siert ist, können wir ihn nicht sehen, wohl
gewichtszustand einstellen. Man spricht davon, aber spüren. Bei unter 20 Prozent Luftfeuch-
dass die Luft im Gefäß „gesättigt“ sei. Dies tigkeit spüren wir ein Kratzen im Hals, und
ist etwas irreführend, da die Sättigung keine Werte über 60 Prozent führen zu übermäßiger
Eigenschaft der Luft ist, sondern einzig und Schweißbildung.

3 17
KAPITEL 6 Wasser

wenn wir unsere Hand in den aufsteigenden


Wasserdampf eines Teekessels halten. Durch die
Kondensation des Dampfes auf der Haut wird
diese Energie wieder frei und direkt an die Haut
abgegeben.
Die Siedetemperatur des Wassers hängt ent-
scheidend vom umgebenden Atmosphärendruck
ab: Steigt er auf 1,8 bar, so siedet Wasser erst bei
ca. 120 °C, im Gebirge sinkt der Siedepunkt um
ca. 1 °C pro 300 Höhenmeter.
In einem geschlossenen System kann der
Wasserdampf nicht abziehen, und folglich steigt
der Dampfdruck beim Erhitzen rasch an. Die-
ses Prinzip wird beim Schnellkochtopf, einem
Druckgefäß, genutzt, in dem das Kochwasser
6-17 Die zugeführte Wärmeenergie hilft die elektro- infolge des erhöhten Dampfdrucks von ca. 2 bar
Phasenübergänge und
Wärmeenergie. Beim
statische Anziehung zwischen den Dipolen zu erst bei ca. 120 °C siedet. Durch die höhere Sie-
Übergang zwischen Pha- überwinden und Wasserstoffbrückenbindungen detemperatur wird die Garzeit um ein Drittel bis
sen wird Energie benötigt, aufzubrechen (Å Phasen und Phasenübergänge, um die Hälfte verkürzt.
weshalb in diesen Fällen
Seite 166). Um 1 l Wasser um 1 °C zu erwär-
die Temperatur trotz
Wärmezufuhr nicht wei- men, bedarf es daher 4180 Joule (1,15 Watt- Es geht auch ohne Sieden: Verdunstung
ter steigt (waagerechte stunden) Energie, beim Eisen im Vergleich dazu
Kurventeile). Der Energie- nur 0,449 Joule. Für das irdische Klima ist diese An sonnigen, warmen Sommertagen sieht man
bedarf ist bei Wasser be-
sonders groß beim Über- Wassereigenschaft von enormer Bedeutung. draußen auf Leinen oder Wäschespinnen Wä-
gang in den gasförmigen Die Verdampfung findet auch innerhalb einer sche aufgehängt; in den Straßen kann man he-
Zustand. Flüssigkeit statt. Beim Überschreiten des Siede- chelnden Hunden mit weit geöffnetem Maul be-
punktes erhalten immer mehr Wassermoleküle gegnen; unter den Achseln bilden sich Schweiß-
eine ausreichende Geschwindigkeit, um aus der flecken. All diese Phänomene hängen mit der
Flüssigkeit zu entweichen und in den gasförmi- Verdunstung zusammen. Bei der Verdunstung
gen Zustand überzugehen. Dieser Prozess wird laufen die gleichen Phasenübergänge ab wie
an den aufsteigenden Bläschen im Wasser selbst beim Verdampfen. Doch der Verdunstungsvor-
sichtbar, die sich im Inneren der Flüssigkeit gegen gang findet nur an der Flüssigkeitsoberfläche
den Außendruck bilden: zunächst nur am Boden statt. Da bei der Verdunstung die entweichenden
des Behältnisses, weil dort die Siedetemperatur Wassermoleküle kinetische Energie fortführen,
eher erreicht wird als in oberen Bereichen. Die wird der flüssigen Phase Wärme entzogen. Auf
aufsteigenden Wasserdampfbläschen fallen beim diese Weise verliert beim Schwitzen der Körper
Eintritt in kühlere Bereiche in sich zusammen. überschüssige Wärme. Diesen Wärmeentzug
Das ist das prasselnde Geräusch, welches man empfinden wir als Abkühlung. Menschlicher
kurz vor dem völligen Sieden des Wassers hört. Schweiß, der von 2 bis 4 Millionen Schweiß-
Bald sieht man auch oberhalb der siedenden drüsen abgesondert wird, besteht zu 98 Prozent
Wasseroberfläche leicht verwirbelte Dampfstrei- aus Wasser, das in geringen Mengen u. a. Nat-
fen. Hält die Wärmezufuhr an, so verdampft riumchlorid, Aminosäuren, Zucker, Harnstoff
das Wasser vollständig. Wie viel Wärme insge- und Ammoniak enthält. Täglich sondern wir ca.
samt notwendig ist, um eine bestimmte Flüs- 0,5 Liter, bei schweißtreibenden Tätigkeiten bis
sigkeitsmenge zu verdampfen, hängt von der zu 8 Liter Schweiß ab. Erst wenn der Schweiß
spezifischen Verdampfungswärme ab. Sie gibt auf der Haut verdunsten kann, setzt die Abküh-
an, wie viele Joule pro Gewichtseinheit für das lung ein. Ist der Dampfdruck in der umgeben-
vollständige Verdampfen notwendig ist. Bei den Luft höher als der auf der Haut, wie zum
Wasser beträgt die spezifische Verdampfungs- Beispiel in einer Sauna, so kann der Schweiß
wärme 2257 Kilojoule je kg (ÅAbbildung 6-17). nicht verdunsten, und man ist bald schweiß-
Die nötige Wärmeenergie zum Übertritt in den gebadet. Frischer Schweiß ist geruchlos, doch
gasförmigen Zustand spüren wir schmerzhaft, Bakterien, die sich von dem nährstoffreichen

318
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Sekret ernähren, produzieren durch den Abbau Regenpfützen und an der Bildung von Trocken-
langkettiger Fettsäuren unter anderem die übel rissen im Boden erkennen.
riechende Buttersäure oder die Ameisensäure als
Stoffwechselprodukt. Wasser am Himmel

Wasser am Himmel wird in Wolken sichtbar. Wir


Von der Erde gen Himmel und bewundern ihre unterschiedliche Form und Fär- r
zurück bung, wir fürchten ihre drohend grau-schwarzen
Wände, wir lassen geisterhafte, himmlische We-
Der Kreislauf des Wassers von der Verdunstung sen auf ihnen wohnen. Wer hat nicht schon am
bis zur Kondensation ist entscheidend für das blauen Himmel ziehenden, weißen wattebausch-
Wettergeschehen auf der Erde und letzten Endes ähnlichen Gebilden träumend nachgeschaut.
eine der Voraussetzungen für unsere Existenz. Wolken zeigen an, dass der Wasserdampf in
Verdunstung findet statt, wenn die relative Luft- der Luft bereits wieder kondensiert ist. Wolken
feuchtigkeit kleiner als 100 Prozent ist. Faktoren sind nichts anderes als Ansammlungen winziger
wie Luftfeuchtigkeit und -temperatur, Sonnen- Wassertröpfchen und Eiskristalle. Sie schweben
einstrahlung, Winde, fehlende Vegetationsdecke, überwiegend in der untersten Schicht der At-
Niederschlagsmenge beeinflussen den Ablauf mosphäre, der Troposphäre (Å Schichtung der Troposphäre
und die Menge der Verdunstung. Über großen Erdatmosphäre, Seite 364), bis auf etwa 18 km bis 18 km Höhe am
Äquator,
Wasserflächen wie Seen, Meeren oder Ozeanen Höhe. Nur hoch aufragende Gewitterwolken bis 8 km Höhe an den
treibt eine starke Wärmezufuhr wie in äquator- können in die darüber liegende Stratosphäre Polen
nahen Gebieten die Verdunstung stark an. Vor vorstoßen. Wolken bedecken durchschnittlich
Stratosphäre
allem dort nimmt die Luft große Mengen an 60 Prozent des Himmels, davon lösen sich etwa 18 – 50 km Höhe am
Feuchtigkeit auf, die sie über dem Festland als 90 Prozent wieder auf, ohne dass es regnet. Äquator
Niederschläge wieder abgibt (Å Kasten Wasser- Wolken enstehen entweder durch Abkühlung des 8 – 50 km Höhe an den
Polen
kreislauf). In heißen, niederschlagsarmen Fest- Wasserdampfs in der Luft unter den Taupunkt
landsregionen kann anhaltende Verdunstung zur (Å Kasten Dampfdruck und Luftfeuchtigkeit,
völligen Austrocknung von Seen oder Wasser- Seite 317) oder durch Übersättigung der Luft
läufen führen. Im kleinen Maßstab kann man mit Wasserdampf. Wolkenbildung durch Abküh-
anhaltende Verdunstung am Austrocknen von lung tritt auf, wenn warme Luftmassen durch

Wasserkreislauf

In den Geowissenschaften und in der Meteoro-


logie wird damit der Wasseraustausch zwischen
der Atmosphäre und der Hydrosphäre bezeich-
net. Am Anfang steht die Verdunstung von
Wasser über den Meeresoberflächen. Dadurch
gelangt es als Wasserdampf in die Atmosphäre.
Von dort kehrt ein großer Teil des kondensier-
ten Wasserdampfs in Form von Niederschlä-
gen (Hagel, Schnee und Regen) wieder auf die
Meeres- und Landoberflächen zurück. Ein Teil
des auf dem Festland auftreffenden Wassers
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

verdunstet teils direkt, teils über Pflanzen, teils


aus Seen und Flüssen. Ein weiterer Teil des
Niederschlagswassers versickert im Boden und
wird über Grundwasserströme in Flüsse und
Ströme abgeleitet. Letztere führen den größten
6-18
Teil des Wassers wieder zurück ins Meer, wo Wasserkreislauf. Wassermengen in Kubikkilometern, die jährlich durch den Wasserkreis-
der Kreislauf von vorne beginnt. lauf weltweit bewegt werden.

3 19
KAPITEL 6 Wasser

Wolkenbildung ihre geringere Dichte aufsteigen und sich da- Oberflächennahe, warme Luftmassen kühlen um
Wolken entstehen durch bei abkühlen. Wenn sich feuchtigkeitsgesättigte 1 °C je 100 m Aufstieg ab (trockenadiabatische
Abkühlung der Luft unter
den Taupunkt oder durch Luft über den Taupunkt hinaus abkühlt, lagern Abkühlung). Wenn der Wasserdampf in den
Übersättigung der Luft sich die Wassermoleküle an Luftverunreinigun- Wolken selbst durch Aufwinde und Konvektion
mit Wasserdampf. gen an und bilden Tröpfchen. Das so genannte weiter aufsteigt, so erfolgt eine weitere Abküh-
Kondensationsniveau liegt, abhängig von der lung um 0,5 ° C je 100 m (feuchtdiabatische Ab-
Temperatur der aufsteigenden Luftmassen, in kühlung), und es können sich Eiskristalle bilden.
einer bestimmten Höhe über der Erdoberfläche. Eine Übersättigung der Luft mit Wasserdampf

Feste und flüssige Luftinhaltsstoffe (Aerosole)

Aerosol bedeutet „in Gas suspendierte Par- Schwefeldioxid (SO2), die unter der Einwirkung
tikel“. Mit diesem Begriff wird ein Zwei- des Sonnenlichts in der Atmosphäre entstehen
phasensystem aus Luftgasen und da - (sogenannte Photooxidantien). Diese Schwefel-
rin fein verteilten festen oder flüssigen und Stickstoffverbindungen stammen dabei zu
Schwebstoffen charakterisiert, deren Par- 70 Prozent aus anthropogenen Quellen, Koh-
tikel einen Durchmesser zwischen 10–2 μm lenwasserstoffe zu 40 Prozent, der Rest kommt
und 102 μm aufweisen. Aerosole werden in le- vor allem aus Wäldern.
6-19 bende Aerosole (Bioaerosole) wie Pollen, Algen, Alle Aerosole fungieren als Kondensations-
Aerosole. Manche Aero- Pilzsporen, Bakterien oder Viren und in nicht- keime und binden Wasser. Damit spielen sie
sole entstehen erst durch
chemische Reaktionen
lebende unterteilt. Letztere bestehen aus anor- bei der Tröpfchenbildung und der Bildung von
und Keimbildung aus ganischen Verbindungen wie Ruß, Meersalz, Eiskristallen in Wolken eine wichtige Rolle.
Gasen in der Atmosphäre vulkanischem Staub oder aus organischen wie Ab einer relativen Luftfeuchte von 103 Pro-
(sekundäre Aerosole). An-
von Pflanzen stammenden Terpenen, aber auch zent werden Aerosole zu Tröpfchenträgern. Als
dere wie Sand, Meersalz
oder Pilzsporen werden aus Reifenabrieb und Verbrennungsprodukten. Keime für Wolkentröpfchen müssen Aerosole
durch Winde in die Atmo- Sogenannte primäre nichtlebende Aerosole sind entweder hydrophil, wie z. B. Meersalzpartikel
sphäre getragen (primäre
natürlichen Ursprungs wie Meersalz, Mineral- sein, oder groß genug, so dass ihre Oberfläche
Aerosole). Feinere Aero-
sole gelangen erst durch teilchen, Saharasand. Sekundäre Aerosole bil- von Wasser benetzt werden kann. Nach neu-
Niederschläge zurück auf den sich erst in der Atmosphäre aus Reaktio- eren Untersuchungen hängt ihre Wirkung in
die Erde (nasse Disposi- nen, beispielsweise von Schwefelsäure (H2SO4) erster Linie von der Gesamtzahl der darin ent-
tion), gröbere sinken mit
der Zeit hinab (trockene oder Salpetersäure (HNO3) mit Oxidationsmit- haltenen löslichen Moleküle ab. Je kleiner ihr
Disposition). teln wie Ozon (O3), Stickoxiden (NOx) oder Durchmesser ist, desto mehr verhalten sich Ae-
rosole wie Gaspartikel. In erdnahen Schichten
schweben ca. 10 000 Partikel / cm3 in der Luft,
in der Troposphäre nimmt die Konzentration
bis auf ein Zehntel dieses Wertes ab.
Aerosole werden in der Atmosphäre nicht
abgebaut. Sie verweilen unterschiedlich lange
dort, in der unteren Troposphäre (bis 5 km)
wenige Tage, in der oberen Troposphäre
(5 – 18 km) bis vier Wochen und in der Strato-
sphäre (über 18 km) ein bis drei Jahre. Sie wer-
den durch Niederschläge aus der Atmosphäre
entfernt. Da Aerosole Lichtstrahlen beugen,
streuen und brechen, beeinflussen sie auch den
Strahlungshaushalt der Erde. Sekundäre Nitrat-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

Aerosole (–NO3), Ammoniumsulfat-Aerosole


[(NH4)2SO4)] und Stickoxide (NOx) vorwie-
gend aus menschlichen Quellen stammend, bil-
den Ausgangsstoffe für den schädlichen sauren
Regen (ÅSandsteine, Seite 239).

320
Erde, Wasser, Luft und Feuer

entsteht durch Zufuhr feuchter Luftmassen, treffen die Niederschläge als Schnee oder Hagel
wodurch die maximale Luftfeuchtigkeit von auf die Erdoberfläche auf. Ideale Bedingungen
100 Prozent überschritten wird. Die überschüs- für die Bildung von Eiskristallen und unterkühl-
sige Luftfeuchte kondensiert. ten Wassermolekülen bilden Mischwolken mit
Abkühlung und Feuchtigkeitsüberschuss al- Temperaturen von –10 bis –35 °C. Gefrieren
lein bewirken allerdings nicht die Entstehung Eiskristalle zusammen oder verhaken sich, so
feinster Wassertröpfchen. Dazu sind noch so entstehen Schneeflocken oder Graupelkörner.
genannte Kondensationskeime erforderlich, die Durch mehrfaches Auf- und Abwandern in ei-
Aerosole (Å Kasten Feste und flüssige Luftin- ner Wolke von Eiskeimen lagern sich mehrere
haltsstoffe). Erst dann bilden sich die Ansamm- Schichten von Graupeln zusammen, und es ent-
lungen von Wassertröpfchen, die wir als Wolke stehen letztendlich Hagelkörner von 0,5 mm und
wahrnehmen. mehr Durchmesser.
Nieselregen bildet sich durch das direkte
Aus den Wolken zum Regen Zusammenschmelzen von kleineren Wo l-
kentröpfchen bis auf einen Durchmesser von

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Das Wasser kehrt in Form von Niederschlägen 0,05 – 0,25 mm in unteren Bereichen von Stra-
als Regen, Hagel oder Schnee zur Erde zurück. tuswolken. Damit der daraus fallende Niesel-
Bis zu einer Temperatur von –15 ° C bestehen die regen die Erdoberfläche erreicht, ohne vorher
Wolken aus Wassertröpfchen, typische Wasser- zu verdunsten, muss die Wolkenunterseite we-
wolken sind Stratuswolken und Cumuluswolken niger als 300 m über der Erdoberfläche liegen.
(Haufenwolken). Letztere gehen bei tieferen Tem- Nebel besteht aus winzigen 20 – 40 μm großen
peraturen in Mischwolken mit Wolkentröpfchen Wassertropfen, die klein und leicht genug sind,
und Eiskristallen über. Wolken in der oberen um in der Luft zu schweben. Der so genannte
Troposphäre sind aufgrund der dortigen Tem- Bodennebel bildet sich, wenn Stratuswolken
peraturen reine Eiswolken wie z. B. die Cirren. bis dicht über die Erdoberfläche herabsinken.
In der Luft schweben gewaltige Mengen an Auch die sichtbare Dampffahne über siedendem
kondensiertem Wasserdampf, in einer normalen Teewasser ist nichts anderes als Nebel.
Cumuluswolke mehr als 150 000 Tonnen. Dass In welcher Form die Niederschläge auf der
diese Wassermassen nicht sofort zur Erdober- Erdoberfläche ankommen, hängt von der Hö-
fläche fallen, hängt mit der Tröpfchengröße zu- henlage der 0 °C-Grenze in der Luft ab, die im
sammen. Um als Niederschlag fallen zu können, Sommer in Mitteleuropa bei etwa 3000 m und
müssen die Kondensationskerne einen bestimm- im Winter – theoretisch – bei 1000 m unter der
ten Durchmesser und damit ein bestimmtes Ge- Erdoberfläche liegt. Überschreiten die Tropfen
wicht erreichen. Bei einer relativen Luftfeuchte drei Millimeter Durchmesser, dann überwiegt
von 80 Prozent bilden sich winzige Dunsttröpf- die Schwere die Aufwindkraft, und es beginnt zu
chen von 1–10 μm, es wird diesig. Erreicht die regnen. Nur in den Wolken besitzen Tröpfchen
Luftfeuchte den kritischen Wert von 100 Pro- dank ihrer Oberflächenspannung eine annä-
zent, so entstehen Wolkentröpfchen mit einem hernd kugelförmige Gestalt, auf dem Weg zu
Durchmesser von 10–20 μm, sichtbar als Wol- Erde nehmen sie bedingt durch ihre hohe Ge-
ken. Damit Regentropfen schwer genug werden, schwindigkeit von 5 m / s eher die abgeflachte
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um den Auftrieb zu überwinden, müssen die Form eines Hamburgers an.


Tröpfchen einen Durchmesser von mindestens
2–3 mm erreichen. Das Zusammenwachsen un-
terschiedlich großer Wolkentröpfchen zu einem Eis – das feste Wasser
Großtropfen (Koaleszenz) wird durch mehrere
Vorgänge gefördert, unter anderem durch tem- Eis gehört auf der Erde zu den Alltagserscheinun-
peraturbedingte, vertikale Turbulenzen in den gen: Graupel- und Hagelschauer sind gefürchtete 6-20
Von Schnee zu Eis. Bei der
Wolken und die gegenseitige Anziehung salz- Begleiter von Gewittern, mit Raureif überzogene Umwandlung von Schnee-
haltiger, hygroskopischer Keime. Mit Ausnahme Bäume, Sträucher und Wiesen kündigen die fro- flocken zu Gletschereis
des Nieselregens durchlaufen alle Tröpfchen in stige Jahreszeit an, im Winter fürchten wir uns kommt es zu immer stär-
kerer Verdichtung durch
höheren Wolkenbereichen ein Eiskristallstadium. vor Glatteis, Kinder freuen sich über frisch ge- Umkristallisation und Ent-
Ist die bodennahe Luftschicht kalt genug, so fallenen Schnee. Polargebiete und Hochgebirge gasung unter Druck.

3 21
KAPITEL 6 Wasser

sind mit Gletschern, manche Meere mit Packeis druck entsteht in einem Zeitraum von 10 bis
bedeckt. All dies sind Ausbildungsformen des 20 Jahren aus Neuschnee über Firnschnee das
irdischen, natürlichen Eises. Das Speiseeis wird Gletschereis. Bei diesen Metamorphoseprozes-
als sommerliche Erfrischung hoch geschätzt, sen wird der ursprünglich Luftgehalt von etwa
Eisporthallen mit Kunsteisflächen sind beliebte 90 Prozent auf weniger als 20 Prozent reduziert.
Sportstätten. Wasser kristallisiert beim Gefrieren unter
Doch Eis wurde auch an anderen Stellen in normalen Bedingungen im hexagonalen Kris-
unserem Sonnensystem nachgewiesen. Zahlrei- tallsystem (Modifikation Ih), und es existieren
che Kometen, die sogenannten „Schmutzigen bei anderen Druck und Temperaturverhältnis-
Schneebälle“, bestehen großenteils aus Wasser- sen weitere Modifikationen, wie man in einem
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

eis. Gasplaneten werden von Eismonden um- detaillierten Phasendiagramm erkennen kann
kreist, so der Saturn von deren vier. Eisfunde in (Å Abbildung 6-23). Insgesamt kennt man drei-
den Polarregionen des Mars sind Hinweise auf zehn kristalline und fünf amorphe („gläserne“)
frühere Wasservorkommen auf diesem Planeten. Modifikationen von Eis; mehr besitzt kein an-
6-21 Im Gegensatz zum flüssigen Wasser als Ma- derer Feststoff. „Eis, kubisch“ (Ic) mit einem
Struktur von Eis. Wasser- trix des Lebens ist seine feste, kristalline Form kubischen Kristallgitter ist eine künstlich mit
moleküle ordnen sich in eher lebensfeindlich. Im gefrorenen Wasser sind Wasserdampf erzeugte Modifikation. Ebenso
gewöhnlichem Eis durch
Wasserstoffbrücken zu
zuvor gelöste Substanzen ausgetrieben und die Nummern II – XII, bei denen es sich um
einem lockeren hexago- scharfkantige Eispartikel zerreißen organisches künstlich erzeugte Hochdruck-Modifikationen
nalen Kristallgitter mit Material. Dagegen gilt kosmisches, interstellares mit Drücken ab 2 Kilobar bei meist sehr tiefen
relativ großen Bindungs-
abständen an. Die Dichte
Eis als möglicher Entstehungsort von Molekülen Temperaturen handelt.
ist daher geringer als die wie Aminosäuren, die für die Entstehung von
flüssigen Wassers bei 4 °C. Leben wichtig sind.
Die grauen Verbindungen
Rückkehr zur Flüssigkeit
stellen Wasserstoffbrücken
dar, Wasserstoffatome Die Kristallisation von Wasser Bei Normaldruck (1013,25 Hektopascal bzw.
sind hell, Sauerstoffatome 1,01325 bar) beginnt das Eis ab 0 °C zu schmel-
rot dargestellt.
Im Gegensatz zum flüssigen Wasser bildet Eis zen. Am Schmelzpunkt des Eises ist per Definition
Bis zum Jahr 2012 war
nicht genau bekannt, wie ein sehr „luftiges“ Kristallgitter aus. Jedes Sauer- der Nullpunkt der Celsius-Skala festgelegt. Um
der Übergang des Was- stoffatom ist von vier weiteren umgeben, und die Eis mit einer Temperatur von 0 °C in Wasser mit
sers vom flüssigen in den Wasserstoffatome liegen auf einer Verbindungs- der gleichen Temperatur zu überführen, wird eine
gefrorenen Zustand vor
sich geht. Durch Messung linie zwischen Sauerstoffatomen. Doch trotz Schmelzwärme von 333,7 J / kg benötigt. Die nö-
der der Infrarot-Frequenz dieses lockeren Aufbaus sind die Dipolkräfte in tige Wärmeenergie wird der Umgebung entzogen,
einer bestimmten Streck- der Summe sehr stark und verleihen dem Eis eine oder gezielt zugeführt. Beim Schmelzen des Eises
schwingung, die sich
zwischen dem ungeord- große Festigkeit. Dies ist der Grund dafür, dass brechen bis zu 15 Prozent der Wasserstoffbrü-
neten amorphen und dem Wasserleitungsrohre im Winter platzen können, cken zusammen und damit wird das Kristallgitter
kristallinen Zustand etwas wenn Wasser darin gefriert. Den starken Kräf- zunehmend zerstört. Die Wassermoleküle bilden
unterscheidet und theore-
tischen Modellen konnten
ten, die bei der Volumenvergrößerung des Eises wieder das für Wasser typische fluktuierende
Christopher Pradzynsky nach außen wirken, hat das Metall der Rohre Netzwerk aus ständig aufbrechenden und sich
und seine Kollegen von wenig entgegenzusetzen. neu bildenden Wasserstoffbrücken zwischen den
der Universität Göttin-
gen inzwischen genau
Die kleinste Form des gefrorenen Wassers
6-22
rekonstruieren, wie die ist die Schneeflocke, von der 2450 verschiedene Temperaturprofil eines Sees. Das Dichtemaximum flüs-
Kristallbildung abläuft. Kristallformen fotografisch dokumentiert sind. sigen Wassers bei 4 °C ist für das Leben in Seen und
Danach startet der Prozess Flüssen gemäßigter Klimazonen entscheidend. Es führt
Die zahlreichen Lufteinschlüsse im Neuschnee
mit einem Sechsring aus dazu, dass Gewässer in kalten Wintern zuerst oben eine
Wassermolekülen. Ab ca. bewirken eine vielfache Lichtbrechung, so dass isolierende Eisschicht ausbilden und am Grund stets 4 °C
275 Wassermolekülen frischer Schnee weiß erscheint. Durch Auflast- warm sind. Nur so können Fische überleben.
verändert sich die Schwin-
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gungsfrequenz und hat


bei ca. 475 Wasserteilchen
weitgehend den Wert von
Eis erreicht.

322
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Molekülen. Die Schmelztemperatur des Eises kann


durch Lösen anderer Stoffe erheblich herabgesetzt Speiseeis
werden, wie der erfolgreiche Einsatz von Salz im
Winter zeigt. (ÅKasten Schmelzpunkterniedrigung Speiseeis ist natürlich kein reines Eis. Dieseses
und Siedepunkterhöhung, Seite 324). würde unserer Mundhöhle und Speiseröh eröhre
Die bereits erwähnte Dichteanomalie des schaden. Vielmehr bieten Speiseeisherst steller
Wassers kann ebenfalls zu einer lokalen Herab- einen so genannten Lebensmittelschaum an, a
setzung des Schmelzpunkts führen. Wird Druck der im gefrorenen Zustand verzehrt wer er-
auf einen Eiskörper ausgeübt, so werden die den soll. Die Größe seiner Eiskristalle liegt im
oberflächlichen Moleküle zusammengepresst, Bereich von einigen Mikrometern; je kleiner
wodurch seine Dichte erhöht wird. Bei höherer die Kristalle sind, desto cremiger ist das Eis.
Dichte geht Eis wieder in flüssiges Wasser über. Dazu tragen auch die zahlreichen Luftbläs-
So kann Eis unter Druck schon bei –3 °C schmel- chen in der Masse bei. Speiseeis ist ein Gemisch
zen. Der ständig vorhandene, wenige Nanometer aus Wassereiskristallen, 10 – 18 Prozent Milchfett bzw
zw.
dünne Wasserfilm über dem Eis bewirkt, dass aus 50 – 70 Prozent Milch, Farbstoffen, Emulgatoren n
wir auf Eis rutschen. Er ist ausreichend, dass die (Å Tenside – Sie lieben Wasser und Fette, Seite 331),
Reibung auf glatten Schnee- oder Eisflächen so- Stabilisatoren und Geschmackstoffen. Physikalisch ist es
weit herabgesetzt wird, dass Tiere und Fußgänger eine Öl-in-Wasser-Emulsion (Å Emulsionen, Seite 329).
keinen Halt mehr finden. Dieser Wasserfilm er- r Ölhaltige Fette und Emulgatoren entstammen der Milch.
möglicht auch das Rodeln, das Gleiten auf Ski-
ern oder das Schlittschuhlaufen. Somit bewegen
Sportler sich nicht direkt auf dem Eis, sondern
auf diesem hauchdünnen Flüssigkeitsfilm. Frü-
her glaubte man, dass der Flüssigkeitsfilm durch
Druckschmelze verursacht wird. Doch ein 70 kg
schwerer Mensch erzeugt mit 30 cm langen und
0,5mm breiten Schlittschuhkufen einen Druck,
der den Schmelzpunkt des Eises nur um 0,2 °C
erniedrigt. Da die Druckschmelze nur bis 2 – 3 °C
unter Null wirksam ist, würde bei tieferen Tem-
peraturen kein Wasserfilm gebildet werden. Er ist
jedoch vorhanden. Es ist die durch das Gleiten
verursachte Reibungswärme, die das Eis auch bei
tieferen Temperaturen zum Schmelzen bringt.

Gespanntes Wasser
Die zwischen den Molekülen einer Flüssigkeit
herrschenden Kräfte sind an der Grenzfläche Anziehungskräfte, unter den Flüssigkeiten hat 6-23
zur Luft nicht in allen Richtungen ausgeglichen, Wasser eine sehr hohe Oberflächenspannung. Sie Phasendiagramm von Eis.
Abhängig von Druck und
sondern wirken stärker ins Innere der Flüssigkeit, wird nur von der des Quecksilbers übertroffen, Temperatur sind unter-
was zur Oberflächenspannung führt (Å Abbil- liegt aber weit über der von organischen Flüssig- schiedliche Strukturen von
dung 6-7, Seite 311). Flüssigkeiten sind daher an keiten wie Ethanol oder Ölen. Eis thermodynamisch sta-
bil. Der blaue Punkt stellt
der Luft bestrebt, eine möglichst kleine Oberflä- die Normalbedingungen
che einzunehmen, denn für deren Vergrößerung Benetzung an der Erdoberfläche dar.
muss Energie aufgewendet werden, vergleich- Die amorphen Modifika-
tionen sind nicht darge-
bar mit dem „Spannen“ eines Gummibandes. An Grenzflächen des Wassers zu Festkörpern
stellt, sie entstehen unter
Wenn keine weiteren Kräfte wie Reibung oder sehen die Verhältnisse jedoch anders aus, da besonderen Bedingungen,
Gravitation wirken, nehmen Tropfen deshalb den Kohäsionskräften, die zwischen den Flüs- z. B. durch extrem schnel-
les Abkühlen von Wasser.
Kugelform an. Aufgrund der polaren Natur der sigkeitsmolekülen wirken, die Adhäsionskräfte
Wassermoleküle wirken zwischen diesen starke (von lat. adhaerere, anhaften) zwischen Fest-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

3 23
KAPITEL 6 Wasser

Schmelzpunkterniedrigung und Siedepunkterhöhung

Der Schmelzpunkt eines Stoffes wird durch kungen gegeben sind. Die Dampfdruckkurve des
Lösen eines anderen Stoffes darin im allgemei- Lösungsmittels verschiebt sich im Phasendia-
nen erniedrigt, während gleichzeitig der Siede- gramm also nach unten, was die Schmelzpunkt-
punkt erhöht wird. Wir nutzen diesen Effekt erniedrigung und die Siedepunkterhöhung er-
im Alltag, wenn wir durch das Streuen von klärt. Diese kolligative Eigenschaft ist eine Folge
Salz Glatteis zum Tauen bringen. Die Gründe der durch die Lösung gestiegenen Entropie des
für diesen Effekt sind vielfältig. So lagern sich Gesamtsystems Lösungsmittel – gelöster Stoff.
beim Lösen von Kochsalz (Natriumchlorid, Anschaulich gesprochen, erhöht sich durch die
NaCl) Wassermoleküle an die dissoziierten Lösung die Unordnung des Gesamtsystems, die
Natrium- und Chlorionen an, was die Bildung Entropie der Flüssigkeit ist daher derjenigen des
eines Eiskristallgitters erschwert (ÅLösungen, Dampfes näher, die mittlere Zahl an Molekülen,
Seite 326). In stark verdünnten Lösungen oder die in die Dampfphase übertreten, ist geringer,
wenn kaum Kräfte zwischen Lösungsmittel und und der Sättigungsdampfdruck erniedrigt sich
6-24 gelöstem Stoff wirken (wie bei der Mischung entsprechend (ÅEntropie, Seite 405).
Raoultsches Gesetz. Nach
zweier Gase), spielt die Natur der beteiligten Nicht nur Salz, sondern auch Zucker setzt
RAOULT ist der Dampfdruck
des Lösungsmittels pro- Substanzen keine Rolle, sondern nur die Zahl den Schmelzpunkt von Eis herab. 30 g Zucker
portional zu dessen Anteil der Teilchen des gelösten Stoffes. Man spricht auf 100 g Eis bewirken eine Senkung um 1,6 °C,
in der Lösung. Die Dampf-
daher von einer kolligativen Eigenschaft (lat. 30 g Salz eine Senkung auf –18 °C. Die unter-
druckkurve verschiebt
sich daher nach unten colligere, sammeln). Der französische Chemi- schiedliche Wirksamkeit der gleichen Menge
(rote Linie), was zu einer ker FRANCOIS RAOULT erkannte als erster, dass Zucker und Salz ist darauf zurückzuführen, dass
Schmelzpunkterniedrigung der Sättigungsdampfdruck eines Lösungsmittels 30 g Salz viel mehr Teilchen enthalten als 30 g
und einer Siedepunkterhö-
hung gegenüber dem rei- proportional zu dessen Stoffmengenanteil ist, Zucker, da das Gewicht eines Natrium- und ei-
nen Lösungsmittel führt. zumindest wenn die beschriebenen Einschrän- nes Chlorions wesentlich geringer ist als das Ge-
wicht eines Zuckermoleküls. Die Schmelzpunkt-
erniedrigung ist aber nur von der Teilchenzahl
abhängig. Man verwendet daher statt der Masse
des gelösten Stoffes dessen Molalität. Sie gibt
an, wie viele Teilchen des Stoffes in einem Ki-
logramm Lösungsmittel enthalten sind. Die
Teilchenzahl wird dabei in Mol ausgedrückt.
1 Mol eines Stoffes enthält 6,022 · 1023 Teilchen
(Å Mol – Ein Maß für die Stoffmenge, Seite
163). Da Salze wie Natriumchlorid in Wasser
in ihre Ionen zerfallen, ergibt sich die doppelte
Teilchenzahl. Die Erhöhung des Siedepunkts
fällt bei Wasser relativ gering aus. 1 Mol irgend-
eines in 1kg Wasser gelösten Stoffes erhöht
dessen Siedepunkt um 0,51 °C. Bei der üblichen
Menge Kochsalz im Nudelwasser siedet dieses
bei 100,17 °C statt bei 100 °C.

körper und Flüssigkeit entgegen wirken. Diese steigen die Adhäsionskräfte die Kohäsionskräfte,
Adhäsionskräfte können unterschiedlicher Natur so fließt der Tropfen auseinander und bildet
sein. Es kann sich um die von polaren Gruppen einen dünnen Film auf der Körperoberfläche.
handeln, wie sie zum Beispiel an Glasoberflächen Man spricht von „vollkommener Benetzung“.
auftreten, oder um Van-der-Waals-Kräfte. Dem- Die Tropfenform hängt davon ab, welche Größe
entsprechend ändert sich auch die Form, die ein der Benetzungsfläche bei gegebener Oberflä-
Tropfen Flüssigkeit an der Grenzfläche zu einem chenspannung der Flüssigkeit und Oberflächen-
Festkörper einnimmt (Å Abbildung 6-25). Über- energie des Festkörpers energetisch optimal ist.

324
Erde, Wasser, Luft und Feuer

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


(Kapillaren) beschrieben. Überwiegt die Adhä-
sion zur Rohrwandung gegenüber der Kohäsion,
so klettert eine Flüssigkeit auch entgegen der
Schwerkraft an den Wänden hoch, und zwar
umso höher, je enger die Kapillare ist. Denn
bei engeren Röhren sinkt das Verhältnis von
6-25 Flüssigkeitsvolumen zu Grenzfläche. Anteilig
Benetzung. Ob ein Tropfen Flüssigkeit auf einer Oberflä- immer mehr Flüssigkeitsmoleküle kommen in
che liegen bleibt oder sich darauf ausbreitet, hängt von
der relativen Stärke der Kohäsion innerhalb der Flüssigkeit
Kontakt zur Wandung und verstärken die Ad-
gegenüber der Adhäsion zwischen Flüssigkeit und Ober- häsionswirkung. Bei vorherrschender Adhäsion
fläche ab. Verantwortlich für diese Interaktion sind vor zur Wand steigt die Flüssigkeit dort höher als in

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allem elektrische Anziehungskräfte zwischen polaren Mo-
lekülen wie Wasser (hydrophil = wasserliebend). Unpolare
der Rohrmitte. Flüssigkeiten wie Quecksilber,
Substanzen wie Öl binden hingegen leichter an unpolare für die gegenüber Glas die Kohäsionskraft über-
(hydrophobe) Oberflächen. Es gelten ähnliche Gesetze wiegt, wölben sich am Rand nach unten, und die
wie bei der Mischung zweier Flüssigkeiten. Hier gilt die
Flüssigkeitssäule steigt nicht empor.
alte Chemiker-Regel: Gleiches mischt sich mit Gleichem.
Der Kapillareffekt ermöglicht unter anderem
6-26
Bei Quecksilber ist auf den meisten Oberflächen das Aufwischen von Wasser mit Textiltüchern Kapillareffekt. Überwie-
eine möglichst kleine Benetzungsfläche optimal, oder saugfähigem Papier. Das Wasser geht dabei gen die Adhäsionskräfte
weshalb es die Tröpfchenform auf Glas, Holz praktisch vollständig in diese Materialien über, zwischen Flüssigkeit und
Wandung wie bei Wasser
oder Stein beibehält. Auch Lötzinn verhält sich da sich an der Oberfläche der Fasern polare OH- in einem Glasröhrchen, so
so, fließt aber auf Kupfer auseinander, was seiner Gruppen befinden, die Adhäsionskräfte auf die steigt die Flüssigkeit in der
Verwendung als Kontaktmaterial zugute kommt. Wasserstoffatome des Wassermoleküls ausüben. Kapillare hoch und wölbt
sich am Rand nach oben,
Wasser bildet im Gegensatz zu Alkohol oder Zwischen den Fasern befinden sich winzige ka- man spricht von Kapillar-
Ölen aufgrund seiner starken Kohäsionskräfte pillare Zwischenräume. aszension (oben). Über-
mehr oder weniger stark abgeplattete Tropfen In der Natur kommt dem Kapillareffekt eine wiegen hingegen die Ko-
häsionskräfte gegenüber
auf den meisten Oberflächen. Die Tropfenform wichtige Rolle bei der Nährstoffversorgung von der Anziehung zum Glas
kann über eine Messung des Kontaktwinkels Pflanzen zu. Diese werden in Säften gelöst durch des Röhrchens wie bei
(Å Abbildung 6-27) zur Charakterisierung von Kapillaren der Stängel oder Stämme nach oben Quecksilber (Hg), so sinkt
der Flüssigkeitsspiegel in
Oberflächen bzw. Flüssigkeiten verwendet wer- befördert. Allerdings könnte der Kapillareffekt
der Kapillare, und die Flüs-
den. Fügt man dem Wasser Tenside zu, so re- nicht die bei Bäumen auftretenden Steighöhen sigkeit wölbt sich am Rand
duziert sich seine Oberflächenspannung, und bis 130 m erklären. Er wird hier unterstützt vom nach unten. Man spricht
die Tropfen fließen auseinander. Umgekehrt osmotischen Druck in den Wurzeln (ÅDiffusion von einer Kapillardepres-
sion (unten).
bildet Wasser auf wachsartigen Oberflächen als Strukturbildner, Seite 405). In Wüsten oder
abgeflachte Kugeln, weil Wachs sehr geringe Halbwüsten ist es die Verdunstung von Wasser-
Adhäsionskräfte auf Wasser ausübt. Dieses Phä- molekülen, die in oberflächennahen Bodenschich-
nomen kann man auch auf Blüten beobachten. ten das vorhandene Restwasser nach Bewässe-
rung oder nach Regenfällen kapillar nach oben
Kapillareffekt steigen lässt. Die kapillare Verdunstung hat hier
den unerwünschten Nebeneffekt, dass gelöste
Adhäsion und Kohäsion zwischen Flüssigkeiten Salze mit nach oben gefördert werden und sich
und Festkörpern sind auch für den sogenannten nach Verdunstung des Wassers auf der Oberfläche
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

Kapillareffekt verantwortlich. Damit wird das ablagern (Bodenversalzung).


Verhalten von Flüssigkeiten in engen Röhren Das hohe elektrische Dipolmoment der Was-
sermoleküle führt übrigens zu teilweise völlig
6-27
Kontaktwinkel. Der Grad der Benetzung hängt von den
Stärken der Adhäsions- und Kohäsionskräfte von Flüs- 6-28
sigkeit und Festkörper ab. Ein Maß dafür ist der Kontakt- Wasserbrücken. Ein völlig
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

winkel δ. Bei δ = 0 liegt vollkommene Benetzung (Sprei- überraschendes Verhalten


tung) vor, ist δ > 90 °, so spricht man von Nichtbenet- zeigt Wasser aufgrund sei-
zung, andernfalls von Benetzung. Den Zusammenhang ner polaren Eigenschaften
zwischen den Grenzflächenspannungen der beteiligten in einem starken elektri-
Stoffe beschreibt das Youngsche Gesetz (THOMAS YOUNG, schen Feld. (Bild: FUCHS /
1773 – 1829). WOISETSCHLÄGER)

3 25
KAPITEL 6 Wasser

überraschenden Phänomenen. So haben Forscher verteilten Anteile eines Stoffgemischs auch als
an der Technischen Universität Graz im Jahr Kolloide bezeichnet. Liegen alle Bestandteile ei-
2007 den Effekt genauer untersucht, dass Was- nes Gemischs in fester Form wie bei Gesteinen
ser unter dem Einfluß eines starken elektrischen vor, so heißen sie Gemenge, bei Metallen spricht
Feldes von 25 000 V/m in zwei nebeneinander man von Legierungen.
stehenden Gefäßen aufsteigt und spontan bis zu Wenn wir einen Bereich eines Stoffes als ho-
2,5cm lange freischwebende Verbindungstunnel mogen oder als heterogen bezeichnen, müssen
ausbildet (ÅAbbildung 6-28, Seite 325). — wir allerdings beachten, dass wir die wahre Na-
tur der Materie wieder einmal idealisieren. Ob
Stoffgemische „homogen“ oder „heterogen“, kann durchaus
von der betrachteten Größenskala abhängen.
Ein schönes Durcheinander Zudem werden auch Bereiche mit schwachen
Gradienten der Eigenschaften oder geringen
dispers Weder Wasser noch andere Flüssigkeiten kom- Verunreinigungen meist noch als „homogen“
lat. dispergere, ausbreiten,
zerstreuen
men in der Natur absolut rein vor. Meist enthal- bezeichnet.
ten sie mehr oder weniger fein verteilte Anteile
von Fremdstoffen, sie sind Stoffgemische. Das
Kolloid gilt auch für die meisten von Menschen erzeug- Lösungen
(griech. kolla, Leim). In
einer festen, flüssigen
ten Flüssigkeiten. Nach Art der Verteilung von
oder gasförmigen Phase flüssigen oder festen Stoffen sowie nach Parti- Lösungen sind homogene Gemische aus einem
dispergierter Stoff mit ei- kelgröße unterscheidet man drei Arten, näm- oder mehreren gelösten Stoffen in einem Lö-
nem Teilchen- oder Tröpf-
lich Lösungen, Emulsionen und Suspensionen. sungsmittell (in der Fachsprache auch Lösemit-
chendurchmesser von ca.
1 nm – 10 μm. Die ersteren bilden ein homogenes Gemisch, tel), welches die Hauptkomponente des Mehr-
also eine einheitliche Phase. Die beiden anderen stoffsystems darstellt und seinen physikalischen
sind heterogene Gemische, an denen in aller Charakter bestimmt. Die gelösten Stoffe können
Regel Wasser maßgeblich beteiligt ist. Sowohl als Reinstoffe ursprünglich selbst Flüssigkeiten,
Emulsionen als auch Suspensionen bestehen aus aber auch Gase oder Feststoffe sein. In der Lö-
zwei nicht mischbaren Phasen: diejenige, die sung treten sie als Moleküle, Molekülgruppen
den größeren Anteil hat, heißt äußere Phase; oder Ionen auf, also als Partikel im Nanometer-
polar – unpolar
diejenige, die darin in Tröpfchen (Emulsion) oder maßstab, die mit normalen Mikroskopen nicht
Besteht in einem Teilchen
eine ungleichmäßige Körnchen (Suspension) schwebt, nennt man die erkennbar sind. Lösungsmittel sind in der Regel
Verteilung elektrischer innere Phase. Bei heterogenen Stoffgemischen Flüssigkeiten. Anhand der Größe gelöster Par-
Ladungen spricht man
sind die Bestandteile mit dem bloßen Auge oder tikel unterscheidet man manchmal heterogene
von einem polaren Teil-
chen. Dabei können die unter dem Mikroskop zu erkennen und die Mi- und homogene (Lösungs-)systeme. Bei ersteren,
Ladungen völlig getrennt schungen erscheinen trüb, wenn die Tröpfchen selteneren Vertretern sind größere Partikel unter
sein wie bei Ionen, oder bzw. Körnchen der innere Phase einen größeren einem Lichtmikrokop sichtbar. Bei den üblichen,
nur zwischen den Atomen
eines Moleküls mehr oder Durchmesser besitzen, als der Wellenlänge sicht- homogenen Lösungen haben die gelösten Parti-
weniger stark verschoben. baren Lichts (bis ca. 800 nm) entspricht und die kel eine Größe von ca. 3 nm und jeder Bereich
Teilchen mit gleichmäßiger Brechzahlen beider Phasen nicht genau gleich weist dieselbe Zusammensetzung auf, also jede
Ladungsverteilung werden
als unpolar bezeichnet. sind. Generell werden die dispersen, äußerst fein kleine Teilmenge hat dieselbe wie die gesamte
Die Bezeichnungen polar Lösung. Das bedeutet, im Gegensatz zu Emul-
bzw. unpolar werden sionen bestehen sie nur aus einer einheitlichen
nicht nur für die Teilchen
selbst, sondern auch für
Phase. Deshalb fallen aus Lösungen auch bei län-
Stoffe verwendet, die aus geren Standzeiten keine der gelösten Stoffe aus,
entsprechenden Teilchen und diese können auch nicht mit physikalischen
bestehen (z. B. ist Wasser
stark polar, Öl dagegen
Mitteln wie mit normalen Filtern aus der Lö-
6-29 sung entfernt werden, wohl aber mit speziellen
sehr unpolar).
Lösung, Emulsion, Suspension im Mikrometer-Maßstab.
Während Lösungen auf dieser Größenskala homogen Molekülfiltern („Molsieben“). Die Zugabe von
(einphasig) sind, finden sich in Emulsionen winzige Flüs- löslichen Stoffen beeinflusst den Siede- oder den
sigkeitströpfchen und in Suspensionen winzige Körnchen Gefrierpunkt sowie den Dampfdruck der jeweili-
von Feststoffen (blau: äußere Phase, beige: innere,
disperse Phase). Normalerweise liegen in der Praxis Mi- gen Lösung (ÅKasten Schmelzpunkterniedrigung
schungen dieser drei Idealtypen vor. und Siedepunkterhöhung, Seite 324).

326
Erde, Wasser, Luft und Feuer

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
6-30
Lösungen auf molekularem Maßstab. Bei Lösungen liegen in molekularem Maßstab fein verteilte Teilchen (Atome, Io-
nen oder Moleküle) in einem anderen Stoff vor. Besonders gut löslich sind Teilchen, die dem Lösemittel (Lösungsmittel)
in seiner Polarität ähneln. Lösungen erscheinen nicht trüb, da die Teilchendurchmesser kleiner sind als die Lichtwellen-
länge.

Lösungen können entweder physikalisch durch und andere Mineralstoffe. Insgesamt enthält eine
einfaches Verrühren erzeugt werden oder mit- Tasse mit 100 ml Tee ca. 100 mg gelöste Stoffe,
tels Wärme wie z. B. beim Kaffee- oder Tee- also nur etwa 1 Promille gelöste Anteile. Diese
Aufbrühen. Die durch Umrühren oder durch verleihen dem Getränk seine Farbe und je nach
Wärmezufuhr verursachte schnellere Bewegung Art und Anteil den typischen Geschmack.
der Wassermoleküle schafft zwischen ihnen win- Zu den leicht in Wasser löslichen Gasen
zigste Freiräume, in die wasserfremde Moleküle gehört Kohlendioxid, welches in Quell- oder
eingelagert werden können. Mineralwasser vorkommt und in Erfrischungs-
Bei der Bildung von Lösungen wird entwe- getränken künstlich angereichert wird. Austre-
der Wärme freigesetzt oder sie muss zugeführt tendes Gas ist gut an den Bläschen erkennbar,

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werden. Diese Wärme wird als Lösungsenthalpie die in der Flüssigkeit aufsteigen. Eingeleitet in
bezeichnet. Bei vielen Stoffen existiert eine Sätti- Wasser wird der größte Teil des Kohlendioxids
gungskonzentration, auch Löslichkeit genannt. einfach gelöst. Die leicht negativ polarisierten
Sie gibt die maximal lösliche Stoffmenge an Sauerstoffatome der CO2-Moleküle gehen dabei
und wird meist in g / l oder in mol / l angegeben. lockere Wasserstoffbrückenbindungen zu den 6-31
Die Löslichkeit von Kochsalz (NaCl) in Wasser entsprechend positiv polarisierten Wasserstoffa- Wasserlösliche Substan-
zen. Gut löslich in Wasser
beträgt 359 g/l bei 20 °C. tomen der Wassermoleküle ein. Zu einem kleinen
sind kleine elektrisch
Lösungen kommen in allen Aggregatzustän- Teil (ca. 0,1 Prozent) verbindet sich das Koh- geladene Teilchen (Atom-
den vor: Materialwissenschaftler zählen z. B. lendioxid aber auch chemisch mit dem Wasser bzw. Molekülionen). Auch
kleine neutrale Moleküle,
auch amorphe Festkörper aus erstarrten Lö- (H2O) zur schwachen Kohlensäure (H2CO3).
die durch elektronegative
sungen wie Gläser (Å Gläser – nicht immer zer- Kohlensäure ist jedoch in wässrigen Lösungen Atome zumindest eine
brechlich, Seite 281) hierzu, weiterhin einige ein sehr instabiles Molekül, das leicht wieder in intramolekulare Polarität
Kunststoffe (ÅAus dem Leben der Beuteltiere, seine Bestandteile zerfällt. Je kühler das Wasser aufweisen, lösen sich aus-
gezeichnet.
Seite 291) mit Plastifikatoren, Metalllegierun- ist, desto mehr CO2 kann es lösen. Öffnet man A Kochsalz
gen (ÅAlltägliche Metalle – Legierungen, Seite eine Flasche kohlensäurehaltigen Getränks, so B Natriumacetat
253). Flüssige Lösungen sind u. a. Kaffee, Tee zischt und sprudelt es, an heißen Tagen oder nach C Traubenzucker
(Glucose)
oder Erfrischungsgetränke; gasförmige Lösun- Energiezufuhr durch Schütteln der Flasche kann
gen sind u. a. die ÅLuft (Seite 371). es sogar überschäumen. Ausgelöst wird dieser
Bei Kaffee, Tee, Limonaden oder klaren Vorgang durch austretendes Gas, das umgangs-
Obstsäften handelt es sich um wässrige Lösun- sprachlich fälschlicherweise als Kohlensäure be-
gen, die bis zu 98 Prozent aus Wasser bestehen. zeichnet wird, tatsächlich aber das Kohlendioxid,
So enthält ein Teebeutel 1,5 – 1,75 g Teeblätter, ein Anhydrid der Kohlensäure, ist. Auch der
aus denen ca. 50 mg Tein (Coffein) herausgelöst Bierschaum, die Blume, besteht größtenteils aus
werden, dazu kommen noch ca. 10 mengen- CO2-Bläschen. Die Kohlensäure in Erfrischungs-
mäßig bedeutende Substanzen wie Catechine, getränken verbessert den Geschmack und verhin-
Theaflavine, Peptide, Zucker, Vitamine, Kalium dert das Wachstum von Bakterien.

3 27
KA
KAP
PIITE
TEL 6 Wa
Wasser

Wasser – das ideale Lösungsmittel um das sich weitere Wassermoleküle anordnen.


Ihre Konzentration bildet in der Chemie ein Maß
Wasser löst sehr viele der Substanzen, mit denen für den Säuregrad einer wässrigen Lösung.
wir es täglich zu tun haben, einige jedoch in Im Falle von Natriumionen sind es normaler-
so geringem Maße, dass sie als wasserunlöslich weise sechs Wassermoleküle, die sich mit ihren
bezeichnet werden. Sobald Wasser das Lösungs- partiell negativ geladenen Sauerstoffatomen in
mittel ist, spricht man wässrigen Lösungen. Die Form eines Oktaeders relativ fest an das positiv
meisten lebenserhaltenden Aktivitäten in Säuge- geladene Na+-Ion binden. Größere Ionen wir Ka-
tieren und Menschen sind chemische Reaktionen liumionen (K+) binden im Vergleich durchschnitt-
in wässriger Lösung. lich weniger Wassermoleküle (ÅAbbildung 6-33).
Die vielleicht wichtigste Gruppe wasserlösli- Dies führt übrigens zu der absurden Situation,
cher Stoffe bilden die Salze. Diese bestehen aus dass die eigentlich kleineren Natriumionen nicht
positiv geladenen Kationen und aus negativ ge- durch Poren dringen können, die für die größe-
ladenen Anionen. Was passiert nun genau mit ei- ren Kaliumionen ohne weiteres passierbar sind.
nem Salz in Wasser? Es verschwindet nicht etwa, Dies ist für die an der Nervenleitung beteiligten
sondern es wird in der Lösung nur unsichtbar, Ionentransporte durch Kanäle in Zellmembranen
weil die fein verteilten Teilchen einen mehrere von entscheidender Bedeutung.
hundert mal kleineren Durchmesser besitzen, Auch die als Chlorid bezeichneten großen
als der Wellenlänge sichtbaren Lichts entspricht. Chloranionen (Cl–) sind nicht so stark an Was-
Ähnlich wie ein dünner Pfosten weit draußen sermoleküle gebunden und tragen weniger zur
in der Brandung die Wellen am Strand nicht Energiebilanz des Lösungsvorgangs bei. Den-
wesentlich verändern kann, beeinflusst auch ein noch gibt es Wechselwirkungen zwischen ihnen
winziges Teilchen die viel größeren Lichtwellen- und den partiell positiv geladenen Wasserstoff-
pakete im Allgemeinen kaum. Wir wollen hier atomen in den Wassermolekülen. Infolge dieser
von farbigen Ionen einmal absehen, die Lösungen Ion-Dipol-Anziehung entfernen sich die Ionen
durchaus sichtbar beeinflussen. aus dem Kristallverband. Den Zerfallsvorgang
Die polaren Wassermoleküle können sich eines Stoffes in seine Ionen nennt man Dissozia-
unter Energiegewinn (Hydratationsenergie) mit tion. Auch Säuren und Alkalien lösen sich und
ihrer jeweils entgegengesetzt geladenen Seite dissoziieren teilweise oder ganz in ihre Ionen.
an Ionen anlagern (ÅAbbildung 6-32) und de- Einige Salze wie z. B. Silberchlorid (AgCl)
ren Ladung damit teilweise kompensieren. Die oder Silberiodid (AgI) sind schwer wasserlöslich,
Ionen werden am Ende von einer Hülle aus weil sich deren Ionen wieder zu unlöslichen
Wassermolekülen (Hydrathülle, Å Abbildung Ausfällungsprodukten (Präzipitaten) verbinden.
6-33) umgeben und damit gelöst, denn durch Ionen müssen nicht notwendig aus einzelnen
die große Entfernung voneinander ziehen sie sich Atomen hervorgehen, sondern es kann sich auch
nur noch schwach gegenseitig an. Man nennt um geladene Atomgruppen handeln. Hierzu zäh-
diesen Vorgang Hydratation. Sehr kleine Ionen len etwa komplexe Anionen wie Nitrat (NO3–),
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mit entsprechend hoher elektrischer Feldstärke Sulfat (SO4–) oder Phosphat (PO4–) bis hin zu
an ihrer Oberfläche bilden besonders stabile Ionen organischer Säuren, etwa der Essigsäure
Hydrathüllen aus. im Natriumacetat (CH3COO–). Auch Kationen
Die kleinsten denkbaren positiven Ionen, können komplex zusammengesetzt sein.
die H+-Wasserstoffionen, existieren in wässriger Um in Wasser gut löslich zu sein, müssen
6-32 Lösung überhaupt nicht. Das winzige, von allen die entsprechenden Stoffe aber nicht unbedingt
Lösen von Ionenkristallen. Elektronen befreite Teilchen (Proton) nistet sich ionisch vorliegen. Als polare Flüssigkeit löst
Wassermoleküle können
sich unter Energiegewinn
sofort in der Elektronenhülle eines einzelnen Wasser auch andere polare Stoffe wie etwa Glu-
mit ihrer negativ gela- Wassermoleküls ein und bildet mit ihm zusam- cose oder Harnstoff aufgrund von Dipol-Dipol-
denen Seite an Kationen men ein sogenanntes Hydronium-Ion (H3O+), Wechselwirkungen sehr leicht. Diese Stoffe be-
bzw. mit ihrer positiven
Seite an Anionen anlagern 6-33 sitzen am Molekülgerüst polare Atomgruppen
und deren Ladung so zum Hydrathüllen. Kleinere Ionen bilden festere Hydrathüllen. wie – OH, – NH2 oder – NO2. Sie zerfallen im
Teil kompensieren. Diese Sie bestehen aus schwach gebundenen Wassermolekülen, Wasser nicht in einzelne Ionen. Ein für die Auf-
Anlagerung (Hydratation) die aufgrund der Wärmebewegung immer wieder aus-
getauscht werden (die dadurch vergrößerten effektiven lösung ausreichender Energiegewinn kommt
führt zur Auflösung des
Ionengitters. Ionenradien sind hier symbolisch bläulich dargestellt). aber bereits dadurch zustande, dass sich Was-
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328
Erde, Wasser, Luft und Feuer

sermoleküle an Bereiche der Moleküloberfläche lieben Wasser und Fette, Seite 331). Sie bilden
anlagern, die eine höhere oder niedrigere Elek- Bindungen mit beiden Komponenten und stabi-
tronendichte (eine negative oder positive Parti- lisieren so die Emulsion.
alladung) aufweisen. Auch Gase können sich je Diejenige Flüssigkeit, in der die zweite dis-
nach Druck und Temperatur in Wasser lösen. pergiert ist, wird als äußere oder kontinuierliche
Phase bezeichnet. Sie bildet meist die Haupt-

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komponente, das Dispersionsmittel. Die andere,
Emulsionen dispergierte Flüssigkeit, besteht aus winzigen, oft
nur wenige Mikrometer großen Tröpfchen. Sie
Milch, die erste Flüssigkeit, mit der wir nach wird auch innere oder disperse Phase genannt.
unserer Geburt nähere Bekanntschaft machen, Wenn die kugelförmigen Tröpfchen einen hete-
enthält natürlich gelöste Stoffe wie Zucker, Vit- rogenen Durchmesser haben, kann es Emulsio-
amine, Mineralstoffe und ist damit eine Lösung. nen geben, deren Raumerfüllungen mehr als 74
Ihr wesentlichstes Merkmal aber, das weißlich Prozent erreichen, also die dichteste ÅKugelpa-
trübe Aussehen, das sie auf den ersten Blick ckung (Seite 156) zulassen würden.
von einer Zuckerlösung unterscheidet, weist
sie als typisches Beispiel für eine Emulsion aus. Öl-in-Wasser (O/W)-Emulsionen
Und wie jeder weiß, gerinnt Milch leicht und
trennt sich dabei in eine oben schwimmende Wie der Name besagt, umschließt hier Wasser
fetthaltige Komponente und die fast klare wäss- winzige Öl- bzw. Fetttröpfchen. Aufgrund der
rige Molke darunter. Auch dies tun einfache starken Lichtstreuung der Tröpfchen schimmern
Lösungen nicht. diese Emulsionen weißlich. Dazu gehören die
Emulsionen gehören zu den Kolloiden. Es eingangs erwähnte Milch, aber auch Sahne, Spei-
sind Zwei-Phasen-Systeme – disperse Gemische seeis und Mayonnaise.
aus nicht ineinander löslichen Flüssigkeiten. Da- Kuhmilch besteht zu 87,5 Prozent aus Was-
bei besitzt die eine gewöhnlich einen fett- bzw. ser. Das in Form von 1,0 – 15μm großen Tröpf-
ölartigen (lipophilen) unpolaren Charakter, die chen dispers verteilte Milchfett hat einen Anteil
andere hingegen ist wässrig (hydrophil). Ohne von weniger als 4,2 Prozent. Außerdem führt die

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zusätzliche Stabilisatoren sind Emulsionen oft Flüssigkeit 4,8 Prozent Kohlenhydrate, 3,5 Pro-
instabile Systeme. Ein Beispiel dafür ist die haus- zent Eiweiße und 0,7 Prozent Spurenelemente.
gemachte Essig-Öl-Salatsauce, die sich nach kur- r Als Emulgatoren wirken im Milchfett enthal-
zer Standzeit in ihre Komponenten Essig und Öl tene, aus Zellmembranen stammende Lecithine
auftrennt. (Å Abbildung 6-37, Seite 331), die die Fett-
Stabilisatoren sind flüssige oder feste Hilfs- kügelchen oder -tröpfchen umschließen und so
stoffe, die die Aufgabe haben, die unverträgli- in der Schwebe halten. Bleibt frische Milch ca. 6-34
chen Partner in ihrer innigen Beziehung zu hal- 30 – 60 Minuten stehen, so bildet sich an ihrer Vier nicht mischbare flüs-
ten. Sie werden bei Lebensmitteln Emulgatoren, Oberfläche eine Fettschicht, der Rahm. Ursache sige Phasen. Wussten Sie,
dass es möglich ist, bis zu
sonst Tenside genannt. Die Unverträglichkeit für das Aufrahmen ist der Dichteunterschied vier nicht mischbare flüs-
unpolarer und polarer Flüssigkeiten rührt da- zwischen den Fetttröpfchen und dem Wasser. sige Phasen stabil überein-
her, dass es energetisch günstiger ist, wenn die Bei abgepackter, homogenisierter Milch tritt ander zu schichten? Von
oben nach unten:
Wassermoleküle untereinander möglichst zahl- dieser Prozess kaum mehr ein, denn die Milch
reiche Wasserstoffbrückenbindungen ausbilden wird bei 50 – 75 °C durch feine Düsen gepresst. 1. Toluol mit Farbstoff Su-
können. Unpolare Moleküle dazwischen würden Dadurch reduziert sich der Durchmesser der dan III (rot)
dabei nur stören. Diese wiederum binden un- Fetttröpfchen auf 0,5 – 0,8 μm; diese sind also 2. Methanol mit etwas ge-
tereinander immerhin über schwache ÅVan-der wesentlich feiner im Wasser verteilt. Die Fett- löstem Methylrot (gelb)
Waals-Wechselwirkungen (Seite 150). Nur an tröpfchen verleihen der Milch wie auch anderen
3. gesättigte wässrige Lö-
der Grenzfläche zwischen diesen Phasen ergibt als Makroemulsionen bezeichneten Emulsionen
sung von Kaliumcarbonat,
sich eine energetisch ungünstige Situation. Die (solche mit Tröpfchengrößen oberhalb der Licht- durch Kupfersulfat und
Grenzflächenspannung versucht, diese Grenz- wellenlänge) ihr typisches weißlich-opakes Aus- etwas Kaliumchromat ge-
färbt (grün)
fläche zu verkleinern, was die Entmischung der sehen. Sie reflektieren einfallendes Licht an den
Salatsauce fördert. Emulgatoren bzw. Tenside zahllosen Phasengrenzen und streuen es in alle 4. Quecksilber
aber sind Kinder beider Welten (ÅTenside – Sie Richtungen. Dadurch addieren sich die Spekt-

Milch (O
O/W
/W) Butt
But
Bu tter
tte
er (W/
W/O
O))
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3 29
KAPITEL 6 Wasser

ralfarben letztlich zu Weiß. Mikroemulsionen zent aus Wasser in Form fein verteilter, mikro-
hingegen erscheinen klar und gehen im Grenzfall skopischer Kügelchen. Die restlichen, fettfreien
molekular kleiner Tröpfchen in Lösungen über. Anteile der Trockenmasse bestehen aus Eiweiß,
Eine Besonderheit ist die Verwendung fester Lactose, Mineralstoffen und Vitaminen. Weitere
Emulgatoren, was z. B. seit fast hundert Jahren wichtige Vertreter dieses Typs sind Margarine,
mit Senfpulver für Mayonnaise praktiziert wird. kosmetische und medizinische Salben, Sauce
Sie ergeben besonders langzeitstabile Emulsionen. Hollandaise, Leberwurst und bestimmte Typen
von Magma Å(Fließende Gesteine, Seite 356).
Wasser-in-Öl-(W/O)-Emulsionen

Hier ist Öl das Dispersionsmittel, das winzige Suspensionen


Wassertropfen umschließt. Aufgrund des hohen
Fettanteils schimmern Wasser-in-Öl-Emulsio- Blut ist ein ganz besonderer Saft. Und seine be-
nen meist gelblich wie deren Kardinalbeispiel, sonderen Eigenschaften könnte er nicht besitzen,
die Butter. Der Ausgangsstoff für die Butter wären darin nur gelöste und flüssige Bestandteile
(griech. boutyron, Kuhkäse) ist die Milch, also vorhanden.
eine Öl-in-Wasser-Emulsion. Die Phasenumkehr Man bezeichnet Aufschlämmungen mehr
des Milchrahms entsteht durch mechanische oder weniger fester Bestandteile in einer Flüs-
Einwirkung. Beim Schlagen und Stoßen des sigkeit als Suspension (lat. suspendere, in der
Rahms wird die Hülle der Fettkügelchen zer- Schwebe lassen). Gelegentlich wird derselbe
stört, das flüssige Fett tritt aus, und die An- Ausdruck auch für feste Schwebstoffe in Gasen
teile mehrerer Kügelchen vereinigen sich zu so verwendet, in diesem Falle wollen wir hier aber
genannten Butterkörnern. Diese schwimmen lieber von Å Aerosolen (Seite 320) sprechen.
auf dem wässrigen Anteil des Rahms, der als Die Feststoffe werden in Suspensionen analog
Buttermilch abgeschöpft werden kann. Butter zu Emulsionen als innere, die Flüssigkeit als äu-
besteht bis zu 83 Prozent aus Milchfett, das ßere Phase bezeichnet. Bei einer Korngröße von
das Dispersionsmittel bildet, und bis zu 16 Pro- 0,1 – 1 mm spricht man von einer „groben Sus-
pension“, bei einer Teilchengröße von 1 – 100 μm
von einer „feinen“. Unter einem optischen Mik-
WOW – Emulsionen führen ein kompliziertes Doppelleben! roskop sind die Feststoffpartikel erkennbar. Sie
gehen weder in Lösung, noch verbinden sie sich
Überraschenderweise gelingt es wird in einem zweiten Schritt unter chemisch mit der flüssigen Phase.
mit raffinierten Herstellun gs- schwächerem Rühren zusammen Natürliche Suspensionen treten zum Beispiel
verfahren neben den klassischen mit einem weiteren eher hydrophi- in Fließgewässern auf, in denen Sedimente schwe-
O/W- und W/O-Emulsionen soge- len Emulgator in einer wässrigen bend transportiert werden; je höher die Fließge-
nannte doppelte Emulsionen aus Phase verteilt. schwindigkeit ist, desto größere Partikel werden
drei Phasen herzustellen und zu noch mitgeführt. Letzteres ist nach Regenfäl-
stabilisieren. Diese O/W/O- bzw. len zu beobachten, wenn Bäche und Flüsse eine
W/O/W-Emulsionen finden zuneh- bräunlich schmutzige Färbung annehmen. Sie
mend Anwendung in der Kosme- wird durch abgespülte Bodenpartikel verursacht.
tik (Feuchtigkeitscremes), in der Nach längerer Standzeit trennen sich äußere
Nahrungsmittelindustrie (kalori- und innere Phase in einer Suspension meist von-
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enreduzierte Lebensmittel) und in einander: Die gegenüber der Flüssigkeit schwe-


der Pharmaindustrie (kontrollierte reren Partikel fallen aus und sedimentieren. In
Freisetzung von Wirkstoffen). In der Natur kommt es so zur Ablagerung von
letzterem Fall wird z. B. zunächst Tongesteinen. Je kleiner die Teilchen sind, desto
unter starkem Rühren eine W/O-
100 μm – 1 mm grobe Suspension
Voremulsion aus Wasser in Öl
mit einem ersten Emulgator her- 6-35 1 μm – 100 μm feine Suspension
W/O/W-Emulsion. Ein Mehrphasen-
gestellt, der eher unpolare Eigen- system mit äußerer, mittlerer und inne- 1 nm – 1 μm Dispersion
schaften aufweist. Diese Emulsion rer Phase.
< 1 nm Molekulardispersion

330
Erde, Wasser, Luft und Feuer

6-36 Wort tensio, (An)Spannung zurück und wird Ein- und Zweiphasensys-
Blutsenkung. Die Sedi- teme
mentationsgeschwindig-
bei Nichtlebensmitteln sowie industriellen Pro-
keit von Blut, das durch duktionsprozessen verwendet. Eines der ältes-
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einen Natriumcitrat-Zu- ten bekannten Tenside ist die gewöhnliche Seife 1 Phase
satz am Gerinnen gehin-
(Å Verseifung, Seite 339). Bis Anfang des 20. Lösung Feststoff /
dert wurde, gibt Hinweise
auf entzündliche Prozesse Jahrhunderts war sie auch das wichtigste Tensid. Flüssigkeit
und andere Krankheiten. Inzwischen sind andere, modernere Tenside ent- Lösung Flüssigkeit /
Flüssigkeit
wickelt worden. Bei der Fotoentwicklung werden
Lösung Gas /
sie als Netzmittel und bei der Herstellung von Flüssigkeit
länger dauert dieser Prozess. Im Labor kann die Lacken als Dispergiermittel bezeichnet. Letztere 2 Phasen
Flüssigkeit nach Abschluss des Trennvorgangs sollen Pigmentteilchen im flüssigem Lack in der Gemenge Feststoff /
abgegossen werden (Dekantieren). Dieser Vor- Schwebe halten. Feststoff
gang spielt z. B. bei Blutsenkungen (ÅAbbildung In der Lebensmittelindustrie wird anstelle von Suspension Feststoff /
Flüssigkeit
6-36) eine wichtige Rolle. In der Polymerchemie Tensid der Begriff „Emulgator“ verwendet. Er lei-
Suspension Feststoff /
werden Sedimentationsprozesse zur Erzeugung tet sich von „Emulsion“ ab, letzterer geht auf das Gas
von Kunststoffen wie Polyacrylaten (Å Seite neulateinische emulsum zurück, was – bezogen Emulsion Flüssigkeit /
301) genutzt. auf das trübe milchige Aussehen von Emulsionen Flüssigkeit
Den Suspensionen begegnen wir außerdem – Abgemolkenes bedeutet. Nebel Flüssigkeit /
Gas
bei so unterschiedlichen Stoffen wie Wand- und Tenside werden gegenwärtig jeweils etwa zur
Schaum Gas /
Deckfarben, Weizen- und Zoiglbieren, Orangen- Hälfte aus petrochemischen und oleochemischen Flüssigkeit
saft, Kakao, Treibsand sowie staubreicher Luft. Grundstoffen erzeugt. Letztere sind nachwach- Schwamm Flüssigkeit /
Die nicht-newtonsche Flüssigkeit (Å Seite sende Rohstoffe wie Kokos- oder Palmkernöl, Feststoff
311) Blut ist eine typische Suspension. Blut aber auch Stärke aus Mais oder Kartoffeln. Ten- Schwamm Gas /
Feststoff
besteht zu 44 Prozent aus zellulären Bestandtei- side auf oleochemischer Basis sind sanfter, haut-
len, dem Hämatokrit, sowie zu 56 Prozent ent aus
aus verträglicher
verträgl und biologisch besser abbaubar.
dem Blutplasma, einer wässrigen Lösung Tenside und Emulgatoren sind Stoffe,
mit einem Wassergehalt von 90 Pro- die ein polares, d. h. wasserfreundli-
zent. Aufgrund der enthaltenen roten ches und ein unpolares, fettfreundliches
Blutkörperchen (Erythrozyten) zeigt Blut Ende besitzen (Å Abbildung 6-37). Der-
eine höhere Viskosität als das Plasma. Die artige Hilfsstoffe werden in verschiedenen
Viskosität des Bluts bei 37 °C ist mit einem Wer- Bereichen eingesetzt: Als Textilhilfsmittel, als
tebereich von 4 – 25 · 10–3 N · m–2 variabel. Sie Zusatzstoffe, die eine statische Aufladung ver-
hängt von den Strömungsverhältnissen ab, die hindern sollen (Antistatika) und als Flotations-
wiederum vom Durchmesser der Blutgefäße und chemikalien (Å Aufarbeitung und Verhüttung,
der jeweiligen Menge der suspendierten Zellen Seite 254). Die Flotation ist ein Trennver-
beeinflusst werden. Sie ist erheblich höher als fahren für feinkörnige Feststoffe nach ihrer
die des Wassers mit 0,891 · 10–3 N·m–2 bei 25°C, Polarität. In der Lebensmittelindustrie dienen
folglich ist Blut wirklich „dicker als Wasser“! Emulgatoren zur Herstellung von Emulsionen;
in Wasch- und Reinigungsmitteln bilden Ten-
side die wichtigsten waschaktiven Wirkstoff-
Tenside – gruppen.
sie lieben Wasser und Fette Tenside bzw. Emulgatoren reduzieren stets
die Grenzflächen- bzw. Oberflächenspannung
Sie haben sie heute sicher schon verwendet: Ohne von Wasser und in Emulsionen der einzelnen
Seifen und andere Wasch- und Reinigungsmittel Tröpfchen. Sie sorgen dafür, dass neu ent-
wäre moderne Hygiene undenkbar. Dabei han- standene Tröpfchen der inneren Phase einen
delt es sich um grenzflächenaktive Substanzen Abstand voneinander halten und nicht wie-
mit unterschiedlichen Einsatzbereichen, die nicht der zusammenfließen. So wird erreicht, dass
nur im Haushalt gebraucht werden, sondern all- diese sich fein und gleichmäßig in der äußeren
6-37
gemein als chemische Hilfsstoffe bei vielen Mi- Phase verteilen. Aus eigentlich nicht misch-
Lecithine. Natürliche Ten-
schungsvorgängen. Der von E. GÖTTE eingeführte baren Ölen/Fetten auf der einen und Wasser side und Bestandteile von
Sammelbegriff Tenside geht auf das lateinische auf der anderen Seite entstehen dadurch mehr Zellmembranen.

331
KAPITEL 6 Wasser

6-38 Verbindungen), dessen Name vom griechischen


Tensid-Mizellen. Tenside
lösen sich gewöhnlich in
lekithos, Eidotter abgeleitet ist.
wässrigen Lösungen. Sie Ab einer bestimmten Konzentration schlie-
bilden dabei sogenannte ßen sich Kleinsttröpfchen von Tensiden zu grö-
Mizellen, durch die die
ßeren Tröpfchen zusammen, Mizellen genannt
Grenzfläche zum Wasser
verringert wird. So ver- © 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
(Å Abbildung 6-38). Bei diesen ungefähr ku-
fügen Waschlaugen über gelförmigen Gebilden weisen die hydrophoben
einen gewissen inneren Enden zur inneren, die hydrophilen zur äußeren
Vorrat an Tensiden.
Im Bild sind die Wasser- Phase, oft Wasser. An Oberflächen verhalten sich
moleküle weggelassen. Tenside ähnlich, der hydrophile Teil orientiert
sich zum Wasser hin, der hydrophobe zur gas-
förmigen Phase, zur Luft.
6-39
Stabilisation einer O/W-
Emulsion. In wässriger
1 Anionische Tenside sind im polaren Teil negativ
Lösung können Tensidmo- geladen; sie bilden in wässriger Lösung negativ
leküle an der Grenzfläche geladene Tensidionen. Sie sind gut hautverträglich
den energetisch ungüns-
und deshalb oft Hauptbestandteil von Duschge-
tigen Kontakt zwischen
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unpolarer Ölphase und len oder Shampoos. Das bekannteste anionische


polarer Wasserphase Tensid ist die Seife. Als Tenside sind sie nicht
abschwächen und das immer optimal geeignet, da sie in hartem Wasser
System so stabilisieren. Die
Ionenladungen sind durch unlösliche Kalkseifen bilden. Ihre polaren funk-
rote (+) bzw. blaue (-) Ku- tionellen Gruppen sind Carboxylat (–COO–),
geln symbolisiert . Sulfonat (–SO3–) und Sulfat (–OSO3–).
6-40
Schaum und Seifenblasen. 2 Kationische Tenside sind im polaren Teil po-
Luft verhält sich in gewis- sitiv geladen; sie bilden in wässriger Lösung
sem Sinn ähnlich wie eine
unpolare Ölphase. In einer positiv geladene Tensidionen. Sie werden als
wässrigen Lösung tauchen Komponenten in Weichspülern bei der Textil-
Tensidmoleküle stets mit reinigung oder wegen der hydrophoben Wir-
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ihrem polaren, hydrophilen


Ende ein. Im Falle von kung des unpolaren Teils als Trocknungshilfen
Seifenblasen kommt es zur in Autowaschstraßen verwendet. Ihre Waschwir- r
Bildung von Doppelmem- kung ist gering. Da sie sich an negativ geladene
branen der Bauform unpo-
lar – polar – unpolar.
Haut- oder Haaroberflächen anlagern, neutra-
lisieren sie deren Ladung und wirken glättend.
Die Haare flattern dann nicht mehr nach jedem
6-41 Haarewaschen. Im polaren Teil bildet eine quar-
Biomembran. Seifenblasen
täre Ammonium-Gruppe (R4N+) die funktionelle
und Liposomen zeigen
frappierende Ähnlichkeiten Gruppe.
mit Biomembranen (Ein-
heitsmembranen). Auch 3 Nichtionische Tenside, auch Niotenside, tra-
die Zellmembran, mit der
gen in ihrem polaren Teil keine Ladung. Als
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alle lebenden Zellen ihr


wässriges Innenmilieu von nichtionisch bezeichnet man sie deshalb, weil sie
der ebenfalls wässrigen keine dissoziierbaren funktionellen Gruppen ent-
Außenwelt abgrenzen,
hat Liposomstruktur (po- halten. Daher trennen sie sich im Wasser nicht
lar – unpolar – polar). Sie in Ionen auf. Niotenside sind hautverträgliche
gilt als die ursprünglichste Substanzen. Sie werden als Waschkraftverstärker
Struktur aller Ålebenden
Systeme (Seite 512).
bei Shampoos eingesetzt, ferner für das Waschen
Dabei beschränkt sich die oder weniger stabile Emulsionen. In Lebens- von synthetischen Fasern bei niedrigen Tempe-
Ähnlichkeit nicht auf die mitteln können Honig, Senf und Eigelb diese raturen sowie als Emulgatoren. Für sie typisch
Polaritätsstruktur, sondern
Funktion übernehmen. Senf und insbesondere sind Polyether-Ketten. Sie sind in Fettalkoholen
es finden sich auch oft
ähnliche chemische Be- Eigelb enthalten den Emulgator Lecithin (ge- (Å Alkohole,Seite 349), in Ethern und in Estern
standteile. nauer genommen eine ganze Klasse ähnlicher (Å Aromastoffe und Fette – Ester, Seite 352)

332
Erde, Wasser, Luft und Feuer

6-42 in denen ein Wasservolumen von einer Doppel-

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Tenside. Alle vier Arten von Tensiden besitzen einen War das Leben einst nur
ähnlichen Grundaufbau und haben einen unpolaren Teil membran aus Tensidmolekülen eingeschlossen
(lipophil). Unterschiedliche polare Endgruppen sorgen für ist. Diese Doppelschichten entsprechen in ihrer eine Seifenblase?
den Kontakt zu Wasser (hydrophil). Grundstruktur genau einer Biomembran, wie sie

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in jeder lebenden Zelle zur Abgrenzung von Re-
aktionsräumen und in Form der Zellmembran
auch von der Außenwelt dient. Biomembranen
enthalten allerdings entsprechend ihren viel-l
fältigen Funktionen noch zahlreiche wei-
tere Komponenten, die in ihnen verankert
sind. Die Vermutung liegt aber nahe, dass
Vorgänge wie die Bildung von Liposomen
daran beteiligt waren, die Voraussetzung für
von einwertigen Fettsäuren und Fettalkoholen die Entstehung der ersten lebenden Zellen auf
vertreten. Ihre polaren Gruppen sind –OH bei unserem Planeten zu schaffen.
6-43
Alkoholen und –O– bei Ethern. Zum Leben aber gehören neben Wasser und Biomembran. Biomem-
den erwähnten Tensidbestandteilen der Zell- branen mit gleichem
4 Amphotere Tenside, auch Amphotenside oder membranen viele andere zum Teil in flüssiger Grundaufbau umgeben
alle lebenden Zellen
Zwitterionen genannt, tragen in ihrem hyd- Phase vorkommende Zutaten, die („nomen est von Bakterien bis hin zu
rophilen Teil eine positive und eine negative omen“) als organisch bezeichnet werden. Von ei- menschlichen Zellen. Sie
Ladung, deshalb sie sind nach außen hin unge- nigen war schon vereinzelt die Rede; ihr gemein- bilden die Abgrenzung
zur Außenwelt und un-
laden. Bei einem pH-Wert der Lösung unter 7 samer Nenner ist, dass sie Kohlenstoffatome als tergliedern die Zellen in
wirken sie positiv (kationisch), über 7 negativ zentrale Strukturelemente in ihren Molekülen verschiedene biochemische
(anionisch). Die wichtigste Gruppe dieser Ten- tragen. Zahlreiche dieser Stoffe begegnen uns Reaktionsräume.
side bilden Betaine, benannt nach den gleich- auch täglich als Flüssigkeiten.
namigen sekundären Pflanzeninhaltsstoffen
(ÅRandspalte). Sie besitzen eine hervorragende Wasserabweisendes Glas
Waschwirkung und gute Hautverträglichkeit,
sind aber sehr teuer. Da sie sowohl Öl-in-Was- Haben Sie schon einmal beobachtet, wie das Was- Anorganische Chemie
ser- als auch Wasser-in-Öl-Emulsionen bilden, ser in der Autowaschanlage ganz plötzlich von Die Anzahl der bekannten
Verbindungen aller chemi-
finden sie in Handspülmitteln, in Feinwaschmit- der Windschutzscheibe abperlt? Auch dieser auf- schen Elemente mit Aus-
teln sowie in kosmetischen Produkten Verwen- fallende Effekt geht auf Moleküle zurück, die ei- nahme von Kohlenstoff
dung. Laut Umweltschutzverordnungen dürfen nerseits hydrophile und andererseits hydrophobe wird zusammen auf ca.
1 Million geschätzt.
sie jedoch nicht in Haushalts-Reinigungsmitteln Eigenschaften besitzen, nämlich Wachse oder Sili-
verwendet werden. Hier sind meist Carboxylat konflüssigkeiten. Die genaue Zusammensetzung Organische Chemie
(–COO–) und die quartäre Ammonium-Gruppe dieser Perlwachse ist von Hersteller zu Hersteller In der Chemie sind nach
Schätzungen etwa 30 Mil-
(R4N+) als funktionelle Gruppen aktiv. unterschiedlich. Klassische Wachse sind oft Ester
lionen unterschiedliche
Im Jahr 2006 wurden in Deutschland (Verbindungen von Säuren mit Alkoholen) aus „organische“ Verbindun-
250 000 t Tenside verbraucht, davon entfielen Fettsäuren und langkettigen Carbonsäuren. Die gen bekannt. Längst nicht
alle davon kommen tat-
ca. 136 000 t auf anionische, ca. 97 000 t auf moderneren Silikonflüssigkeiten enthalten als we-
sächlich in Lebewesen vor.
nichtionische sowie ca. 17 000 t auf kationische sentliche Komponente ein längerkettiges Gerüst
und amphotere Tenside. aus abwechselnd Silicium- und Sauerstoffatomen
(Siloxan-Bindung), haben also eine gewisse che-
Sekundäre Pflanzenin-
Liposomen mische Ähnlichkeit mit Quarz und Glas (ÅGläser haltsstoffe
– nicht immer zerbrechlich, Seite 281). Daneben So bezeichnet man von
Sehr interessant ist der Zusammenhang zwischen tragen sie aber organische Molekülbestandteile Pflanzen hergestellte Ver-
bindungen, die für diese
Tensiden und biologischen Membranen. Behan- wie Alkangruppen. Diese Moleküle heften sich nicht lebensnotwendig
delt man eine Dispersion eines amphoteren Ten- mit ihren stärker hydrophilen Bereichen gerne an sind, also weder zur Ener-
sids (z. B. eines Lecithins) mit Ultraschall, so ent- Glas, denn auch gewöhnliches Glas (Silikat) trägt giegewinnung noch zum
Aufbau oder Abbau von
stehen u. a. sogenannte Liposomen. Das sind bis auf seiner Oberfläche polare OH-Gruppen. An Substanzen dienen.
zu 100 μm große Körperchen, die sich in einem den von der Oberfläche abstehenden unpolaren
Selbstorganisationsprozess zusammenlagern und Molekülteilen bildet Wasser sofort Tropfen und

333
KAPITEL 6 Wasser

Oleum läuft ab. Man nennt eine solche Behandlung von sein Haus heizen. Obwohl es dafür natürlich
Achtung: In der Chemie
wird wegen ihrer hohen Oberflächen hydrophobieren. zu schade ist.
Viskosität auch rauchende Das Olivenöl (von lat. oleum bzw. altgriech.
Schwefelsäure als Oleum elaion) ist der Prototyp und Namensgeber vieler
bezeichnet, obwohl diese Warum bilden eingetrocknete Lösungen
sich sehr wohl mit Wasser eigentlich immer ringförmige Ränder? Flüssigkeiten, die unpolar sind, also mit Wasser
mischt und daher nicht zu nicht mischbar. Im vorigen Abschnitt sahen wir,
den Ölen gehört. Mit dieser Frage brachte uns das damals acht- dass die Ursache für dieses wasserscheue Verhal-
jährige Kind eines der Autoren in Verlegenheit. ten der Öle weniger in ihnen selbst zu suchen
Denkt man über die Lösungsmittelkonzentration ist, als darin, dass Wassermoleküle es vorziehen,
Öle in der Luft über einem eintrocknenden Fleck untereinander energetisch sehr günstige Wasser-
Fette Öle nach, ist dies auf den ersten Blick seltsam. Na- stoffbrücken zu bilden, ein Spiel, von dem die
Mineralöle
Ätherische Öle
türlich müsste die Luft am Rand eines Wasser- unpolaren Ölmoleküle ausgeschlossen sind. Sie
Silikonöle flecks weniger feucht sein und deshalb schneller müssen sich deshalb mit den viel schwächeren
verdunsten als in der Mitte. Gelöste Stoffe sollten Bindungen zwischen ihresgleichen begnügen.
sich demnach in der Mitte eines Flecks ansam-
meln. Das Rätsel wurde erst Ende der 1990er Öl ist nicht gleich Öl
Jahre an der Universität von Chicago mit Hilfe
Energiegehalt von Fetten einer Computersimulation gelöst. Dahinter steckt Man kann provokant behaupten, ohne Öle
und fetten Ölen: der Kapillareffekt des flachen Keils am Rande würde unser modernes Leben nicht funktio-
38,9 kJ (9,3 kcal) pro
eines eintrocknenden Flecks. Das Lösungsmittel nieren, so sehr sind sie als Helfer in vielen all-
Gramm
und mit ihm die gelösten Substanzen werden beim täglichen Lebensbereichen vertreten, von der
Eintrocknen in den Spalt zwischen Flüssigkeits- Nahrungsaufnahme bis zur Mobilität. Es sind
rand und Grundfläche gezogen. — bei genauerer Betrachtung chemisch recht un-
terschiedliche unpolare Flüssigkeiten, die unter
anderem wegen ihrer oft zähflüssigen Konsistenz
als Öle bezeichnet werden (ÅRandspalte). Meist
sind sie auch keine Reinsubstanzen, sondern
6-44
Trocknungsränder. Ob- komplexe Gemische aus vielen Komponenten.
wohl der Partialdampf- Öle werden nach ihrer Herkunft, nach ihrer
druck in der Luft über der chemischen Zusammensetzung und nach ihrer
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Flüssigkeit am Fleckenrand
( 1) niedriger sein muss
(p Verwendung in vier Klassen eingeteilt:
als in der Mitte ((p2), In unserer Küche benutzen wir Speiseöle zur
trocknet der Rand zuletzt Zubereitung und zur Verfeinerung. Dies sind
ein. Grund ist der Kapillar-
effekt. Durch ihn strömt
sogenannte fette Öle, flüssige Fette meist pflanz-
Flüssigkeit aus der Flecken- lichen Ursprungs. Von Fetten spricht man, wenn
mitte zum Rand nach. das fette Öl bei Raumtemperatur fest ist.
Viele Gewürze enthalten als charakteristische
Öle, Fette und ihre Abkömmlinge Komponenten sogenannte ätherische Öle, die
mit den fetten Ölen chemisch wenig gemein ha-
Ohne sie würde das Leben anders ben. Um zu Einladungen, zu Festen oder zu Ren-
verlaufen dezvous zu gehen, benutzen Damen betörend
duftende Parfüms und Herren herb riechende
Italienisches Essen ohne Olivenöl? Undenkbar. Rasierwässer. Auch hier sind diverse ätherische
Wer einmal in Italien oder Griechenland frisch Öle die wichtigsten Bestandteile.
aus der Presse rinnendes Olivenöl auf Weißbrot In unserer Zeit und Welt sind Autos als
probiert hat, der weiß es zu schätzen – ein Ge- Fortbewegungsmittel nicht wegzudenken. Sie
nuss! Aber nicht nur in der Küche wird es ver- werden von Derivaten des Erdöls angetrieben,
wendet. Olivenöl ist ein wahres Allzweckwun- die als Mineralöle bezeichnet werden. Dies gilt
der. Es eignet sich zum Schmieren knarrender auch, wenn sie zähflüssig sind wie das Dieselöl,
Türen, fürs Abschminken, als Schuhputzmittel das unter der Bezeichnung Heizöl in der kalten
und sogar als Waffenöl für Mafiosi. Zur Not Jahreszeit auch einen Großteil der Heizanlagen
kann man im Dieselmotor damit fahren und befeuert. Fast alle unsere Maschinen und Geräte

334
Erde, Wasser, Luft und Feuer

benötigen zudem Schmieröle, um zu funktionie- ist ihre Neigung, beim längeren Stehen an der
ren. Die allermeisten davon sind ebenfalls Mi- Luft, aber auch bei zu viel Wärme und Licht, zu
neralölderivate und unterscheiden sich chemisch verharzen. Dieser Vorgang wird als „Trocknen“
wiederum von den vorgenannten Gruppen. bezeichnet. Durch chemische Reaktionen wie
Oft begegnet uns an Tankstellen auch Wer- Oxidation und Polymerisation (ÅPolymere, Seite
bung für synthetische Öle, Öle auf Silikonbasis, 292) an den Doppelbindungen ungesättigter
deren besonders gute Laufeigenschaften ange- Fettsäuren werden diese in thermisch stabilere,
priesen werden. Sie bilden die vierte Gruppe. vernetzte Substanzen überführt.
Außer den Silikonölen werden wir im Fol- Jede Pflanze liefert ein bestimmtes arteigenes
genden diese Flüssigkeiten näher kennenlernen. Spektrum an Ölen, die durch unterschiedliche
Mischung von gesättigten und ungesättigten
Speiseöle – Fettsäuren gekennzeichnet sind. Bei den wich-
zur Ernährung und für den Geschmack tigsten Ölpflanzen handelt es sich um sieben
verschiedene Fettsäuren.
Menschen nutzen Speiseöle pflanzlicher und tie-
rischer Herkunft seit Jahrtausenden zur Zuberei- Herstellung von Speiseölen 6-45
tung oder zur Verfeinerung von Speisen. Öle be- Alkohole. Alkohole sind
sitzen einen sehr hohen Nährwert (ÅRandspalte Die Herstellung von Pflanzenölen mittels Pres- durch Hydroxygruppen
links), die meisten Sorten lassen sich monate- sung der zerkleinerten Früchte ist schon seit charakterisiert. Der Stamm
vieler Alkohole sind Koh-
oder sogar jahrelang lagern. Für unsere Vor- Urzeiten bekannt. Heutzutage werden dazu so- lenwasserstoffketten, die
fahren waren Öle und Fette außerdem wichtige genannte Spindelpressen verwendet. Die stark sogenannten Alkylgrup-
Energielieferanten für Feuer und Licht. Speiseöle ölhaltigen Oliven eignen sich besonders für diese pen. Es gibt auch Alkohole
mit mehr als einer Hydro-
und Speisefette werden aus diversen ölhaltigen Herstellungsweise. Entscheidend für die Qualität xygruppe, zum Beispiel das
Früchten oder Samen von Ölpflanzen gewonnen des Öls ist die Temperatur beim Pressen. Von zweiwertige Glycol.
und aus Tierprodukten wie Fischölen oder Wal- Kaltpressung darf nur geredet werden, wenn
tran erzeugt. Etwa 50 Pflanzenarten liefern für keine Wärme von außen zugeführt wird. Ge-
die menschliche Ernährung geeignete Fette und nerell sollte die Temperatur 45 °C nicht über-
Öle. Die bis zu einer Temperatur von 20 °C fes- schreiten. Kaltgepresstes natives Olivenöl darf
ten Pflanzenprodukte nennt man Pflanzenfette; anschließend nur gefiltert werden, um Pflan-
sind sie bei dieser Temperatur flüssig, so heißen zenreste u. Ä. zu entfernen. Den Zusatz „extra“
sie Pflanzenöle. Ihre wichtigsten Lieferanten sind darf das native („vergine“) Öl nur erhalten,
Ölpalmen, Sojabohnen, Sonnenblumen, Flachs,
Oliven, Raps, Erd- und Kokosnüsse. Zu den
Fruchtfleischölen gehören Palm- und Olivenöl, Funktionelle Gruppen
zu den Samenölen Sonnenblumen- und Sojaöl.
Viele Ölpflanzen werden in verschiedenen Kli- Funktionelle Gruppen sind in der Chemie
mazonen angebaut. Atomgruppen bzw. Molekülteile, welche die
Fette und fette Öle sind sogenannte Ester des Stoffeigenschaften und das Reaktionsverhal-
dreiwertigen Alkohols Glycerin mit drei langket- ten wesentlich bestimmen. Meist wird der
tigen Carbonsäuren, die als Fettsäuren bezeich- zugehörige Stoffname zusammengesetzt aus
net werden (ÅKasten Funktionelle Gruppen und dem Namen einer Stammverbindung und ei- 6-46
Å Kasten Fettsäuren, Seite 336). Chemiker nen- nem Präfix oder Suffix, das die funktionelle Carbonsäuren. Car-
nen Fette daher auch Fettsäuretriglyceride, die Gruppe kennzeichnet. Beispiele funktioneller bonsäuren sind durch
Carboxygruppen cha-
offizielle Bezeichnung lautet Triacylglyceride. Gruppen sind die Hydroxygruppe (–OH) der
rakterisiert. Der Stamm
Sowohl Alkohole als auch Carbonsäuren sind Alkohole mit dem Suffix -ol (Å Abbildung vieler Säuren sind dabei
Kohlenwasserstoffverbindungen mit geringen 6-45), die Carboxygruppe (–COOH) mit dem Kohlenwasserstoffketten.
Carbonsäuren mit zwei
Anteilen an Sauerstoff. Die wenigen Sauerstoffa- Suffix -carbonsäure (Å Abbildung 6-46), die
Carboxygruppen nennt
tome spielen jedoch durch ihre Tendenz, Elektro- Ketogruppe –CO– mit dem Suffix -on, deren man Dicarbonsäuren. Ana-
nen stärker als Kohlenstoff oder Wasserstoff an bekanntester Vertreter das Aceton ist. Eine log gibt es Tricarbonsäuren
sich zu binden, eine wichtige Rolle für das mo- im Zusammenhang mit Fetten wichtige funk- usw. „Ungesättigt“ nennt
man Carbonsäuren, deren
lekültypische Verhalten der jeweiligen Fette oder tionelle Gruppe bilden die Carbonsäureester C-Kette Doppelbindungen
Öle. Eine wichtige Eigenschaft pflanzlicher Öle (–COO–) mit dem Suffix -oat. enthält.

335
KAPITEL 6 Wasser

Fettsäuren

Fettsäuren sind in Form der Triglyceride we- krankheiten, weshalb die Deutsche Gesellschaft
sentliche Bausteine von Nahrungsfetten, den für Ernährung (DGE) empfiehlt, den Gehalt
aufgrund ihrer hohen Energiedichte wichtigs- an gesättigten Fettsäuren auf 10 Prozent aller
ten Energieträgern für die menschliche Ernäh- aufgenommenen Fette zu beschränken.
rung. Triglyceride setzen sich aus Glycerin, Ungesättigte Fettsäuren findet man vorwie-
einem dreiwertigen Alkohol (Å Abbildung gend in pflanzlichen Samenölen und in fettem
6-47) sowie drei (tri) mittels Veresterung an- Fisch, insbesondere Öle haben einen hohen Ge-
gelagerten Fettsäuren zusammen. Fettsäuren halt daran. Sie unterscheiden sich von den gesät-
selbst sind Monocarbonsäuren (Å Abbildung tigten durch eine oder mehrere C=C-Doppelbin-
6-46, Seite 335). Die Summenformel für ge- dungen in ihren Ketten, wie die in allen natürli-
sättigte Fettsäuren lautet: CnH2n+1 – COOH, chen Fetten vorkommende einfach ungesättigte
für ungesättigte C n H 2 n- 1 , 3 , 5 – COO H. Ölsäure (Omega-9-Fettsäure, C17H33COOH)
Nach Anzahl der C-Atome spricht man von oder die zweifach ungesättigte Linolsäure
niederen (bis 7 C-Atome), mittleren (8 – 12 (Omega-6-Fettsäure, C17H31COOH). Letztere
C-Atome) und höheren Fettsäuren; je lang- ist in Sonnenblumen- und Distelöl in großer
kettiger sie sind, desto schwerer sind sie beim Menge enthalten und ist wichtiger Bestand-
6-47 Verdauungsvorgang aufzuspalten und damit teil der Haut. Einige mehrfach ungesättigte
Glycerin und Fette. Gly-
cerin (oben) ist ein drei-
zu verbrennen. Fettsäuren wie die Linolsäure gehören zu den
wertiger Alkohol mit drei Fettsäuren werden in gesättigte und (mehr- lebenswichtigen („essenziellen“) Fettsäuren,
Hydroxygruppen (–OH). fach) ungesättigte unterteilt (Å Abbildung die nicht im Körper synthetisiert werden kön-
In Fetten sind alle drei
6-48). Gesättigte Fettsäuren haben keine nen, sondern mit der Nahrung aufgenommen
funktionellen Gruppen mit
langkettigen Carbonsäu- C=C-Doppelbindung und kommen vorwie- werden müssen. Die Bezeichnung „Omega-n“
ren verestert, die hier die gend in tierischen Fetten wie Fleisch, Schmalz, kenzeichnet die Position der Doppelbindung.
Kohlenwasserstoffketten unbehandelter Milch und Butter vor. Die ein- Je mehr Doppelbindungen sie aufweisen, desto
R1, R2 und R3 beitragen
(unten). Durch Ersatz einer fachste gesättigte Fettsäure ist die Buttersäure reaktionsfreudiger sind diese Fettsäuren. Sie
der Carbonsäureketten (C3H7COOH), deren Ester in Milchfett und sind leichter verdaulich und werden bevorzugt
durch einen Phosphor- Schweiß vorkommt; weitere Vertreter sind die zum Aufbau von Zellmembranen verbraucht.
säureester erhält man die
oben genannten Lecithine Palmitinsäure (C15H31COOH) sowie die Ste- Aus Linolsäure synthetisiert der Körper eine
(ÅAbbildung 6-37). arinsäure (C17H35COOH), deren Ester beide wichtige Klasse von Gewebehormonen, die so-
in Tieren als auch in Pflanzen vorkommen. genannten Prostaglandine, die unter anderem
Cholesterin Gesättigte Fettsäuren sind sehr reaktionsträge, bei Entzündungsprozessen eine Rolle spielen.
Cholesterin wird zwar
ebenfalls zu den Nah-
geruchlos und bei Zimmertemperatur fest. Ins- Außerdem dienen Nahrungsfette im Körper als
rungsfetten gezählt, ist besondere die langkettigen Fettsäuren werden Organschutz z. B. an den Nieren. Fettlösliche
aber ein polyzyklischer bei zu großer Aufnahmemenge mit der Nah- Vitamine wie die Vitamine A, D, E und K oder
Alkohol.
rung in Fettreserven gespeichert. Diese De- lipophile Aroma- und Geschmacksstoffe kön-
potbildung führt zur Fettleibigkeit und Folge- nen nur mit ihrer Hilfe aufgenommen werden.
6-48
Fettsäuren. Moleküle mit Kohlenwasserstoffketten, zu denen auch die Fettsäuren gehören, werden oft als Zickzacklinie ohne C- und H-Atome darge-
stellt („Skelettformel“) da die Bindungen zwischen den Kohlenstoffatomen gewinkelt sind. Gesättigte Fettsäuren wie die Stearinsäure enthalten keine
Doppelbindungen, im Gegensatz zur zweifach ungesättigten Linolsäure mit zwei Doppelbindungen. Die Position der ersten Doppelbindung wird bei
Fettsäuren vom der Carboxygruppe entgegengesetzten Ende der Kette aus gezählt. Dieses Ende wird nach dem letzten Buchstaben des griechischen Al-
phabets mit Omega (ω) bezeichnet. Linolsäure ist daher eine Omega-6-Fettsäure. Da an den Doppelketten in der so genannten cis-Konformation die
Kette meist abgeknickt ist (hier nicht dargestellt), sind die Moleküle ungesättigter Fettsäuren im Allgemeinen nicht geradlinig und können sich nicht
gut parallel zueinander ausrichten. Sie üben daher geringere Van-der-Waals-Kräfte aufeinander aus als ungesättigte Fettsäuren; ihr Schmelzpunkt ist
deshalb geringer. Die Erhöhung des Schmelzpunkts von Fetten durch Auflösung der Doppelbindungen wird als „Härten“ bezeichnet.

336
Erde, Wasser, Luft und Feuer

wenn der Säuregehalt unter 0,8 Prozent liegt und


auch sonst noch einige Qualitätskriterien erfüllt
sind. Nach den Ergebnissen von Warenunter-
suchungen zu schließen, scheint der Verdacht
nicht unbegründet zu sein, dass keineswegs alle
„extra verginen“ Olivenöle tatsächlich auf die
vorgeschriebene Weise hergestellt wurden.
Aus Ölsaaten wird das Öl meist durch heiße
Pressung und/oder Extraktion mittels Hexan
erzeugt. Derartig behandelte Rohöle werden
raffiniert, wodurch auf physikalischem Weg
(Destillation) bzw. durch chemische Prozesse
Schadstoffe und Substanzen, die die Haltbar-
keit des Öls einschränken, entfernt werden. So
entfernt die Entschleimung mit Wasser Trüb-
stoffe, die vor allem aus Zellmembranresten
bestehen, deren Bestandteil unter anderem das
bereits erwähnte Lecithin ist. Die Entsäuerung
mittels Natronlauge entfernt freie Fettsäuren
durch „Verseifung“. Die Desodorierung entfernt
Geruchs- und Geschmacksstoffe sowie etwaige
Insektizidreste mittels heißen Wasserdampfs.
Die so behandelten Öle nennt man „raffiniert“.
Margarine und andere Fettstoffe erhalten durch
chemische Veränderungen weitere gewünschte
Eigenschaften, wie zum Beispiel eine bestimmte
Konsistenz(Å Abbildung 6-49). Bei der Raffina- 6-49
tion und Modifikation verloren gegangene Sub- Herstellung von Pflanzenöl. Art und Ausmaß der Verarbeitung von Ölen hängen von
dem Ausgangsprodukt, den Qualitätsanforderungen und dem Einsatzbereich ab. Eine
stanzen des Naturprodukts wie Vitamnin E oder
Kaltpressung mit anschließender Filterung genügt bei ölreichen Früchten wie Oliven.
Farbstoffe werden teilweise am Schluss wieder Samenöle (z. B. Sojaöl oder Rapsöl) werden je nach Ölgehalt heiß gepresst bzw. mit Hilfe
zugesetzt. des Kohlenwasserstoffs Hexan (C6H14) extrahiert. Warm gepresste (< 60 °C), höchstens
mit Wasserdampf behandelte („gedämpfte“) Öle kommen als nicht-raffinierte Öle in den
Handel. Extrahierte, heiß gepresste Öle müssen raffiniert werden, was im Allgemeinen die
Sprengstoff in der Küche Entsäuerung, Entschleimung, Bleichung und Desodorierung (Entfernung von Geruchs- und
Geschmacksstoffen) einschließt. Diese Prozesse dienen dazu, schädliche, den Geschmack
In der Küche wirkt sich die Unmischbarkeit von störende oder die Haltbarkeit herabsetzende Stoffe zu entfernen. Modifikationen än-
dern die chemische Struktur des Öls. Durch Fraktionierung werden die Fette nach ihren
Speiseölen und Wasser beim Versuch, brennendes Schmelzpunkten getrennt, Härtung wandelt ungesättigte in gesättigte Fettsäuren um, und
Öl zu löschen, oft verheerend in sogenannten durch Umesterung werden Fettsäuren durch andere ausgetauscht. Die so entstandenen
Fettexplosionen aus. Das brennende Öl erhitzt Öle oder Fette nennt man „konfektioniert“, unter anderem gehört Margarine dazu.
sich auf mehrere hundert Grad Celsius. Gießt
man heißes Wasser hinzu, so sinken kühle Was- könnten. Obwohl diese Kraftstoffe auch für
sertropfen in das Öl, verdampfen schlagartig und Dieselmotoren geeignet sind, werden sie nicht
reißen dabei heiße Öltröpfchen mit, die sich so- als Biodiesel bezeichnet. Diese Bezeichnung ist
fort in einer pilzartigen Stichflamme entzünden. umgeesterten Pflanzölen vorbehalten, die in den
letzten Jahren als Kraftstoff eingeführt wurden.
Kraftstoffe Biodiesel ist eine halbsynthetische, mit Was-
ser kaum mischbare Flüssigkeit mit je nach
Angesichts der sich abzeichnenden Verknappung pflanzlicher Herkunft gelber bis dunkelbrauner
von Benzin als Treibstoff suchen Energiewirt- Farbe. Chemisch handelt es sich um Fettsäure-
schaftler nach alternativen Kraftstoffquellen. Methylester (FAME). Diese Flüssigkeit wird er-
Untersuchungen haben erbracht, dass reine, zeugt, indem man dem gefilterten Pflanzenöl
lediglich filtrierte Pflanzenöle in entsprechend 10 Prozent Methanol (CH3OH) mit Katalysa-
umgerüsteten Fahrzeugmotoren genutzt werden toren wie Kaliumhydroxid zusetzt. Schon bei

337
KAPITEL 6 Wasser

Zimmertemperatur läuft ein Umsetzungsprozess stellten schon eine seifenartige Substanz aus
ab, bei dem im Öl das Glycerin durch Metha- pflanzlichen Ölen und Pottasche (Kaliumcar-
nol ausgetauscht wird. In Deutschland und im bonat, K2CO3) her. Sie sahen diese pastöse Sub-
übrigen Europa wird hauptsächlich Rapsöl um- stanz eher als Heilmittel denn als Reinigungs-
geestert, aber auch Sonnenblumenöl und andere mittel an. Sie erkannten aber nicht, dass Seife
Öle können genutzt werden. Raps enthält ca. Schmutz, Drüsentalg und Keime von der Haut
40 – 45 Prozent Öl, die Ölmoleküle bestehen zu entfernte und so eine Heilung einleitete. Auch
95 Prozent aus 18-C-atomigen Kohlenwasser- die alten Ägypter stellten seifenähnliche Subs-
stoffketten. In den USA wird meistens Sojaöl zur tanzen eher zu Heilzwecken her, benutzten sie
Erzeugung von Biodiesel verwendet. Hauptzweck aber schon zur Reinigung von Textilien. Ähnlich
der Umesterung ist es, die für Seriendieselmoto- nutzten auch die alten Griechen die Vorläufer
ren ungeeigneten Pflanzenöle zu einem brauch- der heutigen Seife. Die römischen Frauen säu-
baren Kraftstoff zu verbessern. Vor allem wird berten ihre Wäsche und salbten ihre Körper
die Viskosität von 60 auf 4 mPa·s herabgesetzt. mit Pflanzenölen. Seife lernten die Römer bei
Und man erhält einen Kraftstoff mit einer Dichte Germanen als pastenartige Kaliseife und bei Gal-
von 0,88 g·cm–3, guten Fließ- und Schmiereigen- liern als feste Natronseife zum Rotfärben von
schaften, mit höherem Energiegehalt als Ben- Haaren kennen. Erst der aus Kleinasien stam-
zin und – infolge eines Sauerstoffgehalts von mende Arzt CLAUDIUS GALENUS (Galen, ÅKasten
11 Prozent – mit geringerer Rußbildung als Die Ordnung der Vier, Seite 33) entdeckte die
bei mineralischem Dieselöl. Außerdem besitzt Waschwirkung dieser Substanz.
Biodiesel eine hohe Zündwilligkeit (Cetanzahl Seife in der heute bekannten Zusammenset-
54 – 58, Å Kasten Oktanzahl und Cetanzahl, zung geht auf arabische Seifensieder zurück, die
Seite 348). Der Kraftstoff führt keinen Schwefel, im 7. Jahrhundert n. Chr. erstmals gebrannten
kein Benzol und keine Aromate, ist daher nicht Kalk mit Olivenöl kochten. Durch Araber ver-
giftig und biologisch gut abbaubar. mittelt, gelangten Kenntnisse des Seifensiedens
In den letzten Jahren ist es ruhiger um Bio- nach Spanien und von dort nach Frankreich, wo
diesel geworden, weil sich einige Nachteile sich in den folgenden Jahrhunderten Zentren
herausgestellt haben. Die Kohlendioxid- und der Seifenherstellung entwickelten. War das Wa-
Energiebilanz ist nicht so vorteilhaft gegenüber schen mit Seife in mittelalterlichen Badehäusern
traditionellen Kraftstoffen, wenn man den Anbau und bei Adligen zunächst noch sehr beliebt, so
des Rapses einbezieht. Inzwischen hat man fest- änderte sich das mit dem Ausbruch von Pest
gestellt, dass bei der Verbrennung von Biodiesel und Cholera im 14. Jahrhundert schlagartig.
krebserregende Stoffe wie Formaldehyd oder Nun befürchteten damalige Menschen, dass mit
Acetaldehyd freigesetzt werden können. Ein gro- dem Wasser krankmachende Substanzen durch
ßes Problem ist die Konkurrenz um Ackerflächen Hautporen in den Körper eindringen könnten.
für Nahrungspflanzen und die zu geringe Zahl Ärzte und Mediziner warnten vor dem Gebrauch
von Anbauflächen für Biodiesel-Pflanzen. von Wasser und Seifen zur Körperreinigung, letz-
tere wurde lediglich zum Bleichen von Wäsche
Seifen – genutzt. In England wurden Frauen, die Parfüm
Mittler zwischen den Welten und Seife benutzten, zu Hexen erklärt:

Jeden Tag säubern wir uns die Hände, duschen Jede Frau, die einen Untertan Ihrer Majestät mit
oder waschen uns oder geben Waschpulver in Hilfe von Duftwässern, Schminke oder parfü-
die Waschmaschine. Für alle diese Tätigkeiten mierter Seife verführt oder ihre Ehre auf diese
Weise verrät ...,wird gemäß dem Gesetz gegen
benutzen wir das Reinigungshilfsmittel Seife. Hexenkraft bestraft ... und die Ehe wird für
Ohne Zusatz dieser Substanz zum Wasser ver- ungültig erklärt“.
mögen wir weder die Hände noch die Wäsche
sauber zu bekommen. Es war der französische König Ludwig XIV.,
Der heutige Begriff Seife geht vermutlich auf der der Seife zu einer Renaissance verhalf. Er
das althochdeutsche Wort seif(f)a, (tröpfelndes) erließ 1688 ein bis heute gültiges Reinheitsge-
Harz zurück, doch seifenartige Substanzen wa- bot, nach dem hochwertige Seife aus mindestens
ren bereits in der Antike bekannt. Die Sumerer 72 Prozent reinem Öl bestehen musste. Auf-

338
Erde, Wasser, Luft und Feuer

grund der kostspieligen Rohstoffe und Her- bestehenden Katalysators bei 10bar Druck. Nach
stellung war Seife bis Mitte des 19. Jahrhun- dem Abkühlen werden die wasserunlöslichen
derts ein Luxusgut. Erst mit der Herstellung Fettsäuren (Oberphase) vom wasserlöslichen Gly-
von künstlichem Soda durch den Franzosen cerin (Unterphase) getrennt. In einem zweiten
NICOLAS LEBLANC (1742 – 1806) und nach der Reaktionsschritt werden dann die Fettsäuren mit
Einführung eines verbesserten Herstellungs- Natronlauge neutralisiert, d. h. in Seife umgewan-
verfahrens durch den belgischen Chemiker delt. Neben diesem sogenannten Heißverfahren
ERNEST SOLVAY (1838 – 1922) konnten ausrei- wird auch noch das Kaltverfahren angewandt,
chende Mengen dieses Reinigungsmittels erzeugt das fast völlig ohne Wärmezufuhr auskommt.
werden. Gleichzeitig wuchs mit einem neuen Das Gemisch aus Fetten bzw. Ölen und Laugen
Hygieneverständnis in Europa das Bedürfnis, wird auf maximal 50 – 60 °C erwärmt und benö-
sich und die Kleidungsstücke häufiger und besser tigt nach der Abkühlung etwa 4 – 6 Wochen zur
zu waschen. Die damals produzierte Seife war vollen Seifenentwicklung. Das anfallende Glyce-
das erste industriell erzeugte Tensid. rin wird nicht abgeführt, sondern bleibt in dem
Gemisch und macht damit die Seife milder und
Verseifung hautschonender.

Seifen sind Verbindungen aus Alkalimetallionen Woher Seife weiß, was Schmutz ist
mit Fettsäureresten, also Natrium- oder Kalium-
salze langkettiger Fettsäuren mit mindestens 12 Seifen disoziieren in Wasser in negativ geladene
C-Atomen (Å Kasten Fettsäuren, Seite 336). Ihre Fettsäureionen und positive geladene Alkaliio-
Rohstoffe sind tierische Fette wie Talg, Fett oder nen. Fettsäureionen sind anionische ÅTenside
Abfallfette und pflanzliche Produkte wie Kokos- (Seite 331), weshalb sie Schaum bilden können
fett, Palm- oder Olivenöl. Diese Ausgangsstoffe (ÅAbbildung 6-40, Seite 332). Auch ihre Reini- 6-50
Natriumlaurat. Das Nat-
werden mittels Kochen in einer Lauge in ihre gungswirkung ist auf die Kombination von lipo- riumsalz der Laurinsäure
Bestandteile Glycerin und Fettsäure aufgespalten. philem und hydrophilem Ende der Fettmoleküle (C11H23COOH). Diese
Diese chemische Reaktion einer hydrolytischen zurück zu führen. Da sich Seifenmoleküle mit Carbonsäure ist in Palm-
kernöl und Kokosfett in
Spaltung von Fettsäureestern heißt Verseifung. dem lipophilen Ende nach außen dicht auf der hohen Anteilen vorhan-
Als Zwischenprodukt erhält man eine zähflüssige Wasseroberfläche anordnen, lockern sie die fes- den.
Emulsion (Å Emulsionen, Seite 329), Seifen- ten Wasserstoffbrückenbindungen zwischen den
leim genannt. Dieser Seifenleim wird in Salz- Wassermolekülen und setzen so die Oberflächen-
wasser gekocht. Da Seife in Salzlake unlöslich spannung herab. Im Inneren der Waschflüssigkeit
ist, schwimmt sie oben auf dem Sud (Oberlauge) schließen sie sich zu kugelartigen Gebilden aus
und kann abgeschöpft werden. Die überschüssige 50-1000 Seifenanionen, den Micellen zusammen
Lauge, Glycerin und gelöstes Kochsalz werden als (ÅAbbildung 6-38, Seite 332).
sogenannte Unterlauge abgeführt. Ein erneutes Da Seife eine geringere Oberflächenspan-
Kochen in Salzlake (Aussalzen) ergibt letztlich nung als Wasser hat, kann sie sich als dünner
Kernseife. Diese wird getrocknet und mit äthe- Film zwischen Schmutz und Faser oder Haut
rischen Ölen und Farbstoffen versetzt. Die Fes- schieben. Sie erniedrigt damit die Grenzflächen-
tigkeit der Seife hängt von der Kettenlänge der spannung an den Phasengrenzen Öl-Wasser,
jeweiligen Fettsäuren ab. Wasser-Faser und Schmutz-Faser und ermög-
Benutzte man beim traditionellen Verkochen licht es damit dem Wasser im ersten Schritt,
von Triglyceriden Natronlauge (in Wasser gelös- Faser bzw. Hautoberfläche völlig zu benetzen.
tes Natriumhydroxid, NaOH) und Kochsalz, so Aufgrund ihrer Doppelnatur lagern sich Seifen-
erhielt man feste Kernseife, bei Kalilauge (Ka- moleküle bevorzugt an den Grenzflächen Was-
liumhydroxid, KOH) und Kalisalzen dagegen ser-Faser oder Wasser-Öl an. Die Seifenanionen
pastöse bis flüssige Seifen. Bei der heutigen Sei- bilden auf einer Seite eine hydrophile, negativ
fenherstellung im großindustriellen Maßstab be- geladene Schicht. Dadurch werden die Schmutz-
nutzt man anstelle von Laugen ca. 180 °C heißen partikel von den ebenfalls negativ geladenen Fa-
Wasserdampf zur Spaltung von Fetten und Ölen sern abgestoßen, und auch Öltröpfchen werden
in selbstdichtenden Druckbehältern (Autoklaven) gelöst. An die abgelösten Schmutzpartikel oder
unter Anwesenheit eines meist aus Metalloxid Öltröpfchen lagern sich die Seifenanionen mit

339
KAPITEL 6 Wasser

ihren hydrophoben Enden an und umschließen Syndets und Waschlotionen


sie (Umnetzung) in Form von Micellen, de-
ren hydrophile Anionenköpfe ins Wasser ragen Um den erwähnten Nachteilen alkalischer Sei-
(Å Abbildung 6-39, Seite 332). Aufgrund der fen zu begegnen, wurden auf der Basis synthe-
negativen Aufladung der einzelnen Micellen tischer Tenside ab 1954 zunächst Haushaltsrei-
stoßen diese sich gegenseitig ab. So wird ver- niger und dann synthetische Körperreinigungs-
hindert, dass sich größere, schwerere Aggregate mittel auf den Markt gebracht. Die eingesetzten
bilden, die auf die Faser zurücksinken könnten. Tenside wurden auf der Basis pflanzlicher
Schmutzpartikel und Öltröpfchen bleiben in Rohöle wie Kokos- oder Olivenöle entwickelt.
Suspension und können mit dem Wasser abge- Der Begriff Syndet ist eine Kontraktion aus
gossen werden. „synthetische Detergentien“ Diese seifenfreien
Reinigungsmittel enthalten im Gegensatz zu
Zu viel Seife ist ungesund traditionellen flüssigen Seifen keine hydrophile,
negativ geladene –COO-Gruppe, die im Wasser
Seifen wirken hautreizend und sogar hautschä- alkalisch reagiert. Solche Syndets bestehen zu
digend und können auch manche Textilfasern 30 – 70 Prozent aus waschaktiven Substanzen,
angreifen. Einige der Fettsäureionen nehmen
Protonen aus dem Wasser auf und bilden neu-
trale Fettsäuremoleküle. Der dadurch entste- Wasserhärte
C17H35COO–+ H2O → hende Überschuss an Hydroxidionen ist für
C17H35COOH + OH– die alkalische Eigenschaft der Seife mit pH- Ursprünglich wurde damit die Fähigkeit von
Werten zwischen 8,0 und 12,0 verantwortlich, Wasser bezeichnet, Seife aufschäumen zu las-
und dafür, dass die Augen brennen, wenn Seife sen. Heute wird dieser wasserwirtschaftliche
hinein gerät. Da die menschliche Haut einen Begriff als Maßeinheit für den Anteil der im
durchschnittlichen pH-Wert von 5,5 besitzt Wasser gelösten Calcium- bzw. Magnesium-
und damit im sauren Bereich liegt, tritt eine ionen verwendet. Je höher deren Anteil ist,
Neutralisation beim Kontakt mit alkalischer desto härter ist das Wasser. Der Wert wird
Seifenlauge ein. Im Effekt zerstören fettarme in Deutsche Härtegrade (dH, auch Grad d)
Seifenlaugen die hauteigene Säureschutzschicht oder offiziell in Millimol pro Liter (mmol/l)
aus körpereigenen Fetten (den Hydrolipidman- gemessen. Härtegrad dH 1 entspricht 18 mg/l
tel) vorübergehend und entziehen ihr Fett und Kalk im Wasser. Regenwasser hat norma-
Hornschichtfeuchtigkeit; deshalb trocknet die lerweise einen Wert von dH 0; es ist also ein
Haut aus und wird rissig. Dem versuchen Sei- weiches Wasser, welches viele kalkempfindli-
fenhersteller mit „rückfettenden Seifen“, also che Pflanzen „lieben“. Wässer aus Kalkstein,
Feinseifen mit zusätzlich beigefügten Fetten, Gips- oder Dolomitgesteinen, z. B. von der
zu begegnen. Einige Dermatologen bezweifeln schwäbischen Alb, haben einen hohen Wert
jedoch deren Wirkung, da die Fette chemisch von dH 20. Mithilfe neuerer Messmethoden
an die Seifenanionen gebunden sind und beim misst man heute zweierlei Wasserhärten:
Waschen mit Seife mit dem Wasser abgespült Die Gesamthärte (GH), die den Gehalt an
werden. Mit synthetischen Tensiden werden gelösten Erdalkali-Salzen (Magnesium-, Cal-
weniger hautschädigende Reinigungsmittel an- cium-, Strontium- und Bariumsalzen) angibt,
geboten. sowie an Chloriden, Sulfaten, Phosphaten und
Ein weiteres Problem bildet die Neigung Carbonaten, die an diese Erdalkali-Ionen ge-
besonders langkettiger Fettsäuren, in hartem bunden sind.
Leitungswasser (Å Kasten Wasserhärte) unlös- Die Carbonathärte (KH) ist eine Maßein-
Kalkseifen
liche Kalkseifen zu bilden. Dabei lagern sich heit für die Konzentration von Carbonat-An-
Gelöste Calcium- und Ma- gelöste Calcium- und Magnesiumionen an die ionen CO32–– und Hydrogencarbonat-Anionen
gnesiumionen lagern sich polaren Enden von Seifenionen an und bilden HCO3– sowie der entsprechenden Anzahl von
an die polaren Enden von
schmierende Flocken; letztere überziehen das zu Calcium-Kationen (Ca2+) und Magnesium-
Seifenionen an, z. B.:
2 C17H35COO– + Ca2+ → waschende Gewebe mit einem Grauschleier und Kationen (Mg2+). Chemiker bezeichnen die
(C17H35COO)2Ca mindern die Waschwirkung der Seife. Carbonathärte auch als Säurekapazität.

340
Erde, Wasser, Luft und Feuer

zu 10 – 30 Prozent aus Bindemitteln und Plas-


Ätherische Öle Fette Öle
tifizierungssubstanzen („Weichmacher“) sowie
zu 0 – 5 Prozent aus Pflegemitteln. Wichtige Wichtige Bestandteile Terpene Triglyceride
synthetische Inhaltstoffe sind Natrium-Lauryl-
Sulfat, ein anionisches, stark fett- und öllösen- Biologische Funktion Anlock- und Abwehrstoffe Nahrungsreserve
des, hautreizendes Tensid, ferner Lauryl-Ether-
Verwertbarer Energiegehalt keiner ca. 38 ,9 kJ/g
Sulfat, Bernsteinsäureester, Isothionate sowie
hautfreundliche waschaktive Substanzen (unter leicht flüchtig, bilden keine ölig-fettig, bilden blei-
Eigenschaften
bleibenden Flecken bende Flecken
anderem Glucoside und Succinate). Die Inhalt-
antioxidativ, antimikrobiell,
stoffe müssen in der für Nichtchemiker meist Biologische Wirkung
reizend, krampflösend
antioxidativ
unverständlichen INCI-Liste (engl. Internati-
6-51
onal Nomenclature of Cosmetic Ingredients, Öle, die keine sind Ätherische Öle im Ver- r
Internationale Nomenklatur für kosmetische gleich zu fetten Ölen.
Inhaltsstoffe) angeführt werden. Die moder- Ätherische Öle sind ölige Substanzen, die nur in Beide Stoffklassen sind
Pflanzen vorkommen und ihnen einen charak- völlig unterschiedlich.
nen Flüssigseifen zeichnen sich durch bessere
Hautverträ g lichkeit, mehr Schaum, höhere teristischen Duft verleihen. Etwa 2300 Pflanzen
Cremigkeit und besseres Abspülvermögen als führen derartige Inhaltsstoffe, die in allen Pflan-
traditionelle Seifen aus. zenteilen wie Blüten, Blättern, Samen, Rinden,
Heute sind Syndet-Hersteller in der Lage, Fruchtschalen, Holz oder Wurzeln vorkommen.
für jeden Hauttyp geeignete Syndets zu ent- Jede Pflanze entwickelt arttypische, ätherische
wickeln, ihr pH-Wert kann problemlos auf Öle, manche wie der Zimtbaum Öle in völlig
den Wert der Haut (5,5) eingestellt werden. unterschiedlichen Zusammensetzungen in Blät-
Anfänglich wurden Syndets nur als feste sei- tern und Rinde. Es handelt sich um sekundäre
fenähnliche Stücke hergestellt, heute werden pflanzliche Inhaltsstoffe, die nicht unbedingt für
sie in einer Vielzahl von meist flüssigen Haus- Wachstum und Fortpflanzung notwendig sind.
haltsreinigern, Duschgels, Haarshampoos und Sie bilden die „duftende Seele“ der Pflanzen und
Handseifen angeboten. Alle diese Flüssigseifen erfüllen wichtige Aufgaben für ihre Besucher: Sie
verursachen keine Hautreizungen, sind unemp- locken bestäubende Insekten an, wehren mögli-
findlich gegen Wasserhärte und bilden somit che Fressfeinde ab, bieten durch ihre keimtötende
keine Kalkseifen mehr. Wirkung Schutz vor krankheitsverursachenden
Bakterien und Pilzen und bilden in heißen trocke-
Himmelsluft und Pflanzenduft – nen Regionen einen Schutzfilm
Schutzfilm gegen
gegen übermäßige
übermäßige
ätherische Öle UV-Strahlung oder Wasserverdunstung.
Derartige ölige Substanzen werden in winzi-
Im Frühjahr erfreuen sich Viele am Duft vom gen Öldrüsen gebildet und sind in Konzent-
Flieder, andere riechen gerne frische Rosen, der rationen von durchschnittlich
Duft von Parfüms oder Seifen wirkt anziehend, 1 – 2 Prozent in die betref-
Gourmets schätzen spezielle Geschmacksnoten fenden Pflanzenteile einge-
einiger Gewürze. Alle diese meist angenehm lagert. Chemisch handelt es
empfundenen Düfte und Gerüche stammen von sich meist um organischee
einer speziellen Gruppe nur in Pflanzen vorkom- Mehrkomponentengem n mi-
mender Kohlenwasserstoffe, den sogenannten sche verschiedener K Kohleen-
ätherischen Ölen. wasserstoffe entwed der aus
Die Bezeichnung "ätherisch“ hat nichts mit wenigen Einzelkomponen-
der chemische Stoffgruppe der Ether (früher: ten oder auch aus meeh hrr
Äther) zu tun, sondern ist von dem griechischen als 300 (z. B. Rosenöl).
Wort aither, reine Himmelsluft oder himmlische Wichtige Bestandteile al- al-
Substanz, abgeleitet (Å Schöpfung als Stamm- ler ätherischen Öle bildeen
baum – die Theogonie des Hesiod, Seite 29). Terpene (Å Kasten Ter-T
Das weist auf die flüchtige Beschaffenheit dieser pene, Seite 342), die
Substanzen hin. ihrerseits als acyclische
c
oder cyclische Kohlen-

341
34
KAPITEL 6 Wasser

1 kg ätherisches Öl erhält man aus wasserstoffe, meist als Alkohole, Aldehyde, Ke- werden. Nur einige Öle, die gegen heißes Was-
7000 kg Melissenkraut tone, Säuren, Ester oder Ether vorliegen. Auch ser oder Dampf empfindlich sind, wie Jasminöl
3000 – 5000 kg Rosenblättern aromatische Verbindungen wie Phenole, Phe- oder manche Blütenöle, werden mittels flüssiger
200 kg Zitronenschalen nylpropanoide und Cumarine sind vorhanden. Extraktion mit Hexan und in einem zweiten
120 kg Lavendelblüten Terpene enthalten keine Fette, sind aber fett- Schritt mit Alkohol gewonnen. Zitrusöle werden
50 kg Eukalyptusblättern löslich, in Ethanol zu 96 Prozent löslich, dage- durch kaltes Auspressen der Schalen gewonnen.
6-52 gen kaum in Wasser. Fast alle sind farblos bis Da die Öle nur in winzigen Mengen in einer
Nicht ergiebig. Man be- hellgelb und haben ein geringeres spezifisches Pflanze vorkommen, müssen große Mengen an
nötigt große Mengen an Gewicht als Wasser. Bei Raumtemperatur sind jeweiligem Pflanzenmaterial verarbeitet werden,
Pflanzenmaterial für die
Gewinnung ätherischer sie flüssig, verdampfen aber bei Erwärmung um ein Kilogramm ätherischen Öls daraus zu
Öle. leicht und rückstandsfrei. erhalten (Å Tabelle 6-52).
Obwohl die ätherischen Öle ebenfalls aus Hauptsächlich werden diese Öle als Duft-
Pflanzen gewonnen werden, unterscheiden sie spender in Sprays, in Raumbelüftern, Duftlam-
sich in wichtigen Bestandteilen und Eigenschaften pen, Toilettenduftsteinen, Seifen sowie in den ca.
deutlich von den pflanzlichen „fetten Ölen“ (Å Ta- 2500 Parfümsorten oder als Geschmacksverstär-
belle 6-51). Für die Aufnahme in den Organismus ker in Gewürzen verwendet.
bei medizinischer Anwendung ist ihre sehr kleine
Molekularstruktur günstig, die es ihnen erlaubt,
mühelos Zellmembrane zu durchdringen. So kön-
nen sie über Atemwege und Haut in den Körper Terpene
gelangen. In reiner, unverdünnter Form wirken
die meisten ätherische Öle haut- und schleimhaut- Terpene bilden eine umfangreiche, heterogene
reizend, viele sind unverträglich oder sogar giftig Stoffgruppe, zu der neben reinen Kohlen-
wie Arnika, Eukalyptus, Campher, Salbei, Fenchel, wasserstoffen auch sauerstoffhaltige Verbin-
Thymian u. a. Phototoxisch auf der Haut wirken dungen wie Alkohole, Aldehyde und Ketone
Ingwer-, Orange- oder Zitronenöl. gehören. Ihr Sammelname leitet sich von
„Terpentin“ ab, einer zähflüssigen Masse,
Gewinnung und Anwendung die aus der verletzten Rinde einiger Nadel-
bäume fließt. Terpene bilden einen wichtigen
Die meisten ätherischen Öle werden mittels Bestandteil ätherischer Öle; außer in Pflanzen
Wasserdampf aus den Pflanzen destilliert. Nach kommen sie auch in einigen Tieren und in
der Abkühlung schwimmt das destillierte Öl Mikroorganismen vor. Bis heute kennt man
auf dem Wasser und kann leicht abgeschöpft ca. 8000 Vertreter dieser Naturstoffe. Grund-
baustein aller Angehörigen dieser Gruppe ist
6-53 Ätherisches Öl Wirkung die Verbindung Isopren (C5H8). Nach der
Wirkung. Wichtige ätheri- Anisöl antimikrobiell, d. h. abtötend auf Bak-
sche Öle und ihre biologi-
Anzahl dieses Grundbausteins werden die Ter- r
Lavendelöl terien und Pilze
schen Wirkungen. Nelkenöl
pene in Monoterpene mit 2 Isopreneinheiten
Thymianöl (C10) Sesquiterpene (C15), Diterpene (C20),
Eukalyptusöl Triterpene (C30) usw. eingeteilt. Es existieren
Ingweröl reizend auf Haut und Schleimhaut, ca. 3000 Sesquiterpene, 2700 Diterpene, dar-
Korianderöl appetitanregend und geschmacksver-
Kümmelöl bessernd unter das wichtige Vitamin A, sowie ca. 1700
Anisöl durchblutungsfördernd, sekretfluss- Triterpene.
Kamillenöl anregend in den Atemwegen Terpene sind flüchtige Verbindungen und
Fenchelöl
bewirken in den ätherischen Ölen die ange-
Eukalyptusöl
Thymianöl krampflösend
nehmen, oft betörenden Düfte und sind für
Rosmarinöl deren pharmakologische Effekte verantwort-
Pfefferminzöl lich. Unverdünnte, reine Terpene wirken in
Kümmelöl
Salbeiöl
Wohnbereichen gesundheitsschädigend, da
Duftöle stimmungsmodulierend, anregend sie beim Einatmen oder Verschlucken Reizun-
oder beruhigend gen der Atemwege und des Verdauungstrakts
Lavendelöl insektenvertreibend hervorrufen.
Citronellöl

342
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Lebenssaft der Wirtschaft – Erdöl Tegernsee nahebei oberirdisch austretendes Erdöl


unter der Bezeichnung „Quirin-Öl“ als Heilmittel.
Häufig findet „Erdöl“ Erwähnung im Wirt- Bis weit ins 19. Jahrhundert änderte sich an den
schaftsteil von Zeitungen, zahlreich sind auch Nutzungen kaum etwas: Stinkende Petroleum-
Statistiken über die weltweit verfügbaren Erd- lampen spendeten in den Wohnungen spärliches
ölreserven. Steigende Explorationskosten, die Licht, in Bukarest erleuchteten 1857 die ersten
Suche nach neuen Lagerstätten, Diebstähle von Petroleumlaternen nächtliche Straßen.
Erdöl aus Pipelines, Unfälle mit Öltankern oder Der Aufstieg des Erdöls zum wichtigen Energie-
Bohrplattformen mit erheblichen Schäden für träger und Rohstoff begann in der zweiten Hälfte
die Umwelt erregen stets große Aufmerksamkeit des 19.Jahrhunderts. 1856 in Dithmarschen und
in der Öffentlichkeit. Die große Medienpräsenz 1858 in Wietze bei Celle erfolgten die weltweit
und das gesteigerte Interesse von Wirtschaft und ersten Bohrungen nach Erdöl, ab 1859 wurde die
Politik an diesem Rohstoff sind eine Folge der erste große, in 22 m Tiefe liegende Erdölquelle
enormen Bedeutung des Erdöls als Wirtschafts- (in den USA) ausgebeutet. Als Startschuss für die
und Wohlstandsfaktor für moderne Industrie- Entwicklung der Erdölindustrie gilt die Erteilung
gesellschaften. eines Patents 1855 für den kanadischen Arzt und
Geologen ABRAHAM P. GESNER R (1797 – 1864) für

Ein Stoff mit vielen Namen ein Verfahren zur Herstellung eines Stoffes na-
mens Kerosin aus Kohle und Bitumen. Nach der
Oberirdisch austretendes Erdöl war schon in an- Entdeckung eines Erdölfeldes 1858 im südwest-
tiken Kulturen bekannt. Der in einigen Sprachen lichen Teil von Ontario durch den Unternehmer
übliche Begriff „Naphtha“ soll auf das babylo- JAMES MILLER WILLIAMS (1818 – 1890) wurde
nische Wort naptu, das Leuchtende zurückgehen Kerosin (Petroleum) bald aus Erdöl destilliert und
und wurde über das Persische und das Griechi- es entstanden die ersten Erdölraffinerien. Einen
sche übermittelt. Die alten Römer prägten den weiteren bedeutenden Schritt zur Erdölnutzung
Begriff oleum petrae, Petroleum und bezogen ermöglichte die Erfindung des Ottomotors durch
ihn auf eine ölige, aus Felsen austretende Flüs- NICOLAUS AUGUST OTTO (1832 –1891), der seine
sigkeit, welche sie am heutigen Golf von Suez Erfindung 1876 auf den Markt brachte. Nun
entdeckt hatten. In der deutschen Fachsprache konnte ein Abfallprodukt aus der Petroleumher- r
wird Naphtha heute für Leichtbenzin, Petroleum stellung, das leicht verdampfende Benzin (Å Vom
dagegen für ein Mitteldestillat (Å Abbildung Rohöl zum Benzin, Seite 346) nutzbringend und
6-59, Seite 346) verwendet. Der heute übliche in großen Mengen verwendet werden. Doch erst
Begriff „Erdöl“ geht auf den österreichischen in den letzten Jahrzehnten stieg Erdöl zum unent-
Montangeologen HANS HÖFER VON HEIMHALT behrlichen Energieträger und industriellen Che-
(1843 – 1929) zurück. Er führte ihn 1913 in mierohstoff auf. Ohne Erdöl gäbe es die heutige
einem Buch als Bezeichnung für organische, flüs- fast uneingeschränkte Mobilität zu Wasser, zu Luft
sige und brennbare Naturstoffe ein, die aus dem und zu Lande nicht, basiert sie doch zu 90 Prozent
Erdinneren stammen. Weil diese Flüssigkeiten auf Erdöl bzw. auf Erdölderivaten. Aus Erdölderi-
wie andere Minerale aus Sedimenten gewonnen vaten werden unzählige Produkte in den Bereichen
werden, bezeichnet man Erdölprodukte in Ab- Kunststoffe, Farbstoffe, Medikamente, Kosmetika,
grenzung zu tierischen oder pflanzlichen Ölen Düngemittel oder Waschmittel erzeugt.
auch als Mineralöle.
Rohstoff Erdöl
Vom Lampenöl zum Treibstoff
Als Erdöl wird ein zähflüssiges Gemisch aus
In antiken. mesopotamischen Kulturen wurde Kohlenwasserstoffen bezeichnet, welches in der
Erdöl als Brennstoff für Lampen und Fackeln Erdkruste oft gemeinsam mit Erdgas (Å Me-
sowie vermischt mit Sand und Schilf als Dichtungs- than aus dem Erdinneren – Erdgas, Seite 380)
material für Boote genutzt. Auch die alten Römer vorkommt. Die unmittelbar aus der Quelle ge-
verwendeten Erdöl als Lampenöl und vielleicht förderte, unraffinierte, in Wasser nicht lösliche
auch als Schmiermittel für die Achsen ihrer Kriegs- Flüssigkeit nennt man Rohöl. Je nach Ausgangs-
wagen. Im 15. Jahrhundert vertrieben Mönche aus material, Bildungsvorgang und Gewinnungsort

3 43
KAPITEL 6 Wasser

Element Anteil in % unterscheiden sich die Rohöle deutlich; heute teine, Fette und Kohlenhydrate. Wird es im
kennt man ca. 250 verschiedene Rohölsorten. Laufe der Entwicklung weiter abgesenkt und
Kohlenstoff (C) 83,5
Rohöl ist eine oft übel riechende, ölige, brenn- mit mächtigen Sedimentschichten überdeckt,
Wasserstoff (H) 11,5 bare Flüssigkeit mit einer Dichte von 0,8 bis so entsteht ein sogenanntes Erdölmuttergestein.
0,94 g / cm3. Seine Konsistenz schwankt zwi- Dann erfolgt die weitere Umwandlung der or-
Sauerstoff (O) 1,5
schen hellgelb dünnflüssig und schwarzbraun ganischen Reste unter wachsendem Druck und
Stickstoff (N) 1,0 zähflüssig. Förderprodukte mit hohem Schwe- steigender Temperatur zu Kerogenen. Dieses
Schwefel (S) 2,5
felgehalt werden als saure, solche mit geringem wasserunlösliche, bituminöse organische Zwi-
als süße Rohöle bezeichnet. schenprodukt enthält Kohlenstoff (C), Was-
Metalle < 1000 ppm
(Fe, Al, Cu, Ni) Unraffiniertes Rohöl ist ein hochkomplexes serstoff (H), Sauerstoff (O), Stickstoff (N) und
Stoffgemisch, das aus mindestens 500, nach an- Schwefel (S), also alle für die Bildung von Koh-
6-54
deren Angaben aus mehr als 17 000 organischen lenwasserstoffketten notwendigen Bausteine.
Elemente im Erdöl. Durch-
schnittlicher Anteil an Ele- Bestandteilen besteht. Den weit überwiegenden Entsprechend ihren Atomzahlverhältnissen
menten in Erdöl. Anteil bilden gesättigte und ungesättigte Koh- H / C und O / C werden die Kerogene dann in
lenwasserstoffe. Von paraffinischem Öl spricht kurzkettige, gasförmige (Methan, also Erdgas)
man, wenn langkettige, gesättigte Kohlenwas- und in mittelkettige (ca. 14 – 17 C-Atome) flüs-
serstoffe (Alkane) vorherrschen. Überwiegen sige Kohlenwasserstoffe (Erdöl) aufgespalten.
cyclische, nicht aromatische Kohlenwasserstoffe Dieser Prozess findet im in Tiefen zwischen
(Cycloalkane, früher: Naphthene) spricht man 1400 und 4000 m statt. Dort können durch den
von naphthenischem Erdöl (Å Abbildung 6-58). enormen Auflastdruck der Sedimentschichten
die erforderlichen hohen Drücke und Tempe-
Typ Verbindungen raturen von 50 – 120 °C erreicht werden; diesen
ungesättigte Kohlen- Ethen, Propen, Buten Temperaturbereich nennt man „Erdölfenster“.
wasserstoffe (Alkene)
Ist die Temperatur höher, zerbrechen die Ketten
gesättigte Kohlenwas- Methan, Ethan, Propan, Butan,
serstoffe (Alkane) Paraffinöle und -wachse und es entsteht Methan. Das Öl besteht aus
Aromaten Benzol, Toluol feinsten Tröpfchen, den sogenannten Mikro-
Element Kohlenstoff (Ruß) naphtas. Die Bildungsdauer von Erdöl liegt
zwischen mehreren Hunderttausend und mehr
6-56
Erdöl-Bestandteile. Erdöl besteht vor allem aus Kohlen- als einer Million Jahren. Im Laufe der Erdge-
wasserstoffverbindungen. schichte gab es Perioden mit besonders ho-
her, mariner Bioproduktivität, und zwar im
Bildung von Erdöl und Lagerstätten Erdaltertum (Paläozoikum), im Erdmittelalter
(Mesozoikum) sowie in der Erdneuzeit (Käno-
Nach dem biogenen (biotischen) Modell, das zoikum), in denen ausreichend große Mengen
von den meisten Erdölgeologen vertreten wird, organischen Ausgangsmaterials für die Erdöl-
sind Erdöl und Erdgas aus Kohlenwasserstoffen und Erdgasbildung anfielen (Å Abbildung 6-55
entstanden, die der Umwandlung von fossilen, und Abbildung 5-30, Seite 327). Die ältesten
marinen, organischen Resten entstammen, die Erdölvorkommen sind ca. 500 Millionen Jahre
zum Meeresboden sanken und dort angehäuft alt, die meisten stammen aus dem Jura und der
wurden. Abbauprodukte von Biomolekülen wie Kreidezeit, nur wenige aus dem Tertiär. Selbst
6-55
Chlorophyll oder Hämoglobin werden als Be- in heutigen Meeren werden in Zoo- und Phy-
Erdölentstehung.Heute
bekannte Vorkommen weis für diese Modelle angeführt. Wenn solche toplankton oder Krill unvorstellbare Mengen
entstanden aus Ablage- am Meeresboden angehäuften, kohlenstoffrei- von Kohlendioxid gespeichert, die irgendwann
rungen im Erdaltertum chen Reste rasch von undurchlässigen Sedimen- als Stoffverbindungen oder als tote Körper am
von 360 bis 250 Millionen
Jahren aus organischem ten überdeckt werden, dann verwesen sie infolge Meeresboden angehäuft werden.
Ausgangsmaterial sowie Sauerstoffabschlusses nicht, sondern werden Das Erdöl verharrte nicht an seinem Bil-
im Erdmittelalter und in unter der Einwirkung anaerober Mikroorga- dungsort, sondern wanderte während der Pri-
der Erdneuzeit von 190
bis ca. 20 Millionen Jahren nismen in Faulschlamm (Sapropel, Å Biogene märmigration vom Muttergestein in porösere
aus planktonischen Resten Sedimentite, Seite 241) umgewandelt. Dieses Erölspeichergesteine. Das können zerklüftete
(graue Bereiche). Zwischenprodukt enthält 23 – 25 Prozent Pro- und verkarstete Kalksteine (Å Chemische Sedi-
Erde, Wasser, Luft und Feuer

mentite, Seite 240), am häufigsten aber poröse


Å Sandsteine (Seite 239) sein. Im Speicherge-
stein erfolgt dann eine Separation der Gemische
nach der Viskosität und Dichte. Man nennt
diesen Vorgang Sekundärmigration. Ganz unten
sammelt sich Wasser mit der höchsten Dichte,
darüber folgt das Erdöl und den Abschluss bil-
det Erdgas. Das Erdöl bleibt in den Speicher-
gesteinen, wenn undurchlässige Gesteine wie
ÅTongesteine (Seite 240) oder Salze noch oben
bzw. seitlich eine Abdeckung bilden. Erdöl und
Erdgas sammeln sich an den höchsten Punkten
in diesen sogenannten Erdölfallen (Tertiärmi-
gration). Fallen können Sattelstrukturen, tek-
tonische Verwerfungen, überhängende Flanken
von Salzstöcken oder auskeilende Mutterge-
steine sein (ÅAbbildung 6-57). Aus diesen Fal-
len wird der begehrte Rohstoff gefördert.

Die abiotische Entstehungstheorie

6-57
Anhänger der Theorie der abiotischen Ent- Die Gewinnung von Erdöl Erdölfallen. Erdöl und
stehung des Erdöls, die ab 1951 in der Sow- Erdgas reichert sich in
jetunion entwickelt wurde, bestreiten dessen In Ausbeutung befindliche Erdölvorkommen sind durchlässigen wassergesät-
tigten Speicherschichten
biogene Herkunft. Sie gehen stattdessen von an Land anhand von Pumpen, im Meer anhand unter darüberliegenden
nicht-biologischen Ausgangsstoffen und Bil- von Bohrplattformen von weitem erkennbar. Die undurchlässigen Schichten
dungsprozessen im Erdmantel aus. großtechnische Ausbeutung von unterirdischen an. Je nach geologischen
Bedingungen sind Ölfallen
Ihrer Meinung nach hätten die Mengen ab- Erdölvorkommen setzte im 19. Jahrhundert ein: unterschiedlich ausgebil-
gestorbener Organismen niemals ausgereicht, Bei Bóbrka (bei Krossen, heute Krosno/Polen) det. So kann sich das Öl
um als Ausgangsmaterial für die Bildung der wurden ab 1854 erdölhaltige Sande untertage in und Gas im Scheitel von
Sattelstrukturen sam-
Erdölmengen zu dienen, die bisher weltweit einer „Erdölmine“ abgebaut, ab 1934 wurde die meln, Verwerfungen oder
gefördert wurden. Sie postulieren deshalb eine erste saudiarabische Lagestätte erschlossen. Die überhängende Flanken
abiotische Bildung von Kohlenwasserstoffen unterschiedlichsten Ausformungen von Erdölfallen von Salzstöcken können
poröse Schichten zur Seite
und stützen ihr Modell u. a. auf riesige Men- und die oft feinst disperse Verteilung des Öls im abgrenzen. Oder durch-
gen kosmischer Kohlenwasserstoffe, die bei Gestein erschweren und begrenzen die Förderung lässige Gesteine können
der Ausbildung unserer Erde im Erdmantel des Öls und bedingen verschiedene Fördermetho- zwischen undurchlässigen
Schichten auskeilen (links
eingelagert worden sein sollen. Bisher ist es den. Die am häufigsten angewendete Förderme-
unten).
allerdings nicht gelungen, Erdöllagerstätten thode ist die Pumpförderung von Erdöl aus bis zu
auf Basis der Aussagen der abiotischen Entste- 2000 m Tiefe in drei Phasen:
hungstheorie zu finden, weshalb die Theorie In der ersten Phase erfolgt die Förderung auf-
f
heute wenig Anhänger hat. grund des natürlichen Drucks, der auf das Öl
wirkt. Infolge eingeschlossenen Erdgases steht
6-58
Kohlenwasserstoffe des Erdöls. Neben gesättigten, unverzweigten n-Alkanen kommen im Erdöl auch verzweigte Kohlenwasserstoffe, sogenannte i-Al-
kane und ungesättigte Kohlenwasserstoffe, sogenannte Alkene, vor. Zu beiden Stoffgruppen gehören jeweils Verbindungen mit gleicher Summenformel,
aber unterschiedlicher Struktur (Isomerie). Daher werden die Kohlenstoffatome durchnummeriert und der Ort von Doppelbindungen oder Verzweigun-
gen durch Angabe der Nummer im Namen kenntlich gemacht. Auch zyklische Kohlenwasserstoffe wie Cyclohexan kommen im Erdöl vor, ebenso soge-
nannte Aromaten, also Verbindungen auf Basis des Benzols. Von den gewöhnlichen zyklischen Kohlenwasserstoffen unterscheidet Benzol die besondere
Form der Bindung entlang des Rings, bei der sich ein Teil der an den Bindungen beteiligten Elektronen über den gesamten Ring verteilt, meist dargestellt
durch einen Kreis im Inneren des Benzolrings. Alternativ wird Benzol dargestellt mit alternierenden Folgen von Doppel- und Einfachbindungen.
KAPITEL 6 Wasser

ein neu erschlossenes Vorkommen unter natür- Raffinerien transportiert, wo es in Mineral-


lichem Druck, so dass das Erdöl beim Anbohren ölprodukte wie Heizöl, Dieselöl oder Benzin
von alleine oder durch Pumpen nach oben steigt aufgespalten wird. Raffinerien existieren seit
(eruptive Förderung). Mit dieser Methode kön- 1859. In ihnen erfolgt zunächst eine thermische
nen nur 10 – 20 Prozent des vorhandenen Öls Aufarbeitung mittels fraktionierter Destillation
gewonnen werden. des Rohöls. Da die verschiedenen Bestandteile
In einer zweiten Phase werden Gas oder Was- des Kohlenwasserstoffgemischs unterschiedli-
ser in das Reservoir gepresst, um weiteres Öl che Siedepunkte haben, lassen sie sich mittels
zu mobilisieren (sekundäre Förderung); damit Destillation in Fraktionen trennen. Während
kann die Ausbeute um weitere 10 – 30 Prozent dieser sogenannten atmosphärischen Destilla-
gesteigert werden (forcierte Förderung). tion wird das gereinigte und entsalzte Rohöl
Um die Nutzungsrate noch weiter zu erhö- in bis zu 50 m hohen Röhren (Kolonnen) auf
hen, werden in einer dritten Phase Substanzen 350 – 400 °C erhitzt. Je niedriger die Siedetem-
wie überhitzter Wasserdampf, Polymere, Che- peratur einer Fraktion ist, desto heller und flüs-
mikalien oder Mikroben eingebracht. Dadurch siger ist sie; Fraktionen mit hohem Siedepunkt
wird auch zähflüssiges Öl gewonnen. Doch aus sind dementsprechend zähflüssig und dunkel.
Kostengründen wurde diese Tertiärförderung Auf den verschiedenen Böden der Kolonnen,
bisher nur selten eingesetzt. deren Temperaturen unter dem Siedepunkt der
Bisher können so zwischen 50 – 60 Prozent einzelnen Fraktionen liegen, sammeln sich von
des Öls gewonnen werden. Im Jahre 2006 wur- oben nach unten Leichtbenzin, Naphtha, Petro-
den weltweit 3906 Millionen Tonnen Erdöl leum und Kerosin, schweres und leichtes Gasöl
gefördert und 3896,3 Millionen Tonnen ver- und im Sumpf der atmosphärische Rückstand.
braucht, davon in den USA 958,4 Millionen Die unter Normalbedingungen gasförmigen
Tonnen, in China 349,8 Millionen Tonnen, in Kohlenwasserstoffe (vor allem Methan, Ethan,
Deutschland 113,9 Millionen Tonnen. Propan, Butan) werden ganz oben abgeführt
(Å Abbildung 6-59).
Vom Rohöl zum Benzin Der Rückstand wird in einer nachgeschalte-
ten Kolonne mittels Vakuumdestillation bei Tem-
Das am Bohrloch gewonnene Rohöl ist zwar peraturen um 370 °C, jedoch mit auf ein 1 / 20
ein komponentenreicher, aber kaum nutzbarer erniedrigtem Druck (Vakuum) weiter in schwe-
Rohstoff, so dass eine dreistufige Aufarbeitung res Heizöl und Schmieröl (20 – 35 C-Atome)
erforderlich ist. Noch an den Förderstellen er- sowie in (synthetisches) Bitumen (mehr als
folgt eine mechanische, bei der das geförderte 35 C-Atome) fraktioniert.
Öl von unerwünschten Förderungsbegleitstof- Die abschließende chemische Aufarbeitung
fen wie Sand, Wasser und Gas gereinigt wird. untergliedert sich in mehrere Teilschritte: Als
Erst im gereinigten Zustand wird das Förder- erster Schritt schließt sich die Entschwefelung
produkt dann zur weiteren Aufarbeitung zu an. Mittels der Hydrodesulfurierung oder mikro-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

6-59
Atmosphärische Destillation von Rohöl. Die Trennung
der Rohölfraktionen in schwer- und leichtflüchtige Be-
standteile geschieht über Destillationskolonnen, in denen
die verdampften Fraktionen durch Öffnungen in soge-
nannten Böden strömen, auf denen sich die Fraktionen als
Flüssigkeit absetzen, deren Taupunkt der dort herrschen-
den Temperatur entspricht. Sie werden seitlich abgeleitet.
Da die Gase die Flüssigkeit durchsprudeln, kommt es zu
einem intensiven Kontakt zwischen beiden Phasen, was
die Trennungsleistung erheblich verbessert. Die konden-
sierten Fraktionen fließen nach unten, diejenigen mit dem
höchsten Siedepunkt sammeln sich am Boden und bilden
den sogenannten Sumpf. Dieser Sumpf wird erhitzt, und
die entstehenden Gase werden in die Kolonne zurück-
geleitet. Sie sorgen für die Erwärmung und Destillation
der leichteren Fraktionen. Das kondensierte Leichtbenzin
wird teilweise wieder zurückgeleitet, um die Ausbeute
an leichtflüchtigen Fraktionen zu erhöhen. Diese Art
der Rückleitung kann auch auf tiefer liegenden Böden
angewendet werden. Die angegebenen Kohlenstoffket-
tenlängen der Fraktionen sind ungefähre Werte. „At-
mosphärisch“ nennt man diese Destillation, da sie unter
Normaldruck stattfindet.
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Name Chemischer Prozess Temperatur Druck Hauptprodukte


in °C in bar
Hydrodesulfurierung Entfernung von Schwefel mittels Wasserstoff (Bildung von Schwe- ca. 350 ca. 50 Kraftstoffe für Fahrzeuge
(Hydrotreating) felwasserstoff), Aufbrechen von Doppelbindungen, Neutralisie- (Benzin, Diesel).
rung von Säuren. Reaktion erfolgt mit Hilfe eines Katalysators
(i. a. Molybdän).
Hydrocracken Hydrierung von Doppelbindungen durch Wasserstoffzugabe und ca. 450 80 – 200 Benzin- und Diesel-Zusätze,
mithilfe von Metallkatalysatoren und gleichzeitiges Cracken mit Düsentreibstoff
Zeolithen (siehe FCC).
Fluid Catalytic Cra- Cracken von Gasöl aus der atmosphärischen oder Vakuumde- ca. 500 25 Benzin, Heizöl
cking (FCC) stillation zu kurzkettigen, v. a. ungesättigten und verzweigten
Molekülen mittels eines Zeolith-Katalysators (ein Alumosilikat),
der während des Prozesses kontinuierlich verflüssigt und in einem
Regenerator wieder verfestigt und gereinigt wird. Vergiftung des
Katalysators durch Koksprodukte wird dadurch vermieden.
Steamcracken Aufbrechen von Alkanen in kurzkettige Alkene durch sehr hohe 800 - 850 ca. 12 Ethen, Propen, Butadien für
Temperaturen unter Zuhilfenahme von Wasserdampf (thermisches die chemische Industrie.
Cracken).
Koker (Coker) Cracken der Rückstände aus der Vakuumdestillation (Vakuum- ca. 500 3–8 Koks zur Verbrennung oder
sumpf) in niederkettigere Kohlenwasserstoffe. Der übrigbleibende Vergasung
Rückstand wird in Kokstürmen zu Koks umgewandelt.
Katalytisches Refor- Erzeugung cyclischer und verzweigter Kohlenwasserstoffe und ca. 500 3,5 - 30 Kraftstoffe mit hoher Oktan-
ming Aromaten aus Naphtha durch Wärme mit Hilfe von Metall/ zahl
Zeolith-Katalysatoren.

bieller Verfahren werden unerwünschte Inhalts- Kraftstoffe – die wichtigsten Erdölderivate 6-60
stoffe wie Harze und vor allem Schwefel ent- Cracken und Verede-
lungsverfahren. Das Wort
fernt. Der Schwefel wird durch das sogenannte Wichtigste Aufarbeitungsprodukte einer Raffi- „cracken“ kommt aus
Claus-Verfahren wieder zurückgewonnen. Beim nerie sind Kraftstoffe: 2009 wurden in Deutsch- dem Englischen und be-
nachfolgenden Cracken (Å Tabelle 6-62) werden land 14 Prozent des Rohöls als Grundstoffe für deutet "spalten". Dabei
werden insbesondere die
die langkettigen Produkte der Vakuumdestilla- die chemische Industrie, 27 Prozent zur Wär-
schweren, langkettigen
tion bei Temperaturen über 450 °C und Drü- meerzeugung und 59 Prozent als Kraftstoffe Destillationsprodukte
cken zwischen 30 und 60 bar in kürzere Stücke verbraucht. Als Kraftstoffe werden Brennstoffe durch Wärme oder mittels
aufgespalten. Nach dem Cracken werden die bezeichnet, deren gespeicherte chemische Ener- katalytischer Verfahren
gespalten. Am leichtesten
einzelnen Fraktionen erneut mittels Destillation gie bei der Verbrennung in Antriebskraft umge- lassen sich Alkane, etwas
getrennt. Hauptzweck dieser Verfahren ist es, wandelt wird. Im Straßenverkehr spricht man schwerer Cycloalkane
den Anteil leichter Fraktionen, insbesondere an meist von Kraftstoffen, im Luftverkehr und in (Naphthene), am aufwän-
digsten Aromaten cracken.
Benzin, zu erhöhen. der Schifffahrt eher von Treibstoffen. Die beiden Ziel des Crackens ist es,
Um die Ausbeute an Fahrbenzin mit einer Hauptvertreter sind Benzin und Dieselöl. Gase, Benzine und Mit-
Oktanzahl über 90 zu erreichen, wie es heutige teldestillate zu gewinnen.
Alkene wie z. B. Ethen die-
Ottomotoren erfordern, schließt sich ein weite- Benzin nen als Ausgangsstoff für
rer chemisch-katalytischer Prozess an, das Refor- Kunststoffe.
mieren (lat. reformare, umwandeln). Mit diesem Benzin (Ottokraftstoff) ist eine Sammelbezeich-
Verfahren wird die Oktanzahl des Rohbenzins nung für eine Reihe von leicht verdampf- und
von 40 – 70 auf 95 – 100 angehoben. Dabei wer- entzündbaren dünnflüssigen Rohölderivaten, die
den Alkane isomerisiert (d. h. in ein Molekül dem Antrieb von Straßenfahrzeugen dienen. Ety-
mit gleicher Summenformel umgewandelt) und mologisch soll der Name von einer arabischen
Cycloalkane aromatisiert. Benennung für „Weihrauch aus Java“ abstam-
Um fein abgestimmte Produkte wie Kraft- men, den heutigen Begriff führte der deutsche Mi-
stoffe oder Heizöle zu erhalten, werden in einem neraloge und Chemiker EILHARD MITSCHERLICH
letzten Schritt Fraktionen verschiedener Destil- (1794 – 1863) allerdings für das heutige Benzol
lations- und Crackverfahren unterschiedlicher ein. Der heutigen Substanz Benzin ordnete erst
Rohölsorten gemischt, beim sogenannten Blen- der Chemiker JUSTUS VON LIEBIG die richtige
dingg (engl. Mischen, Vermengen). Benennung zu.
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

6-61
Ölraffinerie. Moderne Öl-
raffinieren können 15 Mil-
lionen und mehr Tonnen
Rohöl pro Jahr verarbeiten.

3 47
KAPITEL 6 Wasser

Flammpunkt Benzin ist ein Gemisch aus mehr als 100 ver-
Niedrigste Temperatur,
schiedenen, meist leichten, unverzweigten Oktanzahl und Cetanzahl
bei der das Stoff-Luft-
Gemisch an der Ober- Kohlenwasserstoffen. Nach der europäischen
fläche eines Stoffes noch Norm darf dieser Kraftstoff hauptsächlich aus Das Zündverhalten von Kraftstoffen wird
zündfähig ist. Ist das
Alkanen, bis 42 Volumenprozent Aromaten, bis mit der Oktanzahl für Ottokraftstoffe und
Stoff-Luft-Volumen groß
genug, kann oberhalb die- 18 – 21 Volumenprozent Alkenen, bis 1 Volu- der Cetanzahl für Dieselkraftstoffe angege-
ses Punktes eine Explosion menprozent Benzol sowie bis 10 mg / kg Schwefel ben. Die Oktanzahl ist eine 1927 eingeführte
erfolgen.
und etwas Sauerstoff bestehen. Ferner kommen Maßzahl für die Klopffestigkeit des Benzins
noch Additive wie höhere Alkohole, Phenole, in Ottomotoren. Der Referenzwert gibt in
Komplexbildner und Amine hinzu. Volumenprozent den theoretischen Wert der
Brennwert
Der Brennwert ist ein Maß Da Benzin einen niedrigen Flammpunkt Mischung vom schwer entzündlichen Iso-
für die thermische Energie (ca. –20 °C) besitzt, ist es leicht entzündlich und octan (2,2,4-Trimethylpentan, C8H18) zum
einer definierten Menge wird als Stoff in die Gefahrenklasse A I einge- leicht entzündlichen n-Heptan (C7H16) an.
eines Brennstoffs. Zum
Brennwert wird auch die stuft. Bei unruhiger Lagerung kann sich Benzin Isooctan ist ein verzweigter, zu den Alkanen
Wärmemenge hinzuge- statisch aufladen und selbst entzünden. Als un- zählender Kohlenwasserstoff, Heptan ein un-
zählt, die bei der Kon- polare Flüssigkeit bildet es ein gutes Lösungs- verzweigter, bei Verdichtung leicht entzünd-
densation des während
der Verbrennung entste- mittel für Öle, Fette oder Harze, was bei der barer Kohlenwasserstoff. Eine Oktanzahl von
henden Wasserdampfes Fleckenreinigung durch Waschbenzin genutzt 95 bedeutet also eine theoretische Mischung
entsteht. wird. Für die Verwendung als Kraftstoff sind von 95 Volumenprozent Isooctan mit 5 Vo-
Physiologischer Brenn- sein hoher Brennwert von 47 MJ / kg günstig. lumenprozenten n-Heptan. Als Klopfen wird
wert Das Zündverhalten der verschiedenen Benzin- das Geräusch einer unkontrollierten, für den
Der physiologische Brenn- sorten wird als Oktanzahl (Å Kasten Oktanzahl Motor sehr schädlichen Frühzündung des n-
wert ist ein Maß für die
vom Körper nutzbare
und Cetanzahl) angegeben. Heptans im Benzin-Luftgemisch verstanden.
Energie eines Stoffes. In europäischen Tankstellen werden für Otto-
Dieselöl kraftstoffe die sogenannte, in einem speziellen
Prüfverfahren ermittelte Research-Oktanzahl
Dieselöl (Dieselkraftstoff) ist der zweite, tradi- (ROZ) sowie die stets etwas niedrigere Moto-
tionelle Kraftstoff, geeignet für Fahrzeuge und ren-Oktanzahl (MOZ) angegeben. Moderne
Antriebsaggregate mit Dieselmotoren. Er ist be- Ottomotoren benötigen Kraftstoffe mit einem
nannt nach RUDOLF DIESEL (1858 – 1913), dem ROZ-Wert von mindestens 91.
Erfinder des bis heute vielseitig angewandten Die Bezeichnung Cetanzahl für Diesel-
Dieselmotors. Gewonnen aus schwereren Mit- kraftstoffe leitet sich von einer älteren Benen-
6-62 teldestillaten (Å Vom Rohöl zum Benzin, Seite nung für Hexadecan (C16H34), einem lang-
Benzin und Diesel. Die 346) weist es erhebliche Unterschiede zum Ben- kettigen, höheren Alkan ab, das in diesem
unterschiedlichen Eigen- zin (ÅTabelle 6-62) auf, ist aber dem leichten Kraftstoff vorkommt. Die Cetanzahl gibt das
schaften beider Kraftstoffe
sind vor allem eine Folge Heizöl sehr ähnlich. Volumenverhältnis von Cetan zu 1-Methyl-
der verschiedenen Ketten- Dieselöl ist ein schwer entflammbares Ge- naphthalin an. Je höher der Cetananteil ist,
längen der enthaltenen misch aus flüssigen Kohlenwasserstoffen; es desto zündwilliger ist die Mischung. Bei nied-
Kohlenwasserstoffe.
rigem Cetanwert kann es infolge von Zünd-
verzug zu einer schlag- und explosionsartigen
Benzin Diesel
Verbrennung des Kraftstoffes kommen (Na-
Flammpunkt in °C ca. – 20 ca. 55 geln). Heutige Dieselöle haben Cetanwerte
von 51 – 55.
Zündtemperatur in °C 220 – 460 220 –350

Siedebereich in °C 70 – 170 170 – 390 besteht aus langkettigen Alkanen (Paraffinen,


Cycloalkanen (Naphthenen) sowie Aromaten.
Luftbedarf pro Liter bei
10 13 Wie Benzin ist Dieselöl eine unpolare Flüssigkeit.
Verbrennung in m3
Es verdampft aufgrund seiner relativ großen
C-Atome je Molekül 5 –12 10 –22
Moleküle erst bei Temperaturen zwischen 50
Dichte in g/cm3 0,72 – 0,80 0,82 – 0,84 und 100 °C und wird in die Gefahrenklasse A III
eingestuft. Seine Brennwert liegt bei 45,4 MJ / kg.
Viskosität in mPa·s 0,53 – 0,65 2,00 – 4,50
Per Gesetz darf Dieselöl seit einigen Jahren ma-

348
Erde, Wasser, Luft und Feuer

ximal 10 mg / kg Schwefel führen. Bei Tempe- bekannt. In Flüssigkeiten, denen wir täglich
raturen unter –22 °C wird Dieselöl zähflüssig. begegnen, wie etwa Reinigungsmitteln, sind al-
Dann kristallisieren Paraffinpartikel aus, bilden lerdings auch viele andere Alkohole zu finden.
wachsartige Zusammenballungen und verstop- Alkohole sind organische Verbindungen, die sich
fen Leitungen sowie Filter; deshalb werden dem von Kohlenwasserstoffen ableiten, in deren Mo- 6-63
al-kuhl. Das arabische
sogenannten Winterdiesel einige Kälteschutz- lekülen mindestens ein Wasserstoffatom durch Wort für Alkohol.
Additive zugegeben, die eine Kristallausfällung die charakteristische Hydroxygruppe (– OH)
unterbinden. — ersetzt worden ist (Å Abbildung 6-64 und 6-45,
Seite 335). Es handelt sich um Hydroxylderi-
Alkohole vate vor allem von Alkanen und Alkenen; des-
halb wird nach der IUPAC-Nomenklatur an
Mehr als ein Genussmittel deren Stammname die Silbe –ol angefügt, z. B.
Ethan Ο Ethanol. Ein Alkoholmolekül besteht
Mit Alkohol assoziiert man zunächst natürlich aus einer Kohlenwasserkette und mindestens
die Essenz, den wirksamen Bestandteil, aller einer Hydroxygruppe als funktioneller Gruppe
alkoholischen Getränke. Die Bezeichnung Al- (Å Kasten Funktionelle Gruppen, Seite 335).
kohol leitet sich ursprünglich von dem arabi- Erstere ist unpolar und lipophil, letztere polar
schen Wort al-kuhl für das Antimonmineral und hydrophil, vergleichbar mit den entspre-
Stibnit (Antimonsulfid, Sb2S3) ab. Zu sehr fei- chenden Gliedern von Seifenmolekülen. Sind
nem Pulver zermahlen und mit Fett vermischt Hydroxygruppen an Kohlenstoffatome eines
diente es wegen seiner schwarzen Farbe als Benzolrings gebunden, spricht man nicht von
kosmetisches Pigment. Später wurde dieser Be- Alkoholen, sondern von Phenolen. Phenole sind
griff als allgemeine Bezeichnung für feinstoffli- im Gegensatz zu Alkoholen schwache Säuren,
che Substanzen gebraucht, man brachte ihn da der Benzolring die Bindung des Wasserstoff-
auch mit der Quintessenz in Verbindung, dem atoms an das Sauerstoffatom schwächt.
fünften Element, das nur im astralen Bereich Mittels Biosynthese wird allein Ethylalkohol
auftreten sollte. Näher an der uns gebräuchli- durch alkoholische Gärung aus Glucose (Trau-
chen Schreibweise taucht das Wort im mittel- benzucker, C6H12O6) oder Fructose (Fruchtzucker,
alterlichen Spanisch als „alcohol“ auf, mit der C6H12O6) erzeugt. Diese Alkoholbildung findet
Bedeutung feines, trockenes Puder. Der be- auch beim Gären von heruntergefallenen Baum-
rühmte Arzt und Chemiker PARACELSUS über- früchten statt, an denen sich manche Tiere laben.
trug diese Bezeichnung auf die leichtflüchtige Genutzt wird der Gärungsprozess beim Bierbrauen
Substanz, die bei der Erzeugung von Brannt- oder der Weinherstellung, wo mit Hilfe von He-
wein anfällt. Branntwein spielte in der damali- fepilzen aus Malz oder aus Weintrauben, also
gen Heilkunde eine wichtige Rolle. Auch noch aus zuckerhaltigen Substanzen, Ethylalkohol und
heute wird Alkohol als Lösemittel in einigen Kohlendioxid erzeugt wird. Der Hefepilz gewinnt
flüssigen Medikamententinkturen verwendet. aus diesem Prozess Energie. Großtechnisch wird
In der Umgangssprache ist mit Alkohol stets Ethylalkohol durch katalytische oder indirekte 6-64
dieser genießbare und in geringen Mengen un- Hydratisierung (ÅWasser, das ideale Lösungsmit- Alkohole. Bei primären
giftige Trinkalkohol gemeint. Chemiker be- tel, Seite 328) von Ethylen gewonnen, weitere Alkoholen wie Ethanol ist
das C-Atom, das die Hy-
zeichnen ihn als Ethylalkohol oder einfacher als primäre und sekundäre Alkohole werden mittels droxygruppe trägt, nur mit
Ethanol (früher Äthanol). In reinster Form, als Reduktion aus Aldehyden bzw. Ketonen erzeugt einem Kohlenstoffatom
sogenannter „absoluter Alkohol“, ist Ethanol (Å Abbildung 6-67, Seite 351). verbunden, bei sekun-
dären Alkoholen wie dem
eine leichtbewe g liche, an g enehm riechende Propan-2-ol sind es zwei,
Flüssigkeit, die bei 78,4 °C siedet und beim Chemische Reaktionen von Alkoholen bei tertiären Alkoholen
Entzünden mit bläulicher, kaum sichtbarer drei Kohlenstoffatome.
Die Nummern in den Al-
Flamme verbrennt. Alkoholmoleküle ähneln in ihrem winkligen Auf-
koholnamen beziehen sich
Allerdings ist Ethanol nur ein einzelner Ver- bau den Wassermolekülen, bei denen ein H-Atom nicht auf primär, sekundär
treter einer sehr großen Verbindungsklasse. Ein durch einen Alkylrest ersetzt worden ist. Deshalb bzw. tertiär, sondern auf
anderes Beispiel ist Methylalkohol (Methanol) – können Alkoholmoleküle ebenso wie Wassermo- die jeweilige Position der
Hydroxygruppe oder der
der Allgemeinheit eher wegen seiner sehr gesund- leküle Protonen austauschen und als Säure oder Seitengruppen innerhalb
heitsschädigenden oder sogar letalen Wirkung Base reagieren, jedoch schwächer als Wasser. Mit der Kohlenstoffkette.

3 49
KAPITEL 6 Wasser

schuss an Alkohol, so reagiert das Oxoniumion


Klassifikation von Alkoholen mit einem Alkoholmolekül, und es entsteht unter
Abspaltung von Wasser ein sogenannter Ether
Alkohole werden nach Länge ihrer Kohlen- (Å Abbildung 6-66). Der bekannteste Vertreter
wasserstoffketten sowie nach Anzahl und dieser Stoffgrupe ist der traditionelle „Äther“
Stellung der Hydroxygruppen eingeteilt. der von Chemikern als Diethylether bezeich-
Aus der Kettenlänge ergeben sich der Ag- net wird; er ist eine Verbindung, die aus zwei
gregatzustand, die Wasserlöslichkeit und die Ethanolmolekülen hervorgeht. Ether sind Ver-
Viskosität als wichtige Einteilungskriterien. Je bindungen der Art R1 – O –R2, wobei R1 und
länger die Kohlenwasserstoffkette ist, desto R2 für organische Reste wie die Alkylgruppe
stärker kommen deren lipophile Eigenschaf- oder benzolartige Ringstrukturen (Arylgruppe)
6-65 ten zur Geltung. So sind niedere Alkohole mit stehen. Vanillin und Anethol, ein wichtiger Aro-
Alkyloxonium-Ion. In nur einer Hydroxygruppe bis zum Propanol mastoff des Fenchels und des Anis, sind Ether.
saurem Milieu vermag ein (C3H7OH) in beliebiger Menge in Wasser Mit Carbonsäuren oder anorganischen Säu-
Alkohol ein Proton aufzu-
nehmen. Dabei entsteht löslich, darüber nimmt die Löslichkeit stark ren bildet Alkohol unter Abspaltung von Wasser
ein sogenanntes Alkyloxo- ab, bis hin zur Unlöslichkeit (ab Nonanol, sogenannte Ester (Å Aromastoffe und Fette –
nium-Ion. Dies fördert die C9H19OH). Oberhalb des Hexanols sind sie Ester, Seite 352). Den umgekehrten Weg haben
Anlagerung negativ po-
larisierter oder geladener
dickflüssig, und Dodekanol (Laurylalkohol, wir bereits kennen gelernt: Werden Estermole-
Molelküle, wobei sich H2O C12H25OH) ist bei Zimmertemperatur der küle in Alkohol und Carbonsäuren aufgespalten,
abspaltet. erste feste Alkohol mit einem Schmelzpunkt so spricht man von Å Verseifung (Seite 339).
von 24 °C. Der zunehmende Einfluss der Van- Primäre und sekundäre Alkohole können oxi-
der-Waals-Kräfte zwischen den Kohlenwas- diert werden, erstere zu Aldehyden wie Formalde-
serstoffketten ist dafür verantwortlich. hyd (Å Abbildung 6-67), letztere zu Ketonen wie
Nach der Anzahl der Hydroxygruppen im Aceton. Tertiäre Alkohole können mit schwachen
Molekül werden ein-, zwei- und dreiwertige Oxidationsmitteln nicht oxidiert werden, und
Alkohole unterschieden. Ethanol (C2H5OH) beim Einsatz stärkerer Oxidationsmittel wird das
gehört zu den einwertigen Vertretern. Die Molekülgerüst des Alkohols zerstört.
einwertigen Alkohole der Alkane (Å Abbil- Sowohl Alkohole als auch ihre zahlreichen
dung 6-58, Seite 345) nennt man Alkanole. Derivate bilden wichtige Grundstoffe für Lö-
Ein bekannter zweiwertiger Alkohol (Diol) sungs-, Konservierungs- und Frostschutzmittel,
ist Glykol (Å Abbildung 6-45, Seite 335). sowie für die Erzeugung von Kunststoffen und
Ein bekannter dreiwertiger Alkohol ist Pro- anderen chemischen Produkten. Nur der Ethyl-
pan-1,2,3-triol, das Glycerin (Å Abbildung alkohol kann zur Herstellung alkoholischer Ge-
6-47, Seite 336). Da mehr Hydroxygruppen tränke verwendet werden.
die Zahl möglicher Wasserstoffbrücken mit
Wassermolekülen erhöhen, steigt die Löslich-
keit mit der Wertigkeit der Alkohole. Bekannte Alkohole
Nach der Stellung der Hydroxygruppe
im Molekül und der Anzahl der C-Atome
6-66 an demjenigen C-Atom, an das die Hydro-
Ether. Ein Alkoholmolekül Der Trinkbare – Ethanol
kann sich an das Alkyloxo- xygruppe gebunden ist, werden Alkohole in
nium-Ion anlagern, wobei primäre, sekundäre und tertiäre unterteilt. Bei Menschen nehmen alkoholische Getränke zu
ein Wassermolekül frei primären steht die Hydroxygruppe am Ende sich, da diese das Wohlbehagen fördern und
wird (Kondensationsreak-
tion). Das Proton, das zur der Kette, bei sekundären in der Mitte und in gemütlicher Runde die Stimmung heben. Bis
Bildung des Alkyloxonium- bei tertiären an einer Verzweigung der Kette. weit ins 19. Jahrhundert gehörten Alkoholika
Ions verbraucht wurde, zu den Alltagsgetränken und Durstlöschern in
wird abgespalten. Die
beigegebene Säure (z. B.
starken Basen reagiert Alkohol als Säure, gibt Europa. Ihren Alkoholgehalt verdanken sie dem
Schwefelsäure), die das ein Proton ab und bildet das negativ geladene Ethylalkohol (Ethanol, C2H5OH). Er entsteht
Proton anfangs lieferte, Alkoholat-Ion; mit starken Säuren reagiert ein bei der alkoholischen Gärung zuckerhaltiger
dient also als Katalysator.
Alkoholmolekül dagegen als Base: es nimmt ein Substanzen wie Früchte, Weintrauben oder Ge-
Auf diese Weise bildet sich
aus zwei Methanolmole- Proton auf und bildet ein positiv geladenes Alky- treidemalz (Bierbrauen). Mithilfe der Hefe kann
külen der Dimethylether. r loxonium-Ion. Existiert in der Lösung ein Über-r maximal 16 – 18-prozentiger Alkohol erzeugt

350
Erde, Wasser, Luft und Feuer

werden, bei höherem Alkoholgehalt stirbt der septikum verwendet, und er bildet den Ausgangs-
Hefepilz ab. Hochprozentiger Alkohol kann stoff für Brennspiritus. Mit einem Brennwert
nur mittels Destillation hergestellt werden; als von 29 MJ / kg (Holz 19 MJ / kg, Steinkohle ca.
chemisches Massenprodukt wird Ethanol durch 30 MJ / kg) liefert Ethanol einen hochwertigen
Hydratisierung aus dem Gas Ethen (CH2=CH2) Brennstoff, weshalb Bioethanol, gewonnen
unter Einsatz des Katalysators Phosphorsäure aus zuckerhaltigen Pflanzen wie Mais oder aus
(H3PO4) gewonnen. cellulosehaltigen Ausgangsstoffen wie Holzab-
Reines Ethanol ist eine farblose, brennend fällen, immer stärker ins Blickfeld rückt. Der
schmeckende Flüssigkeit. Sie ist leicht entzünd- Energiegehalt von Bioethanol beträgt jedoch
lich (Flammpunkt 12 °C) und stark hygrosko- nur zwei Drittel desjenigen von Benzin, ebenso
pisch; ihr Schmelzpunkt liegt bei –114,14 °C, problematisch ist die erforderliche Anbauflä-
ihr Siedepunkt bei 78.3 °C, ihre Dichte beträgt che von „Treibstoffpflanzen“ in Konkurrenz zu
0,79 g / cm3. Dieser Alkohol ist in jedem Verhält- „Nahrungsmittelpflanzen“.
nis mit Wasser mischbar, doch bei der Mischung
tritt eine Volumenkontraktion ein: 50 Volumen- Der Giftige – Methanol
einheiten Ethanol und 50 Volumeneinheiten Was-
ser ergeben nicht 100, sondern nur 96,3 Volu- Bisweilen erschrecken Meldungen wie „Drei
meneinheiten. Schüler sterben nach dem Genuss von gepansch-
Ethanolmoleküle sind schwache Dipole, die tem Alkohol“. Als Ursache wird stets Methanol
kurze Kohlenwasserstoffkette verhält sich unpo- (Methylalkohol) angeführt.
lar, die Hydroxygruppe polar. Daher ist dieser Methanol, oft auch Fuselalkohol genannt, ist
Alkohol sowohl gut wasser- als auch fettlöslich. mit nur einem Kohlenstoffatom der einfachste
Wie viele einwertige Alkohole kann Ethanol einwertige Alkohol (CH3OH). In der Natur
verestert oder oxidiert werden. Die Oxidation kommt er in einigen Früchten, in Baumwoll- 6-67
Aldehyde und der Kater.
dieses Alkohols zu Essigsäure bewirkt z. B., dass pflanzen, in Gräsern und ätherischen Ölen vor. Aldehyde entstehen durch
Wein versäuert, der länger offen steht. Ethanol Er fällt als Nebenprodukt bei der alkoholischen Oxidation primärer und
ist weltweit die wichtigste Droge und ein für Gärung oder bei unvollständigem Brennen von sekundärer Alkohole wie
Ethanol oder Methanol.
den gesamten Organismus gefährliches Nerven- Spirituosen an. Bis in die 1920er Jahre wurde
Anstelle der Endung -ol
und Zellgift. Schon im Mundraum beginnt seine Methanol ausschließlich mittels der Trockenver- erhalten Aldehyde die En-
Aufnahme, im Magen werden ca. 20 Prozent, im gasung von Holz gewonnen (Holzgeist), heute dung -al. Aldehyde lassen
Dünndarm der Rest des Alkohols resorbiert. Da wird er großindustriell aus Erdgas, aus vergaster sich weiter oxidieren zu
Carbonsäuren (aus Ethanal
seine Moleküle sehr klein und gut wasser- bzw. Braunkohle oder Steinkohle, weiterhin aus Holz wird Essigsäure). Ethanol
fettlöslich sind, werden sie rasch im ganzen Kör- und Biomasse hergestellt. Die Synthesegase Koh- wird auch im Körper zu
per verteilt. Physiologisch wirkt die Aufnahme lenmonoxid bzw. Kohlendioxid werden mittels Ethanal abgebaut. Neben
der Dehydrierung des
zunächst eher dämpfend. Weil durch den Alkohol Wasserstoff unter Einsatz von Katalysatoren zu Körpers aufgrund von
die äußeren Blutgefäße erweitert werden und der Methanol synthetisiert: CO + 2 H2 → CH3OH Alkoholgenuss ist dieser
Blutfluss durch die Kapillaren unter der Haut bzw. CO2 + 3 H2 → CH3OH. Stoff für den Kater mit
verantwortlich.
zunimmt, stellt sich bei seinem Genuss, so beim Wie Ethanol bildet Methanol eine klare, Formaldehyd, das Oxidati-
winterlichen Glühwein, ein wohliges Wärmege- farblose, jedoch brennend schmeckende Flüs- onsprodukt des Methanols
fühl ein. Der Abbau des Alkohols erfolgt durch sigkeit. Deren Schmelzpunkt liegt bei –98 °C, ist wichtiger Grundstoff
der chemischen Industrie.
das Enzym „Alkoholdehydrogenase“. Ein sehr der Siedepunkt bei –64,5 °C, ihre Dichte bei
Sein Name ist dem latei-
giftiges Zwischenprodukt des Abbaus, nämlich 0,79 g / cm3. Dieser Alkohol ist gut wasserlös- nischen Wort für Ameise
Acetaldehyd (Ethanal, CH3CHO) verursacht lich; er ist, was ihn so gefährlich macht, auch (formica) entlehnt, da er
die unangenehmen Folgen des Alkoholgenusses: in Ethanol löslich. Heute wird er ausschließlich weiter zu Ameisensäure
oxdiert werden kann.
Kopfschmerzen, Übelkeit und Erbrechen (Å Ab- als Grundstoff in der chemischen Industrie ver-
bildung 6-67). wendet, z. B. zur Herstellung von Formaldehyd
Ethanol wird aber auch als wichtiger che- oder Kühlmitteln. Früher wurde Methanol als
mischer Grundstoff und zunehmend auch als Lösungsmittel in Farben und Kunststoffen ein-
Treib- und Brennstoff genutzt. Er ist wichtiges gesetzt. In den1990er Jahren galt dieser Alkohol
Lösungsmittel in Arzneimitteln, Farben, Lacken als potenziell alternativer Treibstoff zu Benzin,
und Duftstoffen. In Reinigungsmitteln dient er hat er doch eine Oktanzahl von 125 und ver-
zur Desinfektion, in der Medizin wird er als Anti- brennt fast rußlos. Die Euphorie hat sich jedoch

351
KAPITEL 6 Wasser

gelegt, da er fast alle Metalle rasch korrosiv Zwecken und in Arzneien genutzt. Schließlich
angreift und nur 68 Prozent des Brennwertes lässt sich aus Glycerin durch Veresterung mit
von Benzin besitzt. Salpetersäure ein hochexplosiver Sprengstoff
Methanol selbst ist nur mäßig giftig, extrem namens Nitroglycerin, genauer Glycerintrinit-
toxisch sind seine Abbauprodukte im Körper, rat (C3H5(ONO2)3), herstellen.
nämlich Formaldehyd (H2CO) und Ameisen-
säure (HCOOH). Diese verursachen schwere Aromastoffe und Fette – Ester
Schäden an Nerven, Nieren, Leber und Augen
(Erblindung). Unbehandelt führt Ameisensäure Die Stoffbezeichnung Ester leitet sich von der
zu einer tödlich verlaufenden Blutversauerung. veralteten Benennung „Essigäther“ für Ethyl-
acetat ab, eingeführt vom deutschen Chemiker
Der Süße – Glycerin LEOPOLD GMELIN (1788 – 1853). Ester sind eine
in der Natur weit verbreitete Stoffgruppe: Viele
Warum können einige Insekten wie Hornissen, Früchte locken mit angenehmem Duft, verursacht
viele Käferarten und Puppen von Schmetterlingen von esterhaltigen Aromen; auch tierische und
Temperaturen von bis zu – 30 °C überstehen? pflanzliche Fette bestehen aus einer Mischung
Dazu verhilft ihnen ein Alkohol, das körpereigene von Estern. Ester sind meist organische Reak-
Glycerin. Auch der Kanadische Graue Laubfrosch tionsprodukte einer Säure mit einem Alkohol
(Hyla versicolor) überlebt damit kalte Winter. (ÅAbbildung 6-68). Ringförmige Ester, bei denen
Glycerin (Glycerol, 1,2,3-Propantriol) ist eine Hydroxygruppe mit einer Carboxygruppe
der einfachste dreiwertige Alkohol (Å Abbil- innerhalb desselben Moleküls reagiert, heißen
dung 6-47, Seite 336) mit der Summenformel Lactone (innere Ester). Viele Ester werden syn-
C3H5(OH)3. Er ist weit verbreitet in allen pflanz- thetisch hergestellt, auch unter Verwendung an-
lichen und tierischen Fetten in Form der Trigly- organischer Säuren wie Schwefelsäure (H2SO4),
ceride (Å Kasten Fettsäuren, Seite 336) und er Phosphorsäure (H3PO4) oder Borsäure (H3BO3).
6-68
Ester. Ester entstehen aus entsteht auch bei alkoholischer Gärung. War er Ester unterscheiden sich nach Molekülgröße
einer sogenannten Kon- früher ein Nebenprodukt der Seifenherstellung, der reagierenden (Carbon-)Säuren und Alkohole
densationsreaktion zwi- so wird er heute aus dem ungesättigten Kohlen- erheblich in ihren Eigenschaften. Kurzkettige,
schen sauerstoffhaltigen
Säuren und Alkoholen, bei
wasserstoff Propen (C3H6) synthetisiert. niedermolekulare Ester sind flüssig, mit wach-
der Wasser abgespalten Bei 2 0 °C bildet Glycerin eine farblose, sender Molekülgröße sind sie immer viskoser
wird. Starke anorganische klare, ölige, geruchlose Flüssigkeit. Sie ist stark und öliger, um schließlich in Wachse und kris-
Säuren wie Schwefelsäure
hygroskopisch, ziemlich viskos (6,05 mPa·s) tallartige Verbindungen überzugehen. Niedermo-
bilden mit langen Carbon-
säuren Ester mit einem und schmeckt süßlich (griech. glycis, süß). lekulare Ester sind farblose, neutrale, angenehm
polaren, hydrophilen Ende Glycerin hat einen Schmelzpunkt von 18,2 °C riechende und leicht brennbare Flüssigkeiten. Ihre
und einem unpolaren, und einen Siedepunkt von 290 °C, seine Dichte Schmelztemperaturen liegen zwischen –100,15 °C
lipophilen Ende (hier R2),
sogenannte Tenside. Fette beträgt 1,26 g / cm3. Es ist in allen Mischungs- und –12,65 °C, ihre Siedetemperaturen zwischen
und Wachse sind Ester des verhältnissen in Wasser oder Alkoholen löslich, 31,85 °C und 212,85 °C. Daher sind diese Ester
Glycerins mit langkettigen aber unlöslich in unpolaren Substanzen wie rasch flüchtig, so die Geschmackskomponen-
Carbonsäuren. Zweiwer-
tige Alkohole wie Glykol Ether, Benzin oder Chloroform. Mit Säuren ten bei der Bier- und Weinvergärung. Sie sind
können an beiden Hydro- bildet Glycerin zahlreiche Ester bzw. Fette. im Wasser kaum löslich oder unlöslich und hy-
xygruppen Ester bilden. Aufgrund dieser Eigenschaften ist Glycerin ein drophob. Aufgrund fehlender Hydroxygruppen
Dadurch können lange
Ketten entstehen, also
vielseitig verwendbarer chemischer Rohstoff: können viele Estermoleküle untereinander keine
Polymere wie Polyethylen- Bei der Herstellung von Kunststoffen, Mikro- Wasserstoffbrücken ausbilden, wohl aber mit
terephthalat, das bekannte chips, Farbstoffen und Zahnpasten dient es als Wassermolekülen solche eingehen, wobei sie nur
PET, aus Terephthalsäure
Ausgangsstoff. In Cremes und Kosmetika wird als Akzeptoren von Wasserstoff fungieren, denn
und Glykol.
Glycerin als Feuchtigkeitsspender, in Lebens- ihre Sauerstoffatome besitzen die erforderlichen
mitteln unter der Bezeichnung E 422 als Feucht- freien Elektronenpaare. Ester sind jedoch gut
haltemittel verwendet. Ferner wird es als Frost- löslich in unpolaren Flüssigkeiten wie Benzin.
schutz- und Schmiermittel, als Weichmacher Aufgrund dieser Eigenschaften sind Ester
und Süßungsmittel sowie neuerdings als Fut- vielseitig nutzbar und finden sich in vielen All-
termittel für Rinder und Schweine eingesetzt. tagsstoffen: in Nahrungsfetten, als Lösungsmit-
Häufig wird Glycerin auch zu medizinischen tel in Klebstoffen und Lacken, als Insektizide,

352
Erde, Wasser, Luft und Feuer

als Duftstoffe in Kosmetika, als Süßungsmittel Quecksilber gehörte neben Salz und Schwefel zu
in Lebensmitteln. Gegen Kopfschmerzen nehmen den drei alchemistischen Grundelementen (Å Von
viele Menschen Aspirin (C9H8O4), einen Ester der Alchemie zur Chemie, Seite 59). Man
der Salicylsäure. Ester sind Ausgangstoffe für ordnete dieses Metall in der Antike dem Planeten
häufig anzutreffende Kunststoffe wie Polyester, und flinken römischen Handelsgott Merkur zu;
darunter PET (Polyethylenterephthalat, Å Poly- sein heutiger Name in vielen Sprachen (z. B. engl.
mere, Seite 292), ein Ester der Terephthalsäure. mercury) geht darauf zurück.
Viele Ester der Phosporsäure sind sehr giftige Das metallische Element Quecksilber (Hg)
Substanzen, wie die chemischen Kampfstoffe ist recht selten. Gediegen kommt es kaum vor,
Sarin, Soman und Tabun. Sie blockieren das En- sondern meist als Quecksilbersalz in Mineralen
6 -69
6-69
zym Acetylcholinesterase, das für den Abbau des oder als organische Quecksilberverbindung. Aus Gefährliche Ester. Nitro-
Neurotransmitters Acetylcholin an den Synapsen natürlichen Quellen wie Vulkanismus und Ver- glycerin ist ein hochexplo-
sorgt. Es kommt daher zur Dauererregung von witterung werden jährlich zwischen 25 000 und siver dreifacher Ester des
Glycerins mit Salpetersäure
Nervenzellen und zu Muskelkrämpfen, was zum 15 500 Tonnen Quecksilber in die Hydro- und (Trisalpetersäureglycerines-
Tod führen kann. Andererseits sind bestimmte die Atmosphäre eingetragen, aus menschlichen ter). Das Nervengift Sarin
Phosporsäureester wichtige Stoffwechselteilneh- Quellen stammen 8000 bis 38 000 Tonnen. Das ist ein Phosphorsäureester
des Isopropanols, mit einer
mer. So ist der Energieträger der Zellen, das Ade- wirtschaftlich wichtigste Quecksilbermineral ist zusätzlichen Methylgruppe
nosintriphosphat, ein Ester der Phosphorsäure der rötlich gefärbte Zinnober (Quecksilber(II)- am Phosphoratom (Me-
(Å Abbildung 12-16, Seite 510). — sulfid, HgS). Aus ihm wird mittels Erhitzung und thylfluorphosphorsäureiso-
propylester).
Sauerstoffzufuhr reines Quecksilber gewonnen
Exotische Flüssigkeiten (HgS + O2 → Hg + SO2).
Das Metall kommt in 34 Isotopen (175Hg bis
Das fließende Silber – Quecksilber 208Hg), davon in sieben natürlichen, vor. Aus

seinem Atombau ergeben sich viele von normalen


Bis vor einigen Jahren enthielten Thermometer Metallen abweichende Eigenschaften: Quecksil-
noch Quecksilber, heute ist dieses flüssige Metall beratome besitzen komplett gefüllte äußere s-
weitgehend aus dem Alltag verschwunden, sieht und d-Orbitale, das Leitungsband ist leer (Å Das
man von quecksilberhaltigen Energiesparlampen Bändermodell, Seite 147). Eine starke Bindung
ab. Dabei gehört Quecksilber zu den ältesten des äußeren 6s-Orbitals an den Atomkern und
Gebrauchsmetallen, es war schon in der Antike damit ein im Verhältnis zu anderen Metallen
bekannt. Sein silbriger Glanz und flüssiger Zu- großer Bandabstand zwischen Valenz- und Lei-
stand zogen früh das Interesse der Menschen auf tungsband (Å Warum Gold gelb und Quecksilber
diesen Stoff. Seine Farbe und seine Beweglich- flüssig ist, Seite 136) bewirken, dass Quecksil-
keit boten rasch Anlass zur Legendenbildung. ber reaktionsträge und elektrisch oder thermisch
Hartnäckig halten sich bis heute Gerüchte über nicht besonders gut leitfähig ist. Bei Wärmezufuhr
Seen aus reinem Quecksilber: Die Kalifen von brechen die schwachen Bindungen zwischen den
Cordoba und Bagdad sollen in ihren Palästen Atomen rasch, was sich in der niedrigen Schmelz- Quecksilber (Hg)
quecksilbergefüllte Becken besessen haben, und temperatur von –38,35 °C widerspiegelt. Deshalb
Anteil an der
im Grab des ersten Quin-Kaisers von China verdampft Quecksilber auch schon bei Zimmer- r 4·10–5 Gew.%
Erdkruste
(259 – 210 v. Chr.) soll sich ein großer Quecksil- temperatur. Umgekehrt verwandelt sich Queck- Platz in der
62
bersee befinden. Nach dem Bild eines russischen silber bei – 269 °C (4,15 K) in einen Supraleiter. Häufigkeitsskala
Malers sollte sich im Altai unweit der Stadt Ak- Aus seiner hohen Dichte ergibt sich eine Dichte 13,55 g·cm–3
tasch ein derartiger See befinden. Ein russischer hohe Oberflächenspannung (Å Abbildung 6-7, Normalpoten-
0,85 V
Geologe, der die angegebene Region besuchte, Seite 311) von 476 mN / m; ein Eisenwürfel zial
fand dort nur oberflächlich austretende Queck- schwimmt wegen seiner geringeren Dichte auf Schmelzpunkt – 38,35 °C
silberminerale sowie etwas gediegenes Metall einer Quecksilberoberfläche. Quecksilber ver-
vor. Tatsächlich konnten hier von 1942 bis 1993 hält sich als nicht benetzende Flüssigkeit: Beim Mohs-Härte 1,5
Quecksilbererze abgebaut werden. In der Stadt Auftragen auf eine Fläche verteilt sich Quecksil- Elektronenkon-
[Xe]4f145d106s2
Almadén im Südwesten Spaniens existiert als ber in Form linsenförmiger Tröpfchen. Obwohl figuration
Elektr. Leifähig-
Denkmal für Bergleute, die beim Quecksilber- es flüssig ist, fühlt sich das Metall nicht nass 1·106 S·m–1
keit
abbau in der nahegelegenen Quecksilbermine an. Es ist in Wasser, Salzsäure und verdünnter Wärmeleit-
8,3 W·m–1·K–1
umgekommen sind, ein Quecksilberbrunnen. Schwefelsäure unlöslich, aber einige seiner Ver- fähigkeit

353
KAPITEL 6 Wasser

Quecksilbervergiftungen. bindungen sind wasserlöslich. Mit anderen Me- von dem deutschen Chemiker PAUL WALDEN
Ein trauriges Beispiel
tallen lässt es sich leicht zu Amalgamen legieren. (1863 –1957) mit Ethylammoniumnitrat die erste
lieferte die sogenannte
Minamata-Katastrophe Gediegenes Quecksilber wirkt aufgrund ionische Flüssigkeit mit einem Schmelzpunkt von
in den 1950er Jahren in seiner Reaktionsträgheit im Verdauungstrakt 12 – 14 °C beschrieben, aber diese Entdeckung
Japan, bei der viele Tau-
schwach giftig, aber seine Dämpfe sind stark blieb jahrzehntelang unbeachtet. Erst ab 1982
send Tote und Verletzte
zu beklagen waren. Eine gesundheitsschädigend. Anorganische Queck- befassten sich Chemiker mit Chloroaluminat-
Kunststofffabrik hatte dort silberverbindungen sind mit zunehmender Lös- Schmelzen als polarem, nicht wässrigen Lösungs-
jahrlang quecksilberhaltige lichkeit giftiger und organische Quecksilber(II)- mittel für Übergangsmetallkomplexe. Als Anfang
Abwässer in eine Bucht
geleitet. Im Abwasser verbindungen wie Methylquecksilber (CH3Hg) der 1990er Jahre erste gegenüber Wasser stabile
enthaltenes Methylqueck- sind hochtoxisch (Å Randspalte), da sie leicht ILs synthetisiert werden konnten, erkannte man
silber reicherte sich in Fi- resorbiert werden und das Quecksilber schwe- die speziellen Eigenschaften und die daraus resul-
schen und Meeresfrüchten
an, welche von den Men- felhaltige Proteine im Körper angreift. Da sie nur tierenden, vielfachen Einsatzmöglichkeiten dieser
schen verzehrt wurden. langsam abgebaut oder ausgeschieden werden, Substanzen bei chemischen Prozessen.
Bei deren Verzehren ver- reichern sie sich im Körper an und führen so zu Ionische Flüssigkeiten bestehen, wie ihr
gifteten sich die Esser.
schleichenden Vergiftungen. Bis ins 20. Jahr- Name besagt, aus geladenen Teilchen: aus (or-
hundert wurden allerdings quecksilberhaltige ganischen) Kationen sowie aus (meist anorga-
Medikamente in der Medizin verschrieben, u. a. nischen) Anionen. Diese bilden salzartige, stets
gegen die Geschlechtskrankheit Syphilis. Heute flüssige Substanzen und werden deshalb auch
ist die Nutzung dieses Elements wegen seiner als flüssige Salze bezeichnet. Die Kombinati-
potenziellen Toxizität stark eingeschränkt. Seit onsmöglichkeiten von derartigen Kationen mit
April 2009 ist dieses Metall in Messgeräten für Anionen sind enorm zahlreich: Theoretisch wä-
den privaten Gebrauch, also Fieberthermome- ren zwischen 1012 bis 1018 ionische Flüssigkei-
tern, Blutdruckmessern usw. verboten. ten herstellbar, tatsächlich genutzt werden rund
Früher wurden Gold- und Silbererze mittels 300 ILs. Gängige Vertreter dieser Substanzen
eines Quecksilberamalgamverfahrens (Å Alltäg- sind imidazolium-, pyridinium-, ammonium-
liche Metalle – Legierungen, Seite 253) aufbe- u nd phosphoniumstämmige Verbindungen
reitet. Mit Silber- und Goldpartikeln werden (Å Abbildung 6-70).
dabei Amalgamkügelchen gebildet. Durch Wär- Allen gemeinsam sind der Aufbau aus be-
mebehandlung kann das Quecksilber daraus weglichen Ionen und ein Schmelzpunkt unter
entfernt werden. Heute werden diese Gewin- 100 °C (dagegen Steinsalz: 803 °C). Den flüs-
nungsprozesse wegen großer Umweltschädigung sigen Aggregatszustand haben ionische Flüs-
und Gesundheitsgefährdung industriell kaum sigkeiten der Größe und Form der organischen
mehr angewandt. Auch Desinfektions- und Ionen zu verdanken. Sie verhindern die Bildung
Beizmittel enthalten heute kaum noch Queck- fester kristalliner Gitterstrukturen, wie sie sonst
silber. Ebenso ersetzt man in der Dentaltechnik für Substanzen bei diesen Temperaturen üblich
die früher üblichen Amalgamplomben durch sind. Unterhalb ihrer thermischen Zersetzungs-
Kunststoffplomben. Quecksilber kommt noch temperatur zwischen 350 °C und 400 °C lässt
in Gasentladungslampen mit blaugrünem Licht, sich aufgrund einer starken Anziehung zwischen
in Energiesparlampen sowie in Batterien und den Kationen und den Anionen kein messbarer
bestimmten Schaltern vor. In der Elektrotech- Dampfdruck feststellen. Sie sind weder brenn-
nik nutzt man Quecksilber zur Herstellung von bar noch flüchtig. Weitere physikalisch-che -
Flachbildschirmen, in der Chlor-Alkali-Industrie mische Eigenschaften wie Lösungsverhalten,
zur Erzeugung von Natronlauge und Chlor. In- Viskosität, elektrische Leitfähigkeit, spezifische
dustriell wird Quecksilber weiterhin u.a. in Flüs- Wärmekapazität sowie thermische und chemi-
sigkeits- und Kontaktthermometern eingesetzt. sche Stabilität, sind, abhängig von den kombi-
nierten Kationen und Anionen, sehr variabel.
6-70
Ionische Flüssigkeiten Viele ionische Flüssigkeiten zeigen ungewöhnli-
Eine ionische Flüssigkeit.
Anion und Kation einer che Lösungseigenschaften. Heute sind Chemiker
ionischen Flüssigkeit. Die In den letzten beiden Jahrzehnten hat eine neue in der Lage, spezielle ionische Flüssigkeiten für
Größe und Form der Anio- Klasse synthetischer Stoffe enorm an Bedeutung jeden Anwendungszweck zu synthetisieren.
nen und Kationen verhin-
dern die Kristallbildung bei gewonnen, die sogenannten ionischen Flüssigkei- Aufgrund ihrer außergewöhnlichen Eigenschaf-
Raumtemperatur. ten (ILs, Ionic liquids). Zwar wurde schon 1914 ten haben die ionischen Flüssigkeiten inzwischen

354
Erde, Wasser, Luft und Feuer

eine weite Anwendung in der Biotechnologie siert Helium-II zumindest teilweise als sogenann-
sowie in der chemischen und pharmazeutischen tes Bose-Einstein-Kondensat, bei dem die Teilchen
Industrie erreicht. Sie eignen sich als hervorra- der Flüssigkeit den gleichen Quantenzustand ein-
gende Elektrolyten in Batterien und Kondensa- nehmen, sie verfügen also über eine gemeinsame
toren und ermöglichen als Elektrolytmaterial in ÅWellenfunktionen (Seite 431). Dagegen folgen
Farbstoffsolarzellen auch bei geringer Lichtin- Fermionen wie das 3He-Ion nicht den Regeln des
tensität eine Stromerzeugung. Sie bilden effi- Bose-Einstein-Kondensats, vielmehr lässt sich sein
ziente Reaktionsmedien und Katalysatoren bei Übergang analog zur Supraleitfähigkeit (Å Vom
chemisch-organischen Synthesen. Als umwelt- Leiter zum Supraleiter, Seite 207) beschreiben.
freundliche, verlustarme, sogenannte „grüne“ Wenn sich 3He-Atome zu sogenannten Cooper-
Lösungsmittel bieten sich die ILs an und erset- Paaren vereinen, reagieren diese wie Bosonen
zen giftige wie Tetrachlormethan (CCl4) oder und können eine Superflüssigkeit bilden, jedoch
Chloroform (CHCl3). Mit ihrer Hilfe können bei deutlich niedrigerem Lambdapunkt (0,002 K,
sonst schwer lösliche organische, anorganische –273,148°C).
sowie organometallische Substanzen getrennt Noch tiefer liegt der Lambda-Punkt beim 6Li-
werden. Auch Cellulose lässt sich hervorragend Fermion, nämlich bei 50nK (Nanokelvin). Konn-
in ionischen Flüssigkeiten lösen und für synthe- ten 4He-Bosonen schon 1908 verflüssigt werden,
tische Umwandlungen, z. B. zu Cellulosefasern so gelang das beim 3He-Fermion erst 1973 und
oder zu Kunststoffen, aufarbeiten. Dadurch wird beim 6Li-Fermion erst 2005. Theoretisch sollte
nicht nur die Ausbeute des Naturstoffs Cellulose flüssiger, metallischer Wasserstoff bei extrem ho-
gesteigert, sondern auch die bei bisherigen Lö- hen Drücken von mehreren Milliarden Hekto-
sungsverfahren anfallende schädliche Abwasser- pascal auch in eine Superflüssigkeit übergehen.
menge erheblich reduziert. Japanische Forscher Der gemeinsame, makrokopische Quantenzu- 6-71
Superflüssigkeit. Bosonen,
haben Möglichkeiten aufgezeigt, Kunststoffe stand der Bosonen einer Superflüssigkeit ist für Teilchen mit ganzzahligem
wie Nylon oder Kevlar mithilfe von ILs in ihre deren praktisch fehlende Viskosität und unendlich Spin, können alle den
elementaren Monomerbausteine aufzulösen und hohe Wärmeleitfähigkeit verantwortlich. Wär- gleichen Energiezustand
einnehmen, im Gegen-
damit neue Wege zum Kunststoffrecycling unter meleitung erfolgt nicht durch Diffusion, sondern
satz zu Fermionen, also
Vermeidung des giftigen Schwefelwasserstoffs durch Phononendichtewellen, die nur quantenme- Teilchen mit halbzahligem
geöffnet. chanisch erklärbar sind. Allerdings verschwindet Spin. Hier sind pro Zustand
bei Helium-II die Reibung nicht vollständig, was maximal zwei Teilchen
möglich (Pauli-Prinzip). Bei
Superflüssigkeiten man darauf zurückführt, dass sich ein Mischzu- Temperaturen am abso-
stand aus kondensierten und nicht kondensierten luten Nullpunkt sammeln
Die Vorsilbe „super“ bezieht sich auf eine ganz Heliumatomen einstellt. Superflüssigkeiten kön- sich Bosonen auf dem
niedrigsten Energieniveau,
spezielle, von derjenigen normaler Flüssigkeiten nen nicht wie gewöhnliche Flüssigkeiten mit ei- aber Fermionen nur dann,
abweichende Eigenschaft dieser Flüssigkeiten: eine nem großem Wirbel rotieren, vielmehr entstehen wenn aufgrund schwacher
praktisch verschwindende Viskosität. Beschrieben bei schneller Rotation kleine isolierte, quantisierte Kopplungskräfte Cooper-
paare entstehen können,
wurde sie 1937 vom russischen Physiker PIOTR Wirbel (Vortices), die ein regelmäßiges hexagona- die selbst Bosonen sind.
LEONIDOVIC KAPITSA (1894 –1984), dem kanadi- les Gitter bilden können. Dank fehlender innerer Bosonen auf dem gleichen
schen Physiker JOHN FRANK ALLEN N (1908 – 2001) Reibung dringen Superflüssigkeiten durch engste Energieniveau verhalten
sich wie ein einziges Teil-
und dessen Mitarbeiter DON MISENER. Als Super- r Schlitze und Kapillaren. Aufgrund der schwa-
chen, da sie durch eine
flüssigkeit (Supraflüssigkeit, Superfluidität) wird chen Kräfte zwischen den Teilchen bilden sich einzige Wellenfunktion be-
in der Physik ein Phasenzustand bezeichnet, den auf den Oberflächen Flüssigkeitsfilme mit etwa schrieben werden. Die für
Elemente wie Helium und Lithium nahe am ab- 100 Atomen Dicke, sogenannte Rollin-Filme, Bosonen geltende Ener-
gieverteilung nennt man
soluten Temperaturnullpunkt annehmen können. Bose-Einstein-Verteilung,
Das in Helium bei weitem vorherrschende Isotop daher der Name Bose-
4He wird unterhalb von 4,2 K (–268,95°C) flüs- Einstein-Kondensate für
Superflüssigkeiten.
sig, es bildet sich Helium-I (Å Abbildung 6-72).
Bei weiterer Abkühlung vollzieht sich bei Nor- r
maldruck unterhalb von 2,1768K (–270,98°C), 6-72
dem sogenannten Lambda-Punkt, ein abrupter Superflüssiges Helium.
Unterhalb der Lambda-
Übergang zum superflüssigen Helium-II. Da 4He- Linie wird 4He zu einer
Atome einen ganzzahligen Spin besitzen, konden- Superflüssigkeit.

355
KAPITEL 6 Wasser

die infolge wesentlich stärkerer Adhäsionskräfte halt. Je höher der Gehalt an festen Partikeln
zwischen Superflüssigkeit und Oberfläche auch (Kristallen) und an Siliciumdioxid (SiO2) ist,
höher liegende Hindernisse überfließen können. desto höher ist die Viskosität. SiO2-reiche
Dieser sogenannte Onnes-Effekt, benannt nach Schmelzen werden als saure Schmelzen be-
seinem Entdecker, dem niederländischen Physiker zeichnet. SiO2-Tetraeder (Å Kasten Mineral-
HEIKE KAMERLINGH ONNES (1853 – 1926) lässt klassen, Seite 227) neigen dazu, größere, ket-
sich am Beispiel eines mit Helium-II gefüllten ten- bzw. bänderförmige Einheiten zu bilden,
Bechers zeigen. Die Adhäsionskräfte vermögen sogenannte Polymere, die die Fließfähigkeit
die Gravitation zu überwinden, und Helium-II herabsetzen. Beim Aufstieg des sauren Magmas
fließt über den Becherrand aus. kommt es zur Druckentlastung und zur Bildung
Superflüssigkeiten werden heute in verschie- von Gasblasen. Aus dem hochviskosen austre-
denen Bereichen in der Physik und der Chemie tenden Magma kann das Gas jedoch nicht ent-
genutzt: Für das Studium von Gasen bei Tiefst- weichen, es bleibt unter hohem Druck. Weitere
temperaturen, in der Spektroskopie als Quanten- Druckentlastung kann dann zu eruptiven bzw.
lösungsmittel und in der Hydraulik als Schmier- explosiven, lavaarmen Vulkanausbrüchen wie
mittel mit Niedrigstviskosität sowie als rasch z. B. beim Mont Pelé 1902 (Karibik) oder beim
rotierende Kreisel (Gyroskope) für Navigations- Pinatubo 1991 (Philippinen) führen. Liegt der
und Lageregelungsinstrumente. Ebenfalls genutzt Gehalt an festen Partikeln über 60 Volumen-
werden sie in der Luft- und Raumfahrt sowie in prozent, so verhält sich Magma eher wie ein
Geräten zur Messung der Erdrotation. Festkörper. Sind schließlich alle festen Partikel
miteinander im Kontakt, so zeigt das Gemisch
Fließende Gesteine kein viskoses, sondern ein elastisches Fließver-
halten. Je höher die Temperatur und der Wasser-
Einerseits bilden rotglühende Gesteinsströme, gehalt der Schmelzen sind, desto dünnflüssiger
die sich die Flanken von Vulkanen herabwälzen, und weniger viskos verhält sich das Magma.
besonders nachts spektakuläre Schauspiele. An- Eine solche SiO2-ärmere Schmelze nennt man
dererseits bedrohen solche heißen Gesteinsmas- basisch. Seine Lava fließt mehr oder minder
sen Menschen und Umwelt mit enormen Zer- turbulent aus Kratern oder Spalten an Vulkan-
störungen. Derartige fließende Gesteinsströme flanken aus, so z. B. beim Ätna (Sizilien) oder
nennen Vulkanologen Lava. Dabei handelt es beim Mauna Loa (Hawaii).
sich um zutage tretende, weitgehend entgaste Einen wichtigen Einfluss auf die Viskosität
Gesteinsschmelzen, die Magma genannt werden, übt auch der Gehalt an Gasen, wie Kohlendi-
solange sie sich noch im Erdinnern befinden. oxid (CO2), Schwefeldioxid (SO2), Schwefel-
Magmen sind Gesteine, die im Erdmantel wasserstoff (H2S), Chlorwasserstoff (HCl) sowie
und in der Erdkruste (Å Schalenbau der Erde, Wasserdampf, aus. Bilden diese Gase aufgrund
Seite 224) bei Temperaturen zwischen 800 und weniger Kapillaren sphärische Blasen, so ist die
6-73 1300 °C bei Drücken bis zu 20 kbar und mehr Gesteinsschmelze ziemlich viskos.
Pahoehoe-Lava. Diese geschmolzen, also fließfähig sind. Meist sind es Doch Rheologie und Viskosität ändern sich
Art von Lava ist etwa
1100 – 1200 °C heiß,
keine reinen Zwei-Phasen-Gemische aus völlig ständig durch wechselndes Zusammenwirken
dünnflüssig und gasarm. verflüssigten Gesteinen (Schmelze) und darin dieser Parameter und bestimmen Segregation
Das Foto zeigt eine Lava- gelösten Gasen, sondern mindestens Drei-Pha- und Fragmentation, Transport sowie die Art
fontäne auf Hawaii.
sen-Suspensionen (Å Suspension, Seite 330), der Einlagerung von Magma in die Erdkruste.
denn als dritte Komponente gesellen sich in der Aufgrund ihres Mineralbestandes bilden
Regel zahllose, in der Schmelze schwimmende abgekühlte, verwitterte Lavaströme oft frucht-
Kristalle hinzu. bare Böden. Magmatische Gesteine wie Granite
Die Viskosität ist abhängig von der herr- oder Basalte wurden und werden noch heute als
schenden Temperatur, der chemischen Pflastersteine und Baumaterialien hoch geschätzt
Z usammensetzung des Gestei ns- (Å Produkte des Erdinneren – Magmatite und
breis sowie von dessen Gasge- Metamorphite, Seite 244). —
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

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Luft
KAPITEL 7

Luftige Stoffe
Flüchtige Berührung
Das Element der Freiheit
Zum siebten Kapitel

Wir neigen dazu, Dinge wie Gase, die wir nicht wie Körper
oder Flüssigkeiten direkt sehen oder fühlen können, weniger
wichtig zu nehmen. Trotz ihrer Allgegenwart sind viele Gase
unsichtbar, geruchlos und nicht ertastbar. Das gilt insbeson-
dere für die Luft, die uns vollständig umgibt und uns in Form
der Erdhülle, der „Atmosphäre“, nicht nur mit dem lebens-
notwendigen Atemgas versorgt, sondern auch vor schädlichen
Strahlen aus dem Kosmos schützt. Ohne feste und flüssige
Stoffe aus Nahrungsmitteln können Menschen einen oder
mehrere Tage auskommen, aber nur wenige Minuten ohne
den für unsere Körperfunktionen lebenswichtigen Bestandteil
der Atemluft. Deshalb stehen die Luft und ihre Hauptbestand-
teile Stickstoff und Sauerstoff im Fokus dieses Kapitels. Ferner
werden exemplarisch auch andere gasförmige Substanzen
angesprochen, mit denen wir häufig in Berührung kommen
oder die für uns besonders wichtig sind. Hierzu gehören etwa
der Wasserstoff, die Edelgase, Erdgas (Methan) und Kohlen-
dioxid bis hin zu in der Luft vorhandenen Schadstoffen und
Duftmolekülen. Grenzfälle wie die Aerosole haben wir bereits
im Kapitel über das Wasser angesprochen.
Aus theoretischer Sicht gelten Gase als die am einfachsten
zu beschreibenden Stoffe: Das Gesetz der idealen Gase und
die kinetische Gastheorie werden deshalb in Lehrbüchern der
physikalischen Chemie meistens nach der Einführung in den
atomaren Aufbau der Materie abgehandelt. Die Bezeichnung
„Gas“ wurde im Niederländischen in Anlehnung an das
ähnlich klingende Wort „Chaos“ geprägt, was im Hinblick
auf die Teilchenbewegungen, wie wir noch sehen werden,
gar nicht falsch ist!
Bis ins 17. Jahrhundert wurden Gase wegen ihrer schein-
baren Gewichtslosigkeit und wegen ihrer Fähigkeit, sich
überall in einem Raum zu verteilen, sogar oft nicht als Ma-
terie angesehen. Erst dem Politiker und Naturwissenschaftler
OTTO VON GUERICKE gelang es mit seinen Versuchen nach-
zuweisen, dass Luft ein Gewicht besitzt und damit Druck
ausübt (Luftdruck). Und der französische Chemiker ANTOINE
LAURENT DE LAV A OISIER erkannte aufgrund seiner Experimente,
dass Gase wirklich Stoffe sind.
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Luft

Das Element der Freiheit meter Höhe einigermaßen konstant (ÅPlanetare


Schutzhüllen, Seite 359364).
Schwerer als erwartet... Luft besteht hier zu etwas mehr als drei Vier-r
teln aus dem Element Stickstoff (N2) und zu etwa

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


Von der Antike bis ins 17. Jahrhundert wurde einem Fünftel aus Sauerstoff (O2). Ungefähr ein
Luft als eines der vier Elemente angesehen (ÅKa- Volumenprozent setzt sich hauptsächlich aus
pitel 3). Obwohl sie uns tagtäglich umgibt und Argon (Ar) und noch geringeren Mengen ande-
wir sie ständig ein- und ausatmen, scheinen wir rer Edelgase zusammen. Damit ist das Rezept
die Luft kaum als Materie wahrzunehmen. Zahl- schon fast vollständig. (ÅNicht nur Sauerstoff,
reiche Redensarten in Zusammenhang mit Luft Seite 371, Å Reaktionsträge Sonderlinge, Seite
deuten jedoch an, dass wir uns ihrer Existenz 359378). Doch auch einige Bestandteile, die
und ihrer Bedeutung durchaus bewusst sind. Zu nur in recht geringen Konzentrationen vorliegen,
den Vertretern gehören z. B. „in die Luft gehen“, sind in bestimmten Zusammenhängen wichtig.
„gesiebte Luft atmen“, „etwas in der Luft zer- Ein solches Gas ist das als Treibhausgas bekannte
reißen“, „halt mal die Luft an“, „hier ist dicke Kohlendioxid (ÅSchädlich oder nützlich? – Treib-
Luft“, „für jemanden Luft sein“, „ihm geht die hausgase, Seite 359367). Neben dem Sauerstoff,
Luft aus“ usw. dem die Erdatmosphäre ihre oxidierenden Ei-
Unser Organismus ist, wie der aller höheren genschaften verdankt, und den reaktionsträgen
Pflanzen und Tiere, auf das gasförmige Medium Bestandteilen (N2 und Edelgase) sind auch Spuren
angewiesen. Wenn wir unsere gewohnte Umge- reduzierender Gase wie Methan oder Wasser-
bung verlassen, sei es im Hochgebirge oder in stoff vorhanden.Diese Grundzusammensetzung ist
der Tiefsee, sei es im Weltraum oder auf benach- weltweit fast völlig einheitlich, lokal und regional
barten Gestirnen wie dem Mond, so sind wir treten nur geringe Variationen auf. Sehr starke
gezwungen, ein zumindest luftähnliches Gasge- Schwankungen zeigt hingegen der Gehalt an Was-
misch mitzuführen. Ohne genügenden Luftdruck serdampff (absolute Luftfeuchtigkeit).
7-1
um uns würde unser Blut zu kochen beginnen, Weitere natürliche oder von menschlichen Luft. Wichtige Komponen-
und wir könnten nur wenige Sekunden überle- Aktivitäten herrührende Luftbestandteile sind ten der irdischen Lufthülle
ben. Enthält die Atemluft nicht genug Sauerstoff, Gase wie Kohlenmonoxid (CO), Schwefeldioxid in Volumenprozent.
so ersticken wir innerhalb von Minuten. Und (SO2) oder Stickoxide (NOx) sowie Pflanzen-
schlechte Luft in unseren Innenstädten kann uns pollen, Staub- und Rußpartikel (Å Kasten Feste
nachweislich krank machen. Wir besuchen gern und flüssige Luftinhaltsstoffe (Aerosole), Seite
Luftkurorte und atmen reine, frische Luft. Wir 320). Einige der in der Luft schwebenden Mo- Dampf
Als Dampf bezeichnet
freuen uns über angenehme Düfte und reagieren leküle nehmen wir als Wohlgerüche oder aber
man meist Gase, wenn sie
empfindlich auf schlechte Gerüche. als Gestank wahr. noch mit ihrer flüssigen
oder festen Phase in Aus-
tausch stehen.
Weit mehr als nichts
Ein Gasgemisch Insbesondere ist Wasser-
Obwohl wir das in seiner Reinform farb- , dampf – entgegen dem
Oft wird Luft fälschlicherweise mit Sauerstoff geruch- und geschmacklose Gasgemisch Luft üblichen Sprachgebrauch
– ein unsichtbares Gas,
gleich gesetzt. Doch Luft ist keine einzelne Sub- weder sehen noch unmittelbar fühlen können, das meist im Gleichge-
stanz, sondern ein Gemisch vieler Gase, in dem ist es doch Materie. Luft fällt normalerweise wicht mit flüssigem Was-
der Sauerstoff nicht einmal den Löwenanteil aus- viel eher durch ihre physikalischen, als durch ser in Form von Nebel-
tröpfchen, Bodenfeuchte
macht. Die Zusammensetzung ist in den unteren ihre chemischen Eigenschaften auf. Blasen wir oder einem Gewässer
Schichten der Erdatmosphäre bis etwa 20 Kilo- etwa auf den Handrücken, so fühlen wir die steht.

359
KAPITEL 7 Luft

Luftdruck

Als Luftdruck wird die Gewichtskraft einer


Luftsäule auf eine Einheitsfläche an der Erd-
oberfläche definiert. Die jeweilige Luftsäule
reicht vom Messpunkt bis zum Ende der At-
mosphäre. Der auf Meereshöhe bezogene Stan-
darddruck (1 atm) beträgt 1013,25 Hektopascal
(hPa) = 1,01325 bar. Dieser Druck entspricht 7-4
Barometrische Höhenformel. Werden Gasmassen in
pro Quadratzentimeter ungefähr 10 Newton, einem Schwerefeld von ihrem eigenen Gewicht zusam-
also der Gewichtskraft von ca. 1 Kilogramm mengepresst, so folgt der Druck in Abhängigkeit von der
Masse. Bei Standardbedingungen (25 °C und Höhe h einer Exponentialfunktion. Er verringert sich bei
einer Lufttemperatur von 15 °C etwa alle 8400 m um den
1 atm) hat 1 m3 Luft eine Masse von 1,184 kg. Faktor 1/e (ca. 0,368) bzw. alle 5500 m um die Hälfte. Da
Bildlich kann man sich den Druck der Luft- die Temperatur von der Höhe abhängt, gilt diese Formel
schichten wie einen Kissenstapel vorstellen, bei nur näherungsweise. Für die Luftfahrt werden präzisere
Formeln verwendet, die die Höhenabhängigkeit der Tem-
dem die untersten Kissen durch die Auflast der
peratur berücksichtigen.
darüber liegenden zusammengedrückt werden
(ÅAbbildung 7-3). mechanische „Berührung“ und eine Abkühlung
Mit zunehmender Höhe nehmen Dichte (letztere aufgrund der direkten Abfuhr von
und Luftdruck entsprechend der barometri- Wärmeenergie sowie durch die Verdunstungs-
schen Höhenformel in einer Exponentialfunk- kälte von Wasser an der Hautoberfläche).
tion ab (ÅAbbildung 7-4). Sie verringern sich Das nicht fassbare Medium Luft ist offenbar
alle ca. 8400 Meter um den Faktor 1/e (bzw. doch so materiell, dass es zum Teil beträchtliche
etwa alle 5500 m auf die Hälfte). Das bekom- Kräfte ausüben kann. Dass Luft Gegenstände
men Bergsteiger zu spüren: Je höher sie kom- bewegen kann, ahnt man schon beim windgetrie-
men, desto niedriger wird der Druck, die Luft benen Herumwirbeln von Herbstblättern. Groß-
wird „dünner“ und kühler. Auf dem Gipfel des räumige Bewegungen der Luft sind die Basis für
Mount Everest beträgt der Luftdruck nur noch das gesamte Wettergeschehen auf der Erde. Bei
33 Prozent des Wertes auf dem Niveau des Gegenständen, die während eines Orkans herum-
Meeresspiegels. Unterschiedliche Luftdruck- geschleudert werden oder bei einem rasant Fahrt
verhältnisse sind die wesentliche Ursache für aufnehmenden Segelboot sieht man die Kraft der
Luftbewegungen in der Atmosphäre. sich bewegenden Luft. Weht etwa eine steife Brise
Die gesamte Masse des „Luftozeans“ lässt (Windstärke 7), so übt die bewegte Luft eine Kraft
sich leicht bestimmen, indem man die Erd- von 150 Newton pro Quadratmeter Segelfläche
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oberfläche in Quadratzentimetern mit der aus (was etwa dem Gewicht einer Kiste Bier ent-
Luftmasse über dieser Fläche multipliziert. spricht). Die Kraft bewegter Luft rührt von ihrer
Sie beträgt rund 5 · 1018 kg, was etwa einem Masse her. Diese Masse unterliegt auch der Erd-
Millionstel der Erdmasse entspricht anziehung und äußert sich in einem nicht unwe-
sentlichen Gewicht der Luft. Der mittlere Druck
7-2 der Luft entspricht dem Gewicht der über einer
7-3
Abhängigkeit des Luftdrucks von bestimmten Fläche lagernden Luftsäule bis in den
Luftdruck. Denkt man sich
der Höhe. Bezogen auf den Luft- Weltraum. Wir nehmen diesen Druck allerdings
wenig befüllte Luftkissen
druck in Meereshöhe nimmt der
Luftdruck bereits in der untersten
aufeinander gestapelt, so kaum wahr, denn er wirkt von allen Seiten. Er
ergibt sich ein ungefähres beträgt unter Normalbedingungen an der Meeres-
Schicht, der Troposphäre, stark
Bild der exponentiellen
ab. Auf dem höchsten Gipfel der oberfläche 1 Atmosphäre (1 atm = 1013,25 Hek-
Druckverteilung in der
Erde, dem ca. 8848 Meter hohen
Atmosphäre. Diese wird topascal = 1013,25 Millibar, ÅKasten Luftdruck)
Mount Everest in Nepal beträgt
durch die barometrische Den gleichen Druck könnte man erzeugen, wenn
er nur noch ca. 33 Prozent
Höhenformel beschrieben.
seines Wertes in Meereshöhe. man auf einer 1 Quadratzentimeter großen Fläche
Verkehrsflugzeuge nutzen den eine Last von 1,013 Kilogramm einwirken ließe.
sehr geringen Luftwiderstand in
Höhen von ca. 12 000 Metern Auch eine 10 Meter hohe Wassersäule könnte
zur Treibstoffersparnis. diesen Druck aufbringen. —
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Flüchtige Berührung gänzlich verloren (Å Phasen und Phasenübergang, Mol


Seite 166). 1 Mol =
6,022 · 1023 Teilchen
Die Eigenschaften von Gasen 4 Im Gegensatz zu unterschiedlichen Flüssig-
keiten oder Feststoffen reagieren die Volumina Molvolumen
Gase im engeren Sinne sind Substanzen aus Mo- verschiedener Gase auf Änderungen von Tem- 22,4 Liter für ideales Gas
bei 0 °C und 1 atm
lekülen oder Atomen, die sich bei Standardbe- peratur und Druck fast gleich.
dingungen (einer Temperatur von 25 °C und 5 Gase sind in jedem Verhältnis untereinander Standarddruck
einem Druck von 1 atm) im gasförmigen Aggre- mischbar, eine unmittelbare Folge der großen Ab- 1 atm = 1,01325 bar
= 1013,25 hPa
gatzustand befinden. Sie sind durch folgende stände und schwachen Interaktion der Teilchen. (veraltet: 760 Torr)
Eigenschaften charakterisiert: 6 Gase selbst sind elektrische Isolatoren, da sie
1 Aufgrund des weiten Abstandes zwischen ih- aus ungeladenen Teilchen bestehen und auch Standardbedingungen
25 °C, 1 atm
ren einzelnen Molekülen bzw. Atomen sind Gase keine Ladungsträger zwischen den Teilchen
leicht komprimierbar. übertragen werden können. Heizt man Gase al- Normbedingungen
2 Die extrem schwachen zwischenmolekularen lerdings extrem auf oder führt ihnen auf sonstige 0 °C, 1 atm
(veraltet: Normalbedin-
Bindungskräfte typischer Gase ermöglichen eine Weise Energie zu, bis sich einzelne Elektronen
gungen)
freie, völlig unabhängige Bewegung der Moleküle ablösen, so verwandeln sie sich in ein elektrisch
bzw. Atome. Ein Gas kann als Teilchenwolke be- leitfähiges Plasma (Å Kapitel 8).
schrieben werden, deren Bestandteile sich ständig 7 Gase leiten Wärme sehr viel schlechter als
Für Gasteilchen mittlerer
in schneller ungeordneter Bewegung befinden. Flüssigkeiten und Festkörper. Dies rührt daher, Masse wie N2 gilt bei
Gasteilchen weisen unter Standardbedingungen dass Energie lediglich bei den in diesen dünnen Standardbedingungen:
beträchtliche Geschwindigkeiten in der Größen- Medien viel selteneren Zusammenstößen über-
Geschwindigkeit
ordnung von 400 – 500 Metern pro Sekunde auf. tragen werden kann. ca. 400 – 500 m/s
Sie stoßen elastisch, also ohne dabei im Durch- 8 Fast alle Gase, insbesondere aber die einato-
schnitt langsamer zu werden und kinetische Ener- migen Edelgase, sind transparent, d. h. sie haben Mittlere freie Weglänge
ca. 1 / 100 mm zwischen
gie zu verlieren, mit ihresgleichen oder mit den keine auffälligen Absorptionen im Bereich sicht- zwei Stößen
Begrenzungen des Behälters zusammen. baren Lichts. Auch die Lichtstreuung ist aufgrund
3 Gase, die unter keinen äußeren Zwangskräf- der Kleinheit der Moleküle sehr gering. Dass Zusammenstöße
Ein Gasteilchen erleidet
ten (wie etwa Gravitationsfeldern) stehen, füllen Streuung aber dennoch vorhanden ist, zeigt sich unter Standardbedingun-
infolge der schnellen Bewegung ihrer Teilchen etwa darin, dass der Himmel von der Erdober- gen ca. 50 Mio. Zusam-
jeden zur Verfügung stehenden Raum rasch aus; fläche aus betrachtet blau aussieht. Blaues Licht menstöße pro Sekunde.
sie verdünnen sich dabei entsprechend. Unter wird von Luftmolekülen stärker in alle Richtun-
den Bedingungen auf der Erdoberfläche nehmen gen gestreut als das rote Licht, das wir morgens
Gase verglichen mit unverdampften Stoffen oft und abends als übrig bleibende Lichtfarbe der
den mehr als tausendfachen Raum ein. Im freien Sonne wahrnehmen. Solche elastische Streuung
Weltall beobachtet man Gase, die noch um etliche von Licht an im Vergleich zur Wellenlänge sehr
Größenordnungen verdünnter sind, wie etwa kleinen Teilchen erfolgt ohne Änderung der Wel-
interstellares Gas (ÅKapitel 11). Andererseits lenlänge und wird als Rayleigh-Streuung be-
können Gase unter hohen Drücken und bei mä- zeichnet. Einige zweiatomige Gase wie Halogene 7-5
Rayleigh-Streuung. Die
ßig hohen Temperaturen auch Dichten bis in die zeigen allerdings mehr oder weniger auffällige stärkere Streuung blauen
Nähe von Flüssigkeiten annehmen. Am kritischen Färbungen (Fluor ist schwach gelb, Chlor gelb- Lichts an Luftmolekülen
Punkt im Phasendiagramm eines Stoffes geht der grün, Brom bräunlich und Joddampf violett). bewirkt, dass es von allen
Seiten als Himmelsblau
Unterschied zwischen Gas und Flüssigkeit sogar Dies ist darauf zurückzuführen, dass zwischen sichtbar ist. Bei Sonnen-
diesen vergleichsweise schweren Atomen Schwin- auf- bzw. -untergang
verbleibt mehr Rot im
direkten Sonnenlicht,
denn es nimmt einen sehr
langen Weg durch die
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Lufthülle. Übrigens:Wegen
der Beugung an den im-
mer dichteren Schichten
der Atmosphäre sehen wir
einen Himmelskörper auch
dann, wenn er sich knapp
unter dem geometrischen
Horizont befindet.

361
KAPITEL 7 Luft

gungen angeregt werden können, deren Energien eher wie winzige Billardkugeln. Man benötigt
denjenigen sichtbarer Lichtteilchen entsprechen. die Annahme von Stößen für eine realistische
Weiterhin tritt bei Gasen Lichtbrechung auf, Simulation, denn sonst würde jedes Teilchen
wenngleich entsprechend ihrer geringeren Dichte für sich einfach seine Ursprungsgeschwindigkeit
7-6
Modell des idealen Gases. in viel schwächerem Maße als etwa bei Glas oder beibehalten und könnte keinen Impuls mit den
Massenpunkte (m, x, y, z, Wasser. Wir beobachten sie etwa im Flimmer anderen austauschen. Damit Zusammenstöße
vx, vy, vz). heißer Luft über sommerlichen Straßen oder im erfolgen, muss man einen gewissen Wirkungs-
Flackern der Sterne (Å Wunderteleskope auf der querschnitt annehmen.
Erde, Seite 448). Auf der Basis dieses Modells lassen sich über
Im weiteren Sinne wird der Ausdruck Gas die kinetische Gastheorie einige unabhängig
auch für Dämpfe flüssiger Stoffe benutzt, also gefundene experimentelle Zusammenhänge ma-
für Stoffe, die bei erhöhter Temperatur oder nied- kroskopischer Größen herleiten, die Gesetze von
rigem Druck verdampft sind, obwohl sie unter Boyle und Mariotte, Gay-Lussac und Amonton
Standardbedingungen flüssig oder fest wären. (Å Abbildungen 7-7 bis 7-9). Die Gasgesetze
für ideale und für „reale“ Gase beschreiben die
7-7
Gesetz von Boyle-Mari- Ideal oder real? Beziehungen zwischen den Variablen Druck, Vo-
otte. Beschreibt das Ver- lumen, Temperatur und Stoffmenge bzw. Masse
halten eines idealen Gases Viele der Eigenschaften von Gasen lassen sich und Teilchenzahl. Die ideale Gasgleichung be-
bei konstanter Temperatur.
bereits über die stark abstrahierte Modellvor- inhaltet alle drei historisch aufgestellten Zu-
stellung eines „idealen Gases“ verstehen und nä- sammenhänge (Å Abbildung 7-10). Sie besagt,
herungsweise berechnen. Experimentell weichen dass das Produkt aus dem Druck p und dem
Gase hiervon insbesondere bei hohen Drücken Volumen V geteilt durch die Temperatur T bei
und niedrigen Temperaturen mehr oder weniger idealen Gasen eine Konstante ist, die sich aus
stark ab. Sie werden dann genauer durch das der Stoffmenge n und der sogenannten univer-
detailliertere Modell des sogenannten „realen sellen Gaskonstanten R ergibt.
Gases“ beschrieben. Man sollte sich natürlich Einige gemessene Eigenschaften von Gasen
7-8 stets vor Augen führen, dass auch das Letztere lassen sich so theoretisch begründen und nähe-
Gesetz von Gay-Lussac. trotz der Bezeichnung nur ein genaueres ma- rungsweise berechnen. Unter Normbedingungen
Beschreibt das Verhalten
eines idealen Gases bei
thematisches Modell ist, keinesfalls aber die (T = 0 °C und p = 1,013 bar) nimmt ein Mol eines
konstantem Druck. Realität selbst. idealen Gases einen Raum von 22,4 Litern ein.
Die aus der idealen Gasgleichung erhaltenen
Ideales Gas Ergebnisse stimmen für Gase aus relativ kleinen
Teilchen mit geringen Wechselwirkungen wie
Dieses Modell betrachtet Gasmoleküle bzw. Helium (He) oder Wasserstoff (H2) recht gut mit
-atome als Punkte mit einer bestimmten Masse der Realität überein. Auch in der Luft vorkom-
m, aber ohne jede Ausdehnung (ÅAbbildung mende Gase wie Stickstoff (N2), Sauerstoff (O2)
7-6). Letztere Annahme ist notwendig, damit und Argon (Ar) lassen sich bei nicht allzu hohen
man sich ein Gas beliebig stark zusammenge- Drücken hiermit ausreichend genau beschreiben.
7-9
drückt vorstellen kann, ohne dass sich dessen
Gesetz von Amonton.
Beschreibt das Verhalten Verhalten ändert. Diese Massepunkte sollen zwi- Reale Gase
eines idealen Gases bei schen Zusammenstößen keinerlei äußeren Kräf-
konstantem Volumen.
ten unterliegen, man nimmt also an, dass keine Es sind hauptsächlich zwei Effekte, die bei grö-
merkliche Gravitationskraft wirkt und keine ßeren und chemisch weniger inerten Teilchen
elektrischen Ladungen im Spiel sind. Jeder so sowie bei hohen Drücken für signifikante Ab-
definierte Massenpunkt hat eine bestimmte Ge- weichungen der „idealen“ Theorie vom Expe-
schwindigkeit v und damit einen Impuls (p = m·v). riment sorgen. Zum einen ist das Volumen der
7-10 Stoßen die Teilchen mit den Wänden zusammen, Gasmoleküle selbst gegenüber dem betrachteten
Gasgleichung ideales Gas.
p = Druck [Pa]; so prallen sie elastisch zurück. Dieses Modell ist Gefäßvolumen nicht mehr völlig vernachlässig-
n = Stoffmenge [mol]; natürlich stark abstrahiert. Im Grunde wider- r bar. Man spricht vom Kovolumen. Zum anderen
T = Temperatur [K]; sinnig ist auch eine andere Annahme: Obwohl kommt es unter diesen Umständen zu häufigen,
R = Gaskonstante
(8,31 J·mol–1·K–1) ohne Ausdehnung, können die Massenpunkte nicht vernachlässigbaren Wechselwirkungen
V = Volumen [m3]; doch zusammenstoßen und verhalten sich damit zwischen den Teilchen (Kohäsionsdruck). Das

362
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Van-der-Waals-Gasgesetz trägt dieser Tatsache oberen Troposphäre kommt es zur Kondensa-


durch eine Druckkonstante a und eine Volu- tion und damit zur Bildung tatsächlich „schwer“
menkonstante b Rechnung (Å Abbildung 7-11). mit sichtbaren Wassertröpfchen beladener Wol-
Ihre Werte können für jedes Gas experimentell ken. Sie erscheinen durch Streuung hell, wenn sie
bestimmt werden. Gleichungen für reale Gase von der Sonne beschienen werden, oder durch 7-11
Gasgleichung für reale Gase.
können auch den Effekt der Kondensation er- Selbstabschattung an ihrer Unterseite grau bis
p = Druck [kPa];
klären und zeigen beim Ausdehnen den Joule- schwarz. n = Stoffmenge [mol];
Thomson-Effekt, eine Temperaturabnahme bei Wird Luft unter konstantem Druck erwärmt, T = Temperatur [K];
R = Gaskonstante
Expansion, die im Linde-Verfahren auch zur so dehnt sie sich nach dem Gesetz von Gay-
(8,31 J·mol-1·K-1)
Verflüssigung von Gasen genutzt wird. Lussac aus. Die Moleküle verteilen sich in ei- V = Volumen [dm3];
Die Zahl natürlicher und synthetischer nem größeren Raum, und die Luft verliert an a = Kohäsionsdruck
Gase und Gasgemische ist selbstverständlich Dichte: Bei einer Temperatur von 20 °C und ei- [(kPa·dm6)/mol2];
b = Kovolumen [dm3/mol];
sehr groß, da bei genügender Energiezufuhr sehr nem Druck von 1 bar (1000 hPa) hat ein Kubik-
viele Substanzen in den gasförmigen Zustand meter Luft eine Masse von 1,188 kg, bei 25 °C
übergehen, ohne sich zu zersetzen. Natürliche nur noch 1,168 kg. Bei einer Erwärmung um
Gasgemische sind u. a. Luft oder Erdgas, ebenso 1 °C reduziert sich die Masse um ca. 4 g. Bei
von Pflanzen bzw. Tieren erzeugte Duftstoffe einer Temperaturdifferenz von 70 °C zwischen
(Pheromone); zu den synthetischen Gasen zählen 20 °C warmer Außenluft und der ca. 90 °C hei-
die früher als Kältemittel genutzten Fluorkoh- ßen Luft im Inneren eines Heißluftballons ent-
lenwasserstoffe. spricht das immerhin einem Gewicht von 280 g.
Nach dem Archimedischen Prinzip genügen die
Lufteigenschaften 3000 – 5000 m3 Volumen eines modernen Heiß-
luftballons daher, um Auftrieb für das Gewicht
Fragt man jemanden danach, ob feuchte Luft von Korb, Gasvorrat, Brenner und Passagieren
schwerer oder leichter ist als trockene, so erhält zu erzeugen (1 – 2 Tonnen).
man fast immer spontan die Antwort, sie sei Die Folgen des geringeren Gewichts war-
schwerer. Die Erfahrung, dass flüssiges Wasser mer Luft kann man im Winter sowohl in ge- 7-12
viel schwerer ist als Luft, ist uns so geläufig, dass heizten Räumen als auch im Freien spüren. Van-der-Waals-Gleichung
wir sie automatisch auf Wasserdampf übertragen. Hohe Räume sind schwer zu beheizen, denn die für reale Gase. In Berei-
chen, wo flüssige Phase
Warum steigt Luft dann aber auf, wenn sie Warmluft hängt unter der Zimmerdecke, wäh- und Gasphase koexistie-
durch Verdunstung über dem Meer oder feuch- rend die Füße kalt bleiben. An klaren Winter- ren, folgt das reale System
tem Erdreich Wasser aufgenommen hat (Å Es tagen mit Windstille nimmt die Lufttemperatur nicht der Van-der-Waals-
Gleichung, sondern einer
geht auch ohne Sieden – Verdunstung, Seite vom Boden zur Höhe hin zu, weil eine warme, zur Volumenachse paralle-
318)? Betrachten wir einmal ein bestimmtes weniger dichte Luftschicht über schwereren len Geraden.
konstantes Luftvolumen, sagen wir 22,4 Li- „Kaltluftseen“ in Talungen und Senken liegt.
ter: Nach den Gasgesetzen entspricht dieses Man spricht von einer Inversionswetterlage und
Volumen unter Standardbedingungen gerade fürchtet sie insbesondere bei starken Schadstoff-
einem Mol, nämlich 6,022 · 1023 Teilchen. emissionen, denn die bodennahe Luft kann,
Rufen wir uns dann noch in Erinnerung, dass wie durch einen Deckel verschlossen, tagelang
Luft zu mehr als 99 Prozent aus den beiden eingeschlossen bleiben.
zweiatomigen Gasen Stickstoff N2 (78 Pro- Die chemischen Eigenschaften der Luft wer-
zent Anteil, relative Atommasse 28,014 g / mol) den durch ihre Hauptbestandteile bestimmt,
und Sauerstoff (21 Prozent Anteil, relative nämlich die elementaren Gase Å Stickstoff (Seite
Atommasse 31,9988 g / mol) besteht, so wiegt 376 ) und insbesondere Å Sauerstoff ( Seite
Luft im Durchschnitt ungefähr 28,86 g / mol. 373371), der für den oxidierenden Charakter
Wasserdampf (H2O) hat demgegenüber ein Mo- der Luft verantwortlich ist.
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lekulargewicht von nur 18,015 g/mol. Je mehr


7-13
Wasserdampfmoleküle also die schwereren N2- Heißluftballon. Die etwa 90 °C heiße Luft in einem
oder O2-Moleküle ersetzen, desto leichter bzw. Heißluftballon wiegt etwa 25 Prozent weniger als unter
weniger dicht wird die feuchte Luft. Dies ist der Standardbedingungen (25 °C). Die 3000 – 5000 m3 Vo-
lumen eines modernen Heißluftballons genügen daher,
Grund dafür, dass feuchte Luft im Wettergesche- um Auftrieb für das Gewicht von 1 – 2 Tonnen für Korb,
hen aufsteigt. Erst in kühleren Luftschichten der Gasvorrat, Brenner und Passagiere zu erzeugen

363
KAPITEL 7 Luft

Forscher Entdeckung Planetare Schutzhüllen


GALILEO GALILEI (1564 – 1642) Gewicht der bodennahen Luft
Mathematiker und Physiker (Å Kasten Luftdruck, Seite 360) Als Atmosphäre wird allgemein die gasförmige
Hülle um einen Planeten bezeichnet, dessen
ROBERT BOYLE (1627 – 1691) Gewicht der „Luft im Himmel“;
Physiker und Chemiker Formulierung des 1. Gasgesetzes Gravitationsfeld stark genug ist, die Gase am
Entweichen in den Weltraum zu hindern. Die
JOSEPH BLACK (1728 – 1799)
Luft ist ein Gasgemisch Bezeichnung Atmosphäre, abgeleitet von den
Chemiker und Arzt
griechischen Worten atmos (Dunst, Dampf)
Entdeckung des Wasserstoffs,
HENRY CAVENDISH (1731 – 1810) und sphaira (Kugel), wurde erst ab Mitte des
Luftbestandteile Stickstoff, Sauer-
Chemiker 18. Jahrhunderts benutzt, und zwar im Sinne
stoff und kleiner Rest (Argon)
von Dunstkreis, Luftkreis oder Luftmeer der
CARL WILHELM SCHEELE (1742 – 1786)
Apotheker Nachweis von Sauerstoff als Gas, das für
Erde. In mittelalterlichen Texten wird der Raum
JOSEPH PRIESTLEY (1733 – 1804) die Verbrennung wichtig ist zwischen Erde und Himmel oft als Luft be-
Theologe, Chemiker, Physiker zeichnet. Heute noch wird die sich nach oben
Nachweis, dass Verbrennung nicht die fortsetzende Lufthülle zum Himmel gezählt.
ANTOINE LAVOISIER (1743 – 1794)
Freisetzung von Phlogiston ist, sondern Dort stehen scheinbar Mond und Sterne, dort
Ökonom und Chemiker
der Verbrauch von Sauerstoff (Oxidation) wandern Wolken, dort ziehen Flugzeuge ihre
JOHN TYNDALL (1820 – 1893) Bahnen. Im Einklang mit der Entwicklung der
Physiker Nachweis der klimarelevanten Wirkung Physik und Chemie vollzog sich die Enträtse-
SVANTE ARRHENIUS (1859 – 1927) von Wasserdampf und Kohlendioxid
Chemiker und Physiker lung des Aufbaus und der Eigenschaften der
Atmosphäre unseres eigenen Planeten ab dem
RICHARD ASSMANN (1845 – 1918)
Schichtung der Atmosphäre 17. Jahrhundert. Jedoch wusste bis in die 1960er
Arzt und Meteorologe
Jahre hinein niemand Genaues über die Verhält-
LÉON PHILIPPE TEISSERENC DE BORT Schichtung der Atmosphäre und Benen-
(1855 – 1913) Meteorologe nung der Troposphäre nisse in der oberen Erdatmosphäre. Erst als mit
der rasanten Entwicklung der Raketentechnik
WALTER NOEL HARTLEY (1846 – 1913 Entdeckung der Absorption von UV-Strah-
direkte Messungen möglich wurden, konnte
Chemiker len durch Ozon
man hier Klarheit erlangen.
CHARLES FABRY (1867 – 1945)
Nachweis der Ozonschicht in der Atmo-
HENRI BUISSON (1873 – 1944)
sphäre
beide Physiker Schichtung der Erdatmosphäre
WILLIAM RAMSAY (1852 – 1916)
Chemiker
Entdeckung weiterer Edelgase Die Erdatmosphäre nimmt zum Weltraum hin
nicht nur einfach in ihrer Dichte ab. Die bisher

Türschleier

Betritt man im Winter manche Kaufhäuser, so


passiert man einen Warmluftschleier, in dem die
Bewegung von Luftmolekülen spürbar ist. Un-
terschiedlich erwärmte Luftmassen haben die
Tendenz, sich auszutauschen, bis ihre Tempera-
turen angeglichen sind. Ein mit Hilfe spezieller
Geräte nach unten gerichteter Warmluft-, im
Sommer auch Kaltluftstrahl unterbindet den
Luftmassenaustausch, indem ein laminarer, pa-
7-14 ralleler Luftstrom erzeugt wird. Dieser muss in
Luftschleieranlage. Lami- Ausblaswinkel, Volumenstrom und Geschwin-
nare Strömung verhindert
die Vermischung warmer
digkeit dem einfallenden, andrängenden Luft-
und kalter Luft. strom entsprechen. Neben Eingangsbereichen 7-15
findet dieses Prinzip auch Anwendung bei Kühl- Luft und Spurengase. Um die Spurengase in der Luft zu-
sammen mit den Hauptbestandteilen in einem Diagramm
regalen, bei Geruchsabschirmung (Fischtheke) anzeigen zu können, benötigt man unterschiedliche Ska-
und bei staubhaltiger Luft. lenfaktoren (ppm, ppb: ÅRandspalte, rechts).

364
Erde, Wasser, Luft und Feuer

beschriebene Zusammensetzung bezieht sich auf wird die Stratosphäre durch die Stratopause
die unteren Schichten und ändert sich bereits begrenzt. Die meisten düsengetriebenen Flug-
oberhalb von 20 km deutlich. So findet sich dort zeuge fliegen in der dünnen Luft der unteren
kaum noch Wasserdampf. Ab ungefähr 500 km Stratosphäre. Spezielle Höhenforschungsbal-
ändern sich die chemischen und physikalischen lons können bis in die Stratospause aufsteigen.

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


Verhältnisse gegenüber den erdnahen Schichten
völlig. Tendenziell finden sich in höheren Schich- 3 Mesosphäre (50 bis 85 km Höhe). Die
ten weniger komplexe und schwere Moleküle. Luft ist hier schon extrem dünn. Hier fin-
Unter dem Einfluss aus dem Weltraum einfallen- den sich größere Anteile von leichten Gasen,
der ionisierender Strahlung kommen dafür immer die beginnen, sich entsprechend ihrer Masse 7-16
mehr Ionen und sehr reaktive chemische Sub- zu schichten; in den obersten Abschnitten Himmel (Holzschnitt von
1888). Diese Darstellung
stanzen vor, die wegen der bereits größeren freien setzt verstärkte Ionisierung der Gase unter
von NICOLAS CAMILLE FLAM-
Weglängen zwischen Kollisionen deutlich stabiler Einfluss der Sonneneinstrahlung ein. Da in MARION (1842 – 1925) aus
sind als in Bodennähe. Ab ungefähr 1000 km dieser Höhe fast kein Ozon mehr vorhanden seinem Werk Himmels-
Höhe schließlich geht die Atmosphäre in den ist, wird auch kaum Wärmeenergie durch kunde für das Volk k stellt
das Streben des Menschen
Weltraum über (ÅAbbildung 7-17, Seite 366). dessen Spaltung freigesetzt und die Tempe- nach Erkenntnis dar. Sie
Am gebräuchlichsten ist die Untergliederung ratur sinkt nach oben steil bis auf –93 °C ab. wurde oft als zeitgenös-
nach Temperaturverhältnissen, die so genannte sische Darstellung eines
mittelalterlichen Weltbil-
Temperaturschichtung. 4 Thermosphäre (80 bis 500 km Höhe). Nach des missgedeutet.
Dichte und Temperatur unterscheidet sich diese
Temperaturschichtung Zone erheblich von den tiefer liegenden. Ihre
Teilchenzahl ist etwa ein Millionen mal gerin-
1 Troposphäre (bis ca. 12 km Höhe). Sie bil- ger als nahe der Erdoberfläche. Gasmoleküle
det die unterste Schicht. Der höchste Berg der sind kaum mehr vorhanden. Durch die harte
Erde, der Mount Everest, ragt mit 8848 Me- UV-Strahlung werden die molekularen Gase
tern hoch in die Troposphäre hinein. In diesem N2, H2 und O2 in Ionen und freie Radikale
Bereich spielen sich wichtige wetterrelevante, gespalten (Photodissoziation). So ist die Iono-
physikalische Prozesse ab; unter dem Einfluss sphäre (siehe unten) ein Teil der Thermosphäre.
der Erdoberfläche finden sich besonders starke Zwar werden nach oben ansteigend – je nach
lokale Schwankungen von Temperatur, Wind Sonnenaktivität – die Teilchen durch die hoch-
und Feuchtigkeit. In dieser Zone befindet sich energetische Sonneneinstrahlung auf sehr hohe
fast der gesamte atmosphärische Wasserdampf; Temperaturen (Name!) von 1300 bis 1700 °C Angabe von Anteilen
die Temperatur nimmt bis zur Obergrenze, aufgeheizt, doch ein normales Thermometer
der Tropopause, auf –56 °C ab. Die untersten würde trotzdem unter 0 °C anzeigen. Denn auf- 1 % (Prozent) = 10-2;
1,0 bis 2,5 km der Troposphäre werden auch grund der extrem geringen Dichte haben die 1 ppm (parts per million,
als planetarische Grenzschicht bezeichnet. wenigen noch vorhandenen Teilchen eine freie Mikromol) = 10-6;
Weglänge im Bereich von 200 Metern (an der
1 ppb (parts per billion,
2 Die Stratosphäre (ca. 12 bis 50 km Höhe). Erdoberfläche: 60 Nanometer!). Nur selten kön- Nanoomol) = 10-9;
In diesem Bereich findet sich nahezu kein nen Teilchen mit der Thermometerwand zusam-
Wasserdampf mehr, deshalb gibt es hier menstoßen und dabei Energie (Wärme) abgeben. 1 ppt (parts per trillion,
omol) = 10-12.
Piko
kaum noch Wolken; es finden intensive che- In der Thermosphäre werden ca. 60 Prozent
mische Reaktionen und radiative Prozesse der einfallenden UV-Strahlung absorbiert, und 1 ppb entspricht einer Per-
statt, aber wenig vertikaler Luftmassenaus- infolge der Erdrotation ergibt sich täglich eine son unter allen in Indien
lebenden Menschen
tausch; wetterrelevante Vorgänge sind nur unterschiedliche Absorption von Sonnenenergie:
(1 Mrd).
noch eingeschränkt zu beobachten. Bis etwa Auf der Tagseite erfolgt eine wärmebedingte
30 km Höhe steigt der Ozongehalt merklich Ausdehnung der Luft, auf der Nachtseite eine 1 ppt entspricht einer
an (Å Abbildung 7-24, Seite 374). Zwischen einzigen 1-Cent-Münze
Kontraktion infolge von Abkühlung. Die daraus
unter einer Billion
25 und 30 km Höhe liegt die Schicht höch- resultierenden Druckunterschiede treiben die (1 000 000 000 000)
ster Ozonkonzentration, die schädliche, kurz- globale Zirkulation an. Die unter dem Einfluss 1-Euro-Stücken. Moderne
wellige UV-Strahlung absorbiert; durch diese hochenergetischer Teilchen aus dem Sonnen- Methoden können so we-
nige Einzelmoleküle in ei-
Energieabsorption steigt die Temperatur zur wind (ÅAbbildung 8-21, Seite 389) ionisierten nem begrenzten Volumen
Ozonschicht hin bis auf 0 °C an. Nach oben Luftmoleküle werden in ihrer Bewegung vom nachweisen.

365
KAPITEL 7 Luft

irdischen Magnetfeld beeinflusst und besche-


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ED

ren uns auf der Nordhalbkugel die spektakulä-


E

ren Nordlichter und auf der Südhalbkugel die


Austrolichter, wenn sie in Polnähe bei nahezu
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senkrecht stehenden Magnetfeldlinien auch nied-


rigere Atmosphärenschichten erreichen. Viele
2012

künstliche Satelliten und die Internationale


© 20

Raumstation ISS kreisen in der Thermosphäre.

5 Exosphäre (oberhalb von 500 km). Oft


wird die Exosphäre noch als äußerste Schicht
zur Erdatmosphäre gerechnet. Hier geht diese
ohne scharfe Grenze in den Weltraum über;
bisweilen wird sie dort gezogen, wo die Feld-
stärke des Erdmagnetfeldes auf den Wert des
interplanetaren Raumes absinkt. In dieser
Zone tritt nur noch weltraumtypisch ioni-
sierter Wasserstoff auf (Å Wasserstoff als Ele-
ment, Seite Seite 377). Aufgrund des riesigen
Abstands der Teilchen ist hier der Druck so
niedrig, dass man von einem Vakuum spre-
chen kann. Hier herrscht nur noch intensive
Strahlungsenergie. Die Exosphäre bildet für die
Erde einen ersten Schutzschild gegen die töd-
lich wirkende hochenergetische UV-Strahlung.

Schichtung nach Komposition

Neben der Temperatur dient auch der Grad an


Homogenität als Schichtungskriterium:

1 Homosphäre (bis 80 km Höhe). Charakte-


risiert durch die gleichmäßige Durchmischung
der Gase unabhängig von der Molmasse.

2 Homopause (80 – 120 km Höhe). Übergangs-


schicht.

3 Heterosphäre (oberhalb von 120 km Höhe).


Auftreten molekularkinetischer Entmischung
der Gasmoleküle bzw. Gasionen; Schichtung
entsprechend deren Molekulargewicht: unten
Stickstoff und Sauerstoff und oben Wasserstoff.

Schichtung nach Grad der Ionisierung


7-17 Diese Schichtung differenziert nach dem La-
Einteilung der Atmosphärenschichten. Die Gliederung
dungszustand der Gasmoleküle:
erfolgt meist nach vorherrschender Temperatur. Je nach
Anwendungsfall wird gelegentlich eine Einteilung nach
Zusammensetzung oder Ionisierungsgrad verwendet. 1 Neutrosphäre. (je nach Breitengrad und
Jahreszeit zwischen 0 und 70 – 90 km Höhe)
Hier liegen die Gase im wesentlichen im neu-

366
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Treibhausgase und Anteil in der Anstieg Anteil am natür-


r Anteil am Verweildauer in Klimawirksamkeit
Spurengase Atmosphäre seit 1750 lichen Treibhaus- anthropogenen der Atmosphäre (in CO2-Äquivalent)
(2005) (in %) effekt (in %) Treibhauseffekt (in Jahren)
(in %)

Kohlendioxid (CO2) 385 ppm 35 9 – 26 60 30 – 1000

Methan (CH4) 1774 ppb 120 4–9 20 ca. 9 – 15 25-fach

Distickstoffoxid (N2O) 319 pbb 18 ? 6 ca. 114 298-fach

Fluorkohlenwasserstoffe 100 bis ca.


538 ppt 0? 10 1480 bis 5200-fach
(FCKWs) 50 000
11
Stickstofftrifluorid (NF3) 0,454 ppt 0? ? ca. 550 bis 740 17 200-fach
(2006 – 2008)

Schwefelhexafluorid (SF6) 0,005 ppb 0? ? ca. 3200 22 800-fach

tralen Zustand vor, sind also nicht ionisiert. Erde ist allerdings der häufig vergessene Was- Rauch
serdampf (H2O) in der Troposphäre: Er trägt Rauch (Brandgas) entsteht
vorwiegend aus der Ver-
2 Ionosphäre (oberhalb der Ozonschicht ca. 60 Prozent zum natürlichen Treibhauseffekt brennung von Feststoffen.
i n 80 – 500 k m Hö h e). Die Gasmoleküle bei. Das ist auch gut so, denn hätten wir diesen Es handelt sich um ein
sind überwiegend aufgespalten in geladene natürlichen Treibhauseffekt nicht, so hätte die heterogenes Stoffgemisch,
das aus Rauchgasen wie
Atome, Molekülionen sowie in Elektr o - Erdoberfläche eine Durchschnittstemperatur von Stickoxiden, Wasser-
nen; nach Ionisierungsgrad weitere Untertei- –18 °C. Zum Vergleich: In einer Eiszeit sinkt dampf, Kohlenmonoxid,
lung in D-Schicht (80 – 100 km), E-Schicht die Durchschnittstemperatur normalerweise um Kohlendioxid, Schwefel-
wasserstoff und Chlor-
(100 – 150 km) sowie F-Schicht (150 – 500 km). weniger als zehn Grad ab! Ca. 20 Prozent des wasserstoff besteht. In der
Aufgrund der geladenen Teilchen hat die Io- Treibhauseffekts entfallen auf Kohlendioxid, der Gasphase sind winzige
nosphäre große Bedeutung für den Funkver- Rest auf N2O, Methan, Ozon usw. Das erst Staub- und Rußpartikel
verteilt. Einen Sonderfall
kehr und die Kurzwellenfrequenzen beim Ra- in den letzten Jahren auch in der Atmosphäre bildet Tabakrauch: Er ent-
dio. Je nach Frequenz werden Radiowellen gefundene NF3, welches als Ersatz für die ozon- hält bis zu 4800 chemische
hier durchgelassen, gestreut oder reflektiert. schädigenden FCKWs eingeführt wurde, hat sich Stoffe, darunter ca. 250
als giftig oder krebserre-
als Supertreibhausgas entpuppt. Indirekte Treib- gend eingestufte. Auch
Schädlich oder nützlich? – Treibhausgase hausgase wie Kohlenmonoxid (CO), Wasserstoff die Brandgase organischer
(H2), Stickoxide (NOX) usw. lösen zwar selbst Stoffe enthalten gesund-
heitsschädliche oder toxi-
Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht in den keinen Treibhauseffekt aus, beeinflussen aber die
sche Inhaltsstoffe.
Medien über die Klimaerwärmung und ihre Fol- chemischen Reaktionen echter Treibhausgase. Bis
gen für die Erde berichtet wird. Schuld daran auf Kohlendioxid (CO2) und Wasserdampf (H2O) Abgase
Abgase nennt man gas-
sind nach Meinung der Mehrheit der Fachleute werden Treibhausgase chemisch entweder durch förmige Abfallprodukte,
sogenannte Treibhausgase, die als Spurengase troposphärisches Ozon (O3) oder durch das in die beim Verbrennen von
in der Luft vorhanden sind. Treibhausgase sind extrem geringen Mengen vorhandene, aber hoch- Treibstoffen in Motoren
entstehen.Sie setzen sich
durchaus nützlich, da sie – zumindest bei be- reaktive Hydroxyradikal ·OH aus der Atmosphäre
aus Kohlenmonoxid und
stimmten Konzentrationen – die Temperaturen entfernt. Auch diese Gase sind für uns weder di- -dioxid, aus Stickoxiden,
auf der Erde erträglich gestalten. Allerdings füh- rekt sichtbar noch fühlbar. Trotzdem haben sie Schwefeldioxid usw. zu-
ren die verstärkte Verbrennung fossiler Brenn- potenziell unangenehme Auswirkungen. sammen, die zur Bildung
von Treibhausgasen bei-
stoffe, Abholzung und intensive Viehwirtschaft tragen. Auch die darin
zu einer Zunahme der Konzentration klimaschä- Große Wirkung – der Treibhauseffekt enthaltenen feinsten Ruß-
digender Treibhausgase. Momentan entlässt der und Schwermetallpartikel
werden als gesundheits-
Mensch weltweit jährlich ca. 30 Milliarden Ton- Das Grundprinzip des Treibhauseffekts ist recht schädigend eingestuft,
nen Treibhausgase in die Atmosphäre. einfach zu verstehen. Nach dem Planckschen was zur Feinstaubverord-
Strahlungsgesetz (ÅStrahlungsgesetze von Ste- nung geführt hat.

Wenige und doch sehr wirksam fan bis Planck, Seite 96) sendet jeder Kör- Rauch und Abgase wer-
per mit einer Temperatur über dem absoluten den zu den Aerosolen
Was also sind Treibhausgase? Bei allen handelt Nullpunkt Energie in Form elektromagnetischer gerechnet (Å Kasten Feste
und flüssige Luftinhalts-
es sich um Spurengase überwiegend in der Tro- Wellen aus. Die genaue Zusammensetzung aus stoffe Aerosole, Seite
posphäre. Das wichtigste Treibhausgas für die kürzeren bzw. längeren Wellen, also das Emis- 320).

367
KAPITEL 7 Luft

Boten des Eros oder üble Stinker –


die Geruchsstoffe
„Es ist leicht die Augen zu schließen, aber un-
möglich den Düften zu entgehen“.
(Werbetext für ein Buch über das Riechen)

Von ganzen Sternbildern aus Duftkräutern


wurde leuchtend wie der Himmel die Erde unter
günstigem Stern und glücklicher Konstellation.“
Hafiz (persischer Dichter, 1319 – 1389)

Der Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee verführt


uns zum Trinken, verlockend duftende Speisen
regen unseren Appetit an, Gestank von Fäkalien
oder von etwas Verwesendem stoßen uns ab. Jeg-
liche Geruchsinformation wird uns letztlich durch
die Luft überbracht. Gase oder Dämpfe tragen die
entscheidenden Moleküle direkt in unsere Nase.
Dennoch scheint der Geruchssinn in unse-
rer von optischen und akustischen Signalen und
Eindrücken vollgestopften Umwelt nur eine un-
tergeordnete Rolle zu spielen. Inzwischen haben
Forscher herausgefunden, dass am Aufbau des
Geruchssinns nach dem Immunsystem die zweit-
7-18 größte Gengruppe mit 390 Genen beteiligt ist, ja
Treibhauseffekt. sionsspektrum, hängt stark von der Temperatur dass MHC-Peptide (Major Histocompatibility
Wegen der unterschiedli-
ab. Außerdem ist auch die Gesamtstrahlung Complex), die eine wichtige Rolle bei der Im-
chen Durchlässigkeit der
Erdatmosphäre für sicht- eines heißeren Körpers im Vergleich zu dem munabwehr spielen, gleichzeitig als chemische
bares Licht und länger- eines kühleren energiereicher. Nun ist die Son- Botenstoffe (Pheromone) fungieren.
welliges Infrarot erwärmt nenoberfläche mit ca. 6000 Kelvin Tempera- Riechstoffe (Geruchsstoffe) haben die Men-
sich das „Gewächshaus
Erde“ natürlicherweise tur bekanntermaßen wesentlich heißer als die schen von Anbeginn begleitet. Sie halfen den frü-
mehr, als dem Strah- Erdoberfläche. Strahlung, die die Erde von der hen Menschen beim Auffinden von Nahrung,
lungsgleichgewicht eines Sonne erreicht, hat ihr Intensitätsmaximum warnten sie vor verdorbenem Essen oder vor Ge-
atmosphärelosen Körpers
entsprechen würde. Die ungefähr im grünen Bereich des sichtbaren fahren wie Feuer. In frühen Kulturen galten Duft-
Erwärmung entsteht, in- Lichts. Die Lufthülle ist für diese kurzwellige stoffe als Nahrung für Götter, die man ihnen als
dem ein Teil der langwelli- Strahlung gut durchlässig (ÅAbbildung 7-18). Opfer darbot. In antiken Hochkulturen erkannten
gen Strahlungsenergie zur
Erde zurück gestrahlt wird
Anders sieht es mit der Rückstrahlung aus: Bei Priester die heilende Wirkung einiger duftender
(rote Wellenlinie). Durch nur ca. 290 Kelvin Oberflächentemperatur läge Essenzen wie Weihrauch. Wohlgerüche spielen
die starke Absorption der das Intensitätsmaximum der Strahlung eines auch im sozialen Leben der Menschen eine wich-
Treibhausgase (braun)
im Infrarotbereich wird
Planeten ohne Atmospäre mit ca. 10 μm weit tige Rolle, was sich an der großen Vielfalt von
dieser Effekt wesentlich im infraroten, also Wärmestrahlungsbereich. Parfüms ablesen lässt. Obgleich der Geruchssinn
verstärkt. Infrarotstrahlung wird aber von der Atmo- im Vergleich zu anderen Sinnen unterentwickelt
Eingezeichnet als braune
sphäre effizient absorbiert, insbesondere dann, erscheint, beeinflussen Gerüche unser Dasein viel
Fläche ist die Stärke der
Absorption einer ange- wenn sie viele Treibhausgase enthält. Sie wird stärker, als uns bewusst ist.
nommenen Mischung von in alle Richtungen wieder abgestrahlt, auch
Treibhausgasen wie Koh- zur Erdoberfläche hin. So wirkt die Lufthülle
lendioxid, Methan, Ozon Riechbare Stoffe
und Distickstoffoxid. ähnlich wie das Glasdach eines Treibhauses.
Auch Treibhausdächer lassen sichtbares Licht Als Riechstoffe werden sowohl angenehme
passieren, reflektieren aber Infrarotlicht. Im Düfte (Duftstoff) als auch Ekel oder Abscheu
Ergebnis heizt sich die Erde dadurch soweit hervorrufende Gerüche (Gestank) eingeordnet.
auf, bis sie genügend (und etwas kurzwelligere) Es handelt sich um gasförmig verteilte Mole-
Wärmestrahlung aussendet, um die Bilanz wie- küle, die von Objekten, Pflanzen oder Tieren
der auszugleichen. abgegeben sowie durch Luftströmungen ver-

368
Erde, Wasser, Luft und Feuer

breitet werden und beim Empfänger bestimmte von Riechstoffmolekülen mit komplementären
Empfindungen auslösen – den Geruch. Alle auf Passformen von Osmorezeptoren zu korrelieren,
dem Land lebenden Organismen sondern über um so die Gerüche nach dem Prinzip „Schlüs-
winzige Duftdrüsen Moleküle ab, die dufttra- sel und Schloss“ zu klassifizieren (Å Abbildung
gende (osmosphore) Gruppen besitzen. Die 7-19). Eine bis heute teilweise anerkannte ste-
relativ kleinen Riechstoffmoleküle sind stets reochemische Geruchstheorie, nach der die äu-
leicht flüchtige (leicht verdunstende) Verbin- ßere Form von Riechmolekülen mit bestimmten
dungen. Sie besitzen einen stark hydrophoben primären Geruchsempfindungen des Menschen
(wassermeidenden) und einen schwach polaren korreliert ist, veröffentlichte 1970 der britische
Teil. Die polaren, funktionellen Teile bilden os- Biochemiker JOHN EARNEST AMOORE (1930 –

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mophore (dufttragende) Gruppen. Angenehme 1998). Danach kann der Mensch sieben Primär-
Gerüche hervorrufende werden als euosmo- gerüche wahrnehmen. Bei fünf von ihnen lässt
phore, abstoßend riechende als kakosmophore sich die Molekülform mit der Rezeptorform kor- r
Moleküle bezeichnet. Typische euosmophore relieren, zwei werden anhand der elektrischen
Vertreter sind Aldehydgruppen (–CHO) oder Ladungen an der Moleküloberfläche erkannt
Hydroxygruppen (–OH), stinkende Gruppen (Å Tabelle 7-20).
sind Thiole bzw. Mercaptane (–SH) oder Iso- Die Vielzahl von Duftnoten entsteht durch 7-19
cyanide (Isonitrile, –NC). Geruchseindrücke Mischung verschiedener Riechstoffmoleküle und Schlüssel und Schloß.
Geruchsrezeptoren erwei-
bilden sich unabhängig vom chemischen Bau die gleichzeitige Erregung von mehreren Rezep- sen sich als molekulare
der Duftpartikel. Synthetische Duftstoffe kom- toren. So sondern z.B. gebratener Speck oder Bindungsstellen ganz
men in Stoffklassen wie Alkoholen, Aldehy- Spiegeleier ein Gemisch von ca. 100 Gerüchen bestimmter Gestalt, in die
nur Moleküle mit gewis-
den, Aminen, Carbonsäuren, Estern, Ethern ab. Der Mensch vermag ca. 10 000 verschiedene ser Form hineinpassen.
und Sulfiden vor. Die meisten zählen zu den Gerüche wahrzunehmen und zu unterscheiden. Daneben spielen noch
organischen Kohlenstoffverbindungen, nur we- Oberflächenladungen
und Beweglichkeit der
nige anorganische Verbindungen wie Schwe- Düfte wahrnehmen Geruchsmoleküle eine
felwasserstoff (H2S) und Ammoniak (NH3) Rolle für die Festigkeit der
– eigentlich beides gefährliche Gifte – bilden Damit sie wahrgenommen werden können, Bindung.
Duftstoffe. Nur sieben Elemente sind für den müssen Geruchs- bzw. Duftstoffe folgende mo-
Menschen über ihren Geruch wahrnehmbar: lekulare Eigenschaften aufweisen: hohe Ober-
Arsen, Brom, Chlor, Fluor, Phosphor und Sau- flächenaktivität, schwache Polarität, geringste
erstoff als Ozon. Wasserlöslichkeit, hoher Dampfdruck sowie 7-20
Die meisten natürlichen Riechstoffe gehören gute Fettlöslichkeit. Und schließlich muss ein Grundgerüche nach
zu den Pheromonen, nicht dazu gezählt werden stoffeigener Schwellenwert der Konzentration AMOORE. Der Mensch
besitzt ca. 390 verschie-
synthetisch erzeugte Duftstoffe wie Vanillin in überschritten werden. Die menschliche Geruchs-
dene Geruchsrezeptoren
Kosmetika, Haushaltsreinigern oder anderen schwelle liegt zwischen 104 und 1014 Mole- für unterschiedliche
Chemikalien. külen pro Liter Luft. Gefährliche Substanzen Stoffgruppen. Die wahr-
wie Schwefelwasserstoff (H2S) haben häufig genommenen Gerüche
fallen aber in nur sieben
Geruchsnoten eine sehr niedrige Geruchsschwelle: Unter einer Basiskategorien.

Grundgeruch Riechstoff Vorkommen Stereochemische Zuord-


Obwohl die Konzentrationen von Riechstoffen nung im Riechmolekül
heute empfindlich messbar sind, werden Gerüche Mottengift,
campferartig Campher kugelförmig
individuell sehr unterschiedlich wahrgenommen. Hexalin
Da der Geruchssinn zu den chemischen Sinnen moschusartig omega-Pentade-
Engelwurz scheibenförmig
kano-Lacton
gehört, hat es mehrere Versuche gegeben, Gerü-
minzartig,
che auf dieser Basis zu klassifizieren. Eine erste mentholartig
Menthol Minze keilförmig
Klassifizierung in neun Grundgerüche veröffent- Phenylethylmethyl- scheibenförmig mit
blumig Rosenduft
lichte der niederländische Physiologe und Arzt ethylcarbinol Schwanz
HENDRIK ZWAA W RDEMAKER (1857 – 1930). Und
ätherisch Ethylendichlorid
Trockenreini-
dünn, stäbchenförmig
gungsmittel
1916 unterschied der deutsche Privatgelehrte
stechend, positive elektr. Partialla-
HANS HENNING sechs Geruchsempfindungen. beißend
Ameisensäure Weinessig, Ozon
dung (C)
Beide Einteilungen sind heute überholt. Seit den negative elektr. Partialla-
1920er Jahren versuchen Forscher die Formen faulig Butylmercaptan Faules Ei
dung (S)

369
KAPITEL 7 Luft

Billion Luftmoleküle kann ein Molekül dieses stoffe als auch ca. 3000 synthetische Kreati-
Riechstoffs im Sumpfgas gerochen werden. onen werden in vielen alltäglichen Produkten
Wie alle landlebenden Wirbeltiere besitzt gezielt eingesetzt. Was gut duftet, wird gerne
der Mensch spezielle Riechorgane, die in der genommen. Vielen Duftstoffen wird auch eine
Nase angesiedelt sind. Wirbellose Tiere haben physiologische Wirkung zugeschrieben, und sie
Geruchsorgane z. B. an Antennen oder an Füh- werden deshalb in der sogenannten Aromathe-
lern. Der menschliche Geruchssinn ist eng mit rapie genutzt.
dem Geschmackssinn verknüpft und zählt den Nach jüngsten Untersuchungsergebnissen
„chemischen Sinnen“ (Å Riechen und Schme- können verschiedene Menschen ein und den-
Aroma cken, Seite 24). Er beruht auf einer Dipol- selben Geruch als angenehm riechend oder als
Als Aroma wird eine Kom-
bination aus Geschmack Dipol-Wechselwirkung zwischen chemischen abstoßend stinkend empfinden, je nachdem,
und Geruch bezeichnet. Geruchsmolekülen und den Rezeptoren in der ob geringe Unterschiede im genetischen Code
Riechschleimhaut. Dort findet man ca. 390 eines bestimmten Geruchsrezeptors auftreten.
verschiedene gencodierte Typen von Riechzel- Der Austausch von lediglich zwei Aminosäu-
len, von denen der Mensch zwischen 10 und ren bei ihm genügt, um eine Substanz gut oder
30 Millionen in speziellen etwa zwei-cent-gro- übel riechen zu lassen.
ßen Bereichen der Nasenschleimhaut besitzt, ein Oft wehren sich Gemeinden erbittert gegen
Hund dagegen zwischen 250 und 300 Millio- die Ansiedlung von großen Schweinemastbetrie-
nen. Über eine Kombination dieser Typen kön- ben, weil sie den von Fäkalien ausgehenden Ge-
nen alle Geruchsmischung erfasst werden. Diese stank fürchten. Neben solchem Fäkaliengeruch
Riechzellen sind mit Millionen feinster Härchen empfinden wir auch Mundgeruch oder Aroma-
bestückt, die Tausende von flüchtigen chemi- stoffe wie von Knoblauch und manchen Käse-
schen Signalen osmophorer Gruppen auffangen sorten als unangenehm. Geradezu abstoßend
können. Allein in unseren Lebensmitteln sind ca. und ekelerregend wirken der Geruch von ver-
8000 flüchtige Duftstoffe bekannt, davon 5 Pro- wesendem Fleisch oder verrottendem Obst oder
zent Schlüsselgeruchsstoffe. In den Riechzellen Gemüse; gefürchtet sind die Abwehrgerüche von
werden die chemischen Impulse in elektrische Stinktieren oder der Gestank von chemischen
umgewandelt und über Nerven an das limbische Verbindungen wie Buttersäure in Stinkbomben.
System (Teil des zentralen Nervensystems, das Einige Pilze und Pflanzen wie die Titanwurz (mit
für Gefühle zuständig ist) weitergeleitet. Von der größten Blüte der Welt) locken mit Aasgeruch
dort werden die Geruchsreize an das Riechzen- Bestäuber oder Beute an, die offenbar ein völlig
trum der Großhirnrinde übergeben, wo eine anderes Geruchsempfinden als Menschen haben.
Einstufung der Geruchsempfindung stattfindet. Derartige faulige, fäkalienartige, beißend rie-
Die Bewertung eines Geruchs muss zumindest chende Gerüche werden meist durch Abbau- und
zum Teil erlernt werden. Diese im Gehirn ge- Fäulnisprozesse organischen Materials hervor-
speicherten Erinnerungen entscheidet dann mit, gerufen. Die meisten Stinkstoffmoleküle sind
ob Düfte positiv oder negativ wahrgenommen Abbauprodukte schwefelhaltiger Aminosäuren.
werden und bestimmte Gefühle hervorrufen. Geruchstragende Molekülteile sind hier kakos-
mophore Gruppen wie Thioaldehyde (–CHS),
Verlockung oder Gestank? Mercaptane (–SH), Thioether bzw. Sulfide (–S–
und –S) und Isocyanide (–NC). Für Menschen
Wohlgerüche wie der Duft von Rosen oder signalisieren ungenehm stinkende, beißende Ge-
Flieder erfreuen uns und rufen positive Ge- rüche „Vorsicht, ungenießbar!“ wie bei verdor-
7-21 fühle hervor. Pflanzliche Duftstoffe sind in benen Lebensmitteln oder „Vorsicht Gift!“ wie
Synthetische Duftstoffe. leicht flüchtigen ätherischen Ölen (Å Ätheri- im Falle von Schwefelwasserstoff.
Verwendung der produ- sche Öle, Seite 341) in Blüten, Früchten oder
zierten Stoffe.
Wurzeln enthalten. Sie dienen vorwiegend zur Verhaltenauslösende Duftstoffe –
Anlockung von Bestäubern (wie auch einige Pheromone
Stinkstoffe).
Stinksto Tiere erzeugen dagegen Duftstoffe
wie Ambra (Wale) oder Moschus Eine Gruppe von Duftstoffen, als Pheromone
(Moschustiere) in speziellen Duft- bezeichnet, lösen beim Empfänger bestimmte
drüsen. Sowohl natürliche Duft- Verhaltensreaktionen aus. Der Begriff Phero-
Erde, Wasser, Luft und Feuer

mon wurde 1959 vom deutschen Chemiker oder ungesättigte Alkanole, ferner deren Ester,
PETER KARLSON (1918 – 2001) gemeinsam mit Alkanale (ÅAlkohole, Seite 349), Säuren und
dem Schweizer Zoologen MARTIN LÜSCHER in deren Ester sowie Kohlenwasserstoffe.
Anlehnung an „Hormon“ geprägt. Sie bezeich- Nach ihrer Wirkung werden Pheromone zwei
neten damit flüchtige chemische Substanzen, die Gruppen zugeordnet. Sogenannte Primerphero-
außerhalb von Körpern wie Hormone wirken, mone erzeugen physiologische Veränderungen
also physiologische Reaktionen beim Empfänger beim Adressaten, indem sie über Signalketten in
hervorrufen. Pheromone, abgeleitet vom Grie- dessen Stoffwechsel eingreifen oder Proteine ak-
chischen „Träger der Erregung“ sind chemische tivieren: Mit solchen Pheromonen unterbinden
Signal- oder Reizstoffe (Semiochemikalien), die Bienen- oder Ameisenköniginnen das Wachstum
vom Empfänger schon in äußerst geringer Kon- von Eierstöcken anderer weiblicher Stock- bzw.
zentration, oft unterhalb der eigentlichen Wahr- Baumitbewohner, so dass sie allein Eier produ-
nehmungsgrenze, gedeutet werden können. Für zieren können. Sogenannte Releaserpheromone
die artspezifische Kommunikation spielen sie bei dagegen lösen eine unmittelbare Verhaltensreak-
einigen Wirbeltierarten sowie insbesondere bei tion beim Empfänger aus; nach Art der auslö-
Insekten eine überragende Rolle. Besonders gut senden Reaktion werden sie in Sexualpheromone
lässt sich die Funktion von Pheromonen bei In- (bei Wirbeltieren und bei Insekten), in Aggrega-
sekten wie Ameisen beobachten: Scheinbar ziel- tionspheromone (bei Borkenkäfern, Feuerwan-
los in der Umgebung herumlaufende Individuen zen), in Spur- und Markierungspheromone (bei
folgen tatsächlich Pheromonspuren ihrer Volkes Insekten und Säugetieren), in Alarmpheromone
zu Futterquellen oder zum Bau zurück. Bis heute (bei Insekten) sowie in Aphrodisiakapheromone
umstritten ist, ob der Mensch auch Pheromone (bei Schmetterlingen) unterteilt. Bettwanzen -
absondert, die ihm bei der Partnersuche helfen. larven schützen ihren verletzungsanfälligen Kör-
r
Einige Forscher behaupten, ein typisches männ- per vor paarungswütigen Bettwanzenmännchen
liches Pheromon entdeckt zu haben, dass in mittels eines Alarmpheromons. Die meisten Phe-
den Achselhöhlen abgesondert wird, sowie ein romone wirken nur zwischen Individuen einer
entsprechendes weibliches in der Vagina. Andere Art, nur wenige können auch von anderen Arten
wiederum bestreiten, dass der Mensch spezielle wahrgenommen werden. Künstlich erzeugte Phe-
chemische Substanzen absondert oder nutzt, die romone, vor allem Sexualpheromone, werden
zweifelsfrei als Pheromone identifiziert werden erfolgreich zur Bekämpfung von Schadinsekten
können. Zweifler verweisen darauf, dass der wie Borkenkäfern in Land- und Forstwirtschaft
Mensch kein spezielles Empfängerorgan wie das eingesetzt. —
Vomeronal-Organ bei Nagetieren, einigen Huf-
tieren oder Katzen besitzen. Hirsche oder Katzen Luftige Stoffe
zeigen das Flehmen, bei dem die Oberlippe ge-
kräuselt und die Kiefer auseinander geschoben Nicht nur Sauerstoff
werden, um pheromonhaltige Luft einzusaugen.
Insekten nutzen für die Wahrnehmung von Phe- Die wesentlichen Bestandteile der Luft, Sauerstoff
romonen Empfänger in Fühlern bzw. Antennen. und Stickstoff, sind gasförmige Elemente. Wir ha-
Pheromone sind wie alle Riechstoffe gas- ben sie bereits in Kapitel 4 kennen gelernt, wollen
förmig, und ihre Moleküle leicht genug, um ihre Besonderheiten aber an dieser Stelle etwas
über größere Entfernungen verteilt werden zu näher betrachten.
können. Je nach Transportmedium müssen sie Eukaryoten
(auch: Eukaryonten)
entweder wasser- oder luftresistent sein, fer- So nennt man Organis-
ner über einen bestimmten Zeitraum chemisch Lebenselixier und Gift – men, deren Zellen einen
stabil. Am besten erfüllen diese Eigenschaften Zellkern besitzen.
der Sauerstoff
organische Kohlenstoffverbindungen: An de -
Prokaryoten
ren Kohlenstoffatome sind dufttragende Atom- Alle höheren Lebensformen auf der Erde (Eukary- (auch: Prokaryonten)
gruppen gebunden. Chemisch bilden nicht- oten wie alle Tiere, Pflanzen, Pilze und Protisten) So bezeichnet man zel-
luläre Organismen, die
isoprenoide oder isoprenoide Verbindungen benötigen Sauerstoff für ihre Zellatmung. Und so-
keinen Zellkern besitzen.
Pheromone (ÅࡳKasten Ter p ene, Seite 342). gar viele Prokaryoten sind auf das Gas angewiesen Dazu gehören alle Bak-
Wichtige Vertreter sind acyclische, gesättigte oder können es zumindest nutzen. Die lateinische terien.

371
KAPITEL 7 Luft

Bezeichnung oxygenium, Säurebildner, geht auf dioxid (CO2) durch UV-Strahlung in die Ele-
die irrtümliche Annahme des französischen Che- mente aufgespalten. In der Mesosphäre werden
mikers ANTOINEE LAURENT DEE LAV A OISIER zurück, Wassermoleküle (H2O) durch UV-Strahlung in
dass dieses Element für die saure Reaktion von zwei Wasserstoffatome und ein Sauerstoffatom
Säuren verantwortlich sei. Wie man inzwischen zerlegt, wobei der leichte Wasserstoff in den
weiß, spielen in Wirklichkeit H+-Ionen (Protonen) Weltraum entweicht und der Sauerstoff letztlich
diese Rolle. O2-Moleküle bildet. Der Beitrag dieser Prozesse
Auf der Erde ist Sauerstoff (O) mit einem zur Sauerstoffanreicherung in der Atmosphäre
Massenteil von 49,4 Prozent (ÅZusammenset- ist jedoch gering.
zung der Erdkruste, Seite 225) das häufigste Vor ca. 2,7 Milliarden Jahren entstanden die
Element: In Mineralen und Gesteinen der Litho- ersten Photosynthese betreibenden Mikroor-
sphäre hat es einen Massenanteil von recht genau ganismen (Cyanobakterien), die Sauerstoff als
50 Prozent und liegt in ÅMineralen (Seite 227) Abfallprodukt ins Meer freisetzen; vor etwa 2,4
gebunden vor, meist als Oxid, Carbonat, Sulfat Milliarden Jahren war schließlich die Sättigung
oder Silikat. Im Wasser der Hydrosphäre (Meer, des Ozeans erreicht, und Sauerstoff gelangte
Seen, Flüsse, Grundwasser) hat das Element einen auch in nennenswerten Mengen in die Atmo-
Anteil von 88 Massenprozent. Die Luft enthält sphäre. Waren es zunächst im Wasser lebende
21 Volumenprozent des freien Elements in mo- Organismen, die Sauerstoff lieferten, so sind
lekularer Form (O2). Der menschliche Körper es seit dem Silur (vor ca. 444 Millionen Jah-
7-22 besteht zu 66 Prozent seiner Masse aus Sauerstoff, ren) zusätzlich Pflanzen, die nach und nach das
O2-Molekül. Die un- das meiste davon als Wasser. Die beiden wichtig- feste Land besiedelten. Mit Hilfe des Chloro-
tere Grafik zeigt grob
die äußere Form eines sten binären Sauerstoffverbindungen sind H2O phylls wandeln sie elektromagnetische Energie
O2-Moleküls, dargestellt (Wasser) und SiO2 (Siliciumdioxid, Quarzsand). des Lichts in chemische Energie um, indem sie
in der Farbe Rot, die in Da Sauerstoffmoleküle unter den Bedingungen aus Kohlendioxid und Wasser Glukose (Trau-
Moleküldarstellungen
meist für Sauerstoff der oberen Atmosphäre mit Geschwindigkeiten benzucker) erzeugen (ÅRandspalte links). Als
verwendet wird. Genau um ca. 1 Kilometer pro Sekunde unterwegs sind, Abfallprodukt dieser photosynthetischen Was-
genommen ergibt sich die erreicht nur ein vernachlässigbar kleiner Anteil serspaltung fällt Sauerstoff an. Die Ausbildung
„Form“ aus der Summe
der Quadrate aller mit die mit 11,4 Kilometer pro Sekunde viel höhere verschiedener Enzymsysteme ermöglichte Orga-
Elektronen besetzten Entweichgeschwindigkeit, und nur wenig des in nismen in der Evolution immer besser, den gifti-
Orbital-Wellenfunktionen. der Erdgeschichte gebildeten Sauerstoffs ging ins gen Sauerstoff zu tolerieren. Die Entstehung der
Die Punkte in der oben
stehenden Strichformel
Weltall verloren. Im Universum steht Sauerstoff Zellatmung erlaubte es einigen von ihnen in der
deuten an, dass im Grund- an dritter Stelle der Häufigkeit hinter Wasserstoff Folge sogar, viel effizienter Energie zu gewinnen,
zustand das Sauerstoffmo- und Helium. als das mit der evolutionär älteren anaeroben
lekül eine Doppelbindung
Gärung möglich war. Zellatmung erlaubte nicht
mit zwei ungepaarten
Elektronen besitzt, es Herkunft des Sauerstoffs Photosynthese betreibenden Organismen, von
handelt sich um ein so ge- Pflanzen aufgebaute Kohlenhydrate wie Glucose
nanntes ein Biradikal.
Sauerstoff gehört zu jenen Elementen, die im kalt zu „verbrennen“ und dabei unter Sauer-
Weltraum ziemlich häufig sind. Doch in der ir- stoffverbrauch chemische Energie zu gewinnen.
dischen Uratmosphäre (Primordialatmosphäre) Für die Zellatmung nutzten höher organisierte
war freier Sauerstoff nicht zu finden. Sie enthielt eukaryotische Organismen eigene Organellen,
stattdessen neben dem wenig reaktiven Stickstoff die Mitochondrien. Vor ca. 400 Millionen Jah-
nur reduzierende Gase wie Methan (CH4), Am- ren erreichte der durchschnittliche Sauerstoff-
moniak (NH3) und Schwefelwasserstoff (H2S). gehalt der Erdatmosphäre um die 21 Volumen-
Photosynthese Der hochreaktive Sauerstoff war zunächst noch prozent. Mit der Entstehung von Hämoglobin,
In der hier angegebenen Sum-
menformel erscheint der Prozess in Wasser, Kohlendioxid und Mineralen ge- dem Farbstoff der roten Blutkörperchen mit
der Photosynthese sehr einfach. bunden. Für die ersten irdischen Lebensformen einem zentralen Eisenion (Fe2+), und eines Kreis-
Im Detail sind allerdings zahlrei- stellte er sogar ein starkes Gift dar. laufsystems gelang es einigen Vielzellern sogar,
che komplexe Reaktionsschritte
daran beteiligt. Erst allmählich reicherte sich Sauerstoff das ehemalige Gift Sauerstoff gezielt zu Kör-
zunächst durch zwei Prozesse in den oberen perzellen zu transportieren. Verbrennungs- und
6 CO2 + 6 H2O Schichten der Atmosphäre an: Atmungsprozesse sind sauerstoffzehrend. Doch
C6H12O6 + 6 O2
In der Thermosphäre (ÅSchichtung der momentan liefern Cyanobakterien, Algen und
Er d atmosp h äre, Seite 364) wir d Ko hl en - Pflanzen genügend Sauerstoff nach. Allein die

372
Erde, Wasser, Luft und Feuer

grünen Pflanzen setzen jährlich ca. 300 Milli- (ÅAbbildung 7-23 und Kasten Singulett- und
arden Tonnen Sauerstoff frei, so dass der einge- Triplettzustände, Seite 214). Durch die beiden Allotrope
spielte Gleichgewichtszustand erhalten bleibt. ungepaarten Elektronen sind zwei antibindende
Selbst ein leichter Anstieg des Sauerstoffgehalts *-Orbitale (ÅAtombindung, Seite 148) nur Der Begriff Allotrope (gr.,
auf 25 Volumenprozent würde häufig zu katas- halbbesetzt, das Molekül ist ein Biradikal. Daraus andere Gestalt) bezeichnet
trophalen Bränden führen. Die Austauschdauer resultieren einige charakteristische Eigenschaften. Elemente, die im gleichen
des atmosphärischen Sauerstoffs mit dem von So ist Triplett-Sauerstoff wegen des nicht ver- r Aggregatzustand in ver-
Pflanzen freigesetzten liegt bei 2000 Jahren. schwindenden Gesamtelektronenspins parama- schiedenen Molekül- oder
gnetisch (Å Paramagnetismus, Seite 213) und Kristallstrukturen vorkom-
Sauerstoff als Element wird deshalb als einziges gebräuchliches Gas von men. Allotrope eines Ele-
einem Magnetfeld angezogen. In diesem Zustand ments unterscheiden sich
Im Periodensystem steht Sauerstoff in der sechs- ist Sauerstoff gegenüber organischen Verbindun- in ihrer chemischen Reak-
ten Hauptgruppe, der Gruppe der Chalkogene gen relativ reaktionsträge, wenn man von Reak- tionsfähigkeit und in phy-
(gr. Erzbildner). Er besitzt drei natürlich vor- tionen mit anderen Radikalen absieht. sikalischen Eigenschaften.
kommende Isotope, nämlich 16O (99,976 Pro- Wird dem Sauerstoff im Triplett-Zustand Man findet sie bei sehr
zent), 17O (0,04 Prozent) und 18O (0,02 Prozent). Energie zugeführt, so geht er in eine von zwei vielen Elementen, u. a. bei
Außerdem sind noch sechs synthetische Radio- möglichen angeregten Singulett-Formen über. Kohlenstoff, Phosphor,
nuklide bekannt. Elementar kommt Sauerstoff In diesen Zuständen können Sauerstoffmoleküle Selen, Schwefel und Eisen.
in verschiedenen Strukturen (Allotropen) vor: auch leicht mit organischen Molekülen reagie- Disauerstoff und Ozon
In der Erdatmosphäre findet man ihn molekular ren. Ein Beispiel hierfür ist das Ranzigwerden sind Allotrope
p des Sauer-
zweiatomig als O2 (Disauerstoff) oder dreiato- von Fetten unter Einfluss von Licht. Die insta- stofffs.
mig als O3 (Ozon). Einzelne Sauerstoffatome bilen Singulett-Zustände sind im Vergleich zum
sind nur in extremem Vakuum oder bei sehr Grundzustand energetisch deutlich ungünstiger.
hohen Temperaturen wie etwa in Sternatmo- Die Spins der beiden Elektronen sind hier entge-
sphären beständig, sie treten aber als kurzlebige gen den Hundschen Regeln (ÅDas Auffüllen von
Zwischenprodukte in Reaktionen auf, so in der Orbitalen, Seite 135) antiparallel ausgerichtet.
oberen Ionosphäre (ÅSchichtung der Erdatmo- Aufgrund seiner Stellung im Periodensystem
sphäre, Seite 364). 2001 gelang in einem itali- ist Sauerstoff stark elektrophil, folglich er kann
enischen Labor sogar der Nachweis kurzlebiger mit fast allen chemischen Elementen reagieren.
Tetrasauerstoff-Moleküle. Die Reaktionen sind dabei in der Regel Redox-
Reaktionen, also die Aufnahme von Elektronen
Eigenschaften und molekulare Zustände und die Bildung von Oxiden. Sie können durch
Freisetzung von Bindungs- und Gitterenergie zu
Unter Normalbedingungen ist Sauerstoff wie hoher Wärmeabgabe führen. Verbrennungen mit
alle Grundbestandteile der Luft ein geruchs-, Feuererscheinungen (ÅKapitel 8) sind nichts
geschmacks- und farbloses Gas. Die Mole- Anderes als rasch ablaufende Oxidationen.
külmasse des zweiatomigen Gases beträgt
2 · 15,999 u = 31,998 u, seine Gasdichte bei 20 °C Biologische Rolle
ist 1,42908 Gramm pro Liter. Unterhalb von
–183 °C verflüssigt sich das Gas bei Normal- Sauerstoff bildet zusammen mit Kohlenstoff
druck, unterhalb von –218 °C bildet es bläuliche (C), Stickstoff (N) und Wasserstoff (H) Grund-
Kristalle. bausteine aller organischen Substanzen, also
Im stabilen Grundzustand liegt moleku- auch vieler biologischer Moleküle. Bei allen
larer Sauerstoff (O2) im Triplett-Zustand vor wichtigen biochemischen Reaktionen spielt
7-23
Sauerstoffmolekül (O2). Die 2p-Orbitale zweier Sau-
erstoffatome bilden im O2-Molekül ein vollbesetztes
σp-Molekülorbital, sowie zwei vollbesetzte, bindende
π-Molekülorbitale und zwei einfach besetzte, sogenannte
antibindende Orbitale π*. Bindende Molekülorbitale
sind energetisch günstiger als antibindende, ihre Ener-
gieniveaus liegen auch unterhalb der Atomorbitale, aus
denen sie hervorgehen (gestrichtelte Linien), weshalb der
gebundene Zustand energetisch günstiger ist als der ato-
mare. O2 enthält im stabilsten Zustand zwei ungepaarte
π*-Elektronen (links), der Gesamtelektronenspin ist daher
1, diesen Zustand nennt man Triplett-Zustand. Die eben-
falls möglichen zwei Singulett-Zustände des Sauerstoff-
moleküls mit Gesamtspin 0 (ganz rechts) sind energetisch
ungünstiger, weshalb sie nur kurzzeitig existieren.
KAPITEL 7 Luft

Sauerstoff eine überragende Rolle. Er ist wich- rer Reaktionsfreudigkeit biologische Moleküle
tig für die Atmung und für die Verbrennungs- zerstören können. Drei körpereigene Enzyme
prozesse beim Stoffwechsel (Metabolismus) von (Superoxiddismutase, Catalase und Glutathion-
Tieren und Menschen. peroxidase) und Antioxidantien entschärfen die
Mit der Atemluft gelangen ca. 0,2 – 0,3 l/ min Radikale und die sehr aggressiven Sauerstoffab-
Luftsauerstoff, bei starker Aktivität mehr als kömmlinge Hyperoxidanionen, Wasserstoffper-
2,0 l / min in die menschliche Lunge und diffun- oxid und Hydroxyradikale. Wenn diese Ab-
dieren von dort ins Blut. Dort verbindet er sich wehrmechanismen nicht funktionieren, werden
mit dem Hämoglobin und wird in den Zellen Zellmembrane durch diese Abkömmlinge zer-
als Oxidationsmittel zur Verbrennung von en- stört, die Zellen sterben ab, und der betroffene
ergiereichen organischen Stoffen, besonders Organismus kann eine tödliche Sauerstoffver-
von Fetten und Kohlenhydraten, genutzt. Ein giftung erleiden. Noch wesentlich aggressiver
Teil der freigesetzten Energie wird auf chemisch wirkt der dreiatomige Sauerstoff, das Ozon
energiereiche Biomoleküle übertragen. Als End- (Trisauerstoff).
produkt des Atmungsprozesses werden Wasser
7-24 (H2O) und Kohlendioxid (CO2) wieder ausge- Unten Feind, oben Freund – das Ozon
Ozonschicht. Die höchste schieden. Ein Mensch setzt jährlich ungefähr
Ozonkonzentration be-
findet sich in der Strato- 300 kg Sauerstoff bei der Atmung um. Ozon ist die dreiatomige Modifikation des Ele-
sphäre zwischen 15 und Ein wichtige Voraussetzung für eine pro- ments Sauerstoff. Es wurde zwar schon anhand
35 km Höhe. Der Anstieg blemfreie Atmung ist der Sauerstoffpartial- seines stechenden Geruchs 1840 vom deut-
in Bodennähe ist nicht nur
eine Folge menschlicher druck, der bei 21 Volumenprozent O2 auf der schen Chemiker CHRISTIAN FRIEDRICH SCHÖN-
Aktivitäten, sondern auch Erdoberfläche bei 150 mmHg (0,2 bar) liegt. BEIN (1799 – 1868) entdeckt und nach dieser
pflanzlichen Ursprungs. In einer Höhe von 5000 m bleibt der relative Eigenschaft in Anlehnung an das griechische
Die Ozonmenge wird
meist in Dobson Units Sauerstoffgehalt zwar gleich, aber der Partial- Wort ozein (riechen) von ihm Ozon benannt.
(DU) gemessen. Es ist die druck hat sich auf 75 mmHg (0,1 bar) verrin- Doch seine chemische Struktur blieb ihm verbor-
Länge einer Säule reinen gert, was zur Atemnot führt. Und ein Sauer- gen. Sie zu entschlüsseln gelang dem Chemiker
Ozons unter Normbedin-
gungen, die dem jewei-
stoffgehalt unter 7 Volumenprozent führt zu ALBERT-LEVY ( 1907) nach 1877. Bis zur Ent-
ligen Ozongehalt einer einem qualvollen Erstickungstod. deckung des Ozonlochs in der Antarktis 1985
Luftsäule entsprechen Für viele Einzeller ist reiner Sauerstoff auf- fand dieses Spurengas bei Wissenschaftlern und
würde. 100 DU = 1 mm.
Der mittlere Ozongehalt in
rund seiner starken Oxidationswirkung immer in den Medien kaum Beachtung. Seitdem zieht es
einer Luftsäule bis hinauf noch ein tödliches Zellgift. Auch für den Men- als gefährliches Umweltgift in den Medien und
zur Mesosphäre liegt bei schen ist eine zu hohe Konzentration von Sau- in der Öffenlichtkeit immer wieder die Aufmerk-
400 DU, das entspricht
erstoff gefährlich, sie kann zu Lungenschäden samkeit auf sich.
also der Höhe einer Ozon-
säule unter Normbedin- führen. Schon beim üblichen Stoffwechsel im
gungen von 4 mm. Körper entstehen freie Radikale, die dank ih- Ozon als Substanz

Unter Normalverhältnissen bei Zimmertempe-


ratur ist Ozon ein farbloses bis bläuliches, bei-
ßend riechendes Gas. Es ist instabil und diama-
gentisch, seine Molmasse beträgt 48,00 g / mol.
Bei –110,5 °C bildet es eine tiefblaue Flüssigkeit,
bei –192,5 °C einen schwarzvioletten Feststoff.
Bodennah und in der Troposphäre ist Ozon ein
sekundärer Luftschadstoff, in der Atmosphäre
ein Spurengas mit einer maximalen Konzen -
tration zwischen 15 und 30 km Höhe in der
sogenannten Ozonschicht. Dort sind 90 Prozent
des gesamten Ozons der Atmosphäre lokalisiert.
Eine Diffusionssperre in der untersten Atmo-
sphärenschicht unterbindet einen Ausgleich
des Ozongehalts zwischen Troposphäre und
Stratosphäre.

374
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Das Gas setzt sich aus instabilen, gewinkelten sie würde das instabile Ozon sofort wieder
Molekülen zusammen. Diese Moleküle sind di- zerfallen. UV-Licht mit einer Wellenlänge unter
polar und sehr reaktionsfreudig. Deshalb bildet 320 nm vermag das Ozon-Molekül wieder zu
Ozon vor allem mit Wasser gefährliche Radikale. spalten. Auch durch Wechselwirkung mit ande-
Seine Reaktionsfreudigkeit ist auf die vorhande- ren Gasen wie Stickstoffmonoxid und vor allem
nen ungebundenen Elektronenpaare zurückzu- mit Chlorverbindungen wird das instabile Ozon
führen. Diese Elektronen können sich bei gerin- wieder zerstört. Besonders zerstörerisch wirken
ger Energiezufuhr vom Molekül lösen. Durch Chloratome und Chlormonoxid (ClO). Sie ent-
die Abstoßung der geladenen Ionen spaltet sich stehen durch Aufspaltung mittels UV-Strahlung
das Molekül. Wird die Energie durch Photonen aus antropogen eingebrachten Gasen, beson-
(Licht) zugeführt, spricht man von Photodisso- ders aus den seit 1978 verbotenen FCKWs.
ziation (lat. dissociare, trennen). Durch einen katalytischen Prozess kann ein
einziges Chlorradikal (Cl, ClO, ClOOCl) meh-
Kreisläufe des Ozons rere 100000 Ozonmoleküle zerstören, in dem es
mit dem Ozon reagiert und selbst unbeschadet
Es existieren zwei Ozonkreisläufe, die auf unter- aus dem Prozess hervorgeht. Diese Zerstörung 7-25
Ozon-Sauerstoff-Zyklus.
schiedlichen Mechanismen basieren, und deren führt zur Ausdünnung der Ozonschicht oder In der Stratosphäre
Auswirkungen auf Lebenwesen verschieden sind: zur Bildung von Ozonlöchern auch außerhalb entsteht Ozon primär
der Polgebiete, so über Europa, wo Ende der durch Photodissoziation
(Aufspaltung) von O2
1 Der Ozon-Sauerstoff-Zyklus in der höheren 1990er Jahre eine Abnahme der Ozonwerte um
mittels energiereicher
Atmosphäre (Å Abbildung 7-25) 37 Prozent in der Stratosphäre gemessen wurde. UV-Strahlung (Wellenlän-
Für die Bildung von Ozonlöchern über den gen unter 240 nm). Die
2 Die Bildung bodennahen Ozons Polgebieten sind andere Prozesse verantwortlich entstehenden Sauerstoff-
atome verbinden sich mit
(Å Kasten Polare Ozonlöcher). O2-Molekülen zu Ozon.
In der höheren Atmosphäre werden zweiato- Bei der Absorption der gefährlichen UV- Diese Reaktion steht im
mige Sauerstoffmoleküle durch kurzwellige ul- Strahlung wirken der zweiatomige Sauerstoff Gleichgewicht mit der
Umkehrreaktion, bei der
traviolette Strahlung mit Wellenlängen kleiner auch in den Schichten oberhalb der Strato- durch langwelligere UV-
als 240 nm in sehr reaktive Sauerstoffatome (O) sphäre und das Ozon der Ozonschicht zusam- Strahlung (unter 320 nm)
zerlegt. Unter Mithilfe beliebiger Moleküle als men. Während molekularer Sauerstoff vor al- Ozon wieder zu O2 und
O zerfällt. Die katalytische
Stoßpartner reagieren diese Atome mit weiteren lem UV-Strahlen mit Wellenlängen kleiner als Wirkung freier Radikale
O2-Molekülen zu Ozon. Die Stoßpartner neh- 240 nm absorbiert, tut dies Ozon vor allem im entzieht dem Prozess
men einen Teil der Reaktionsenergie auf. Ohne Bereich von 220 – 320 nm. Ozon. Zu den freien Ra-
dikalen zählen Chlor bzw.
Chloroxid als Zerfallspro-
dukte der Fluorchlorkoh-
Polare Ozonlöcher lenwasserstoffe (FCKW),
Stickstoffmonoxid (NO),
Brom bzw. Bromoxid und
Die Chlorchemie über den Polargebieten wird (ClONO2) gebunden ist, sorgen chemische andere Verbindungen.
durch die dort herrschenden klimatischen Reaktionen an den Kristallen der PSWs dafür,
Verhältnisse beeinflusst, in erster Linie durch dass Chlormoleküle (Cl2) freigesetzt werden.
die extrem niedrigen Temperaturen in der Nach Ende der Polarnacht spaltet das Son-
Stratosphäre. Durch das Absinken der sehr nenlicht diese Moleküle und die Chloratome
kalten Luft bilden sich im Winter das Polar- setzen ihr zerstörerisches Werk in der Ozon-
gebiet umkreisende Wirbel, die den Austausch schicht verstärkt fort, weshalb das Ozonloch Himmelsblau
Während die Bläue des
mit wärmerer Luft aus niedereren Breiten im Frühjahr besonders groß ist. Ferner sin- Himmels tagsüber eine
verhindern. Bei Temperaturen unter –78 °C ken im Winter größere PSW-Partikel ab und Folge der Rayleigh-
bilden sich in 20 – 30 km Höhe sogenannte entfernen dabei Salpetersäure (HNO3) fast Streuung ist, ist die inten-
sive Blaufärbung in der
polare Stratosphärenwolken (PSW), die große vollständig aus der Stratosphäre. Deshalb
Dämmerung eine Folge
Mengen von Stickstoff- und Schwefelverbin- werden weniger Chlorradikale als Chlornitrat des Absorptionsverhaltens
dungen und Eiskristalle enthalten. Während gebunden. Erst wenn die PSW allmählich des Ozonmoleküls. Ohne
in wärmeren Regionen und Zeiten ein großer verdampfen, entsteht aus Salptersäure wieder Ozon in der Stratosphäre
wäre der Himmel im Zenit
Teil des Chlors in der Stratosphäre durch ausreichend Stickstoffdioxid, um Chloratome zu dieser Stunde grau bis
Reaktion mit Stickstoffdioxid als Chlornitrat zu binden. schwarz.

375
KAPITEL 7 Luft

Biologische Wirkung des Bodennahes Ozon entsteht aus Vorläuferstoffen, lischen Chemiker HENRY CAVENDIS
A H entdeckt,
Ozons.
die im Verkehr, beim Heizen und in industriellen doch erst vom französischen Chemiker ANTOINE
Noch zu Beginn des
20. Jahrhunderts warben Prozessen anfallen. Aber auch Pflanzen bilden LAURENT DE LAV
A OISIER als Element erkannt.
Kurorte mit ozonreicher ozonproduzierende Substanzen. Zu den Vorläu-
Luft, ehe man die Gesund- ferstoffen zählen Kohlenmonoxid (CO), leicht
heitsrisiken durch das Gas Stickstoff als Element
erkannte. Mit einem Re- flüchtige organische Substanzen, und vor allem
doxpotenzial von 2,07 eV Stickoxide (NOx), die durch Großfeuerungs- Stickstoff ist ein gasförmiges Element aus der 15.
wirkt Ozon stark oxidie- anlagen und den Straßenverkehr in die Luft Gruppe (nach IUPAC). Molekularer Stickstoff
rend: Es greift die Atem-
wege an und schädigt die eingebracht werden. Wälder und Grünflächen (N2) bildet mit 78,08 Volumenprozent den Haupt-
Zellmembranen. Nützlich setzen im Sommer erhöhte Mengen an flüch- bestandteil der Luft. Dieses farb-, geruchs- und ge-
ist Ozon für die Desinfek- tigen organischen Verbindungen in Form von schmackslose Gas umgibt uns unsichtbar und un-
tion, u.a. von chirurgischen
Instrumenten. Auf Einzeller Terpenen und Isoprenen frei. Natürlich kann fühlbar. Natürlicher Stickstoff besitzt zwei Isotope:
sich Ozon auch durch Blitzentladungen bilden. 14N (99,634 Prozent) und 15N (0,366 Prozent).
wie Bakterien wirkt es mu-
tagen oder tödlich. Neuer-r Stickstoffdioxid wird durch Sonnenlicht Gasförmig kommt Stickstoff auch gebunden
dings erkannte man auch,
dass Ozon bei der Halt-
aufgespalten: NO2 + Licht → NO + O. Wäh- in Form von Stickoxiden (NOx) in der Luft vor.
barmachung von frischem rend das Sauerstoffatom mit einem Sauerstoff- Diese Stickoxide (auch nitrose Gase genannt)
Obst und Gemüse gegen molekül Ozon bilden kann, baut Stickstoff- sind ausnahmslos endotherme Verbindungen,
Schimmelpilze wirkt.
monoxid (NO) gleichzeitig Ozon wieder ab: denn sie bilden sich nur unter bedeutender Ener- r
O3 + NO → NO2 + O2. Ozon bildet den wichtig- giezufuhr. Bei der Bildung des sommerlichen
sten Bestandteil des Sommersmogs (Fotosmog). bodennahen Fotosmogs spielen diese Gase eine
Abhängig vom Sonnenschein stellt sich tagsüber wesentliche Rolle.
ein Gleichgewicht zwischen O3, NO und NO2 Während Stickstoff in der Luft den weitaus
in Städten ein. Nach Sonnenuntergang wird das größten Anteil hat, beträgt sein Anteil in der
Ozon in Städten durch NO, welches Autos und Erdhülle (Ozeane, Erdkruste bis 16 km Tiefe)
Industrie abgeben, rasch wieder abgebaut. nur 0,03 Prozent. Doch oberflächennah ist Stick-
stoff in großen Mengen gespeichert, nämlich
zu 95 Prozent in organisch gebundener Form
Stickstoff – in Pflanzen, in abgestorbener Pflanzenmasse,
Hauptbestandteil der Luft im Humus sowie in bodenlebenden Mikroor-
ganismen und zu 5 Prozent anorganisch als
Die deutsche Bezeichnung weist auf die ersti- Ammonium, Nitrat und Nitrit im Boden. In
ckende Wirkung reinen Stickstoffs für Flammen Organismen ist er ein essenzieller Baustein von
und atmende Lebewesen hin. Das Elementsymbol Aminosäuren und Proteinen sowie von Chlo-
„N“ leitet sich vom Lateinischen nitrogenium, rophyll. Dagegen existieren nur sehr wenige
Salpeterbildner, ab. Der Stoff wurde fast gleich- stickstoffhaltige Minerale. Zwischen den „Spei-
zeitig vom schottischen Chemiker und Botaniker chern“ Luft und Boden findet ein beachtlicher
DANIEL RUTHERFORD (1749–1819) und vom eng- Austausch von Stickstoff statt, der als Stickstoff-
kreislauf bezeichnet wird (Å Abbildung 7-26).
7-26
Stickstoff-Kreislauf. Die Fixierung des molekularen Stick-
stoffs als Ammoniak (NH3) oder Ammonium-Ion (NH4+)
geschieht im Boden durch Bodenbakterien oder Bakte-
rien, die in Symbiose mit Pflanzenwurzeln leben. Letztere
versorgen die Bakterien mit wichtigen Nährstoffen,
während die Bakterien als Stickstofflieferanten für die
Pflanzen dienen. Ammoniak bzw. Ammonium werden
durch nitrifizierende Bakterien in Nitrit (NO2–) und Nitrat
(NO3–) umgewandelt. Letzteres kann durch Pflanzen
aufgenommen werden (Assimilation). Über die Nah-
rungskette gelangt Stickstoff zu Tieren und Menschen.
Denitrifizierende Bakterien vermögen Nitrat oder Nitrit
wieder in molekularen Stickstoff zurück zu verwandeln.
Durch die sogenannte Ammonifikation gelangen Exkre-
mente und verwesende Organismen als Ammoniak bzw.
Ammonium wieder zurück in den Kreislauf.
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

376
37
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Der Stickstoff-Kreislauf als Treibmittel in Sprays, zum Verdünnen leicht


entzündlicher Gase usw. In der chemischen In-
Pflanzen und Tiere sind auf Stickstoff zum dustrie bildet Stickstoff den Rohstoff für die
Aufbau lebenswichtiger Moleküle angewiesen, Synthese von Verbindungen wie Ammoniak,
können ihn aber nicht direkt aus der Luft ent- Aminen, Cyaniden oder Nitriden, die wiede-
nehmen. Zum Aufbrechen des sehr reaktions- rum Ausgangsmaterial für zahlreiche weitere
trägen Stickstoffmoleküls ist sehr viel Energie chemische Produkte sind, ferner für die Her-
notwendig (946 Kilojoule/mol). Sie benötigen stellung von Kunstdünger. Flüssiger Stickstoff
deshalb die Mithilfe von Stickstoff sammelnden wird aufgrund seines niedrigen Siedepunkts von
Mikroorganismen wie Cyanobakterien, Azo- –195,79 °C als Kältemittel in der Lebensmittel-
tobacter oder Knöllchenbakterien. Letztere le- technologie, in der Pharmaindustrie und in der
ben in Symbiose u. a. mit Leguminosen (Erbsen Medizin genutzt.
und Bohnen). Die Mikroorganismen reduzieren
den molekularen Stickstoff und binden ihn als
Ammoniak (NH3). Dieser reagiert im sauren Wasserstoff –
Bodenmilieu unter Aufnahme von Wasserstoff- Ein brandgefährliches Gas
ionen zum Ammonium-Ion (NH4+). Dieses wird
von aeroben Bakterien als Energiequelle für Wasserstoff wurde zwar 1766 vom engli -
ihren Stoffwechsel genutzt. Dabei oxidiert eine schen Chemiker H ENRY C AVENDIS A H en t -
Gruppe von Bakterien die Ammonium-Ionen deckt, jedoch erst von seinem französischen
zunächst zu Nitrit (NO2–) und eine weitere Kollegen A N T OINE L AU REN T DE L AV A O I S IE R
dieses zu Nitrat (NO3–). Letzteres wird von als gasförmiges Element erkannt. Letzter gab
den Pflanzen als Nährsalz aufgenommen. Alle ihm den Namen Hydrogenium, Wasserbildner,
übrigen Organismen, also Tiere und Menschen, als er entdeckt hatte, dass dieses Gas neben
können den Stickstoff nur in dieser Form auf- Sauerstoff Bestandteil des Wassers ist.
nehmen und verwerten. Nach dem Absterben In unserem Sonnensystem ist das Was-
der Organismen bauen andere im Boden und serstoffatom mit 93 Prozent das häufigste
im Wasser lebende Mikroorganismen oder Pilze aller Atome und hat 75 Prozent Massenan-
(Destruenten) diese komplexen Stickstoffver- teil; unsere Sonne besteht nämlich zu 84 Ge-
bindungen wieder ab und setzen Ammonium wichtsprozent aus diesem Gas. Im Universum
frei, welches wieder in den Boden gelangt und entstand neutraler Wasserstoff ca. 380 000
dort von nitrifizierenden Bakterien zu Nitrat Jahre nach dem Urknall durch eine Vereini-
oxidiert werden kann. Das bedeutendste Reser- gung von einem Proton mit einem Elektron als
voir für den organischen Stickstoffkreislauf ist erstes Element (Å Entkopplung der Strahlung,
der Humus. Denitrifizierende Bakterien gewin- S eite 495 ) . Auf der Erde hat Wasserstoff
nen Energie, in dem sie aus Nitrat oder Nitrit einen Massenanteil von 0,12 Prozent, in der
wieder Stickstoffmoleküle gewinnen und in die Erdkruste von 2,9 Prozent. Hier kommt Was-
Atmosphäre abgegeben. serstoff fast nur in Verbindungen wie Kohlen-
Analoge Kreisläufe finden auch in Gewässern wasserstoffen (CxHy) oder Wasser (H2O) vor.
statt und natürlich trägt der Mensch durch die In der Atmosphäre ist molekularer Wasserstoff
Produktion von Stickoxiden und Düngemitteln (H2) mit einem Anteil von 0,55 ppm äußerst
zum Ammoniakeintrag in Böden und Gewässer selten, zu finden nur in den obersten Schichten
bei. der Atmosphäre. Weltweit jährlich ca. 350
Millionen Tonnen chemisch erzeugter Wasser-
Wirtschaftliche Bedeutung stoff weisen auf die wirtschaftliche Bedeutung
dieses Stoffes hin.
Stickstoff wird aufgrund seiner wirtschaftlichen
Bedeutung und Nutzbarkeit in umfangreichen Wasserstoff als Element
Mengen synthetisch vor allem durch Frakti-
onierung flüssiger Luft gewonnen. Aufgrund Wasserstoff ist ein gasförmiges Element, das im
seiner Reaktionsträgheit dient er als Inert- oder Periodensystem an erster Stelle steht. Molekula-
Schutzgas in der Elektro- und Metallindustrie, rer Wasserstoff bildet ein farb-, geruchs- und ge-

377
KAPITEL 7 Luft

schmacksloses, leicht brennbares Gas. Natürlicher also mehr als jeder andere chemische Brenn-
Wasserstoff hat drei Isotope, nämlich Protium stoff, aber seine Erzeugung ist sehr energie-
(1H, 99,98 Prozent Anteil), Deuterium (schwe- aufwändig und teuer, günstige Speichermedien
rer Wasserstoff, 2H, 0,015Prozent Anteil) sowie noch nicht vorhanden. Eventuell lohnt sich eine
Tritium (3H, in winzigen Spuren), die sich in der biologische Erzeugung durch spezielle Algen.
Anzahl ihrer Neutronen im Kern unterscheiden.
Während die ersten beiden Isotope stabil sind,
ist Tritium instabil und damit radioaktiv. Reaktionsträge Sonderlinge
Normaler Wasserstoff ist das leichteste Ele-
ment mit einer Dichte von 0,0899 g / l. Diese Am Ende jeder Periode des Periodensystems steht
Eigenschaft verleihen ihm eine hohe Auftriebs- eines der gasförmigen Elemente der 18. Gruppe,
kraft, welche in der frühen Luftschifffahrt ge- die nach ihrem chemisch ähnlichen Verhalten
nutzt wurde. Flug- und transportfähige Reisebal- als Edelgase bezeichnet werden. Sie alle sind Be-
lons im 19. Jahrhundert waren mit Wasserstoff standteile der Luft, jedoch in winzigen Mengen.
gefüllt, ebenso die Zeppeline des 20. Jahrhun- Zusammen haben Helium (He), Neon (Ne), Ar-
derts bis zur Brandkatastrophe von Lakehurst gon (Ar), Krypton (Kr), Xenon (Xe) und Radon
bei New York im Mai 1937. Damals fing ein (Rn) nur einen Anteil von 0,935 Volumenpro-
großer, mit ca. 200 000 m3 Wasserstoff gefüllter zent, davon entfallen 0,9337 Volumenprozent
Zeppelin beim Landeanflug Feuer und brannte auf Argon. Alle anderen zählen zu den Spuren-
innerhalb weniger Minuten völlig aus. elementen. Im Weltraum dagegen ist Helium das
Wasserstoff wird bei – 252,9°C flüssig und hat zweithäufigste Element nach dem Wasserstoff.
einen niedrigen Schmelzpunkt von – 258,95 °C; Da frühere Chemiker zuvor unbekannte Ele-
er ist in Wasser kaum löslich, 100 g Wasser lösen mente mit Hilfe von Reaktionen nachgewiesen
bei 20 °C nur 2 ml H2. Wasserstoff ist bei dieser haben, wurden bis auf Helium alle Edelgase auf
Temperatur ziemlich inert, bei hohen Tempe- der Erde recht spät zwischen 1894 und 1900
raturen aber sehr reaktionsfreudig. Er reagiert vom schottischen Chemiker WILLIAM RAMSAY A
nicht nur mit freiem Sauerstoff, sondern entzieht (1852 – 1916) und Mitarbeitern identifiziert; der
Sauerstoff auch Verbindungen. Wasserstoff bildet Entdecker des Radons war der deutsche Physiker
ein starkes Reduktionsmittel, er verbindet sich FRIEDRICH ERNST DORN (1848–1916).
mit den Elementen der 4. bis 7. Hauptgruppe zu
7-27 flüchtigen bzw. gasförmigen Stoffen und reagiert Eigenschaften der Edelgase
Edelgase. Edelgase sind mit Metallen und Nichtmetallen zu Hydriden.
aufgrund ihrer gefüllten
äußeren Schalen sehr re-
Industriell interessante Eigenschaften sind sein Die hervorragendste Gruppeneigenschaft aller
aktionsträge, was sich be- hohes Diffusions- und Effusionsvermögen sowie Edelgase ist ihre Reaktionsträgheit. Weil bei
sonders bei den leichteren mit 0,18 W / (m · K) die höchste Wärmeleitfähig- ihnen die jeweils äußerste Schale voll besetzt ist
Edelgasen in einer hohen
keit von Gasen. Aufgrund ihrer geringen Größe (Å Das Auffüllen von Orbitalen, Seite 135),
Ionisierungsenergie äußert
(Wasserstoff hat eine Ioni- diffundieren Wasserstoffmoleküle durch Metalle reagieren sie nur mit stark elektronegativen
sierungsenergie 13,6 eV). wie Eisen oder Platin. Elementen wie Fluor, Chlor oder Sauerstoff
Die in der Tabelle aufge- Wasserstoff wird zur Kraftstoffveredelung, zu echten chemischen Verbindungen. Bis 1962
führten Ionisierungsener-
gien beziehen sich auf zum Hydrocracken von Rohöl (Å Abbildung kannten die Chemiker keine einzige Verbindung
das erste Elektron in der 6-60, Seite 347), zum Schmelzen von Metallen mit Edelgasen. Inzwischen sind einige stabile
äußersten Schale. Auch oder zur katalytischen Hydrierung von ungesät- Fluoridverbindungen mit den Edelgasen Xe-
die niedrigen Schmelz-
und Siedepunkte sind tigten Pflanzenfetten (ÅKasten Fettsäuren, Seite non und Krypton bekannt. Die Verbindungen
auf die energetisch sehr 336) genutzt. Etwa 75 Prozent des industriell werden dadurch erreicht, dass ein oder mehrere
günstige Elektronenkonfi- erzeugten Wasserstoffs werden beim Haber- Elektronen aus dem p-Orbital in das nicht be-
guration zurückzuführen.
Helium hat den geringsten Bosch-Verfahren zur Synthese von Ammoniak setzte d-Orbital angehoben werden.
Schmelzpunkt aller Stoffe (N2 + 3 H2 → 2 NH3) verbraucht. Sehr umstrit- Alle Edelgase sind ungiftig, geruchs- und ge-
und kann nur unter einem ten ist die Nutzung molekularen Wasserstoffs schmacklos sowie unbrennbar. Im Gegensatz zu
Druck von fast 30 bar in
den festen Zustand über-
als Energielieferant in Brennstoffzellen. Zwar allen anderen Gasen liegen Edelgase einatomig
führt werden. enthält er 33,3 Wattstunden pro Kilogramm, vor. Ihre Atome werden durch die schwachen

Helium (He) Neon (Ne) Argon (Ar) Krypton (Kr) Xenon (Xe) Radon (Rn)
Ordnungszahl 2 10 18 36 54 86
Elektronenkonfiguration 1s2 [He] 2s2 2p6 [Ne] 3s2 3p6 [Ar] 3d10 4s2 4p6 [Kr] 4d10 5s2 5p6 [Xe] 4f14 5d10 6s2 6p6
Ionisierungsenergie (eV) 24,6 21,6 15,8 14,0 12,1 10,7
0,319 K
Schmelzpunkt (bei 1 atm) 24,57 K 84,0 K 116,2 K 161,4 K ca. 202 K
(3HE, 29,315 bar)
Siedepunkt (bei 1 atm) 3,1905 K 27,09 K 87,295 K 119,79 K 165,03 K 211,9 K
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Van-der-Waals-Kräfte (Å Bindungsarten und silber als Leuchtmittel. Argon wird als Schutzgas
Bindungsstärken, Seite 145) zusammengehal- beim Lichtbogenschweißen verwendet, Helium
ten, daraus resultieren niedrige Schmelz- und mit einer Dichte von 14 Prozent gegenüber der-
Siedepunkte (Å Tabelle 7-27). Alle Edelgase jenigen der Luft als Füllung für Luftballons oder
haben aufgrund der stabilen Elektronenkonfi- als Zusatz zu Tauchgasen. Flüssiges Helium wird
guration die höchste Ionisierungsenergie ihrer als Kühlmittel in der Tiefsttemperatur-Technik
Periode, die aber zu Radon hin abnimmt. genutzt (ÅSuperflüssigkeiten, Seite 355).

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


Gewinnung und Verwendung
Methan – Klimaschädling und
Zwar sind die Edelgase als Luftbestandteile un- Hoffnungsträger
bedeutend, dafür sind aber vor allem Helium
und Argon von wirtschaftlichem Nutzen. He- M et h an (Met h y l wassersto ff , CH 4) ist ein
lium kann in ausreichenden Mengen aus Erdgas brennbares Gas, das durch mikrobakterielle
gewonnen werden, Argon fällt bei der fraktio- Zersetzung organischen Materials entsteht. Im
nierten Destillation von Sauerstoff und Stickstoff marinen Bereich ist das Gas ein Stoffwechsel- 7-28
aus flüssiger Luft sowie bei der Synthese von produkt verschiedener anaerober Bakterien, Brennender Eisklumpen.
Beim Schmelzen des Eises
Ammoniak als Nebenprodukt an. Jährlich wer- die in 1000 – 3000 m Tiefe am Meeresboden
eines Methanhydratklum-
den so ca. 1 Million Tonnen gewonnen. organisches Material umwandeln. Die in großer pens wird das Methan
Alle übrigen Edelgase werden nur durch Meerestiefe gebildeten Methangase steigen in frei und kann entzündet
fraktionierte Destillation von Luft gewonnen. Sedimente am Kontintalhang auf, wo sich aus werden.

Bei ihnen liegt die Menge meist weit unter einer Methangas und Wasser bei niedrigen Tempera-
Tonne pro Jahr. Edelgase dienen als Füllungen turen und hohen Drücken Methanhydrat bildet.
für Gasentladungslampen, wo sie in unterschied- Auf dem Festland wird Methan ständig in der
7-29
lichen Farben leuchten. Dem Tageslicht am Erdkruste und beim Verfaulen pflanzlichen Ma-
Clathrate. Wassermole-
nächsten kommt Xenon, weshalb es für Schein- terials oder durch tierische Verdauung neu gebil- küle können im Eis über
werfer („Xenonlicht“) und für Kinoprojektoren det und freigesetzt, pro Jahr ca. 600 Millionen Wasserstoffbrücken (links
genutzt wird. Herkömmliche „Neon“röhren ent- Tonnen. Methan ist ein wichtiger Energieträger, oben) Käfige bilden, die
sich zu Kristallen zusam-
halten allerdings kein Edelgas, sondern Queck- der in zweierlei Ausbildung verfügbar ist: physi- menlagern. Der kleinste
kalisch eingelagert in Hohlräumen, sogenannten Käfig ist der Pentagondo-
Käfigstrukturen (Clathraten) als Methanhydrat dekaeder (Zwölfflächner
aus Fünfecken, 512), der
Gashydrate und als freier Hauptbestandteil eines Gasgemi- kleine Moleküle wie Me-
sches im Erdgas. than gut aufnehmen kann
Gashydrate nennt man eisähnliche, kristal- (links unten). Die darge-
stellte Struktur ist die ein-
line Festkörper, bei denen Gasmoleküle in Brennendes Eis – fachste Clathrat-Struktur,
einem Gerüst aus gefrorenen Wassermolekü- Energiequelle der Zukunft? die neben 2 Dodekaedern
len eingeschlossen sind. Die Gerüstmoleküle 6 Käfige aus jeweils 12
Pentagonen und 2 Hexa-
sind über Wasserstoffbrücken verbunden und Eigentlich klingt es widersinnig, dass Eis brennt: gonen (51262) pro Elemen-
umschließen ein Gasmolekül käfigartig. Sie Abbildung 7-28 zeigt jedoch, wie eine Flamme tarzelle besitzt.
gehören zu den Clathraten (lat. clatratus, ein-
gesperrt, ÅAbbildung 7-29). Auf natürliche
Weise bilden sich Gashydrate bei Tempera-
turen nahe 0 °C und Drücken ab ca. 20 Bar.
Zentrale Gasmoleküle können Schwefelwas-
serstoff (H2S), Kohlendioxid (CO2) oder
Stickstoff (N2) sein, mehr als 90 Prozent sind
aber Methanmoleküle (CH4). Aufgrund der
erforderlichen hohen Drücke und tiefen Tem-
peraturen sind Gashydrate im Meer in Tiefen
ab 190 Metern unter dem Meeresspiegel und
in festländischen Permafrostgebieten ab ca.
100 Metern stabil.
KAPITEL 7 Luft

aus einem Eisklumpen züngelt, doch das Eis selbst Butan (C4H10), Ethen (C2H4), ferner Schwefel-
brennt nicht, sondern ausströmendes Methan. In wasserstoff (H2S), Stickstoff (N2) sowie bei eini-
diesem Falle ist das Methan in Eiskristallen als gen Sorten bis zu 9 Prozent Kohlendioxid (CO2).
zentrales Molekül eingeschlossen, und bildet soge- Von allen fossilen Energieträgern hat Erdgas
nanntes Methanhydrat (ÅKasten Gashydrate). den geringsten Kohlenstoff-, aber dank Methan
Die ersten Methanhydratvorkommen wurden 1971 (CH4) den höchsten Wasserstoffgehalt.
im Schwarzen Meer entdeckt, inzwischen sind an Erdgas ist ein ungiftiges, farb- und geruch-
den Ozeanrändern aktiver Subduktionszonen loses, brennbares Gas, dem jedoch oft ein Duft-
(ÅWir leben auf einer „Eierschale“, Seite 224), stoff zum Erkennen beigegeben wird. Seine
in den Kontinentalhängen kalter Zonen, in den Zündtemperatur liegt bei 600 °C. Es ist leichter
subpolaren Permafrostgebieten sowie unter dem als Luft (ca. 0,81 kg / m3). Bei – 162 °C wird es
Eis der Antarktis reiche Vorkommen entdeckt wor- r flüssig und nimmt dann nur noch ein Sechshun-
den. Der Brennwert von Methan (bei 25 °C) liegt derstel seines ursprünglichen Volumens ein.
bei 55,5 MJ / kg und ist damit höher als der von Erdgas wurde in geologisch älteren Zeit-
Erdöl. Methanhydrate werden als die Energiequelle abschnitten aus biologischen Reststoffen auf
der Zukunft eingestuft, sollen doch darin nach zweierlei Weise gebildet. Bei der terrestrischen
Schätzungen ca. 10 000 Gigatonnen Kohlenstoff Bildung g fand in ausgereiften Kohlenlagerstätten
gespeichert sein, ein Mehrfaches aller festländlichen (ÅVersteinerte Pflanzenreste, Seite 241) nach
Kohlenstoff-Energieträger zusammen. deren tektonischer Absenkung in Tiefen zwi-
Doch die Nutzung dieses Energiereservoirs schen 4000 und 6000 m bei hohem Druck und
wird auch als gefährlich angesehen. Zum einen hoher Temperatur eine Nachinkohlung statt.
fungieren die Gashydrate in den Lockersedimen- Dabei werden Sauerstoff und Methan verdrängt
ten der Kontinentalhänge als stabilisierender und durch Kohlenstoff ersetzt. Obgleich diese
Zement (ÅSedimentgesteine, Seite 237). Viele Erdgasbildung vom Devon bis ins Tertiär (ÅKas-
Geologen befürchten, dass eine Entnahme der ten Geologische Zeitskala, Abbildung 5-30, Seite
Gashydrate zur Hanginstabilität, zum Abgang 238) anhielt, lag der Schwerpunkt vom Karbon
von riesigen Hangrutschungen und letztlich zum bis in die Trias.
Entstehen gewaltiger Tsunamis führen kann. Bei der marinen Bildung wurde Erdgas
Zum anderen ist Methan ein 30-mal wirksame- ebenso wie Erdöl unter Luftabschluss aus Plank-
res Treibhausgas als das oft angeführte Kohlen- tonresten als Folge der Aktivität von Bakterien
dioxid. Bei einer Ausbeutung der Gashydrate gebildet (ÅBildung von Erdöl und Lagerstätten,
besteht die Gefahr, dass größere Mengen von Seite 344). Bakterielle Zersetzungsprodukte
Methan in die Atmosphäre entweichen kön- wurden über Kerogene unter entsprechenden
nen. In einem Liter Methanhydrateis sind bis Druck- und Temperaturverhältnissen in gasför-
zu 163 Liter Methan gebunden, die bei dessen mige Kohlenwasserstoffe umgewandelt. Dieser
Schmelzen freigesetzt werden. Infolge der zu er- Bildungsprozess läuft ab, seit Leben im Meer
wartenden atmosphärischen Erwärmung würde existiert, die Hauptbildungphase lag in den war-
sich auch das Meer erwärmen; dadurch würden men, planktonreichen Meeren der Jura- und
wiederum die Methanhydrate am Meeresboden Kreidezeit.
instabil und weiteres Methan erweichen. A ufgrund beider Bildungsprozesse sind
reichhaltige Erdgaslager weltweit zu finden.
Methan aus dem Erdinneren – Erdgas Erdgasvorkommen können im Gegensatz zu
Erdöllagerstätten zu fast 100 Prozent ausge-
Ein weiteres, heute als Energieträger und Brenn- beutet werden, weil das leichte Gas so lange
stoff genutztes, umfangreiches Methanreservoir aufsteigt, bis die Gasblase völlig entleert ist. Und
ist das Erdgas. Dabei handelt es sich um ein der Transport zu den Verbrauchern wird durch
fossiles Gasgemisch. Je nach Sorte besteht dieses starke Volumenabnahme bei der Verflüssigung
Gasgemisch zu 65 – 99 Prozent aus Methan; je selbst aus entlegenen Regionen erleichtert. Mit
höher der Methangehalt ist, desto höher ist der schwindenden Erdölreserven avanciert Erdgas
Brennwert von Erdgas. Mit wechselnden Antei- immer mehr zu einem wichtigen privaten Brenn-
len enthält Erdgas andere gasförmige Kohlen- stoff, industriellen Energieträger und Rohstoff
wasserstoffe wie Ethan (C2H6), Propan (C3H8), sowie Treibstoff. —

380
KAPITEL 8

Feuer
Geschichte und Mythologie
Feuer und Flamme
Plasma

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Zum achten Kapitel

Das Feuer brachte wohl den Unterschied. Es trennt den diejenige, die uns in Form der Sonne nicht lebensfeindlich
Menschen vom Tier. Seine Beherrschung ist wie kein anderes entgegen tritt, sondern ohne die wahrscheinlich überhaupt
Ereignis in der Vorgeschichte ein Symbol – das Symbol für kein Leben möglich wäre.
die Zähmung der Natur durch den Menschen und für den
Beginn der menschlichen Zivilisation überhaupt. Noch heute
spüren wir die Macht dieses „Elements“. Wie kaum etwas
anderes, vermag uns die Begegnung mit allen Erscheinungs-
formen des Feuers in besondere Stimmungen zu versetzen.
Der Schein einer einfachen Kerze, das Lodern und Knacken
des Lagerfeuers, ein behaglicher offener Kamin im Winter,
das Zucken von Blitzen oder das Glutmeer eines Sonnen-
untergangs – niemand kann sich der Faszination dieses
aktivsten der antiken „Elemente“ entziehen.
Und doch: Feuer war und ist immer auch unheimlich. Es
ist auf einer bestimmten Ebene dem Leben ähnlich und doch
das lebensfeindliche Element schlechthin, stets verbunden
mit der Gefahr von Verletzung und Vernichtung. Die sagen-
haften feuerspeienden Drachen gab es nie, denn Leben und
Feuer vertragen sich schlecht bei zu engem Kontakt. Kein
Tier auf der Erde, außer dem Menschen, hat gelernt, das
Feuer zu zügeln. Das nur mühsam beherrschbare Wilde und
Furiose, das ihm in fast allen seinen Erscheinungsformen zu
eigen ist, rührt von der hohen Energie her, die die „Feuer-
materie“ kennzeichnet.
Als Kind haben wir uns vielleicht mehrfach gefragt, was
das denn sein mag, das so ungreifbar – unbegreifbar – in
den Flammen wohnt. Diese Frage fand Antworten – es ist
lange kein Geheimnis mehr. Der „Stoff der Flammen“ ist
natürlich kein Element im chemischen Sinne, sondern „nur“
eine besondere Erscheinungsform der ganz gewöhnlichen
chemischen Elemente. Ein Aggregatzustand, wenn auch der
am wenigsten bekannte, Plasma genannt. Doch das Verste-
hen und Benennen mancher Aspekte des Feuers hat nichts
von der ursprünglichen Faszination und der Magie dieser
Erscheinung weg genommen, sondern im Gegenteil viele
unvermutete Zusammenhänge hervorgezaubert.
Obwohl uns Menschen der „Stoff, aus dem die Flammen
sind“ von allen antiken Elementen am fernsten liegt, ist das
Plasma, ein ganz besonderes „Feuer“, tatsächlich der im
Universum am weitesten verbreitete Zustand gewöhnlicher
Materie. Schätzungsweise mehr als 99 Prozent liegen in die-
sem Aggregatzustand vor. Plasma ist somit die natürlichste
Erscheinungsform der Materie überhaupt, diejenige, mit der
alles Materielle in unserer Welt begann. Und nicht zuletzt
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Feuer

Geschichte und Mythologie Felsen gekettet und grausam bestraft. Täglich


fraß fortan ein Adler von seiner Leber, die jede
Der Stoff aus dem die Flammen sind Nacht wieder nachwuchs.
Tatsächlich markierten der Zugang zum
Wenn wir an einem der langen Winterabende eine Feuer und seine Beherrschung den Beginn der
Kerze betrachten, die vor uns auf dem Tisch steht menschlichen Zivilisation viel deutlicher als alle

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und die den Raum in ihr warmes Licht taucht, anderen Errungenschaften, deutlicher noch als
dann sind uns unsere fernen Vorfahren ganz nah. der Gebrauch von Werkzeugen, die Erfindung
Öllampen im Altertum mögen mit ihrem Licht der Landwirtschaft oder des Rades.
ganz ähnliche behagliche Stimmungen aus der Vermutlich wurde das erste Feuer auch tat-
Finsternis gezaubert haben. Wärme und Licht sächlich der Natur „geraubt“. Eine sehr wahr-
waren in der ganzen Zivilisationsgeschichte ver- scheinliche Hypothese für das im Dunkel der
knüpft mit diesem leuchtenden Materiezustand, Vorgeschichte versunkene Ereignis ist, dass ein
für den Flammen typisch sind, und den wir heute mutiger frühmenschlicher „Prometheus“ sich
wissenschaftlich als Plasma bezeichnen. an die Reste eines natürlichen, etwa durch Blitz-
Wenn wir an Wärme und Licht denken, liegt schlag entstandenen, Brandes heranwagte, ein
die Assoziation zu Feuer nie fern, auch wenn brennendes Holzstück mit sich nahm und seinen
wir diesen Komfort inzwischen zumeist indirekt kostbaren Raub dann vorsichtig weiter nährte
über Zentralheizungen und elektrische Leucht- und erhielt. Man sollte das nicht allzu wört-
mittel beziehen. Aber stets steht das gute alte lich nehmen. Bestimmt wiederholte sich dieses
Feuer noch Pate, wenn es darum geht, die Ener- Szenario unzählige Male. Manches Feuer wird
gie von Brennstoffen wie Kohle, Öl oder Erdgas wieder erloschen sein, und vermutlich musste
in Elektrizität umzuwandeln oder als Wärme im es so mancher „Prometheus“ erneut stehlen,
Brenner der Zentralheizung frei zu setzen. bevor unsere Ururahnen lernten, Feuer gezielt
Und nicht zuletzt empfinden wir das Feuer zu entfachen und zuverlässig zu erhalten.
(von althochdeutsch: fiur), das Lodern einer Der früheste uns bisher bekannte Beleg für
Flamme, als etwas fast Lebendiges. Wir werden eine gezielte Anwendung des Feuers wurde auf
im letzten Kapitel des Buches auf die zufälligen, ca. 800 000 v. Chr. datiert. Es sind einseitig
trotzdem aber erstaunlichen Gemeinsamkeiten angekohlte Flintsteine und Reste angesengten
dieser beiden Erscheinungen zurückkommen. Holzes mehrerer Pflanzengattungen aus einer
Fundstelle in Israel. Ihre Verteilung lässt auf
Abglanz des Götterfeuers einzelne erhitzte Stellen schließen, wie man sie
bei einfachen Feuerstellen erwarten sollte.
Nach der bekannten griechischen Mythologie
formte der Titan Prometheus die ersten Men- Hokus, Pokus, Fidibus
schen aus dem Ton der Erde und hauchte ihnen
mit Hilfe der Göttin Athene die Vernunft ein. Um Feuer zu machen, haben sich die Menschen 8-1
Nach einem Betrugsversuch des Prometheus an in der Folge allerlei ausgedacht. Alle Methoden Alchemistisches Symbol.
Die Alchemisten verwen-
Zeus wollte dieser den Menschen das Feuer für beruhten auf Reibung, so etwa der Feuerbohrer,
deten als Symbol für das
immer vorenthalten. Prometheus jedoch stahl es bei dem ein Holzstab sehr schnell zwischen den „Element“ Feuer bzw. als
vom Himmel, indem er den trockenen Stängel Händen oder unter Zuhilfenahme eines Bogens Anweisung für die Be-
handlung ihrer Rezepturen
eines Riesenfenchels am Sonnenwagen entzün- und einer Schnur in einem Stück Hartholz ge-
als Geheimzeichen ein
dete und das erste Feuer zur Erde brachte. Der dreht wird. Ebenso funktioniert der bei einigen auf der Basis stehendes
Unsterbliche wurde dafür von Zeus an einen steinzeitlichen Kulturen noch immer verwendete Dreieck.

383
KAPITEL 8 Feuer

Feuerpflug mit einer linearen statt drehenden dass es früher kein einheitliches Gerät, sondern
Bewegung. Sorgt man im richtigen Augenblick eine Ansammlung der nötigen Utensilien war.
für leicht entzündliche Stoffe an den heißen Später wurde der Flint durch speziellen kohlen-

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Stellen oder im Bereich entstehender Funken, stoffreichen Stahl als Funkenauslöser ersetzt.
so kann Glut entstehen und durch Anblasen Auch diese Methode beruht letztlich auf Reibung
(Sauerstoffzufuhr) daraus eine offene Flamme. und wird ähnlich noch in manchen Feuerzeugen
Optimal geeignet als erstes Brennmaterial ist verwendet. Vielfach aber wird heute statt der
der sprichwörtlich leichtentzündliche Zunder, Reibung die elektrische Zündung durch einen
hergestellt aus vermodertem Holz oder aus piezoelektrisch entstehenden Funken eingesetzt
8-2
Zunder. Einige Arten von bestimmten Baumpilzen (Zunderschwamm). (Å Kasten Piezoelektrischer Effekt).
Baumpilzen lassen sich Wie schnell ein im Prinzip brennbarer Stoff Seit ca. 1827 wurden Streichhölzer benutzt,
getrocknet zu Zunder ver- Feuer fängt, hängt entscheidend davon ab, wie die auf Reibung basierten. Schwefelhölzer, die
arbeiten.
fein verteilt er ist. Kleinere Partikel haben im man leicht mit Zunder entflammen konnte, wa-
Verhältnis zu ihrem Volumen eine viel größere ren in China seit dem 10.Jahrhundert bekannt, in
Oberfläche, über die Wärme übertragen werden Europa erschienen sie im 16. Jahrundert. Streich-
und Sauerstoff zutreten kann. Bei brennbaren hölzer enthielten anfangs allerdings starke Gifte
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Stäuben (wie Mehl) kann dieser Effekt sogar zu wie weißen Phosphor und konnten sich leicht
gewaltigen Explosionen führen. durch Reibung selbst entzünden. Die seit 1850
Über einen brennenden Span oder Papier- gebräuchlichen Sicherheitszündhölzer vermei-
streifen, den heute kaum noch geläufigen „Fi- den diese Gefahren weitgehend. Ihr Zündkopf
dibus“, wird ein entstandenes Feuer auf nicht besteht aus Schwefel oder Antimon-(V)-sulfid
so leicht entzündliche Brennstoffe übertragen. in Mischung mit dem starken Oxidationsmittel
8-3 Dass die Methoden, Feuer durch Reibung zu Kaliumchlorat (KClO3) sowie Farb- und Binde-
Fidibus. Heute kaum noch erzeugen, bei genügendem handwerklichem mitteln. Solche Gemische lassen sich nur schwer
geläufige Bezeichnung für
Geschick zum Erfolg führt, liegt einfach daran, durch Reibung entflammen. Allerdings ändert
einen Anzünder.
dass Wärme nichts anderes ist als Bewegung der sich dies krass, wenn auch nur kleinste Mengen
Atome, die durch Reibung angestoßen werden von Phosphor hinzu kommen. Die unberechen-
kann. Bei genügend hoher Temperatur wird bare Brisanz vieler Mischungen von Phosphor
die Aktivierungsenergie erreicht, und die Ver- und Kaliumchlorat ist angehenden Chemikern
brennungsreaktion setzt ein. Danach wird das wohlbekannt und hat schon manchem jugend-
Feuer durch die frei werdende Reaktionsenergie lichen Experimentator ganze Finger oder mehr
BILDNACHWEIS, S. 529
LDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS

aufrecht erhalten. gekostet. Die Reibflächen von Sicherheitszünd-


Als Feuerzeug diente seit der Jungsteinzeit hölzern bestehen aus geringen Mengen roten
(ab ca. 9500 v. Chr.) Feuerstein (Å Abbildung Phosphors und Glaspulver zur Erhöhung der
BILDRECHTE

8-4) und Pyrit (ÅAbbildung 8-5). Pyrit lieferte Reibung (Å Abbildung 8-8). Nur an der Berüh-
8-4 den Funken beim Aneinanderschlagen der Steine. rungsfläche kann es durch Abrieb zur Mischung
Flint. Die weit verbreitete
Das Wort Feuer„zeug“ deutet noch darauf hin, kommen, so dass das Streichholz zündet.
Quarzvarietät wird seit der
Urzeit für Werkzeuge und
als Feuerstein eingesetzt. Piezoelektrischer Effekt

Kristallen wie Quarz und auch einige andere Effekt (griech. piezo, ich drücke). Umgekehrt
Stoffe wie Å Keramiken (Seite 188) bilden un- führt das Anlegen einer Spannung an solche
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

ter mechanischem Druck Oberflächenladungen Stoffe zur Längenänderung in einer Richtung.


aus. Man bezeichnet dies als piezoelektrischen
8-6
Piezoelektrizität. In einem Quarzkristall entstehen bei
Einwirkung einer Kraft Oberflächenladungen. Es findet
8-5 eine Verschiebung der Zentren positiver bzw. negativer
Pyrit. Eisensulfid (Schwe- Ladungen statt. Ohne Krafteinwirkung fallen die Zentren
felkies, FeS2) ist auch der positiven und negativen Ladungen zusammmen und
unter dem Namen Kat- gleichen sich aus (links). Unter Druck fallen die Ladungs-
zengold bekannt. Mit Flint schwerpunkte nicht mehr zusammen (rechts), und es kann
lassen sich an ihm leicht eine so hohe Spannung entstehen, dass der Ladungsaus-
Funken erzeugen. gleich durch einen Funken (Elektronenstrom) über die
Luft erfolgt, diese wird kurzzeitig in den Plasmazustand
versetzt. Anwendungen des piezoelektrischen Effekts sind
Feuerzeuge und Gasanzünder. Anwendungen der Längen-
384 kontraktion durch Anlegen einer Spannung sind Summer
in Telefonen, Druckköpfe für Tintenstrahldrucker, Ein-
spritzpumpen von Autos, Ultraschallgeräte, Lautsprecher,
Mikrofone, Quarzuhren und Sensoren.
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Andere Methoden, ein Feuer in Gang zu setzen, Feuer und Flamme


sind etwa das Bündeln von Sonnenstrahlen mit ei-
ner Linse, die Entzündung an elektrisch beheizten Chemie und Physik der Verbrennung
Drähten oder Flächen (Herdplatten, Zigaretten-
anzünder im Auto) oder exotherme chemische Verbrennungsvorgänge wurden früher dem Feu-
8-8
Reaktionen. Ein Beispiel für letzteres ist das Pla- erstoff Phlogiston zugeschrieben, der in allen Streichholzkopf und Reib-
tinfeuerzeug des Chemikers JOHANN WOLFGANG brennbaren Stoffen stecken sollte. Sie wurden erst fläche. Bei Sicherheits-
DÖBEREINER, den wir schon in ÅKapitel 4 (Seite von LAVOISIER richtig als Reaktion eines Brenn- zündhölzern kommt es nur
an der Kontaktstelle zwi-
121) durch seine Forschungen zum Periodensys- stoffs mit Sauerstoff gedeutet (ÅLavoisier – Re-
schen Zündholz und Reib-
tem kennen gelernt haben. Beim Platinfeuerzeug volution in der Chemie, Seite 71). fläche zur Vermischung
entzündet sich Wasserstoff durch Kontakt mit Doch nicht jede Verbrennung ist mit Feuer der für die Zündung erfor-
derlichen Chemikalien.
fein verteiltem Platinmetall. Wasserstoffmole- gleichzusetzen. So verbrennen wir etwa bei der
küle können leicht in Platin eindringen, wobei Zellatmung in den Mitochondrien unserer Kör-
die H2-Bindung gelöst wird. Der entstehende perzellen Zucker mit Sauerstoff, ohne dass es
atomare Wasserstoff ist hochreaktiv, wenn er dabei zu einer Flammenerscheinung kommt.
wieder an die Oberfläche diffundiert, und reagiert Auch die Glut von Holzkohle bezeichnen wir
Summenformel der Zucker–
deshalb spontan mit Luftsauerstoff. Berüchtigt meist nicht als Feuer, obwohl sie ihm recht nahe verbrennung im Körper
für seine Selbstentzündlichkeit an der Luft ist kommt. Vielmehr versteht man unter Feuer eine
auch der gefährliche weiße Phosphor, der aus die- heftige Verbrennung, bei der eine sichtbare, of- C6H12O6 + 6 O2
sem Grunde stets unter Wasser gelagert werden fene Flamme entsteht. Die freigesetzte Energie → 6 CO2 + 6 H2O + Energie
muss. In der Raumfahrt wurde Hydrazinhydrat stammt dabei wie bei allen Verbrennungsvor-
und rotrauchende Salpetersäure als bei Kontakt gängen der Differenz der Bindungsenergien im
selbstentzündlicher Flüssigtreibstoff für Raketen verbrennenden Stoff (dem Brennstoff) und in
verwendet. Aber auch einige an sich ganz harm- einem anderen Stoff, der die Verbrennung un-
lose Chemikalien können sich bei der richtigen terhält. Oft enthalten Brennstoffe wie Holz, Öl
Mischung spontan entzünden. In Zeiten geringe- oder Erdgas Kohlenstoff (C) als oxidierbare Sub-
ren Sicherheitsbewusstseins war es ein beliebtes stanz. Der Stoff, der die Verbrennung unterhält,
Experiment, in einem Porzellangefäß etwas was- ist meist der in der Luft enthaltene Sauerstoff
serfreies Glycerin auf Kaliumpermanganatpulver (O2). Ergebnis der Verbrennung von Kohlenstoff
zu träufeln. Nach kurzer Zeit entzündet sich ein ist Kohlendioxid (Kohlenstoffdioxid, CO2). Ver-
solches Gemisch von selbst, und das Glycerin ver- brennungsprodukt der Wasserstoffanteile der oft
brennt mit leuchtend violetter Flamme. Kalium- als Brennstoff verwendeten Kohlenwasserstoffe
permanganat ist ein starkes Oxidationsmittel, ist einfacher Wasserdampf (H2O). Die Ergebnisse
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welches das Glycerin bereits bei Zimmertempe- des Prozesses sind also genau dieselben wie bei
ratur in einer exothermen Reaktion oxidiert und der erwähnten langsamen und nahezu kalten
bis über die Zündtemperatur erhitzt. — „Verbrennung“ von Nahrungsmitteln in unserem
Körper (ÅRandspalte).
8-7
Zur Entstehung eines wirklichen Feuers mit
Spontane Entzündung. einer Flamme ist eine bestimmte Anfangstempe-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

Viele Substanzen ent- ratur notwendig (Entzündungstemperatur). Meist


flammen bei Kontakt 8-9
muss festes oder flüssiges Brennmaterial zunächst Gasfeuerzeuge. In heu-
selbstständig. Hier abge-
bildet ist ein Gemisch von verdampft werden. Zum Beispiel brennt Holz- tigen Gasfeuerzeugen
Kaliumpermanganat und kohle erst ab einer Temperatur von ca. 350 °C, (rechts) wird meist nicht
Glycerin. mehr wie im Modell links
Holz je nach Feuchtigkeit zwischen 220 und Reibung zum Zünden
320 °C und Papier schon ab 185 °C. verwendet, sondern der
Feurige Sprüche Damit sich die Atome in den Molekülen des piezoelektrische Effekt.
Dabei werden unter hoher
Brennstoffs und des Sauerstoffs zu den Mole-
Feuer und Flamme sein mechanischer Belastung
külen der Verbrennungsprodukte umgruppieren (Schlagbolzen) durch
Einen feurigen Liebhaber haben können, müssen zunächst die alten Bindungen Verschiebungen im Kri-
unter Energieaufwand getrennt werden. Dafür ist stallgitter eine sehr hohe
Wie auf glühenden Kohlen sitzen elektrische Spannung und
Aktivierungsenergie erforderlich, die bei höheren somit ein Funkenüber-
Die Kastanien aus dem Feuer holen Temperaturen zur Verfügung steht. Die beim schlag erzeugt.
Ein Freudenfeuer entfachen
Für jemanden durch’s Feuer gehen
385
Die Hand für jemanden ins Feuer legen
Einen Feuerzauber veranstalten
KAPITEL 8 Feuer

Knüpfen der neuen Bindungen frei werdende


Energie ist bei Verbrennungsvorgängen allerdings
höher als die Energie der Bindungen, die für die

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Reaktion getrennt werden müssen (die des O2-
Moleküls und die der C–C- und C–H-Bindungen
in den Brennstoffen). Die Differenz ist die frei
werdende Reaktionsenergie.
Ist ein Feuer erst einmal in Gang gekommen,
reicht die Reaktionsenergie normalerweise aus,
8-10
die Verbrennungstemperatur aufrecht zu erhal- Zonen einer Kerzenflamme.
ten und mehr Brennstoff zu erhitzen. In der
Vermischungszone der heißen brennbaren Gase Anatomie einer Kerze
und der Umgebungsluft entsteht eine Flamme.
Entzieht man einer Flamme jedoch zu viel Beim Entzünden einer Kerze wird zunächst unter
Wärme, so erlischt sie. Dieses Prinzip kommt Energiezufuhr ein Teil des festen Brennstoffs
bei Kerzenlöschern zur Anwendung, die meist Wachs (meist Paraffine oder Ester von Fettsäu-
aus einer Metallspirale oder einem Metallbecher ren) geschmolzen und verdampft. Erreicht der
mit Griff bestehen. Dampf die Zündtemperatur, so setzt eine Ver-
brennung (Oxidationsreaktion des Kohlenstoffs
und Wasserstoffs unter Einwirkung des Luftsau-
Flammen erstoffs) ein, die ca. 2 kJ (Kilojoule) Energie pro
Gramm liefert – mehr als genug, um weiteres
Obwohl oft mit Feuer synonym gebraucht, ist Wachs zu erwärmen und zu verdampfen (dafür
mit „Flamme“ wie oben erläutert nur der Teil sind ca. 0,5 kJ pro Gramm notwendig) und die
eines Feuers gemeint, der neben Wärmestrahlung Reaktion damit in Gang zu halten. Beachtens-
auch sichtbares Licht aussendet. Manche Fla- wert ist, dass es dabei nicht zu einer explosiven
men sind heiß genug, um die Verbrennungsgase Kettenreaktion kommt, weil Brennstoff und Sau-
wenigstens teilweise zu ionisieren, also in den erstoff nicht bereits gemischt vorliegen, sondern
Plasmazustand zu überführen. zunächst in die Verbrennungszone nachströmen
müssen. Nur in einer Grenzschicht zwischen
beiden Medien kann es zur Reaktion kommen
Exotische Flammen (Å Abbildung 8-10).

Auch andere heftige Reaktionen von „Brennstoffen“ können unter Flammenfärbungen


Flammenerscheinungen ablaufen, so etwa die Verbrennung von Metallen.
Tatsächlich verbrennen viele reaktionsfähige Metalle (etwa Natrium, Einem Plasmazustand verdanken wir auch die
Kalium oder Magnesium) sehr heftig. Letzteres so energiereich, dass als herrlichen Farben jedes Sylvesterfeuerwerks. In
verbrennungsunterstützender Stoff sogar der Sauerstoff aus Wassermo- Flammen eingebrachte Salze metallischer Ele-
lekülen dienen kann. Magnesiumfackeln brennen deshalb auch unter mente mit nur schwach gebundenen Außenelek-
Wasser weiter und werden von Tauchern genutzt. Genau genommen tronen werden zum Teil ionisiert. Sie senden
können Flammen auch Begleiterscheinungen energiereicher Reaktionen durch Elektronenübergänge Licht oft charak-
sein, wie sie auf der Erde überhaupt nicht natürlich vorkommen. So teristischer Farbe aus (ÅAbbildung 4-28, Seite
würde Sand, SiO2, in einer Fluoratmosphäre unter Leuchterscheinungen 393). Elemente mit typischen Flammenfärbun-
„verbrennen“. Voraussetzung ist lediglich, dass in einer Grenzzone zwi- gen sind Alkalielemente wie Lithium (karmin-
schen zuvor nicht gemischten Stoffen eine sich selbst erhaltende (stark rot), Natrium (gelb), Kalium (rot) und Rubidium
exotherme) Reaktion abläuft, bei der neben Wärme auch sichtbares Licht (rotviolett), Erdalkalielemente wie Calcium (zie-
freigesetzt wird. Selbst die Unterscheidung zwischen dem Brennstoff und gelrot), Strontium (rot) und Barium (grün) oder
dem die Verbrennung fördernden Stoff ist ganz erdbezogen. So könnten Nebengruppenelemente wie Arsen und Anti-
etwa sauerstoffhaltige Substanzen in einer Methanatmosphäre durchaus mon (beide fahlblau) oder Kupfer und Thallium
als Brennstoffe angesehen werden und das Methan übernähme dann (beide grün). —
umgekehrt die Rolle des die Verbrennung unterhaltenden Stoffs.

8-11
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

Flamme in Schwerelosigkeit. Eine Kerzen-


386 flamme brennt hier nur sehr schwach, da
sich keine aufsteigende Strömung ausbildet
und der Sauerstoff nur durch Diffusion hin-
zutritt.
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Plasma Plasmen in der Natur


Der vierte Aggregatzustand
Das „ewige“ Feuer der Sonne
Der Begriff Plasma (gr. plásma, Gebilde) wurde im
Jahr 1928 von IRVING LANGMUIR (1881 – 1957) Das Alter der Sonne und ihre Energiequelle
im heute gebräuchlichen Sinn eingeführt. Der wurden jahrhundertelang kontrovers diskutiert.
Charakter dieses Materiezustands wird bestimmt Nachdem die Entstehung der Welt von JAMES
durch die darin enthaltenen elektrisch geladenen USSHER (1580 – 1656), Erzbischof von Armagh
Teilchen wie Atomionen, Molekülionen und Elek- (Irland) aus Daten der Bibel auf Montag, den
tronen sowie durch die Temperaturen und die 23. Oktober 4004 v. Chr. datiert worden war,
Dichten ihrer Bestandteile. Neben den geladenen blieben nur ca. 6000 Jahre für deren Alter. Aber
Teilchen besitzen Plasmen stets einen Anteil unge- auch bessere Argumente deuteten zunächst auf
ladener Partikel, also einfacher Gasteilchen oder ein geringes Alter: Berechnete man, wie lange
Radikale. Nach außen hin sind Plasmen elektrisch eine aus Kohle bestehende Sonne ihre Energie-
8-13
neutral, da sich die Ladungen aller ihrer Teilchen abstrahlung durch Verbrennung aufbringen Plasmazustand. Ein Zu-
ausgleichen. Sie entstehen aus neutralen Atomen konnte, kam man auf nur 5000 Jahre. Schon stand der Materie mit
und Molekülen, wenn es zur Ionisierung, also zur im 18. Jahrundert glaubte man allerdings auf- weitem Temperatur- und
Dichtespektrum.
Spaltung der ungeladenen Teilchen in geladene grund der geologischen Ablagerungsraten von
Komponenten kommt. Dies geschieht meist durch Sedimenten, dass die Erde und damit auch die
Abspaltung von Elektronen in Stoßprozessen bei Sonne wesentlich älter sein mussten. Erst durch
hohen Temperaturen. Deshalb liegt jede Materie die Entdeckung der Fusionsreaktionen im dichten
oberhalb einer bestimmten Temperatur im Plas- Plasma des Sonneninneren (Å Suche nach der
mazustand vor. Die Stabilität der Atome bzw. Energiequelle, Seite 457) klärten sich die Wider-
Moleküle sowie die Dichte bestimmen, ab wel- sprüche. Nach den inzwischen sehr detaillierten
cher Temperatur Stoffe im Einzelfall in den Plas- Sternmodellen besteht die Sonne aus ganz unter-
mazustand übergehen. Aber auch nichtthermische schiedlichen Plasmen. Nahe des Kerns herrscht
Einflüsse wie ionisierende Strahlung können ei- ein Druck von über 200 Milliarden (2 · 1011)
nen Übergang zum Plasma verursachen. Plasmen Bar, eine Dichte von 150 Gramm pro Kubikzen- 8-14
Plasma der Sonne. Dichte
unterscheiden sich in vielen physikalischen Eigen- timeter und eine Temperatur von 15 Millionen
und Temperatur des
schaften von Gasen, Flüssigkeiten und Festkör- r Grad Celsius. Unter diesen Bedingungen sind Plasmas vom Kern bis zur
pern. Sie existieren in einem weiten Temperatur- viele Atome voll ionisiert. Ihre Kerne erreichen Korona.
und Druckbereich vom ungeheuer verdünnten derartige Geschwindigkeiten, dass einige bei
intergalaktischen Medium über experimentell energiereichen Kollisionen und mittels Tunnelef- Compton-Streuung
Interaktion von Licht mit
leicht zugänglichen Plasmen mittlerer Dichte bis fekt (Å Verbotene Wege – der Tunneleffekt, Seite Materie.
hin zu hochverdichteten Fusionsplasmen im Zen- 207) ihre elektrische Abstoßung überwinden
trum von Sternen. Alle Plasmen sind elektrisch können. Unter dem Einfluss der auf kurzer Dis-
leitfähig und geben elektromagnetische Strahlung tanz sehr viel stärkeren „starken Kernkraft“, die
ab, sie leuchten. Magnetfelder können in Plasmen alle Atomkerne zusammenhält, verschmelzen sie
regelrecht „eingefroren“ sein und von Plasma- miteinander (ÅWas die Welt im Innersten zusam-
strömungen mitgerissen werden. Die Theorie, die menhält, Seite 417). Dabei wird ein kleiner Teil
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ihr Verhalten beschreibt, ist die Magnetohydro- ihrer Masse in Energie umgewandelt. Dies ist die
dynamik. Allgemein ist die theoretische Beschrei- Energiequelle, die der Sonne ein nach menschli-
bung und die experimentelle Beherrschung des chen Maßstäben „unendlich“ langes Leben von
Plasmazustands sehr viel komplexer als die von mehr als 9 Milliarden Jahren schenkt.
Gasen, denn wegen der langreichweitigen elek- Die weiche Röntgenstrahlung aus der Kern-
tromagnetischen Wechselwirkungen kommt es zu zone unterliegt im umgebenden Plasma starker
8-15
zahlreichen kooperativen Phänomenen. Hierbei Compton-Streuung an den geladenen Teilchen. Konvektion. In den äuße-
spielt insbesondere das große Massenverhältnis Zum Durchdringen dieser Strahlungsschicht be- ren 20 Prozent des Son-
nenradius wird die Ener-
positiv geladener Ionen zu Elektronen (mindes- nötigt ein Photon statistisch gesehen mehrere
gie hauptsächlich durch
tens 1860 : 1 wie bei Wasserstoffplasmen) eine zehntausend Jahre. Im äußeren Fünftel der Sonne Konvektionsströmungen
Rolle. wird die Energie transportiert.

8-12
Temperatur von Plasmen. Normalerweise stehen die Komponenten eines Plasmas
untereinander und mit ihrer Umgebung nicht im thermodynamischen Gleichgewicht. 387
Ionen und Elektronen haben meist unterschiedliche Temperaturen.
KAPITEL 8 Feuer

hauptsächlich durch Konvektionsströmungen im nem ständigen Abstrom von Plasma nach außen.

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


Plasma transportiert. Doch nicht nur im Inneren Erste Anzeichen für einen Einfluss der Sonnen-
der Sonne und von Sternen finden wir Plasmen, aktivität auf die Erde fand 1859 der britische
sondern auch in deren Atmosphären. Physiker RICHARD CARRINGTON (1826 – 1875).
Er entdeckte, dass Magnetfeldstürme in Zusam-
Photosphäre, Chromosphäre und Korona menhang stehen mit Sonnenprotuberanzen. Der
8-16
Norweger KRISTIAN BIRKELAND (1867 – 1917)
Heizung der Korona.
Bis über 1 Million Kelvin Die sichtbare „Oberfläche“ der Sonne nennt man vermutete einen Zusammenhang mit Polarlich-
heißes Plasma erreicht Photosphäre. Hier herrscht eine Temperatur von tern. Weitere Hinweise auf eine solare Teilchen-
die Korona durch lo- ca. 5800 K und diese sorgt dafür, dass ein Plasma strahlung sah der Physiker LUDWIG BIERMANN
kale Spikes entlang von
Magnetfeldlinien. Auch vorliegt, hauptsächlich bedingt durch die rela- (1907 – 1986) bei der Beobachtung der Richtun-
elektrische Ströme und tiv geringe Ionisierungsenergie des Wasserstoffs. gen von Kometenschweifen. Doch der direkte
kurzgeschlossene Mag- Helium liegt auf Sternoberflächen normalerweise Nachweis des Sonnenwinds blieb der Raumfahrt
netfeldlinien könnten zur
Aufheizung der Korona neutral oder in einfach ionisierter Form vor. Die vorbehalten. Im Jahr 1959 konnte er durch die
beitragen. elektrische Leitfähigkeit der Sonnenatmosphäre sowjetische Mondsonde Lunik 1 direkt gemessen
bedingt komplexe Wechselwirkungen mit dem werden. Der Sonnenwind besteht hauptsächlich
solaren Magnetfeld. An die Photosphäre schließt aus Protonen und Elektronen sowie aus Helium-
sich die etwa 10000 km dicke Chromosphäre an, atomkernen (Alphateilchen). Andere Kerne so-
die nur bei totalen Sonnenfinsternissen gut zu wie neutrale Teilchen sind darin nur in kleineren
beobachten ist, wenn der Mond das grelle Licht Mengen vorhanden.
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unseres Zentralgestirns vollständig abdeckt. Unsere Sonne verliert durch den Sonnenwind
Während die Chromosphäre noch eine mode- pro Sekunde etwa eine Million Tonnen ihrer
rate Temperatur von bis zu 10 000 K aufweist, Masse. Sie hat auf diese Weise seit ihrer Geburt
steigt diese beim Übergang zur sehr dünnen Ko- ungefähr 87 Erdmassen eingebüßt. Angesichts
rona schnell auf über eine Million Grad an. Wie ihrer 333 000-mal größeren Masse bietet dieser
8-17
Sonneneruption. Die kann sich diese über der vergleichsweise kühlen Wert allerdings keinen Grund zur Sorge.
Wechselwirkungen des Photosphäre lagernde Schicht derartig aufheizen? Man kann im Sonnenwind zwei Komponen-
elektrisch leitfähigen Gegenwärtig geht man davon aus, dass Spikes ten mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten un-
Plasmas der Sonnenatmo-
sphäre mit Magnetfeldern sehr heißer Gase lokal durch die Photosphäre terscheiden: Die Geschwindigkeit des langsamen
führen in aktiven Phasen in die Korona gelangen. Zudem können starke Sonnenwinds beträgt ungefähr 400 Kilometer
der Sonne zu bizarren Ströme von Elektronen im Plasma der unteren pro Sekunde. Der schnelle Sonnenwind, der an
Ausbrüchen.
Sonnenatmosphäre die Korona aufheizen. Sie den koronalen Löchern austritt, erreicht sogar
erzeugen selbst wieder schlauchartige Magnet- 800–900 Kilometer pro Sekunde (dies entspricht
felder, die sich bei Sonnereruptionen nach außen etwa drei Millionen Kilometer pro Stunde). In
wölben und verdrehen können. Der Effekt ist Erdnähe hat der Sonnenwind eine Dichte von
vergleichbar mit einem Induktionsherd, bei dem etwa 5· 106 Teilchen pro Kubikmeter. Er erstreckt
die Platte kalt bleibt, während sich der Topf sich bis jenseits der Planetenbahnen, wo er in
erwärmt. Bei Schleifenbildung kann es sogar zu einer Stoßfront auf das interstellare Plasma trifft.
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sogenannten Rekonnexionen kommen, einer Art Wie eingangs erwähnt, ist der auf der Erde als
Kurzschlüsse von Magnetfeldlinien, bei denen exotisch geltende Plasmazustand im Kosmos
große Energiemengen frei werden. insgesamt der Normalfall (ÅDeep Space, Seite
482).
Sonneneruptionen
8-18
Sonnenkorona. Nur bei einer tota- Magnetosphäre und Strahlungsgürtel
len Sonnenfinsternis wird das ca. Insbesondere Sonneneruptionen (Flares) und
1 Million Grad heiße dünne Plasma damit manchmal verbundene starke solare Mas- Um den Äquator der Erde existiert in etwa
der Sonnenatmosphäre als Korona senauswürfe, aber auch schon die ganz normale 600 –25 000 km Höhe eine ringförmige Zone
sichtbar.
Grundaktivität eines jeden Sterns führen zu ei- verstärkter Teilchenstrahlung. Sie ist nach dem
8-19 amerikanischen Astrophysiker JAMES ALFRED VAN
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Koronaler Massenauswurf der Sonne. Gewaltige Plasma- ALLEN (1914 – 2006) als Van-Allen-Gürtel be-
wolken können zu elektromagnetischen Stürmen in der nannt, der ihre schon früher vermutete Existenz
irdischen Magnetosphäre führen, wenn sie wie zuletzt im
Jahre 1859 die Erde treffen. Dabei kann es zu Zerstörun- im Rahmen der Explorer-Satellitenmissionen
gen an Satelliten oder zum Ausfall empfindlicher Technik
auf der Erde kommen. (SOHO, Credit: JPL, NASA, ESA).
388
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8-21
Sonnenwind – Strahlungs-
1958 bestätigen konnte. Die Zone entsteht eine Art Kugelkondensator und ist gegenüber der gürtel – Polarlichter. Beim
durch das Erdmagnetfeld, das Teilchen des Erdoberfläche stark positiv aufgeladen (ÅAbbil- Auftreffen des Sonnen-
Sonnenwinds und der kosmischen Strahlung dung 8-20). winds auf das Erdmag-
netfeld werden elektrisch
(ÅKosmische Strahlung, Seite 451) einfängt geladene Teilchen abge-
und akkumuliert. Dabei oszillieren diese Teil- Polarlichter lenkt. In Äquatornähe
chen mit Frequenzen von 0,1 – 0,3 Sekunden entstehen dabei zwei Gür-
tel verstärkter Strahlung
zwischen den Polen hin und her. Insbesondere Kommt es aufgrund hoher Sonnenaktivität zu ei-
(Van-Allen-Gürtel, hier
wenn man die energiereichsten Teilchen betrach- ner Überladung des Van-Allen-Gürtels, so dringen violett und hellblau). Das
tet, lassen sich klar ein innerer und ein äußerer Teilchen des Sonnenwinds bei ihren Oszillationen Erdfeldmagnetfeld kann
Gürtel unterscheiden. Im inneren Gürtel mit zwischen den Polen besonders in höheren Breiten durch den Sonnenwind
insbesondere bei Strah-
einem Intensitätsmaximum bei 1000 – 6000 km auch in die obere Atmosphäre ein und regen dabei lungsausbrüchen stark
Höhe sind mehrheitlich Protonen mit Energien Luftmoleküle zu Fluoreszenz an. Die Sonne zeigt verformt werden. An den
größer als 30 MeV anzutreffen. Hauptsächlich etwa alle elf Jahre besonders viele Sonnenflecken, Polen dringen geladene
Teilchen bis in die Erdat-
Elektronen mit Energien größer als 1,6 MeV bil- Eruptionen und Sonnenstürme, in deren Folge mosphäre ein und erzeu-
den hingegen den hochenergetischen Anteil des auch Polarlichter verstärkt auftreten. gen die Polarlichter. Aus
äußeren Rings mit einem Maximum zwischen den Maxwell-Gleichungen
ergibt sich, dass Teilchen
15 000 und 25 000 km Höhe. Die viel häufigeren Plasmaschutzschirme für Raumschiffe? umso eher auch niedrige
Protonen und Elektronen mit niedrigeren Ener- Breiten erreichen, je ener-
gien finden sich meist in größeren Abständen zur Im interplanetaren Raum werden Raumschiffe giereicher sie sind.
Erde und zeigen keine klare Trennung in inneren insbesondere während Sonnenstürmen starker
und äußeren Ring. Für die bemannte Raumfahrt Teilchenstrahlung ausgesetzt. Infolge deren Wech-
stellt insbesondere der innere Strahlungsgürtel selwirkungen mit dem Material des Raumschiffs
zu Zeiten erhöhter Sonnenaktivität eine Gefahr können Instrumente und Besatzungen auch sehr
dar. Astronauten können hier noch hinter 3 mm hohen Dosen harter Röntgenstrahlung ausge-
Aluminiumabschirmung Strahlungshöchstwer- setzt sein. Gegenwärtig wird eine Möglichkeit
ten von 200 mSv / h ausgesetzt sein, was dem untersucht, um hier Abhilfe zu schaffen. Magne-
Millionenfachen der Belastung auf Meereshöhe tische Felder, die durch Ströme in einem künst-
entspricht. Allerdings sind die durchschnittlichen lich erzeugten Plasmamantel um das Raumschiff
Belastungen mit ca. 0,7 – 1,5 mSv / Tag wesentlich induziert werden, könnten eine Art künstlicher
geringer, auch wird der Gürtel z. B. bei Mond- Magnetosphäre und damit einen wirksamen
missionen in kurzer Zeit durchquert. Schutzschirm gegen geladene Teilchen bilden.

Ionosphäre der Erde Wie entstehen Blitze?


BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

Wie wir im Kapitel 7 gesehen haben, enthält die Wenn warme und feuchte Luftmassen in Gewit-
Erdatmosphäre elektrisch leitfähige Schichten, die terzellen schnell aufsteigen, kommt es regelmäßig
unter der Bezeichnung Ionosphäre zusammenge- zu statischen Aufladungen ähnlich wie bei einem
fasst werden. In ca. 70 Kilometern Höhe über der elektrostatischen Van-de-Graaf-Generator. Ihre 8-22
Erdoberfläche führt der schwankende, aber nie Ursache ist nach heutigem Stand der Untersu- Aurora Borealis. Treffen
ganz aussetzende Strom einfallender Strahlung chungen oft, dass sich in den oberen Bereichen die Partikel des Sonnen-
winds in höheren Breiten
dazu, dass aus neutralen Luftmolekülen ein die der Wolken größere Graupel-Eisteilchen bilden,
auf die Ionosphäre und
ganze Erde umfassender Plasmamantel entsteht. die entgegen den Aufwinden nach unten fallen. auf neutrale Moleküle der
Für manche Radiowellen wirkt diese leitende Begegnen sie noch kleinen mitgerissenen Eisteil- Erdatmosphäre, so erzeu-
gen sie die als Polarlichter
Schicht wie ein Spiegel und reflektiert sie zur chen, so können diese Elektronen an sie abge-
(Aurora Borealis) bekann-
Erde zurück. Sie bildet mit der Erde außerdem ben. Somit wird ein Teil der Bewegungsenergie ten Plasmaphänomene.
Gelegentlich können die
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8-20 Leuchterscheinungen bis


Ionosphäre und elektrisches Feld. Die Erde ist ein großer in mittlere Breiten sichtbar
Kugelkondensator. Zwischen der elektrisch leitfähigen sein.
Ionosphäre in ca. 70 km Höhe und der Erdoberfläche
besteht ein Potenzialunterschied von bis zu 300 000 Volt.
An der Erdoberfläche ist infolgedessen eine Feldstärke
von 130 – 270 Volt / m vorhanden. 389
KAPITEL 8 Feuer

Leistung in elektrische Energie umgesetzt. Die nach oben gesetzt. Diese beiden Kohlestifte werden zum
= Spannung · Stromstärke
gerissenen kleineren positiv geladenen Eisteilchen Zünden der Lampe kurzgeschlossen, wobei ein
P = U·I und die in den unteren Bereich der Wolke ge- hoher Strom das Gas in der nächsten Umge-
langenden größeren negativen Graupeln bilden bung erhitzt und teilweise ionisiert. Der typische,
z. T. beträchtliche Raumladungszonen aus. Der gleißend bläuliche Lichtbogen entsteht beim
Energie
= Leistung · Zeit Erdboden selbst kann sich wiederum gegenüber Auseinanderziehen der Kohlestifte. Er besteht
der Wolkenunterseite wie bei einem Kondensator aus ionisiertem Gas, dem elektrisch leitenden
E = P·t
durch elektrische Influenz positiv aufladen. Über- r Plasma, das für einen andauernden Stromfluss
schreiten die Spannungen zwischen Wolken oder zwischen den beiden Elektroden sorgt und grell
zum Erdboden einige 10 Millionen Volt, so kann leuchtet. Auch die Kohleelektroden senden ein
es zum Ladungsausgleich durch Blitze kommen. intensiv weißes Licht aus, wobei die positive
Dies geschieht meist noch weit unter der Grenze, Elektrode deutlich heißer wird als die negative.
bei der ein Durchschlag durch ein neutrales Gas Die positive Elektrode erreicht Temperaturen
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zu erwarten wäre. Man vermutet daher, dass dem von über 4000 °C und brennt zu einem Krater
eigentlichen Blitz vorausgehende Ionisierungspro- aus, die negative Elektrode erreicht Tempera-
zesse eine Rolle spielen. Ein durchschnittlicher Blitz turen über 3500 °C und brennt spitz ab. So
hat ein Spannungsgefälle von etwa 20 Millionen werden beide Elektroden langsam verbraucht
Volt. Er besteht aus ca. 5 Hauptentladungen von und müssen nach einiger Zeit ersetzt werden.
jeweils ungefähr 0,005 Sekunden Dauer und ei- Bei Hochdrucklampen kann die positive Kohle-
8-23 ner Stromstärke um 20000 Ampere. Kurzzeitig elektrode sogar Temperaturen von über 6000 °C
Prinzip des Lichtbogens. hat ein Blitz also eine elektrische Leistung von erreichen. Bogenlampen senden ein gemischtes
Bei einer niedrigen Span- ca. 400 Milliarden Watt. Die dabei umgesetzte Spektrum aus thermischer Strahlung und Emis-
nung von einigen Volt
werden zwei Kohleelektro- elektrische Energie von ca. 2800kWh würde ca. sionslinien aus den Gasatomen im Lichtbogen
den kurzzeitig verbunden. 700 Euro kosten. aus. Die hohe Temperatur wird übrigens auch
Zieht man die Elektroden beim Elektroschweißen genutzt. Hierbei bil-
danach auseinander,
so bildet sich bei genü- det das Werkstück selbst eine der Elektroden.
gender Stromdichte ein Plasmen in Technik, Forschung Die zweite Elektrode ist der Schweißdraht, der
Lichtbogen von mehreren schmilzt und schließlich mit dem Werkstück
Millimetern Länge. Als
und Medizin
Stromquelle ist z. B. eine
die Schweißnaht bildet. Zur Vermeidung von
Autobatterie geeignet. Oxidation wird dabei die Schweißstelle häufig
Achtung: Es treten sehr mit einem Inertgas wie Argon umspült.
hohe Temperaturen auf,
Bogenlampen und elektrisches Schweißen
Bei modernen Xenonbogenlampen sind zwei
und direktes Betrach-
ten des gleißend hellen Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts gingen Elektroden in 5 mm Abstand in einer Glasperle
Lichtbogens schädigt die in vielen Großstädten der Welt die elektrischen mit Xenonfüllung eingeschmolzen. Das Anlegen
Augen.
Lichter an – und schon damals spielten Plasmen der Zündspannung von 20 000 Volt genügt zur
eine entscheidende Rolle. Die ersten elektrischen Überbrückung des Elektrodenabstands, sodass
Straßenbeleuchtungen waren nämlich nicht etwa für die Zündung keine mechanische Bewegung
Glühbirnen, sondern Bogenlampen. Verglichen der Elektroden mehr notwendig ist. Während des
Lumen mit den bis dahin verbreiteten Gaslichtern – un- Betriebs steigt der Druck von 20 Bar auf 100 Bar
Ein Maß für den von einer vergesslich durch zahlreiche Kriminalromane aus an. Infolge des hohen Drucks werden die Emissi-
Lichtquelle abgestrahlten
Lichtstrom. Es berücksich-
viktorianischer Zeit – erschienen sie sonnenhell. onslinien des Xenons im sichtbaren Spektrum so
tigt auch die wellenlän- Seit der Ur-Bogenlampe des Engländers HUMPHRY weit verbreitert, dass ein nahezu kontinuierliches
genabhängige Empfind- DAVY (1778 –1829) aus dem Jahre 1808 beruhen Spektrum ausgesendet wird. Xenonbogenlampen
lichkeit des menschlichen
sie auf einem sogenannten Lichtbogen, einem sehr können ungefähr 3000 Stunden lang brennen.
Auges. Lichtquellen glei-
cher Lumen-Zahl werden heißen Plasma zwischen zwei Elektroden. Sie erreichen eine Lichtausbeute von 90 Lumen
als gleich hell wahrgenom- Die ersten Bogenlampen bestanden noch pro Watt, im Gegensatz zu Glühlampen mit
men.
aus zwei gegenüber liegenden Holzkohlestäb- 12 – 15 Lumen pro Watt (ÅRandspalte). Neben
1 Lumen (lm) entspricht chen, die mittels einer Batterie entgegengesetzt ihrer Anwendung in (lästig grellen) Autoschein-
dem Lichtstrom einer aufgeladen wurden. Alle weiterentwickelten werfern werden sie in Blitzlichtern von Kameras
verlustfreien Lichtquelle Kohle-Bogenlampen funktionieren nach dem sowie in Kino-Filmprojektoren verwendet.
mit 555 nm Wellenlänge
und einer Leistung von gleichen Prinzip: In einem gasgefüllten Glas- Für normale Beleuchtungszwecke setzte sich
1,464 mW. körper sind isolierte Elektroden aus Kohle ein- trotz ihres schlechten Wirkungsgrads zunächst
8-24
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

Moderne Hochdruck-Xenonbogenlampe.
390
Erde, Wasser, Luft und Feuer

die klassische Glühbirne durch, deren Funktions- dem Edelgas Neon gefüllt. An beiden Enden des
weise nicht auf einem Plasma basiert. Sie hatte Glasrohres sind Elektroden eingebaut. Wird eine
entscheidende Vorteile bei der Handhabung. Hochspannung von mehreren tausend Volt ange-
Daneben gab es aber schon früh Versuche, Licht legt, so fließt ein Elektronenstrom von der Anode
auch ohne hohe Temperaturen direkt zu erzeu- zur Kathode, und das Neon wird ionisiert. Des-
gen (nicht-thermische Lichtquellen). Auch dabei sen Plasma leuchtet intensiv rot. Farbvariationen
spielte wieder Plasma eine entscheidende Rolle. lassen sich durch unterschiedliche Gasfüllungen

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erzeugen. Noch heute sind Gasentladungsglimm-
Gasentladungslampen – Geisslersche Röhre lampen in Form von Leuchtreklamen und als
Phasenprüfer überall im Einsatz.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts experimen-
tierten der Ph y siker J ULIU S P LÜC KER Plasma-Lampen
(1801 – 1868) sowie der Glasbläser und Er-
finder H EINRIC H G E ISSLER (1814 – 1 879) Seit einigen Ja h rze h nten er f reut sic h eine 8-26
Neonröhren. Bevor sie
mit Gasentladungen in geschlossenen Gefäßen, Variante der Gasentladungslampen, die
mit dem Arbeitsgas be-
in die Elektroden eingeschmolzen waren. Sie sogenannte „Magische Kugel“, gewisser füllt werden, können
wurden von dem österreichischen Physiker CARL Beliebtheit. Sie wurde eigentlich bereits von Niederdruck-Gasentla-
AUER VON WELSBACH (1858 – 1929) Anfang des NIKOLA TESLA (1854 – 1943) dungslampen in beliebige
Formen gebogen wer-
20. Jahrhunderts zu Lampen weiterentwickelt. bei seinen Experimenten mit den. Das Spektrum des
Charakteristisch dabei ist, dass das Licht ohne hochfrequenten Wechsel- Füllgases Neon zeigt ein
Beteiligung hoher Temperaturen und damit viel strömen entdeckt und im Jahre für Plasmalichtquellen
typisches Linienspektrum
energieeffizienter zustande kommt als etwa bei 1894 zum Patent angemeldet. (unten). Durch Variationen
Bogenlampen. Dabei wird ein Edelgas unter stark Dabei ist eine kugelförmige der Gasfüllung lassen sich
vermindertem Druck (z. B. 0,01 bar = 1000 Pa) in Elektrode im Zentrum einer Glaskugel andere Leuchtfarben rea-
lisieren.
einer Glasröhre zwischen zwei Elektroden zum eingeschmolzen, in der sich eine Gasmischung
Leuchten gebracht. niedrigen Drucks von ca. 0,01 bar befindet. Sie
Wird an die Elektroden für die Zündung wird mit einer Wechselspannung von einigen
kurzzeitig eine genügend hohe Spannung von tausend Volt und ca. 20 000 – 35 000 Hz gegen die
einigen zehntausend Volt angelegt, so beginnt Erde betrieben. Sichtbare Entladungen entstehen
ein geringer Strom zu fließen. Dabei werden in a ufgrund von Stoßionisierungen der Gas -
geringer Menge stets vorhandene Elektronen a tome durch Elektronen, die entlang der
beschleunigt und kollidieren mit den Edelgasato- radial verlaufenden Feldlinien beschleunigt
men. Die äußeren Elektronen der Atome werden werden. Die Lichterscheinun g en dieser
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durch den Stoß in einen höheren Energiezustand Koronaentladungen entstehen vorzugsweise


versetzt, aus dem sie, unter Abgabe von Energie an Stellen, an denen lokal eine etwas höhere
in Form von Licht, zurückfallen. Zum Teil wer- Feldstärke herrscht, was z. B. durch Berühren
den die Atome allerdings auch ionisiert. Durch der Glaskugel mit der Hand erreicht werden
die Ionisierung werden neue Elektronen frei, kann. Besonders reizvoll wirkt, dass sich die
und die Gase werden elektrisch leitfähig, was leuchtenden Entladungserscheinungen durch
den Dauerbetrieb mit einer deutlich niedrige- Konvektionsströmungen des Gases in ständiger 8-27
Phasenprüfer. Die Glimm-
ren Spannung ermöglicht. Nach dem gleichen Bewegung befinden.
lampe in einem Phasen-
Prinzip funktionieren Metalldampflampen, bei prüfer leuchtet schon bei
denen das Gas durch Metalldampf ersetzt ist. Leuchtstofflampen dem geringen Strom, der
Auch die modernen Energiesparlampen sind vom nicht mit der Erde
verbundenen Pol des
Gasentladungslampen mit gebogenen Röhren. Leuchtstoffröhren werden oft mit Neonröhren Wechselspannungsnetzes
Da leuchtende Gase und Dämpfe Linienspektren gleichgesetzt. Sie unterscheiden sich jedoch im (Phase) über den mensch-
erzeugen, werden diese Lichtquellen auch als Aufbau, in der Füllung und in der Art der Lich- lichen Körper zur Erde
abfließt.
Linienstrahler bezeichnet. terzeugung. Bei Leuchtstofflampen handelt es
Ein Beispiel für den einfachsten Typ der sich um beschichtete Glasröhren, deren Füllgas
Gasentladungslampen sind Neonröhren, wie sie aus einer Mischung von Argon und Quecksilber-
gerne zu Werbezwecken verwendet werden. Ein dampf besteht. Zur Zündung der Lampe ist ein
dünnes, klares Glasrohr ist in diesem Fall mit Glühvorgang nötig, welcher auch die Bezeich-
8-25
Geisslersche Röhre und Gasentla-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

dungslampe. In Glaskolben einge- 391


schmolzene Elektroden ließen Experi-
mente mit Plasmen zu und führten zur
Entwicklung erster nichtthermischer
Lichtquellen.
KAPITEL 8 Feuer

nung Heißkathodenröhre erklärt. Verwendet Moderne Lichtquellen


wird eine Wolframglühwendel, die bei Kalt-
kathodenlampen wie der Neonröhre fehlt. Ein Die modernsten elektrischen Lichtquellen aller-
kurzzeitiges Erhitzen der Glühwendel bewirkt dings kommen wieder völlig ohne Plasmen aus.
zunächst eine Erhöhung der Elektronenemis- Es sind die vor ca. 40 Jahren entwickelten anor-
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sion. Durch Anlegen der Zündspannung werden ganischen Leuchtdioden aus Halbleitermateria-
die Elektronen beschleunigt und ionisieren den lien (ÅGrenzgänger: Halbmetalle, Seite 277).
Quecksilberdampf. Das erzeugte Plasma sen- Sie haben hinsichtlich Lichtausbeute, Lebens-
det ultraviolettes, also unsichtbares Licht aus. dauer und Einsatzmöglichkeiten die elektrischen
Nach dem Starten genügt die von auftreffen- Lichtquellen revolutioniert. Fast keine Energie
den Ionen und Elektronen erzeugte Energie, um geht als Wärme oder UV-Strahlung verloren.
8-28 die Elektroden so weit zu erwärmen, dass sie Moderne OLED- (organische Leuchtdio-
Leuchtstoffröhre Aufbau. genügend Elektronen emittieren können. Eine den) und QLED-Lichtquellen (Quantenpunkt-
1 Kontakte
Leuchtschicht, die an der Innenseite der Glas- Leuchtdioden) sind Varianten dieser Technolo-
2 Halterung
3 Isolation röhre aufgetragen ist, wandelt das ultraviolette gie, von der man erwarten darf, dass sie nicht
4 Heizwendel Licht in langwelligeres sichtbares Licht um. Die- nur die Glühbirne, sondern letztlich auch die
5 Elektronenwolke ser Vorgang wird als Fluoreszenz bezeichnet. Leuchtstoffröhren verdrängen wird.
6 Fluoreszenzschicht
7 Glasrohr Die Farbe des ausgestrahlten Lichts hängt von
der Zusammensetzung dieser Leuchtschicht ab. Oberflächenveredlung
Leuchtstofflampen sind in fast allen Farbvari-
ationen und vielen Weißtönen erhältlich. Als Plasmen bieten mit ihren teilweise sehr reaktiven
Beispiel seinen Tageslichtweiß, Neutralweiß und Teilchen reichhaltige Möglichkeiten für Ober-
Warmweiß genannt. Ihre Lichtausbeute erreicht flächenbehandlungen. So werden beispielsweise
bis zu 96 Lumen pro Watt. Sauerstoffplasmen eingesetzt, um Verschmutzun-
gen schonend von empfindlichen Oberflächen
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Gasentladungslampen – zu entfernen. In anderen Fällen werden Plasmen


Energiesparlampen genutzt, um die Haftung von Beschichtungen
(wie Teflon) zu verbessern. Da geladene Katio-
Energiesparlampen sind nichts anderes als nen aus Plasmen mit sehr hoher Energie in das
Leuchtstofflampen, bei denen die Röhre aus Kathodenmaterial einschlagen, können kleine
Platzgründen mehrfach gebogen ist. Sie besit- neutrale Atomcluster herausgeschlagen werden
8-29 zen einen Sockel, in dem die notwendigen Vor- und ein sehr feines Aerosol bilden. Dieser Effekt
Lichterzeugung in der
Leuchtstoffröhre. Im elek-
schaltgeräte eingebaut sind. Der Glaskolben ist wird unter der Bezeichnung „Sputtern“ zum prä-
trischen Feld werden aus mit einer Mischung aus Quecksilberdampf und zisen Aufbringen sehr dünner Materialschichten
der Elektrode ausgetretene Argon gefüllt. Die Lichtausbeute einer Ener- verwendet.
Elektronen zum Pluspol
giesparlampe liegt zwischen 60 und 70 Lumen
hin beschleunigt. Bei
Stößen mit Argon- oder pro Watt, ihre Brenndauer beläuft sich auf Kaltes Plasma zur Haut- und
Quecksilberatomen schla- 10 000 – 13 000 Stunden. Wunddesinfektion
gen sie andere Elektronen
aus den Atomhüllen.
Dabei entstehen positiv Gasentladungslampen – Schon seit langem werden Plasmen zur Des-
geladene Ionen. Die Licht- Natriumdampflampe infektion chirurgischer Instrumente eingesetzt.
emission aufgrund von Haut würde darin jedoch sofort verbrennen.
Elektronenübergängen in
den Hüllen von Queck- Natriumdampflampen arbeiten mit dampfför- Inzwischen gibt es aber erste Anwendungen,
silberionen erfolgt haupt- migem Natrium. Für den Zündprozess (Ver- bei denen auch Haut und sogar offene Wunden
sächlich im UV-Bereich. dampfung des metallischen Natriums) dient eine direkt bei Atmosphärendruck behandelt wer-
Diese Strahlung wird von
der Fluoreszenzschicht in Argon-Neon-Füllung. Niederdrucknatriumlam- den können. Dazu werden kalte Plasmen (unter
sichtbares Licht umge- pen erreichen erst nach ca. 15 Minuten ihre volle 40 °C) verwendet, die durch sehr kurz gepulste
wandelt. Bei Betrieb mit Leuchtkraft. Mit 200 Lumen pro Watt sind sie Energiezufuhr entstehen. Die im Plasma neben
Wechselspannung ändert
sich die Polarität 50-mal
die effizientesten Lampen überhaupt. Sie senden Ionen stets entstehenden aggressiven Teilchen-
pro Sekunde. einfarbiges gelbes Licht aus und werden für Stra- sorten (Radikale) und UV-Strahlung töten auch
ßen- und Häuserbeleuchtungen genutzt. solche Keime zuverlässig ab, die Resistenzen

8-30
Spektren. Wellenlängenverteilung der Lichtintensität
bei drei ausgewählten elektrischen Lichtquellen: Laser
392 (orange), Gasentladungsröhre (blau) und Glühbirne (rot).
Deutlich erkennbar sind der hohe Anteil an Wärmestrah-
lung (λ > 780 nm) bei Glühbirnen und die einfarbige (mo-
nochromatische) Strahlung des Lasers.
Erde, Wasser, Luft und Feuer

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und das himmlische Feuer auf die Erde zu ho-
len. Wasserstoffbomben beweisen, dass das
im Prinzip möglich ist. Kernfusionskraftwerke
sollen der Menschheit diese Energiequelle er-
gegen alle gebräuchlichen Antibiotika zeigen. schließen. Das größte, bis heute noch nicht
Für das menschliche Gewebe ist die Behandlung gelöste Problem ist dabei die Beherrschung
hingegen weitgehend unschädlich und kann of- des extrem heißen Plasmas. Aber auch andere
fenbar sogar die Wundheilung anregen. große Denkmale menschlichen Schöpfungsgeis-
tes wurden nicht in kurzer Zeit errichtet. Und
Flammenlautsprecher die Fortschritte sind angesichts der gigantischen
Herausforderung schon für sich genommen
Eine erstaunliche und eher kuriose Anwendung beeindruckend.
finden Plasmen in Lautsprechern, in denen die In heutigen Atomkraftwerken wird Energie
elektrische Anregbarkeit eines Plasmas als Me- aus der Spaltung sehr schwerer instabiler Kerne
8-31
dium zur Übertragung einer Schallwelle auf Luft wie Uran oder Plutonium gewonnen und die Kernspaltung. Bei der
genutzt wird. Obwohl wegen ihrer im täglichen Tatsache ausgenutzt, dass mittelschwere Kerne Spaltung von Urankernen
Leben problematischen Eigenschaften eher ein wie Eisen energetisch am stabilsten sind. Bei durch Neutronen entste-
hen als Bruchstücke neben
Fall für das physikalische Kuriositätenkabinett, Fusionsreaktoren geschieht das Gegenteil. Hier mittelschweren Kernen
funktionieren sie gleichwohl. Elektrische Felder wird Energie durch Verschmelzung leichter weitere Neutronen, wo-
können die ionisierten Anteile einer Flamme ohne Wasserstoffkerne zu schwereren Heliumkernen durch eine Kettenreaktion
möglich wird. Ein kleiner
weiteres in Schwingungen versetzen und damit frei. Die irdischen Reaktoren sollen mit den bei- Teil der Masse wird dabei
die sonst übliche Lautsprechermembran ersetzen. den schweren Wasserstoffisotopen Deuterium in Energie umgesetzt.
und Tritium arbeiten, die sich aus Wasser und
Flammenionisationsdetektoren (FID) Gestein gewinnen lassen (Å Abbildung 8-32).
Ein Deuteriumkern (2H) und ein Tritiumkern
Zu den Anwendungen von Plasmen in der Wis- (3H) verschmelzen zu einem Helium-5-Kern.
senschaft gehört eine der empfindlichsten Arten Dieser ist nicht lange stabil, sondern zerfällt
von Detektoren in der Gaschromatographie. in ein Neutron mit einer kinetischen Energie
Dabei werden Gasgemische durch Kapillarröh- von 14,1 Millionen Elektronenvolt (MeV) und
ren geleitet, deren Innenflächen unterschiedlich einen stabilen Heliumkern mit 3,5 MeV. Die
beschichtet sind. Je nach Stärke der Wechsel- Ausgangsprodukte haben mehr Masse als die
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wirkungen mit der Beschichtung erreichen die neu entstehenden Teilchen. Es geht also Masse
einzelnen Komponenten des Gemischs den Rohr- verloren, die hauptsächlich in Bewegungsener-
ausgang nacheinander und werden nacheinander gie des Neutrons umgewandelt wird. Dieses
durch Einleitung in die Flamme eines Brenngases wird an der Reaktorwand gebremst und gibt
detektiert. Die Stoffe werden in der Flamme Energie in Form von Wärme ab. Damit lässt
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ionisiert, was zu einer sehr genau messbaren sich ein Kühlmittel erhitzen, welches dann zur 8-32
Erhöhung der elektrischen Leitfähigkeit der Stromerzeugung durch Turbinen geleitet wird. Deuterium-Tritium-Pro-
Flamme führt. FIDs sind so empfindlich, dass Ein Gramm Brennstoff setzt dabei so viel Ener- zess. Der einzige Fusions-
pozess, der heute tech-
es theoretisch möglich ist, eine Substanz noch gie frei wie acht Tonnen Erdöl oder elf Tonnen nisch möglich erscheint,
nachzuweisen, wenn man ein Weinglas davon Kohle, nämlich 90 000 Kilowattstunden. Das ist die Verschmelzung
irgendwo auf der Erde in den Ozean gießt und genügt, um mehr als 30 Einfamilienhäuser ein der Wasserstoffisotope
Deuterium (2H) und Tri-
nach vollständiger Vermischung an völlig ande- Jahr lang mit Heizung und Warmwasser zu tium (3H), bei der unter
rer Stelle eine Probe entnimmt. versorgen. Als 1991 im JET-Laboratorium in Energiegewinn Helium-4
England erstmals Energie aus kontrollierter (4He) und ein Neutron n0
entstehen.
Fusionskraftwerke Kernfusion gewonnen wurde, belief sich die
Energieausbeute auf etwa 1,7 Millionen Watt.
Die Sonne macht es uns täglich vor: Es geht! Man Allerdings benötigte der Reaktor für das Errei-
könnte schon ins Zweifeln geraten, wenn man be- chen und Erhalten der Fusion noch weit mehr
denkt, dass viele Physiker und Techniker weltweit Energie, als er lieferte. Das ist bis heute das
seit über 50 Jahren mit immensen Forschungs- Problem. Der internationale Testreaktor ITER,
budgets versuchen, es Prometheus gleich zu tun der im südfranzösischen Cadarache steht, soll

393
KAPITEL 8 Feuer

frühestens im Jahre 2023 erstmals eine posi- liert ist. Das mathematische Produkt, das aus
tive Energiebilanz aufweisen. Läuft alles nach diesen drei Faktoren errechnet wird, erreicht
Plan, könnte 2035 ein erstes Demonstrations- heute noch nicht den Wert, bei dem sich eine
kraftwerk Fusionsstrom ins Netz einspeisen. Fusion energetisch lohnen würde. Ein Vorteil
Mit kommerziellen Kraftwerken rechnen die der Kernfusion ist der, dass der nötige Brenn-
Forscher nicht vor 2050. stoff fast unbegrenzt überall vorhanden ist. Er
Will man kommerziell sinnvolle Kernfusion muss nicht unter gefährlichen Bedingungen
auf der Erde ermöglichen, so muss man sogar abgebaut werden. Treibhausgase werden vor
deutlich höhere Temperaturen erzeugen und allem beim Reaktorbau verursacht. Dennoch
für eine gewisse Zeit aufrecht erhalten, als im fällt die CO2-Bilanz nach einer Studie von
Sonneninneren herrschen, denn man wird kaum 2001 ähnlich aus wie für Windkraft. Tritium
ähnliche Drücke realisieren können. Bei dem ist jedoch – ein großer Nachteil – radioaktiv.
im Zentrum der Sonne herrschenden Druck Es muss also sichergestellt sein, dass es nicht
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reichen die herrschenden 15 Millionen Kel- aus der Anlage entweichen kann. Außerdem
vin aus, damit sich Wasserstoff-Atomkerne aktivieren die freigesetzten Neutronen Reaktor-
bei direkten Kollisionen so nahe kommen, bestandteile. Das Reaktorgebäude strahlt also,
dass sie ihre gegenseitige elektrische Absto- sodass es nach Betriebsende sicher entsorgt
ßung überwinden. Auf der Erde muss man das werden müsste. Zurzeit werden Baustoffe ent-
Gasgemisch auf Temperaturen von 100 bis wickelt, die gewährleisten, dass das Gebäude
200 Mio. K (!) bringen. Denn bei hohen Tempe- „nur“ einige hundert Jahre lang radioaktiv
raturen besitzen die Kerne höhere Bewegungs- bleibt. (Aktuelle Kernkraftwerke strahlen viele
energien und damit höhere Geschwindigkei- tausend Jahre lang.) Ein GAU, wie die Explo-
ten. Mit Magnetfeldern lässt sich das Plasma sion des Kernkraftwerks Tschernobyl oder die
einschließen, ohne dass es mit den Wänden Kernschmelze in Fukushima, droht bei einem
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des Reaktors in Berührung kommt. Dies erfor- Fusionskraftwerk nicht, denn eine Kernfusion
dert großen technischen Aufwand. Er ist aber läuft nicht selbsttätig ab. Sobald der nötige
unumgänglich, denn keine materielle Wand Druck oder die hohe Temperatur nicht mehr
würde diesen hohen Temperaturen auch nur aufrechterhalten werden, endet die Reaktion.
kurzzeitig standhalten. Für den magnetischen
Einschluss werden zwei alternative Konzepte Plasmakristalle
8-33 verfolgt: Erstens der Tokamak, bei dem eine
Plasmakristalle. Die
Verwendung geladener an einen Donut erinnernde torusförmige Plas- In den letzten Jahren gelang es am Institut für
Staubteilchen als Mo- makammer und ein im Plasma selbst indu- Plasmaphysik der Universität Kiel, sehr unge-
dellsystem statt atomarer zierter Strom verwendet werden (ITER). Ein wöhnliche Plasmen herzustellen und für die Er-
Ionen (Größenverhältnisse
nicht maßstabsgetreu) zweiter Ansatz ist der Stellator mit komplex forschung von Phasenübergängen einzusetzen.
ermöglicht insbesondere gewundenen Magnetspulen (Versuchsreaktor Die Bezeichnung Plasmakristalle ist eigentlich
unter Schwerelosigkeit Wendelstein 7-X des Max-Planck-Instituts für schon ein Widerspruch in sich, vielleicht sollte
Untersuchungen des Ver-
haltens von Plasmen in Plasmaphysik in Greifswald). Um das Plasma man sie eher als plasmagesteuerte Metakristalle
„atomaren“ Details. Mit auf die nötige Temperatur zu erhitzen, strahlt bezeichnen. Man meint damit künstliche Sys-
Hilfe eines gefächerten man hochfrequente Radio- oder Mikrowellen teme, bei denen staubfeine, ca. 10 Mikrometer
Lasers kann man eine
einzelne Gitterebene be-
ein oder beschießt es mit Teilchenstrahlen. Ob große Plastikkügelchen die Rolle von Atomen
leuchten und die Teilchen- das Plasma „brennt“ und dann durch Fusion übernehmen, mit dem Vorteil, dass sie sich
bewegung exakt beob- schließlich mehr Energie erzeugt, als zum Auf- ohne weiteres individuell beobachten lassen.
achten. Die Staubpartikel
heizen verbraucht wird, hängt aber nicht allein In einer Plasmakammer einer Hochfrequenz-
führen Zitterbewegungen
(„thermische Bewegung“) von der Temperatur ab. Wichtig sind noch zwei entladung ausgesetzt, laden sich diese „Atome“
um ihre Gitterplätze aus, weitere Faktoren: Für die Kernfusion ist eine stark negativ auf und werden im Plasma durch
die durch das vorhandene
ausreichende Dichte des Plasmas nötig. Sie wird ein elektrisches Raumladungsfeld an dessen
Gas gedämpft werden.
Durch Verringerung des durch hohen Druck erreicht. Mit steigender Rand eingefangen. Das Gewicht der Teilchen
Drucks lässt sich die Dichte nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass kann durch ein elektrisches Feld neutralisiert
Dämpfung verringern sich zwei Kerne treffen. Außerdem spielt die werden. Unter dem Einfluss der gegenseitigen
und so der Übergang zur
flüssigen Phase simulieren „Energieeinschlusszeit“ eine Rolle. Sie gibt an, elektrischen Abstoßung bilden sie bei Raum-
(oben links im Bild). wie gut das Plasma gegen Wärmeverluste iso- temperatur ein hexagonales Gitter. —

394
KAPITEL 9

Form und Materie


Ordnung und Zufall
Entropie
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Komplexe Strukturen
Zum neunten Kapitel

Die antiken griechischen Philosophen nahmen an, dass man Universums offenbar so viel kleiner als heute und nicht schon
zwischen der Form eines Objekts und der Materie, aus der von Anfang an maximal? Antworten auf Fragen dieser Art
es besteht, unterscheiden sollte: Ein Stück Bronze sei nicht sind Inhalt des zweiten Teils.
dasselbe wie eine Bronzestatue. Aber ist die Form der Dinge Zufall allein produziert weder Struktur noch Form, denn
nur Folge ihrer materiellen Zusammensetzung, oder sind es bedarf der gestalterischen Kraft von Naturgesetzen, damit
Formen das Wesentliche und Materie lediglich der Baustoff? Formen und Strukturen entstehen. Für uns zielorientierte
Falls Letzteres zutrifft, woraus besteht dann Form? Oder: Menschen mag es überraschend sein, was aus dem ziello-
Woher weiß eine Eichel, dass sie ein Baum werden soll und sen Wirken der Naturgesetze alles „von selbst“ entstehen
kein Stuhl? kann, aber viele Phänomene unserer Welt sind auf diese
Fragen dieser Art beschäftigten die Philosophen der An- Weise tatsächlich erklärbar. Trotz der frühen Anwendung
tike und des Mittelalters. Uns mögen sie antiquiert erscheinen, naturwissenschaftlicher Methoden in Medizin und Biologie
wissen wir doch einigermaßen Bescheid über die Wachstums- blieben aber für lange Zeit Aspekte der Entstehung und der
prozesse von Eichen und über den Aufbau der Materie. Wir Funktion von Lebewesen bei wissenschaftlichen Erklärungen
könnten heute diesen Philosophen antworten, dass Materie außen vor. Man war der Ansicht, dass für das Leben eine be-
aus Atomen bestehe und dass die Formen der Dinge letzten sondere Lebenskraft verantwortlich sei. Diese vis vitalis war
Endes durch Kräfte zustande kommen, die zwischen Atomen etwas anderes als die mechanischen Kräfte, die das Verhalten
wirken. Einen Philosophen wie ARISTOTELES würden wir da- unbelebter Körper bestimmen. Man unterschied zwischen
mit jedoch nicht überzeugen, schließlich behaupten wir damit organischer und anorganischer Materie – eine Trennung,
kaum mehr als dessen Vorgänger DEMOKRIT (ÅLeukipp und die sich noch heute in der chemischen Einteilung der Stoffe
Demokrit – die frühen Atomisten, Seite 34): So wie wir in organisch und anorganisch widerspiegelt. Während es im
heute von Kräften reden, sprach dieser von Haken und Ösen, Zeitalter von Molekularbiologie und Gentechnik schwer fällt,
mit denen Atome zusammenhalten; Körpereigenschaften an eine vis vitalis als Motor des Lebens zu glauben, ist im
waren bei DEMOKRIT Folge der verschiedenen Formen der Bereich der Bewusstseinsforschung noch eine Diskussion über
Atome. Wir müssen schon ausführlicher darlegen, warum die Anwendbarkeit materialistischer Erklärungen im Gange.
aus einer Eichel ein Baum wird und kein Stuhl. Die zentrale Von Manchem wird hier die Kluft zwischen bewusstem
Frage dieses Kapitels lautet daher: Wenn Atome und Kräfte Erleben und neurologischen Erklärungen für das Phänomen
nichts von der Form der Dinge wissen, wie entsteht sie dann? Bewußtsein noch als zu groß empfunden. So spannend und
Der Molekularbiologe und Medizin-Nobelpreisträger aktuell dieses Thema ist, wir können es im Rahmen dieses
JACQUES MONOD (1910 – 1976) prägte den Ausdruck Zufall Buches nur streifen. In Kapitel 12 greifen wir aber die Frage
und Notwendigkeitt für den evolutionären Prozess der Entste- wieder auf, wie das Wechselspiel aus unbelebter Materie und
hung von Lebensformen. Wie aber soll der Zufall eine Rolle Kräften in der Lage ist, hochkomplexe, bewusste Lebewesen
spielen, wenn doch Naturgesetze die Welt beherrschen? Wel- wie uns zu erschaffen.
che Rolle der Zufall in der Natur spielt, ist daher das Thema Mit Hilfe neuer Methoden zur Analyse und Simulation
des ersten Teils dieses Kapitels. komplexer Systeme in vielen Bereichen konnte in den letzten
Auch das oft zitierte Streben der Welt in Richtung Unord- Jahrzehnten ein tieferer Einblick in deren Funktionsweise
nung (das Streben zum Entropiemaximum) entpuppt sich bei gewonnen werden, was sich vor allem in Begriffen wie Selbst-
genauem Hinsehen als alltägliches Phänomen: So wie Chaos organisation und Nichtlinearitätt manifestiert, die heute die
der wahrscheinlichste Zustand eines Kinderzimmers ist, ist Diskussion über solche Systeme prägen. Formbildung als
Unordnung in den allermeisten Fällen der wahrscheinlichste Selbstorganisation nichtlinearer Systeme ist daher Thema
Endzustand eines Systems aus Materie. Entropie ist aber des dritten Abschnitts.
nicht leicht zu verstehen: Wie verträgt sich der mit dem Stre-
ben nach Unordnung einher gehende Unterschied zwischen
Vergangenheit und Zukunft mit der zeitlichen Symmetrie
der Naturgesetze? Warum war die Entropie zu Beginn des
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Form und Materie

Ordnung und Zufall


Zufall – in den Naturgesetzen nicht(?)
vorgesehen

Die Vorstellungen darüber, was Menschen als


Zufall ansehen, gehen sicherlich auseinander. Ist
es Zufall, dass ein alter Freund gerade in dem
Moment anruft, wenn wir an ihn denken? Ist es
Zufall, dass der griechische Feldherr AGAMEMNON
Troja zerstörte und im ersten Weltkrieg ein briti-
scher Zerstörer namens Agamemnon versehent-
lich die Ruinen Trojas beschoss? Je nach Weltan-
schauung oder persönlicher Betroffenheit werden
wir derartige Ereignisse als Zufall ansehen oder
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nicht. Wie aber vertragen sich zufällige Ereig-


nisse mit unseren Vorstellungen deterministischer
Naturgesetze, die eindeutig und unabwendbar
festlegen, wie sich unsere Welt entwickelt?
Eine Möglichkeit, diesen Widerspruch aufzu-
lösen, besteht darin, Zufall nur als Folge unserer
Unwissenheitt zu deuten. Wenn alle Gesetze der
Welt bekannt und ihr aktueller Zustand in ei- Quantenphysikalische Effekte wie der radioak-
nem einzigen Augenblick erfassbar wären, dann tive Zerfall deuten darauf hin, dass auch über-
müssten wir berechnen können, was im nächsten menschliche Fähigkeiten nicht ausreichen, den
Augenblick oder in tausend Jahren geschieht. Lauf der Welt für alle Zeiten aus ihrem momen-
Der Anruf unseres Freundes wäre eine notwen- tanen Zustand zu bestimmen. Dem Zerfall eines
dige Folge der Entwicklung des Universums bis Atomkerns geht kein Ereignis als erkennbare Urr-
zum heutigen Tag. PIERRE SIMON DE LAPLACE sache voraus. Zwar ist sicher, dass er irgendwann
(1749 – 1827) drückte dies wie folgt aus: zerfällt, der Zeitpunkt ist jedoch vollkommen
unbestimmt, also zufällig. Allerdings scheinen
Es lässt sich eine Stufe der Naturerkenntnis diese „Zufälligkeiten“ in der makroskopischen
denken, auf welcher alles Weltgeschehen durch Welt kaum eine Rolle zu spielen, sie scheinen sich
eine mathematische Formel vorgestellt würde,
durch ein unermessliches System simultaner
„herauszumitteln“. Vielleicht ist die Welt nicht im
Differenzialgleichungen, aus dem sich Ort, Be- Detail deterministisch, wohl aber im Großen und
wegungsrichtung und Geschwindigkeit jedes Ganzen? Schließlich interessieren auch bei Wet-
Atoms im Weltall zu jeder Zeit ergäben. tervorhersagen nicht Wolkenformen, sondern nur
die Information „bewölkt“ oder „wolkenlos“. Ist
Diese Stufe der Naturerkenntnis setzt offenbar also wenigstens die makroskopische Welt im Mit-
übermenschliche mathematische Fähigkeiten tel deterministisch? Es zeigt sich, dass auch in der
und einen vollständigen Überblick über das Ge- klassischen Physik (und in der allgemeinen Rela-
schehen im Kosmos voraus. Ein übermenschli- tivitätstheorie) Konstellationen möglich sind, in
ches Wesen, ein sogenannter Laplacescher Dä- denen die Entwicklung eines Systems nicht mehr
mon wäre dazu aber vielleicht in der Lage. eindeutig durch den aktuellen Zustand bestimmt

397
KAPITEL 9 Form und Materie

ist. Es ist also keinesfalls sicher, ob eine „Theorie erkennen kann. Wie wir noch sehen werden, ist
für Alles“ überhaupt deterministisch sein kann. die Nichtlinearität von Systemen verantwortlich
Und natürlich ist nicht gesagt, dass es eine solche für chaotisches Verhalten, aber gleichzeitig auch
Theorie überhaupt gibt und wir wissen nicht, der Grund dafür, dass relativ stabile Strukturen
ob die Natur von ewig und überall geltenden wie Wirbelstürme, Tigerstreifen und Zellen ent-
Gesetzen regiert wird. Die Frage also, ob Zufall stehen können. Man spricht vom deterministi-
lediglich unsere Unwissenheit ausdrückt oder ob schen Chaos, womit man ausdrücken möchte,
die Welt tatsächlich zufällige Elemente enthält, dass dieses Verhalten aus deterministischen Ge-
muss vorerst offen bleiben. setzen heraus erfolgt. Nichtlineare Systeme sind
meist sehr empfindlich gegenüber Änderungen
Deterministisches Chaos der Anfangsbedingungen. Geringste Unterschiede
können zu einem vollkommen anderen System-
Regelmäßig wiederkehrende Erscheinungen stel- verhalten führen. Der Meteorologe und Mathe-
len natürlich ein gutes Indiz für gesetzmäßiges matiker EDWARD N. LORENZ (1917 – 2008) prägte
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

Verhalten dar. Die Erfahrung zeigt uns, dass es dafür den Ausdruck „Schmetterlingseffekt“: Der
in der Welt unterschiedliche Grade von Regel- Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien
mäßigkeit gibt. Die Bewegungen der Planeten kann demnach einen Tornado in Arizona auslö-
bleiben über Jahrmillionen hinweg praktisch un- sen. Unabhängig davon, ob solche Systeme „im
verändert, wogegen die Ziehung der Lottozahlen Grunde“ deterministisch sind oder nicht, ist ihr
9-2 ein völlig zufälliger Prozess ist. Zwischen diesen Verhalten unvorhersagbar. Weder kennen wir die
Pierre Simon de La-
place. Gemälde aus dem
Extremen spannt sich ein riesiges Feld von Er- Anfangsbedingungen genau genug, noch können
19. Jahrhundert. scheinungen, die in unterschiedlichen Ausmaßen wir jede noch so kleine Störung von außen nach-
Zufall und Regelmäßigkeit verkörpern. Das Wet- vollziehen. Zu unserem Glück neigen nicht alle
ter zeigt jahreszeitliche Perioden und scheint auch Systeme zu solch komplexem Verhalten. Es wäre
im großen Maßstab quasiperiodischen Trends unpraktisch, wenn Luft Muster unterschiedlicher
zu unterliegen. Im Kleinen jedoch bleibt die Konzentrationen in einem Raum bilden oder
Vorhersage schwierig. Mithilfe entsprechender sich Tee im Wasser streifenförmig lösen würde.
Untersuchungsmethoden kann man den Bruch Ärgerlich wäre auch, wenn die Suppe auf dem
eines Werkstücks gut vorhersagen, wenngleich Tisch plötzlich anfinge zu kochen, anstatt sich
Stochastik der genaue Zeitpunkt des Bruchs unsicher ist. abzukühlen. Um zu verstehen, was Luft, Tee
Wissenschaft der Wahr- Und obwohl die uns umgebende Luft aus einem oder Suppe von Wirbelstürmen, Tigerstreifen
scheinlichkeit und der
Statistik chaotischen Gewusel vieler Moleküle besteht, und lebenden Zellen unterscheidet, benötigen
ist deren Gesamtverhalten über sehr einfache wir etwas Statistik.
Gesetze determiniert.
Welche Eigenschaften der Systeme sind für Das Gesetz der großen Zahl
diese Unterschiede verantwortlich? Größe oder
Anzahl ihrer Bestandteile scheinen keine Rolle zu Selbst wenn wir Ereignisse nicht vorhersehen
spielen, wie man anhand der gegebenen Beispiele können, ist es oft möglich, die Wahrscheinlichkeit
ihres Eintretens zu bestimmen. Meist wird im
9-3 Alltag unter der Wahrscheinlichkeit eines Ereig-
Zufälliger Zerfall. Bei ei-
nisses dessen relative Häufigkeitt unter der Menge
nem radioaktiven Element
zerfallen in einer be- der möglichen Ereignisse verstanden. Gibt es wie
stimmten Zeiteinheit, der beim Münzwurf zwei mögliche Ereignisse, näm-
Halbwertszeit, jeweils die lich Kopff oder Zahl, und tritt jedes etwa gleich
Hälfte der noch verbliebe-
nen Atomkerne. Welche häufig auf, dann ist deren relative Häufigkeit 1/2.
dies sind, ist vom Zufall Nach dem Gesetz der großen Zahl kommt die
abhängig. Caesium-137 ist gezählte Häufigkeit eines Ereignisses nach vielen
übrigens das Isotop, das
für einen Großteil mittel- Versuchen diesem theoretischen Wert immer nä-
fristiger Verseuchung bei her (ÅAbbildung 9-4). Sind die Ereignisse gleich
Atomunfällen wie Tscher- wahrscheinlich, spricht man von einer Gleich-
nobyl oder Fukushima
verantwortlich ist. N0 ist verteilung, es gibt aber natürlich auch Ereignisse
die anfängliche Anzahl der mit unterschiedlicher Häufigkeit in einer Menge.
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betroffenen Atome.

398
Erde, Wasser, Luft und Feuer

So nimmt die Sterbewahrscheinlichkeit mit dem 9-4


Würfeln. Die Häufigkeit
Alter zu. Das Ereignis „Sterben mit 70“ ist in der nähert sich mit zuneh-
Bevölkerung im Mittel häufiger als das Ereignis mender Anzahl der Ver-
„Sterben mit 30“ (ÅAbbildung 9-5). suche dem theoretischen
Wert 1/6 = 0,1666... immer
mehr an.
Verteilungen und der zentrale
Grenzwertsatz

Häufigkeitsverteilungen werden empirisch er-


mittelt. Sie sagen uns nicht, warum es sich so
verhält, warum beispielsweise Männer im Mit-
tel früher sterben als Frauen. Aber auch wenn
wir nicht in der Lage sind, ein deterministisches 9-5
Gesetz anzugeben, das ein konkretes Ereignis Sterbewahrscheinlich-
vorhersagt, so möchten wir wenigstens wissen, keit. q(x) gibt die relative
Häufigkeit der Todesfälle
warum eine Verteilung ihre bestimmte Form hat im Alter x in Abhängig-
und keine andere. Wie sich herausstellt, folgen keit vom Geschlecht an.
viele Häufigkeitsverteilungen immer wieder- q(50) = 0,0048 bedeutet,
dass von 1000 50-jährigen
kehrenden Formen, die sich durch Verteilungs- Personen im Mittel 4,8 in
funktionen mathematisch sehr gut beschreiben ihrem fünfzigsten Lebens-
lassen. Dies liegt daran, dass die Form einer jahr sterben.
Häufigkeitsverteilung von den Eigenschaften des
zugrundeliegenden Zufallsprozesses abhängt.
Der einfachste Zufallsprozess ist das Werfen Wir werden ihr in diesem Kapitel noch öfter
einer Münze. Es gibt nur zwei mögliche Ergeb- begegnen. So sind zum Beispiel die Geschwindig-
nisse: Kopf oder Zahl. Ermittelt man nun die keiten der Moleküle eines Gases normalverteilt,
Häufigkeit, wie oft nach sehr vielen Würfen auch Messungen physikalischer Größen wie der
Kopf erscheint, so erhält man die sogenannte Dicke eines Materials schwanken normalverteilt
Binominalverteilung, sofern die Würfe voneinan- (Å Abbildung 9-7, Seite 400).
der unabhängig sind (die Münze sollte sich nicht
während des Versuchs verformen und vollkom- „Fat Tails“ und Irrfahrten
men symmetrisch sein). Entsprechende Versuche
kann man auch mit einem Würfel durchführen, Eine wesentliche Voraussetzung für die Anwend-
indem man zählt, wie oft pro Versuchsreihe die barkeit des Grenzwertsatzes ist die Unabhängig-
6 vorkommt oder welche Werte der Mittelwert keit der einzelnen Zufallsereignisse. Der Wurf ei-
über die Versuchsreihen hinweg annimmt. Ähn- ner Münze darf nicht von den vorangegangenen 9-6
liches lässt sich mit Lottokugeln durchführen, Würfen abhängen. Während dies bei Münzen Würfeln und die
Normalverteilung.
sofern man nach jedem Ziehen die Kugel wieder offenbar gegeben ist, ist in anderen Fällen die Er- Verteilung der Mittelwerte
zurücklegt, um die Wahrscheinlichkeiten nicht füllung dieser Bedingung zumindest zweifelhaft. von je 160 Würfen mit
zu verändern. Bei all diesen Versuchsreihen stellt Warum sind die Geschwindigkeiten von Gas- einem Würfel im Vergleich
mit der Normalverteilung.
man fest, dass sich die Häufigkeitsverteilung molekülen normalverteilt, wenn ihre Bewegung Von jedem Wert wurde
der gezählten Größe (Summe, Mittelwert, An- der theoretische Mittelwert
zahl der Sechser usw.) einer glockenförmigen 3,5 abgezogen, so dass die
Kurve um den Nullpunkt
Kurve nähert, der sogenannten Normalverteilung zentriert ist. P(x) gibt
(ÅAbbildung 9-6). Nach dem zentralen Grenz- die relative Häufigkeit
wertsatz der Wahrscheinlichkeitstheorie kon- von x als Mittelwert an.
Wie erwartet, liegen die
vergiert die Verteilung der Summen (und damit meisten Werte bei x = 0
auch der Mittelwerte) von identisch verteilten (d.h. einem Mittelwert
und unabhängigen Zufallsgrößen hin zur Nor- von 3,5). Zwischen der
Standabweichung –ʍ und
malverteilung. Dies ist der Grund für ihre uni- +ʍ einer Normalverteilung
verselle Anwendbarkeit in so unterschiedlichen liegen ca. 68 Prozent aller
Bereichen wie Physik, Medizin und Wirtschaft. Werte.

399
KAPITEL 9 Form und Materie

deterministischen Gesetzen Es wird uns in diesem Kapitel begegnen bei der


gehorcht? Sollte ihre Ge- Erklärung der Diffusion, kann aber auch dazu
schwindigkeit nicht von dienen, die mittlere Länge von Polymermolekü-
ihrer Vorgeschichte ab- len abzuschätzen, und dient in der sogenannten
hängen? Auch Modelle der Finanzwirt- Random-Walk-Theorie dazu, die Fat-Tail-Pro-
schaft basieren auf der Annahme nor- blematik bei Kurssimulationen zu vermeiden.
malverteilter Zufallsgrößen. Vergleicht
man allerdings echte Kursschwankun- Ordnung im Chaos
gen mit Simulationen normalverteilter
Kursschwankungen,
Kursschwank so fällt auf, dass in Wir kommen zurück auf die Frage, warum die
der Realität extreme Ausschläge nach oben Luft in einem Zimmer eher dazu neigt, sich
9-7 oder unten viel häufiger sind, als im Modell gleichmäßig zu verteilen, während sie sich bei
Dickemessung. Selbst
wenn man makrosko- vorhergesagt. Die reale Verteilungsfunktion hat einem Wirbelsturm mit gewaltigem Tempo im
pische Unebenheiten nicht „Fat Tails“, das heißt sie strebt an den Rändern Kreis dreht. Lässt sich dieses unterschiedliche
beachtet, führen wärme- langsamer gegen null als die entsprechende Nor- Verhalten aus den Bewegungsgesetzen der Luft-
bedingte Vibrationen der
Atome und deren Orts- malverteilung, extreme Abweichungen vom Mit- moleküle ableiten?
unschärfe dazu, dass die telwert sind daher häufiger. Verursacht werden Die Bewegungen der einzelnen Moleküle ei-
Maße eines Körpers (und Fat Tails durch die Abhängigkeit der aktuellen nes Gases direkt auszurechnen, ist aufgrund ihrer
des Messgeräts selbst)
nicht exakt definiert sind. Werte der Zufallsgrößen von deren Werten in der unglaublich großen Zahl unmöglich. So enthält
Die Ergebnisse vieler Vergangenheit. Die Zufallsgröße hat ein „Ge- ein Kubikmeter Wasserstoffgas mehr als 1025
Dickemessungen sind nor- dächtnis“, ist also keine echte Zufallsgröße mehr. Wasserstoffmoleküle. Wären die Moleküle groß
malverteilt.
Ganz anders sieht es bei Gasen aus. Obwohl wie Sandkörner (ca. 1 mm3), dann könnten sie
die Bewegungen der Gasmoleküle einer deter- ganz Bayern 85 cm hoch mit Sand bedecken. Sie
ministischen Gleichung gehorchen, sind ihre bewegen sich bei Zimmertemperatur mit meh-
Geschwindigkeiten und die freien Weglängen reren hundert Metern pro Sekunde, und jedes
zwischen den Zusammenstößen der Moleküle Molekül stößt in dieser Zeit mehrere Milliarden
normalverteilt. Es handelt sich um ein maximal Mal mit anderen Molekülen zusammen. Trotz
chaotisches System, bei dem die Zusammen- dieses gewaltigen Gewusels folgt die Gesamtheit
stöße der Moleküle deren Vorgeschichte sehr aller Moleküle einfachen Gesetzen, zumindest in
schnell vollständig auslöschen, etwa so, wie „Zimmersituationen“. Die Zustandsgleichung
ein auf einem Schotterweg herabrollender Ball der idealen Gase (ÅAbbildung 7-11, Seite 363)
einen Weg einschlägt, der nach kürzester Zeit beschreibt den Zusammenhang zwischen Druck,
nicht mehr erkennen lässt, in welche Richtung Volumen, Stoffmenge und Temperatur eines Ga-
er losgeschickt wurde. Das zeitliche Verhalten ses, ohne Bezug nehmen zu müssen auf die kon-
der Zufallsgrößen von Systemen dieser Art kreten Bewegungen der einzelnen Gasmoleküle.
kann man mit einem stochastischen Prozess Es liegt nahe, dieses gleichförmige Verhalten als
modellieren, der treffenderweise Irrfahrt (engl. eine Folge des Gesetzes der großen Zahlen zu
random walk) genannt wird. Im eindimensio- deuten. RUDOLF CLAUSIUS (1822 – 1888) führte
nalen Fall startet man auf dem Zahlenstrahl damit als erster die Zustandsgleichung auf das
bei null und geht bei jedem Schritt mit gleicher kollektive Verhalten der Gasmoleküle zurück.
Wahrscheinlichkeit vor oder zurück. Der Ab- Er machte die permanenten Stöße der Mole-
stand k vom Nullpunkt nach n Schritten ist für küle auf die Außenwand für den Druck des ein-
große n normal verteilt. Obwohl eine Irrfahrt geschlossenen Gases verantwortlich. Während
keine Vorzugsrichtung kennt, kommt man also jeder einzelne Stoß kaum spürbar ist, entsteht
9-8
Kursschwankungen. von der Stelle. Für zwei- oder dreidimensionale im Mittel durch ihre große Zahl ein konstanter,
Kurschwankungen zei- Irrfahrten sind entsprechende Zufallsschritte in messbarer Druck.
gen typisches Fat-Tail- alle Richtungen möglich. Ideale Irrfahrer haben
Verhalten. Die Kurven A
und C sind echte Werte, kein Gedächtnis: Jeder Schritt ist unabhängig Gleichverteilungssatz und Maxwell-
B ist eine Simulation mit von den vorangegangenen (ÅAbbildung 9-9). Boltzmann-Verteilung
normalverteilten Zufalls- Trotz seiner Einfachheit ist dieses Modell bei der
schwankungen und D eine
Simulation, in der Fat Tails Analyse vieler Systeme anwendbar, deren zeitli- Aber wie hängt die Temperatur eines Gases mit
berücksichtigt wurden. che Entwicklung kein „Gedächtnis“ beinhaltet. der Bewegungsenergie der Moleküle genau zu-

400
Erde, Wasser, Luft und Feuer

9-9
Irrfahrt. Links zwei eindi-
mensionale Irrfahrten mit
n = 500 Schritten entlang
einer Achse mit einer
Schrittweite von ± 0,5.
Die y-Achse zeigt, wie
weit sich der „Irrfahrer“
nach n Schritten vom Aus-
gangspunkt entfernt hat.
Die grüne Kurve zeigt den
mittleren quadratischen
Abstand vieler Irrfahrten
vom Ausgangspunkt
in Abhängigkeit von n.
Rechts eine zweidimen-
sionale Irrfahrt von 200
Schritten mit einer Schritt-
sammen? JAMES CLERK MAXWELL (1831 – 1879) nimmt mit dem Quadrat der Geschwindigkeit
weite zwischen 0 und
und LUDWIG BOLTZMANN (1844 – 1906) fan- zu. Da ihre mittlere Energie mit der Temperatur ± 0,5 in beide Richtungen.
den dafür die entscheidende Antwort, die als zunimmt, sind bei gleicher Temperatur leichtere
Gleichverteilungssatz oder Äquipartitionsthe- Moleküle im Mittel schneller.
orem bekannt ist. Demnach verteilt sich die
Energie des Gases im Mittel gleichmäßig auf Schlüssel zu vielen Prozessen –
alle Freiheitsgrade der Moleküle. Jeder Freiheits- die Boltzmann-Statistik
grad erhält im Mittel die gleiche Energieportion,
nämlich 1/2 kT. Darin ist k die sogenannte Boltz- Die von BOLTZMANN aufgestellte Boltzmann-
mannkonstante und T die absolute Temperatur Verteilung (meist Boltzmann-Statistik genannt)
(ÅKasten Freiheitsgrade, Seite 402). MAXWELL ist wesentlich allgemeiner und beschreibt, wie
stellte eine statistische Verteilungsfunktion für sich im Gleichgewicht die Gesamtenergie eines
die Geschwindigkeiten der Gasmoleküle auf, die Systems auf dessen verfügbare Zustände statis-
von BOLTZMANN wenig später theoretisch be- tisch verteilt:
gründet und verallgemeinert wurde. Man nennt p(z) ~ e-E(z)/kT
sie daher Maxwell-Boltzmann-Verteilung (Å Ab-
bildung 9-10 und 9-11). Sie ist der Form nach Die Wahrscheinlichkeit p(z) eines Zustands z ist
eine Normalverteilung, wie wir sie im vorherigen also abhängig von der Temperatur T und der
Abschnitt kennen gelernt haben. Man erkennt, Energie E(z) in diesem Zustand. Bei Systemen
dass die Molekülgeschwindigkeiten einen brei- freier Teilchen wie einem Gas ohne nennenswerte
ten Bereich abdecken, dass aber der Anteil der Wechselwirkungen zwischen den Molekülen ist
schnelleren Moleküle mit steigender Temperatur ein Systemzustand charakterisiert durch die ki-
zunimmt. Die Bewegungsenergie eines Moleküls netische Energie aller Teilchen, und die Boltz-

9-10 9-11
Maxwell-Boltzmann-Verteilung (1). Die Geschwindigkei- Maxwell-Boltzmann-Verteilung (2). Vergleich der Ge-
ten von Stickstoffmolekülen (N2) in Abhängigkeit von der schwindigkeit der Moleküle verschiedener Gase bei Zim-
Temperatur. 300 K entsprechen Zimmertemperatur. Eben- mertemperatur. Je schwerer die Gasmoleküle sind, desto
falls eingetragen sind die mittleren Geschwindigkeiten vm. langsamer sind sie.

401
KAPITEL 9 Form und Materie

Freiheitsgrade

Jede Bewegung einer punktförmigen Masse kann aus drei mit endlichem Volumen hat daher sechs Freiheitsgrade und
Bewegungen längs der drei Achsen des Koordinatensystems deshalb eine mittlere Energie von 6 · 1/2 kT = 3 kT. Eine nur
zusammengesetzt werden. Man sagt daher, sie hat drei Frei- hypothetisch denkbare Punktmasse hätte drei Freiheitsgrade,
heitsgrade (der Bewegung). Besitzt sie ein endliches Volumen, mithin eine mittlere Energie von 3/2 kT.
kommen nochmals drei Freiheitsgrade für die Rotationskom- Zwei weitere Freiheitsgrade kommen hinzu, wenn zwei
ponenten um die x-, y- und z-Achse hinzu. Ein freies Teilchen Teilchen durch Anziehungskräfte miteinander verbunden
sind. Die Anziehungskräfte kann man sich wie Federn vor-
9-12
Freiheitsgrade. Jede Bewegungs- stellen, die die Körper verbinden und durch die diese in
richtung im Raum (Vektor) kann Schwingungen geraten können. Demnach hätte ein zwei-
zusammengesetzt werden aus atomiges Molekül wie Wasserstoff (H2) acht Freiheitsgrade,
drei Vektoren, die in Richtung der
drei Koordinatenachsen weisen.
also eine mittlere Energie von 4 kT.
Daher besitzt eine Bewegung im Überraschenderweise entspricht das Verhalten realer
Raum drei Freiheitsgrade. Analog Moleküle nicht diesem Schema (ÅAbbildung 9-13). Was-
kann man jede Rotation in drei
Rotationsrichtungen zerlegen,
serstoffmoleküle verhalten sich bei niedrigen Temperaturen
eine Rotation besitzt ebenfalls wie Punktmassen mit einer mittleren Energie von 3/2 kT. Bei
drei Freiheitsgrade. höheren Temperaturen steigt diese Energie auf 5/2 kT T an, um
bei noch höheren Temperaturen den Wert 7/2 kT T zu erreichen.
Eine Erklärung dafür liefert die Quantentheorie. Die Freiheits-
grade eines Moleküls können nämlich im Allgemeinen nicht
beliebige Energiewerte annehmen, sondern nur exakt defi-
nierte Portionen (Quanten). Ein Molekül kann nur zu einer
Rotation angeregt werden, wenn mindestens die dafür nötige
Energieportion zugeführt wird. Ein Wasserstoffmolekül wird
daher erst zu rotieren beginnen, wenn die entsprechende kriti-
sche Temperatur erreicht ist. Dabei stehen aus quantenmecha-
nischen Gründen nur zwei Rotationsachsen zur Verfügung.
Die Energie erhöht sich nur auf 5/2 kT
T statt auf 6/2 kT. Um die
beiden Atome des Moleküls gegeneinander in Schwingungen
9-13 zu versetzen, ist sogar eine noch höhere Energie notwendig.
Wasserstoffmolekül. Verlauf der mittleren Energie pro Wasserstoffmo- Anfangs stehen also nur drei Freiheitsgrade zur Verfügung
lekül (H2) in Abhängigkeit von der Temperatur T. Die Energie ist ausge-
drückt als die spezifische Wärme CV/N·k pro Molekül (bei N Molekülen, auf die sich die Energie verteilen kann, die mittlere Energie
k ist die Boltzmann-Konstante). des Moleküls beträgt also nur 3/2 kT.

mann-Statistik ist dann nichts anderes als die Verteilung der Energie auf Gitterschwingungen
Maxwell-Boltzmann-Verteilung. Bei Gasen mit und Elektronen (ÅSpezifische Wärmekapazität,
Wechselwirkungen zwischen den Molekülen hat Seite 198). Eine Einschränkung ihres Geltungs-
die Boltzmann-Statistik grundsätzlich die gleiche bereichs erfährt die Boltzmann-Statistik in der
Form, aber ein Zustand ist dabei nicht nur durch Quantenwelt durch die Diskretheit der mög-
die kinetische Energie bestimmt, sondern auch lichen Zustände und durch das Pauli-Prinzip.
durch die räumliche Konfiguration der Teilchen, Es besagt, dass sich Teilchen mit halbzahligem
da diese die potenzielle Energie festlegt. Spin (Fermionen, zu denen auch das Elektron
Die Boltzmann-Statistik gilt für eine Viel- gehört) nicht im gleichen quantenmechanischen
zahl von Systemen, von Gasen über komplexe Zustand aufhalten können. Für sie gilt deshalb
Moleküle bis hin zu Festkörpern. Bei ersteren die sogenannte Fermi-Dirac-Statistik (ÅAbbil-
beschreibt sie, wie sich die Gesamtenergie auf dung 9-14). Sie ist für viele physikalische Effekte
die Bewegungszustände der Teilchen verteilt, verantwortlich, die ansonsten nicht erklärbar
bei Molekülen beschreibt sie unter anderem die wären. Teilchen mit ganzzahligem Spin (Bosonen)
Verteilung der Energie auf die möglichen Win- unterliegen nicht dem Pauli-Prinzip, für sie gilt
kelpositionen der Atome, bei Festkörpern die die Bose-Einstein-Statistik. Da Photonen Bosonen

402
Erde, Wasser, Luft und Feuer

sind, gilt sie auch für das Strahlungsfeld eines einer Ablaufrichtung (Irreversibilität, Unum-
sogenannten schwarzen Körpers. Das Plancksche kehrbarkeit) vieler physikalischer Prozesse be-
Strahlungsgesetz, das wesentlich zur Entstehung stimmt auch unser Zeitempfinden.
der Quantentheorie beitrug, ist ein Spezialfall Nur: Durch welche „Magie“ entsteht aus
dieser Statistik (ÅStrahlungsgesetze von Stefan deterministischen Bewegungsgesetzen eine zeit-
bis Planck, Seite 96). Beide Statistiken gehen liche Vorzugsrichtung? Die Bewegungsgesetze
bei hohen Energien in die Boltzmann-Statistik implizieren ja, dass ein System exakt zu einem
über, da mit zunehmender Energie die Zustände ursprünglichen Zustand zurückkehrt, wenn man
so dicht liegen, dass ihre Diskretheit praktisch den Zeitablauf umkehrt, oder – was das Glei-
keine Rolle mehr spielt. che ist – wenn man die Bewegungsrichtungen 9-14
Die Ablaufgeschwindigkeit vieler chemischer aller Teilchen umkehrt (man denke an einen Statistiken. Die mittlere
Besetzungszahl von Zu-
Reaktionen ist temperaturabhängig. Chemische rückwärtslaufenden Film). Dieser sogenannte ständen eines Systems
Reaktionen erfordern oft eine Mindestenergie, Umkehreinwand gegen BOLTZ L MANNs Theorie ist hängt davon ab, ob es
die sogenannte Aktivierungsenergie. Hätten alle tatsächlich berechtigt. Man kann durch Com- sich um Fermionen, Bo-
sonen oder klassische
Teilchen eines Systems die gleiche Energie, könnte putersimulationen zeigen, dass in diesem Fall Teilchen handelt. Bei
ein solcher Prozess erst anlaufen, wenn die Akti- die Entropie sinkt, solange das System absolut Fermionen kann maximal
vierungsenergie bei allen Teilchen überschritten ungestört bleibt. BOLTZ
L MANNs Argumentation ist ein Teilchen einen Zustand
besetzen, weshalb die
wird. Gemäß der Boltzmann-Statistik existieren dennoch korrekt, da in einem maximal chaoti- Fermi-Dirac-Statistik bei
aber bei eigentlich zu niedrigen Temperaturen schen System, wie es ein Gas darstellt, winzigste niedrigen Energien (bzw.
stets auch Teilchen mit Energien oberhalb der Störungen die Bewegung eines Teilchens so be- Temperaturen) gegen 1
konvergiert. Für große
Aktivierungsenergie. Der Prozess läuft dann be- einflussen, dass dessen Ort und Geschwindig-
Energien gehen Fermi-
reits an, wenngleich mit geringer Geschwindig- keit nach kürzester Zeit nicht mehr mit seiner Dirac- und Bose-Einstein-
keit, da die Zahl solcher Teilchen klein ist. Je Vorgeschichte korreliert sind. Eine Umkehrung Statistik in die klassische
höher die Temperatur steigt, desto mehr Teilchen kann nur dann tatsächlich zum Ausgangszustand Boltzmann-Statistik über.
Die Energie ist bezogen
überschreiten die notwendige Energie und die zurückführen, wenn man auch alle seither auf- auf das chemische Poten-
Reaktion wird heftiger. getretenen Störungen umkehrt und verhindert, tial μ, bei Fermionen ist
dass im Zuge der Rückwärtsbewegung neue Stö- dies gleich der Fermiener-
gie EF. Bei E = EF (hier der
Reversibel oder irreversibel? rungen auftreten, ausgelöst zum Beispiel durch Nullpunkt) ist die Hälfte
den spontanen radioaktiven Zerfall eines Atoms aller Zustände besetzt,
Natürlich konnte auch BOLTZ L MANN nicht die in der Nähe oder winzigste seismische Zitter- d.h. n = ½.
Bewegungen von Teilchen und die Folgen bewegungen des Gasbehälters, wodurch an der
ihrer Zusammenstöße direkt ausrechnen. Er Gefäßwand reflektierte Teilchen andere Impulse
betrachtete vielmehr ein kleines Gebiet im erhalten als zuvor. Die beobachtete Irreversibi-
sogenannten Phasenraum (ÅKasten Phasenraum, lität natürlicher Prozesse ist also eine Folge der
Seite 404) eines Vielteilchensystems und be- Komplexität natürlicher Systeme.
rechnete auf Basis plausibler Annahmen, wie Der geniale Mathematiker HENRI POINCARÉ
viele Teilchen im Mittel pro Zeiteinheit dieses (1854 – 1912) bewies 1890, dass ein System
Gebiet durch Zusammenstöße verlassen oder in von Teilchen jedem vormals eingenommenen
es eintreten. Ohne äußere Störungen sollte im Zustand nach endlicher Zeit wieder beliebig
Gleichgewichtszustand die Zahl der eintretenden nahe kommen sollte. Das Gas müsste sich dem-
und austretenden Teilchen im Mittel gleich groß nach irgendwann wieder in das ursprüngliche
sein. BOLTZ
L MANN zeigte, dass diese Annahme Teilvolumen zurückziehen, eine offensichtlich
impliziert, dass jede Verteilung von Impulsen unglaubwürdige Vorstellung. Es zeigte sich aber,
und Orten der Boltzmann-Statistik zustrebt, dass dieser sogenannte Wiederkehreinwand kein
unabhängig von ihrer ursprünglichen Form. grundsätzliches Problem darstellt. Nach den
Ist also ein Gas anfangs in einem Teilvolumen Gesetzen der statistischen Mechanik ist es zwar
eines Behälters konzentriert, so wird es sich tatsächlich nicht ausgeschlossen, dass das Gas
mit der Zeit gleichmäßig im Volumen verteilen, seine ursprüngliche Form wieder annimmt, je-
unabhängig davon, wie groß das Teilvolumen doch ist die mittlere Zeitspanne, bis so etwas
war oder welche Form es hatte. Umgekehrt wird passiert, extrem lang: sie übersteigt das Alter des
sich das Gas nicht wieder im ursprünglichen Universums (ca. 13 Milliarden Jahre) um viele
Bereich konzentrieren. Diese Bevorzugung Größenordnungen.

403
KAPITEL 9 Form und Materie

Phasenraum

Der sogenannte Phasenraum ist ein wichtiges Darstellungs- jedes Teilchen des Systems periodisch die gleichen Impuls- und
mittel der Physik. Im Phasenraum wird das zeitliche Verhalten Ortskoordinaten, so spricht man von einem periodischen
eines Vielteilchensystems als Bewegung eines Punktes in einem Orbit. Orbits, in die Systeme nach einer Störung wieder zu-
hochdimensionalen Raum dargestellt. Der Punkt repräsentiert rückkehren, nennt man Attraktoren. Nichtlineare Systeme
den aktuellen Zustand des Systems in Form der jeweils drei sind oft dadurch gekennzeichnet, dass ihre Bewegungen im
Impuls- und drei Ortskoordinaten aller Teilchen. Die Zahl eingeschwungenen Zustand zwar nicht völlig willkürlich
der Raumdimensionen entspricht den Freiheitsgraden des Sys- erscheinen, aber auch nicht periodisch. Sie bewegen sich auf
tems. Die Bewegung eines freien Teilchens wird also in einem Bahnen im Phasenraum, die sehr dicht beieinander liegen,
sechsdimensionalen Raum dargestellt, die Bewegungen von aber nicht ineinander übergehen (sonst wären sie periodisch).
N freien Teilchen in einem 6N-dimensionalen Raum. Die Be- Die Figur dieser Bahnen im Phasenraum bildet ein fraktales
wegung des Systems in diesem Raum entspricht der zeitlichen Muster, man nennt sie daher einen seltsamen Attraktor. Sys-
Veränderung aller Impulse und Orte, und die zurückgelegte teme, die mit der Zeit zur Ruhe kommen, haben als Attraktor
Bahn nennt man Trajektorie (Å Abbildung 9-15). Durchläuft einen Fixpunkt im Phasenraum.

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


9-15 9-16
Pendel. Der Phasenraum eines Federpendels hat nur zwei Dimensionen, Lorenz-Attraktor. Der Lorenz-Attraktor ist der erste bekannte seltsame
da es nur in einer Richtung schwingen kann. Der Ort des Pendels wird Attraktor, er wurde 1963 von EDUARD N. LORENZ entdeckt. Das dem
auf der q-Koordinate aufgetragen, der Impuls auf der p-Koordinate. Die Attraktor zugrunde liegende dynamische System repräsentiert ein sehr
Trajektorie eines ungedämpften Pendels ist ein periodischer Orbit, da es einfaches Modell der Erdatmosphäre. Das System wechselt quasiperio-
zwischen höchstem Ausschlag und höchster Geschwindigkeit hin und disch zwischen zwei Bereichen, die wie Flügel eines Schmetterlings aus-
her pendelt. Die Trajektorie eines gedämpften Pendels läuft spiralförmig sehen, ohne jedoch die gleiche Trajektorie mehrmals zu durchlaufen.
auf den Fixpunkt (q = 0, p = 0) zu, in dem das Pendel zur Ruhe kommt.

Diffusion als Irrfahrt auch nicht abhängig davon, ob die Schritte


gleich oder unterschiedlich lang ausfallen. In
Die oben beschriebene Irrfahrt liefert ein an- Gasen oder Flüssigkeiten entspricht zum Bei-
schauliches Modell dafür, wie sich durch die spiel ein Schritt einer geradlinigen Bewegung
fortwährenden Zusammenstöße der Moleküle eines Teilchens zwischen zwei Zusammenstö-
eines Gases oder einer Flüssigkeit mit der Zeit ßen. Aus diesem allgemeinen Verhalten folgt das
ein Konzentrationsgleichgewicht einstellt. Die- Diffusionsgesetz, nach dem das mittlere Qua-
sen Prozess bezeichnet man als Diffusion. Ob- drat der Verschiebung (Δs2)m eines Teilchens
wohl bei einer Irrfahrt ein Schritt nach links proportional zur entsprechenden Zeit Δtt ist. Der
oder nach rechts gleich wahrscheinlich ist, tritt konkrete Wert der Diffusionskonstanten D ist
man nicht auf der Stelle. Das mittlere Quadrat natürlich von der Natur des Prozesses abhängig:
des Abstands nach n Schritten vom Ausgangs-
punkt ist proportional zur Anzahl der Schritte (Δs2)m = D · Δt
(ÅAbbildung 9-9, Seite 401)! Dieses Gesetz
gilt sehr allgemein, da es keine Annahmen über Ein Stoff verteilt sich daher in einem Volumen
die Natur der Bewegungen enthält, und es ist aufgrund des zufälligen Umherwanderns seiner

404
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Teilchen. Konzentrationsgefälle werden dadurch Wassergefäß verbunden, die zwar Wasser-, aber
ausgeglichen, dass in einen Bereich geringer keine Zuckermoleküle durchlässt, so strömen
Stoffkonzentration mehr dieser Teilchen hinein- so lange Wassermoleküle in das Rohr, bis die
wandern als heraus. Dies geschieht so lange, bis Diffusionsraten in beiden Richtungen gleich sind.
der Konzentrationsunterschied ausgeglichen ist. Unterschiedlich sind sie anfangs deshalb, weil
Man kann das Diffusionsgesetz auch mithilfe die Beweglichkeit der Wassermoleküle im Rohr
des Konzentrationsgefälles ausdrücken, im so- durch Zusammenstöße mit den großen Zucker-
genannten Ersten Fickschen Gesetz, das die Teil- molekülen eingeschränkt ist, so dass weniger
chenstromdichte als Funktion der Konzentration vom Rohr ins Gefäß diffundieren als umgekehrt.
9-17
an einem Ort ausdrückt. Dadurch sinkt aber die Konzentration an Zucker- r Osmotischer Druck.
Die Irrfahrten der Moleküle in einer Flüs- molekülen im Rohr, und die Diffusionsraten der Durch eine Membran,
sigkeit sind auch für die sogenannte Brown- Wassermoleküle gleichen sich an. Das Einströ- die nur Wasser-, aber
keine Zuckermoleküle
sche Molekularbewegung verantwortlich. 1827 men von Wasser führt zum Anstieg des Drucks im durchlässt, werden durch
beobachtete der schottische Botaniker ROBERT Rohr, man spricht vom osmotischen Druck. Dieser Diffusion anfangs mehr
BROWN (ÅZitternde Pollen, Seite 98), dass Druck dient bei Pflanzen zur Stabilisierung ihrer Wassermoleküle in die
Zuckerlösung strömen als
schwimmende Pollen unter dem Mikroskop Stängel, weshalb sie bei Wassermangel schlaff anders herum. Der Druck
Zitterbewegungen vollführten. EINSTEIN und werden. Das Konzentrationsgefälle an gelösten im Rohr steigt so lange
PERRIN konnten nachweisen, dass die zufälligen Stoffen zwischen dem Saft in den Pflanzenwur- an, bis die Diffusionsge-
schwindigkeiten ausgegli-
Zusammenstöße der Flüssigkeitsmoleküle mit zeln und dem Wasser im Boden erhöht den Druck
chen sind. Der osmotische
solchen Partikeln für deren Zitterbewegungen im Inneren der Wurzeln, was den Saft gegen die Druck hält dem Gewicht
verantwortlich sind. Schwerkraft nach oben steigen lässt. Der Druck der Flüssigkeitssäule im
Rohr gerade die Waage.
reicht aus, um auch die Wipfel von hundert Me-
Diffusion als Strukturbildner ter hohen Bäumen mit Pflanzensaft zu versorgen.
Im Zuge der Evolution entstanden in den Zell-
Da unsere Welt sich nicht im Gleichgewicht be- wänden komplizierte Membransysteme, die über
findet, sondern von Konzentrationsgefällen wim- hochselektive Kanäle Stoffe ein- bzw. ausströmen

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melt, sind Diffusionsprozesse allgegenwärtig. Sie lassen. Auf diese Weise erfolgt auch die Signal-
sorgen für die Verteilung der Milch in unserem übertragung an den Synapsen von Nervenzellen.
Kaffee, selbst wenn wir nicht umrühren und sind Ein weiteres Beispiel der Strukturbildung
sogar letzten Endes dafür verantwortlich, dass bei durch Diffusion ist diffusionsbegrenztes Wachs-
Luftdruckunterschieden Strömungen (Stürme!) tum. Verästelte, filigrane Strukturen wie Schnee-
für den Ausgleich sorgen. Diffusionsprozesse flocken (ÅAbbildung 9-18) entstehen dadurch,
sind auch in biologischen Systemen von großer dass sich bewegte Teilchen mit größerer Wahr-
Bedeutung, sie dienen dort zum Transport von scheinlichkeit an den Enden bestehender Kri-
Nährstoffen und Stoffwechselprodukten an die stalle anlagern als im Inneren der Struktur, da
Stellen, wo sie benötigt werden. Die beschränkte sie bei ihrer Irrfahrt Richtung Kristallmitte meist 9-18
Diffusionsgeschwindigkeit kann dabei ein Prob- vorher „hängen“ bleiben. — Diffusionsbegrenztes
Wachstum. Schneeflocken
lem werden. In einer 1 μm großen Bakterienzelle (oben) und Dendriten
benötigen Stoffe durch Diffusion etwa 0,2 Milli- Entropie (unten) sind typische Bei-
sekunden, um von der Hülle ins Zentrum zu ge- spiele für die bevorzugte
Anlagerung von Molekü-
langen. Bei Zellen höherer Organismen mit Grö- Das Streben nach Unordnung len an den Spitzen einer
ßen um 10 μm sind dies schon 20 Millisekunden, vorhandenen Struktur.
bei Nervenzellen mit zentimeterlangen Axonen Die beiden ersten Hauptsätze der Thermody- Aufgrund der Symmetrie
der Wassermoleküle sind
entsprechend mehr. Zellen höherer Organismen namik wurden im 19. Jahrhundert formuliert im Schneekristall nur
verfügen daher über ausgeklügelte Transport- (ÅEntropie und der Wärmetod, Seite 94): Winkel von 60° oder 120°
mechanismen, Stoffautobahnen sozusagen, die möglich, was der Struktur
eine besondere Symmetrie
nicht in Irrfahrten, sondern in geordneten Bahnen 1 Die Energie der Welt ist konstant.
verleiht. Bei Dendriten auf
Stoffmoleküle transportieren. Gesteinsflächen, die oft
Auch die Osmose, also der Transport von 2 Die Entropie der Welt strebt einem mit Versteinerungen ver-
wechselt werden, handelt
Stoffen durch halbdurchlässige Membranen, ist Maximum zu.
es sich um aus Lösungen
ein Diffusionsprozess. Ist ein mit Zuckerwasser kristallisierte Eisen- und
gefülltes Rohr durch eine Membran mit einem Manganoxide.

405
KAPITEL 9 Form und Materie

Einheit der Entropie Während uns der Energiebegriff inzwischen sehr chen gleichen den Irrfahrten, die wir bei der
J / K (Joule/Kelvin) geläufig ist, ist die Entropie wenig anschaulich. Erklärung der Diffusion herangezogen haben.
Der zweite Hauptsatz drückt mit ihrer Hilfe den Die ständigen Verwirbelungen führen am Ende
Sachverhalt aus, dass es nicht möglich ist, Wärme dazu, dass der Staub gleichmäßig verteilt ist.
vollständig in andere Energieformen umzuwan- Eine gleichmäßige Staubverteilung ist schlicht
deln. Zudem laufen alle Prozesse, die zu einem viel wahrscheinlicher als die Bildung eines ein-
Anstieg der Entropie führen, spontan ab und sind zelnen Häufchens, womöglich noch direkt ne-
irreversibel. Die Irreversibilität spontan ablau- ben dem Mülleimer. Das Verhalten von Staub
fender Prozesse macht den Zusammenhang des erinnert an Entropie: Diese strebt immer ei-
zweiten Hauptsatzes mit dem Ablauf der Zeit nem Maximalwert zu, so wie Staub sich immer
deutlich. Gälte er nicht, würde z. B. eine Tasse gleichmäßig verteilt, unabhängig vom jeweiligen
Kaffee statt abzukühlen einfach heiß bleiben. Auf Ausgangszustand. BOLTZ L MANN formulierte den
einer Filmaufnahme der Tasse mit darin befind- Zusammenhang zwischen Entropie und Sys-
lichem Thermometer könnten wir nicht entschei- temzustand so: Die Entropie S eines Systems ist
den, ob der Film vorwärts oder rückwärts läuft. proportional zum Logarithmus der Zahl W der
Beide Hauptsätze gelten streng genommen nur für Zustände, in denen es sich befinden kann:
das Universum als ganzes, denn zwischen dessen
S = k · ln W
Teilen findet normalerweise ein reger Energie-
und Stoffaustausch statt. Um ihre Gültigkeit im Die Zustände eines Systems sind alle denkbaren
Kleinen nachzuweisen, muss dieser Austausch im Kombinationen von Zuständen seiner Teilchen,
Experiment minimiert werden, so dass er über die mit den herrschenden Randbedingungen ver-
den Messzeitraum hinweg keine Rolle spielt. Man einbar sind. Die Zustände von Staubkörnern
sagt, das betroffene System muss abgeschlossen wären dann ihre Positionen im Zimmer. Eine
sein. Bringt man zwei vormals abgeschlossene Randbedingung wäre, dass der Staub das Zim-
9-19
Entropiebilanz der Erde.
Systeme zusammen, die beide bereits ihren Ma- mer nicht verlassen kann. Zustände von Gasmo-
Der zweite Hauptsatz wird ximalwert an Entropie „enthalten“, so setzt ein lekülen sind deren Positionen und Geschwindig-
oft als Argument gegen spontaner Prozess ein, der erst endet, wenn der keiten. Die Randbedingungen wären, dass die
die spontane Bildung von
maximale Entropiewert des Gesamtsystems er- r Teilchen den Behälter nicht verlassen können
Leben angeführt. Die
Entropie der Biosphäre reicht ist. Und dieser ist mindestens gleich, meist und die Gesamtenergie des Gases konstant ist.
ist aber deshalb relativ größer, aber niemals kleiner als die Summe der Die Entropie entpuppt sich als universelles
gering, weil Lebewesen
beiden Einzelwerte. Konzept. Schließlich kann der Begriff „System-
überschüssige Entropie in
Form von Wärme „expor- zustand“ sehr allgemein gefasst werden. Er
tieren“, zum Beispiel, in Entropie und Unordnung trifft auf Staub ebenso zu wie auf Luftmoleküle
dem sie Wasser verduns- oder Elementarteilchen. Er ist nicht vom ma-
ten lassen. Dies trifft auch
für die Erde insgesamt Die Entropie versteht man leichter, wenn man teriellen Substrat abhängig, sondern von der
zu. Sie empfängt von der den heißen Kaffee beiseite lässt und eine an- Zahl der Freiheitsgrade des Systems (Å Kasten
Sonne Photonen, deren dere Frage stellt: Warum verteilt sich Staub Freiheitsgrade, Seite 402). Der Zustand eines
Energie der Oberflächen-
temperatur der Sonne immer gleichmäßig auf allen Möbeln, anstatt Gases in einem Gefäß ist charakterisiert durch
(5700 K) entspricht, und sich hübsch als Häufchen in einer Ecke anzu- die Menge der Orte und Geschwindigkeiten al-
gibt niederenergetische ordnen? Im Gegensatz zu den Möbeln selbst, ler Gasmoleküle. Und die Anzahl der Möglich-
Photonen entsprechend
ihrer Oberflächentempera- die ja dort stehen bleiben, wo wir sie hingestellt keiten, sie gleichmäßig im Gefäß zu verteilen,
tur (ca. 300 K) ab. Da die haben, wird Staub durch den geringsten Luftzug ist um ein Vielfaches größer als die Anzahl der
Energiebilanz ausgeglichen aufgewirbelt. Die Bewegungen der Staubteil- Möglichkeiten, sie in einem kleineren Teilgebiet
sein muss und ein irdisches
Photon 19-mal weniger
zu konzentrieren (Å Kasten Die Anzahl von
Energie transportiert als Zuständen). Obwohl sich also Positionen und
ein Sonnenphoton, wer- Geschwindigkeiten der Gasmoleküle laufend
den entsprechend mehr
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ändern, werden fast nur Zustände mit gleich-


davon produziert. Eine
Erhöhung der Photonen- mäßiger Verteilung der Moleküle auftreten. In
zahl entspricht aber einer diesen Zuständen hat das Gas nach der obigen
Erhöhung der Entropie,
Beziehung die maximale Entropie. Ist das Gas
das heißt, die Erde trans-
portiert überschüssige En- anfangs in einem Teilgebiet gefangen, wird es
tropie in den Weltraum. sich nach dem Freilassen von selbst sehr schnell

406
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Die Anzahl von Zuständen

Ein einfaches Modell für die möglichen Zustände eines Felder verteilt werden. Am meisten Möglichkeiten liefert
Gases ist ein Schachbrett (als Gasbehälter) mit vier Fel- die gleichförmige Verteilung (4,4,4,4). Denkt man sich die
dern, auf die sechzehn Kugeln (als Gasmoleküle) verteilt Kugeln wie Gasmoleküle in ständiger Bewegung, so ist
werden können. Es gibt also vier mögliche Positionen offensichtlich, dass man viel häufiger eine Gleichverteilung
für jede Kugel. Den Zustand, bei dem alle Kugeln sich der Kugeln vorfindet als eine Verteilung, in der alle Kugeln
im rechten unteren Feld befinden, bezeichnen wir mit in einem Feld konzentriert sind. Der Unterschied zwischen
(0,0,0,16). Es gibt trivialerweise nur eine Möglichkeit, gleich- und ungleich verteilten Konfigurationen wird umso
alle Kugeln in dieses Feld zu legen. Anders sieht es bei der größer, je mehr Positionen und Kugeln vorhanden sind. Da
Verteilung (2,3,3,8) aus: Man kann entweder die ersten wenige Liter eines Gases etwa 1023 Moleküle enthalten,
beiden Kugeln in Feld eins legen oder Nummer drei und ist eine Ungleichverteilung praktisch auszuschließen, und
vier und so weiter. Insgesamt gibt es über sieben Millionen jede anfängliche Ungleichverteilung verschwindet schnell.
Möglichkeiten, die sechzehn Kugeln auf diese Weise zu ver- Da die Entropie mit der Anzahl der Zustände wächst, wird
teilen. Wie das Diagramm unten zeigt, gibt es umso mehr sie ebenfalls schnell bis zu einem Maximalwert steigen, der
Verteilungsoptionen, je gleichmäßiger die Kugeln auf die demjeningen der Gleichverteilung entspricht.

9-20
Anzahl von Anordnungen und Entropie. Die Anzahl der möglichen Anordnungen von 16 Kugeln in vier Feldern wächst mit der Gleichförmigkeit
der Verteilung und ist maximal bei der Gleichverteilung (4,4,4,4). Die Entropie ist proportional zu ln W, dem natürlichen Logarithmus der Anzahl
möglicher Anordnungen (ganz rechts).

im ganzen Gefäß ausbreiten. Da die Anzahl der Signale am Empfangsort wieder rekonstruiert
Zustände im Teilgebiet kleiner ist als im ganzen werden können und benötigte dazu eine Defini-
Gefäß, ist auch die Entropie des eingesperrten tion der Informationsmenge, die in einem Signal
Gases geringer. Durch Entfernung der Sperre ist steckt. Er definierte den Informationsgehalt I
der verfügbare Raum größer und damit auch eines Signals als Funktion der Auftrittswahr-
die Anzahl der zugänglichen Zustände. Das scheinlichkeiten pi aller m möglichen Inhalte
Gas wird sich durch Diffusion so lange aus- des Signals:
m
dehnen, bis es den Raum gleichmäßig ausfüllt I = −∑ pi log2 pi
und den maximalen Entropiewert erreicht hat. i =1

Damit haben wir auch die Verbindung zwischen Da es um digitale Signale ging, die nur die Zu-
Diffusionsprozessen und Entropie gefunden: stände 0 („aus“) oder 1 („an“) annehmen konn-
Diffusionsprozesse erhöhen die Entropie eines ten, lag es nahe, den Logarithmus zur Basis 2 zu
Systems, sie laufen daher spontan ab. verwenden (ÅKasten Logarithmus, Seite 408).
Der Informationsgehalt einer Signallampe, die
Entropie und Information mit gleicher Wahrscheinlichkeit an oder aus sein
kann ist dann:
D e r a m e rik a ni sc h e M at h e m at ik e r C L A U DE
SHANNON (1916 – 2001) verband die beiden Be- 2 1 1
I Lampe = −∑ log2 = log2 2 = 1
griffe Entropie und Information miteinander. Er i =1 2 2
untersuchte, wie bei einer Übertragung gestörte

407
KAPITEL 9 Form und Materie

Das ist die kleinste mögliche Informationsein- sich am Ereignishorizont bemerkbar machen,
Logarithmus heit, und sie entspricht der Antwort auf eine sind äußeren Beobachtern zugänglich. JACOB
einzige Ja/Nein-Frage: „Ist die Lampe an?“. D. BEKENSTEIN (*1947) und STEPHEN HAWKING
Der Logarithmus ist die Um- SHANNON bezeichnete diese Informationseinheit (*1942) gelang es dennoch aus sehr allgemei-
kehrung der Exponential- als 1 Bit. Hat man zwei Lampen, gibt es bereits nen Überlegungen heraus, eine Beziehung für
funktion y=ax. Er liefert den 22 = 4 Zustände, und der Informationsgehalt be- die Entropie eines schwarzen Lochs abzuleiten.
Wert von x, wenn y bekannt trägt 2 Bit, denn es sind zwei Ja/Nein-Fragen nö- Demnach ist sie direkt proportional zur Fläche
ist: x = loga(y). Der Logarith- tig, um den Zustand zu bestimmen: „Ist Lampe des Ereignishorizonts und sonst nur noch von
mus hängt von der "Basis" 1 an?“ und „Ist Lampe 2 an?“. Generell ist der Naturkonstanten abhängig. Da jedes umschlos-
a der Exponentialfunktion Informationsgehalt eines binären Signals der sene Volumen nicht mehr „Zustände“ enthalten
ab. Meist wird die Zahl e als Länge n gleich n Bit. kann als ein schwarzes Loch mit gleich großem
Basis verwendet, und man Mit Hilfe des Shannonschen Informations- Ereignishorizont, bedeutet dies, dass es eine
schreibt dann ln anstelle maßes lässt sich der Informationsgehalt unter- universelle Obergrenze für die Entropie eines
von loge. Die Umrechnung schiedlicher „Codes“ bestimmen, unter ande- beliebigen Raumbereichs gibt, die nicht von
zwischen Basen ist einfach: rem auch der des Genoms. Die Verbindung zur dessen Volumen, sondern nur von der Größe
loga(y) = logb(y) · loga(b). Die Entropie liegt auf der Hand. Wenn insgesamt seiner Oberfläche abhängt. Im Widerspruch
Logarithmen unterschied- W gleich wahrscheinliche Realisierungsmöglich- dazu folgt aber aufgrund des beschriebenen
licher Basen unterscheiden keiten eines Systemzustands existieren, beträgt Zusammenhangs zwischen Zustandsanzahl und
sich nur durch einen kons- sein Informationsgehalt: Entropie, dass bei dreidimensionalen Objekten
tanten Faktor. Wichtige Re- die Entropie proportional zum Volumen ist
chenregeln sind: W 1 1 (Å Abbildung 9-21). Sollte die „Raumhaftig-
I = −∑ log 2 = log 2 W
log(mn) = n ⋅ log(m) i =1 W W keit“ der Welt etwa eine Illusion sein? Wenn
log(m · n) = log(m) + log(n) alle Informationen eines Raumbereichs bereits
log(m / n) = log(m) – log(n) Durch Vergleich mit S = k ·lnW
W folgt: S =k·ln 2·I. in dessen Oberfläche steckt, entspräche diese
log(1) = 0. Hohe Entropiewerte entsprechen also einem einem Hologramm, das ja alle räumlichen
hohen Informationsgehalt. Anschaulich drückt Informationen des aufgenommenen Gegen -
dies die Tatsache aus, dass bei W zugänglichen stands enthält. Diese „holografisches Prinzip“
Bytes Zuständen eines Systems log2W Ja/Nein-Fragen genannte Vorstellung bedeutet nicht nur, dass
Bei Computern sind Sig- nötig sind, um den Zustand zu ermitteln. die Information einer Oberfläche äquivalent zu
nale der Länge 8 häufig
der des umschlossenen Volumens ist, sondern
anzutreffen, weshalb man
hierfür den Begriff Byte Schwarze Löcher und holografisches es sollten auch alle physikalischen Gesetze, die
prägte: 8 bit = 1 Byte.
Prinzip für das Volumen gelten, ein exaktes Gegen-
stück für die Oberfläche besitzen. So könnte ein
Schwarze Löcher sind Objekte im Universum fünfdimensionales schwarzes Loch in unserer
mit praktisch unendlich hoher Dichte und so vierdimensionalen Raumzeit als gewöhnliche
starkem Gravitationsfeld, dass selbst Licht Wärmestrahlung erscheinen. Da uns anderer-
nicht mehr in der Lage ist, aus ihnen zu ent- seits Information aus einem Raumbereich nur
weichen. Aufgrund ihrer besonderen mathe- über dessen Oberfläche zugänglich ist – sie ist
matischen Eigenschaften in der Relativitäts - gewissermaßen der einzige Informationskanal
theorie bezeichnet man sie als Singularitäten – könnte das holografische Prinzip aber auch
(ÅSchwarze Löcher, Seite 481). Bewegt man nur Ausdruck dieses simplen Sachverhalts sein.
sich auf sie zu, kommt man irgendwann zu Das würde bedeuten, dass wir die physikali-
einen „Punkt ohne Wiederkehr“. Überschreitet sche Realität weniger als Geschehen in Raum
man diesen, ist keine Rückkehr mehr mög- und Zeit ansehen müssen, sondern als einen
lich. Auch etwaige Funkbotschaften gelangen ständigen Prozess des Informationsaustauschs,
nicht mehr nach außen. Die Fläche um eine wobei auch Raum und Zeit nichts anderes
Singularität, auf der diese Punkte liegen, be- wären als eine kausale Kette von Ereignissen.
zeichnet man als ihren Ereignishorizont. Da Gedanken dieser Art sind Bestandteil der ak-
nichts mehr nach außen dringen kann, ist es tuellen Vorschläge zur Vereinheitlichung von
auch nicht möglich, irgendetwas über das In- Relativitäts- und Quantentheorie, die wir noch
nenleben eines schwarzen Lochs in Erfahrung in Kapitel 10 kennen lernen werden (Å Jenseits
zu bringen. Lediglich die Eigenschaften, die des Standardmodells, Seite 437).

408
Erde, Wasser, Luft und Feuer

verströmt eine Wärmflasche Wärmestrahlung in


Der absolute Wert der Entropie die Umgebung. Der Energieaustausch ist dann
ausgeglichen, wenn die Entropie des Gesamt-
USB-Sticks haben mehrere Gigabyte Speicher- systems „Umgebung plus Wärmflasche“ ihren
kapazität, also einen Informationsgehalt von Maximalwert erreicht hat. Allgemein spricht
etwa 1010 bit. Der Entropie des Sticks selbst man zwar eher davon, dass beide dann die glei-
entspricht ein weit höherer Informationsge- che Temperatur besitzen, aber das liegt daran,
halt, denn er besteht aus Atomen, die viele dass die Temperatur genau so definiert ist: Zwei
Freiheitsgrade besitzen. Sein Informationsge- Körper haben die gleiche Temperatur, wenn der
halt beträgt daher etwa 1023 bit. Die Atome Energieaustausch zwischen ihnen im Gleichge-
bestehen aus Elementarteilchen, so dass die wicht ist.
Gesamtentropie noch weit höher liegt. Wir Wenn ein System mit seiner Umgebung 9-21
können eine Obergrenze angeben: die Entropie Energie und Teilchen austauscht, so wird sich Volumenabhängigkeit
der Entropie. Die Zahl der
eines schwarzen Lochs gleicher Masse. Dar- r das Gesamtsystem „System plus Umgebung“
Freiheitsgrade und die
aus folgen etwa 1066 bit als Obergrenze für bis zum Gleichgewicht in Richtung maximaler Entropie wachsen mit der
den Informationsgehalt eines USB-Sticks. Mit Entropie bewegen. Dies bedeutet aber nicht, Anzahl der Objekte N und
sind damit proportional
welchem Wert der Entropie gerechnet werden dass die Entropie des Systems selbst maximal
zum Volumen V, das die
muss, hängt davon ab, welche Freiheitsgrade werden muss. So ist bei der Verbrennung von Objekte einnehmen. Die
bei den herrschenden Randbedingungen ver- Wasserstoff die Entropie der Ausgangsprodukte Entropie eines schwarzen
änderbar sind. Verbrennt man den Stick in (Wasserstoff und Sauerstoff) zusammen höher Lochs hingegen wächst
proportional zur Oberflä-
einem Ofen, so sind die Freiheitsgrade seiner als die des Reaktionsprodukts Wasser, da sich che A.
Atome interessant und bei noch höheren Tem- bei der Verbrennung die Teilchenzahl verrin-
peraturen die der Elementarteilchen, aus denen gert und flüssiges Wasser eine höhere Ordnung
sie bestehen. besitzt als beide Gase zusammen. Je nachdem,
Ideale Kristalle haben bei 0 Kelvin exakt welche physikalischen Randbedingungen für
die gleiche Entropie. Bei dieser Temperatur ist Temperatur, Druck, Volumen, Teilchenfluss und
keine Bewegung mehr möglich, sie kann also so weiter gelten, stellen sich im Gleichgewicht
nicht weiter verringert werden, ja nicht einmal unterschiedliche Werte für die Entropie und für
ganz erreicht werden. Bei 0 Kelvin wäre auch die innere Energie des Systems ein. Bei konstan-
kein Informationsaustausch mehr möglich. tem Druck und konstanter Temperatur bewegt
Man hat diesen Entropiewert daher als null sich das System so, dass die sogenannte Gibbs-
definiert. Auf dieser Basis kann man absolute Energie minimal wird. Die Gibbs-Energie G ist
Entropiewerte für Substanzproben angeben. mit der inneren Energie U und der Entropie S
Die sogenannte molare Standardentropie de- des Systems verbunden:
finiert den absoluten Wert der Entropie eines
G=U+p·V–T·S Innere Energie U
Mols einer Substanz bei 1 bar und 298 K. Gesamtenergie eines Sys-
Der Ausdruck p · V ist die mechanische Energie, tems, d. h. alle kinetischen
und potenziellen Energie-
die im System aufgrund seines Drucks p und
anteile.
Entropie, Energie und Temperatur seines Volumens V steckt. Eine anfangs große
Gibbs-Energie kann durch zwei Prozesse sinken:
Diffusionsprozesse erhöhen die Entropie. Wie Erstens durch Energieabgabe an die Umgebung,
die Existenz des osmotischen Drucks zeigt, fließt was deren Entropie erhöht, zweitens durch Erhö- Freie Enthalpie G
dabei auch Energie. Der Anstieg des Flüssigkeits- hung der eigenen Entropie. Bei der Verbrennung Die Gibbs-Energie wird
im deutschen Sprachraum
spiegels im Rohr bedeutet eine Erhöhung der von Wasserstoff wird sehr viel Bindungsenergie auch Freie Enthalpie ge-
potenziellen Energie der Flüssigkeit. Gleichzeitig frei, die an die Umgebung als Wärme abgeführt nannt.
erniedrigt sich die potenzielle Energie im Was- wird. Dies gleicht den Verlust an Entropie im
sergefäß, da dessen Wasserspiegel sinkt. Ver- System durch die Erzeugung von Wasser mehr
mittelt wird der Energiefluss durch den Strom als aus (Å Abbildung 9-22, Seite 410). Enthalpie H
aus Wassermolekülen, die durch die Membran Die Änderung der Gibbs-Energie liefert ein Summe aus innerer Ener-
diffundieren. Ihre kinetische Energie erhöht die Kriterium dafür, ob eine chemische Reaktion gie und durch Volumenän-
derungen geleisteter oder
Energie der Flüssigkeit im Rohr. Auch Ener- freiwillig abläuft oder nicht. Bei freiwillig ablau- aufgenommener Arbeit:
gieflüsse ohne Materietransport sind möglich. So fenden Reaktionen nimmt G ab, sie werden ex- H = U + p·V

409
KAPITEL 9 Form und Materie

ergon genannt. Nimmt G bei einer Reaktion zu, bald sich große Moleküle nah genug kommen,
so muss Energie zugeführt werden, die Reaktion ziehen sie sich daher an. Diese Kraft spielt bei
ist endergon. Es ist klar, dass die Umkehrung der Reaktionsdynamik von Makromolekülen
einer exergonen Reaktion endergon ist. Für die in Zellen eine große Rolle. So funktioniert das
Zerlegung von Wasser muss Energie zugeführt DNA-Replikationssystem des Bakteriums Esche-
werden. Führt eine Reaktion tatsächlich zu einer richia coli außerhalb der Zelle nur, wenn man
Energieabgabe an die Umgebung und nicht nur der Lösung kleinere Moleküle zusetzt, die die
zu einer Erhöhung der Entropie des Systems, so Zusammenballung der Makromoleküle fördern.
wird sie exotherm genannt. Auch die Kernfusion Die mangelnde Löslichkeit unpolarer Mo-
ist eine exotherme Reaktion, allerdings ist auf- leküle wie Öl in Wasser ist ebenfalls Folge ei-
grund der starken Abstoßungskräfte zwischen ner entropischen Kraft. Wassermoleküle bilden
den Kernen eine extrem hohe Aktivierungsener- aufgrund ihrer starken Polarität energetisch
gie notwendig. optimale Netzstrukturen. Würden sich unpo-
lare Moleküle in Wasser vollständig verteilen,
Entropische Kräfte würden sie diese Strukturen stören und dadurch
nicht nur die innere Energie des Wassers erhö-
9-22
Entropiebilanz der Was- Wir haben beim osmotischen Druck gesehen, hen, sondern auch die Bewegungsmöglichkeiten
serstoffverbrennung. Bei dass bei Prozessen, bei denen die Entropie steigt, der Wassermoleküle einschränken. Insgesamt
der Bildung von Wasser auch Kräfte wirken können, der Sog der En- würde daher die Entropie des Wassers verringert.
aus Wasserstoff und Sau-
erstoff nach der Reakti- tropie ist dann sozusagen fühlbar. Ein Lehr- Diese Erniedrigung überstiege die Entropieer-
onsgleichung 2 H2 + O2 → buchbeispiel hierfür ist die Spannkraft eines höhung, die durch eine möglichst vollständige
2 H2O ist die Entropie Gummis. Gummi ist ein Polymer, es besteht aus Lösung der unpolaren Moleküle entstünde. Die
des Systems „Wasser-
stoff + Sauerstoff“ zwar langen Ketten sich wiederholender Atomgrup- nichtpolaren Moleküle bleiben daher ungelöst
höher als die von Wasser, pen (Å Vom Kautschuk zum Gummi, Seite 302), und lagern sich bevorzugt aneinander an, um
dafür nimmt aber auf- die beweglich sind wie die Glieder eine Eisen- ihre Gesamtoberfläche zu reduzieren. Je kleiner
grund der Wärmeentwick-
lung (Reaktionsenthalpie)
kette. Durch die thermischen Bewegungen der die Oberfläche, desto geringer die Beeinflus-
die Entropie der Umge- Atome sind die Ketten nicht gestreckt, sondern sung der Wassermoleküle, d. h. desto geringer
bung zu, so dass die En- vielfach geknickt. Streckt man sie, in dem man der negative Entropieeffekt. Dies ist der Grund
tropiebilanz insgesamt po-
sitiv ist. Daher läuft diese
das Gummi dehnt, so kehren sie nach dem Los- für die spontane Entmischung eines Öl-Wasser-
Reaktion nach einer „In- lassen schnell wieder in den geknickten Zustand Gemischs. Gibt man sogenannte Emulgatoren
itialzündung“ von selbst zurück. Dieser besitzt eine wesentlich höhere hinzu, deren Moleküle auf der einen Seite polar
ab. Die Entropiewerte
Entropie, da es sehr viel mehr Möglichkeiten und auf der anderen unpolar sind, so bilden sie
der Reaktionspartner sind
die sogenannten molaren gibt, eine Kette zu knicken als sie zu richten. aufgrund der entropischen Effekte kugelförmige
Standardentropien, die auf Um die Ketten zu strecken, müssen Kräfte auf- Membranen, die kleine Öltröpfchen umschlie-
1 bar Druck und 298 K be-
gewendet werden, die jedem Knick den „Kick“ ßen und damit vor dem Zusammenballen und
zogenen absoluten Werte
der Entropie. Für Wasser in die richtige Richtung geben, mithin also den Entmischen bewahren. —
beträgt die Standardreak- thermischen Stoßkräften entgegenwirken. Die
tionsentropie 70 J/(K · mol) Summe dieser gerichteten Kräfte ist die benötigte Komplexe Strukturen
Kraft, um das Gummiband zu dehnen.
In wässrigen Lösungen weniger großer und Welt aus dem Gleichgewicht
vieler kleinerer Moleküle – typisch für das Zel-
leninnere – beobachtet man eine weitere entropi- Ein System, das mit seiner Umgebung Energie
sche Kraft, die große Moleküle sich zusammen- und Materie austauscht, strebt nicht zwangs-
ballen lässt. Sie wirkt, sobald deren Abstände läufig zum Zustand maximaler Entropie. Ein
kleiner werden als der Durchmesser der klei- Zustrom von Energie oder Materie kann viel-
neren Moleküle. In diesem Moment reduziert mehr die interne Entropieproduktion des Sys-
sich das für die Bewegung der kleinen Moleküle tems ausgleichen, solange so viel Entropie aus
verfügbare Volumen, ihre Entropie sinkt. Durch dem System „strömt“, dass die Gesamtentropie
weitere Annäherung der großen Moleküle wird „System plus Umgebung“ steigt. So kann ein
das für die kleineren Teilchen verfügbare Vo- Diffusionsprozess aufrechterhalten werden, in-
lumen wieder vergrößert, diesmal außerhalb dem man den Konzentrationsausgleich durch
der Zwischenräume der großen Moleküle. So- Z ufuhr zusätzlichen Materials verhindert.

410
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Dass man das Streben nach „Unordnung“ ver- Von Streifen und Flecken
hindern kann, erklärt allerdings noch nicht,
wie die in der Welt beobachteten geordneten Insbesondere die belebte Welt wimmelt von Mus-
Strukturen entstehen. Die Wirkung entropi- tern: Zebras und Wespen haben Streifen, Katzen
scher Kräfte ist offensichtlich als Erklärung sind oft gefleckt oder gestreift und eine große
dafür nicht ausreichend. Viele Wissenschaftler Zahl von Fischen und Muscheln haben streifen-
haben sich bereits mit der Frage auseinander- oder wellenförmige Muster. Auch in der Welt der
gesetzt, wie komplexe Strukturen „von selbst“ Chemie finden sich diese, zum Beispiel in der
entstehen und sich erhalten könnten. So suchte Belousov-Zhabotinsky-Reaktion (Å Abbildung 9-23
der Begründer der Systemtheorie LUDWIG VON 9-25, Seite 412). All diesen Strukturen liegen Rückkopplung. In rückge-
koppelten Systemen wirkt
BERTALANFFY (1901 – 1972) nach allgemeinen gleiche Mechanismen zugrunde, es handelt sich das Ausgangssignal auf
Organisationsprinzipien von Systemen. Die von um sogenannte Reaktions-Diffusions-Systeme. den Eingang zurück. Wird
WARREN MCCULLOCH (1898 – 1969), NORBERT In Systemen dieser Art wirken lokale chemische das rückgekoppelte Signal
addiert, spricht man von
WIENER (1894 – 1964) und anderen begründete Reaktionen und Diffusionsprozesse zusammen, Mitkopplung (A), andern-
Kybernetik versuchte das Verhalten komplexer Nichtlinearität entsteht durch Rückkopplungen falls von Gegenkopplung
lebender Systeme durch mathematische Modelle innerhalb der Reaktionsketten. Die Produktion (B). Gegenkopplung
erhöht die Stabilität, Mit-
zu verstehen, in denen Rückkopplungen eine eines Bestandteils beeinflusst die Produktion kopplung kann Verluste
große Rolle spielten (ÅAbbildung 9-23). Der der anderen. Häufig sind dabei autokatalytische ausgleichen, aber das Sys-
Chemiker und Nobelpreisträger ILYA L PRIGOGINE Reaktionen beteiligt, bei denen die Konzentra- tem wird schnell instabil.
(1917 – 2003) entwickelte die sogenannte The- tion einer Komponente deren Produktionsrate
orie dissipativer (lat. dissipare, zerstreuen, ver- positiv beeinflusst (Mitkopplung). Je nach Re-
breiten) Strukturen zur Erklärung von Selbst- aktions- und Diffusionsgeschwindigkeiten der Dissipative Prozesse
organisationsprozessen jenseits des thermody- Komponenten und der Geometrie des Reaktions- Prozesse, die die Entropie
eines Systems erhöhen,
namischen Gleichgewichts. Die von HERMAN raums bilden sich stationäre Muster oder sich zum Beispiel Reibungspro-
HAKEN (*1927) maßgeblich entwickelte Syner- wellenförmig ausbreitende Oszillationen. Eine zesse.
getik erklärt, warum die Teilchen eines Systems besondere Form sind Aktivator-Inhibitor-Sys-
spontan „im Gleichklang“ marschieren können. teme als Modelle vieler biologischer Prozesse wie
Dissipative Strukturen
Viele dieser Konzepte sind heute unter dem Embryonalentwicklung, Stoffwechselrhythmen Stabile Strukturen, die in
Oberbegriff Komplexitätstheorie zusammen- oder Bildung von Fellzeichnungen und Schalen- dissipativen Prozessen bei
gefasst. Sie liefert nicht nur in der materiellen mustern (ÅAbbildung 9-26, Seite 412). laufender Energiezufuhr
entstehen.
Welt Einsichten in Selbstorganisationsprozesse,
sondern auch in den Bereichen Wirtschaft, Psy- Ordnung bei Umwälzung
chologie und Sozialforschung.
Damit ein System spontan Ordnungsstruktu- Beim Erwärmen von Suppe oder beim Kochen
ren bilden kann, müssen zwischen Systemgrößen von Reis steigen deren feste Bestandteile oft
nichtlineare Zusammenhänge bestehen. Nichtli- in relativ geordneten, nebeneinander liegenden
neare Zusammenhänge in Systemen zeigen sich Bereichen auf und wieder ab. Diese Bereiche
oft daran, dass sich beim Ändern einer Größe nennt man Konvektionszellen. Unter optimalen
das Systemverhalten zunächst kaum ändert, Bedingungen bilden sich regelmäßige Strukturen
ab einem bestimmten Punkt aber sprunghaft. aus hexagonalen Zellen (Å Abbildung 10-27,
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA

Zustände nichtlinearer Systeme können also Seite 412). Konvektionszellen sind auch die
durchaus sehr stabil gegenüber Störungen sein. Ursache der „körnigen“ Struktur (Granulation)
Das Verhalten nichtlinearer Systeme ist au- der Sonnenoberfläche und von streifenförmigen
ßerordentlich vielfältig, gleichzeitig sind die Wolkenformationen. Auch die Plattentektonik
zugrunde liegenden Gesetze oft verblüffend ein- der Erdkruste ist eine Folge von Konvektions-
fach. Es widerspricht unserer Intuition, dass strömungen im flüssigen Erdmantel. Konvektion
hochkomplexes Verhalten auf einfachen Geset- entsteht, wenn zwischen oberem und unterem 9-24
Flecken und Streifen. Sie
zen beruht. Aber sogar das Embryonalwachstum Bereich einer Flüssigkeit oder eines Gases ein sind eine Folge der Wech-
ist, so unglaublich es klingen mag, zu einem gu- Temperaturunterschied besteht. Durch Erwär- selwirkungen zwischen
ten Teil eine Folge der Wechselwirkung zwischen mung von unten sinkt die Dichte der Substanz, rückgekoppelten chemi-
schen Reaktionen und Dif-
rückgekoppelten chemischen Reaktionen und sie steigt nach oben, kühlt dort ab und sinkt fusionsprozessen während
Diffusionen (Å Abbildung 12-27, Seite 517). nebenan wieder nach unten. Dabei spielen auch des Wachstums.

411
KAPITEL 9 Form und Materie

Diffusion und Viskosität eine wichtige Rolle. nisation war, dass größere Gruppen von Teilchen
Bei zu geringer Temperaturdifferenz verhindert plötzlich in Gleichschritt fallen. So orientieren
die Viskosität eine Konvektionsströmung, und sich magnetische Spins unterhalb der Curie-Tem-

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


eine große Diffusionskonstante führt die Wärme peratur spontan in die gleiche Richtung. Darüber
ab, bevor sich merkliche Dichteunterschiede ist die Spinorientierung mehr oder weniger zufäl-
einstellen. Erst ab einem kritischen Punkt, der lig. Ähnliches beobachtet man auch bei Konvek-
von den genannten Parametern abhängt, setzt tion: Bénard-Zellen entstehen spontan oberhalb
Konvektion ein. Am kritischen Punkt halten sich eines kritischen Punkts, der von der Tempera-
9-25
Belousov-Zhabotinsky- der Auftrieb und die Wirkung von Viskosität turdifferenz und bestimmten Systemparametern
Reaktion. Diese chemische und Diffusion gerade die Waage. Der grund- abhängt. Zwar handelt es sich hierbei nicht um
Reaktion ist ein Reaktions- sätzliche Mechanismus der Konvektion ist damit einen Phasenübergang, aber beiden Phänomenen
Diffusions-System, das
chemische Oszillationen
klar, aber warum bilden sich derart geordnete ist gemeinsam, dass sich die Anzahl der für die
erzeugt. Durch Beimi- Konvektionszellen? Beschreibung des Systemzustands notwendigen
schungen kann man diese Diese Ordnung ist ein Zeichen dafür, dass es Größen durch die gestiegene Ordnung drastisch
Reaktionen als Farbwech-
sel visualisieren. In flachen
sich offenbar um stabile Zustände handelt, also reduziert. Für die Charakterisierung der Bénard-
Schalen bilden sich Wel- um Fixpunkte oder Attraktoren im Phasenraum Konvektion ist es nicht notwendig, die Bewegung
len, die sich in der Schale des Systems (ÅKasten Phasenraum, Seite 404). im räumlichen Detail zu betrachten, denn die
ausbreiten und gegensei-
Zwar kann durch die chaotischen Teilchenbe- Konvektionszellen haben eine makroskopische
tig auslöschen. Beim Rüh-
ren der Mischung oszilliert wegungen lokal zufällig eine hexagonale oder Größe. Das gleiche gilt für die Zonen gleicher
die Farbe der gesamten walzenförmige Konvektionszelle entstehen, sie Magnetisierung in einem Ferromagneten. Mak-
Flüssigkeit. würde jedoch genauso schnell wieder verschwin- roskopische Strukturen entstehen, wenn ab einem
den, wäre sie nicht stabiler als andere, ebenfalls kritischen Punkt großräumige Bewegungsmuster
zufällig entstehende Strukturen. Die Suche nach verstärkt, aber kleinräumige gedämpft werden.
der Ursache von Ordnung ist also eine Suche nach Insgesamt reduziert sich so die Anzahl der für
Bewegungsmustern, die stabiler sind als andere. die Systembeschreibung notwendigen Größen,
Und so, wie eine Murmel in einer Schale stabil am da die Parameter der kleinräumigen Bewegun-
tiefsten Punkt zur Ruhe kommt, sind stabile Be- gen vernachlässigt werden können. Man spricht
wegungsmuster oft dadurch ausgezeichnet, dass dabei von der Versklavung dieser Größen (engl.
bei ihnen die potenzielle Energie minimal ist. Es Slaving Principle). Für die Beschreibung eines
stellt sich heraus, dass hexagonale Konvektions- solchen Systems genügt also ein überschaubarer
zellen in Flüssigkeiten mit hoher Oberflächen- Satz an sogenannten Ordnungsparametern, und
9-26 spannung einem solchen Punkt entsprechen. Wol- die Analyse komplexer Systeme vereinfacht sich
Aktivator-Inhibitor-Sys- kenbänder sind dagegen walzenförmige Konvek- dadurch erheblich. Neben Konvektionszellen und
tem. Die Aktivatorsubstanz tionszellen in der Atmosphäre, in denen der nach Wolkenformationen sind auf diese Weise unter
wirkt autokatalytisch,
gleichzeitig fördert sie die oben transportierte Wasserdampf kondensiert. anderem optische Laser, Jäger-
r Beute-Systeme und
Produktion des Inhibitors, stabile Oszillatoren wie das Herz beschreibbar.
der die Aktivatorproduk-
tion dämpft. Steigt durch
Selbstorganisation durch Versklavung
Fluktuationen oder äußere Gabelungen
Einflüsse die Konzentration Dass die unzähligen Wassermoleküle eines Flusses
des Aktivators an einem gemeinsam in eine Richtung fließen, erstaunt uns Die durch Selbstorganisation entstehenden Bewe-
Punkt, so steigt dort auch
die Konzentration des In-
nicht, schließlich treibt sie die Schwerkraft an, gungsmuster sind sehr stabil, da kleine Störungen
hibitors (A, rechter Rand). und das Flussbett beschränkt ihre Bewegungs- schnell wieder abklingen. Das Bewegungsmus- BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

Diffundiert dieser schneller möglichkeiten. Bei Konvektionszellen und vielen


als der Aktivator, so verhin- 9-27
anderen Systemen stellen sich hoch organisierte Bénardsche Konvektionszellen. Sogenannte Bénardsche
dert er dessen Ausbreitung
(B). Diffundiert er langsam stabile Bewegungszustände jedoch von selbst ein. Konvektionszellen entstehen unter bestimmten Bedin-
oder zerfällt er schnell, so Selbst wenn diese unter energetischen Bedingun- gungen, wenn eine Flüssigkeitsschicht
gkeitsschicht
können sich weitere Zen- gleichmäßig von unten erwärmt
gen optimal sind, woher wissen Moleküle, wie sie wird. Im Bild handelt es sich um
tren des Aktivators bilden
(C). Die Zentren halten sich bewegen müssen? In Kapitel 4 (ÅKritische Silikonöl. Die Konvektionszel-
einen Mindestabstand ein, Exponenten, Seite 172) haben wir Phänomene len können walzenförmige
der von der Diffusions- oder hexagonale Struktur
spontaner Selbstorganisation bei Phasenübergän- besitzen. Beschrieben
geschwindigkeit und der
Zerfallsrate des Inhibitors gen bei der kritischen Temperatur beschrieben. wurden sie erstmals
abhängt. Ein wichtiges Merkmal dieser Art der Selbstorga- 1900 von HENRI BÉNARD
(1874 – 1939).

412
Erde, Wasser, Luft und Feuer

ter ist ein Attraktor, der nach Abklingen einer Der Weg zum Chaos verläuft als Funktion von
Störung alle abweichenden Muster wieder „an- Kontrollparametern oft über eine Folge von

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


zieht“. Bei nichtlinearen Systemen ändern sich Bifurkationen. Kontrollparameter sind dabei
die stabilen Bewegungsmuster aber an kritischen die Größen eines Systems, die dessen Verhalten
Punkten sprunghaft. Dabei können neue stabile steuern: zum Beispiel die Temperatur in einer
Muster oder chaotische Bewegungen entstehen. chemischen Reaktion oder die Geburtenraten bei
Ein durch einen Infarkt geschädigtes Herz kann Jäger-Beute-Systemen. Bei mehrdimensionalen
einen solchen kritischen Punkt überschreiten: Systemen wird durch eine Bifurkation aus einem
Aus einer stabilen Oszillation entsteht eine cha- Fixpunkt ein periodischer Orbit, aus diesem

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


otische Bewegung, das gefürchtete „Kammer- durch eine weitere Bifurkation ein Orbit mit der
flimmern“ (Å Abbildungen 9-29). Bei der Defi- doppelten Anzahl von Umläufen und so fort,
brillation mittels starker Stromstöße durch die man spricht von einer Folge von Periodenver-
Brust versucht man, das „System“ Herz wieder dopplungen. Ab einer bestimmten Bifurkation
in einen stabilen Schlagrhythmus zu bringen. An kann aperiodische Bewegung einsetzen, die bei 9-28
kritischen Punkten verändern sich die Attrakto- weiterer Erhöhung des Kontrollparameters wie- Wolkenzellen. Konvek-
ren eines nichtlinearen Systems schlagartig. So der vorübergehend in periodische Bewegungen tionszellen in der Atmo-
sphäre werden als Wolken
können aus einem Fixpunkt zwei entstehen oder fallen kann (Å Abbildungen 9-32, 9-33). Der sichtbar. Oben knollige,
ein periodischer Orbit, das heißt, das System Weg zum Chaos über Periodenverdopplungen walzenförmige Struktu-
beginnt zu „schwingen“. An kritischen Punkten ist typisch für Systeme, bei denen zwei bis drei ren, unten ausgeprägte
Wolkenstraßen, die durch
gibt es meist mehrere Entwicklungsalternativen Freiheitsgrade das dynamische Geschehen be- Scherwinde begünstigt
für das System: Der Konvektionsstrom einer stimmen, während alle anderen Freiheitsgrade werden.
Bénard-Zelle kann sich links oder rechts herum „versklavt“ sind. Die zugehörigen seltsamen
drehen. Man spricht deshalb von einer Gabelung Attraktoren gleichen dünnen, aber nicht unbe-
oder Bifurkation (ÅKasten Bifurkation und Sym- dingt ebenen Pfannkuchen, und die Anordnung
metriebrechung, Seite 414). der Trajektorien in ihnen folgt einer fraktalen
Struktur. Man findet dieses Verhalten unter an-
Wege zum Chaos derem in Jäger-Beute-Systemen, Konvektionszel-
len, einigen chemischen Reaktionen und sozialen
Das gefürchtete Kammerflimmern zeigt, wie Systemen wie Drogenmärkten. Bei solchen Sys-
ein periodisches nichtlineares System durch temen entspricht das Verhältnis des Abstands
Änderungen der Systemparameter in einen ape- aufeinander folgender Parameterwerte, bei de-
riodischen Zustand geraten kann. In solchen nen Periodenverdopplungen auftreten, der so-
Zuständen verschwinden stabile Fix p unkte genannten Feigenbaum-Konstanten δ = 4,669....
und periodische Orbits. Im Phasenraum des Sie ist offenbar ebenso universell wie die Zahl
Systems ( Å Kasten Phasenraum, Seite 404 ) π. Ähnliche Hierarchien mit zunehmender In-
bedeuten aperiodische Zustände, dass eine Be- stabilität findet man auch in Strömungen an der
wegungsbahn des Systems (Trajektorie) niemals Schwelle zur Turbulenz und in Lasern.
zu einem zuvor besuchten Punkt zurückkehrt. Chaotische Systeme sind also keinesfalls im-
Dies ist nur in Systemen mit mindestens drei mer wild und unberechenbar. Die Trajektorien
Freiheitsgraden (dreidimensionalem Phasen- im Phasenraum mögen aperiodisch sein, selt-
raum) möglich. Auf einer endlichen Fläche same Attraktoren bilden jedoch räumliche Struk-
müssen sich Trajektorien nämlich irgendwann turen mit charakteristischen Formen. Externe
schneiden. Da aber ein deterministisches phy- Störungen ändern zwar den konkreten Verlauf 9-29
Kammerflimmern. Beim
sikalisches System im gleichen Zustand immer einer Trajektorie, nicht aber das grundsätzliche
so genannten Kammer-
gleich reagiert, würde sich ab dem Schnittpunkt Verhalten des Systems. Salopp ausgedrückt: Der flimmern (oben) ist die
das Geschehen wiederholen, und die Bahn wäre Flügelschlag eines Schmetterlings vermag einen elektrische Erregung der
periodisch. Chaos kann daher nicht bei ei- Tornado auszulösen, aber nicht außerhalb der Herzmuskel chaotisch. Die
normale Erregung ist peri-
nem starren schwingenden Pendel auftreten, Tornadosaison. Die feste räumliche Struktur odisch (unten): Der große
da dieses nur zwei Freiheitsgrade besitzt. Ein eines Attraktors sorgt dabei für eine hohe Stabi- Ausschlag entspricht der
verlustfreies mechanisches System kann un- lität des Systems. Wiederum salopp ausgedrückt: Kontraktion der Herzkam-
mern, der kleine Ausschlag
abhängig von der Anzahl der Freiheitsgrade Der Flügelschlag eines Schmetterlings vermag davor der Kontraktion des
niemals chaotisches Verhalten zeigen. einen Tornado nicht aufzulösen. — Vorhofs.

413
KAPITEL 9 Form und Materie

Bifurkation und Symmetriebrechung

Wird eine senkrecht stehende Blattsäge mit einer Kraft F


belastet, so bleibt das Sägeblatt bei perfekt symmetrischer
Belastung gerade, bis eine kritische Kraft FC erreicht ist, bei
der es spontan nach links oder rechts „ausbüchst“, weil
winzige Verformungen in die eine oder andere Richtung
auftreten. Es findet eine Bifurkation statt, und die vertikale
Symmetrie der Anordnung wird gebrochen. Im Bifurkati-
onsdiagramm (I) stellt man den Verlauf der Fixpunkte des 9-30
Bifurkation und Symmetriebrechung. Erklärung siehe Kastentext.
Ordnungsparameters (seitliche Auslenkung x) als Funktion
des Kontrollparameters (Kraft F) dar. Die gestrichelte Linie
zeigt den instabilen Fixpunkt der Auslenkung, nämlich den
(theoretischen) Fall, dass die Säge über den kritischen Punkt
hinaus gerade bleibt. Schon geringste Unregelmäßigkeiten
genügen hier, um die Säge abknicken zu lassen.
9-31
Liegt keine ideale Symmetrie vor (II), wird die Säge sich Attraktoren. Ist die Kraft auf das Sägeblatt kleiner als FC, so ist der
schon bei F < FC in eine Vorzugsrichtung biegen. Das spiegelt Punkt L im x-y-Koordinatensystem des Sägeblatts ein stabiler Fix-
die obere Linie im realen Diagramm wieder. Um den unteren punkt, ein Attraktor (A). Nach kleinen Auslenkungen kehrt das System
immer wieder dahin zurück. Ist die Kraft größer, so wird L instabil (B),
stabilen Fixpunkt zu erreichen, muss das Sägeblatt kräftig während bei y = L* stabile Fixpunkte entstehen. Nach Störungen kehrt
in diese Richtung gedrückt werden. das System immer auf den ursprünglichen Fixpunkt zurück.

9-32
Bifurkationsdiagramm der logistischen Gleichung. Die
logistische Gleichung beschreibt die jährliche Entwicklung
einer Population x in Abhängigkeit von Fruchtbarkeit
und Nahrungsangebot, beide ausgedrückt durch den
Parameter r. x „springt“ in diesem Modell von Jahr zu
Jahr. Diskrete Gleichungen können auch mit nur einem
Ordnungsparameter chaotisches Verhalten aufweisen. Das
Bifurkationsdiagramm zeigt x als Funktion von r. Eine von
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

Jahr zu Jahr konstante Population (A) entspricht einem


Punkt im Diagramm (Fixpunkt), ein periodischer Wechsel
zwischen zwei Werten (B) zwei übereinander liegenden
Punkten (Orbit) und so weiter (C). Man erkennt den Weg
zum Chaos, bei dem x von Jahr zu Jahr irregulär springt
(D), und zwar über eine Reihe von Periodenverdopplun-
gen. Bei wachsendem r treten immer wieder „Inseln der
Ordnung“ mit periodischen Orbits auf. Das Verhältnis der
Abstände zwischen Periodenverdopplungen entspricht der
Feigenbaum-Konstanten δ.
9-33
Bifurkationsdiagramm des Rössler-Attraktors. Der
Rössler-Attraktor ist ein seltsamer Attraktor (rechts oben)
mit drei Ordnungs- und drei Kontrollparametern. Er ist
Modell einer Reihe chemischer Reaktionen. Das Bifurkati-
onsdiagramm zeigt den Weg des Ordnungsparameters x
ins Chaos als Funktion eines Kontrollparameters b. Da im
Diagramm immer nur die Minima von x eingetragen sind,
wird ein periodischer Orbit (A) als einfache Linie darge-
stellt, ein zweifach umlaufender periodischer Orbit (B) als
zwei Linien und so weiter (C). Die Verwandtschaft mit
dem Diagramm der logistischen Gleichung ist beeindru-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

ckend. Niedrigdimensionale Systeme mit „flachen“ At-


traktoren haben oft diese Struktur, physikalisch betrachtet
eine Folge der Art und Weise, wie Trajektorienbündel im
Phasenraum durch Dissipation und Randbedingungen
gestreckt und „gefaltet“ werden. Der Rössler-Attraktor
besteht aus einer flachen Scheibe mit aufragendem,
ebenfalls schmalem „Kiel“.

414
KAPITEL 10

Elementarteilchen
Physik der kleinsten Teilchen
Die Rätsel des Atomkerns
Das Standardmodell
Jenseits des Standardmodells
TE SIEHE BILDN
BILDRECHTE
BILDRECH WEIS S. 529
WEIS,
NACHW
W
Zum zehnten Kapitel

Man beobachtet eine Lampe und weiß, dass darin ein elek-
trischer Strom fließt, denn man hat es in der Schule gelernt.
Was da fließt sind Elektronen, die – wir gingen in Kapitel 4
ausführlich darauf ein – wesentliche Bestandteile von Atomen
sind und insbesondere der „Kleister“, der chemische Bindun-
gen zusammen hält. Wir haben auch schon erfahren, dass
alle Atomkerne aus Protonen und Neutronen bestehen. Dies
war etwa der Wissensstand der frühen 1960er Jahre, und er
genügte durchaus, um sehr viele chemische Gegebenheiten
vom Molekülbau bis hin zu Reaktivitäten auf einem befrie-
digenden Erklärungsniveau zu verstehen. Dieses Verstehen
basierte im Wesentlichen noch auf der immensen Erklärungs-
kraft der aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stam-
menden klassischen Elektrodynamik JAMES CLERK MAXWELLs
(Maxwell-Gleichungen) und der Quantenmechanik. RICHARD
P. FEYNMAN, JULIAN SCHWINGER und SHIN'ICHIRO TOMONAGA
gelang es in den 1940er Jahren, beide zur Quantenelektro-
dynamik (QED) zu kombinieren. Diese Theorie bildet den
krönenden Abschluss des Verständnisses der Interaktion
zwischen Photonen und elektrischen Punktladungen wie
Elektronen. Sie berücksichtigt auch EINSTEINs Spezielle Re-
lativitätstheorie und ist heute ein Grundstein experimentell
geprüften physikalischen Wissens. Diese Theorie ist so genau,
dass sie mit experimentellen Messungen auf unglaubliche elf
Dezimalstellen übereinstimmt. Ihre Urheber wurden im Jahre
1965 mit dem Physiknobelpreis ausgezeichnet.
Aber ist das schon die ganze Geschichte? Sind diese „Ele-
mentarteilchen“ wirklich elementar? Was hindert eigentlich
die positiv geladenen Protonen eines Atomkerns daran, in
alle Windrichtungen davonzuflitzen, wie man es nach den
elektrischen Kräften zwischen ihnen vermuten sollte? Woher
kommt die starke Kernkraft, die offensichtlich stark genug
ist, sie dennoch beieinander zu halten? Ist ihre Ursache in
den Elementarteilchen selbst zu finden? Kann man auch
diese „Elementar“-Teilchen zerbrechen? Wie könnte man so
etwas anstellen?
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Elementarteilchen

Physik der kleinsten Teilchen JEAN FRÉDÉRIC JOLIOT im Jahr 1935 erstmals ein
Radionuklid (ein radioaktives Isotop) künstlich
Was die Welt im Innersten zusammenhält herstellen.
Angeregt durch die Arbeiten dieser Pariser
Wenn ein Steinzeitmensch sehen wollte, was in Gruppe begann ENRICO FERMI (1901 – 1954)
einem harten Gegenstand war, vielleicht einer in Rom, Uran mit Neutronen zu beschießen,

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


Nuss, so benutzte er dafür vermutlich einen um Elemente mit größerer Ordnungszahl herzu-
anderen harten Gegenstand, einen Stein. Sogar stellen, sogenannte Transurane (einige der über-
manche Tiere machen es genau so. Mit genügend schüssigen Neutronen im Kern müssten dazu in
Energie aufeinandergedonnert, werden sich die ein Proton übergehen). Dabei gelang ihm aller-
inneren Geheimnisse der Dinge schon entschlüs- dings im Jahr 1934 etwas ganz anderes: die erste
seln lassen. Kernspaltung. Die eingetretenen Veränderungen
Nicht anders gehen die Atom- und Elemen- deutete er aber fälschlicherweise als Entstehung
tarteilchenphysiker vor, die Billardspieler unter von Transuranen, und so blieb die Entdeckung
den Physikern. An ihrer Arbeitsweise hat sich der Kernspaltung anderen vorbehalten.
seit RUTHERFORDs Zeiten nur wenig geändert. Die deutschen Chemiker OTTO HAHN
ERNEST RUTHERFORD, wir erinnern uns, schoss (1879 – 1968), ebenfalls ein Schüler RUTHERFORDs,
Anfang des 20. Jahrhunderts Alphateilchen (wie und FRITZ STRASSMANN (1902 – 1980), spalteten
wir heute wissen, handelt es sich dabei um He- 1938 am Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin-Dahlem
lium-Atomkerne aus zwei Protonen und zwei erstmals Uranatome durch Beschuss mit Neutro-
Neutronen) auf Goldatome, um deren innere nen. Was wirklich geschehen war, vermutete HAHN
Struktur anhand der Streuung der Alphateil- nur. Seine langjährige Kollegin, die Physikerin LISE
chen zu erforschen. Das wichtigste Ergebnis war MEITNER (1878 – 1968) weilte zu diesem Zeit-
bekanntermaßen, dass Atomkerne mit einem punkt bereits am Alfred-Nobel-Institut in Schwe-
Durchmesser von ungefähr 10–14 Metern etwa den, wohin sie wegen ihrer jüdischen Abstammung
10 000-mal kleiner sind als ganze Atome. Im emigrierte. HAHN bat sie bei der Interpretation
Volumen eines Atoms wäre demnach Platz für der Ergebnisse brieflich um Hilfe. Zusammen mit
eine Billiarde Kerne. Die Untersuchung solch win- ihrem Neffen OTTO ROBERT RT FRISCH konnte LISE
ziger subatomarer Strukturen machte gleichwohl MEITNER R die erste Publikation über Kernspaltung
stetige Fortschritte und führte zu den heutigen in der Fachzeitschrift Nature veröffentlichen.
Disziplinen der Kernphysik und der Elementar- Leider fiel bald ein mächtiger Schatten auf die
teilchenphysik. Erforschung der Materie. Es wurde klar, welch
Die Existenz eines neutralen Teilchens im enorme Energiemenge bei Kernreaktionen frei
Kern war bereits um 1920 im Zusammenhang werden konnte. Die starke Kernkraft, die zwi-
mit der Erforschung der Isotope vermutet wor- schen den Kernteilchen herrscht, ist ungefähr
den. JAMES CHADWICK (1891 – 1974), einem eine Million mal stärker als die für chemische
Schüler RUTHERFORDS, gelang dann 1932 durch Reaktionen verantwortliche elektromagnetische
Beschuss von Berylliumatomen mit Alphateil- Kraft. Die Tatsache, dass bei der Spaltung von
chen der Nachweis des Neutrons als Bestand- Uran-235 durch ein Neutron zwei bis drei Neut-
teil von Atomkernen. Durch Einwirkung von ronen als Nebenprodukte anfallen, ließ die Mög-
Neutronenstrahlung auf Aluminium konnten lichkeit einer Kettenreaktion erahnen. In einem
IRENE JOLIOT-CURIE (Tochter von MARIE CURIE, denkwürdigen Schreiben an Präsident ROOSEVELT L
der Entdeckerin des Radiums) und ihr Mann vom 2. August 1939 machte ALBERT R EINSTEINN auf

417
KAPITEL 10 Elementarteilchen

die Möglichkeit aufmerksam, dass auf Basis von chen noch andere „ultimative Waffen“ lauern.
Uranspaltung Bomben gebaut werden könnten. Teuer sind vor allem die Geräte, die für die Un-
Teilweise aus Furcht vor einer „Deutschen Atom- tersuchung der allerkleinsten Teilchen benötigt
bombe“ – Deutschland hatte den Verkauf von werden. Doch dazu später.
Uran aus Minen in der besetzten Tschechoslovakei Wir beginnen die Beschreibung der Welt der
gestoppt – wurde in Amerika das „Manhatten- kleinsten Teilchen mit den drei Teilchen, die für
Projekt“ gestartet. Wissenschaftlicher Leiter war die Eigenschaften der Atome primär verantwort-
JULIUS ROBERTR OPPENHEIMER R (1904 – 1967), der lich sind. Diese drei Hauptkomponenten der
später als „Vater der Atombombe“ tituliert wurde. Materie gehören zu den Fermionen (ÅBosonen,
Dabei war er ein unglücklicher Vater. Die erste Fermionen und die Ausgedehntheit der Materie,
Zündung einer Atombombe erlebte OPPENHEIMER
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

Seite 132), d. h. sie haben einen Spin von ½.


in einem Bunker direkt mit. Das Entsetzen unter Man spricht deshalb von fermionischer Materie.
dem Eindruck des Feuerballs und des Wolkenpilzes
hat ihn danach wohl nie mehr verlassen. In einem Das Elektron
späteren Interview beschrieb er seine Gefühle an
10-1 diesem Tag mit folgenden Worten: Wir haben Elektronen als Elementarteilchen
Julius Robert Oppen- kennengelernt, welche die Hüllen gewöhnlicher
heimer. Ab 1942 war er
We knew the world would not be the same. A Atome aufbauen. Ausschließlich Elektronen sind
Leiter des Manhatten-
Projekts zur Entwicklung
few people laughed, a few people cried, most es auch, die alle Arten chemischer Bindungen ver-
der Atombombe. Er wurde people were silent. I remembered the line from
the Hindu scripture, the Bhagavad-Gita. Vishnu
mitteln (kovalente Bindung, Ionenbindung, me-
später zum Gegner wei-
terer Kernwaffenentwick- is trying to persuade the Prince that he should tallische Bindung, Van der Waals’sche Bindung).
lung. do his duty and to impress him takes on his Die Struktur der Elektronenschalen bestimmt
multi-armed form and says, „Now, I am become nahezu allein das chemische Verhalten eines Ele-
Death, the destroyer of worlds.“ I suppose we ments. Auch viele physikalische Eigenschaften
Fermi
all thought that one way or another.
Im Größenbereich von gehen darauf zurück. Gleichzeitig sind Elektro-
Nukleonen verwendet J. ROBERT OPPENHEIMER
nen die wichtigsten Träger elektrischer Ströme in
man statt der SI-Einheit
Femtometer (fm) häufig N ac h de m Ein sat z de r A to m bo m be n 1 9 4 5 Festkörpern, in Gasen und im Vakuum.
noch die ältere Bezeich- weigerte sich ROBERT OPPENHEIMER, an der Elektronen sind offenbar tatsächlich ele-
nung Fermi. Entwicklung der noch wesentlich stärkeren mentar. Zumindest erweisen sie sich als dau-
1 Fermi =
1 fm = 10–15 Meter Wasserstoffbombe mitzuarbeiten. Er wurde aus erhaft resistent gegen alle Versuche, sie weiter
1 Fermi = politischen Gründen denunziert, beschuldigt, zu zerlegen.
1/10 000 Ångström verhört, schließlich entlassen und von geheimen Diese Teilchen tragen eine negative elektri-
Arbeiten ausgeschlossen. sche Ladung, per Definition die Elementarla-
Die Physik der Materie hatte mit diesen dung. Obwohl der nur quantenmechanisch er-
tragischen Ereignissen für alle Welt sichtbar klärbare Spin eines Elektrons nicht als klassische
ihre Unschuld verloren. Fast alle großen Phy- Rotation aufgefasst werden kann, erteilt er dem
siker aus dieser Zeit engagierten sich später Elektron wie diese ein „magnetisches Moment“.
gegen den Einsatz von Kernwaffen und standen Die Elektronenruhemasse me ist etwa zwei-
teilweise auch der Kernenergie für friedliche tausend mal geringer als die Masse eines Kern-
Zwecke kritisch gegenüber. teilchens. Elektronen sind damit die wichtigsten
Trotzdem behielt die Frage nach den Kräf- Vertreter der Leptonen (griech. leptos, leicht).
ten im Atom, nach den Grundkräften der Ma- Sie gelten als stabil, da sie als leichteste Lepto-
terie, ihre Faszination – für Physiker, für die nen nicht in andere Teilchen zerfallen können.
Energiewirtschaft und für das Militär. Zumindest liegt ihre Lebensdauer mit über 1024
10-2 Man muss leider vermuten, dass es teilweise Jahren sehr viel höher als das bisherige Alter des
Verhalten im elektrischen auch letzterem Interessentenkreis zu danken Universums. Selbst bei den schwersten Elemen-
Feld. Entsprechend ihrem
ist, dass die ungeheuren Summen, welche die ten machen die etwa hundert Hüllenelektronen
Verhältnis von Masse zu
Ladung werden die leich- Grundlagenforschung in diesem Bereich ge- noch nicht einmal 5 Prozent der Masse eines
ten Elektronen viel stärker gebenermaßen verschlingt, bis heute zur Ver- einzigen Nukleons aus.
abgelenkt als Protonen. fügung gestellt werden. Zu riskant wäre es Mittels vereinfachter Modelle kann man
Neutronen unterliegen
überhaupt keiner elektri- wohl für die großen Nationen, nicht rechtzeitig einen „klassischen Elektronenradius“ von ca.
schen Ablenkung. davon zu erfahren, sollten in den Elementarteil- 2,8 f m (genauer: 2,817 9 4 0 2 89 4 · 1 0 −15 m )

418
Erde, Wasser, Luft und Feuer

errechnen. Dieser stimmt sogar recht gut mit Schnell fliegende Protonen findet man auch als Elektron e–
den in einfachen Streuversuchen ermittelten Bestandteile der kosmischen Strahlung (ÅKos- Elektrisch negativ geladenes
Wirkungsquerschnitten überein. Neuere Theorien mische Strahlung, Seite 451). leichtes Elementarteilchen, das
die Atomhülle aufbaut und che-
gehen allerdings davon aus, dass Elektronen in Eine wichtige Rolle spielen Protonen auch mische Bindungen vermittelt.
Wirklichkeit sehr viel kleiner sind. Es ist nicht in der Chemie. Sie sind die für Säuren cha- me = 9,109 38215 · 10–31 kg
einmal völlig auszuschließen, dass es sich um rakteristischen Teilchen (Brönstedtsche Säure- –e = – 1,602 176 487 · 10–19 Cb
μ = – 928,476 377 · 10−26 J / T
punktförmige Teilchen ohne jede Ausdehnung Base-Theorie). In wässrigen Lösungen kommen s = ½ (Spin)
handelt. Dies würde unsere Vorstellungskraft sie allerdings nicht frei vor, sondern sie bilden re = 0
erneut auf die Probe stellen: Wie kann etwas zusammen mit Wassermolekülen H3O+-Ionen
Masse haben, aber überhaupt keine Ausdehnung? (H+ + H2OͲH3O+). Der pH-Wert ist der negative Proton p
Doch wie so häufig im subatomaren Reich der dekadische Logarithmus der in mol / l einzuset- Elektrisch positiv geladenes,
schweres Kernteilchen, dessen An-
Quantenmechanik kümmert sich die Natur nicht zenden Protonenkonzentration in einer Lösung. zahl in einem Atomkern die Ord-
sonderlich darum, ob wir etwas plausibel finden Protonen sind, wie in der Randspalte schon nungszahl des Elements bestimmt.
oder nicht. Inzwischen wurden experimentell angedeutet, eigentlich nicht elementar, sondern Protonen sind nicht elementar,
sondern bauen sich aus zwei
Radien von unter 10–19 m bestätigt. Manche zusammengesetzte Teilchen. Dies erweist sich up-Quarks (u) und einem down-
mo d ernen Theorien weisen d en kleinsten zum Verständnis ihrer physikalischen Wechsel- Quark (d) auf (uud).
Teilchen „Durchmesser“ in der Größenordnung wirkungen als wesentlich. mp = 1,672 621637 · 10–27 kg
e = 1,602 176 487 · 10–19 Cb
der Planck-Länge von 1,6 · 10–35 m zu, also in der μp = 1,410 606 662 · 10−26 J / T
Nähe einer vermuteten Granularität des Raums Das Neutron s = ½ (Spin)
selbst. rp = 0,85 fm; Ƿp = 1,7 fm
Wegen ihrer im Vergleich zu den Kernteilchen Neutronen kommen in allen Atomkernen außer
viel geringeren Masse sind Elektronen wesentlich dem leichtesten, dem gewöhnlichen Wasserstoff- Neutron n
Elektrisch neutrales, schweres
stärker von der Unschärferelation (Å Abbildung isotop Protium (1H) vor. Unterschiedliche Anzah- Kernteilchen, dessen Anzahl in ei-
4-11, Seite 127) betroffen. Versucht man, ein len von Neutronen im Kern sind die Ursache für nem Atomkern das Atomgewicht
Elektron in einem zunehmend kleineren Raumbe- die Existenz mehrerer Isotope einiger Elemente. mitbestimmt und so zur Bildung
unterschiedlich schwerer Isotope
reich einzusperren, so wird es regelrecht „wild“, So gibt es vom Wasserstoff das schwerere Deu- eines Elements führt. Neutronen
d. h. es hat einen immer unschärfer definierten terium (2H) und das überschwere radioaktive sind nicht elementar, sondern
Impuls. Das Elektron unterliegt der elektromag- Tritium (3H). Die Neutronenmasse ist ein klein bauen sich aus einem up-Quark
(u) und zwei down-Quarks (d) auf
netischen Wechselwirkung, der schwachen Wech- wenig höher als die Protonenmasse. Auch Neu- (udd).
selwirkung und der Gravitation, nicht jedoch der tronen sind damit Baryonen. Ihr Spin von ½ mn = 1,674 927211 · 10–27 kg
starken Wechselwirkung. Letztere ist insbeson- ordnet sie wie Elektronen und Protonen den e = 0
μn = − 0,966 236 41 · 10−26 J / T
dere für die Nukleonen des Kerns wesentlich. Fermionen zu. Neutronen haben nach außen
s = ½ (Spin)
hin keine elektrische Ladung. Deshalb erstaunt rp = 0,75 fm ?; Ƿp = 1,5 fm ?
Das Proton es zunächst, dass auch sie ein magnetisches Mo-
ment aufweisen. Dies deutet schon auf eine in-
Protonen sind die in allen normalen Atomkernen nere Struktur mit unsymmetrischer elektrischer
vorkommenden Teilchen, deren Anzahl (Ord- Ladungsverteilung hin. Der Durchmesser eines
nungszahl) bestimmt, um welches chemische freien Neutrons beträgt ca. 1,5 fm.
Element es sich handelt. Protonen haben eine Die mittlere Lebensdauer freier Neutronen
positive elektrische Ladung, deren Betrag ge- beträgt 885,7 ± 0,8 s, also nur ca. 15 Minuten. Volumen eines Nukleons
Nach einfacher Abschät-
nau gleich groß ist wie derjenige der Elektro- Innerhalb von Atomkernen sind sie in der Regel
zung über die Kugelform
nenladung. Die Masse eines Protons ist fast langlebig. Sie können sich aber, da sie der schwa- ergibt sich:
zweitausend-mal größer als die Elektronen- chen Wechselwirkung unterliegen, in bestimmten
masse, weshalb man Protonen zu den Baryonen Kernen auch wie freie Neutronen in ein Proton, VN = 4/3 · ਸ਼· 0,85 fm
= 2,6 fm3
(von griech. barys, schwer) zählt. Als geladenes ein Elektron und ein sogenanntes Antineutrino
Teilchen mit Spin besitzt das Proton ein mag- umwandeln, auf das wir noch zurückkommen In der Literatur finden sich
netisches Moment. Der Durchmesser beträgt werden. Dieser Zerfall wird auch als Betazerfall aber auch viel kleinere
Werte um 0,6 fm3.
ca. 1,7 fm. Protonen scheinen stabile Teilchen bezeichnet, da dabei Elektronenstrahlung ent-
zu sein, zumindest ist ihre Lebensdauer größer steht, die Bezeichnung Betastrahlung hat histo- Es ist auf dieser Betrach-
als 1033 Jahre. rische Gründe. Neutronen sind wie Protonen tungsebene zu bedenken,
dass Nukleonen eben
Positive Ionen des Elements Wasserstoff (H+- zusammengesetzte Teilchen. Auf ihre innere keine einfachen Kugeln
Ionen) stellen nichts anderes als Protonen dar. Struktur werden wir im Folgenden eingehen. — darstellen.

419
KAPITEL 10 Elementarteilchen

Nukleonen im Atomkern: Die Rätsel des Atomkerns aus. Es herrscht eine einheitliche Dichte der Kern-
Protonen + Neutronen
materie, aber die Teilchen können sich gegenein-
Von Tröpfchen zu Schalen ander bewegen. An der Oberfläche hingegen wer- r
den Teilchen, die zu entweichen suchen, von der
Spricht man in der Wissenschaft von einem Scha- hier einseitig wirkenden Kraft in die Flüssigkeit
lenmodell, so sind dabei praktisch immer die zurück gezogen (ÅKasten Oberflächenspannung,
10-3 Elektronenschalen der Atomhülle gemeint, die Seite 311).
Schreibweisen für Kerne. noch auf das historische Bohrsche Atommodell H AN S B ETHE (190 6 – 2005) und C A RL
Bestimmte Isotope eines zurückgehen und die heute jeder Schüler einer FRIEDRICH VON WEIZSÄCKER R (1912 – 2007) gestal-
Elements werden durch
eine vor das Elementsym-
weiterführenden Schule im Chemieunterricht teten das Modell mithilfe ihrer Bethe-Weizsäcker-
bol hochgestellte ganz- kennen lernt (ÅSpektren und das Bohr-Sommer- Formel (ÅAbbildungen 10-6 bis 10-8) numerisch
zahlige Massenzahl (blau) feldsche Atommodell, Seite 99). Über den Kern detaillierter aus. Dieses empirische Modell be-
gekennzeichnet. Die
selbst und seine Struktur erfahren Schüler höchs- rücksichtigt zunächst die Anziehung aufgrund
Ordnungszahl (rot) wird
häufig weggelassen, da sie tens etwas in Physik-Leistungskursen. Vielleicht der Kernkraft (Volumenenergie). Sie muss wegen
durch das Elementsymbol liegt der Grund einfach darin, das die Prozesse deren kurzen Reichweite nur für die direkten
festgelegt ist. Eine nicht
in Atomkernen auch heute noch nicht bis ins Nachbarn eines Nukleons berücksichtigt werden.
ganzzahlige Massenzahl
ergibt sich bei natürlichen letzte Detail enträtselt sind. Wie können wir die Für Nukleonen an der Oberfläche verringert sich
Isotopenmischungen. Die Physik der Atomkerne verstehen, die schließlich diese Energie entsprechend (Oberflächenenergie).
Massenzahl A ist stets die mehr als 99,9 Prozent der Masse gewöhnlicher Schon diese beiden Modellannahmen allein be-
Summe aus der Neutro-
nenzahl N und der Ord- Materie ausmachen? schreiben ein flüssigkeitsartiges Verhalten. Die
nungszahl (Protonenzahl) Energie wird weiter reduziert durch die elektro-
Z. Alternativ ist auch die statische Abstoßung der Protonen untereinander
Schreibweise U-235 ge- Tröpfchenmodell
bräuchlich. (Coulomb-Energie). Sie ist wohl viel schwächer,
Ein simples halbklassisches Modell des Atom- aber sie nimmt nicht so stark mit der Entfer-
kerns ist das Tröpfchenmodell. Es basiert auf der nung ab. Ein Proton „sieht“ über diese Wech-
Beobachtung, dass Kernteilchen offenbar durch selwirkung also alle anderen Protonen im Kern.
eine besondere Kraft, die Kernkraft, zusammen- Die Energie wird im Modell weiter angepasst
geklebt sind. Diese muss wesentlich stärker sein durch einen nur quantenmechanisch zu begrün-
als die Coulombsche Abstoßung der elektrisch denden Symmetrieterm, der Abweichungen vom
positiv geladenen Protonen. Heute erinnern die 1:1-Verhältnis zwischen Protonen und Neutro-
Namen „Starke Kraft“ und „Gluon“ (engl. glue, nen energetisch „bestraft“ (Symmetrieenergie).
Klebstoff) für deren Austauschteilchen an diese Der fünfte Term schließlich trägt der Tatsache
10-4 Vorstellung. Wir werden noch sehen, dass die Rechnung, dass gleiche Nukleonen sich etwas
Otto-Hahn-Gedenk- Kernkraft sich tatsächlich als Wirkung der heute stärker anziehen als ungleiche. Wert und Vorzei-
münze. Die darauf ab-
gebildete Kettenreaktion als eine der vier Grundkräfte unseres Universums chen sind davon abhängig, ob die Protonen- bzw.
beruht auf der Freisetzung bekannten Starken Kraft beschreiben lässt. Neutronenanzahlen gerade (g) oder ungerade (u)
von bis zu drei Neutro- Im Tröpfchenmodell werden die Nukleonen sind. Für ug- oder gu-Kerne ist der fünfte Term
nen bei der Spaltung von
U-235. Diese spalten neue
des Kerns ähnlich behandelt wie die Teilchen in stets null. gg-Kerne sind etwas stabiler und haben
Kerne, wenn sie nicht einer normalen Flüssigkeit. Das Modell entstand einen positiven, uu-Kerne entsprechend einen
zuvor aus dem Uran ent- ab dem Jahr 1930 aus Gedanken des russischen negativen Paritätsterm (Paritätsenergie).
weichen. Größe und Kom-
paktheit der vorhandenen
Kernphysikers und Astronomen GEORGE GAMOV Der Atomkern und seine Schwingungszu-
Uranmenge entscheiden (1904 – 1968), der damals bei seinem Lehrer stände werden im Tröpfchenmodell als Ganzes
darüber, ob die kritische NIELS BOHR in Kopenhagen weilte. BOHR ent- betrachtet, während die individuellen Nukle-
Masse für eine Ketten-
wickelte das Modell bis 1939 wesentlich weiter, onen kaum von Bedeutung sind. Der Kernra-
reaktion erreicht wird. In
Atombomben wird dies teilweise benutzte er auch den Begriff „Sandsack-
durch schnelles Zusam- modell“. Die Vorstellung dahinter war, dass ein 10-5
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menfügen von Teilmassen in den Atomkern eindringendes Geschoss seine Urankern U-235. Eine
mithilfe normalen Spreng- stark vereinfachte Variante
stoffs erreicht. In Kernre- Energie an einzelne Nukleonen abgibt und so des Tröpfchenmodells liegt
aktoren wird der Prozess den Kern in einen angeregten Zustand versetzt. auch dem Visualisierungs-
durch Absorption eines Im Tröpfchenmodell gleichen sich die Kräfte programm der Autoren
Teils der Neutronen ge- zugrunde, das Darstel-
regelt. Die Spaltprodukte auf ein Teilchen im Inneren des ungefähr kugel- lungen von Atomkernen
sind nicht eingezeichnet. förmig gedachten Kerns im statistischen Mittel berechnet.

420
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10-6 10-7
Bethe-Weizäcker-Formel. Näherungsweise Berechnung der Nukleonen-Bindungsenergie Diagramm der Energiebeiträge bei 13Bor. Die Anteile variie-
über fünf Energiebeiträge mit experimentell ermittelten Parametern (Beispiel 13Bor). ren von Kern zu Kern, abhängig von der Kerngröße.

dius kann aus der Massenzahl A und dem Ra- reagieren unter diesen Extrembedingungen in ei-
dius r0 eines Protons im Wasserstoffkern durch ner Art umgekehrtem Betazerfall zu Neutronen.
r = r0 · A1/3 abgeschätzt werden. Leider ist der Man kann die Kernbindungsenergie noch auf
Neutronenradius nur ungenau bekannt. Es gibt andere Weise ermitteln als über das Tröpfchen-
einige Messungen, die darauf hindeuten, dass er modell, nämlich indem man direkt die Masse
um etwa 0,16 fm größer ist als der Protonenra- einer entsprechenden Anzahl freier Nukleonen
dius. Für diesen findet sich ein Literaturwert von mit der Masse des daraus formal gebildeten
Magaggiisc
sscche
he Zahlen
ca. 0,8768 fm. Allerdings gibt es neuere Messun- Atomkerns vergleicht. Die Masse des Kerns ist 2,, 8,
8, 220,
20 0,
0, 2
288, 50, 82, 126
gen, die hier von einem etwas kleineren Radius stets geringer als die seiner Komponenten. Dieser
ausgehen (0,8418 fm). Allgemein ist natürlich Massendefekt, ausgedrückt in Energieeinheiten Do
Dop
D op
o pp
pel
pee
elltma
tm
tm
ma agi
giische Kerne
z.B. 4He e,, 16
16 O oder 40Ca
das Konzept eines „Radius“ bei kleinen Teilchen (nach E = mcc2) und bezogen auf ein Nukleon,
im Gültigkeitsbereich der Unschärferelation pro- ist die Bindungsenergie. Es erweist sich, dass

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blematisch. Solche Teilchen haben nicht so etwas die Ergebnisse der Bethe-Weizäcker-Formel gute
wie eine feste Oberfläche, sondern (ähnlich wie Näherungen sind und die Situation für Kerne
Elektronen der Atomhülle, bei denen der Effekt mit über ca. 40 Nukleonen auf etwa 1 Prozent
noch ausgeprägter ist) einen Bereich, in dem genau beschreiben.
sie sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit Atomkerne haben also unterschiedliche Bin-
aufhalten. Sie haben also eine „verwaschene“ dungsenergien pro Nukleon. Der Kern mit der
Grenze. Die Angabe eines Radius von Protonen, höchsten Bindungsenergie, der stabilste Kern 10-8
Tröpfchenmodell. Die
Neutronen oder Kernen ist deshalb ohne eine überhaupt, ist das gewöhnliche Eisenisotop 56Fe. Bindungsenergie pro Nu-
Beschreibung des jeweils zugrunde liegenden Zu kleineren und zu größeren Kernen hin nimmt kleon kann für nicht zu
Messverfahrens wenig aussagekräftig. die Stabilität ab. Auch Kerne von Isotopen mit kleine Kerne gut mit der
Bethe-Weizäcker-Formel
Bei etwas größeren Kernen kann man aber zu vielen oder zu wenigen Neutronen sind insta- beschrieben werden, die
über die Dichte ρK = m / V der „Kernflüssigkeit“ bil. Kernenergie kann deshalb durch Spaltung fünf verschiedene Energie-
etwas aussagen. Sie ist in erster Näherung für schwerer Kerne (Atomkraftwerke) oder durch beiträge berücksichtigt.
alle Kerne gleich, denn Masse und Volumen sind Fusion leichter Kerne (Sonne, geplante Fusionsre-
beide proportional zur Massenzahl A, und die aktoren) gewonnen werden (ÅAbbildung 10-10). Stärkeverhältnisse
Dichte beträgt ungefähr 2 · 1014 g / cm3. Daraus Das Tröpfchenmodell funktionierte so gut, Starke Kernkraft: 1
Elektromagnetische Kraft: 10–3
lässt sich berechnen, welches Volumen einem dass BOHR und JOHN ARCHIBALD WHEELER Gravitation (sehr schwach): 10–40
Nukleon formal zur Verfügung steht: bei nor- (1911 – 2008) damit 1939 die Kernspaltung zu
malen Kernen etwa 6 fm3. Man sollte sich Neu- erklären vermochten. Allerdings empfand man
tronen und Protonen eher als Objekte vorstellen, bereits in den späten 1940er Jahren diese
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deren „Dichte“ in einer gewissen Funktion nach halbempirische Vorgehensweise als unbefriedi-
außen abnimmt. Dies zeigt sich auch in den gend. Zudem konnte das Modell nicht die soge-
Eigenschaften von Neutronensternen (ÅNeutro- nannten „magischen Zahlen“ erklären: Man
nensterne, Seite 480), die sozusagen als riesige hatte beobachtet, dass bestimmte Neutronen-
Atomkerne aufgefasst werden können. Darin oder Protonenzahlen besonders stabile Kerne
drängen sich die Nukleonen aufgrund des ex- ergeben, „magische Kerne“. Noch stabiler sind 10-9
tremen Drucks viel dichter, und jedem Nukleon doppeltmagische Kerne, bei denen Protonen- Urankern
rankern alternativ.
alternativ Nuk-
leonen nehmen keinen klar
stehen nur noch ca. 0,6 fm3 zur Verfügung. Die und Neutronenanzahlen magisch sind.
definierbaren Raum ein.
Dichte ist dort schätzungsweise eine Zehnerpo- Kernmaterie ist deshalb im
tenz höher als in normalen Atomkernen. Wie Yukawa-Potenzial und Mesonen Gegensatz zu gewöhnli-
der Name schon sagt, besteht die Kernmaterie in chen Flüssigkeiten unter
Extrembedingungen wie in
Neutronensternen nur noch aus Neutronen. Die Die experimentell beobachteten flüssigkeitsähn- Neutronensternen durch-
Protonen und Elektronen des ehemaligen Sterns lichen Eigenschaften der Kernmaterie deuten aus kompressibel.

421
KAPITEL 10 Elementarteilchen

10-10 Ein Schalenmodell für Atomkerne


Bindungsenergien der
Atomkerne. Die Abhän-
gigkeit der Bindungsener- Der Verdacht lag nahe, dass es auch für die un-
gie von der Ordnungszahl terschiedlichen Stabilitäten der Atomkerne eine
zeigt, dass Kernenergie
durch Spaltung großer quantenmechanische Erklärung auf der Basis ei-
Kerne oder durch Fusion © 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
nes Schalenmodells ähnlich dem der Atomhülle
kleiner Kerne gewonnen geben könnte. Auch dort sind ja abgeschlossene
werden kann. Beim Eisen-
isotop 56Fe liegt die maxi- Schalen (Edelgase) besonders stabil. Ein solches
male Stabilität vor. Es ent- Schalenmodell mit „Bahnen“ von Nukleonen
steht deshalb in Sternen wurde 1949 nahezu gleichzeitig und unabhän-
als schwerstes Element
in normalen Fusionsreak-
gig von drei Forschern entwickelt: Angeregt
tionen. von FERMI entdeckte MARIA GOEPPERT-MAYER
darauf hin, dass ihre Bindung hauptsächlich (1906 – 1972) den Grund für die magischen
auf der Interaktion zwischen direkt benachbar- Zahlen in der „starken Spin-Bahn-Kopplung“.
ten Nukleonen beruht, also auf Kräften sehr Praktisch gleichzeitig erzielte HANS D. JENSEN
kurzer Reichweite in der Größenordnung der (1907 – 1973) dasselbe Resultat. Zusammen
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Nukleonenradien. Der Japaner HIDEKI YUKAWA mit EUGENE PAUL WIGNER (1902 – 1995), der
(1907 – 1981) veröffentlichte 1935 eine Arbeit, bedeutende Beiträge zur Kernphysik geleistet
in der er zum ersten Mal einen Zusammenhang und bereits zehn Jahre früher Gedanken zu
zwischen der Masse eines Austauschteilchens einem Schalenmodell geäußert hatte, erhielten
und der Reichweite der Kraft herstellte, die das beide 1963 den Nobelpreis für Physik.
10-11 Teilchen vermittelt. Nur durch Austausch von Nukleonen sind ebenso Fermionen wie die
Schalenmodell des Atom- masselosen Teilchen konnten demnach Kräfte Elektronen der Atomhülle. Bei diesen kennen
kerns. Das Modell (hier u nendlicher Reichweite entstehen, wie sie wir das Pauli-Prinzip. Es beschreibt die Tatsache,
des Isotops 18O) erklärt
Eigenschaften von Gam- etwa das elektrostatische Coulomb-Potenzial dass sich Fermionen in mindestens einer Quan-
mastrahlungsspektren beschreibt. Das Yukawa-Potenziall verallgemei- tenzahl unterscheiden müssen, also höchstens
durch verschiedene Ener- nert das Coulomb-Potenzial auf Fälle masse- zwei Elektronen mit unterschiedlichen Spins in
gieniveaus in Atomkernen
und die besonders stabilen behafteter Austauschteilchen und gestattet die einem Orbital untergebracht werden können
„magischen“ und „dop- Beschreibung der entstehenden Kräfte kurzer (ÅPauli-Prinzip, Seite 132). Es ist verantwort-
peltmagischen“ Kerne mit Reichweite. Diese Kraft sollte über Bosonen lich dafür, dass sich überhaupt stabile Atome
gefüllten Schalen.
vermittelt werden, deren Masse zwischen der bilden, und es gilt auch für Kernteilchen. Die
des damals schon bekannten Elektrons und de- Nukleonen bewegen sich im Schalenmodell re-
nen der schweren Kernteilchen liegt. Er nannte lativ unabhängig voneinander auf Bahnen in
die hypothetischen Teilchen Mesonen (griech. einem von ihnen selbst erzeugten Potenzial.
mésos, in der Mitte). Sie sollten in einer Art Für numerische Rechnungen verwendet man
Mesonenwolke ständig zwischen den Nukleo- meist das Woods-Saxon-Potenzial (ÅAbbildung
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nen ausgetauscht werden und so die Kernkräfte 10-12). Es ergeben sich diskrete Energieniveaus,
vermitteln. YUKAWA erhielt für seine Arbeit im die quantitative Voraussagen erlauben.
Jahre 1949 den Physik-Nobelpreis, nachdem
solche mittelschweren Teilchen (Pionen und
die damals ebenfalls noch zu den Mesonen ge-
rechneten Myonen) im Jahre 1947 tatsächlich
10-12
bei der Untersuchung kosmischer Strahlung
Woods-Saxon-Potenzial.
Als numerische Näherung nachgewiesen worden waren.
für das Kernpotenzial wird Obwohl der von YUKAWA entdeckte Ruhe-
häufig das Woods-Saxon-
masse-Reichweite-Zusammenhang auch in der
Potenzial verwendet, das
vom Kernmittelpunkt aus modernen Quantenchromodynamik noch An-
zunächst kaum ansteigt, wendung findet, werden Kernkräfte heute über
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aber am Rand des Kerns den Austausch von Gluonen beschrieben. Me-
einen steilen Anstieg zeigt.
Außerhalb erreicht es sonen wurden als Partikel erkannt, die ebenso
schnell einen konstanten wenig elementar sind wie die Nukleonen selbst.
Wert.

10-13
422 Energieniveaus im Kern. Protonen (p) nehmen etwas hö-
here Energieniveaus ein als Neutronen (n).
Teilchendetektive

Angesichts der winzigen Dimensionen subatomarer Partikel ist es Um nicht ausschließlich auf natürliche Geschosse angewie-
ganz erstaunlich, dass es überhaupt möglich ist, einzelne davon sen zu sein wie noch RUTHERFORD und andere, entwickelte
zu detektieren. Die ersten dazu geeigneten Geräte basierten auf ERNEST ORLANDO LAWRENCE (1901–1958) im Jahr 1929 einen
Beobachtungen, die der schottische Physiker CHARLES THOMSON Ringbeschleuniger für Elementarteilchen – das Zyklotron. Er
REES WILSON (1869 – 1959) ab 1894 anlässlich metereologischer erhielt dafür 1939 den Physik-Nobelpreis. Das Element 103,
Experimente zur Tröpfchenbildung durchführte. Er verringerte Lawrencium, ist nach ihm benannt. Atome konnten in der Folge
den Druck in Kammern mit staubfreier, wasserdampfübersättigter gezielt mit immer schnelleren Teilchen genau bekannter Energie
Luft. Als er sie versuchsweise den damals frisch entdeckten Rönt- beschossen und die Reaktionsprodukte untersucht werden.
genstrahlen aussetzte, beobachtete er verstärkte Tröpfchenbildung Noch immer lernen Physiker am meisten über den Bau der
und vermutete korrekt, dass entstehende Ionen als Kondensations- Materie, indem sie immer wieder Teilchen auf andere Teilchen
keime wirken. Um 1911 war es ihm erstmals möglich, die Spuren schießen und beobachten, was dabei heraus kommt. Allerdings
von Alpha- und Betateilchen zu fotografieren, was ihm 1927 inzwischen auf ganz anderem Niveau. Erhöht man nämlich die
den Nobelpreis für Physik einbrachte. Während WILSONs Gerät Energie der Geschosse, so kann man immer feinere Substruktu-
Übersättigung mittels zyklisch wiederholter Druck- und damit ren unterscheiden, ähnlich, wie man mit sichtbarem energierei-
Temperaturänderung erreichte, werden die heutigen Geräte konti- chen Licht feinere Details auflösen kann als mit Radiostrahlung.
nuierlich mit einem Luft-Alkohol-Gemisch betrieben. Zwischen ei- Die Experimente, die Teilchenphysiker mit ihren Elektronen,
ner gekühlten Bodenplatte und einer beheizten oberen Gasschicht Protonen, Neutronen und Atomkernen anstellen, können in
entstehen ein Temperaturgefälle und eine Schicht permanent über- vielerlei Hinsicht spannender als ein Billardspiel sein. Denn
sättigten Dampfes. Hier werden die Bahnen geladener Teilchen als während bei diesem nur Geschwindigkeit und Richtung (Win-
Tröpfchenketten wie Kondensstreifen eines Flugzeugs erkennbar. kel) nach einem Zusammenprall von Interesse sind, kann uns
Verwendet man zudem ein senkrecht dazu gerichtetes homogenes der genaue Verlauf der Teilchenbahnen viel über die winzigen
Magnetfeld, so werden die Spuren der Teilchen durch die Lorentz- Versuchsobjekte erzählen. Analysiert werden dann zum Beispiel
Kraft gekrümmt. Aus Richtung und Ausmaß der Krümmung lässt die Anzahl und Art der Teilchen, die in bestimmte Raumrich-
sich das Verhältnis von Ladung zu Masse der Teilchen bestimmen. tungen gestreut werden, sowie die entstehenden Bruchstücke
Noch heute werden Nebelkammern zu Präsentationszwecken und neu gebildeten Teilchen. Viele der entstehenden Teilchen
eingesetzt, da sie apparativ sehr einfach sind. haben charakteristische Halbwertszeiten, mit denen sie spontan
Ähnlich wie bei der Nebelkammer wird bei der empfindli- in andere Teilchen zerfallen.
cheren Blasenkammer ein metastabiler Phasenzustand genutzt. Das „Billardspiel“ mit den kleinsten Bausteinen unterschei-
Dabei wird z. B. flüssiger Wasserstoff durch schnell abfallenden det sich noch in anderer Hinsicht von seinem sportlichen Vor-
Druck kurzzeitig in einen Zustand gebracht, in dem er eigentlich bild. Was man bei echten Billardkugeln unbedingt vermeiden
bereits sieden müsste (Siedeverzug). Selbst schwach ionisierende sollte: Teilchen können sich beim Zusammenprall unter Um-
Teilchen erzeugen darin gut sichtbare Perlenketten von Bläschen. ständen zerstören, und die Bruchstücke fliegen danach in alle
Kurz danach wird der Druck wieder erhöht, und der Prozess kann möglichen Richtungen davon. Diese Richtungen sind aber nicht
erneut starten. Auch Blasenkammern wurden inzwischen in der ganz zufällig. Sie erlauben vielmehr Rückschlüsse auf den inne-
Forschung durch zahlreiche andere Verfahren ersetzt, etwa durch ren Aufbau der Teilchen. Zusammenstoßende Elementarteilchen
Szintillations- und Halbleiterdetektoren, Drahtkammern oder können auch untereinander reagieren und sich mit bestimmten
Kalorimeter. Moderne Detektoren, wie etwa Atlas oder CMS am Wahrscheinlichkeiten dabei in andere Teilchen umwandeln. Und
Large Hadron Collider (LHC), nutzen parallel mehrere unter- r nicht einmal das ist die ganze Geschichte. Sogar die Bewegungs-
schiedliche Messprinzipien, um Bahnen von bei Kollisionen ent- energie eines Teilchens kann bei einer Interaktion gemäß der
stehenden Teilchen verfolgen zu können. Sie erreichen gigantische Umkehrung der Einsteinschen Gleichung E = mc2 in Masse, also
Ausmaße. So ist Atlas 7000 Tonnen schwer, 45 Meter lang und in neue Teilchen, umgewandelt werden. Sehr schnelle Teilchen
durchmisst 22 Meter. Seine Ergebnisse beschäftigen fast zweitau- der Höhenstrahlung können so unter Umständen Tausende von
send Wissenschaftler. Und man untersucht auch längst nicht mehr Sekundärteilchen erzeugen, einen ganzen Teilchenschauer.
nur natürliche oder von Radionukliden ausgehende Strahlung.
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BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

10-14 10-15 10-16


Nebelkammer. Wilkons Nebelkammer ermöglicht Blasenkammer. Bahnen können detailliert in Atlas. Teilchen aus Milliarden von Kollisionen pro
es, die Spur geladener Teilchen aufzuzeichnen 3D vermessen werden. Bei Kollisionen erzeugte Sekunde werden automatisch analysiert und nach
(Grafik). Teilchen lassen sich verfolgen und identifizieren Vorauswahl in einem weltweiten Rechnernetz aus-
(Grafik). gewertet.
KAPITEL 10 Elementarteilchen

Da Protonen und Neutronen unterscheidbare eines solchen „verdünnten“ Kerns ist dann ver-
Teilchen sind, müssen unabhängige Protonen- gleichbar mit denen sehr schwerer Kerne.
und Neutronenniveaus existieren. Und hier fin- Kerne können sich in (nahezu) gleich schwere
den wir die Erklärung für den besonders stabilen Kerne des nächstniedrigen Elements des Peri-
4He-Kern: Zwei Neutronen belegen das unterste odensystems umwandeln, wenn ein Neutron
Neutronenniveau (1s-Niveau) voll, und das tun in ein Proton zerfällt und dabei ein Elektron
auch die zwei Protonen mit dem 1s-Protonen- aussendet. Solche Betazerfälle finden auch tat-
niveau. Die Energieniveaus der Protonen liegen sächlich statt, wenn der entstehende Kern eine
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wegen der Coulomb-Abstoßung stets etwas hö- niedrigere Energie besitzt als der ursprüngliche.
her als die entsprechenden Niveaus der Neutro- Die Halbwertszeit ist bei höherer Energiediffe-
nen. Dies ist der eigentliche Grund dafür, dass renz tendenziell kürzer.
schwerere Kerne eine Überzahl an Neutronen Deutlich anders liegen die Dinge beim Zer-
aufweisen müssen, um stabil zu sein. Wäre der fall eines Kerns durch Aussendung von Alpha-
„Füllstand“ der Protonen energetisch höher als teilchen oder Kernspaltung. Hier erzeugen die
10-17 der der Neutronen, würden sich einige Protonen Kernkräfte einen Potenzialwall, der den Zerfall
Energieniveaus im Ma- sofort unter Energiegewinn über einen Betazer- „klassisch“ eigentlich verhindern müsste – die
gnetfeld. Um eine Mag-
netnadel gegen das Feld fall in Neutronen verwandeln. (Å Abbildung Kerne wären dauerhaft stabil. Quantenmecha-
zu drehen, benötigt man 10-13, Seite 422). nisch betrachtet, zeigt sich aber, dass selbst hohe
Energie. Potenzialwälle mit einer bestimmten geringen
Instabile und angeregte Kerne Wahrscheinlichkeit durchtunnelt werden können
(ÅVerbotene Wege – Der Tunneleffekt, Seite
Atomkerne können ähnlich wie die Elektronen- 207).
systeme der Atomhülle den Grundzustand oder
angeregte Zustände einnehmen. Unter Bedin-
gungen, wie wir sie bei normaler Materie auf der Kernmagnetismus
Erde finden, liegen sie stets im Grundzustand vor.
Lediglich bei Anregung durch Teilchenbeschuss, Wir haben schon festgestellt, dass Protonen und
durch Absorption von Gammastrahlung oder in- Neutronen wie Elektronen einen Spin (das quan-
folge radioaktiver Zerfälle gehen sie in angeregte tenmechanische Äquivalent zu einem Drehim-
Zustände über. puls) aufweisen. Der Spin eines zusammenge-
Beim Tröpfchenmodell waren wir von einer setzten Atomkerns entspricht der Vektorsumme
Abhängigkeit des Kernradius R von der Nu- der Spins seiner Nukleonen. Da diese paarweise
kleonenzahl ausgegangen, die mit R = r0 · A1/3 einander entgegen gerichtet sind (Pauli-Prinzip),
abgeschätzt werden kann. Dabei steht r0 für den kompensieren sie sich bei gg-Kernen mit gera-
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Radius, den ein Nukleon im Kern beansprucht. der Protonen- und gerader Neutronenzahl im
Ein experimentell aus Streuexperimenten ermit- Grundzustand zu null. Ungerade Protonen- oder
telter Wert hierfür beträgt 1,3 ± 0,1 fm. Auch Neutronenzahlen im Kern bewirken aber einen
alternative Radiusdefinitionen sind in Gebrauch, resultierenden Kernspin, der im Detail noch von
die nicht alle genau der soeben angegebenen der Anzahl vorhandener Nukleonen und deren
A1/3-Abhängigkeit folgen. Verteilung auf die Energieniveaus abhängt. Die
Di ese e inf ac h e n Ann a hm e n k o n sta n te r meisten magnetischen Kerne treten mit Spin-
10-18
Präzession. Das magne- Dichte der Kernmaterie gelten nur einigerma- quantenzahlen von l = ±½ auf. Solche Kerne ver-
tische Moment μ eines ßen genau für stabile mittelschwere Kerne mit halten sich ähnlich wie winzige Stabmagnete,
Kerns bewirkt einen Dreh-
ausgewogenem Protonen/Neutronen-Verhältnis. deren magnetisches Moment allerdings nur zwei
moment in Richtung eines
externen Magnetfeldes B Liegt ein deutlicher Neutronenüberschuss vor, Werte annehmen kann, die mit +μ und –μ be-
(rote, gestrichelte Linien). so besteht die Tendenz, dass sich die Neutronen zeichnet werden.
Aufgrund des Drehmo- verstärkt am Rand des Kerns aufhalten. In Ex-
menterhaltungssatzes
richtet sich die Drehachse tremfällen wie bei dem sehr instabilen 11Li ist Kernmagnetische Resonanz
des Kerns nicht einfach diese Neutronenanreicherung sogar zu einer Art
parallel zum Feld aus, Neutronenhalo aufgeweitet. Einige Neutronen Die magnetischen Eigenschaften vieler Kerne
sondern präzediert wie ein
unrunder Kreisel um die sind dann nur noch locker gebunden und weit führen uns zur kernmagnetischen Resonanz (Nu-
Richtung des Feldes. weg vom Zentralkern anzutreffen. Der „Radius“ clear Magnetic Resonance, NMR). Diese hat sich

424
Erde, Wasser, Luft und Feuer

in den letzten Jahrzehnten zur wichtigsten spek- 10-19


troskopischen Methode der analytischen Chemie Quermagnetisierung. Ohne externes Magnetfeld sind die
magnetischen Momente der Kerne willkürlich im Raum
und zum bekanntesten, unschädlichen bildgeben- orientiert (A), die makrosopische Magnetisierung der
den Verfahren in der Medizin entwickelt. Ent- Probe ist null. Beim Anlegen eines Magnetfeldes B0 ent-
scheidend hierfür ist das Verhalten magnetischer steht eine Magnetisierung M0 parallel zum externen Feld,
da die Momente parallel zur Feldrichtung präzedieren (B).
Kerne, insbesondere des Wasserstoffkerns, in
Durch die Einstrahlung einer elektromagnetischen Welle
einem Magnetfeld. Der Kernspin und damit das mit Magnetfeldorientierung parallel zur xy-Ebene werden
magnetische Moment eines Kerns orientiert sich viele Präzessionsbewegungen synchronisiert, d. h. viele
Momente weisen zu einem gegebenen Zeitpunkt alle in
wie eine Magnetnadel entweder parallel (+μ) oder
die gleiche Richtung (C). Daraus resultiert eine makrosko-
antiparallel (-μ) zum Feld (Å Abbildung 10-17). pische Quermagnetisierung MQ in der xy-Ebene, die sich
Dabei präzediert seine Drehachse wie ein Kreisel mit der Larmorfrequenz um die z-Achse dreht.
mit der sogenannten Larmorfrequenz um die
Richtung des Magnetfelds (ÅAbbildung 10-18). Warum ist dieser Effekt für die Chemiker so
Die beiden Orientierungen unterscheiden sich immens interessant? Hierfür gibt es zwei Haupt-
durch ihre Energie, wobei die Energiedifferenz gründe: die sogenannte chemische Verschiebung
proportional zur Stärke B0 des Magnetfeldes ist: und die Spin-Spin-Kopplung.
E = h·γ / 2ਸ਼ · B0
Chemische Verschiebung
Die Proportionalitätskonstante γ nennt man das
gyromagnetische Verhältnis des Kerns. Durch Bei näherer Betrachtung hängt die Frequenz der
Absorption eines Photons mit exakt dieser Ener- Absorption nicht direkt von der Stärke des an-
gie kann ein Kern vom niederenergetischen in gelegten Magnetfelds ab, sondern von der Stärke
den höherenergetischen Zustand wechseln (Reso- des Magnetfelds am Ort des Kerns selbst. Die
nanz). Umgekehrt emittiert ein Kern beim Wech- Elektronenhülle wirkt wie eine Abschirmung und
sel in den niederenergetischen Zustand ein Pho- sorgt dafür, dass die Resonanz bei einer tieferen
ton gleicher Energie. Deren Frequenz entspricht Frequenz bzw. bei stärkerem Magnetfeld eintritt.
der bereits erwähnten Larmorfrequenz; wegen Die Elektronenhüllen sind ja der Bereich, in dem
der schon vertrauten Beziehung E = hν ist auch die gesamte Chemie stattfindet. Alle Bindungen
sie proportional zum Magnetfeld: ν = γ / 2ਸ਼ · B0. beruhen auf Veränderungen in der Elektronen-
Die Larmorfrequenz von Kernen beträgt bei struktur der beteiligten Atome (ÅTeilchen finden
den heute eingesetzten Magnetfeldstärken einige zusammen, Seite 144). In der Tat lässt sich
hundert Megahertz, liegt also im Radiowellen- die Resonanz so genau messen, dass jede durch
bereich. Da der Energieunterschied zwischen ein Nachbaratom verursachte Veränderung der
beiden Lagen sehr gering ist, bevölkern die Kern- Elektronendichte erkennbar wird.
spins einer Probe beide Energiezustände nahezu
gleich dicht; entsprechend schwach sind auch die Spin-Spin-Kopplung
Radiosignale, die durch die Resonanz entstehen.
Ein Umklappen der Spins erreicht man durch Nicht nur elektronische Abschirmung beinflusst
die Einstrahlung von Radiowellen mit der Lar- das Feld am Kern, sondern auch die Kernspins
morfrequenz senkrecht zum Magnetfeld. Die benachbarter magnetischer Kerne wirken sich
Präzessionsbewegungen der Kernspins wer-
den dadurch auch synchronisiert, was zu einer
makroskopischen Magnetisierung der Probe
senkrecht zum Magnetfeld führt (Å Abbildung
10-19). Nach Abschaltung des Radiosignals
misst man das Abklingen (Relaxation) dieser
sogenannten Quermagnetisierung. In NMR-
Spektren zeigt sich das Abklingen als Signal-
spitze bei der für die Kerne der Probe und der
Feldstärke charakteristischen Larmorfrequenz
(ÅAbbildung 10-20).
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10-20
1H-NMR. Kernspins wirken als Sonden zur Analyse der
elektronischen Bindungsverhältnisse. Chemische Verschie-
bung und Spin-Spin-Kopplung machen Wasserstoffkerne
mit verschiedenen Nachbarschaften unterscheidbar. Aus
hochaufgelösten NMR-Spektren kann ein Analytiker die
Struktur eines Moleküls oft direkt ablesen.
KAPITEL 10 Elementarteilchen

aus. Und dies sogar dann, wenn mehrere Bindun- Das Standardmodell
gen dazwischen liegen. Diese können nämlich
wiederum parallel oder antiparallel (entgegen Von den Nukleonen zum Standardmodell
gerichtet) zum Spin des betrachteten Kerns liegen
und das Feld verstärken oder abschwächen. Die Das Bild des Atoms aus Protonen, Neutronen
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Folge ist eine Aufspaltung der Energieniveaus, und Elektronen, deren Verhalten mit Wellen-
die sich im Spektrum als Mehrfachlinien (Mul- gleichungen beschreibbar ist, genügte zunächst
tipletts) bemerkbar macht (Å Abbildung 10-20, für viele Zwecke. In den 1960er Jahren aber
Seite 425). verdichteten sich Hinweise, dass man noch
Diese Effekte, zusammen mit deutlichen ap- nicht auf dem Grund der Komplexität ange-
parativen Verbesserungen (zum Beispiel durch kommen war. Man entdeckte, dass in Kern-
Einstrahlung vieler Frequenzen und rechnerische teilchen (Nukleonen) drei lokalisierte Bereiche
10-21 Auswertung über eine Spektralzerlegung) bewir- existieren, die zunächst als Partonen, später
Magnetic Resonance
ken, dass sich heute auch komplexe chemische als Quarks bezeichnet wurden. Von diesen
Imaging (MRI). In der
Medizin ergänzt die kern- Strukturen mithilfe der NMR schnell aufklären Quarks wurden im Laufe der nächsten Jahr-
magnetische Resonanz die lassen. zehnte insgesamt sechs Varianten ( Flavours
klassischen Röntgenver- genannt) aufgespürt. Allerdings sind nur zwei,
fahren. Sie hat den Vorteil,
eine Belastung durch Magnetresonanz in der Medizin das up-Quark (u) und das down-Quark (d), in
schädliche Strahlung zu den Neutronen und Protonen normaler Mate-
vermeiden. Verwendet man statt eines im ganzen Volumen rie vertreten. Das Proton hat die Komposition
homogenen Magnetfelds ein über einen grö- „uud“, das Neutron „dud“. Nach heutiger
ßeren Raumbereich linear abfallendes Feld, Kenntnis besitzen die Quarks tatsächlich keine
so wird die Resonanzbedingung für einen be- Unterstruktur mehr, sollten also wirklich fun-
stimmten Kern nur in einer einzigen Ebene damentale Teilchen sein. Aufgrund experimen-
erreicht. Durch Messungen aus verschiedenen teller Daten kann man davon ausgehen, dass
Winkeln und mit weiteren Methoden kann ihre Ausdehnung höchstens 10–18 m beträgt,
die Zahl der Kerne (meist Protonen) in einem also um einen Faktor 1000 kleiner ist als jene
3-dimensionalen Bildpunkt (Voxel) im Com- der Nukleonen. Aber auch viele Größenord-
puter berechnet werden. Viele Protonen be- nungen weniger, bis hinab zur Planck-Länge,
deuten in der Medizin normalerweise hohen gelten nicht als ausgeschlossen. Was man unter
10-22 Wassergehalt. Da der Wassergehalt von Kno- „Ausdehnung“ überhaupt verstehen könnte,
Quarks und Elektronen.
Sie gelten heute als funda- chen, Muskeln, Fettgewebe und Blutgefäßen hängt stark von der angewandten Theorie ab.
mentale Materieteilchen. unterschiedlich ist, können durch dieses, MRI Obwohl subatomare Partikel also weit davon
up-Quarks (u) tragen (Magnetic Resonance Imaging) genannte Ver- entfernt sind, kleine Kugeln zu sein, werden wir
zwei Drittel einer positiven
elektrischen „Elementarla- fahren Gewebestrukturen mit hoher Auflösung in diesem Buch mangels Alternativen fortfah-
dung“, down-Quarks (d) dargestellt werden. — ren, sie als solche darzustellen.
ein Drittel einer negativen. Unser gegenwärtiges Bild eines Atomkerns
Der Aufbau von Protonen
(uud) und Neutronen
zeigt eine komplexe Struktur auf mehreren Ebe-
(dud) führt zur positiven nen, die im Grunde aus nur drei nahezu punkt-
elektrischen Ladung des förmigen Bausteinen sehr geringer Masse zusam-
Protons und zum neutra-
len Neutron. Die Quarks
mengesetzt ist. Der Löwenanteil der Nukleonen-
besitzen außerdem eine masse, die wir beobachten können, resultiert aus
andere Art von Ladungen, Bindungs- und Bewegungsenergien der Quarks in
sogenannte Farbladungen.
den Nukleonen. Die Masse der Atome und damit
Obwohl sie nichts mit
normalen Farben zu tun jeder Materie besteht aus jener der Kerne und
haben, zeigen die drei aus dem kleinen Beitrag der Hüllenelektronen.
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Ladungstypen ein ähnli-


ches Symmetrieverhalten,
weshalb man sie mit rot, Der innere Aufbau der Nukleonen
grün und blau bezeichnet.
Es gilt die Regel, dass sie Wie wir später noch sehen werden, lassen sich
zusammen weiß ergeben,
und nur weiße Teilchen Quarks in Nukleonen zwar detektieren, aber
können sich bilden. nie einzeln herauslösen. Wie jeweils drei da-

426
Erde, Wasser, Luft und Feuer

freude bei den ersten noch groß, griff doch Confinement


Bezeichnung für die
bald Skepsis um sich. Konnte diese Vielfalt
experimentelle Beobach-
von Teilchen wirklich die erhoffte einfache tung, dass Quarks auch
Struktur der Materie darstellen? Nicht lange, bei Temperaturen, wie
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sie im Zentrum normaler


und es waren mehrere hundert neuer Teilchen
Sterne vorkommen, nur
bekannt, scherzhaft sprach man von einem gan- in Gruppen als Hadronen
zen „Teilchenzoo“, den die gefundenen kleinen auftreten, meist als Tripel
Monster bevölkerten. Einige davon wollen wir (Nukleonen) oder Paare
(Mesonen). Die auf den
uns später ansehen. Auch ENRICO FERMI bezog Farbladungen basierende
10-23 sich auf die Biologie, als er seinem Schüler und von Gluonen vermit-
Innenleben des Neutrons. Neuere Modelle gehen davon LEON LEDERMANN gestand: „Young man, if I telte starke Kraft nimmt
aus, dass ungestörte Neutronen drei elektrische Ladungs- mit dem Abstand nämlich
could remember the names of these particles, I nicht etwa ab, sondern
zonen besitzen, dass sich also die verschiedenen Quarks
mit ungleichen Wahrscheinlichkeiten in der Nähe des
would have been a botanist.“ Diese Situation bleibt konstant. Sie ist
Zentrums aufhalten. war zunächst sehr unbefriedigend. Doch die al- eher mit einem Gummi-
band als mit elektrischen
lermeisten der neuen Partikel erwiesen sich bei oder Gravitationskräften
von Protonen und Neutronen aufbauen, ist genauer Untersuchung als nicht fundamental. vergleichbar. Versucht
Gegenstand aktueller Forschung. Im Falle von Sie waren Kombinationen nur weniger Grund- man, Quarks experi-
mentell bei sehr hohen
Neutronen vermutete schon FERMI, dass deren teilchen. Diese versuchte man nach Ladung Energien zu separieren,
Neutralität nur „vorgetäuscht“ ist. Aus der und ähnlichen Eigenschaften zu ordnen, und so so entsteht ab einer ge-
Tatsache, dass sie ein magnetisches Moment entstand das Schema, das heute Teil des Stan- wissen Distanz aus der
zugeführten Energie eine
besitzen, schloss er, dass negative elektrische dardmodells der Teilchenphysik ist. Es hat eine
Hadronen-Jet genannte
Ladungen an der Oberfläche, und positive im entfernte Ähnlichkeit mit dem Periodensystem Kette immer neuer Quark-
Innenbereich existieren müssten. Neuere Mo- der Chemiker. In den Zoo kehrte Ordnung Antiquark-Paare (Meso-
nen), deren Komponenten
delle gehen sogar davon aus, dass ungestörte ein. Obwohl offensichtlich unvollständig (es
aber jeweils selbst wieder
Neutronen drei elektrische Ladungszonen be- beschreibt etwa keine Gravitation), erwies sich Farbladung tragen und die
sitzen (ÅAbbildung 10-23). das Standardmodell als enorm fruchtbare The- Kraft aufrecht erhalten.
orie, deren Vorhersagen über Eigenschaften und
Asymptotische Freiheit
Das Standardmodell der Teilchenphysik Verhalten von Teilchen beeindruckend präzise
Bei ausreichend hoher
– zum Teil auf zehn Dezimalstellen genau – mit Energie ist das Confine-
Gehen wir nochmals in die 1930er Jahre zu- den Messungen übereinstimmen. ment der Farbladung tra-
genden Teilchen aufgeho-
rück. Neben den Elektronen und den damals D as S tandardmodell der Teilchen p h y sik
ben. Werden extrem hohe
noch als fundamental geltenden Protonen und kennt als elementar nur die oben erwähnten Drücke und Temperaturen
Neutronen der normalen Materie entdeckten sechs Quarks und sechs Leptonen. Die Teilchen von mehreren Billionen
die Physiker weitere Teilchen, wie etwa 1935 werden in drei Generationen (Familien) geglie- Kelvin erreicht, so tritt
ein Phasenübergang auf,
die Myonen, die infolge kosmischer Strahlung dert. Jede Teilchengeneration enthält zwei Lep- wie wir ihn ähnlich vom
in der oberen Atmos p häre entstehen. Bald tonen und zwei Quarks. Diese kommen jeweils Verhalten normaler Ma-
tauchten sogar ganze Familien oft sehr kurzle- auch als sogenannte „Antiteilchen“ vor, die terie her kennen; Quarks
und Gluonen können sich
biger Teilchen auf. Die Wissenschaftler leiteten in allen Eigenschaften übereinstimmen, außer darin quasi frei bewegen.
deren Existenz oft aus beobachteten Wechsel- ihren jeweiligen Ladungen. Deren Werte haben In der Natur herrschten
wirkungen anderer Teilchen bei Kollisionen in umgekehrte Vorzeichen. So ist die elektrische solche Verhältnise kurz
nach dem Urknall und
Beschleunigern ab (ÅKasten Teilchendetektive, Ladung des Elektrons negativ, diejenige des eventuell noch heute
Seite 423). Dabei blieben erfahrungsgemäß Positrons positiv. Oft werden Antiteilchen mit im Zentralbereich von
bestimmte Eigenschaften wie Energie, Spin und einem Querstrich über dem Buchstabenkürzel Neutronensternen. Man
spricht von einem Quark-
Ladung erhalten. Bereits WOLFGANG PAULI hatte kenntlich gemacht. Gluonen-Plasma (QGP).
1930 ein Teilchen vorhergesagt, das Neutrino, Durch Kollision von
da beim Betazerfall ansonsten der Spin nicht Familienbande Gold-Atomkernen konnte
man diese Verhältnisse in
hätte erhalten werden können.
Schwerionenbeschleuni-
Mit Kollisionsexperimenten fand man ne- Zur ersten Generation gehören die up- und die gern nachbilden. Es erga-
ben den bekannten Bestandteilen normaler Ma- down-Quarks, bereits bekannt als Bestand- ben sich Hinweise, dass
terie immer neue Teilchenarten. Da erschienen teile von Protonen und Neutronen, und das sich das QGP zunächst
wie eine Flüssigkeit verhält
Neutrinos, Positronen, Myonen, Mesonen, altbekannte Elektron. Auch PAULIs Neutrino und erst bei noch höheren
Kaonen und viele mehr. War die Entdecker- finden wir hier in seiner Variante als Elektron- Energien wie ein Gas.

427
10-24
Standardmodell. Das Standardmodell der Elementarteilchen stellt unser gegenwärtiges
Wissen über die Grundbausteine der Welt zusammen. Das Graviton wird von Quanten-
feldtheorien der Gravitation vorausgesagt, konnte aber bisher nicht nachgewiesen wer-
den. Hingegen gibt es kaum mehr Zweifel an der Existenz des Higgs-Teilchens. Mit ihm
lassen sich die unterschiedlichen Massen der anderen Teilchen durch verschieden starke
Wechselwirkungen mit einem allgegenwärtigen „Higgs-Feld“ beschreiben.

das Tau-Teilchen (Tauon). Es ist sogar noch


schwerer als das Myon und hat die 3500fache
Elektronenmasse. Die anderen Familienmitglie-
der sind das Tau-Neutrino und wiederum zwei
Quarks, die ebenfalls besonders schwergewichtig
sind: das top-Quark und das bottom-Quark.
Das top-Quark bringt es auf einen Rekord: Die-
ses Elementarteilchen ist sogar 185 mal schwerer
als ein Nukleon. Seine Masse entspricht also fast
der eines kompletten Goldatoms.

10-27
Dritte Generation. Tauon, Tau-Neutrino, top-Quark,
bottom-Quark. Diese Teilchen sind noch schwerer und
Neutrino. Es ist wichtig zu betonen, dass diese instabiler als die der zweiten Familie.
wenigen Partikel der ersten Generation alles
aufbauen, was wir normalerweise unter Ma- Allgemein sind die Teilchen der zweiten und
terie verstehen. insbesondere die der dritten Generation sehr
Masse in eV? kurzlebige Partikel, die vorübergehend bei hoch-
In der Teilchenphysik energetischen Prozessen entstehen. Außer bei
wird die Masse meist
den Neutrinos ist die Lebensdauer der Teilchen
in Elektronenvolt (eV)
angegeben, denn aus stark abhängig von ihrer Masse und von den
E = mc2 folgt m = E/c2. Wegen, über die sie unter Beachtung der Er-
Die Lichtgeschwindigkeit haltungsgesetze in leichtere Teilchen zerfallen
c (und auch das Wir-
kungsquantum Ʒ) setzt 10-25 können. Die jeweils leichtesten Teilchen eines
man in der Teilchenphysik Erste Generation. Elektron, Elektron-Neutrino, up-Quark, Typs, wie etwa Elektronen, sind deshalb stabil.
gleich 1 und nimmt sie als down-Quark. Diese Familie beinhaltet alle Bestandteile
normaler Materie. Bei Neutrinos ist noch nicht sicher, ob sie eine
dimensionslos an. (Man
kann das mit gleichen Masse besitzen.
Recht tun, mit dem man Aus der zweiten Generation kennen wir bereits
etwa eine Entfernung zum das Myon, das Analogon zum Elektron, das
Bahnhof auch als 10 Fuß-
Neutrinos
minuten angeben kann.)
allerdings 200 mal schwerer ist. Hinzu kommen
ein Myon-Neutrino und zwei Quark-Typen (be- Neutrinos (nicht zu verwechseln mit Neutro-
Für die Umrechnung in die nannt als charm und strange). nen!) sind Teilchen mit ganz bemerkenswerten
üblichen SI-Einheiten gilt:
Eigenschaften. Sie wurden von WOLFGANG PAULI
1 eV = 1,78266 · 10–36 kg im Jahr 1933 zunächst rein buchhalterisch als
eine Art „freilebender Drehimpuls“ eingeführt,
denn ansonsten hätten die beobachteten Zerfälle
von Neutronen zu Protonen und Elektronen
Energie und Temperatur (n → p+ + e– + Neutrino) das Gesetz der Dreh-
Temperaturen gibt man in 10-26 impulserhaltung verletzt. Gleichzeitig ließ sich
der Teilchenphysik oft in Zweite Generation. Myon-Neutrino, charm-Quark,
Energieeinheiten an. damit auch erklären, warum die bei dem Pro-
strange-Quark. Schwere instabile Materieteilchen.
zess entstehenden Elektronen große Variatio-
1 eV ‫ ݖ‬12000 K nen in der Geschwindigkeit aufweisen und ein
1 keV ‫ ݖ‬12 Mio. K
1 MeV ‫ ݖ‬12 Mrd. K Das erste Mitglied der dritten Generation von kontinuierliches Energiespektrum ergaben. Die
1 GeV ‫ ݖ‬12 Bill. K Elementarteilchen wurde um 1975 gefunden, Gleichung geht nur auf, wenn das postulierte

428
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Teilchen einen Spin von –1/2 besitzt und einen Entdeckung des Positrons
Teil der gemäß E = mc2 entstehenden Energie
mit sich fort trägt. Die Geschichte der Antiteilchen beginnt, wie so
Neutrinos können selbst Lichtjahre dicke häufig in der Physik, mit der theoretischen Vor-
Materieschichten ohne Kollision mit einem hersage eines Teilchens, das später tatsächlich
Atomkern durchfliegen – die Erde ist für sie gefunden wurde. PAUL DIRAC (1902– 1984) stellte
ebensowenig ein Hindernis wie Nebel für eine im Jahr 1928 seine berühmte, nach ihm benannte
Gewehrkugel. Sie kümmern sich so wenig um ge- Gleichung auf, die die Eigenschaften und das
wöhnliche Materie, die ihnen im Weg steht, dass Verhalten von Materieteilchen (Fermionen) mit

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


man extrem massereiche Detektoren benötigt, Hilfe der relativistischen Quantenmechanik be-
um die Chance zu erhöhen, überhaupt einmal schreibt. So lässt sich etwa das Zustandekom-
einige der extrem seltenen durch sie ausgelösten men der Feinstruktur des Wasserstoffspektrums
Kernprozesse detektieren zu können. Dies ist oh- über die Spin-Bahn-Kopplung damit erklären.
nehin nur deshalb möglich, weil Neutrinos sehr Leider hatte diese Gleichung für Fermionen wie
häufig sind. Wie der Name schon andeutet, sind das Elektron zwei Lösungen, eine mit positiver 10-28
Neutrino. Erste Beobach-
sie elektrisch ungeladen (neutral). Sie werden Energie mc2 und eine mit negativer Energie –mc2. tung eines Neutrinos in
bei bestimmten Kernreaktionen erzeugt, die auf Als mögliche Interpretation verfolgte DIRAC die der 4 m durchmessenden
der schwachen Wechselwirkung beruhen. Nur Idee eines universalen „Sees“ aus Teilchen, die Wasserstoff-Blasenkam-
mer des Zero Gradient
von dieser Grundkraft werden sie überhaupt alle negativen Energiezustände besetzen. Führte Synchrotron an den
beeinflusst, wenn man einmal von der extrem man die Energie 2 · mc2 zu, so könnte eines dieser Argonne National Labo-
schwachen Gravitation absieht. Lange glaubte Teilchen auf ein positives Energieniveau geho- ratories vom 13. Novem-
ber 1970. Das Neutrino
man ohnehin, Neutrinos hätten möglicherweise ben werden und ein Elektron bilden, während (unsichtbar) trifft auf ein
eine Ruhemasse von exakt null, wie sie sich aus zugleich – quasi als Lücke im See – ein „Antiteil- Proton (rechts), und es
dem in den 1970er Jahren entwickelten Stan- chen“ erzeugt würde. Tatsächlich kommt es bei entsteht ein Myon (lange
Spur). Die kurze Spur
dardmodell der Elementarteilchenphysik ergibt. manchen Prozessen wirklich zur Bildung eines
ist die des Protons. Die
Heute geht man davon aus, dass Neutrinos eine, Teilchen-Antiteilchen-Paares unter Aufnahme dritte Spur ist die eines bei
wenn auch sehr kleine Masse besitzen, denn die einer Energie von 2 · mc2, und ein solches Paar der Kollision gebildeten
drei Arten können sich in sogenannten Neutri- kann auch wieder unter Abgabe derselben Ener- ਸ਼-Mesons.
nooszillationen ineinander umwandeln, was bei giemenge zerstrahlen. Obwohl das Modell des
völlig masselosen Teilchen schwierig zu erklären Dirac-Sees heute überholt ist, sind Antiteilchen
wäre. selbst durchaus real. DIRAC sagte im Jahr 1931
ein Anti-Lepton voraus, das die gleiche Masse
Verkehrte Welt und den gleichen Spin wie ein Elektron besitzen
sollte, aber eine positive Ladung. Nur ein Jahr
Mit dem Standardmodell haben wir alle nach später wurde dieses erste Antiteilchen von CARL
heutigem Kenntnisstand als elementar gelten- FRIEDRICH ANDERSON (1905 – 1991) tatsächlich
den Teilchen kennengelernt, elementar im Sinne entdeckt. ANDERSON erkannte das von ihm später
von „ohne bekannte Unterstruktur“. Wir haben „Positron“ genannte Teilchen an dessen im Ver-
sie nach Generationen (Familien) geordnet und gleich zum Elektron im Magnetfeld umgekehrt
erfahren, wie sich aus den Quarks der ersten gekrümmten Flugbahn. Er setzte dazu eine Wil-
Generation die schweren Teilchen (Baryonen) der sonsche Nebelkammer auf dem 4300 Meter hoch
Atomkerne zusammensetzen: die Protonen und gelegenen Pike’s Peak ein. Positronen entstehen
Neutronen. Zu ganzen Atomen werden sie durch in der Atmosphäre als Folgeprodukte der hoch- 10-29
Anti-Wasserstoff. Anti-
Elektronen ergänzt, Leptonen aus der selben Ge- energetischen kosmischen Strahlung. Nach Jahrr-
Wasserstoff und andere
neration. Und wir haben von Neutrinos gehört, zehnten war das Positron neben dem im gleichen Anti-Elemente lassen
den elusivsten Teilchen der beherrschenden Fa- Jahr von CHADWICK nachgewiesenen Neutron sich im Prinzip aus ihren
milie. Die zweite und dritte Generation scheinen das erste neu entdeckte Teilchen. Es machte den Bestandteilen aufbauen.
Im Falle eines Zusam-
das Bild mit exotischen schweren und instabilen erst 31-jährigen ANDERSON im Jahr 1936 zum bis mentreffens mit normaler
Varianten zu vervollständigen. heute jüngsten Nobelpreisträger. Materie würden jedoch
Und doch haben wir bisher ein ganzes Schat- Dies war der Auftakt zur Entdeckung vie- beide Komponenten voll-
ständig zu Energie in Form
tenreich ausgelassen: die Antiteilchen. ler der oben erwähnten „modernen“ Teilchen. von Gammastrahlung
Nach und nach fand man zu allen Fermionen des zerstrahlen.

429
Standardmodells auch Antiteilchen. Anti-Quarks tritt der Zerfall instabiler Teilchenkombinationen
aller sechs Flavours erzeugen in entsprechenden nicht ohne eine gewisse Latenzzeit ein – und Me-
Kombinationen Anti-Protonen und Anti-Neutro- sonen sind tatsächlich allesamt instabile Teilchen.
nen. Man nennt Teilchen aus Quarks allgemein Wie lange sie existieren (sie besitzen Halbwerts-
Hadronen (griech. hadrós, stark). Teilchen aus zeiten zwischen 10–23 und 10–8 Sekunden), hängt
drei gebundenen Quarks (oder drei gebundenen von ihrer Zusammensetzung ab. Formal lassen
Anti-Quarks) werden als Baryonen bezeichnet. sich aus den sechs Quarks und ihren Antiquarks
Treffen Teilchen und ihre Antiteilchen auf- 36 verschiedene Mesonen bilden. Kombinatio-
einander, so kommt es meist innerhalb sehr nen eines Quarks mit dem Antiquark desselben
kurzer Zeit zur Zerstrahlung (Annihilation). Flavours sind besonders kurzlebig. Zu den langle-
Kommen zum Beispiel ein Elektron und ein bigsten Quarks gehören die π-Mesonen (Pionen),
Positron sich zu nahe, so zerstrahlen sie ent- die YUKAWA als Austauschteilchen im Atomkern
weder sofort oder zumindest innerhalb etwa postulierte und die aus den Kombinationen ud,
einer Nanosekunde vollständig in zwei Gam- du bestehen können. Da Mesonen in verschie-
maquanten mit der charakteristischen Energie denen inneren Anregungszuständen mit jeweils
von 511 MeV. Übrigens kann es umgekehrt bei anderen Eigenschaften und Zerfallswegen auf-
der Wechselwirkung eines Gamma-Photons mit treten können und zwischen den drei leichtesten
mindestens dieser Energie mit dem elektrischen Quarks u, d und s mit ähnlichen Massen auch
Feld einer Atomhülle oder eines Atomkerns quantenmechanische Überlagerungen auftreten,
auch zur Entstehung eines Elektron-Positron- kennt man inzwischen über hundert Mesonen
Paares kommen. Bei noch höherer Energie kön- und hat Hinweise auf mehr als fünfzig weitere.
nen auch andere Paare wie Myon-Antimyon
oder Proton-Antiproton entstehen. Es handelt Exotische Kombinationen
sich also um die Bildung von Materie und An-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

timaterie aus reiner Energie, in Umkehrung der Physiker sind erfinderische Zeitgenossen. Ne-
Gleichung E = mc2. ben der Arbeit mit altbekannten Atomen des
Protonen und Neutronen sowie ihre Anti- Periodensystems lernten sie, Teilchen in einer
teilchen aus den entsprechenden Antiquarks Art subatomarem Glasperlenspiel zu völlig neuen
sind nicht die einzigen Baryonen. Generell kann Einheiten mit erstaunlichen Eigenschaften zu
10-30 man alle zusammengesetzten Teilchen als mehr kombinieren. Ist mindestens eine Komponente
Exotische Atome. Schwere oder weniger langlebige Bindungszustände ihrer kein gewöhnlicher Atombaustein, werden die
Hüllenteilchen interagie- Konstituenten betrachten. Schließlich sind auch Einheiten als exotische Atome bezeichnet (ÅAb-
ren mit dem Kern stärker
als Elektronen, da sie Atome nichts anderes als komplex strukturierte bildung 10-30). Diese Bindungszustände sind,
diesem viel näher kom- und zum Glück normalerweise beständige Bin- so kurzlebig sie auch oft sein mögen, nicht nur
men. Besitzen sie eine dungszustände der beteiligten Teilchen. Aus den „L'art pour l'art“. Sie erlauben Messungen, die
Farbladung, so erfolgt die
Interaktion zusätzlich über elementaren Bestandteilen des Standardmodells an gewöhnlicher Materie nicht möglich sind.
Gluonen. An Positronium lassen sich auch zahlreiche andere Kombinatio- Damit lassen sich physikalische Theorien sehr
und Myonium ist interes- nen als separate Teilchen beobachten. genau prüfen. In der Natur kommen einige dieser
sant, dass ausschließlich
fundamentale Teilchen Exoten als kurzlebige Produkte hochenergetischer
beteiligt sind. Antimaterie Mesonen – Grenzgänger zwischen Welten Reaktionen vor, beispielsweise bei der Reaktion
bildet die einzig bekannte von Protonen aus der kosmischen Strahlung mit
stabile Form exotischer
Atome. Komplette Anti-
Im Lichte der Quantenchromodynamik (QCD) Materie. Schauen wir uns hierzu ein Beispiel an.
Wasserstoff-Atome lassen sich auch die Mesonen systematisch be-
konnten erstmals 2010 schreiben. Diese leichteren Verwandten der Bary-
eingefangen werden. Als
Myonische Atome
onen bestehen aus jeweils zwei Quarks und haben
bislang schwerster nackter
Anti-Atomkern wurde damit einen ganzzahligen Spin, sind also Bosonen. Myonen sind 200 mal schwerer als Elektronen,
im Jahr 2011 der des Sie überraschen aber noch in ganz anderer Weise: sie verhalten sich aber aufgrund ihrer negati-
Anti-Heliums (4He) nach-
Eines der beiden Quarks gehört zur „dunklen ven elektrischen Ladung trotzdem sehr ähnlich.
gewiesen. Er entstand am
Schwerionenbeschleuniger Seite der Macht“, zur Welt der Antimaterie. Sollte In Teilchenbeschleunigern kann man Myonen
des Brookhaven National die Masse eines Mesons also nicht sofort zu Ener-
r herstellen und mit Atomkernen zu sogenannten
Laboratory bei Kollisionen gie zerstrahlen? Nun, wie schon beim Zusam- „myonischen Atomen“ vereinigen. Diese künstli-
von Gold-Kernen.
mentreffen von Elektron und Positron erwähnt, chen Atome besitzen interessante Eigenschaften:

430
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Genau wie Elektronen in echten Atomen können konzeptionell nicht weit. Anstatt die Lösung Vakuum
Myonen nur bestimmte Energieniveaus einneh- der Dirac-Gleichung als Wellenfunktion eines Das Vakuum ist definiert
als Grundzustand aller
men und gehen schließlich in den Grundzustand unveränderlichen Elektrons anzusehen, muss Felder.
über, den man mit der K-Schale des Bohrschen man sie als Feld betrachten, dessen Quanten
Atommodells vergleichen kann (Å Von Schalen Elektronen sind, ganz so wie Photonen Quan-
und Orbitalen, Seite 135). Allerdings ist der ten des elektromagnetischen Feldes sind. Ein
Kernabstand aufgrund des extremen Überge- einzelnes Teilchen bestimmter Energie ist nichts
wichts dieser „Pseudoelektronen“ 200 mal klei- weiter als ein entsprechender Anregungszustand
ner als bei Elektronen. Solche künstlichen Atome des Feldes. Ist kein Teilchen vorhanden, kann
sind schon als reines Phänomen sehr interessant, das Feld daher immer noch existieren, und man
aber mit ihnen lässt sich auch gewöhnliche Spek- sagt, es sei im Grundzustand. Das Vakuum ist
troskopie betreiben, bei der Übergänge zwischen definiert als der Grundzustand aller Felder.
Schalen angeregt und die Energien vermessen Die nach diesem Schema entstandenen
werden können. Quantenfeldtheorien vervollständigten die
Diese Anwendung führt uns zurück auf die von EINSTEIN und DE BROGLIE angenommene
vorstehend diskutierte Frage nach den Kernra- Korrespondenz zwischen Teilchen und Wellen
dien. Die unterste s-Schale der Myonen liegt so (Å Quantentheorie, die Zweite: Teilchen als
nahe am Kern, dass das Myon sich mit einer Wellen, Seite 104). In Quantenfeldtheorien
gewissen Wahrscheinlichkeit im Kern aufhält. gehen Teilchen und Feld im einheitlichen Begriff
Dabei kann es durch die kurzreichweitige schwa- des Quantenfeldes auf. Da man auch Feldern
che Kraft zu einer Interaktion mit einem Proton einen Impuls zuordnen kann, sind klassische
kommen, das dabei in ein Neutrino und ein Neu- Methoden der Mechanik auf Felder anwendbar
tron verwandelt wird (inverser Betazerfall). Die (Å Kasten Lagrange-Funktion und Quantenfel-
negative Ladung des Myons ist in myonischen der, Seite 432). Wodurch unterscheidet sich
Atomen in einem 2003 mal (d. h. 8 Millionen nun das Quantenfeld des Elektrons von dem
mal) kleineren Volumen konzentriert als die des Photons oder anderer Teilchen? Es stellt
Ladung des Elektrons in einem gewöhnlichen sich heraus, dass sie sich im Wesentlichen durch
Wasserstoffatom. Messungen der Spektren myo- ihre Spins und ihre Wechselwirkungen unter-
nischer Atome erlauben deshalb genaue Bestim- scheiden. Unter Spin sollte man sich keine reale
mungen der Atomkernradien. Drehbewegung vorstellen, denn es handelt sich
vielmehr um Symmetrieeigenschaften des Feldes.
Alle Fermionen, also Teilchen im klassischen
Wellenfunktionen und Sinn, sind Quantenfelder mit dem Spin ½, sie Fermionen
Zu den Fermionen (mit
Quantenfelder werden durch die Dirac-Gleichung beschrieben. dem Spin 1/2) gehören
Den „Kraftfeldern“, also dem elektromagne- Leptonen und Quarks.
Die Schrödinger-Gleichung, mit deren Hilfe man tischen Feld (Photonen), der schwachen und
die Wellenfunktion eines Teilchens berechnen der starken Wechselwirkung (W- und Z-Bo -
kann, ist leider nicht verträglich mit der speziel- sonen beziehungsweise Gluonen) entsprechen
len Relativitätstheorie. Diese postuliert die Äqui- Quantenfelder mit dem Spin 1. Aus Gründen,
valenz zwischen Masse und Energie (E = mc2), die später klar werden, nennt man sie auch
also können prinzipiell aus der kinetischen Ener-r Eichfelder, und ihre Teilchen heißen Eichbo-
gie eines Teilchens weitere Teilchen entstehen. sonen. Das Higgs-Feld (Higgs-Boson), dessen
Die Schrödinger-Gleichung geht jedoch von der Wechselwirkung mit anderen Feldern für deren
Unveränderlichkeit der Teilchen aus. Einmal Masse verantwortlich gemacht wird, hat den
Elektron, immer Elektron! Die von DIRAC als Spin 0. Man kann die Eichfelder der schwachen
Alternative aufgestellte relativistische Gleichung Wechselwirkung und das elektromagnetische
für die Wellenfunktion des Elektrons ließ ande- Feld zum sogenannten elektroschwachen Feld
rerseits negative Energien zu. DIRAC behalf sich zusammenfassen. Elektroschwaches Feld, die
mit der Vorstellung eines „Sees“ aus negativen Felder der starken Wechselwirkung, das Higgs-
Energiezuständen, die normalerweise alle besetzt Feld und die Fermionenfelder von Quarks und
sind. (ÅEntdeckung des Positrons, Seite 429). Leptonen bilden das Fundament des Standard-
So anschaulich diese Vorstellung ist, sie führt modells. Obwohl es noch nicht gelungen ist, eine

431
KAPITEL 10 Elementarteilchen

konsistente Quantenfeldtheorie der Gravitation


Lagrange-Funktion und Quantenfelder zu finden, hätte das entsprechende Quantenfeld
aus Symmetriegründen den Spin 2. Sein Quan-
Die Lagrange-Funktion beschreibt die Differenz aus kinetischer und po- tum nennt man Graviton.
tenzieller Energie eines Systems. Aus ihr lassen sich mithilfe des Prinzips
der kleinsten Wirkung die Bewegungsgleichungen ermitteln. Wechselwirkungen
10-31
Lagrange-Funktion. Die Die klassischen Vorstellungen darüber, wie Kör-
Lagrange-Funktion L einer per aufeinander wirken, lassen sich auf Ele-
an einer Feder schwingenden mentarteilchen nicht übertragen. So verbietet es
Masse m ist die Differenz aus
kinetischer und potenzieller die Unschärferelation, Teilchenbahnen und -im-
Energie, k ist die sogenannte pulse gleichzeitig exakt zu bestimmen, weshalb
Federkonstante. Sind viele Stöße als Modell der Wechselwirkungen nicht
Teilchen mit Federn gekop-
pelt, ergibt sich die Lagrange-
anwendbar sind. Sind mehrere gleiche Teilchen
Funktion als Summe der beteiligt, ist es nicht einmal möglich, sie ausein-
Energien aller Teilchen und ander zu halten, da die Quantenmechanik dies
Federn.
ausschließt. Die Masse-Energie-Äquivalenz sorgt
Sie eignet sich auch gut für die Beschreibung von Quantenfeldern. Felder zudem dafür, dass jederzeit neue Teilchen ent-
lassen sich als virtuelle Gitter einer unendlich dichten Anordnung von stehen und vergehen können, und aufgrund der
„Federn“ und „Massen“ beschreiben. Für das Feld wird eine Lagrange- Energieunschärfe können sogar Teilchen „aus
Dichte definiert, also die Differenz aus kinetischer und potenzieller dem Nichts“ entstehen, solange sie nur schnell
Energie pro Volumeneinheit. Bei Anregungen wird Energie durch Schwin- genug wieder vergehen. Man nennt solche Teil-
gungen im Gitter transportiert, wobei in Quantenfeldern die möglichen chen virtuell, da sie nicht direkt nachweisbar
Schwingungsmodi gequantelt sind. Teilchen sind „Anregungen“ – Feld- sind. Um Wechselwirkungen von Elementarteil-
quanten –, die sich im Feld fortpflanzen. Quantenfelder finden auch in chen zu verstehen, muss man daher betrachten,
der Festkörperphysik Anwendung. Während Photonen Anregungen des wie Quantenfelder aufeinander wirken.
elektromagnetischen Feldes sind, sind Gitterschwingungen (Phononen) Aus dem Alltag wissen wir, dass Wellen sich
gequantelte thermische Anregungen eines Kristallsgitters. im Allgemeinen nicht beeinflussen: Wasserwellen
überlagern und Lichtstrahlen durchdringen sich,
anstatt voneinander abzuprallen. Wie soll man
sich daher die „Ablenkung“ des Quantenfeldes
eines Elektrons in einem elektromagnetischen
Feld vorstellen? Wir wissen, dass Wellen an ei-
nem Hindernis gestreut werden. Streuung ist aber
nichts anderes als Impulsübertragung. Gemäß
unserem Gittermodell ist eine solche Impulsüber-
tragung nur möglich, wenn beide Felder – das
Dirac-Feld des Elektrons und das elektromag-
10-32 netische Feld der Photonen – wie über Federn
Quantenfeld. Ein Quantenfeld lässt sich als eine Art Gitter mit einer unendlich dich- „gekoppelt“ sind (Å Abbildung 10-34). Und in
ten Anordnung von „Federn“ und „Massen“ beschreiben. Quantenteilchen sind der Tat sind alle wechselwirkenden Quanten-
„Anregungen“, die sich im Feld fortpflanzen.
felder des Standardmodells durch Koppelkon-
stanten verbunden. Es stellt sich heraus, dass
„Ladungen“ die Rolle dieser Koppelkonstanten
spielen. Dies ist das Pendant zur „klassischen“
Betrachtungsweise, nach der Ladungen für die
Kräfte zwischen Teilchen verantwortlich sind.
Man kann Wechselwirkungen zwischen
Quantenfeldern als Streuprozesse darstellen und
diese als unendliche Summe einzelner Impuls-
übertragungen behandeln. Bei Quantenfeldern
treten dabei alle Folgen von Impulsübertragun-
10-33
Quanten als Anregungen. Im Grundzustand „|0ࢮ“ eines Quantenfeldes existiert
kein Teilchen, man nennt dies auch den Vakuumzustand. Durch Zufuhr eines
Energie„quants“ geht das Feld in den nächst höheren Zustand „|1ࢮ“ über, der
einem Teilchen entspricht. Weitere Energiezufuhr erzeugt weitere Teilchen. Durch
Energieabgabe werden Teilchen wieder „vernichtet“. Die Schreibweise „|xࢮ“ für
Quantenzustände ist eine Konvention, die auf DIRAC zurückgeht.
Erde, Wasser, Luft und Feuer

gen gleichzeitig auf und überlagern sich. Bei- lungen mathematischer Ausdrücke sind. Jedes Energieunschärfe
Energie und Zeit unterlie-
spielsweise kann überhaupt keine Impulsüber- Diagramm stellt einen möglichen Übergang vom
gen wie Ort und Impuls
tragung stattfinden (keine Streuung), oder es Anfangs- in den Endzustand eines Wechselwir- der Unschärferelation:
findet nur eine einzige statt (Streuung an einem kungsprozesses dar. So werden bei der Streuung ΔE ⋅ Δt ≥ 2π · h. Wegen
Punkt), oder zwei oder drei, bis hin zu unendlich zweier Elektronen aneinander (Møller-Streu- E = mc2 kann ein virtuelles
Teilchen der Masse m also
vielen (Å Abbildung 10-36). ung) ein oder mehrere Photonen ausgetauscht. bis zu 2π · h / mc2 Sekun-
Die Gesamtwahrscheinlichkeit einer Wechsel- den lang existieren, ohne
wirkung erhält man durch die Kombination den Energieerhaltungssatz
zu verletzen.
aller möglichen Übergänge. Zum Glück sind
nicht alle Übergänge gleich wahrscheinlich. Die Reichweite
Wahrscheinlichkeiten hängen von den Koppel- Die maximale Lebens-
konstanten der beteiligten Quantenfelder ab. dauer T eines virtuellen
Teilchens beschränkt
Die Koppelkonstante des elektromagnetischen die Reichweite S sei-
10-34
Feldes ist wesentlich kleiner als eins, weshalb ner Wechselwirkung:
Feldkopplungen. Wechselwirkungen zwischen Feldern
man nur relativ wenige Übergänge berücksich- S c ⋅ T = 2π ⋅ h / mc. Die
S
kann man sich vorstellen als kleine „Federn“ (grau im
masselosen Photonen
Bild) zwischen den Gitterpunkten beider Felder. Die Kop- tigen muss. Allerdings müssen noch Übergänge haben eine unendliche
pelkonstante bestimmt die Stärke der Wechselwirkung. In anderer Art einbezogen werden. So kann ein Reichweite. Für das
Quantenfeldtheorien ist sie proportional zur „Ladung“.
virtuelles Photon selbst in ein virtuelles Elek- schwere W-Boson folgt
So ist die elektrische Ladung des Elektrons proportional
S ≈ 10–18 m, zehntau-
zur Koppelkonstanten zwischen dem Dirac-Feld des Elek- tron-Positron-Paar zerfallen, welches sich sofort send mal kleiner als ein
trons und dem elektromagnetischen Feld. wieder zum Photon vereinigt, das zugehörige Atomkern.
Diagramm hat „Schleifen“ (Å Abbildung 10-38,
Die Auflösung des Streuprozesses in diskrete Seite 434). Schleifen führen bei der Berech-
Folgen von Impulsübertragungen legt natürlich nung zu unendlichen Impulsen. Man kann sie
eine „Teilchensicht“ auf Quantenfelder nahe. meist durch andere geeignet gewählte unendliche
In einer solchen Teilchensicht wird ein Elektron Größen kompensieren, so dass das Ergebnis
im Feld einer positiven Ladung durch den „Aus- endlich bleibt. Diese sogenannte Renormierung
tausch“ virtueller Photonen von seiner Bahn ab- bleibt physikalisch ohne Auswirkungen, da die
gelenkt. Die Teilchensicht ist aber etwas seltsam: renormierten Größen nicht beobachtbar sind. So
10-35
Auch hier muss man alle möglichen Fälle gleich- kann die „nackte“ Masse eines Elektrons durch Richard Phillipp Feynman
zeitig berücksichtigen: dass gar kein Austausch die unendliche Zahl virtueller Teilchen, die es (1918 – 1988).
stattfindet, dass nur ein Photon ausgetauscht umgeben, gar nicht beobachtet und folglich als
wird oder zwei und so weiter. Am Ende kommt unendlich angenommen werden. Die unend-
das Gleiche heraus: Welchen Weg das Elektron
tatsächlich nimmt, ist nicht vorhersagbar.
Insgesamt sind Streuprozesse zwischen Ele-
mentarteilchen aber noch etwas verwickelter:
Die Interaktion zwischen Quantenfeldern kann
ja dazu führen, dass neue Teilchen entstehen
und andere verschwinden. Es stellte sich heraus,
dass diese Fälle analog behandelbar sind, und
dank des genialen Physikers RICHARD FEYNMAN
gibt es eine sehr anschauliche Methode dafür: 10-36
die berühmt gewordenen Feynman-Diagramme. Streuung. Die Streuung des Quantenfeldes eines Elektrons am Feld einer positiven La-
dung kann man sich vorstellen als Folge einzelner Impulsübertragungen zwischen den
Feldern. Links sind drei von insgesamt unendlich vielen möglichen Folgen dargestellt,
Feynman-Diagramme mit keiner (0), einer (1) und zwei (2) Übertragungen. Das resultierende gestreute Feld
ist eine Überlagerung aller Folgen. Im Gegensatz zur klassischen Betrachtungsweise liegt
Feynman-Diagramme (ÅAbbildung 10-37, Seite daher die Flugrichtung des Elektrons nach Passieren des Feldes nicht fest, lediglich die
Wahrscheinlichkeit, ein Elektron in der klassisch erwarteten Richtung zu registrieren, ist
434) dienen der Berechung der Wechselwir- maximal. Die Feldbetrachtung korrespondiert mit der Teilchenvorstellung (rechts): Die
kungen zwischen Quantenfeldern. Sie haben „Ablenkung“ des Elektrons entsteht durch Interaktionen, bei denen Photonen (gewellte
den Vorteil, dass sie der intuitiven Vorstellung Linien) ausgetauscht werden. Auch hier ist die resultierende „Bahn“ des Elektrons nicht
determiniert. Jeder Interaktion ist eine Wahrscheinlichkeit zugeordnet, das abgelenkte
wechselwirkender Teilchen eher entsprechen, Elektron in der entsprechenden Richtung zu finden. Die Kombination aller Alternativen
wenngleich ihre Elemente nur grafische Darstel- liefert die statistische Verteilung des Streuwinkels.

433
KAPITEL 10 Elementarteilchen

10-37 entstammt dem griechischen symmetria, was


Feynman-Diagramme. Sie illustrieren die Wechselwirkun-
„Ebenmaß“ bedeutet. Im Alltag gebrauchen wir
gen zwischen Teilchen, hier am Beispiel zweier Elektronen
(e–), die durch Austausch eines virtuellen Photons (γ)
γ dieses Wort bei Formen, die durch Drehung oder
aneinander gestreut werden. Der tatsächliche Ablauf der Spiegelung auseinander hervorgehen. Ein Ge-
Wechselwirkung ist nicht beobachtbar (graue Bereiche), sicht ist dann wirklich „ebenmäßig“, wenn eine
lediglich die ein- und austretenden Teilchen sind es. Beide
dargestellten Verläufe sind gleich wahrscheinlich, da die Hälfte durch Spiegelung der anderen entsteht.
Teilchen prinzipiell nicht unterscheidbar sind. Deshalb In der Physik wird dieses Prinzip in einem ver-
müssen beide Übergänge bei der Berechnung berücksich- allgemeinerten Sinn verwendet. Eine Symmetrie
tigt werden.
liegt vor, wenn sich eine physikalische Größe
liche Masse kompensiert gerade die Wirkung bei der Transformation anderer Größen, von
der Schleifen, und im Mittel bleibt die mess- denen sie abhängt, nicht ändert. Man sagt, das
bare, endliche Masse zurück. Leider gibt es auch Gesetz, das die Größen miteinander verbindet,
Quantenfeldtheorien, die nicht renormierbar sei invariant gegenüber dieser Transformation.
sind, zudem wirkt das Renomierungsverfah- Eine Transformation liegt zum Beispiel vor, wenn
ren etwas provisorisch. Heute werden deshalb ein konstanter Wert zu einer Größe addiert oder
Quantenfeldtheorien nicht als fundamentale, deren Vorzeichen umgekehrt wird. So ist die
sondern als approximative Theorien angesehen, Energiemenge, die benötigt wird, um ein Klavier
die allerdings extrem genaue Näherungswerte in den zweiten Stock zu tragen, heute ebenso
liefern. Das Problem der unendlichen Größen ist groß wie morgen, sie ist – abstrakt gesprochen
letztlich eine Folge unseres Unwissens über die – unabhängig von einer Transformation des Zeit-
Struktur des Raumes bei kleinsten Abmessun- punkts. Die zeitlich konstante Energiemenge ist
gen. Denn auch bei Wechselwirkungen zwischen eine Folge des Energieerhaltungssatzes. Wäre die
Quantenfeldern geht man ja davon aus, dass benötigte Energiemenge nämlich heute größer
alle Interaktionen punktförmig sind. Gemäß als morgen, könnte man Energie aus dem Nichts
der Unschärferelation bedeutet aber eine Loka- gewinnen. Auch die Tatsache, dass Billardspieler
lisierung eines Teilchens auf einen Punkt, dass überall erfolgreich spielen können, spricht dafür,
es einen unendlich großen Impuls besitzt. In der dass die Stoßgesetze unabhängig von Transfor-
Stringtheorie tritt dieses Problem nicht auf, da mationen des Ortes sind. Die überall geltenden
Strings immer eine Mindestlänge besitzen. Stoßgesetze sind eine Folge des Impulserhaltungs-
satzes. EMMY NOETHER (1882 – 1935), eine der
Symmetrien und Symmetriebrechung ersten Frauen, die an deutschen Universitäten
studieren durften, bewies einen fundamentalen
Das Periodensystem der Elemente wurde zu einer Satz, das nach ihr benannte Noether-Theorem:
Zeit entwickelt, als noch niemand wissen konnte, Jeder Invarianz (Symmetrie) eines physikali-
weshalb dessen Systematik gilt. Heute befinden schen Systems entspricht eine Erhaltungsgröße.
wir uns in einer vergleichbaren Situation. Warum Da ein enger Zusammenhang besteht zwischen
10-38 gibt es drei Generationen von Elementarteilchen, den Erhaltungsgrößen eines Systems und dessen
Schleifen. Feynman-Dia-
gramme höherer Ordnung
und woraus leiten sich ihre Eigenschaften ab? dynamischem Verhalten, ist Letzteres durch die
berücksichtigen weniger Gibt es wirklich nur vier Grundkräfte? Obwohl Symmetrien des Systems bestimmt. Invarianzen
wahrscheinliche Prozesse das Standardmodell die Zahl der Elementarteil- in Naturgesetzen sind von zentraler Bedeutung.
wie die Paarerzeugung
und -vernichtung (A), die
chen und ihre Eigenschaften gut beschreibt, kann Wären Naturgesetze zum Beispiel abhängig vom
mehrfache Übertragung es diese Fragen nicht beantworten. Mehr noch: Ort im Universum, an dem man sich befindet, so
virtueller Photonen (B), die Damit es korrekte Ergebnisse liefert, sind um die könnte man seine absolute Position im Univer-
zusätzliche Emission und
zwanzig Parameter einzustellen, für theoretische sum bestimmen, unabhängig von irgendwelchen
Absorption eines virtuellen
Photons (C) und die Emis- Physiker eine zutiefst unbefriedigende Situation. sonstigen Orientierungspunkten. Noch gehen die
sion/Absorption virtueller Ganz zu schweigen davon, dass es bisher nicht meisten Physiker davon aus, dass die Naturge-
Photonen unabhängig gelang, die Gravitation einzubeziehen. Welche setze in unserem Universum für alle Zeiten und
vom Streuprozess, die
sogenannte Selbstenergie Ansätze derzeit verfolgt werden, um diesen Zu- an allen Orten identisch sind, doch wissen kann
(D). Übergänge dieser Art stand zu beenden, werden wir noch erfahren. man das freilich nicht. Naturgesetze sind aber
bilden in Feynman-Dia- Zunächst konzentrieren wir uns auf ein Konzept, sicher nicht skaleninvariant: Es kann nirgendwo
grammen Schleifen, die
den Impulsbeitrag gegen das wie kein anderes die Teilchenphysik in den in unserem Universum Atome geben, die so groß
unendlich streben lassen. letzten Jahrzehnten prägte: Symmetrie. Das Wort sind wie Planeten, noch kann es Planetensysteme

434
Erde, Wasser, Luft und Feuer

geben, die so klein sind wie Atome. Die fehlende che Symmetriebrechung bereits kennengelernt:
Skaleninvarianz folgt aus der Quantenstruktur die Aufspaltung von Spektrallinien beim Anle-
der Welt. Es gibt für alle physikalischen Größen gen eines Magnetfelds (ÅQuantenzahlen, Seite
einen kleinsten Wert, eben das entsprechende 130). Das Magnetfeld bricht die Symmetrie der
Quantum. Umgekehrt wirken sich Quantenef- Magnetquantenzahl der Elektronen im Atom.
fekte nicht in allen Größenordnungen gleich aus Die Invarianz des Isospins ist eine Folge von
(ÅDekohärenz, Seite 110). Symmetrien der Quarkkonfiguration von Ha-
Der Zusammenhang zwischen Symm e - dronen. Aus den Konfigurationen von up- und 10-40
trien und Erhaltungsgrößen gilt nicht nur für down-Quarks kann ein „Raum“ aus Basisfunk- Isospin-Symmetrie. Die
Transformationen von Ort und Zeit, sondern tionen gebildet werden, in dem sich die Wellen- Umwandlung von Pro-
tonen und Neutronen
auch für interne Größen eines Systems. Un- funktionen der Hadronen „drehen“. Protonen ineinander entspricht
ter anderem sind die Spinquantenzahl und die und Neutronen besitzen unterschiedliche Iso- einer „Drehung“ in einem
sogenannte Isospinquantenzahl von Hadronen spinwerte (I3 = ½ bzw. I3 = –½) aber die glei- Raum („Koordinatensys-
tem“) aus zwei Basisfunk-
interne Erhaltungsgrößen. Die zugeordneten che Isospinquantenzahl. Pi-Mesonen bestehen
tionen u und d. Im Prinzip
Symmetrietransformationen sind mit räumlichen ebenfalls aus Quarks und haben einen Isospin sind in diesem Raum auch
Drehungen verwandt (weshalb man „Spins“ von 1 mit den möglichen Isospinwerten –1 (π–- „Überlagerungszustände“
gerne als in bestimmte Richtungen orientierte Meson), 0 (π0-Meson) und 1 (π+-Meson). Da möglich, sozusagen
„Preutonen“. Allerdings
Drehachsen darstellt). Allerdings sind sowohl die wir zwischen Proton und Neutron unterschei- ist unter normalen Ver-
„Räume“, in denen gedreht wird, als auch die den können, ist die Isospinsymmetrie bei ihnen hältnissen die Isospin-
gedrehten „Objekte“ abstrakter Natur. Es han- offenbar gebrochen. Verantwortlich dafür ist Symmetrie „gebrochen“,
weshalb wir beide sogar
delt sich um Drehungen der Wellenfunktionen in die elektroschwache Wechselwirkung, die in dann unterscheiden könn-
einem Raum, dessen Koordinatenachsen Basis- Hadronen ebenfalls wirkt. ten, wenn Protonen nicht
funktionen sind, aus denen die Wellenfunktionen In Fällen gebrochener Symmetrie ist stets elektrisch geladen wären.
kombiniert werden (ÅHilbert-Raum, Abbildung Energie erforderlich, um den Wert der Erhal-
3-110, Seite 105). Solche Drehungen lassen tungsgröße zu ändern, da sich die Werte ener-
Spin- und Isospinquantenzahl unverändert, än- getisch unterscheiden. So ist die Aufspaltung
dern aber die Orientierung der Wellenfunktion, von Spektrallinien ein Zeichen dafür, dass jedem
ganz so, wie eine räumliche Drehung eines Punk- Wert der Magnetquantenzahl eine andere An- Strangeness
tes um eine Achse zwar den Abstand zur Achse regungsenergie entspricht. Analog wird beim Die Strangeness (engl.
unverändert lässt, nicht aber den Drehwinkel. radioaktiven Betazerfall ein Neutron durch Seltsamkeit) ist eine
Quantenzahl, die be-
Den Drehwinkeln entsprechen die tatsächlich Austausch eines W-Bosons (schwache Wechsel-
stimmte Quarks charak-
beobachtbaren Spin- beziehungsweise Isospin- wirkung) in ein Proton verwandelt, wobei der terisiert, sogenannte s-
werte, die natürlich gequantelt sind. Fermionen Isospin gedreht wird. Quarks. Sie ist in Teilchen,
die Quarks enthalten,
haben die Spinquantenzahl ½ mit den möglichen
gleich der Anzahl der
Spinwerten ±½, Bosonen die Spinquantenzahl CPT-Theorem s-Antiquarks minus der
1 mit den möglichen Werten ±1 und 0. In Pro- Anzahl der s-Quarks.
zessen, bei denen es auf den konkreten Wert Die Vorzeichen der elektrischen Ladung und s-Quarks haben die
Strangeness –1, s-Anti-
nicht ankommt, sind Teilchen mit unterschied- der Strangeness (ÅRandspalte) sowie die De- quarks die Strangeness 1.
lichen Spinwerten nicht unterscheidbar. Erst in finitionen der sogenannten Leptonen- und Ba- Die Strangeness bleibt bei
einem Kraftfeld, dessen Wirkung vom Spin- ryonenzahl sind zwar Konventionen, spiegeln der starken Wechselwir-
kung erhalten.
wert abhängt, sind die Teilchen als verschieden aber innere Symmetrien der Gesetze wider, die
wahrnehmbar. Man sagt, die Symmetrie wird die Welt der Teilchen beschreiben. Die Sym-
durch das Feld gebrochen. Wir haben eine sol- metrietransformation, die alle Ladungen und Parität
Quantenzahlen umkehrt, nennt man Ladungs-
Absolute Größe Transformation Erhaltungs- Positiv:
größe konjugation und kürzt sie mit C ab. C überführt Der Wert einer Funktion f
Absolute Lage im alle Teilchen in ihre Antiteilchen. Man glaubte ist invariant bezüglich ei-
x' = x + a Impuls ner Koordinateninversion:
Raum auch lange, dass die Parität (P) eine Erhaltungs-
– ). Man sagt
f(x) = f(–x
Absolute Zeit t' = t + a Energie größe physikalischer Prozesse sei, also sollte auch: f ist gerade.
Absolute Richtung
eine Inversion der Raumkoordinaten (Punkt-
Rotation Drehimpuls spiegelung am Nullpunkt) einen physikalischen Negativ:
im Raum
Der Wert von f kehrt sich
Absolut rechts Prozess nicht beeinflussen. 1956 gelang jedoch um: f(x) = –f(–x
– ), und f ist
x' = -x Parität
oder links der Physikerin CHIEN-SHIUNG WU (1912 – 1997) ungerade.
10-39
Transformationen und Erhaltungsgrößen. Symmetrie-
transformationen drücken aus, dass absolute Größen
nicht existieren. Dies impliziert die Erhaltung physikali-
435
scher Größen wie Energie oder Impuls.
KAPITEL 10 Elementarteilchen

CP-Invarianz der experimentelle Nachweis, dass beim Zerfall aus dieser Art von Eichung hervor, weshalb man
besagt, dass sich physi-
kalische Gesetzmäßigkei-
von Pionen die Paritätserhaltung verletzt wird. auch von Eichbosonen spricht.
ten nicht ändern, wenn Die Gesetze der schwachen Wechselwirkung sind
gleichzeitig alle Teilchen nicht invariant gegenüber Punktspiegelungen,
durch ihre Antiteilchen
Symmetrien und Eichbosonen
ersetzt und alle Raum-
die Parität mithin keine Erhaltungsgröße von
koordinaten gespiegelt Prozessen, bei denen die schwache Wechselwir- Im Standardmodell sind praktisch alle Symme-
werden. C steht für engl. kung eine Rolle spielt. Heute glaubt man, dass trien Drehsymmetrien in den erwähnten abstrak-
charge, Ladung, bzw.
die Kombination aus C, P und der Zeitumkehr ten Funktionenräumen, in denen Teilchenzu-
charge conjugation, La-
dungskonjugation, P für T eine Erhaltungsgröße aller Prozesse ist. Dies stände beschrieben werden. Wie bei räumlichen
engl. parity, Parität. ist das sogenannte CPT-Theorem. Drehungen sind unterschiedlich viele „Drehach-
Quantenzahlen sen“, das heißt unabhängige Parameter, in diesen
Die Existenz von Quan- Räumen möglich. Die Zahl der Drehachsen be-
tenzahlen weist auf eine
Lokale Symmetrien
stimmt nun, wie viele verschiedene Eichbosonen
Symmetrie des Systems
hin. Wir haben bisher nur über globale Symmetrien notwendig sind, um eine lokale Symmetrie zu
gesprochen. Bei diesen muss die entsprechende gewährleisten. Die einfachste Drehsymmetrie
Transformation überall angewandt werden: Die nennt man U(1), sie entspricht einer räumlichen
Addition einer Konstante zur Ortskoordinate Drehung in der Ebene mit nur einer Achse. Lo-
muss auf die Positionen aller Teilchen angewandt kale U(1)-Symmetrien benötigen nur ein Boson;
werden. Physiker sind aber bestrebt, Theorien die elektromagnetische Wechselwirkung ist von
so zu formulieren, dass ihre Gleichungen ge- dieser Form, weshalb es hier nur das Photon
genüber lokalen Transformationen invariant gibt. Die nächste Stufe bilden SU(2)-Symme-
sind, also eine lokale Symmetrie gilt. Eine lokale trien mit drei unabhängigen Parametern, was
Transformation kann beispielsweise eine lokale räumlichen Drehungen mit drei Achsen ent-
Verschiebung elektrischer Ladungen sein, die spricht. SU(2)-Eichtheorien haben drei Bosonen.
die Gesamtenergie (das Potenzial) unverändert Im Rahmen der Quantenfeldtheorien bedeuten
lässt. Die Forderung nach lokaler Symmetrie ist Drehungen mit drei und mehr Parametern die
durch das Lokalitätsprinzip der Relativitätsthe- Überführung eines Teilchens in ein anderes, zum
10-41
orie motiviert. So wäre die gleichzeitige parallele Beispiel die Überführung eines Neutrons in ein
Lokale Symmetrie. Eine
globale Verschiebung aller Verschiebung aller Ladungsträger im Kosmos Proton. Die elektroschwache Theorie ist eine
Ladungen im Universum eine globale Symmetrietransformation, die die Kombination aus SU(2) und U(1), geschrieben
um eine Strecke x ändert
Menge an elektrischer Energie nicht ändert. Diese meist als U(1)⊗SU(2) mit daher vier Bosonen:
auf Dauer nichts am
elektrischen Potenzial U Transformation impliziert jedoch, dass alle durch dem Photon, den beiden W-Bosonen und dem
zwischen ihnen (oben). die Verschiebung erzeugten Potenzialänderungen Z-Boson. Die starke Wechselwirkung basiert
Das Coulombsche Gesetz augenblicklich überall spürbar sein müssen. Un- auf einer SU(3)-Symmetrie mit 8 unabhängigen
verfügt über eine globale
Translationsymmetrie. endlich schnell ablaufende Prozesse sind aber laut Parametern, weshalb es acht Gluonen gibt. Das
Das Potenzial kann sich Relativitätstheorie nicht möglich: Wirkungen Standardmodell wird daher oft dargestellt als
aber nur mit endlicher Ge- sind immer lokal und breiten sich höchstens mit U(1)⊗SU(2)⊗SU(3).
schwindigkeit ausbreiten,
was dazu führt, dass jede Lichtgeschwindigkeit aus. Man kann die Max-
Ladung die Verschiebung wellschen Gleichungen und andere Feldtheorien Wie Teilchen ihre Masse bekommen
der anderen Ladungen nun so formulieren, dass ihre Strukturen gegen-
zunächst nicht „spürt“,
die Verschiebung wirkt
über lokalen Transformationen invariant bleiben, Aufgrund experimenteller Hinweise vermutete
lokal. Die Ausbreitung man spricht von „Eichung“ und sogenannten man schon früh, dass es einen Zusammenhang
des Potenzials erfolgt Eichtheorien. Die Felder dieser Theorien („Eich- zwischen der elektromagnetischen und der
durch elektromagnetische
Wellen (unten). Die Max-
felder“) gleichen die Wirkung lokaler Symme- schwachen Wechselwirkung geben sollte, also
wellschen Gleichungen trietransformationen gerade aus. Die Felder sind beide durch ununterscheidbare Bosonen ver-
kann man mittels einer also eine Konsequenz des Lokalitätsprinzips der mittelt werden. Die vermutete elektroschwache
sogenannten „Eichung“
Relativitätstheorie: Weil sich die Wirkung lokaler Symmetrie U(1)⊗SU(2) sollte auch Elektronen
so formulieren, dass sie in-
variant gegenüber lokalen Ladungsverschiebungen nicht mit Überlichtge- und Neutrinos ununterscheidbar machen, ähn-
Verschiebungen sind. Das schwindigkeit ausbreiten kann, sorgen elektro- lich wie die Isospinsymmetrie Protonen und
bei Verschiebung entste- magnetische Felder für den Potenzialausgleich Neutronen zusammenführt. Aus der endlichen
hende elektromagneti-
schen Feld ist genau das (ÅAbbildung 10-41). Alle Quantenfelder, die Reichweite der schwachen Wechselwirkung folgt
benötigte Eichfeld. Bosonen (Austauschteilchen) beschreiben, gehen aber, dass deren Bosonen eine Masse besitzen,

436
Erde, Wasser, Luft und Feuer

ganz im Gegensatz zum masselosen Photon mit U(1) entsteht ein Goldstone-Boson, bei SU(2) Träge Masse
Sie ist dafür verantwort-
unendlicher Reichweite. Wie konnte eine Sym- entstehen drei, und so weiter.
lich, dass Bewegungsän-
metriebrechung die Masse der Teilchen verän- Gemäß dem Standardmodell erfüllt ein der- derungen eines Körpers
dern? 1964 wurde von PETER HIGGS (*1929) und artiges Feld mit gebrochener Symmetrie das Va- Kraft erfordern.
anderen ein Mechanismus postuliert, der eine kuum, das sogenannte Higgs-Feld. Das bei dessen
spontane Symmetriebrechung für die Entstehung Symmetriebrechung entstehende massive Higgs- Schwere Masse
Sie ist Ausdruck der
der trägen Masse der Bosonen und der schwe- Boson wurde 2012 im neuen Large Hadron Col- Wechselwirkung von
ren Elementarteilchen verantwortlich machte. lider des CERN wahrscheinlich identifiziert. Die Körpern mit einem Schwe-
Ausgangspunkt waren Theorien zur Supralei- masselosen Higgs-Teilchen wirken ihrerseits mit refeld. Bisher wurde kein
messbarer Unterschied
tung in Festkörpern, die die Verwandtschaft von den Eichfeldern der schwachen Wechselwirkung zwischen den Beträgen
Symmetriebrechungen und Phasenübergängen zusammen. Man kann zeigen, dass dadurch die der trägen und schweren
deutlich machen (ÅKasten Spontane Symme- masselosen Teilchen „verschwinden“ und die Masse festgestellt.
triebrechung in Festkörpern, Seite 438). Eichbosonen stattdessen eine Masse erhalten.
Zur spontanen Symmetriebrechung kommt Fermionen erhalten dagegen ihre Masse durch
es, wenn der Zustand minimaler Energie eines die direkte Wechselwirkung mit dem gesamten
Systems nicht gleichzeitig der Zustand höchster Higgs-Feld. Wenn sich das Higgs-Feld in einem
Symmetrie ist. Stellen wir uns eine Kugel auf höheren Energiezustand befindet, so kann die
dem höchsten Punkt des gewölbten Bodens einer Symmetriebrechung wieder aufgehoben werden.
Sektflasche vor. Sie besitzt nicht die niedrigste Bei hohen Energien sollten daher die Eichboso-
potenzielle Energie, dafür ist aber ihr Zustand nen der schwachen Wechselwirkung ihre Masse
symmetrisch gegenüber Drehungen um die Fla- verlieren; sie vereinigen sich dann mit dem Pho-
schenachse. Bei der kleinsten Erschütterung wird ton zur elektroschwachen Wechselwirkung.
die Kugel deshalb „spontan“ in die kreisförmige Leider gibt es ein Problem bei der Berech-
Bodenrinne rollen, da dort das Energieminimum nung der Masse des Higgs-Bosons. Wegen der er- r
liegt. Die Drehsymmetrie ist gebrochen, denn wähnten Schleifen durch virtuelle Teilchen in den
die Kugel wird auf irgendeiner Seite zu liegen Feynman-Diagrammen müsste das Higgs-Teilchen
kommen. Während in diesem Zustand jeder Ver- r eine wahrhaft gigantische Masse im Bereich von
such, die Kugel aus der Rinne zu heben, Energie Milliarden Teraelektronenvolt besitzen. Die be-
erfordert, läuft sie entlang der Rinne von selbst kannten Massen der Elementarteilchen erfordern
(Reibung vernachlässigt). Das gleiche Verhalten aber einen weit geringeren Wert, der nur durch
tritt bei Quantenfeldern (Å Abbildung 10-42) eine extrem genaue Justierung der Parameter der
auf. Besitzt das Potenzial eines Feldes mit zwei Theorie erreicht werden kann. Der experimentell 10-42
Komponenten eine solche Flaschenbodenform, gefundene Wert um 125 GeV passt allerdings in Flaschenbodenpotenzial.
so ist der Zustand „auf der Wölbung“, bei dem den theoretisch möglichen Wertebereich. — Ein Higgs-Feld besitzt ein
flaschenbodenförmiges
sein Betrag null ist, nicht der Zustand minimaler Potenzial. Der Nullzustand
Energie. Letzteren nimmt das Feld als Grundzu- Jenseits des Standardmodells des Feldes liegt auf dem
stand ein, wenn die Drehsymmetrie gebrochen Hochpunkt im Zentrum
und hat nicht die mini-
wird. Diesem Zustand entsprechen ein masselo- Von Susy, Strings und Loops male potenzielle Energie
ses und ein massives Feldteilchen. Dem masse- (oben). Ein Teilchen in
losen Teilchen entsprechen Feldzustände längs So erfolgreich das Standardmodell auch ist, es diesem Punkt wird in die
Potenzialrinne „rollen“
der Potenzialrinne, da diese alle die Energie null handelt sich nur um eine approximative Theorie. und damit die Rotations-
besitzen. Dem massiven Teilchen entsprechen Wesentliche Schwächen kennen wir bereits: Es symmetrie der Anordnung
Zustände senkrecht zur Rinne, deren Feldener- kann nicht erklären, warum es drei Teilchenfami- brechen. In der Rinne
kann man das Feld aus
gien größer als null sind, denn wegen E = mc2 lien gibt, es liefert keine befriedigende Erklärung
zwei Komponenten beste-
entspricht jeder Energie eine Masse. Die mas- für die Größe der Teilchenmassen und es bezieht hend betrachten (unten):
selosen Teilchen bezeichnet man als Goldstone- die Gravitation nicht ein. Oberhalb der Quan- einer radialen (rote Pfeile)
und einer Winkelkompo-
Bosonen. Das Prinzip lässt sich auf mehr als zwei tenwelt werden Gravitationseffekte durch die
nente (blauer Pfeil). Letz-
Feldkomponenten ausweiten, wenngleich das allgemeine Relativitätstheorie (ART) beschrie- tere entspricht einem mas-
anschauliche Bild einer Potenzial„rinne“ dann ben. Die Welt der Quanten und die Welt der selosen Teilchen, erstere
nicht mehr zutrifft. Die Zahl der dabei entstehen- ART können nebeneinander koexistieren, weil einem massiven Teilchen,
da für jede Zustandsände-
den Goldstone-Bosonen entspricht den „Achsen“ die Gravitationskraft im Vergleich zu den ande- rung in radialer Richtung
der gebrochenen Symmetrie des Potenzials. Bei ren Kräften extrem schwach ist. Erst im Bereich Energie notwendig ist.

437
KAPITEL 10 Elementarteilchen

zu bringen. Als NEWTON absoluten Raum und


Spontane Symmetriebrechung in Festkörpern absolute Zeit postulierte, war er sich dieser Prob-
lematik wohl bewusst. Allerdings schien ihm das
Spontane Symmetriebrechungen erfolgen in Festkörpern bei Phasenüber- Phänomen der Trägheit anders nicht erklärbar
gängen wie etwa der spontanen Magnetisierung eines Ferromagneten. (Å Trägheit, Seite 58). EINSTEINs allgemeine
Oberhalb der Curie-Temperatur ist die Gesamtmagnetisierung null, da Relativitätstheorie steht hingegen eher für die
die magnetischen Dipole in zufälligen Richtungen orientiert sind. Das andere Position. Nicht nur sind Trägheit und
Magnetfeld befindet sich im Grundzustand, und die freie Energie ist Gravitation äquivalent, die Struktur des Raumes,
minimal. Dieser Zustand ist drehsymmetrisch, denn keine Drehung des oder besser der Raumzeit, ist abhängig von der
Ferromagneten ändert etwas an der Magnetisierungsrichtung. Unterhalb Verteilung von Masse und Energie. Oft wird
der Curie-Temperatur richten sich die magnetischen Dipole parallel aus, von einer durch Masse-Energie „gekrümmten“
da dies dort dem Zustand minimaler freier Energie entspricht; der Fer- Raumzeit gesprochen, was die Existenz einer
romagnet wird magnetisch. Damit wird die Drehsymmetrie gebrochen, Raumzeit als „Bühne“ allen Geschehens sugge-
die Orientierung des Feldes im Raum ist nicht mehr invariant gegenüber riert. Im Kern kann die ART aber auch anders
Drehungen des Magneten. Allerdings können sogenannte Magnons ent- interpretiert werden: Entfernt man Masse und
stehen, ausgedehnte Spinwellen im Magneten, entlang derer die Orientie- Energie, ist nicht leerer Raum da, sondern nichts!
rung der Dipole sehr langsam oszilliert, praktisch ohne Energieaufwand. Eine „Theorie für Alles“ muss dann unabhän-
Magnons sind Goldstone-Bosonen. Auch die Supraleitung ist eine spon- gig sein vom raumzeitlichen Hintergrund. Nicht
tane Symmetriebrechung. Die Phase der gemeinsamen Wellenfunktion der Materie und Energie entstehen und vergehen in
Teilchen ist nicht wie sonst drehinvariant, denn die Drehsymmetrie ist der Raumzeit, sondern diese selbst entsteht und
gebrochen. Der Meißner-Ochsenfeld-Effekt illustriert, dass Photonen eine vergeht zusammen mit allem anderen. Um die
Masse haben. Der Effekt besteht darin, dass Magnetfelder nur ein kleines Quantentheorie mit der ART zu verbinden, soll-
Stück weit in einen Supraleiter eindringen können. Die normalerweise ten daher nicht nur Felder, sondern die Raumzeit
unendliche Reichweite des Magnetfelds wird endlich. Dies ist äquivalent selbst gequantelt sein. Diesen Weg beschreitet die
zu der Vorstellung, das Photon habe eine Masse. Loop-Quantengravitation. Die konkurrierende
Stringtheorie geht hingegen von einer raumzeitli-
der sogenannten Planck-Länge bei 10–35 m (ein chen Bühne aus, die allerdings anders aussieht als
Proton ist 1020 mal größer!) wird sie so stark wie gewohnt. Für eine konsistente Stringtheorie, die
die elektromagnetische Kraft. Gemäß der Un- alle Quantenfelder einschließlich der Gravitation
schärferelation entspricht der Planck-Länge eine umfasst, sind neun Raumdimensionen und eine
Energie von etwa 1019 GeV. In diesem Bereich ist Zeitdimension notwendig.
der Raum nicht mehr „glatt“, sondern durch die
gravitative Wirkung hochenergetischer Quan- Sich entfaltende Raumzeit –
tenfluktuationen unstetig verzerrt, und die Glei- Loop-Quantengravitation
chungen der Relativitätstheorie versagen hier.
Vor allem zwei Theorien konkurrieren derzeit Wie soll man sich eine gequantelte Raumzeit
um den Status einer „Theorie für Alles“, die alle vorstellen? In der Loop-Quantengravitation be-
10-43 Kräfte und Teilchen einbezieht: Stringtheorie steht der Raum aus einem Netzwerk von Volu-
Spin-Netzwerk. Die und Loop-Quantengravitation. Sie unterscheiden menquanten, die ein Vielfaches des sich aus der
Raumzeit der Loop- sich entlang einer Trennungslinie, die in einem Planck-Länge ergebenden kleinsten möglichen
Quantengravitation be-
steht aus einem Netzwerk gewissen Sinn bereits ARISTOTELES und DEMOKRIT Volumen„quants“ sind (10–105 m3). Natürlich
von Knoten und Kanten, beziehungsweise DESCARTES und NEWTON N trennte: hat ein Volumenquant nicht irgendeine definierte
einem sogenannten Spin- durch die richtige Antwort auf die Frage nach der Form, ist also weder kugel- noch würfelförmig;
Netzwerk. Die Kanten
tragen Quantenzahlen, Natur von Raum und Zeit. ARISTOTELES und DE- schließlich soll Raum und damit „Form“ erst
die die Größe der Grenz- SCARTES gingen beide davon aus, dass Raum nur durch das Zusammenwirken dieser Quanten
fläche zwischen zwei als Beziehung zwischen Objekten definiert wer- entstehen. Der Wert des Volumenquants ist die
Knoten definieren. Die
Knoten sind charakterisiert
den kann. Ein absoluter Raum und eine absolute einzige Größe, die es charakterisiert, weshalb
durch Quantenzahlen, die Zeit, die völlig unabhängig von den Objekten man es einfach als Punkt darstellt und von einem
das Volumen des Knotens im Raum existieren sollten, erschienen ihnen „Knoten“ des Netzwerks spricht. Die „Oberflä-
festlegen. Knoten haben
keine bestimmte Form,
absurd, schließlich gab es keine Möglichkeit, che“ eines Volumenquants ist natürlich ebenso-
sondern sind nur durch ihr sich von deren Existenz zu überzeugen, ohne wenig als geometrische Fläche anzusehen. Man
Volumen charakterisiert. zu ihrer Vermessung wiederum Körper ins Spiel kann jedoch jede Verbindungslinie zwischen

438
Erde, Wasser, Luft und Feuer

zwei Quanten im Netzwerk als „Grenzfläche“ GUT, SUSY und WIMPs


betrachten. Deren Größe ist wiederum gequan-
telt, und zwar nach dem gleichen Schema wie Das Standardmodell kombiniert Leptonen,
Teilchenspins. Wegen dieser Verwandtschaft zu Quarks und Eichbosonen zur S y mmetrie
Spins (die darauf beruht, dass beide Größen U(1)⊗SU(2)⊗SU(3). Diese Symmetrie ist bei
zur gleichen Symmetriegruppe gehören), spricht niedrigen Energien gebrochen, weshalb wir Pro-
man von Spin-Netzwerken (ÅAbbildung 10-43). tonen und Neutronen unterscheiden können
Gemäß der Loop-Quantengravitation wird der und Teilchen eine Masse haben. Auch zwischen
gesamte Raum durch ein solches Spin-Netzwerk Leptonen und Quarks gibt es Ähnlichkeiten,
gebildet. Dieses ist natürlich nicht statisch, denn die die Vermutung nahe legen, beide Teilchen-
Knoten des Netzwerks können miteinander ver- gruppen könnten Mitglieder einer bei niedrigen
schmelzen oder sich teilen, und die Verbindungs- Energien gebrochenen Symmetrie sein. So ha-
linien orientieren sich entsprechend um. Dies ge- ben beide halbzahligen Spin und kommen in
schieht laufend aufgrund von Quantenfluktuatio- drei Generationen zu jeweils zwei Teilchen vor. 10-44
Ereignishorizont eines
nen oder dadurch, dass Teilchen beziehungsweise Auch die Tatsache, dass die elektrische Ladung schwarzen Lochs. Die
Quantenfelder in Form von Anregungszuständen nur in ganz bestimmten „Portionen“ auftritt, Abhängigkeit der Entropie
durch das Netzwerk wandern. Gravitation und weist auf eine Quarks und Leptonen umfassende eines schwarzen Lochs
von der Fläche seines
die spezielle Struktur der Raumzeit sind eine Symmetrie hin (Å Tabelle 10-46, Seite 440).
Horizonts kann mit Hilfe
Folge dieser durch Masse-Energie bewirkten Ver- Theorien, die Quarks und Leptonen einer Ge- von Spin-Netzwerken
änderungen des Spin-Netzwerks. neration vereinen, werden Grand Unified The- anschaulich gedeutet wer-
den. Diese Abhängigkeit
Überzeugend an der Loop-Quantengravita- ories (GUTs) genannt. Ihre Symmetrien sind
folgt aus der Tatsache,
tion ist, dass sie von einfachen Prinzipien der wesentlich umfassender (zum Beispiel SU(5)), dass eine bestimmte An-
Quantenmechanik und der ART ausgeht und und entsprechend schwieriger ist die mathema- zahl Kanten den Horizont
keine zusätzlichen Dimensionen oder Symmetrien tische Behandlung. Da die Vereinheitlichung durchstoßen und jeder
Kante eine Fläche ent-
benötigt. Sie liefert auch zwanglose Erklärungen erst ab Energien von etwa einer Billiarde GeV spricht.
für eine Reihe kosmologischer Phänomene. So spürbar wird, ist an einen direkten Nachweis
hängt die Entropie eines schwarzen Lochs nur nicht zu denken. Da sich aber in GUTs Quarks
von der Fläche seines Ereignishorizonts ab. Die in Leptonen verwandeln können, sagen alle diese
entsprechende Beziehung ergibt sich aus einem Theorien den Zerfall des Protons voraus, wenn-
Spin-Netzwerk einfach durch Abzählung der An- gleich erst nach sehr langer Zeit. Derzeit liegt die
zahl der Verbindungslinien zwischen Knoten, die unterste experimentell abgeleitete Grenze für die
den Horizont durchschneiden. Auch die mysteri- Lebensdauer des Protons bei etwa 1031 Jahren,
öse Inflation des frühen Universums unmittelbar was zumindest mit einigen GUTs vereinbar ist.
nach dem Urknall findet eine Erklärung. Aus Natürlich kann man außerdem fragen, wa-
der Loop-Quantengravitation folgt, dass bei den rum es überhaupt Teilchen mit unterschiedli-
extrem hohen Energiedichten, wie sie beim Ur- chen Spins gibt: Fermionen mit halbzahligem
knall herrschten, die Gravitationskraft abstoßend Spin und Bosonen mit ganzzahligem. Könnte
wird. Das Spin-Netzwerk hat einfach nicht genug es sein, dass dies Ausdruck einer gebrochenen
„Platz“, um alle Energie aufzunehmen, weshalb „Super“symmetrie ist, bei der im ungebrochenen
es sich durch Produktion neuer Volumenquanten Zustand beide Teilchenarten vereint sind? Super-
ausdehnt. Der Urknall war dementsprechend symmetrische Theorien könnten eine Reihe von
nicht der Anfang allen Seins, sondern nur ein Problemen des Standardmodells und der Kosmo-
Zwischenzustand. Unser Vorgänger-Universum logie lösen. So erklären sie, warum das Higgs-
zog sich durch die Wirkung der Gravitation zu- Boson eine so geringe Masse hat (ÅAbbildung
sammen, bis die Gravitationskraft abstoßend 10-47), und liefern Kandidaten für die rätsel-
wurde. An diesem Punkt kehrte sich die Bewe- hafte Dunkle Materie im Universum. Supersym-
gung um: Der Big Bang (Urknall) war also nur metrische Theorien (SUSYs) fordern, dass für 10-45
Zeitliche Evolution. Spin-
ein Big Bounce (Urprall). Die Loop-Quantengra- jedes Fermion und jedes Boson ein supersymme- Netzwerke verändern sich
vitation erklärt auch die Existenz einer offenbar trischer Partner mit gleicher Ladung und gleicher mit der Zeit, zum Beispiel
positiven kosmologischen Konstanten, die sich Masse existiert. Beide werden durch Supersym- indem drei Knoten zu ei-
nem verschmelzen. Diese
als zunehmende Ausdehnung des Universums metrietransformationen ineinander überführt, Veränderungen erfolgen
bemerkbar macht (ÅKapitel 11). so wie die Isospintransformation Neutronen in in diskreten Schritten.

439
KAPITEL 10 Elementarteilchen

Teilchen es sich um eine Kombination vertrauter Begriffe:


elektrische Ladung
(1. Generation) Raum und Zeit. Warum sollten mehr Dimen-
1 2/
3
1/
3 0 – 1/3 – 2/3 –1 sionen sinnvoll sein? Umgekehrt wäre es naiv, zu
glauben, dass etwas nur existiert, wenn wir es als
Antileptonen e νe
sinnvoll ansehen. Es gibt durchaus gute Gründe,
Quarks u d mehr als die uns vertrauten drei Raumdimen-
Antiquarks d u sionen anzunehmen. So können sich in höher-
dimensionalen Räumen Elementarteilchen und
Leptonen νe e
Wechselwirkungen, die wir als getrennt wahrneh-
10-46 Protonen überführt. Einem Elektron entspricht men, einfach als unterschiedliche Seiten ein und
Ladungsordnungen. Die ein Selektron, einem Quark ein Squark; den W- desselben Teilchentyps entpuppen (Å Abbildun-
Größe der elektrischen
Ladung scheint bei Quarks Bosonen entsprechen die Winos und den Gluo- gen 10-48, 10-49). Die Einführung neuer Dimen-
und Leptonen einem re- nen die Gluinos. Supersymmetrische Theorien sionen der Raumzeit ist auch nicht neu. Den
gulären Schema zu folgen, ermöglichen im Prinzip auch die Einbeziehung beiden Physikern THEODOR KALUZA (1885 – 1954)
für welches das Standard-
modell keine Erklärung
des Gravitons mit seinem leptonischen Super- und OSKAR R BENJAMIN KLEIN (1894 – 1977) gelang
hat. So tragen nur Teilchen partner, dem Gravitino mit dem Spin 3/2. Im in den 1920er Jahren die Vereinheitlichung der
mit Farbladung (Quarks) sogenannten „Minimal Supersymmetrischen Gravitationskraft mit dem Elektromagnetismus
gebrochene elektrische
Ladungen und auch nur
Standardmodell“ sollten sich die Stärken der durch die Einführung einer vierten Raumdimen-
die aufgeführten Werte. starken, schwachen und elektromagnetischen sion, die zylinderförmig „eingerollt“ ist, so dass
e steht für das Elektron, e Wechselwirkungen bei etwa 1016 GeV treffen. sie nicht beobachtet werden kann. Da es nicht
für das Positron, νe ist das
Da in supersymmetrischen Theorien Partner und gelang, in diese Theorie die Quantelung einzu-
Elektron-Neutrino bzw.
sein Antiteilchen νe. u und Superpartner die gleiche Masse besitzen, hätte führen, wurde sie zunächst nicht weiter verfolgt.
d stehen für das up- bzw. man eigentlich schon lange Teilchen wie das Im großen Stil wieder aufgegriffen wurde
down-Quark mit den An- Selektron finden müssen. Offensichtlich müssen eine höherdimensionale Raumzeit im Rahmen
titeilchen u, d.
Superpartner wesentlich schwerer sein, was auf der Supersymmetrie und der supersymmetri-
eine spontane Brechung der Symmetrie hinweist. schen Superstringtheorie. Die Vereinheitlichung
Es sollte auch ein stabiles leichtestes superschwe- von Teilchen unterschiedlichen Spins (Fermi-
res Teilchen (lightest super symmetric particle, onen, Bosonen und Graviton) erfordert eine
LSP) geben, in das alle superschweren Teilchen raumzeitliche Symmetrie, die mächtiger ist als
früher oder später zerfallen. LSPs können nur die vierdimensionale Raumzeit. Eine konsistente
schwach mit elektrischen oder Farbladungen Stringtheorie ist nur mit neun Raumdimensionen
reagieren, da sie sonst nach dem Urknall eine zu haben. Eine nicht auf Strings basierende su-
Art Supermaterie gebildet hätten, die nicht un- persymmetrische Theorie, die sogenannte Super-
entdeckt geblieben wäre. Schwere, aber schwach gravitation, hat bis zu elf Dimensionen.
wechselwirkende LSPs, die sogenannten WIMPs Um zu erklären, warum wir Extradimensi-
(weakly interacting massive particles), sind onen nicht wahrnehmen, kann man annehmen,
10-47 neben den ebenfalls hypothetischen Axionen dass diese überall extrem geringe Abmessungen
Hierarchieproblem. Zwi-
schen der Energie der Kandidaten für die Bestandteile der Dunklen besitzen, zum Beispiel aufgerollt sind zu einer Ku-
schwersten Elementarteil- Materie. In Frage kommen der Superpartner gel vom Durchmesser der Planck-Länge. Zudem
chen und der Energie, bei neutraler W-Bosonen und des Higgs-Teilchens, kann man sich einen hochdimensionalen Raum
der sich elektroschwache
und starke Wechselwir-
das sogenannte Neutralino. Existieren Super- vorstellen, in dem niedrigdimensionale „Räume“
kung vereinigen sollten, teilchen tatsächlich, sollten LSPs mit dem Large eingebettet sind, etwa so, wie ein Blatt Papier
herrscht eine riesige Hadron Collider gefunden werden. Die Experi- in einem Raum schweben kann. Mathematiker
Lücke, die durch das Stan-
dardmodell nicht erklärbar
mente am LHC sind daher ein entscheidendes sprechen von Mannigfaltigkeiten. Ein Blatt Pa-
ist. Man ist sogar genötigt, Testfeld für alle supersymmetrischen Theorien pier ist eine zweidimensionale Mannigfaltigkeit,
Parameter des Modells ex- und damit auch für die Stringtheorie. eingebettet in einen dreidimensionalen Raum.
trem fein zu „tunen“, um
Man kann eine Klasse von Mannigfaltigkeiten
die beobachteten Energien
zu erhalten. Supersym- Extradimensionen, Branen und Kabeljau als reale physikalische Objekte betrachten, die
metrische Modelle führen Masse und Ladung besitzen, so dass sie sich
schwere Superpartner in Sicherlich ist für manchen die vierdimensionale gegenseitig anziehen oder abstoßen. Physiker
dieser Lücke ein, mit de-
nen sich diese Probleme Raumzeit bereits eine Herausforderung für das sprechen von „Branen“, abgeleitet von „Mem-
lösen lassen. Vorstellungsvermögen, aber wenigstens handelt branen“. Unser gesamtes Universum könnte auf
Erde, Wasser, Luft und Feuer

einer einzigen dreidimensionalen Bran (einer so- 10-48


genannten D3-Bran) haften. „Haften“ ist hier Symmetrien in höheren Dimensionen. In einer zweidi-
mensionalen Welt (Mitte) erscheinen die verschiedenfar-
wörtlich gemeint: Elementarteilchen, Atome,
bigen Seiten eines Würfels als unabhängige Objekte, die
Moleküle und so weiter könnten die Bran nicht sich ineinander „umwandeln“ können. In der dreidimen-
verlassen, wenn sie aus Strings bestehen, die an sionalen Welt handelt es sich nur um unterschiedliche
der Bran haften. Das Graviton könnte sich hin- „Seiten“ des gleichen Objekts (unten), und die Umwand-
lung entpuppt sich als einfache Drehung. Analog können
gegen im gesamten Raum bewegen, da es sich in einer höherdimensionalen Welt Teilchen, die wir als
um einen geschlossenen String handeln soll. Die unterschiedlich wahrnehmen, einfach nur verschiedene
Beschränktheit aller Teilchen und aller Kräfte auf „Seiten“ des gleichen Teilchentyps sein. Und so wie eine
dreidimensionale Welt unendlich viele Flächen enthält,
unsere Bran erklärt, warum wir weder andere kann ein vieldimensionales Universum viele vierdimensio-
Branen noch den gesamten Raum wahrnehmen. nale Welten enthalten. Auf jeder können unterschiedliche
Lediglich das Graviton wäre überall anzutref- „Seiten“ des gleichen Teilchentyps wirksam sein, was
erklären könnte, warum wir bestimmte Superteilchen in
fen, weshalb die Gravitationskraft so merkwür- unserer Welt nicht wahrnehmen. Physiker sprechen von
dig schwach ist. Es gäbe allerdings indirekte Sequestration (Absonderung, oben).
Möglichkeiten, die Existenz anderer Branen zu 10-49
spüren. So könnten dunkle Materie und die be- Kräfte in höheren Dimensionen. Eine an einer Feder
schleunigte Expansion des Universums Wirkun- schwingende Kugel (oben) erscheint schwerer (unten)
und ihre Auslenkung erfordert mehr Kraft, wenn sie an
gen einer anderen Bran sein. Der Grund, warum weiteren Federn in höheren Raumdimensionen befestigt
unsere Bran gerade drei Dimensionen und nicht ist. Deren Federkonstanten wirken in der dreidimensio-
fünf oder sieben hat, mag daran liegen, dass in nalen Welt wie eine erhöhte Kugelmasse. Auf ähnliche
Weise könnten zusätzliche Raumdimensionen der Grund
einem neundimensionalen Raum höherdimensi-
dafür sein, dass an sich gleich schwere Teilchen in unserer
onale Branen eine höhere Kollisionswahrschein- dreidimensionalen Welt unterschiedlich schwer erschei-
lichkeit besitzen. Da es wie bei Elementarteilchen nen. Umgekehrt wäre die geringe Stärke der Gravitation
Branen und Antibranen gibt, würden zwei sol- plausibel, wenn sie in einem vieldimensionalen Raum in
alle Richtungen wirkt, wogegen die anderen Kräfte nur in
cher Branen einander bei einer Kollision zerstö- drei Raumdimensionen wirken.
ren. Physiker vermuten, dass der „verbleibende“
sechsdimensionale Raum der Extradimensionen die eben erwähnten Extradimensionen und Bra-
eine besondere Struktur besitzt, die mit den be- nen umfasst. Und genau genommen gibt es nicht
kannten Symmetrien verträglich ist. Man nennt eine Stringtheorie, sondern eine ganze Gruppe
diese Struktur eine Calabi-Yau-Mannigfaltigkeit, mit der unglaublichen Zahl von etwa 10 500
nach den beiden Mathematikern EUGENIO CALABI Ausprägungen, die jeweils ein Universum mit
(*1923) und SHING-TUNG YAU (*1949). Sie sollte anderen Eigenschaften beschreiben. Das Grund-
nicht verwechselt werden mit dem Fisch ähnli- element jeder Stringtheorie ist ein höchst einfa-
chen Namens, dem Kabeljau... ches Gebilde: ein unendlich dünner (also eindi-
Vielleicht schütteln Sie gerade den Kopf und mensionaler) Faden mit einer bestimmten Länge
fragen sich, was Physiker dazu bewegen mag, und einer allen Strings gleichen „Spannung“, die
über Branen und Mannigfaltigkeiten zu speku- man wie die Spannung einer Saite interpretie-
lieren, scheinbar ohne Chance, ihre Ideen durch ren kann. Strings können geschlossene Schleifen
Experimente erhärten zu können? Sie werden es bilden oder offen sein, ihre Längen liegen in 10-50
vielleicht besser verstehen, wenn wir über eine der Größenordnung der Planck-Länge. Strings Strings – offen und ge-
schlossen. Offene Strings
Theorie„landschaft“ sprechen, die zwar keines- können miteinander wechselwirken, wobei der
haben eine beliebige
wegs unumstritten ist, von der aber inzwischen Grad der Wechselwirkung durch eine Koppel- Länge, einen Durchmesser
viele Physiker glauben, dass sie die tiefen Zusam- konstante bestimmt ist, deren genauen Wert wir von null und können frei
schwingen. Wenn sie sich
menhänge zwischen Grundkräften und Teilchen leider noch nicht kennen. Jedem Elementarteil-
durch die Zeit bewegen,
der Natur entschlüsseln hilft: die Stringtheorie. chen entspricht ein Schwingungszustand eines bilden sie eine zweidimen-
Strings. Je stärker die Schwingung ist, desto grö- sionale Raumzeitfläche.
ßer ist die Energie, sprich Masse eines Teilchens. Geschlossene Strings ha-
Verwirrende Vielfalt – ben beliebige Formen, und
Stringtheorie und M-Theorie Aber auch die Struktur des extradimensionalen bei der Bewegung durch
Raumes bestimmt das Verhalten der Strings und die Raumzeit bilden sie
Spricht man heute von der Stringtheorie, so ist ei- damit das der Teilchen. So hängt die Anzahl der geschlossene Röhren. Ge-
schlossene Strings können
gentlich die Superstringtheorie gemeint, die nicht Teilchenfamilien von der Anzahl der „Löcher“ miteinander zu einer gro-
nur Strings, sondern auch Supersymmetrie und des Calabi-Yau-Raumes ab, der unser Univer- ßen Röhre verschmelzen.

441
KAPITEL 10 Elementarteilchen

sum beschreibt. Die Größe der Ladungen der auch die Supergravitation lediglich niederenerge-
Elementarteilchen ist abhängig von der Art, wie tische Näherungen. Derzeit weiß noch niemand,
sich Strings um diese Löcher „winden“ können. wie eine solche Theorie im Detail aussehen kann,
Unglücklicherweise gibt es mehr als eine Mög- denn viele dafür nötigen mathematischen Struk-
lichkeit, die Vielfalt der Elementarteilchen durch turen sind Neuland. So faszinierend die durch
offene oder geschlossene Strings zu beschreiben, eine M-Theorie aufgezeigten Zusammenhänge
ganz zu schweigen von der riesigen Anzahl von aber auch sein mögen, letzten Endes werden erst
Konfigurationsmöglichkeiten der Geometrie der Experimente zeigen, ob mehr dahinter steckt
Extradimensionen. Im Laufe der Zeit kristalli- als reine Mathematik. Aber gerade die experi-
sierten sich fünf verschiedene Superstringtheorien mentelle Bestätigung ist das größte Problem der
heraus, die alle bestimmte Aspekte unseres Uni- Stringtheorie wie auch der Loop-Quantengravi-
versums beschreiben und meist auch mehrdimen- tation. Zwar würde der Nachweis des Zerfalls
sionale Branen enthalten. Leider ist es unmöglich, von Protonen und der Existenz superschwerer
die „richtige“ Theorie anhand von Experimenten Teilchen indirekt die Stringtheorien zumindest
oder Beobachtungen auszuwählen. Weder waren nicht ausschließen, aber direkte Bestätigungen
bisher entsprechende Beobachtungen zugänglich, sind rar. Ihren größten Erfolg feierte die String-
noch beherrscht man den komplizierten mathe- theorie mit der korrekten Berechnung der En-
10-51 matischen Apparat dieser Theorien ausreichend, tropie schwarzer Löcher. Die in der Literatur
Strings und Branen. Of- um den Ausgang von Experimenten vorherzusa- aufgeführten „Erklärungen“ der Expansion des
fene Strings haften an gen. Verblüffenderweise stellte sich aber heraus, Universums oder der kosmischen Inflation mit-
Branen, hier dargestellt
als zweidimensionale
dass diese Theorien in wesentlichen Punkten tels Branen, Extradimensionen und Strings sind
Oberfläche (2D-Bran). Sie paarweise physikalisch äquivalent zueinander aber nicht mehr als Spekulationen, da sie keine
können sich allerdings auf sind! Man spricht von der Stringdualität dieser nachprüfbaren Fakten liefern. In diesen Fällen
der Bran frei bewegen.
Geschlossene Strings kön-
Theorien. Beschreibt eine Theorie ein Univer- wird im Allgemeinen eine „passende“ Konfigu-
nen sich frei in und um die sum mit einer Stringkoppelkonstanten kleiner ration von Branen und Extradimensionen kon-
Branen bewegen. als eins, so gibt es eine dazu duale Theorie, die struiert. Diese Vorgehensweise entspricht nicht
eine Welt mit starker Stringkopplung beschreibt. gerade der in den Wissenschaften üblichen. In
Gleiches gilt für den Radius eingerollter Dimensi- einer „guten“ Theorie sollte eine möglichst ge-

?
onen. Eine Theorie beschreibt eine Welt mit dem ringe Zahl an „Parametereinstellungen“ notwen-
„Kompaktifizierungsradius“ R, die dazu duale dig sein, um sie an Beobachtungen anzupassen.
Theorie beschreibt eine Welt mit dem dazu rezi- Andererseits muss die aktuelle Struktur der
Wird am Ende doch noch alles proken Radius 1/R. Die Dualität ist sehr hilfreich Welt sich nicht „zwingend“ aus fundamentalen
GUT? In neuester Zeit hat die
dabei, physikalische Probleme zu lösen, die in Naturgesetzen ergeben. Schließlich könnte es
langee Suche nach einer The Theorie
derr Quantengravitation wiede
wieder einer Theorie unlösbar erscheinen. Man kann ein unendlich viele Welten geben, in denen völlig
eine erstaunliche Wendung ge- Problem in das äquivalente Problem der dualen unterschiedliche Naturgesetze gelten. Sie könn-
men. Mit der Entwicklung
nommen. Theorie transformieren, wodurch es manchmal ten sogar gleichzeitig als Paralleluniversen auf
der Unitaritätsmethode de durch ZWI
BERN, LANCE J. DIXON und DAVID A A. lösbar wird. anderen Branen neben unserer existieren. Die
KOSOVER konnten Unendlichkeit
Unendlichkeiten Tatsache, dass unsere Welt so wohl präpariert
rfahren, die au
in Rechnungsverfahren, auf erscheint für Atome, Sterne, Planeten und Men-
agrammen bas
Feynmann-Diagrammen basieren, Reality Check
nfacht werde
enorm vereinfacht werden. Es schen, mag reiner Zufall sein. Die Frage, warum
mit möglich zzu sein, die
scheint somit So praktisch die Dualitäten der Stringtheorien unsere Welt so geeignet ist für Lebensformen,
Theorie derer Supergra
Supergravitation wie- auch sein mögen, was bedeuten sie physika- könnte man deshalb auch mit „Darum!“ be-
eben, die in den 1980er
der zu beleben,
Jahren aufgegeben
fgegeben worden war.
lisch? Existieren Strings wirklich, und wenn antworten: Würde unsere Welt völlig anders
Es stellte sich nämlich heraus,
ch nämli ja, welche? Handelt es sich nur um mathema- aussehen, gäbe es eben niemand, der solche
dass Gravitonen als Paare von tische Strukturen, die aus noch unbekannten Fragen stellen kann! Man nennt diese Art der
chreib
Gluonen beschreibbar sind. Noch
rüh, zu sage
ist es zu früh, sagen, welche
Gründen auf bestimmte Teile der physikalischen Argumentation das anthropische Prinzip. Viel-
ysik sich darau
neue Physik daraus ergeben Welt „passen“? Diese Fragen lassen sich derzeit leicht ist es tatsächlich die richtige Antwort auf
könnte. Auf jeden Fall bleibt die nicht beantworten. Allerdings scheinen die Zu- die Frage nach der „Theorie für alles“. Uns
Suche nach Grundkräften des
ch den Grun
sammenhänge noch tiefer zu gehen, als bisher scheint es allerdings noch viel zu früh und unser
Universums ein sehr spannender
Krimi und vielleicht das größte gedacht. So mag es eine sogenannte M-Theorie Wissen ist noch viel zu lückenhaft, um sich auf
Abenteuer der Menschheit. geben, deren Basis eine elfdimensionale Raum- diese Position zurückzuziehen – mathematische
zeit ist. In ihr sind alle Superstringtheorien und Eleganz hin oder her. —

442
KAPITEL 11

Kosmologie
Welt des Großen und des ganz Großen
Materie im Universum
Sterne und Sternentwicklung
Deep Space
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
Zum elften Kapitel

Im Mittelteil dieses Buches haben wir uns hauptsächlich deren Ausmaße gigantisch anmuten, an Geräten, deren Größe
um solche Erscheinungen der Materie gekümmert, die uns man manchmal in Dutzenden von Kilometern misst. Welche
mehr oder weniger direkt gegenübertreten. Um Dinge also, Erkenntnisse bekommen wir für die Milliardeninvestitionen
die wir körperlich berühren können oder die sich zumindest in solche Wissenschaftsmaschinen?
im Experiment manipulieren lassen. Doch wie schon die in Die kosmologische Forschung wird gegenwärtig von Be-
Kapitel 3 angesprochenen Schöpfungsmythen zeigten, gaben griffen wie Urknall, Inflation, Cosmic Web, Dunkle Materie,
sich die Menschen zu allen Zeiten nicht damit zufrieden. Sie Schwarzes Loch, Quasar und Dunkle Energie geprägt. Allen
haben nie aufgehört, die Wahrheiten hinter den räumlichen diesen zum Verständnis des Kosmos wichtigen Aspekten
und zeitlichen Horizonten zu suchen, über das Hier und Jetzt werden wir in diesem Kapitel nach und nach begegnen.
hinaus zu denken. Wie ist die Materie in der Welt verteilt? Als Ausgangspunkt für die Reise zu den wirklich großen
Besteht der ganze Kosmos bis in den letzten Winkel aus den kosmischen Objekten soll uns aber unser Vorhof dienen, die
gleichen Stoffen, die wir von der Erde kennen? Wie lange gibt „direkte“ Nachbarschaft unserer Erde, die wir heute und
es sie schon? Wie ist die Erde einst entstanden? Endet unsere jetzt sehen und mit unseren Instrumenten erfassen können.
materielle Welt irgendwo? Und wie wird letztlich die fernste In einem Parforceritt werden wir dann die meisten Struk-
Zukunft aller materiellen Existenz aussehen? Oder, einfach turen kennenlernen, welche die Materie unseres Universums
ausgedrückt, in materialistischer Form die alten zentralen Fra- bildet. Wir begegnen dabei exotischen Materieformen, die
gen: Woher kommen wir – was sind wir – wohin gehen wir? so nicht auf der Erde vorkommen. Aber wir werden auch
Die Kosmologie, die Lehre vom Kosmos, galt noch vor sehen, dass das ganze Universum prinzipiell aus denselben
etwa hundert Jahren, auch lange nach dem Zeitalter der Grundbestandteilen besteht. Dabei wird sich zeigen, dass
Aufklärung, als rein spekulative Wissenschaft, als Teilgebiet unsere eigene Existenz eng mit den Vorgängen verknüpft ist,
der Philosophie. Die Chancen, über diesen Aspekt jemals die sich „dort draußen“ abspielen. In gewisser Weise stammen
konkrete und überprüfbare Aussagen machen zu können, wir sogar selbst von den Sternen ab, und der Urknall fand
schienen eher gering, und noch geringer die Möglichkeiten, genau hier auf unserer Fingerspitze statt.
hier experimentell weiter zu kommen. Diese Situation hat Das immens gewachsene Wissen über das Universum hat
sich seither in vieler Hinsicht grundlegend geändert. Wir in der modernen Kosmologie nicht nur zur Ausgestaltung und
haben begonnen, das Werden des Universums ein gutes Präzisierung vorhandener und in gewissem Sinne gesicher-
Stück weit zu verstehen. Der faustische Forschergeist kann ter Modelle geführt. In einer Sturm-und-Drang-Zeit dieser
Glaube und Metaphysik mittlerweile durch zuverlässig lebendigen Wissenschaft beobachtet man gegenwärtig die
messbare Fakten ersetzen. Entstehung teils abenteuerlicher Hypothesen, die momentan
An dieser Stelle sollen einige der soeben angerissenen experimentell weder bewiesen und noch widerlegt werden
Urfragen im Licht der aktuellsten Erkenntnisse und The- können. Obwohl sich mancher Theoretiker damit auf dünnes
orien angegangen werden. Wir wollen in die Geschichten Eis begibt, können derlei Gedankenspiele sich sehr wohl als
hineinhören und die Bilder sehen, welche die inzwischen fruchtbar erweisen. Im letzten Teil dieses Kapitels wollen wir
zahlreichen Unterdisziplinen der Astronomie aus den Strah- daher kurz auf einige dieser avantgardistischen Hypothesen
lungen herauslesen, die uns aus dem Universum erreichen. eingehen.
Was sagt uns die Astronomie mit ihren immer feiner ausge-
klügelten Teleskopsystemen über das Sein und Werden der
Materie? Was kann man modellieren? Und was zeigen uns
die aufwändigen Computersimulationen, die die Entwick-
lung des Kosmos beschreiben sollen? Wir wollen uns auch
damit beschäftigen, wie Messungen der Elementarteilchen-
physiker, also Beobachtungen des Allerkleinsten, zu unserem
Verständnis der Welt im Großen beitragen. Messungen, die
sie an Teilchenbeschleunigern und Detektoren durchführen,
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Kosmologie

Welt des Großen und des ganz nur deshalb so wichtig, weil sie uns Aufschluss
Großen über die Verteilung der Materie im Universum
gibt, sondern auch, weil sie uns die vom irdischen
Sag mir, was die Sternlein sind... Labor bestens bekannten Bausteine der Welt unter
Extrembedingungen zeigen kann.
Kosmos heißt auf griechisch Ordnung. Gemeint Auch wenn das Licht, eine elektromagnetische
ist die Ordnung der Welt im Ganzen. Irgendwie Strahlung, die im Wortsinne „offensichtlichsten“
passt dieser Begriff zu uns Menschen wie ein Antworten auf das Wo und Wie der Materie gibt,
zu großes Hemd. Das Universum als Ganzes so sind zum Verständnis der Strukturen und Pro-
begreifen zu wollen, ist doch wohl Hybris und zesse im Universum zusätzlich Erkenntnisse über
Blasphemie! Aber sollten wir uns mit weniger zu- die Grundkräfte unentbehrlich. Da wäre zunächst
frieden geben? Staunen, unser Leben genießen – die Gravitationskraft. Sie gilt, was ihre Intensität
und wieder so ahnungslos von dieser Welt ver- zwischen Elementarteilchen anbelangt, als extrem
schwinden, wie wir gekommen sind? Ist es nicht schwache Kraft. Wenn wir die äußerst schwache
sogar ein wesentlicher Teil des Menschseins, dass Anziehung messen wollen, die zwei Massen von

© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA


wir tiefschürfende Fragen nach der Welt und einigen Kilogramm aufeinander ausüben, müssen
unserer Herkunft stellen und versuchen, ihnen wir schon einen gewissen Aufwand treiben, um
nachzugehen? Unser Bewusstsein hat, zumindest den Effekt überhaupt nachweisen zu können. (Und
in vielen Gesellschaften, eine regelrechte Sehn- das, obwohl ein Kilogramm Materie größenord-
sucht danach entwickelt, sein eigenes Werden nungsmäßig 1025 Kernteilchen enthält!) Vielleicht
und das seiner materiellen Basis mehr und mehr erinnert sich der eine oder andere Leser an die
Gravitationswaagen, die in fast jedem Physikraum 11-1
zu verstehen.
Urknall. Das augenblick-
Wenn wir uns heute etwa Fragen nach der an der Wand hängen. Dass uns die Schwerkraft lich beste Modell geht
räumlichen Verteilung von Materie im Univer- so gegenwärtig ist, liegt daran, dass sie stets an- davon aus, dass sich das
sum und nach deren zeitlicher Entwicklung wid- ziehend wirkt: Denn alle winzigen Anziehungs- Universum unbegrenzt
ausdehnt. Die Expansions-
men, können wir uns, anders als die Astronomen komponenten zwischen den Elementarteilchen der rate erreichte kurz nach
vergangener Zeiten, auf eine beträchtliche Menge Erde und z.B. denen des berühmten Newtonschen dem Urknall in der so-
gut belegter Beobachtungsdaten stützen. Wie Apfels addieren sich gleichsinnig auf, und veran- genannten Inflation ein
steiles Maximum. Bis
kam dieser grundlegende Wandel zustande? Im lassen ihn zum Fallen. Im kosmischen Maßstab ungefähr zur Entstehung
Folgenden soll er kurz zusammengefasst und die bewirken die riesigen beteiligten Massen, dass die unseres Sonnensystems
wichtigsten Technologien angesprochen werden, Gravitation die Planeten auf ihre Bahnen zwingt wurde die Expansion ge-
bremst, nimmt aber seit
denen wir unsere heutigen Vorstellungen von der und ganze Sternsysteme zusammenhält. einigen Milliarden Jahren
Welt im ganz Großen verdanken. Dadurch unterscheidet sie sich grundsätz- wieder Fahrt auf.
lich von der elektromagnetischen Kraft. De-
Beobachten, Experimentieren, Berechnen ren eigentlich sehr viel stärkeren Wirkungen
können sich global kaum auswirken, da sich
Die Beobachtung des Himmels ist heute wie positive und negative Ladungen in den meisten
vor Jahrtausenden unsere Hauptquelle von In- Formen von Materie nahezu perfekt die Waage
formationen über den Kosmos. Licht- und Teil- halten.
chenstrahlungen, die uns von den Himmelskör- Zu der Viererbande der Kräfte gehören noch
pern her erreichen, bilden die Basis für unsere zwei weitere Kandidaten: die schwache Kraft
Kenntnisse über die Verteilung der Materie in und die starke Kraft. Mit diesen stehen wir
der Welt. Für die Wissenschaften von der Ma- nicht in gleichem Maße auf vertrautem Fuße
terie ist die Beobachtung des Weltraums nicht wie mit Elektromagnetismus und Gravitation.

445
KAPITEL 11 Kosmologie

Die schwache Kraft macht sich nur durch Auch GALILEI vermutete eine endliche Geschwin-
eine bestimmte Art von Radioaktivität (dem digkeit des Lichts. Seine einfachen Versuche, diese
β-Zerfall) bemerkbar, der wir im täglichen Leben über eine nur drei Kilometer lange Strecke zu
kaum begegnen. Von der „Starken Kraft“ hängt ermitteln, waren allerdings angesichts der da-
die Stabilität der Teilchen im Atomkern ab. Von maligen Messgenauigkeit von vorneherein zum
ihr bekommen wir absurderweise gerade deshalb Scheitern verurteilt. Dem dänischen Astronomen
so wenig mit, weil sie viel stärker als die elektro- OLE CHRISTENSEN RØMER R (1644 – 1710) fiel die

11-2 magnetische Kraft ist. Fast perfekt schafft sie es, endliche Geschwindigkeit erstmals anhand der
Ibn al Haitham (Alhazen). die Kernteilchen zusammenzuhalten, sodass sich Verfinsterungen der Jupitermonde durch ihren
Dieser arabische Wis- deren Bestandteile, die Quarks, kaum auffällig Planeten auf. Sie traten gegenüber den damals von
senschaftler lieferte eine
korrekte Vorstellung vom nach außen zeigen. GIOVAV NNI DOMENICO CASSINI (1625 –1712) genau
Licht, das sich mit endli- vorausberechneten Zeitpunkten stets etwas später
cher Geschwindigkeit von ein, wenn sich die Erde in größerer Entfernung be-
den gesehenen Körpern Blick in die Vergangenheit
zum Auge hin ausbreitet. fand. CHRISTIAAN HUYGENS (1629 – 1695) berech-
Bei der Interpretation astronomischer Bilder aus nete aus dieser Zeitverschiebung einen (allerdings
den Tiefen des Alls ist zunächst etwas Grundlegen- noch um etwa 30 Prozent zu niedrigen) Wert von
Licht des zu beachten, das in unserer täglichen Sehweise c. Der heutige Wert der Lichtgeschwindigkeit c
ist elektromagnetische
Strahlung. Ihre Quanten auf der Erde keine Entsprechung findet: Es ist eine beträgt exakt 299 792,458 m/s. Dieser Wert wurde
werden Photonen ge- Zeitmaschine. Wir sind in der Astronomie mit der 1983 im SI-System der Maßeinheiten unter Neu-
nannt. Endlichkeit der Lichtgeschwindigkeit konfron- definition des Meters zum Standard erklärt und
Im engeren Sinn: tiert. Physiker bezeichnen die Lichtgeschwindig- festgeschrieben. Er beruht auf den zu diesem Zeit-
sichtbares Licht (Wellen- keit mit dem Formelbuchstaben c. punkt vorliegenden genauesten Messungen.
länge ca. 400 – 800 nm) Ihr Wert ist bezogen auf Bewegungen des Eine direkte Folge der endlichen Lichtge-
Im weiteren Sinn: menschlichen Alltags und für unsere vergleichs- schwindigkeit ist natürlich, dass wir beim Blick
Strahlung des gesamten weise langsam reagierenden Sinne extrem hoch, zu ferneren Objekten im Kosmos unfreiwillig auch
elektromagnetischen aber eben doch nicht unendlich. Während in der weiter in die Vergangenheit hinein blicken. Seit
Spektrums
griechischen Antike, etwa bei EMPEDOKLES (ÅDie EINSTEINs Erkenntnissen über die Relativität ist
Gegensatz vier Elemente – Empedokles, Seite 33), schon ein allgemein anerkanntes Grundprinzip, dass c
Teilchenstrahlung besteht die Vorstellung eines nicht unendlich schnellen die höchste Geschwindigkeit ist, mit der sich Teil-
aus Teilchen mit einer von
null verschiedenen Ruhe-
Sehvorgangs auftauchte, wurde damals fälschli- chen und Wellen und damit Informationen in der
masse. cherweise ein vom Auge ausgehender Sehstrahl Welt ausbreiten können, quasi also eine universelle
angenommen. Hundert Jahre später ging ARISTO- Geschwindigkeitsbeschränkung, wirksamer, als sie
TELES wohl von Licht aus, das von den Körpern sich jede Stadtverwaltung wünschen kann. Aber
Die vier physikalischen zum Auge gelangt, jedoch nahm er wiederum eine es kommt noch schlimmer. Durch EINSTEINs be-
Grundkräfte der Welt unendliche Geschwindigkeit an – ein Irrtum, der rühmte Beziehung zwischen Energie und Materie
s%LEKTROMAGNETISMUS
im westlichen Kulturkreis lange tradiert wurde. Zu (E= mc2) wissen wir, dass die Masse eines im Ver-r
s'RAVITATION einem Modell des Lichts, das mit unserer heutigen hältnis zu uns schnell bewegten Teilchens höher
s3CHWACHE+RAFT Vorstellung vergleichbar war, kam der aus der sein muss als seine Ruhemasse. Beschleunigen
s3TARKE+RAFT
Stadt Basra im heutigen Irak stammende Wissen- wir nämlich ein solches Teilchen, so stecken wir
schaftler IBN AL-HAITHAM (965 – 1039). Er wurde ja sozusagen Masse in Form von Energie hinein.
im Westen eher unter seinem latinisierten Namen Das ist fatal. Denn nun müssen wir noch mehr
ALHAZEN N bekannt und gilt als „Vater der Optik“, Energie aufbringen, um es noch ein klein wenig
manchmal sogar als erster echter Wissenschaftler mehr zu beschleunigen. Schließlich würde alle
überhaupt. Auch durch direkte Untersuchungen Energie des Universums nicht mehr ausreichen, um
11-3 an Augen gelangte er zur Vorstellung von Licht, selbst das kleinste ruhemassenbehaftete Elementar-r
Gravitationsgesetz. Die das sich von den gesehenen Objekten ausgehend teilchen auf exakt Lichtgeschwindigkeit oder gar
Kraft F hängt über die
sehr kleine Gravitations-
zum Auge hin fortpflanzt – und zwar mit endli- darüber hinaus zu beschleunigen. In unserem Bild
konstante G mit den be- cher, wenn auch sehr hoher Geschwindigkeit. der Geschwindigkeitsbeschränkung hat also ein
teiligten Massen (m1,m2) 11-4
und dem Quadrat der Ent- Blick in die Vergangenheit. Sie sehen diese Buchstaben, wie sie vor ungefähr einer Nanosekunde ausgesehen haben.
fernung r zusammen. Um die Distanz von ca. 30 cm vom Blatt zu Ihrem Auge oder entlang der am unteren Seitenrand abgebildeten Strecke
von A nach B zurückzulegen, benötigt das Licht ca. 1 Nanosekunde (eine Milliardstel Sekunde). In etwas mehr als einer
Sekunde erreicht ein Lichtstrahl von der Erde aus den Mond.

A
Erde, Wasser, Luft und Feuer

universeller Verkehrsminister unter der Straße Ma- 11-5


Messung der Lichtge-
gnetspulen angebracht und bremst immer stärker, schwindigkeit. Verfinste-
je mehr wir Gas geben. Es ist nach heutigem Stand rungen der Jupitermonde
der Physik nicht zu erwarten, dass wir jemals werden später beobach-
tet, je weiter entfernt
wissen werden, wie es um ein entferntes Objekt,
 sich die Erde vom Jupiter
etwa den berühmten Andromedanebel, „gerade befindet. Mit heutigen
jetzt“ steht. Im Rahmen der einsteinschen Raum- chen zu können, dringen wir automatisch auch tie- Atomuhren lässt sich die
Lichtgeschwindigkeit ohne
zeit gibt es dieses „gerade jetzt“ an anderem Ort fer in die Vergangenheit vor, bis zum Uranfang der
weiteres direkt im Labor-
nicht einmal. Nun ja, sage nie „nie“. Wir wollen Zeiten. Möglicherweise ist die Metapher „Uran- maßstab messen.
die Möglichkeit nicht ganz ausschließen, dass sich fang der Zeiten“ sogar wörtlicher zu nehmen, als
eines Tages doch eine neue Physik auftut, die uns man glauben mag. Tatsächlich gehen die meisten
hier mehr Hoffnungen machen könnte. (Å„Neut- Kosmologen und Astrophysiker davon aus, dass
rinos auf Abwegen?“, Randspalte Seite 452). es einen Urknall gab, an dem nicht nur die Materie
Vom Andromedanebel wissen wir, dass er, wie ihren Anfang nahm, sondern mit dem auch die
bereits der einflussreiche britische Astrophysiker Raumzeit selbst entstand. Wenn sie recht haben,
Sir ARTHUR STA T NLEY EDDINGTON im Jahr 1914 wäre es vielleicht so sinnlos, von einer Zeit „vor
vermutete, eigentlich gar kein Nebel, sondern eine dem Urknall“ zu sprechen wie von einer negativen
Galaxie ist: eine Ansammlung von wohl mehre- Temperatur unter dem absoluten Nullpunkt oder
ren hundert Milliarden Sternen, von Gasen, Plas- von einer negativen Wahrscheinlichkeit. Ob dies
men und Staub, alles sehr viel weiter entfernt als wirklich so ist, wissen wir bis heute nicht.
die Sterne, die wir einzeln mit bloßem Auge am
Nachthimmel sehen können. Sie ist etwa 2,5 Mil- Was das Licht uns erzählt
lionen Lichtjahre von der Erde entfernt. Das uns
erreichende Licht aus Andromeda war somit seit Jahrtausende lang waren die Menschen bei der 11-6
Lichtkegel. Jedes Ereignis
ungefähr 2,5 Millionen Jahren zu uns unterwegs. Betrachtung der Gestirne auf ihre scharfen Augen in der Welt wird durch vier
Dieses Licht zeigt uns natürlich den Zustand, als angewiesen. Die Astronomie beschränkte sich bis Zahlen eindeutig beschrie-
es ausgesendet wurde, also zu einer Zeit, da unsere ins sechzehnte Jahrhundert auf möglichst genaue ben: drei Raumkoordinaten
x, y und z sowie eine Zeit-
allerfrühestenVorfahren noch durch die afrikani- Vermessungen der Positionen von Gestirnen. koordinate t. Explodiert z. B.
sche Steppe wanderten und wahrscheinlich dem Die erste große Revolution brachte das durch ein Stern, so bewegt sich
winzigen Nebelfleckchen am Firmament wenig GALILEO GALILEI in die Astronomie eingeführte das Licht mit seiner charak-
teristischen Geschwindigkeit
Beachtung schenkten. Je weiter wir hinaus schauen Linsenfernrohrr (Refraktor). Doch Linsen sind c nach allen Richtungen
ins Universum, desto weiter blicken wir auch zu- teuer und schwer herzustellen. Nur sphärische fort. Dies lässt sich in einem
rück in eine kosmische Ahnengalerie. Dabei gilt Linsen lassen sich einigermaßen kostengünstig Diagramm aufzeichnen,
wenn man eine oder zwei
Andromeda noch als direkter Nachbar unserer schleifen, sie verschlechtern das Bild aber durch
der Raumdimensionen
eigenen Galaxis, der Milchstraße. Wirklich inte- die sogenannte sphärische Aberration. einfach weglässt. Bei ge-
ressant für Kosmologen sind Entfernungen, bei Zusätzlich machen die Farben es den Opti- eigneter Wahl der Koordi-
denen das Licht zehn Milliarden Jahre und mehr kern schwer. Die Lichtbrechung in Glas ist näm- naten kann man den Weg
eines von einem Ereignis
unterwegs war. Die Geschwindigkeitsgrenze c gilt lich ein wenig abhängig von der Wellenlänge; ausgehenden Lichtstrahls
übrigens nicht nur für sichtbares Licht, sondern die Brennpunkte für verschiedene Farben liegen (oder Funksignals) mit einer
ebenso für alle Arten elektromagnetischer Strah- nicht exakt an der gleichen Stelle. Farbsäume um Steigung von 45° eintragen.
Der nach oben offene Licht-
lung, die uns Informationen von entfernten und alle abgebildeten Objekte sind die Folge. Durch kegel stellt die „Zukunft“
früheren175 Regionen des Weltraums übermitteln komplizierte Linsensysteme (Achromaten) muss dar, also alle Stellen im
könnten, von Radiostrahlung bis hin zu Gamma- dem abgeholfen werden. Universum, die von dem
Ereignis zu einer gege-
strahlen-Blitzen. Deshalb bedeutete es eine zweite Revolution, benen Zeit betroffen sein
So „eingesperrt“ man sich angesichts dieser Li- als ab Mitte des siebzehnten Jahrhunderts erste können. Der nach unten
mitierungen vorkommen mag, hat die Sache aber Spiegelteleskope aufkamen. Man konnte bald viel offene „Vergangenheits“-
Lichtkegel beinhaltet alle Er-
auch ihr Gutes, erlaubt sie uns doch, die ganze größere Teleskopdurchmesser zu vertretbaren Kos- eignisse, die das zukünftige
Geschichte der Welt bis zurück zu ihren ersten ten realisieren. Größere, geschliffene Teleskop- Ereignis beeinflusst haben
Anfängen wie in einer akribisch aufgezeichneten spiegel ermöglichen es, schwächere und damit könnten. Alle materiellen
Objekte bewegen sich mit
Chronik zu überblicken. Indem wir immer leis- weiter entfernte Objekte zu beobachten (das von Geschwindigkeiten v < c,
tungsfähigere Teleskope bauen, um noch weiter Objekten ausgehende Licht wird mit dem Qua- d. h. auf einer Bahn inner-
entfernte, noch lichtschwächere Objekte untersu- drat der Entfernung schwächer). Die Auflösung halb des Kegels.

AB = 1 Nanolichtsekunde B Lichtgeschwindigkeit
im Vakuum

c = 299 792 458 m/s


c = 299 792 km/s
c = 30 cm/ns
KAPITEL 11 Kosmologie

durch diese Turbulenzen zunichte gemacht. Weit


gefehlt: Durch einige raffinierte technische Kon-
zepte sind heute Beobachtungen im sichtbaren
Licht auch von der Erde aus mit einer früher
für absolut unmöglich erachteten Lichtempfind-
11-7 beschreibt die kleinste Winkeldistanz, in der lichkeit und Schärfe möglich. Einige der hier-
Linsen- und Spiegeltele- man zwei Punkte gerade noch getrennt erfassen für notwendigen Schlüsseltechnologien werden
skop. Fast alle größeren
optischen Fernrohre ar- kann. Aus der Wellenoptik folgt, dass die Auf- nachfolgend angesprochen.
beiten heute mit Spiegeln lösung eines Teleskops mit seinem Öffnungs-
(rechts) Linsenfernrohre durchmesser zunimmt. Normale Teleskope auf
(links) wären zu schwer Adaptive Optik
und zu teuer. der Erde erreichen aber wegen der Unruhe in
der oberen Erdatmosphäre bei weitem nicht Die erste ist die adaptive Optik: Dabei wird das
Beugung diese durch die Theorie vorgegebene Auflö- Licht von einem echten oder über einen Laser
Beugung entsteht durch sungsgrenze. künstlich erzeugten „Leitstern“ von einem Hilfs-
den Wellencharakter der Instrumente auf der Erde leiden noch an ei- teleskop aufgefangen und von einem Computer
Photonen. Sie begrenzt
das Auflösungsvermögen ner anderen Problematik: Die Atmosphäre ist ausgewertet. Das Licht des Hauptteleskops wird
von Optiken. Größere Ob- für viele Strahlungsbereiche fast undurchlässig. nach dem Hauptspiegel noch über einen zweiten
jektivöffnungen reduzie- Der Wellenlängenbereich, in dem sie eingesetzt Spiegel gelenkt, der sich durch sehr viele elektrisch
ren die hervorgerufenen
Auflösungsverluste durch
werden können, ist deshalb auf den optischen verstellbare Druckstempel verbiegen lässt (ÅAb-
Beugung. Bereich (ca. 400– 800 nm) und auf einige wenige, bildung 11-8). Etwa tausendmal pro Sekunde
als „Fenster“ bezeichnete andere Wellenlängenbe- berechnet der Computer nun die Verzerrung, die
reiche beschränkt (ÅAbbildung 11-11). im Sekundärspiegel erforderlich ist, um den Licht-
strahl wieder „gerade“ zu biegen. Heraus kommt
Weltraumteleskope eine exzellente Bildqualität, die nicht mehr hinter
jener eines Weltraumteleskops zurücksteht.
Die dritte Revolution waren daher Weltraumtele- Auch die Art der Registrierung des Lichts
skope. Nur sie ermöglichen Beobachtungen von hat sich verbessert. Praktisch überall wurden
der Gammastrahlung bis hin zur Radiostrah- die fotografischen Filme durch die viel licht-
lung. Aber auch im optischen Bereich war das empfindlicheren CCD-Sensoren ersetzt, die jedes
unglaublich populäre Hubble Weltraumteleskop Bild sofort in elektronische Daten umwandeln.
(HST) jahrzehntelang unschlagbar. Die Bilder, Eine weitere Neuerung betrifft den Aufbau der
die uns dieses unvergleichliche Instrument aus Primärspiegel. Immer häufiger werden sie nicht
den fernsten Regionen des Universums brachte, mehr in einem Stück hergestellt, sondern aus
entstammen einem nur 2,5 Meter großen Spie- mehreren Teilen zusammengesetzt. Sie werden
gel. Allein sein „Standort“ über der störenden auch viel dünner gebaut als früher, denn durch
Erdatmosphäre machte es im wahrsten Sinne des Computer genau gesteuerte Stützgerüste gleichen
11-8 Wortes zum „Überflieger“. Was kommt danach? die beim Schwenken unvermeidlichen Verbie-
Adaptive Optik. Durch
Turbulenz gestörte Wel- Noch größere Weltraumteleskope? gungen mit Hilfe von Aktuatoren auf Bruchteile
lenfronten werden durch von Mikrometern genau aus.
Analyse des Lichts eines
Leitsterns in der Nähe des
Wunderteleskope auf der Erde
Beobachtungsobjekts Optische Interferometrie
erkannt und „gerade ge- Ja und Nein. Auf der Erde hat sich inzwischen,
bogen“. Künstliche „Leit- von der Öffentlichkeit viel weniger beachtet als Große Spiegel sind zwar eher machbar als große
sterne“ erzeugt man z. B.,
indem man einen gepuls-
das Hubble-Teleskop, eine weitere Teleskop- Linsen, aber bei Durchmessern von vielen Metern
ten Laserstrahl in der obe- revolution abgespielt. Lange dachte man, es werden auch sie zum Problem: Extrem teuer und
ren Atmosphäre fokussiert. wäre überhaupt nicht sinnvoll, auf der Erde fast unmöglich zu transportieren. Hier kommt die
Das rückgestreute Licht
größere optische Teleskope zu bauen. Die bereits optische Interferometrie ins Spiel. Dabei gewinnt
wird nur zu Zeitpunkten
analysiert, die der Laufzeit erwähnte Unruhe der Erdatmosphäre lenkt näm- man Informationen nicht nur aus der Intensität
des Lichts von der oberen lich Lichtstrahlen, die beispielsweise von einem (Helligkeit), sondern auch aus dem genauen Pha-
Atmosphäre entsprechen,
entfernten Stern einfallen, ständig in etwas an- senverlauf der empfangenen Wellen. Kann man
damit werden die auf dem
restlichen Weg entstehen- dere Winkel ab. Die Qualität jedes Riesenfern- beides auswerten, so lassen sich Bilder mehrerer
den Streuungen ausge- rohrs, so war man sich sicher, würde ohnehin Teleskope so überlagern, dass sich das System
blendet.

448
Erde, Wasser, Luft und Feuer

bezüglich der Beugungsunschärfe wie ein viel 0,14 m Isaak NEWTONs Teleskop 1670
größeres virtuelles Instrument verhält, dessen 2,4 m HST Hubble Space Telescope 1990
wirksamer Durchmesser ungefähr dem Abstand 4,2 m WHT WILHELM HERSCHEL Telescope 1987
5,08 m Hale-Teleskop Mt. Palomar 1947
der Teilspiegel voneinander entspricht.
2 x 8,4 m LBT Large Binocular Telescope 2007
Dieses Verfahren hat man sich bei der Ra-
4 x 8,2 m VLT Very Large Telescope 1998
dioastronomie abgeschaut, wo es allerdings viel
2 x 6,5 m Magellan Telescope 2000
leichter durchgeführt werden kann. Stärke und 10,4 m GTC Gran Telescope Canarias 2007
Phasenverlauf von Radiowellen lassen sich zum 11,4 m HET Hobby-Eberly-Teleskop 1999
einen relativ leicht aufzeichnen, zum anderen 11,4 m SALT South African Large Telescope 2005
besitzen sie längere einheitliche Wellenzüge (Ko- 30 m TMT Thirty Meter Telescope 2018?
härenzlängen). Die Überlagerung zu einem hoch- ca. 40 m E-ELT European Extremely Large 2016?
auflösenden Bild kann im Radiobereich sogar Telescope
100 m OLT Overwhelmingly Large Tele- >2020
„offline“ mit aufgezeichneten Daten erfolgen.
scope (Studie)
Im Gegensatz dazu bringt man die Wellenzüge
im optischen und im infraroten Spektralbereich nauer Interpretation) etwas über die Menge der
direkt zur Interferenz. Das Interferometer „Very im jeweiligen Gemisch vorhandenen Atome und
Large Telescope (VLT)“ in Chile kann so Bilder Ionen. Fast ironisch ist es, dass zu COMTEs Zeit die
von vier 8,2-Meter-Teleskopen zusammenführen. grundsätzlichen Beobachtungen für die Spektral-
Dabei werden die unvermeidlichen Verbiegungen analyse bereits vorlagen. JOSEPH VON FRAUNHOFER
der 430 Tonnen schweren Einzelspiegel über Ak- hatte 1814 ein Spektroskop entwickelt und begon-
tuatoren kompensiert. Ihre Oberflächen erreichen nen, das Sonnenspektrum zu untersuchen, ohne
eine Genauigkeit im Bereich von etwa 20 nm. aber die richtigen Schlüsse zu ziehen. Dies gelang
Weitere Fortschritte, die für Instrumente wie erst 1860 den beiden Forschern GUSTA TAV ROBERT
dieses notwendig waren, betreffen die Empfind- KIRCHHOFF und ROBERT WILHELM BUNSEN. Elf
lichkeit der Bildaufnahmesysteme, die zeitliche Jahre nach COMTEs Tod, nämlich 1868, gelang es
Auflösung der Datenerfassung und die Möglich- seinem Landsmann PIERRE JANSSEN (1824 – 1907) 11-9
Spiegeldurchmesser. Aus-
keit paralleler Auswertung großer Datenmengen. und dem Engländer JOSEPH NORMAN LOCKYER
wahl einiger historischer,
(1836–1920) sogar, das Element Helium auf der aktueller und geplanter
Spektroskopie Sonne zu entdecken, bevor es 1882 von LUIGI optischer Instrumente.
PALMIERI (1807 – 1896) auf der Erde nachgewiesen Das ursprünglich mit 42
Metern Spiegeldurchmes-
Im Jahr 1835 schrieb ein ansonsten eher tech- werden konnte. ser geplante europäisch-
nikgläubiger, einflussreicher französischer Philo- Die Spektroskopie ist bis heute das macht- brasilianische E-ELT wurde
soph, AUGUSTE COMTE (1798 –1857), dass es den vollste Instrument der Astronomen, das uns die allerdings aus Kosten-
gründen auf 39,6 Meter
Menschen nie und mit keiner Methode gelingen detailliertesten Informationen aus entfernten reduziert.
werde, den chemischen Aufbau der Sterne zu Winkeln des Universums und aus dessen Urzeit
ergründen. Und doch ist das im Prinzip ganz liefert. Im Jahr 2008 konnte mit dieser Methode
einfach: Licht trägt alle nötige Information über sogar erstmals ein organisches Molekül, nämlich
Milliarden Lichtjahre aus den entferntesten Win- Methan, auf dem Planeten eines fremden Sterns
keln des Universums und vom Anfang der Zeit nachgewiesen werden. So haben wir also die selt-
bis hierher vor unsere Haustür. Genau so, wie wir same und überraschende Situation, dass wir über
das Licht leuchtender Gase im Labor untersuchen die Zusammensetzung eines Planeten in Tausen-
können, indem wir es mit einem Prisma oder ei- den von Lichtjahren Entfernung genauer Bescheid
nem Beugungsgitter in seine verschiedenfarbigen wissen als z.B. über die Zusammensetzung des
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

Spektrallinien zerlegen. So können wir auch das Erdmantels nur 500km unter uns.
Licht der entferntesten Sterne untersuchen. Viel
genauer als ein genetischer Fingerabdruck einen Giganten blicken zum Himmel
Menschen, beschreiben die Spektrallinien im Licht
eines angeregten Atoms, um welches Element es All dies zusammengenommen hat eine regelrechte 11-10
sich handelt, außerdem seine Temperatur und Bauwut für immer größere Teleskope ausgelöst, Riesenteleskope. Das VLT
ggf. vorhandene Magnetfelder, und ob es sich die uns mit Instrumenten ausstattet, von denen vor kombiniert die wichtigsten
neuen Technologien zur
auf uns zu oder von uns weg bewegt. Die relative kurzem noch niemand geträumt hätte. Der mög- erdgebundenen Beobach-
Intensität sagt uns (wenn auch erst bei sehr ge- lich gewordene Zuwachs an Spiegelgröße (ÅAb- tung.

449
bildung 11-9) ist so gewaltig, dass wir in der Lage
sein werden, das Aufflammen der ersten Galaxien
im Universum zu sehen und die Atmosphären von
Planeten anderer Sterne zu untersuchen.
Wir sollten uns diese früher für unglaublich
gehaltenen Fortschritte der Teleskope stets vor
Augen halten, wenn jemand davon spricht, et-
was sei „grundsätzlich unmöglich“.

Radioteleskope

Radiostrahlungen sind eigentlich riesige Anten-


nenanlagen, die die Durchlässigkeit der Erdatmo-
sphäre für einen Teil der Radiowellen ausnutzen
(ÅAbbildung 11-11). Bei der Radiostrahlung
handelt es sich um besonders energiearme und
langwellige elektromagnetische Wellen. Die im
Vergleich zu Licht zehntausend- bis hunderttau-
sendmal größeren Wellenlängen sind der Grund
dafür, dass man riesige als Drahtgitterkonstrukti-
onen ausgelegte Richtantennen baut, um die Beu-
gungsbegrenzung der Auflösung abzuschwächen.
Das weltgrößte voll schwenkbare Radioteleskop
ist das 100m durchmessende Instrument auf dem
Effelsberg bei Bonn. In den letzten Jahrzehnten
allerdings erlauben leistungsfähige Computer
die interferometrische Zusammenschaltung vie-
ler kleiner Antennen zu „virtuellen“ großen In-
strumenten. Hier nimmt die Auflösung mit dem
Abstand der Teilteleskope zu. Auf diese Weise
plant man „Instrumente“ schwer vorstellbarer
Ausmaße, die sich über Kontinente erstrecken,
über die Rückseite des Mondes oder sogar verteilt
auf der Erdumlaufbahn. Im letzteren Fall würde
die räumliche Auflösung eine direkte Abbildung
von Planeten anderer Sterne erlauben.

Das unsichtbare Licht des Weltraums

Weltraumteleskope können unseren Blick ins All


um unzählige „Farben“, sprich Frequenzbereiche
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der elektromagnetischen Strahlung, erweitern. Das


ist deshalb wichtig, weil interessante physikalische
Phänomene sich eben durch Emissionen in ganz
bestimmten Wellenlängen zeigen, und keine Rück-
sicht auf unsere atmosphärenbedingte „Farben-
blindheit“ nehmen. So sind in jedem Wellenlän-
11-11 genbereich, der für die Forschung bei höheren und
Augen für die Dunkelheit. Außerhalb der Erdatmosphäre steht Teleskopen das ganze niedrigeren Energien zugänglich wurde, auch ganz
elektromagnetische Spektrum vom Radiobereich bis hin zu Gammastrahlung zur Verfü- neue Entdeckungen gelungen. Im Ultraviolettbe-
gung. Allerdings müssen bei der Konstruktion die unterschiedlichen Eigenschaften der
Strahlung berücksichtigt werden. Auch Teilchenstrahlung wie der Sonnenwind oder kos- reich etwa fand man den mindestens dreizehn
mische Strahlung geht den Forschern hier ins Netz ihrer Instrumente. Lichtjahre langen Schweif des Sterns Mira, den

450
Erde, Wasser, Luft und Feuer

dieser Schnellläufer hinter sich herzieht. Im Rönt- Raumflugkörpern lässt sich die kosmische Strah-
genbereich lassen sich z. B. aktive Galaxienkerne lung direkt untersuchen. Doch die Forscher haben
beobachten, bei denen man davon ausgeht, dass sich Tricks ausgedacht, um auch hier auf der Erde
sich auf ein supermassives Schwarzes Loch einströ- nicht völlig „teilchenblind“ zu sein.
mende Materie bis zur Röntgenemission erhitzt.
Und im Bereich der Gammastrahlung werden die Kosmische Strahlung
noch rätselhaften Gammastrahlenbausbrüche und

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


Stoßwellenfronten von Supernovae untersucht. In Astronauten auf Missionen außerhalb des schüt-
die andere Richtung, hin zu längeren Wellen und zenden Magnetfelds der Erde sind den Effekten
damit niedrigeren Energien, gewann man erstmals der kosmischen Strahlung g ausgesetzt. Dies gilt
Einblicke in die Umgebung des Schwarzen Lochs in sehr abgeschwächter Form auch für Besat-
im Zentrum unserer Galaxis und in die sonst hinter zungsmitglieder und Passagiere hoch fliegender
dichten Staubringen verborgenen ersten Lebens- Verkehrsmaschinen. Man unterscheidet dabei
phasen neugeborener Sterne. Denn das langwellige zwischen nieder-, mittel- und hochenergetischen
Infrarotlicht kann solche kosmischen Staubwolken Anteilen. Als Quelle des niederenergetischen
viel besser durchdringen als sichtbares Licht. Im Anteils kennt man schon lange die Sonne, die
noch langwelligeren Mikrowellenbereich schließ- ständig geladene Teilchen in Form des Sonnen-
lich kommt man durch Beobachtung der aus allen windes abgibt. Bis in allerjüngste Zeit hinein blieb

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


Richtungen einfallenden Hintergrundstrahlung bis allerdings die Quelle der anderen beiden Kom-
auf wenige hunderttausend Jahre an den Urknall ponenten rätselhaft. Welche Prozesse konnten
des Universums heran. Die exakte räumliche Ver- r Wasserstoffkerne auf Energien beschleunigen, die
teilung dieser Strahlung liefert wichtige Hinweise bei den höchsten gemessenen Werten von 1020 eV
auf den Zustand des Universums kurz nach seiner der Energie einer Gewehrkugel entsprechen – und
Entstehung. dies konzentriert in einem Teilchen, das zehn-
tausendfach kleiner ist als ein Atom! Mit Hilfe
Teleskope für Teilchen des 2004 auf Teneriffa in Betrieb genommenen
Großteleskops MAGIC (17 Meter Spiegeldurch-
Nicht nur Lichtquanten tragen Informationen messer) wird die Cherenkov-Strahlung erkundet,
über das Universum bis (fast) zu uns. die in der oberen Atmosphäre bei Anregung durch

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


Der österreichische Physiker VICTOR R FRANZ kosmische Strahlung entsteht. Diese Strahlung ist
HESS (1883–1964) unternahm 1912 einige Bal- eine schwache Lichterscheinung, ausgelöst durch
lonflüge. Er führte dabei ein Elektrometer mit, sehr schnelle Teilchen, die sich in einem Medium
ein Gerät, das elektrische Ladung speichert. Wird mit höherer Geschwindigkeit bewegen, als es der
Luft z. B. durch energiereiche Strahlung elektrisch Lichtgeschwindigkeit darin entspricht. Sie lösen 11-13
leitfähig, so entlädt sich das Elektrometer. Genau damit eine Art optischen Überschallknall aus. Aktive Galaxie M87. Zen-
dies konnte HESS beobachten, und zwar entlud Erst seit 2009 weiß man, dass die mitte- tren aktiver Galaxien wie
hier bei M87 im 52 Millio-
sich sein Elektrometer umso schneller, je höher lenergetische Strahlung durch Schockwellen von nen Lichtjahre entfernten
der Ballon flog. Eine von der Erde ausgehende Supernova-Explosionen erzeugt werden, wie Virgo-Galaxienhaufen
Strahlung war somit als Ursache auszuschließen. schon 1949 der Kernphysiker ENRICO FERMI können bis zu Hundert-
tausende von Lichtjahren
Dementsprechend nannte man die vermutete neue (1901 –1954) vermutete. Treffen solche Schock- lange Jets ausstoßen. Bei
Strahlungsart Höhenstrahlung. Sie wird heute wellen auf Wasserstoffwolken des interstellaren unterschiedlichen Wel-
als kosmische Strahlung bezeichnet und besteht Mediums, so können sie Protonen auf sehr hohe lenlängen beobachtet,
offenbaren sie jeweils an-
nicht aus Photonen, sondern aus Materieteilchen, Geschwindigkeiten beschleunigen. Ein ähnlicher dere Details. (Bildbreite ca.
welche die Erde mit nahezu Lichtgeschwindig- Prozess wird auf der Erde in sogenannten Plas- 9000 Lichtjahre)
keit erreichen. Hauptbestandteil sind sehr schnell mawellenbeschleunigern genutzt. Um allerdings
Oben: Röntgenstrahlung
fliegende und damit energiereiche Protonen, also die extrem hohen Energien der hochenergetischen (Chandra-Raumteleskop)
Kerne von Wasserstoffatomen. Aber auch Elek- Komponente kosmischer Strahlung zu produ-
tronen und Atomkerne anderer meist leichter Ele- zieren, reicht selbst eine Supernova nicht aus. Mitte: Radiostrahlung
(VLA)
mente sind vertreten. Wir können diese Teilchen Nur ein bisher bekannter Kandidat im Univer- r
auf der Erdoberfläche nicht nachweisen, da sie sum spielt in dieser Liga: Schwarze Löcher in Unten: Sichtbares Licht
durch Kollisionen mit Molekülen der Luft lange den Zentren aktiver Galaxien. Neue Ergebnisse (Hubble-Teleskop)
vorher gestoppt werden. Durch Detektoren in kommen vom Pierre-Auger-Observatorium aus
11-12
Mira. Mira ist ein Stern, der sich in der Milchstraße mit
außergewöhnlich hoher Geschwindigkeit bewegt. Im UV- 451
Bereich offenbart der Schnellläufer eine Bugschockwelle,
die er im interstellaren Medium auslöst, und einen etwa
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
10 Lichtjahre langen Schweif aus ionisierten Gasen.
KAPITEL 11 Kosmologie

Überlichtgeschwindigkeit? Argentinien. „Auger“ ist nichts, was man auf Neutrino-Observatorien


Nur im Vakuum entspricht
den ersten Blick als Teleskop erkennen könnte.
die Geschwindigkeit
elektromagnetischer Seine Hauptkomponente ist eine spezielle An- Neutrinos entstehen bei Kernreaktionen in Ster-
Wellen der universellen ordnung von 1600 jeweils 1,5 km voneinander nen wie der Sonne. Sie kommen im Gegensatz
Maximalgeschwindigkeit entfernt stehenden Detektortanks mit je 12 Ton- zu kosmischen Strahlungsteilchen auf geradem
c =299792 km/s. In Mate-
rie ist die Geschwindigkeit, nen reinem Wasser. Sie dienen zum Nachweis Weg zu uns, ohne sich von der Erdatmosphäre
abhängig vom Brechungs- von Sekundärteilchen, die beim Eindringen abhalten zu lassen. Die Krux an ihnen ist eine
index, teilweise deutlich eines hochenergetischen Protons in die obere ganz andere. Diese flüchtigen „Geisterteilchen“
geringer. Das interstellare
und das intergalaktische Erdatmosphäre entstehen. Beim Durchdringen kümmern sich nicht nur nicht um die Erdat-
Medium ist wohl für des Wassers erzeugen diese wiederum blaues mosphäre, sondern auch die ganze Erde ist für
menschliche Begriffe Cherenkov-Licht, das detektiert werden kann. sie weniger als eine Nebelschwade für eine Ge-
unglaublich dünn, aber
doch nicht völlig leer. Sehr
Von diesem Gerät kommen nun Hinweise dar- wehrkugel. Diese Teilchen unterliegen weder der
schnelle Teilchen können auf, was der lange gesuchte Mechanismus sein elektromagnetischen noch der starken Wechsel-
Licht in diesen Medien des- könnte: Strömt Materie in ein Schwarzes Loch, wirkung. Alle Nachweismethoden beruhen daher
halb tatsächlich überholen.
Sie senden dabei typisch
so kann stets ein Teil davon entlang der Rota- auf der schwachen Wechselwirkung – und die ist
blaues Cherenkov-Licht tionsachse entkommen. Diese fast lichtschnellen tatsächlich sehr schwach. Ein einzelnes Neutrino
aus, das auch auf dem Ti- Jets erzeugen mächtige Schockwellen, wenn sie wird von normaler Materie so wenig beeinflusst,
telblatt zu diesem Kapitel
auf das interstellare Medium treffen. In diesen dass es eine gute Chance hat, eine einige Licht-
zu sehen ist.
Schockzonen also können einzelne Elementar- jahre dicke Bleischicht zu durchdringen. Obwohl
teilchen zu „Gewehrkugeln“ werden. Diejenigen sie extrem häufig sind (50 Billionen Neutrinos
von ihnen, die auf die obere Erdatmosphäre von der Sonne durchdringen jeden von uns pro
treffen, zerfallen dort zu einem ganzen Schauer Sekunde), kommt es deshalb nur selten vor, dass
Neutrinos auf Abwegen? Auch Tausender kurzlebiger Teilchen und verraten sich sich eines im Detektornetz der Wissenschaftler
Neutrinos halten sich an die kos-
in den „Auger-Detektoren“. verfängt. Detektoren für Neutrinos müssen des-
mische Geschwindigkeitsbegren-

?
zung der Lichtgeschwindigkeit halb enorm viel gewöhnliche Materie enthalten
c. Zweifel daran waren am 22. Gammastrahlungs-Teleskope und sehr empfindlich sein, um überhaupt einmal
September 2011 aufgekommen, einige der durch sie ausgelösten Kernprozesse
als namhafte Wissenschaftler des
CERN und des Gran-Sasso Neu- Die Quelle kosmischer Strahlung ist selbst mit aufzeichnen zu können. Solche „Teleskope“ für
trino-Observatoriums scheinbar richtungsspezifischen Instrumenten nicht einfach Neutrinos werden vorzugsweise tief unter der
eine etwas erhöhte Geschw Geschwindig- ausfindig zu machen, denn geladene Teilchen Erde installiert, um andere Störungen so weit
keitt gestoppt hatten.
Eine Überschreitung der Ge- werden im Gegensatz zu Licht stark von inter- wie möglich auszuschließen. Da die Erde für
ndigke c durch
schwindigkeit ch ein Teilche
Teilchen stellaren Magnetfeldern beeinflusst. Sie bewegen Neutrinos praktisch völlig transparent ist, könnte
– sei sie auch noch so gering – sich sozusagen „auf verschlungenen Wegen“ zu man von der Sonne kommende Teilchen eben so
könnte das Prinzip derr Kausalität
gefährden. Die Trennung zwischen
nnung zwisch
uns. Normalerweise kommen Teilchen der kos- gut am Tag beobachten wie in der Nacht, gleich-
Vergangenheit und nd Zukunft wäwäre mischen Strahlung im interstellaren Raum auch gültig, ob sie zuvor die ganze Erde durchdringen
deutig definier
nicht mehr eindeutig definiert. nicht allzu weit ohne Kollisionen. Aber gerade müssen oder nicht.
Spätestens im m März 2012 war der
ließlich durch exakte
Befund schließlich
diese Kollisionen helfen uns weiter. Denn dabei
Nachmessungen wiederlegt.
ungen wied entstehen noch in der Nähe der Strahlungsquel-
Warum erwähnen
rwähnen w wir hier eine of- len kurzlebige Teilchen (Pionen), die bei ihrem Asteroiden und Planetenmissionen
fensichtliche Fehlmessung? Ganz
he Fehlm
Zerfall Gammastrahlung erzeugen. Diese erreicht als Informationsquelle
einfach deshalb:
shalb:
Allein die Tatsache, dass es den uns dann aber auf geradem Wege. So konnte mit
Wissenschaftlern gelang, dieses
tlern ge dem Fermi-Weltraumteleskop eine Quelle kosmi- Um außerirdische Materie nicht nur indirekt aus
so „ungeheuerliche“
heuerliche“ Resultat in scher Strahlung nachgewiesen werden: ein Ster- der Ferne untersuchen zu können, sondern sie
einer renommierten
ommierten Fa Fachzeitschrift
zu publizieren beweist, dass die
ieren beweist nentstehungsgebiet mit wenigen hundert Licht- tatsächlich in der Hand zu halten, waren wir bis
wissenschaftliche Methode heute
aftliche Met jahren Durchmesser, in dem laufend schwere vor wenigen Jahrzehnten auf die eher zufälligen
funktioniert und d sich
i wohltuend Sterne gebildet werden, die schon nach wenigen Funde von Meteoriten angewiesen, die auf der
von den Glaubenskriegen un-
terschiedlicher Lehrmeinungen Millionen Jahren Lebenszeit wieder explodieren. Erde niedergegangen sind. Ihre Untersuchung
früherer Jahrhunderte unterschei- Daraus lässt sich umgekehrt schließen, dass die erlaubte uns erste Vorstellungen davon, woraus
det. Jede Theorie kann durch wohl meisten kosmischen Strahlungsteilchen, andere Himmelskörper bestehen.
ein einziges reproduzierbares ihr
widersprechendes Resultat zu Fall die direkt bei uns ankommen, aus der näheren Den immensen Einfluss der Raumfahrt auf
gebracht werden. Umgebung der Sonne stammen. unsere Kenntnis von extraterrestrischer Materie
haben wir bereits in Form der zahlreichen er-

452
Erde, Wasser, Luft und Feuer

wähnten Weltraumobservatorien und Satelliten Mehrere Sonden sind gegenwärtig auf solchen
kennen gelernt. Aber diese Technologie gibt uns Wegen ohne Wiederkehr. Sie haben den direkten
auch die Möglichkeit, ganz direkt an Proben von Bereich unseres Sonnensystems verlassen und
Materie außerhalb der Erde heranzukommen, die bewegen sich weiter in „die unendlichen Weiten
nicht zufällig in unserem Vorgarten landen. Viele zwischen den Sternen“. Hier machten vor allem
Untersuchungen können nur an direkt gewon- die Raumsonden Pioneer 10 und 11 sowie Vo-
nenen Proben außerirdischen Materials durch- yager 1 und 2 von sich reden. Nach Besuchen
geführt werden. Meteore werden nämlich bei bei allen großen Planeten haben diese Raum-
Eintritt in die Erdatmosphäre enorm stark erhitzt fahrzeuge den interstellaren Raum erreicht. Wir
und verlieren dabei einen beträchtlichen Teil ihrer werden im Folgenden noch auf sie zu sprechen
Aussagekraft. Viele Untersuchungen, beispiels- kommen.
weise über den Gehalt an flüchtigen Substanzen Doch aller Euphorie für die Raumforschung
und die Mineralzusammensetzung, sind sehr viel zum Trotz darf man sich nicht darüber hinweg
aussagekräftiger geworden, seit man über Ver- r täuschen lassen, dass mit heutiger Antriebstech-
gleichsproben von den Apollo-Mondmissionen nologie noch keinerlei Hoffnung in Sicht ist, diese
der 1970er Jahre verfügt. Doch ein entsprechen- Art der Erkundung wesentlich über unser heimat- 11-14
der Besuch von Menschen auf dem nächsten, liches Sonnensystem hinaus betreiben zu können. Probenahme-Missionen.
möglichen Ziel bemannter Raumfahrt, dem Mars, Unsere Sonden werden erst nach Zehntausenden Seit der Zeit der Apollo-
Mondmissionen (oben)
liegt leider noch in weiter Ferne. von Jahren in die Nähe anderer Sterne vorstoßen. wurden nur winzige
Um solche Untersuchungen an außerirdischem Bis dahin sind ihre Instrumente natürlich ohne Proben außerirdischer Ma-
Material trotzdem durchzuführen, kann man jede Energie und wahrscheinlich von Strahlung terie von nicht immer voll
erfolgreichen Kometen-
automatische Landegeräte wie die berühmten zerstört. Zu ungeheuerlich sind die interstellaren und Asteroidenmissionen
Landegeräte „Pathfinder“ und „Spirit“ absetzen, oder gar die intergalaktischen Entfernungen. Um (Mitte) zurücktranspor-
die dies vor Ort erledigen. Doch damit ist man sie zu überwinden, müsste sich schon ein qualita- tiert. Allerdings konnten
mehrere Marsmissionen
deutlich eingeschränkt durch deren geringe Größe tiver Sprung in unseren physikalischen Theorien
(unten) der NASA Unter-
und durch die unflexible Gewinnung und Hand- und technischen Möglichkeiten ergeben. Aber suchungen an Mineralen
habung der Proben. Ein weiteres Problem: Man immerhin: Solche Sprünge gab es in den letzten vor Ort durchführen.
muss alle Untersuchungen vorab genau planen, Jahrhunderten bereits mehrfach.
also eigentlich schon wissen, wonach man sucht.
Nach dem Start neu entwickelte und verbesserte
Geräte lassen sich bei der oft Jahre später erfol- Wissen vom Kleinsten für das
genden Untersuchung nicht mehr einsetzen. Da ist Größte
es schon besser, Proben zur Erde zurückzubringen
und sie mit der ungleich breiteren Palette hier zur Ebenso wie die Beobachtung des Weltalls im Gro-
Verfügung stehender Methoden zu untersuchen. ßen tragen aber auch Teilchen- und Atomphysik
Wie anspruchsvoll solche Sonden ohne Einsatz dazu bei, kosmologische Prozesse besser zu ver- r
von Menschen sind, haben einige Missionen ge- stehen. Die Experimente, die wir auf der Erde real
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

zeigt, bei denen versucht wurde, Teilchen aus ausführen können, reichen zwar bei weitem nicht
Kometenschweifen einzusammeln. So hatte die an die Extreme von Druck, Dichte, Temperatur
im Jahr 2003 gestartete japanische Sonde „Haya- oder Feldstärke heran, die wir astronomisch beob-
busa“ (Wanderfalke) große technische Probleme achten, aber wir können sie dafür gezielt manipu-
beim Versuch einer Probennahme von der Ober- lieren, und ihre Ergebnisse lassen sich viel genauer
fläche eines Asteroiden. Sie fand im Juni 2010 analysieren. Die Kenntnisse der Eigenschaften 11-15
Teilchenbeschleuniger.
nur mühsam mit dem sekundären Ionentriebwerk von Atomen und Elementarteilchen, die wir auf Kenntnisse über den Auf-
und mit drei Jahren Verspätung zurück zur Erde. der Erde erforschen (ÅKapitel 10), helfen uns bau von Materieteilchen
Obwohl sie schließlich doch einige mikrosko- dabei, nicht nur die Prozesse im Inneren norma- und die Kräfte zwischen
ihnen sind unentbehrlich
pisch kleine Proben mitbrachte, hatte man sich ler Sterne zu erforschen. Daraus lassen sich auch
für das Verständnis des
viel mehr Material zur Untersuchung und damit Schlüsse über noch extremere Objekte ziehen, z.B. materiellen Aufbaus des
eindeutigere Aussagen erhofft. über das Verhalten sehr verdünnter interstellarer Universums. Sie werden
Noch viel schwieriger werden solche Missionen Materiewolken, extrem dichter Neutronensterne durch Experimente an mo-
dernen Teilchenbeschleu-
natürlich zu weiter entfernten Zielen im äuße- oder hochenergiereicher Prozesse in der Nähe nigern gewonnen (Bild:
ren Sonnensystem und darüber hinaus sein. aktiver Galaxienkerne. ATLAS-Detektor des LHC).

453
KAPITEL 11 Kosmologie

Das Universum im Computer quasi „auf Du und Du“. Sie wird als fermionische
Materie bezeichnet, wenn man sie gegen die Bo-
Nicht zuletzt hat auch die Entwicklung der Com- sonen des ÅStandardmodells der Teilchenphysik
putertechnologie der letzten Jahrzehnte auf viel- (Seite 427) abgrenzen will. Möchte man zum
fältige Weise zum kosmologischen Erkenntnis- Ausdruck bringen, dass ihre Masse hauptsäch-
gewinn beigetragen. Bereits erwähnt wurde die lich von den schweren Kernteilchen herrührt,
parallele Erfassung und Auswertung vieler Daten, spricht man von baryonischer Materie. Wir selbst
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

zum Beispiel bei Himmelsdurchmusterungen. Ge- bestehen daraus, ebenso alles, was wir anfassen
nau so sind die Physiker, die Teilchenbeschleu- können und alles was wir sehen. Vieles über diese
niger betreiben, zur Erfassung und Auswertung Materie haben wir in früheren Kapiteln kennenge-
der mittlerweile bei Kollisionsexperimenten an- lernt. Selbst das empfindlichste optische Teleskop
11-16 fallenden abenteuerlichen Datenmengen direkt zeigt uns nur diese einzige Sorte von Materie. Aus
Computersimulationen. von Supercomputer-Netzwerken abhängig. Aber spektroskopischen Untersuchungen wissen wir
Mathematische Modelle geballte Rechenleistung wird stets für die immer mit großer Sicherheit, dass auch entfernte Sterne
auf Basis der Eigenschaf-
ten von Elementarteilchen detaillierteren Modellrechnungen in Astronomie, nur aus den uns von der Erde bekannten Atomen
und der beteiligten Kräfte Physik und Kosmologie benötigt. und Teilchen bestehen. Müssen wir daher auch
führen zu Voraussagen In gewisser Weise wurde der Kosmos selbst in annehmen, dass uns dort draußen langweilige
über die Strukturbildung
im Universum, die durch
Form von Modellrechnungen mit Computern hier Wiederholungen altbekannter Objekte erwarten?
Vergleich mit der beob- auf der Erde „experimentell“ zugänglich. Neue Die Astronomie galt seit GALILEI GALILEO
achteten Realität geprüft Theorien lassen sich damit erstmals auf ihre Plau- und ISAAK NEWTON als Wissenschaft, in der die
werden können.
sibilität überprüfen und unbekannte Parameter Dinge im wahrsten Sinne in wohlgeordneten
so lange variieren, bis Modell und Beobachtung Bahnen ablaufen und in sehr klaren Katego-
übereinstimmen. Allerdings sollte man Plausibili- rien existieren. Monde laufen um Planeten,
tät nicht mit gesicherter Erkenntnis verwechseln. Planeten um Sterne. Später entdeckte WILHELM
Blickt man in die Wissenschaftsgeschichte, so fin- HERSCHEL(1738 – 1822), dass sich diese wiede-
det man durchaus Beispiele plausibler Theorien, rum um das Zentrum von Milchstraßen bewe-
die sich im Nachhinein eben doch als Irrwege gen. Dazwischen etwas teilweise ionisiertes Gas,
erwiesen. und fertig war das Rezept für ein Universum.
Vor diesem Hintergrund muss man auch Doch die Entdeckungen der letzten zwei Jahr-
Erkenntnisse zu Modellen der kosmologischen zehnte haben viele der klaren Abgrenzungen zwi-
Entwicklung, sogar bei breiter Zustimmung der schen den Aggregationsformen von Materie im
Forschergemeinde, stets mit Vorsicht betrach- Weltall aufgeweicht. Allzu leichtfertig haben wir
ten. Von alten dogmatischen Lehren sollte sich die Verhältnisse in unserem Sonnensystem und in
lebendige Wissenschaft eben dadurch unter- seiner unmittelbaren Nähe als allgemeine Gesetze
scheiden, dass wir Eines nicht aus den Augen betrachtet und auf alle anderen Raum- und Zeit-
verlieren: Alle Erkenntnis ist vorläufig. Eine regionen übertragen. Heute kennen wir Planeten
Theorie kann durch tausend Experimente und um fremde Sonnen, die nicht in das Schema von
Simulationen bestätigt sein – doch eine einzige Gesteinsplanet oder Gasplanet passen, das in
gesicherte Beobachtung, die ihr widerspricht, unserem Sonnensystem gut funktioniert. Wir
bringt sie unweigerlich zu Fall. kennen kleine kühle Sterne, die in einer Reihe
stehen mit großen und heißen Gasplaneten. Ein
typisches Zwitterwesen ist etwa der im Jahr 2008
Materie im Universum entdeckte superkalte braune Zwerg mit der Be-
zeichnung CFBDS0059. Das ca. 40 Lichtjahre
Welten aus Gas und Sternenstaub entfernte Objekt hat ca. 15 – 30 Jupitermassen.
Imposant, aber nicht genug für einen ausgewach-
Wenn wir von der Verteilung der Materie im senen Stern mit eigener Kernfusion. Die Oberflä-
Universum reden, so meinen wir dabei zumeist chentemperatur wurde zu ca. 350 °C bestimmt.
gewöhnliche Materie im Sinne von Molekülen, Heute kennen wir „entartete“ Materie in Neu-
Atomen und Ionen sowie Elektronen und anderen tronensternen von Planetengröße sowie Schwarze
Elementarteilchen, die mit elektromagnetischer Löcher und haben Hinweise auf Dunkle Materie,
Strahlung wechselwirken. Mit diesen sind wir die womöglich aus ganz anderen Teilchen besteht.

454
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Wir kennen sogar ganze Galaxien, die anscheinend und Licht sind, haben uns die zurückliegenden
nicht einen einzigen Stern enthalten, und Monster, Eis- und Warmzeiten drastisch vor Augen ge-
Massen aus
die wie kosmische Leuchtfeuer Röntgenstrahlung führt: Seinerzeit schwankte die Oberflächentem-
Umlaufbahnen
zuhauf auswerfen. Trotzdem sollen uns die klas- peratur gerade einmal um ca. 5 Grad Celsius.
ermitteln
sischen Kategorien in diesem Kapitel vorläufig als Deren Ursache ist übrigens noch immer nicht Nach dem dritten Kep-
Richtschnur dienen. An ihr wollen wir uns, aus- abschließend geklärt. Sie werden bisher meist den lerschen Gesetz gilt:
„Die Quadrate der
gehend von unserem heimatlichen Sonnensystem, Milankovitch-Zyklen zugeschrieben, periodischen Umlaufzeiten zweier
hinaustasten in das nach und nach etwas besser Änderungen der Präzession (100 000 Jahre) und Planeten verhalten sich
verstandene, ferne Universum und damit auch der Neigung der Erdachse (41 000 Jahre). Zusam- wie die Kuben der gro-
ßen Bahnhalbachsen“:
zurück in die Frühzeit seiner Entstehung. men mit einem auf der Schwankung der Präzes-
sion (18 000– 23000 Jahre) beruhenden weiteren T12 / r13 = T22 / r23 = k
Zyklus könnte dies helfen, die Unregelmäßigkeit
Die Konstante k ergibt
Sonne unserer himmlischen Heizung zu erklären. Der sich aus dem Gravi-
ungarische Astrophysiker ROBERT EHRLICH von tationsgesetz und der
Wir nehmen unsere Sonne gerne als selbstver- der George-Mason-Universität in Fairfax meint Formel für die Zentrifu-
galkraft zu:
ständlich hin. Und irgendwie ist sie es ja auch, seit kurzem aufgrund eines theoretischen Modells
denn von nichts Anderem außerhalb der Erde sind über das Magnetfeld im äußeren Kern der Sonne T2 / r3 = 4π2 / (GMS)
wir so unmittelbar abhängig wie von dem Glut- leichte Schwankungen der Leuchtkraft mit Peri-
mit MS = Sonnenmasse
ofen vor unserer Haustür. Ohne die Sonne wären oden von 100000 bzw. 41000 Jahren erklären
wir nicht hier. Selbstverständlich muss sie funk- zu können. Mit den Daten der Erd-
tionieren. Verschwände sie von einem Augen- Wieviel von der Strahlung der Sonne erreicht bahn (Entfernung von
blick zum nächsten, so würden wir das nach we- nun eigentlich die Erde? Man bezeichnet die Strah- der Sonne
r = 1,5 · 1011 m; Um-
nig mehr als acht Minuten zu spüren bekommen. lungsleistung, die im mittleren Abstand der Erde laufzeit T = 365,25 d
Das Schaudern und Frösteln, von dem Beobach- von der Sonne pro Flächeneinheit oberhalb der = 3,16 · 107 s) lässt sich
ter einer totalen Sonnenfinsternis berichten, gibt Atmosphäre ankommt, als Solarkonstante E0. Als somit die Sonnenmasse
durch Umstellung der
uns einen schwachen Abglanz vom Beginn einer Mittelwert hat die Weltorganisation für Metereo- Gleichung ganz einfach
solchen Apokalypse. Die Erde würde ihre Ellip- logie im Jahr 1982 die Zahl 1367 W/m2 festgelegt. bestimmen:
senbahn verlassen und tangential in die Dun- Sie ist allerdings keine wirkliche Konstante. Sie
MS = 4π2r3/(GT
T2)
kelheit des Weltraums enteilen. Binnen weniger schwankt z.B. mit dem Sonnenfleckenzyklus um
Tage würde die Temperatur an der Erdoberflä- etwa 0,1 Prozent. Im Laufe der normalen Entwick- MS = 1,989 · 1030 kg
che an allen Stellen weit unter den Gefrierpunkt lung der Sonne nimmt ihr Wert außerdem um ca.
Ganz analog erhält
abfallen, alle Pflanzen würden ohne Licht die 10 Prozent pro Milliarde Jahren zu. Seit der Zeit man übrigens aus den
Photosynthese einstellen und zusammen mit den der ältesten Lebensrelikte ist die Sonne somit um Bahndaten des Mondes
Lebewesen der Oberfläche erfrieren. Die Ozeane ca.30 Prozent heller geworden. Für das irdische die Erdmasse zu ME =
5,9736 · 1024 kg.
würden zufrieren, der Wasserdampf aus der At- Leben könnte dies bedeuten, dass es auf der Erde
mosphäre kondensieren, später würde sich gar nicht erst dann ungemütlich wird, wenn die Sonne Die Sonne der Antike
der Sauerstoff und der Stickstoff auf dem Eis im Laufe ihrer natürlichen Entwicklung nach wei- Mitte des fünften Jahr-
hunderts v. Chr. hielt der
niederschlagen. Denn von der Sonne erreicht uns teren ca. 5 Milliarden Jahren zu einem Roten griechische Philosoph
heute etwa 5000 Mal mehr Energie, als aus dem Riesenstern wird, sondern schon deutlich früher. ANAXAGORAS die Sonne
heißen Erdinneren dringt. Die Ozeane würden für eine glühende Ei-
senkugel, kaum größer
mit ihrer dann recht guten Wärmeisolierung und Die Sonne wird gewogen als Griechenland. Die
mit ihrer hohen Wärmekapazität wohl noch Vorstellung von einer
eine Weile unter dem Eispanzer flüssig bleiben, Von der Sonne haben wir erfahren, dass sie ganz hauptsächlich aus Eisen
bestehenden Sonne
aber auch sie würden wahrscheinlich am Ende und gar aus Plasmen besteht. Ihr Durchmesser wirkte noch bis Anfang
bis auf den Grund zufrieren. Abgesehen von ist ca. 109 Mal größer als der der Erde, ihr Volu- des zwanzigsten Jahr-
einigen in tiefen Gesteinsschichten auf der Basis men gar 1,3 Millionen Mal so groß. Was wiegt hunderts nach, zumal
Spektrallinien des Eisens
chemischer Energiegewinnung gemächlich le- sie? Nun, man muss sie natürlich nicht auf eine
im Sonnenspektrum
benden Archaeen und Bakterien sowie wenigen Waage legen, um das zu erfahren. Die Astro- prominent auftreten. Erst
Extremophilen in der Nähe von Vulkanschloten nomen kennen eine einfache Möglichkeit, die ein besseres Verständnis
würde dann alles Leben der Erde erlöschen. Masse jedes Körpers zu bestimmen, der von der Ionisierungsprozesse
führte zur Aufklärung der
Wie empfindlich abhängig wir von einer einem anderen umlaufen wird (ÅKasten Rand- tatsächlichen Zusammen-
gleichmäßigen Energiezufuhr in Form von Wärme spalte). setzung.

455
KAPITEL 11 Kosmologie

Größe und Aufbau der Sonne

Aus dem Sichtwinkel von 32‘ (Bogenminuten)


und der Entfernung von der Erde (ca. 150 Milli-
onen Kilometer) lässt sich der Durchmesser un-
serer Sonne zu etwa 1 341 900 km bestimmen. Sie
hat damit eine mittlere Dichte von1,408 kg / m3.
Obwohl sie aus heißem ionisiertem Gas, also
Plasma, besteht, ist sie also im Mittel dichter als
Wasser. Wobei diese häufig zu findende Angabe
allerdings sehr wenig besagt. Denn da die äuße-
ren Schichten Druck auf die inneren ausüben,
herrscht ein Gleichgewicht. An jedem Punkt in
der Sonne steht der Gas- und Strahlungsdruck
von innen der Gewichtskraft der darüber lagern-
den Schichten entgegen. Dies entspricht einem
Dichtegradienten. Von der ungeheuren Dichte
der zentralen Reaktionszone über die Strahlungs-
und Konvektionszone bis hin zur sichtbaren Son-
nenoberfläche und schließlich weiter hinaus zur
normalerweise unsichtbaren Sonnenatmosphäre
aus Chromosphäre und Korona fällt die Dichte so
weit ab, dass die „Sonnenatmosphäre“ schließlich
fast unmerklich in das fast perfekte Vakuum des
interplanetaren Mediums übergeht.
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Die materielle Zusammensetzung der Sonne


ist heute sowohl von theoretischen Modellen zum
Energiegewinnungsprozess und zum Lebenszyklus
der Sterne sowie aus spektroskopischen Untersu-
chungen recht genau bekannt. Nach Masseanteilen
besteht ihre Materie hauptsächlich aus 73,5 Pro-
11-17 Die Sonne hat demnach, um die „astronomische“ zent Wasserstoff und 25 Prozent Helium.
Die Sonne. Der Abstand
von Erde und Mond zur
Zahl in wenigstens etwas vorstellbarere Einhei- Der verbleibende Rest von 1,5 Masseprozent
Sonne ist nicht maßstabs- ten umzurechnen, etwa die 333000fache Masse setzt sich aus Sauerstoff und Kohlenstoff sowie
gerecht dargestellt. der Erde. Unser Zentralgestirn ist damit etwa Spuren zahlreicher weiterer Elemente bis ein-
doppelt so massereich wie ein durchschnittlicher schließlich Eisen zusammen. Rechnet man dies
Stern. Sie gehört bei weitem nicht zu den stellaren über die relativen Atommassen in Atomanzahlen
Schwergewichten, die bis zu hundert Sonnen- um, so finden wir über 90 Prozent Wasserstoff-
massen erreichen. Tatsächlich liegt unsere Sonne atome und nicht einmal 10 Prozent Heliumatome
sogar völlig im Durchschnittsbereich, wenn man sowie geringe Anteile von Atomen schwererer
nur die Hauptreihensterne (Å Abbildung 11-32, Elemente. Die Atome liegen allerdings bei den im
H Wasserstoff 90,97 %
Seite 469) betrachtet. Das ist gut so, denn je Kern der Sonne vorherrschenden Temperaturen
He Helium 8,89 %
O Sauerstoff 774 ppm schwerer ein Stern ist, desto kurzlebiger ist er (ca. 15,6 Millionen Grad Celsius) praktisch nur
C Kohlenstoff 330 ppm auch. Unsere Sonne befindet sich in der Mitte ionisiert vor. Beim Wasserstoff bedeutet das,
Ne Neon 112 ppm ihres etwa 10 Milliarden Jahre währenden Le- dass sich die Kerne (freie Protonen bzw. Deu-
N Stickstoff 102 ppm benszykluses, während dessen sie nur langsam teronen) unabhängig vom Elektron bewegen.
heißer wird. Danach wird sie sich zunächst in Nur näher an der Sonnenoberfläche findet man
11-18 einen enorm aufgeblähten Roten Riesenstern auch neutrale Atome (H, He). Die bei irdischen
Zusammensetzung der verwandeln und unter Abstoßung der äußeren Temperaturen ausschließlich vorkommenden
Sonne. Die Angaben Hülle schließlich zu einem Weißen Zwergstern zweiatomigen Moleküle von Wasserstoff sind
beziehen sich auf den
jeweiligen Anteil der kollabieren, der über Jahrmilliarden hinweg lang- schon bei der Temperatur der Sonnenoberfläche
Atomanzahl. sam auskühlt (Å Abbildung 11- 41, Seite 474). von ca. 6000 Kelvin instabil. Moleküle können

456
Erde, Wasser, Luft und Feuer

sich deshalb nur auf den Oberflächen kühlerer, sind nur 1/6000 der Sonnenmasse). In Erdnähe hat
rot leuchtender Sterne halten. der Sonnenwind noch eine Dichte von etwa 5 Mil-
lionen Teilchen pro Kubikmeter. Insbesondere bei
Energiequelle der Sonne verstärkter Sonnenaktivität und koronalen Mas-
senauswürfen kann er allerdings in seiner Intensi-
Die Freisetzung von Energie in der Sonne beruht tät und Zusammensetzung beträchtlich schwan-
auf Fusionsreaktionen, die in den 1920er Jahren ken. Man spricht geradezu von „Weltraumwetter“
von BETHE und WEIZSÄCKER aufgeklärt wurden und verfolgt dieses mit Argusaugen. Denn die Son-
(ÅDie Rätsel des Atomkerns, Seite 420), haupt- nenstürme können Satelliten und empfindliche In-
sächlich auf der Verschmelzung von Wasser- frastrukturen auf der Erdoberfläche beschädigen
stoff- zu Heliumkernen. Dabei wird ein kleiner und für Astronauten gefährlich werden. Satelliten
Prozentsatz (etwa 4 Prozent) der Masse des werden daher bei schlechtem „Wetter“ notfalls
Wasserstoffs in Energie umgewandelt. Dieser für abgeschaltet, nachdem sie in eine möglichst ge-
uns so lebenswichtige Prozess läuft in einem sehr schützte Richtung gedreht wurden.
dichten und heißen Plasma ab. Die dazu notwen-
digen Bedingungen werden nur im Zentrum der Sonnenneutrinos
Sonne erreicht, das nicht mehr als 1,6 Prozent
ihres Volumens ausmacht. Die dort freigesetzte Außer dem Sonnenwind aus gewöhnlicher Mate-
Strahlungsenergie muss sich wegen der perma- rie im Plasmazustand sendet jeder Stern als Ne-
nenten Streuprozesse in dem dichten Plasma in benprodukt der im Zentralbereich stattfindenden

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


einer Jahrzehntausende währenden Reise bis Kernfusionsprozesse (ÅSeite 471) auch einen in-
zur Sonnenoberfläche durchkämpfen. Von dort tensiven Strom von Neutrinos (ÅKapitel 10) aus.
erreicht sie uns dann in nur gut 8 Minuten. Man kennt recht genau die Anzahl der Neutrinos,
die in der Sonne bei den Kernfusionsprozessen pro
Bombardement von der Sonne Sekunde entstehen sollten, denn man glaubt, diese
gut verstanden zu haben. Aus der bekannten Emp- 11-19
Sonnenneutrinos. Von
Wenn wir von der Strahlung der Sonne spre- findlichkeit der Detektoren lässt sich errechnen, den nach Berechnungen
chen, denken wir vor allem an das Licht und die wie viele davon im Nachweisnetz hängen bleiben zur Entstehungsrate in
Wärme, die sie uns spendet, und eventuell noch sollten. Interessant ist, dass nur etwa 40 Prozent der Sonne auf der Erde
zu erwartenden Elektron-
an die UV-Strahlung, die ggf. für einen Sonnen- der erwarteten Elektron-Neutrinos nachgewiesen Neutrinos lassen sich nur
brand sorgt. Das Maximum der Strahlung liegt werden. Man geht heute davon aus, dass es drei ca 40 Prozent nachweisen.
bei der Oberflächentemperatur von 6000 °C im Arten von Neutrinos mit unterschiedlicher Masse Es wird vermutet, dass
sich die fehlenden Teilchen
gelbgrünen Bereich des sichtbaren Lichts, sie gibt und dass sich ein Teil der gebildeten Elektron- auf dem Weg zu uns in
reicht aber entsprechend dem Planckschen Strah- Neutrinos auf dem Weg von der Sonne zur Erde in Myon- und Tau-Neutrinos
lungsgesetz auf der längerwelligen Seite weit in die anderen Typen umwandelt, die in den Detek- umwandeln, die den De-
tektoren entgehen.
den Infrarotbereich hinein und erstreckt sich auf toren nicht nachgewiesen werden können. Daraus
der kürzerwelligen Seite bis hin zum Röntgenbe- geht hervor, dass die Neutrinos eine gewisse mini-
reich. Doch daneben erreicht uns von der Sonne male Masse besitzen müssen und sich mit etwas Planeten
her auch ein Sammelsurium von Teilchen, die im weniger als der Lichtgeschwindigkeit bewegen. Als Planeten gelten
Gegensatz zu den Photonen des Lichts über eine Denn bei lichtschnellen Teilchen könnten keine nach einer Definition
Ruhemasse verfügen. Zerfallsprozesse beobachtet werden. Dies verbie- der International Astro-
nomical Union (IAU)
Hier sind zunächst die geladenen Plasma- tet bereits die Zeitdilatation gemäß der speziellen
vom 24. August 2006
partikel (ÅKapitel 8) des Sonnenwinds zu nennen. Relativitätstheorie, denn aus unserem Bezugssys- solche Objekte, die
Dieser besteht hauptsächlich aus freien Protonen tem betrachtet, würde jede Umwandlung eines
und Elektronen sowie Heliumkernen und weht uns lichtschnellen Objekts unendlich lange dauern. a) eine Umlaufbahn
um die Sonne beschrei-
ständig von der Sonnenoberfläche entgegen. Pro ben
Sekunde verliert die Sonne dadurch etwa 1 Mil-
lion Tonnen an Masse, was allerdings angesichts Planetologie b) ungefähr kugelför-
mig sind und
der vorstehend errechneten riesigen Gesamtmasse
selbst in ihrer nach Milliarden Jahren zählenden Erkunden wir von der Erde aus unsere unmittel- c) ihre Umlaufbahn
Lebensdauer nicht merklich ins Gewicht fällt bare kosmische Nachbarschaft, so stoßen wir in von kleineren Objekten
frei geräumt haben.
(109 kg/s · 3,2· 107 s/ Jahr · 1010 Jahre = 3,2· 1026 kg 380000 km Entfernung auf den Erdmond. Schon

457
KAPITEL 11 Kosmologie

Sonntag (engl. Sonne in mindestens Dutzenden von Millionen Kilome- der Planetenbahnen durch JOHANNES KEPLER
sunday tern messen die Entfernungen zu den nächsten (1571 – 1630) zeigte sich die klare Überlegenheit
Montag (ital. Mond Planeten und deren Monden. Unsere direkten des heliozentrischen Weltbildes. Nach den von
lunedí)
Nachbarplaneten sind Venus und Mars des inne- im entdeckten Gesetzen der Himmelsmechanik
Dienstag (ital. Mars ren Sonnensystems. Kennzeichnend für diese umrunden die Planeten die Sonne (von klei-
martedi)
Mittwoch (ital. Merkur
Körper ist, dass sie in ihrem chemischen Aufbau neren Störungen durch andere Körper einmal
mer- der Erde ähneln. Merkur, Venus, die Erde selbst, abgesehen) auf Ellipsenbahnen, in deren einem
coledi) ihr Mond und Mars werden deshalb auch als Brennpunkt die Sonne steht. Weiter entfernte
Donnerstag (ital. Jovis terrestrische Planeten oder Gesteinsplaneten be- Planeten benötigen für eine Umrundung deut-
giovedi) (Jupiter)
zeichnet und den äußeren Gasplaneten Jupiter, lich länger als solche nahe der Sonne. Das dritte
Freitag (ital. Venus
venerdi) (Freia) Saturn, Uranus und Neptun gegenübergestellt. Keplersche Gesetz besagt, dass sich die Quad-
Samstag (engl. Saturn rate der Umlaufzeiten zweier Planeten wie die
saturday) dritten Potenzen der großen Halbachsen ihrer
Die Bildung des Planetensystems
Bahnellipsen verhalten. Das lässt sich durch eine
Seit der Entstehung unserer Art gab es Menschen, Formel deutlich kürzer fassen: T12 / T22 = r13 / r23
die von den Sternen so fasziniert waren, dass sie (dabei stehen die Indizes 1 und 2 für zwei be-
genauere Beobachtungen anstellten. Heute zeugen liebige Planeten, T für Umlaufzeit und r für die
hiervon noch Bauwerke wie Stonehenge, deren große Halbachse der Bahn). Aber auch darüber
exakte Ausrichtung beträchtliche astronomische hinaus zeigen sich auffällige Regelmäßigkeiten.
Kenntnisse offenbart. Seit vorgeschichtlicher Zeit So bewegen sich alle Planeten fast in der glei-
ist auch bekannt, dass einige der „Sterne“ sich chen Bahnebene um die Sonne. Die Bahnebene
relativ zum restlichen Himmelsgewölbe bewegen. der Erde wird Ekliptik genannt. Alle Planeten
Sie wurden Wandelsterne genannt, oder Planeten zeigen auch den gleichen Umlaufsinn. Dieser
(von griechisch planetes, umherschweifen). In Zu- Zusammenhang ist kein Zufall.
sammenhang mit dem damaligen geozentrischen Als es dann ISAAC NEWTON sogar gelang, die
Weltbild wurden auch die Sonne und der Mond keplerschen Ellipsen auf die Gravitationskraft
als Planeten bezeichnet. Noch heute erinnern da- zurückzuführen, die von fallenden Körpern
ran Aussprüche wie „heute brennt der Planet auf der Erde bekannt war, war der Triumph
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

wieder herunter“ an einem heißen Sommertag. vollkommen. Erst mit der Relativitätstheorie
Die Wochentage wurden ursprünglich nach ALBERT EINSTEINs ergaben sich daran zweihun-
diesen mit bloßem Auge sichtbaren Wandel- dert Jahre später für starke Gravitationsfelder
sternen benannt, die wiederum antiken Göttern winzige Korrekturen.
11-20 (ÅRandspalte) zugeordnet waren. In den einzel- Unter dem Eindruck dieser Entwicklungen
Protoplanetare Scheibe. nen Sprachen ist die Herkunft unterschiedlich sah IMMANUEL KANT (1724 – 1804), der vielleicht
Wie KANT und LAPLACE
bereits im 18. Jahrhun-
leicht zu erkennen, da die lateinischen Götter wichtigste Philosoph der Aufklärung, in seiner
dert vermuteten, sind teilweise durch die jeweils lokalen Entsprechun- „Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des
neu entstandene Sterne gen ersetzt wurden. Himmels“ (1755) auch einen entwicklungsge-
oft von einer Staub- und
Gasscheibe umgeben, aus
Natürlich war bereits lange vor der Antike schichtlichen Zusammenhang.
denen sich Planeten bilden klar, dass es sich bei der Relativbewegung der Er schlug als erster das Modell der Planeten-
können. Planeten keineswegs um ein „Umherirren“ han- entstehung aus einer solaren Gas- oder Stauburr-
Bild oben: künstlerische
delt, sondern um reguläre und voraussagbare wolke vor, das im Kern bis heute Bestand hat. Ein
Darstellung, darunter:
Originalaufnahmen der Bahnen, auch wenn diese einige unschöne Beson- ähnliches Modell wurde unabhängig von ihm gut
Protoplanetaren Scheibe derheiten zeigten, wie zeitweise eine scheinbare 40 Jahre später auch von PIERRE-SIMON LAPLACE
PRC95-45c (M. J. Mc- Rückwärtsbewegung. aufgestellt und in seinem Werk „Exposition du
Caughrean, MPIA und C.
R. O'Dell, Rice University, Das lange umstrittene heliozentrische Welt- systeme du monde“ (Darstellung des Weltsys-
NASA) bild des NIKOLAUS KOPERNIKUS (1473 – 1543) tems, 1796) veröffentlicht. Die Hypothese ging
brachte hier Fortschritte, wenn auch noch nicht als Kant-Laplace-Hypothese in die Wissenschafts-
sofort die erhoffte Vereinfachung und Verbesse- geschichte ein. Eine hohe philosophische Bedeu-
rung der Vorhersagen. Erst mit der Beschreibung tung wird ihr vor allem deshalb zugemessen, weil
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Erde, Wasser, Luft und Feuer

sie erstmals die Entstehung des Planetensystems den die Erdkruste heute besitzt, gar nicht direkt
ohne göttlichen Eingriff erklärte. Ihre Plausibilität bei der Bildung des Planeten auf die Erde, sondern
konnte inzwischen durch zahlreiche Computersi- wurde durch spätere Kollisionen mit Kometen aus
mulationen bestätigt werden. In neuerer Zeit dem äußeren Sonnensystem eingebracht. (Übri-
wurden solche Staubringe um junge Sterne tat- gens ist dies auch ein Szenario, das für einen Gut-
sächlich direkt beobachtet (Å Abbildung 11-20) – teil des irdischen Wassers in Frage kommt.) Der
wir werden also zu Augenzeugen der Planeten- überschüssige Sauerstoff bestimmt bis heute die
entstehung um fremde Sonnen. Reste des Staubes Chemie unserer Gesteinsplaneten, deren Kruste
aus der Frühzeit unseres eigenen Sonnensystems aus seinen Verbindungen mit Silicium, Magne-
tummeln sich übrigens noch heute in der Ebene sium, Aluminium, Schwefel und Eisen besteht.
der Ekliptik. In sternklaren Frühlings- oder Diese liegen meist als Oxide, Silikate oder Alumi-
Herbstnächten kann man sie als schwachen Licht- nosilikate vor. Planetenkerne enthalten schwerere
schein (Zodikallicht) etwa zwei Stunden vor Son- Elemente wie Eisen und Nickel.
nenaufgang bzw. nach Sonnenuntergang im Be- Es ist erstaunlich, wie unterschiedlich hierzu
reich der Ekliptik erkennen. Die Planetenbildung unsere Erde aussehen könnte, hätte damals der
hat nach heutigen Erkenntnissen sofort mit der Kohlenstoff überwogen. Dann bestünde die Ober- r
Verdichtung der Sonne begonnen und könnte fläche wohl aus Siliciumcarbid oder sogar aus
bereits nach hundert Millionen Jahren weitge- elementarem Graphit. Weiter im Inneren einer
hend abgeschlossen gewesen sein. solchen Welt fänden sich wohl große Mengen
Doch aus welcher Art Materie bestand diese Diamant. Die Chemie der Atmosphäre würde
Urwolke? Woher kam sie, und welche Elemente möglicherweise der des Saturnmonds Titan
waren in ihr in welchen Mengen vertreten? Im (ÅSeite 463) ähneln, mit Kohlenwasserstoffen als
Abschnitt über die Sternentstehung werden wir Atmosphärenbestandteil und als Fluiden in even-
mehr über die Herkunft der Wolke erfahren. tuellen Flüssen, Seen und Ozeanen. Auch wenn
Aber wir können uns diesen Fragen auch nähern, die Zusammensetzung der Milchstraße generell
wenn wir einerseits die heutigen Zusammen- eher dem höheren Sauerstoffgehalt unseres sola-
setzungen der Planeten unseres Sonnensystems ren Urnebels entspricht, ist nicht auszuschließen,
zugrunde legen und andererseits versuchen, die dass es solche Kohlenstoff-Erden irgendwo dort
Zusammensetzungen protoplanetarer Scheiben draußen gibt. Insbesondere nahe der Zentrumsre-
um andere Sterne zu untersuchen. gion, die besonders reich an schweren Elementen
Im Universum sind neben Wasserstoff (1H) ist, ist das Verhältnis nämlich in Richtung Koh-
und Helium (4He) die Elementisotope Sauerstoff lenstoff verschoben. 11-21
(16O) und Kohlenstoff (12C) am häufigsten ver- Gesteinsplaneten und
treten. In einer protoplanetaren Scheibe laufen Gasplaneten. Typische
Gesteinsplaneten Gesteinskörper finden sich
chemische Reaktionen ab, in deren Verlauf aus im inneren Sonnensystem
Kohlenstoff und Sauerstoff auch Kohlenmonoxid Gesteinsplaneten in unserem Sonnensystem be- (Merkur bis Mars, hier
entsteht. Nach einem Modell von JADE BOND, sitzen ein eher hohes spezifisches Gewicht (Erde: im Größenvergleich zur
Sonne), aber auch viele
DANTE LAURETTA T und DAVIDA O’BRIEN von der 5,517 g / cm3). Ihr hauptsächlicher Aggregatzu- Zwergplaneten und Monde
University of Arizona und dem Planetary Sci- stand ist, wie der Name vermuten lässt, der feste, werden zu ihnen gezählt.
ence Institut in Tucson ist für die Chemie der obwohl sie durchaus auch flüssige Komponen- Die Planeten von Jupiter bis
Neptun enthalten viel mehr
Gesteinsplaneten ganz entscheidend, welches von ten in ihrem Inneren beherbergen können und,
leichte Stoffe als Gesteins-
beiden Elementen häufiger vorkommt und bei der zumindest was Venus, Erde und Mars angeht, planeten. Sie besitzen ver-
Reaktion übrig bleibt. In unserem Sonnensystem auch Atmosphärengase auftreten. Die Chemie mutlich keine feste Oberflä-
che, sondern werden unter
sind Sauerstoffatome 1,46 Mal häufiger als Koh- unserer Gesteinsplaneten wird beherrscht von
zunehmendem Druck nach
lenstoffatome. Denn der in der protoplanetaren den Elementen Sauerstoff und Silicium. Daneben innen dichter. In einem an-
Scheibe als gasförmiges Kohlenmonoxid vorlie- spielen Magnesium und Aluminium sowie Eisen genommenen kleinen Kern-
gende Kohlenstoff wurde möglicherweise vom eine wesentliche Rolle. Diese treten zu etwa drei- bereich kann er allerdings
so hoch sein, dass selbst
Sonnenwind in den interstellaren Raum geblasen. ßig häufig vorkommenden Mineralen zusammen, Wasserstoff metallische Ei-
Vielleicht gelangte der geringe Kohlenstoffanteil, hauptsächlich zu Silikaten, Aluminosilikaten und genschaften aufweist.
KAPITEL 11 Kosmologie

Metalloxiden. Mit Ausnahme der natürlichen vitationsfeld der Sonne ungleichmäßig verteilt
Gläser sind alle Gesteine der Erde und anderer Ge- hätten. Schwere Elemente sollten demnach näher
steinsplaneten sowie viele Monde, Meteoriten und an unserem Zentralgestirn vorkommen, leichtere
Asteroiden großenteils aus Mineralen aufgebaut. Überbleibsel der solaren Urwolke vornehmlich in
Häufige und für ganze Formationen typische Mi- den Außenbezirken des Systems.
nerale werden auch als Gesteinsbildner bezeichnet.
Gesteinsplaneten bestehen weitgehend aus Gasplaneten
festen oder zähplastischen Bestandteilen, die ent-
sprechend ihrem spezifischen Gewicht in meh- Tatsächlich finden sich in der Nähe der Sonne die
rere Schalen differenziert vorliegen können: Im Gesteinsplaneten, während sich weiter draußen
Zentrum existiert typischerweise ein schwerer vorzugsweise Gasriesen aus leichteren Elementen
Eisen-Nickel-Kern, der vor kurzem sogar für und Himmelskörper mit hohem Eisanteil finden.
den Erdmond nachgewiesen werden konnte. Da- In welchem Umfang dies als allgemeine Regel
rüber liegt eine dicke Mantelschicht aus meist gelten kann, ist nach der Beobachtung sehr hei-
schweren Silikaten (z. B. Magnesium-Perowskit, ßer Gasplaneten nahe an anderen Sternen etwas
(Mg,Fe)SiO3; nicht identisch mit gewöhnlichem zweifelhaft. In unserem Sonnensystem sind Jupiter,
leichten Perowskit: CaTiO3) und Oxiden (z.B. des Saturn, Uranus und Neptun Gasplaneten. Wir
Magnesiums, Aluminiums und Eisens). Unter der wollen uns im Folgenden mit deren stofflicher Zu-
Oberfläche liegt eine vergleichsweise nicht sehr sammensetzung, ihrem Aufbau und ihren überaus
dicke Kruste, in der leichtere Minerale (z.B. Alkali- interessanten Monden befassen.
und Erdalkalisilicate sowie Oxide) angereichert
sind. Bei größeren Körpern kann sich daran ein Innerer Aufbau der Gasplaneten unseres
Bereich mit flüssigen Anteilen (Hydrosphäre) und Sonnensystems
eine Atmosphäre anschließen.
Historisch werden nur die vier Planeten Mer- r Stellt man die acht Planeten der Sonne nebenei-
kur, Venus, Erde und Mars zu den terrestrischen nander dar, so wird sofort klar, warum man die
Planeten im engeren Sinne gerechnet. Im weiteren vier soeben angesprochenen Himmelskörper auch
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

Sinne versteht man darunter aber auch plane- als Gasriesen bezeichnet. Selbst Neptun, als der
tenähnlich aufgebaute Gesteinskörper wie den kleinste unter ihnen, könnte die Erde 64-mal in
Erdmond, die Jupitermonde Io, Europa, Gany- sich aufnehmen, ganz zu schweigen vom Platz-
med und Kallisto sowie den Saturnmond Titan hirsch Jupiter, der den 1400fachen Rauminhalt
und den Neptunmond Triton. Bei den Eismonden der Erde besitzt. Wir haben schon gesehen, wie
11-22 kann zwar der Nickel-Eisen-Kern fehlen, und ein man Planeten „wiegen“ kann. Die Methode funk-
Krater. Einschlagskrater von
Meteoriten sind typische Eismantel tritt an die Stelle eines Silikatmantels, tioniert auch bei unserem Quartett wunderbar.
Strukturen auf allen Ge- trotzdem aber ähneln sie in vieler Hinsicht den Daraus ergeben sich Dichten, die eindeutig nicht
steinsplaneten. Bei dichter Gesteinsplaneten. Selbst der Zwergplanet Ceres zu einer Zusammensetzung aus Gestein und Me-
Atmosphäre wie auf der
Erde finden sich weniger
und der große Asteroid Vesta können zu dieser tallen passen würden.
Krater, da sie von der Ero- Gruppe gezählt werden. Wie auch spektroskopische Untersuchungen
sion schneller eingeebnet Untersucht man die Erdatmosphäre, so findet zeigen, bestehen Gasplaneten ähnlich wie die
werden.
man in den unteren Schichten einen erhöhten An- Sonne vorwiegend aus den leichtesten chemischen
Von oben nach unten: teil schwererer Gase. Leichte gasförmige Elemente Elementen Wasserstoff und Helium. Sie haben
wie Wasserstoff und Helium kommen nur in sehr keine klar definierte Oberfläche, zumindest nicht
auf dem Merkur
geringen Mengen vor. Ihr relativer Anteil ist aber dort, wo man sie vom einfachen Hinsehen her ver- r
auf der Venus
auf der Erde in der oberen Atmosphäre höher (ÅKapitel 7). muten würde. Vielmehr sind sie nach innen immer
auf dem Mars Obwohl Gase sich in einem Gefäß gleichmäßig dichter, da die äußeren Schichten auf den weiter
verteilen, gilt dies in großen Dimensionen und innen liegenden lasten. Eine angepasste Version
unter dem Einfluss von Gravitationsfeldern nicht. der Åbarometrischen Höhenformel (Abbildung
Es liegt nahe anzunehmen, dass sich die Elemente 7-4, Seite 360), die eine ähnliche Situation im Fall
bei der Bildung des Sonnensystems auch im Gra- der Erdatmosphäre beschreibt, kann auch für die
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Erde, Wasser, Luft und Feuer

Bahnradius Umlauf- Radius Radius Radius Volumen Dichte Masse Massenanteile


zeit polar äquatorial r⊕ H He CH 4
Mio. km AE Jahre km km rP / rE Erdvolu- kg / dm3 · 1026 kg % % %
ca. mina
Jupiter 778,570 5,203 11,86 133708 142 984 11,2 1400 1,33 18,990 90 ±2 10 ±2
Saturn 1433,530 9,582 29,46 108728 120 536 9,3 804 0,69 5,685 96,3 ±2,4 3,25 ±2,4
Uranus 2872,460 19,201 84,01 49946 51 118 4,1 69 1,27 0,868 83 ±3 15 ±3 2,4
Neptun 4495,060 30,047 164,79 49528 48 682 4 64 1,64 1,024 80 ±3,2 19 ±3,2 1,5 ±0,5

grobe Modellierung der Verhältnisse zumindest irdisches Felsgestein (Å Kapitel 5) und Eisen-
im äußeren Bereich der Gasplaneten herangezogen Nickel-Legierungen verfügen, allerdings bei an-
werden. Wie wir in früheren Kapiteln erfahren genommenen Temperaturen von 20 000 Grad
haben, geht die Unterscheidung zwischen der Gas- Celsius und damit in Plasma-Zustandsformen,
phase und der flüssigen Phase oft schon bei mode- die für unsere irdische Erfahrung exotisch und
rat hohem Druck verloren, und es liegen überkri- schwer vorstellbar sind.
tische Fluide vor. Die Verhältnisse werden bei den
Gasplaneten noch dadurch verkompliziert, dass sie
nicht aus reinen Elementen bestehen, sondern aus Monde
Mischungen mehrerer Gase. Neben Wasserstoff
und Helium wurden Ammoniak, Methan sowie Mit den erdähnlichen Planeten und den Gas-
Ammoniumsulfid und Wasser nachgewiesen. planeten haben wir aber noch lange nicht alle
Exoten unseres Sonnensystems besucht. Viele
Metallischer Wasserstoff der zahlreichen Monde sind sogar noch interes-
santer und durchaus einen Blick bzw. die Reise
Die Druckverhältnisse in größeren Gasplaneten einer Planetensonde wert.
sind wegen der Gewichtskraft der auflagernden Den Erdmond haben wir bereits als Gesteins-
Schichten derartig extrem, dass Wasserstoff zu- körper kennengelernt. Er entstand nach der gän-
mindest im Falle von Jupiter und Saturn bei einem gigen Vorstellung in der Endphase der Plane-
Druck von vermutlich ungefähr 3 Millionen Bar tenbildung, als ein etwa marsgroßer Körper in
(bei Jupiter ab etwa 20 000 km Tiefe) sogar in eine die Urerde einschlug, aus aufgeschmolzenem
flüssige metallische Phase übergeht. Berechnungen Material, das in eine Umlaufbahn geriet. Dies
haben gezeigt, dass dieser besondere Stoff unter erklärt auch, warum der Mond ein geringeres
400– 450 MPa Druck noch bei Temperaturen weit spezifisches Gewicht als die Erde aufweist (3,341
oberhalb der Zimmertemperatur supraleitend sein gegenüber 5,515 g / cm3). Offensichtlich hatte
sollte und wohl Eigenschaften einer Supraflüs- sich der schwere Nickel-Eisen-Kern bereits teil-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

sigkeit (ÅSuperflüssigkeiten, Seite 355) besitzt. weise gebildet und war vom Einschlag weniger
Obwohl schon vor sechzig Jahren vom Nobel- betroffen. So überrascht es nicht, das wir auf
preisträger EUGENE PAULL WIGNER R (1902 -1995) dem Mond ganz ähnliche Minerale antreffen,wie
vorhergesagt, konnte metallischer Wasserstoff in der Erdkruste. Neuere Forschungen zeigen
auf der Erde erst 1996 am Lawrence-Livermore- aber auch, dass hier typisches Mantelmaterial
11-24
Laboratory bei 1,4 Millionen Bar und 3000 K für häufiger offen an der Oberfläche zutage liegt.
Exotische Monde. Die
die Dauer einer Mikrosekunde nachgewiesen wer- r Aus seismischen Daten gibt es neuerdings auch chemisch interessantesten
den. Offenbar wird der metallische Zustand bei Hinweise auf einen teils flüssigen, teils festen Monde des Sonnensys-
tems sind bei den Rie-
höheren Temperaturen sogar schneller erreicht als Kern ähnlich jenem der Erde, aber im Verhältnis
senplaneten Jupiter und
bei tiefen, da die Elektronen durch die thermische dazu kleiner. Saturn zu finden. Io zeigt
Energie in das Leitungsband (ÅAbbildung 4-38, Von der Chemie her sind einige Monde der eine ausgeprägte Schwe-
Seite 147) angeregt werden. Riesenplaneten wesentlich vielfältiger, allen vo- felchemie. Europa und
Enceladus sind Eismonde
ran die Jupitermonde Jo und Europa sowie die mit Anzeichen von Was-
Heißer Kern Saturnmonde Titan und Enceladus. Sie sind ne- serozeanen, und Titan ist
ben der Erde die interessantesten Orte des Son- Spezialist in Sachen Koh-
lenstoffverbindungen. Au-
Man geht davon aus, dass auch die Gasplaneten nesystems und zeigen uns, dass auch bei frostigen ßer Enceladus (5-fach ver-
über einen Kern aus ähnlichem Elementen wie Temperaturen „einiges los“ sein kann. größert) sind die Monde
und die Erde maßstäblich
11-23
dargestellt.
Gasplaneten. Die sichtbare Hülle der Gasplaneten besteht hauptsächlich aus molekularem Wasserstoff und aus Helium,
beim Neptun auch aus Methan. Sie geht unter dem starken Druck jenseits des kritischen Punktes langsam in den
461
überkritischen Fluidzustand über. Bei Überschreiten von ungefähr 450 GPa (4,5 Millionen Atmosphären) Druck wan-
delt sich Wasserstoff in eine metallische Hochdruckmodifikation um. Unterhalb dieser Schicht wird ein Kern von Gestein
und Nickel-Eisen vermutet.
KAPITEL 11 Kosmologie

Io – Wunderschöne Schwefelhölle Europa – Eis und Wasser

Io, der innerste der vier bereits von GALILEI Der zweite große Mond des Jupiter, Europa, ist
beobachteten Jupitermonde, zeigt neben Titan mit 3121 km Durchmesser nur wenig kleiner als
am eindrucksvollsten, wie stark sich eine Welt Io und hat mit 3,01 g / cm3 eine geringere Dichte.
von der Erde unterscheiden kann. Io ist von dem Er besitzt wie dieser eine gebundene Rotation
Element Schwefel und extremem Vulkanismus und umläuft Jupiter in knapp der doppelten Ent-
11-25 geprägt. Obwohl er eine gebundene Rotation fernung auf einer fast genau kreisförmigen Bahn.
S8. Schwefelatome schlie-
(ÅRandspalte) aufweist, führt die Einwirkung Teilweise erklärt sich aus diesen Unterschieden
ßen sich leicht zu Ringen
zusammen und bilden so des gewaltigen Mutterplaneten zusammen mit und den viel geringeren Gezeitenkräften, dass
zahlreiche unterschied- der leicht elliptischen Umlaufbahn dazu, dass im uns Europa ein völlig anderes Bild zeigt als Io.
liche Modifikationen.
Inneren des 3643,2 Kilometer durchmessenden Wassereis ist auf Europas Oberfläche der be-
Unter den Verhältnissen
auf Io sollten Ringe aus Himmelskörpers enorme Energien aufgrund von herrschende Stoff. Diese zeigt nur wenige große
acht Schwefelatomen eine Gezeitenkräften freigesetzt werden – im Ver- Einschlagkrater und keine größeren Erhebungen.
wichtige Komponente gleich zum Erdmond 1000-fach stärker. Infra- Nach der Anzahl der Einschläge kann man ein
bilden.
rotmessungen wiesen an der Oberfläche einzelne Alter von nicht mehr als 30 Mio. Jahren errech-
Hot Spots mit Temperaturen von bis zu 2000 °C nen. Man kann beobachten, dass bei Einschlä-
nach. Trotz einer durchschnittlichen Oberflä- gen weißes Material – sehr wahrscheinlich Eis
Gebundene Rotation chentemperatur von –143 °C findet sich auf Io – radial ausgeworfen wird. Die Krater selbst sind
Bei kleinen Himmelskör-r fast kein Wassereis. Man schließt daraus, dass Io mit Eis verfüllt. Die ganze Mondoberfläche ist
pern, die größere umkrei-
sen, sind Eigenrotation und
während seiner Entwicklung – möglicherweise, außerdem von auffälligen, in alle Richtungen
Umlaufperiode oft mitei- als er noch eine ungebundene Rotation besaß verlaufenden Furchen geringer Tiefe durchzogen,
nander gekoppelt, so dass – sehr heiße Phasen durchlebt hat, in denen die frappierend an Strukturen irdischer Eisfelder
der kleinere Himmelskörper
dem großen immer die
flüchtige Verbindungen entwichen sind. in Polarregionen erinnern. Gezeitenbedingte Be-
gleiche Seite zuwendet, wie Die relativ hohe Dichte von 3,56 g/cm3 weist wegungen könnten die Eiskruste immer wieder
dies auch beim irdischen auf das Vorhandensein eines Nickel-Eisen-Kerns aufbrechen lassen. Die beobachteten Strukturen
Mond der Fall ist.
hin. Darüber befindet sich Mantelgestein aus könnten durch Kryovulkane entstanden sein, bei
Silikaten mit signifikanten Anteilen von Schwe- denen Wasser die Rolle der Lava übernimmt,
felverbindungen und elementarem Schwefel. Die oder durch Geysire. Spektroskopische Untersu-
Oberfläche zeigt nur wenige Einschlagkrater, chungen konnten dort Salze nachweisen. Diese
denn sie wird durch die starke Vulkantätigkeit sind, möglicherweise durch Eisenverbindungen,
ständig umgestaltet, wie die Raumsonden Voya- rot gefärbt. Alle Hinweise sprechen dafür, dass
ger 1, Galileo und New Horizons eindrucksvoll die etwa 10 – 15 km dicke Eisschicht auf einem
dokumentierten. Charakteristisch sind farben- ca. 90 km dicken mondumspannenden Salzwas-
prächtige Calderen und Seen, gefüllt mit flüs- serozean schwimmt. Auch Messungen von Mag-
sigem Schwefel und Schwefelverbindungen. In netfeldern deuten auf eine leitfähige Flüssigkeit
gewaltigen Fontänen treten flüssiger und gas- unter dem Eis hin. Es ist nicht auszuschließen,
förmiger Schwefel sowie Schwefeldioxid mit dass sich in diesem Ozean eigenständige Lebens-
Geschwindigkeiten von bis zu 1000 Metern pro formen entwickeln konnten.
Sekunde aus und steigen wegen der nur ungefähr
ein Fünftel des irdischen Wertes betragenden Enceladus – Der Ringmacher
Schwerkraft bis zu 330 km hoch. In den aus-
gestoßenen Gasen wurden spektroskopisch S2- Auch einer der kleineren Monde des Saturn, der
Moleküle nachgewiesen, also Paare von Schwe- nur 504 Kilometer durchmessende Eismond En-
felatomen. Wenn diese auf der kalten Oberfläche celadus, dem Jupitermond Europa nicht unähn-
niedergehen, gruppieren sich die Schwefelatome lich, kommt als mögliche Brutstätte von Leben
möglicherweise zu S3- und S4-Ringen, die für die in Betracht. Auf Wasser bzw. Eis als wesentlichen
beobachteten rötlichen Färbungen verantwort- Bestandteil weist auch schon seine durchschnitt-
lich sein können. Langfristig kommt es aber liche Dichte von nur 1,61 g / cm3 hin. Im Inneren
zur Umlagerung in die energetisch stabilsten S8- wird silikatisches Mantelgestein angenommen.
Ringe, die die typische blassgelbe Schwefelfarbe Der Mond ist mit einer Rückstrahlung (Albedo)
verursachen. von 0,99 Prozent der weißeste natürliche Körper

462
Erde, Wasser, Luft und Feuer

im Sonnensystem. Seine Oberfläche ist von auf- gasförmiges Methan, ferner Argon und geringe
fälligen „Tigerstreifen“ durchzogen, die mehrere Mengen anderer Substanzen wie z. B. Ethan, Pro-
hundert Meter tiefen Spalten entsprechen. Ei- pan, Ethin, Kohlendioxid, Helium und Wasser
gentlich liegt die Temperatur im Saturn-System sowie Cyanwasserstoff (Blausäuregas). Nur freier
wegen der größeren Sonnenentfernung noch Sauerstoff ist praktisch überhaupt nicht vorhan-
deutlich unter der beim Jupiter, und die hohe Al- den. Abgesehen von der Blausäure könnte man
bedo tut ein Übriges, Enceladus mit nur 73 Kel- die Titanatmosphäre wahrscheinlich unbeschadet
vin (ca. –200 °C) zu einem sehr frostigen Ort zu atmen, wäre nur Sauerstoff vorhanden. Sogar
machen. In der Südpolarregion besitzt Enceladus ein regelrechtes Wettergeschehen gibt es auf dem
aber einen besonders aktiven Hot Spot, der in Mond. Nur nehmen die Stoffe wegen der ext-

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


seiner Temperatur etwa 25 Grad Celsius über rem tiefen Temperatur andere Rollen ein als auf
der Umgebung liegt und geysirartige Auswürfe der Erde. Aus Wolken von Ethanpartikeln und
bis ca. 500 Kilometer Höhe erzeugt. Noch gibt Methantröpfchen regnet nicht Wasser (H2O),
es keine Erklärung für eine Energiequelle, die sondern Methan (CH4) auf die Landschaften des
ausreichend wäre, die Ausbrüche zu verursachen Titan, das Flüsse bildet, die Oberfläche erodiert
und eventuell sogar Eis zu schmelzen. Weder ra- und sich in Seen sammelt. Wassereis (H2O) ist bei 11-26
dioaktive Elemente noch Gezeitenreibung sollten diesen Temperaturen so hart wie Fels oder Sand Molekülhäufigkeiten. Vor-
kommen von Molekülen
hierfür ausreichen. Die vom Südpol des Eismon- (SiO2) auf der Erde. Dieses „Gestein“ aus Was- in einer Ausbruchsfontäne
des austretenden Stoffe bilden sogar einen der Sa- sereis und Methanhydrat bildet die Kruste um des Saturnmonds Encela-
turnringe (den schwachen E-Ring) und schlagen einen Kern aus Silikatgestein. Inzwischen wurden dus. Aufgenommen mit
einem Ionen- und Neu-
sich als aufhellende Komponenten auf anderen von der Sonde Cassini sogar Strukturen entdeckt, tral-Massenspektrometer
Monden des Saturn-Systems nieder. Bei einem die man für Eisvulkane hält. Da Titan im Inne- an Bord der Cassini-
direkten Durchflug analysierte die Sonde Cassini ren wärmer ist, besteht die Möglichkeit, dass Raumsonde am 26. März
2008 (NASA)
das unerwartet dichte Material direkt mit einem sich zwischen dem Silikatkern und der äußeren
Massenspektrometer (ÅAbbildung 11-26). Was Kruste auch Sphären flüssigen Wassers befinden.
vielleicht am meisten auffällt, ist die Häufigkeit Die stark strukturierte Oberfläche deutet auch
komplexerer organischer Moleküle und deren auf anhaltende geologische Aktivität mit tekto-
Fragmente in der Auswurfwolke (Plume). nischen Hebungen ähnlich wie bei der Erde hin.
Die Atmosphäre des Titan ist viel ausgedehnter
Titan – Seenlandschaft einmal anders und dichter als die der Erde und reicht weit in den
Weltraum hinaus. An ihrem oberen Rand spielen
Es gibt einen anderen Ort im Sonnensystem, an sich unter dem Einfluss von Sonnenwind und
dem man noch ungleich mehr organische Ver- UV-Strahlung komplexe chemische Prozesse ab.
bindungen antrifft. Bereits seit Mitte des vorigen Aus Methan und Stickstoff entsteht eine Vielfalt
Jahrhunderts war aus spektroskopischen Unter- komplexer organischer Moleküle und Polymere,
suchungen klar, dass der Saturnmond Titan Me- die als Tholine bezeichnet werden und den oran-
than enthalten muss. Er besitzt eine Dichte von gefarbigen Dunst verursachen, der Titan umgibt.
1,88 g / cm3 und ist mit 5150 Kilometern Durch- Tholine wurden in geringeren Konzentrationen
messer größer als der Planet Merkur – so groß, auch auf Kometen und sogar in Staubscheiben
dass er seit seiner Entstehung im Inneren noch bei der Entstehung ferner Planetensysteme nach-
nicht völlig erkaltet ist und radioaktive Nuklide gewiesen. Möglicherweise hat man mit ihnen den
(Kalium-40) dazu beitragen, ihn warm zu halten. „primeval ooze“ gefunden, den „Urschlamm“,
Seit die extrem leistungsfähige Raumsonde Cas- aus dem unter ähnlichen Bedingungen die ersten
sini den Mond erforscht und im Jahr 2005 die Lebensformen der Erde entstanden sind (ÅDie
Landekapsel Huygens erfolgreich abgesetzt hat, Uratmosphäre, Seite 511). In der Tiefe des Ti-
wissen wir erstaunlich viele Details über Titan, tan könnten Tholine durch tektonische Prozesse
die wir hier aus Platzgründen längst nicht alle möglicherweise sogar mit flüssigem Wasser in
ansprechen können. Die Oberflächentemperatur Kontakt kommen. Es gibt aber noch eine viel
beträgt ca. 94 Kelvin, der Druck 1,5 Bar. Da- exotischere Möglichkeit: Die Entstehung von
mit liegt Methan hier in flüssiger Form vor. Die Leben auf Basis von Kohlenwasserstoffen und
Atmosphäre des Titan besteht zu 98,4 Prozent Stickstoffverbindungen, das überhaupt nicht von
aus Stickstoff. Dazu kommen ca. 1,6 Prozent Wasser abhängt, ist nicht völlig auszuschließen.

463
KAPITEL 11 Kosmologie

Sind alle Gesteinsplaneten und großen Monde kugelförmig?

Insbesondere bei Gesteinsplaneten kann man sich fragen, wa- als 300 km haben, sollten demnach ungefähr kugelförmig sein.
rum sie eigentlich alle nahezu kugelförmig sind. Könnten sie Entsprechendes würde für Kometen schon bei 30 km gelten.
nicht eine völlig unregelmäßige Form haben, wie man es von Dies sind jedoch nur grobe Abschätzungen. Selbstverständlich
beliebigen Gesteinsbrocken auf der Erde kennt, oder etwa die können auch kleinere Himmelskörper bereits Kugelgestalt an-
Form von Kristallen, in der sich Atome in Festkörpern anord- nehmen, wenn sie nicht aus kompaktem Material bestehen,
nen (ÅKristalle und Kristallgitter, Seite 153). Die Antwort sondern etwa lose Schuttansammlungen sind. Auch eine hohe
hängt eng mit den unterschiedlichen Stärken der elektrischen Porosität kann die Berechnung wegen der geringeren Dichte und
Bindungskräfte (Kohäsionskräfte) zwischen den Teilchen der der veränderten Zugfestigkeit des Materials beeinflussen. Die
Materie einerseits und der Gravitationskraft andererseits zu- Betrachtung zeigt aber doch, dass es selbst aus besten Edelstahl
sammen. Bindungskräfte sind auf kurze Distanzen viel stärker, unmöglich wäre, einen mehrere hundert Kilometer großen
auf etwas größere Distanzen betrachtet jedoch viel schwächer massiven Würfel herzustellen.
als die Gravitation. Anzumerken ist, dass die Gravitation stets Die astronomischen Beobachtungen stimmen mit diesen Ab-
anziehend wirkt, während sich die anziehende und die ab- schätzungen gut überein. So haben kleinere Asteroiden gewöhn-
stoßende Wirkung elektrischer Plus- und Minusladungen auf lich eine unregelmäßige Form. Alle als Zwergplaneten klassifi-
große Distanzen im Mittel ausgleichen. Körper bestehen ja stets zierten Objekte (z.B. Ceres) von mehreren hundert Kilometern
aus nahezu gleichen Anzahlen positiv und negativ geladener Durchmesser sowie die großen Monde des Sonnensystems ha-
Elementarteilchen. ben schon nahezu Kugelform. Die größeren Gesteins-Asteroiden
Ein im Weltraum schwebender Salzkristall von einigen hingegen (z. B. Vesta, Pallas, Juno) weichen schon merklich von
Zentimetern Kantenlänge würde daher seine Würfelform beibe- der Kugelform ab. Kleinere Asteroiden und Monde mit unter
halten. Hätte er aber Planetengröße, so würde die bei der hohen hundert Kilometern Durchmesser, wie die Marsmonde Phobos
Masse viel stärkere Gravitation alle Bindungskräfte überwiegen und Deimos, besitzen recht irreguläre Formen.
und eine Kugelform bewirken.
Man kann die Größe eines Körpers abschätzen, bei der die
Gravitationskraft gegenüber der Kohäsion das Übergewicht er- r
11-27
langt. Bei einer angenommenen Dichte ρ erhält man folgendem Unregelmäßige Körper.
Ausdruck für den Grenzradius R, bei dessen Überschreitung die Der Saturnmond Hyperion
Gravitationskraft G die Bindungskräfte, repräsentiert durch die sollte bei einem mittleren
Radius von ca. 300 km ei-
Zugfestigkeit Z, überwiegen: gentlich ungefähr kugelför- r
mig sein. Seine irreguläre
R = ( Z / (G· ρ2))0,5 Gestalt kann er beibehal-
ten, weil er wegen des ex-
Dieser Radius ist astronomisch vor allem für das Gestein von trem porösen Aufbaus eine
Planeten von Interesse, aber auch für Wassereis, das einen Be-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

sehr geringe Dichte von


standteil von Kometen und vieler Planeten und von Monden im nur 0,544 g / cm3 hat. Bild
der Cassini-Raumsonde
äußeren Planetensystem darstellt. Die Formel führt bei realisti- vom 26. September 2005
schen Annahmen für Dichte und Zugfestigkeit von Gestein zu (NASA)
einem Grenzradius von ca. 150 km, beim Eis von etwa 15 km.
Alle Planeten und Asteroiden, die einen größeren Durchmesser

Von Fall zu Fall ...


schätzt, dass täglich Meteoriten mit einer Ge-
Von Meteoriten und von Meteoren, die in der samtmasse in der Größenordnung 1000 kg nie-
Atmosphäre durch die Reibungshitze vollstän- dergehen. Etwa fünfmal so viel entfallen auf
dig als Sternschnuppen verglühen, war bereits sichtbare Sternschnuppen im Größenbereich
früher in diesem Kapitel die Rede. Sie erzeugen von 1 – 10 Millimetern. Hinzu kommen ca.
durch Ionisation ihrer verdampften Bestandteile 20 000 kg nur im Mikroskop sichtbarer Mete-
und von Luftmolekülen eine Plasmaspur, in der ore im Submillimeterbereich. Der Löwenanteil
auf niedrigere Energieniveaus zurückfallende an außerirdischem Material erreicht uns aber
Elektronen fast sekundenlang nachleuchten. in Form von Mikrometeoriten, die mit Grö-
Bereits Objekte von Reiskorngröße können ßen im Bereich von tausendstel Millimetern so
zu gut sichtbaren Leuchtspuren führen. Man klein sind, dass sie weitgehend unbeschädigt

464
Erde, Wasser, Luft und Feuer

durch die Atmosphäre gelangen. Schätzungen Steinmeteorite


gehen hier von 1000 bis 10 000 Tonnen pro Tag
aus. Insbesondere sie, aber auch herabgestürzte Diese große Mehrheit (über 94 Prozent) der
größere Meteoriten, lassen sich am besten auf Besucher aus dem All sind vornehmlich durch
dem Eisschild der Antarktis identifizieren. Ob- mineralische Anteile charakterisiert. Man nimmt
wohl ein solcher Masseneintrag ganz beträcht- an, dass die chemische Zusammensetzung der

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


lich erscheint, würde er bei heutiger Intensität Chondrite etwa den Verhältnissen im solaren
hochgerechnet auf die ganze Erdgeschichte nur Urnebel entspricht, wenn man von leicht flüch-
1 / 350 000 der Erdmasse ausmachen – aber tigen Elementen (Alkalimetallen, Edelgasen)
natürlich sehen wir nur die schwachen Reste einmal absieht. Sie sind somit eine Art kosmi-
eines Bombardements, das die junge Erde in scher Sedimentgesteine aus einer Zeit vor fast 11-28
den ersten paar hundert Millionen Jahren ihrer fünf Milliarden Jahren. Häufig bestehen sie aus Eisenmeteorit mit Wid-
Existenz ungleich stärker getroffen hatte. Silikat-Mineralgruppen, die wir bereits von der manstättenschen Struk-
turen. Beim Anätzen ent-
Nach ihrer chemischen Zusammensetzung Erde her kennen: zum Beispiel aus Pyroxenen stehen charakteristische
werden Meteoriten primär eingeteilt in Ei- (Kettensilikaten), Olivinen (magnesium- und Band- und Balkenstruktu-
senmeteoriten und in die große Mehrheit der eisenhaltigen Inselsilikaten) und Plagioklasen ren, die so nicht künstlich
erzeugt werden können.
Steinmeteoriten sowie die Mischform der Stein- (aus Gerüstsilikaten mit Natrium-, Aluminium-
Eisen-Meteoriten. und Calciumanteilen). Kleine bis mittelgroße
Steinmeteoriten zerbrechen sehr oft in der At-
mosphäre und erreichen die Erdoberfläche in Kometen
mehreren Bruchstücken. Fast alle Steinmeteorite Körper im Sonnensystem,
Eisenmeteorite die flüchtige Stoffe (Was-
(86 Prozent aller Meteoriten) gehören zu den ser) enthalten und in Son-
Nur etwa 5 Prozent aller Meteoriten sind Ei- Chondriten, benannt nach für sie typischen, als nennähe Schweife entwi-
senmeteorite. Sie bestehen größtenteils aus Chondren bezeichneten rundlichen Silikatein- ckeln können.
Eisen-Nickel-Legierungen, wie sie auch für den schlüssen im Gefüge.
Asteroide
Erdkern angenommen werden. Außen sind sie Gesteinskörper, die ge-
von einer oxidierten Kruste mit grauschwar- Kohlige Chondrite häuft zwischen der Mars-
und der Jupiterbahn auf-
zer Färbung umgeben. Sägt man sie auf, so
treten
zeigt sich ein einheitliches grau-silbernes Ge- Eine spezielle Unterklasse der Steinmeteorite
füge, das bei Anätzen mit methanolhaltiger Sal- ist für Wissenschaftler von besonderem Inter- Meteoroide
petersäure weitere Geheimnisse preisgibt. Es esse. Sie werden wegen ihres Anteils von bis zu Kleinkörper bis einige Me-
ter Größe, die zu Mete-
treten auffällig unterschiedliche mineralische 3 Massenprozent Kohlenstoff und ihrer daraus oren oder Meteoriten
Anteile in den für Meteoriteneisen typischen oft resultierenden dunklen Färbung als „kohlige werden können.
Widmanstättenschen Strukturen (ÅAbbildung Chondrite“ bezeichnet. Kohlenstoff kommt darin
Meteore
11-28) zutage. Die helleren, bandförmig aus- nicht nur elementar als Graphit und anorga- Meteoroide, die in die At-
gebildeten Strukturen bestehen aus Taenit, ei- nisch als Carbonat vor, sondern es konnten auch mosphäre eindringen und
ner (je nach Nickelgehalt) unterhalb von ca. zahlreiche organische Verbindungen bis hin zu verglühen.
900 – 1400 °C im kubischen System (ÅKristalle Aminosäuren nachgewiesen werden. Damit ist Meteorite
und Kristallgitter, Seite 153) kristallisierenden nicht mehr auszuschließen, dass Grundbausteine Meteoroide, die nicht voll-
Eisen-Nickel-Legierung (20 – 50 Prozent Nickel- des Lebens auch von außen auf die junge Erde ständig verglühen, son-
dern die Erdoberfläche er-
anteil), die auch als Gamma-(Fe,Ni) bezeichnet gekommen sind (Panspermie), wenngleich diese reichen.
wird. Zwischen den Taenit-Kristallen findet selbst genügend Gelegenheit für deren Bildung
sich die als Kamacit bezeichnete Eisen-Varietät gehabt haben dürfte (ÅDie Ursuppe und das Mikrometeorite
Gehen wegen ihrer gerin-
(Alpha-(Fe,Ni), 4 – 7,5 Prozent Nickelanteil) Miller-Urey-Experiment, Seite 512).
gen Masse ohne Beein-
in Form dunkelgrauer tafelförmiger Kristalle, Man geht davon aus, dass einige Typen von trächtigung nieder.
die im Anschliff balkenförmig aussehen. Diese kohligen Chondriten mit besonders hohen Was-
bilden sich aus dem Taenit bei extrem langsamer sergehalten (bis zu 20 Prozent) aus dem äußeren
Abkühlung (nur ca. 1 – 100 °C pro 1 Million Sonnensystem stammen. Dort haben sie sich mög-
Jahre!) durch Umlagerungen in der festen Phase licherweise seit der Zeit der präsolaren Wolke wie
bei 450 – 750 °C. Der größte je gefundene Eisen- in einer Gefriertruhe weitgehend unverändert er-
Eintrittsgeschwindigkeit
meteorit ist mit 55 Tonnen der Hoba-Meteorit. halten. Neben den namensgebenden silikatischen von Meteoroiden
Er schlug vor ca. 80 000 Jahren in Namibia ein. Chondren, die sogar fehlen können, kommen in ca. 11 – 72 km/s

465
KAPITEL 11 Kosmologie

diesen Meteoriten sogenannte CAIs (Calcium- artigen Schicksalen, die sie inzwischen durch-
Aluminium Intrusions) als Einschlüsse vor, deren laufen haben.
Alter über die Uran-Blei-Datierung sehr genau auf Zwischen den Umlaufbahnen der Gesteinspla-
4,5672±0,6 Milliarden Jahre bestimmt wurde. Da- neten und denen der Gasplaneten, die wesentlich
mit wären dies die ältesten mineralischen Feststoffe weiter außen ihre Bahn ziehen, erstreckt sich eine
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
des Sonnensystems. Doch damit nicht genug: In merkliche Lücke. Diese ist aber keineswegs völlig
diesen Meteoriten und insbesondere eingeschlos- leer. Hier existiert ein Ring von Gesteinsbrocken,
sen in den CAIs fand man Kristalle, die allem An- die es offenbar nie bis zu einem zusätzlichen
schein nach aus noch früherer Zeit stammen. Bei Planeten gebracht haben, nämlich der Asteroiden-
dieser wahrscheinlich präsolaren Materie handelt gürtel oder Planetoidengürtel. Auch die Gesamt-
es sich um Sternenstaub, bestehend z.B. aus nano- masse der Asteroiden würde allenfalls zu einem
11-29 metergroßen Diamanten und anderen sehr stabilen ansehnlichen Mond reichen, nicht aber für einen
Kohliger Chondrit. Diese
Meteoriten enthalten
Verbindungen wie Siliciumcarbid, Siliciumnitrid, richtigen Planeten. Seit der Entdeckung des ers-
Kohlenstoff und organi- Titancarbid und Korund. Sie könnten am Ende des ten die Marsbahn kreuzenden Planetoiden Eros
sche Verbindungen wie Lebens früher existierender Roter Riesensterne in im Jahre 1898 durch den Berliner Astronomen
Aminosäuren (Bild: Mario
jener großen Staub- und Molekülwolke entstanden GUSTATAV WITT (1866 – 1946) weiß man, dass einige
Müller).
sein, die nach gängiger Theorie durch die Druck- solcher Brocken auch im inneren Sonnensystem
wellen naher Supernova-Explosionen kollabiert auftauchen können. Im Jahre 1932 entdeckte
ist und dabei schließlich zur Bildung des Sonnen- der Heidelberger Astronom KARL WILHELM
systems geführt hat. REINMUTH (1892 – 1979) mit Apollo den ersten
der Planetoiden, die die Erdbahn kreuzen. Seine
Woher kommen die Einschläge? Bahn konnte erst bei der Wiederentdeckung 1973
näher bestimmt werden. Er kommt der Erde bis
Im Sonnensystem findet man mehrere Klassen 22 Mio. km nahe, der Venus bis auf 11 Mio. km.
von Objekten, die man ähnlich wie die kohligen Einem Computermodell zufolge soll übrigens
Chondrite für Überbleibsel aus der Entstehungs- der Zusammenstoß eines ca. 60 km großen As-
zeit derPlaneten hält. Ihre Verschiedenheit ver- teroiden mit dem damals 170-km-Asteroiden
danken sie den Bedingungen in den unterschied- Baptistina im inneren Bereich des Gürtels vor
lichen Regionen der Staub-Akkretionsscheibe, in 160 Millionen Jahren die Ursache für ein Bombar- r
denen sie entstanden sind, und den verschieden- dement sein, das noch heute mit 86 Prozent Anteil
verantwortlich für die allermeisten Einschläge von
Meteoriten auf der Erde ist. Zu diesen Chondri-
ten, die eine sehr typische chemische Zusammen-
setzung aufweisen, gehörte wahrscheinlich auch
der Brocken, der von 65 Mio. Jahren den berühm-
ten Chicxulub-Krater auf der Yucatán-Halbinsel
verursachte. Möglicherweise in Kombination mit
weiteren Einschlägen soll er den Sauriern auf un-
serem Planeten den Todesstoß versetzt und damit
das Zeitalter der Säugetiere eingeläutet haben.
Von den Meteoriten, die auf der Erde nie-
dergehen, konnte man bei einem kleinen Teil
nachweisen, dass sie vom Mond bzw. vom Mars
stammen. Offenbar können heftigere Einschläge
auf diesen Himmelskörpern Teile der planetaren
11-30
Kuiper-Gürtel und Oortsche Wolke. Aus Bahnneigungen
sowie beobachteten Häufigkeiten und der Wahrschein-
lichkeit naher Begegnungen, bei denen Objekte ins
innere Sonnensystem gelenkt werden können, lässt sich
als Herkunftszone mittelperiodischer Kometen auf ein
ringförmiges Kometen„reservoir“ außerhalb der Nep-
tunbahn schließen (Kuiper-Gürtel, orange). Außer Pluto
wurden inzwischen zahlreiche KBOs (Kuiper Belt Objects)
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entdeckt. Ähnliche Berechnungen für langperiodische


Kometen lassen auf eine ungefähr kugelförmige Wolke
(Oortsche Wolke, blau) in ca. 100 000 AE (bis zu 1 Licht-
466 jahr) Entfernung von der Sonne mit bis zu einer Billion
Objekten schließen.
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Kruste auf die jeweilige Entweichgeschwindig- Kometen besitzen oft deutlich stärker exzentri-
keit beschleunigen. Millionen Jahre später kön- sche Bahnellipsen als Asteroiden. Ein gewisser
nen diese interplanetaren Wandergesellen dann Anteil, als aperiodische Kometen bezeichnet,
von der Erde eingefangen worden sein. folgt offenbar sogar Parabel- oder Hyperbel-
bahnen und wird deshalb kein zweites Mal er-
Kometen scheinen. Die Heimstatt der Kometen mit Um-
laufzeiten von unter 200 Jahren ist entsprechen-
Immer wieder tauchen im inneren Sonnensys- den Bahnberechnungen zufolge in den eisigen
tem auch andere Typen von Himmelskörpern Regionen jenseits der Neptunbahn zu suchen.
auf, die Kometen (ÅAbbildung 11-30). Dort befindet sich ein torusförmiger Bereich, in
Zweifellos gehören helle Kometen zum ein- dem inzwischen sehr viele Objekte nachgewiesen
drucksvollsten, was der Himmel dem Beobachter werden konnten, die z. T. sogar die Größe von
mit bloßem Auge zu bieten hat. Wer das Glück Kleinplaneten erreichen können. Zu ihnen wird
hatte, einen dieser Vagabunden des Himmels zu auch der früher als Planet angesehene Pluto ge-
sehen, wird das Schauspiel nie wieder vergessen. rechnet. Andere bekannte Kuiper-Belt-Objekte
Im Frühling des Jahres 1997 konnte man mo- (KBOs) sind z. B. Sedna und Eris.
natelang den wahrscheinlich meistbeobachteten Die Bahnen langperiodiger Kometen, die auf
Kometen des zwanzigsten Jahrhunderts, Hale- ihren extrem exzentrischen Umläufen nur sehr
Bopp, bewundern. Er erreichte eine Helligkeit, selten ins innere Sonnensystem gelangen, liegen
die Astronomen als – 1 mag bezeichnen. Er er- nicht vorzugsweise nahe der Ekliptikebene.
schien fast so hell wie der hellste Stern Sirius am In sehr großer Entfernung von der Sonne ver-
Nordhimmel und mit einem Schweif, der sich mutet man daher eine ungefähr kugelförmige
über 30 – 40° des Himmelsgewölbes verfolgen Oortsche Wolke (ÅAbbildung 11-30) als Her-
ließ. Oder genauer gesagt, mit zwei Schweifen, kunftsgebiet. Sie könnte durchaus bis zu einem
einem blauen, geraden Gasschweif und einem Viertel der Entfernung zum sonnennächsten
gelblichen, gekrümmten Staubschweif. Und da- Stern Proxima Centauri (Entfernung: 4,3 Licht-
mit sind wir auch schon bei der Struktur und der jahre) reichen und aus Billionen von Objekten
Zusammensetzung von Kometen. unterschiedlicher Größe bestehen.
Kometen werden oft als „schmutzige Schnee-
bälle“ tituliert, obwohl sie nach neueren Er-
kenntnissen vielleicht eher „eisige Schmutzbälle“ Sterne und Sternentwicklung
genannt werden sollten. Sie kommen aus den
Außenbezirken des Sonnensystems und werden Über die Kinderstuben schwerer Atome
allgemein als relativ authentische Überbleibsel
aus der Entstehungszeit des Sonnensystems an- Falls Sie einmal das Glück haben, in einer klaren
gesehen. Ihre Zusammensetzung sollte deshalb in Sommernacht über die Alpen nach Italien unter- r
etwa die der solaren Urwolke widerspiegeln, aus wegs zu sein, dann nehmen Sie am besten nicht
der die Planeten vor etwa 4,7 Milliarden Jahren die bequeme Abkürzung durch einen der Tunnels.
entstanden sind. (Hieran sind in neuester Zeit al- Fahren Sie stattdessen den kleinen Umweg und
lerdings wieder Zweifel aufgekommen, nachdem folgen einer der alten Passstraßen hinauf. Machen
man in Kometenstaub auch Material fand, wie Sie Rast an einem abgelegenen Platz, fernab von
es eigentlich für Meteoriten charakteristisch ist.) unseren lichtdurchfluteten Städten, und betrach- Parsec
In der Astronomie übliches
Am 15.1.2006 kehrte ein kleines Raumfahr- ten Sie das Sternenmeer, wie es unsere Vorfahren Entfernungsmaß. Es ist
zeug von nur 45 kg Masse nach einer siebenjäh- noch von fast überall aus sehen konnten. Doch die Entfernung, aus der
rigen und 4,5 Milliarden Kilometer weiten Reise so unglaublich es angesichts des Gefunkels auch betrachtet die Entfernung
Erde–Sonne (1 AU =
durch das Sonnensystem auf die Erde zurück und klingt, Sie erkennen selbst unter diesen optimalen
150 Millionen Kilometer)
landete wohlbehalten in der Wüste von Utah. Es Bedingungen kaum mehr als etwa 2000 Einzels- unter einem Sehwinkel
war die Landekapsel der Stardust-Mission. An terne. Noch einmal so viele befinden sich natür- von 1 Bogensekunde
Bord: Proben der Materie aus der Gashülle (die lich am Taghimmel. Praktisch alle diese Sterne (1/3600 Grad) erschei-
nen würde. Ein Parsec
Koma) des Kometen Wild 2, die bei einem Flug sind Nachbarn der Sonne und liegen in einem entspricht damit 3,262
durch die Koma gewonnen worden waren. Umkreis von wenigen tausend Lichtjahren. Lichtjahren).

467
KAPITEL 11 Kosmologie

Scheinbare Helligkeit bläulich gefärbten Stern Rigel. Auf Aufnahmen


Spektralklassen kann man die Farbe übrigens besonders deutlich
Die scheinbare Helligkeit, mit der wir Gestirne erkennen, wenn die Optik absichtlich etwas
Spektralklasse O am Himmel wahrnehmen , bezeichnen die unscharf eingestellt wird, da das Abbild des
O-Sterne zeigen in ihrem Spek- Astronomen als Magnitude. Dieses Maß geht Sterns dann eine größere Fläche im Bildsensor
trum vielfach sowohl Emissi-
ons- als auch Absorptionslinien
auf die griechischen Astronomen HIPPA P RCHOS einnimmt. Die Farbe eines Sternes entspricht
mehrfach ionisierter Atome, VON NICÄA (um 190 – 120 v. Chr.) und CLAUDIUS der Wirkung des Lichts unterschiedlicher Wel-
hauptsächlich die des ionisierten PTOLEMÄUS (um 100 – um 175) zurück, nach de- lenlängen, das uns von dort erreicht. In guter
Heliums. Beispiel: theta Orionis
nen die hellsten Sterne als solche erster Größe Näherung lässt sich hier das Plancksche Strah-
Spektralklasse B und die schwächsten, gerade noch erkennbaren lungsgesetz anwenden. Allerdings ist dieser als
B-Sterne besitzen in ihrem Spek- als solche sechster Größe bezeichnet wurden. In- Kontinuum bezeichnete, nur von der Oberflä-
trum ein Intensitätsmaximum zwischen legte man diesen Helligkeitsunterschied chentemperatur abhängige Anteil überlagert
der Linien des neutralen Heli-
ums bei der Unterklasse B2; mit auf exakt den Faktor 100 fest. Eine der fünf Stu- von charakteristischen Linienspektren, die uns
abnehmender Effektivtempera- fen zwischen erster und sechster Magnitude ent- von jedem Stern einen Fingerabdruck frei Haus
tur sinkt die Intensität der He- spricht also jeweils einem Faktor von ca. 2,5 (ge- liefern. Leuchtende Gase und Plasmen an der
liumlinien, und die der Wasser-
stofflinien gewinnt an Gewicht. nau genommen der fünften Wurzel aus 100). Mit Oberfläche ergeben helle Emissionslinien. Plas-
Beispiel: epsilon Orionis Teleskopen, insbesondere aber auf Fotografien men oder Gaswolken zwischen dem Stern und
bei Anwendung langer Belichtungszeiten, sieht uns hingegen absorbieren einen Teil des Lichts
Spektralklasse A
A-Sterne zeigen in ihrem Spek- man natürlich auch wesentlich lichtschwächere und erzeugen dunkle Linien (Fraunhofersche
trum intensivste Wasserstoff- Objekte. Bei Langzeitaufnahmen des Hubble- Linien).
linien; die maximale Intensität Teleskops wurden etwa 29 Magnituden (29 mag) Astronomen nutzen die Spektren (ÅErlaubte
liegt bei den Unterklassen A2–
A3, ferner treten schwache Li-
erreicht. Objekte, die wesentlich heller sind als Bahnen, Seite 125) der Sterne, um sie in Spek-
nien ionisierter Metalle (Calcium Sterne erster Größe, haben negative Magnituden tralklassen (Spektraltypen) einzuteilen. Nahezu
II) auf. Beispiel: alpha Canis (z. B. der Mond mit –12,7 mag). alle Sterne fallen in die Klassen M, K, G, F, A, B,
majoris (Sirius alpha)
O mit in dieser Folge ansteigender Oberflächen-
Spektralklasse F Absolute Helligkeit von Sternen temperatur. Gelegentlich werden unterhalb von
F-Sterne zeigen in ihrem Spek- M noch die Klassen R und N verwendet. Ein un-
trum ausgeprägte H- und K-
Natürlich hängt die scheinbare Helligkeit auch ter Astronomiestudenten beliebter Merksatz für
Linien des Calciums. Beispiel:
delta Aquilae von der Entfernung einer Lichtquelle ab. Viel die Reihenfolge des Spektralklassen ist: Oh, Be
aussagekräftiger ist deshalb die absolute Hel- A Fine Girl, Kiss Me Right Now (ÅRandspalte).
Spektralklasse G ligkeit eines Sterns. Sie ist definiert als die Mag- Diese Einteilung jedoch folgt absteigender
G-Sterne zeigen in ihrem Spek-
trum wie beim Spektrum un- nitude, die ein Beobachter in 32,62 Lichtjahren Photosphärentemperatur, genauere Unterschei-
serer eigenen Sonne sehr aus- (10 Parsec) Entfernung wahrnehmen würde. dungen sind über die Spektren möglich. Sie wer-
geprägte H- und K-Linien des den dezimal in Unterklassen eingeteilt, also z. B.
Calciums. Daneben treten Linien
neutraler Metallatome (haupt- Masse – Temperatur – Farbe B0 (= B), B1, B2, ..., B9.
sächlich Eisen) auf. Beispiel:
Sonne Schon mit bloßem Auge lässt sich bei sehr hellen Die Umgebung der Sonne
Spektralklasse K
Sternen erkennen, dass sie unterschiedliche Far-
K-Sterne zeigen in ihrem ben besitzen. Am Winterhimmel beeindrucken Es gibt Hinweise darauf, dass vor rund fünf
Spektrum starke Metalllinien, die rötlichen Sterne Aldebaran im Sternbild Milliarden Jahren zusammen mit unserer Sonne
auch Molekülbanden treten in
Erscheinung. Die Intensität des
Stier sowie Beteigeuze, der hellere Schulterstern im selben kosmischen Kreißsaal Hunderte von
violetten Spektralbereichs tritt im Orion. Als Fuß des Orion, der Beteigeuze Schwestersternen geboren wurden, die sich aber
gegenüber dem roten Bereich diagonal gegenüber, finden wir den deutlich inzwischen weit in der Galaxis verteilt haben.
allmählich zurück. Beispiel: al-
Die nächsten Nachbarsterne zur Sonne bilden
pha Bootis (Arktur)
heute das 4,34 Lichtjahre entfernte Doppel-
Spektralklasse M sternsystem Alpha-Centauri A und B und der
M-Sterne zeigen in ihrem
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mit 4,22 Lichtjahren noch etwas näher liegende


Spektrum deutliche Molekül-
banden, z. B. von Metalloxiden, sehr leuchtschwache rote Zwergstern Proxima
hauptsächlich von Titanoxid. Centauri. Er ist etwa 0,2 Lichtjahre von dem
Der violette Spektralbereich tritt Doppelstern-System entfernt und wahrschein-
gegenüber roten Bereich stark
zurück. Beispiel: alpha Orionis lich gravitativ schwach daran gebunden. Unter
(Beteigeuze). den Sternen ist die Sonne ein sehr durchschnitt-
11-31
Helligkeit. Die relative Helligkeit eines passiv oder aktiv
leuchtenden astronomischen Objekts nimmt mit dem
468 Quadrat der Entfernung ab.
Erde, Wasser, Luft und Feuer

liches Exemplar. Sie gehört zusammen mit allen


anderen am Nachthimmel sichtbaren Sternen
zu einem Sternensystem, das wir „Milchstraße“
oder einfach „Galaxis“ nennen, und umkreist
dessen Zentrum einmal in etwa 200 Millionen
Jahren.

Wie die Atome in die Welt kamen

Die Materie, die wir im Universum direkt be-


obachten können, kommt größtenteils in Form
von interstellarem Staub und von Gaswolken
sowie von Sternen vor. Letztere machen etwa ein
Drittel der Masse aus. Für das Thema unseres
Buches haben Sterne aber eine viel grundlegen-
dere Bedeutung, als dieser Massenanteil allein
vermuten lässt.
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Das Schauspiel der Bildung der Atome (die


Nukleosynthese) besteht aus zwei getrennten
Akten. Dessen erster wird als primordiale Ele-
mentsynthese bezeichnet und war schon eine
halbe Stunde nach Entstehung des Universums
abgeschlossen. Er endete mit einem Universum,
dessen normale Materie zu etwa neunzig Massen- 11-32
prozent aus Wasserstoff und zu etwa zehn Mas- Hertzsprung-Russel-Diagramm. Das HRD ist ein zentrales Diagramm der Astronomie. In
senprozent aus Helium bestand. Dieses Thema ihm werden Sterne nach Leuchtkraft und Spektralklasse eingeordnet. Man erkennt von
links oben nach rechts unten die sogenannte Hauptreihe, in der normale Sterne den größ-
wird uns gegen Ende dieses Kapitels eingehender ten Teil ihres Lebenszyklus verbringen, je nach ihrer Masse mehr im leuchtkräftigen blauen
beschäftigen. oder im schwachen roten Bereich. Im Laufe ihrer Lebensstadien durchwandern einzelne
Der zweite Akt aber dauert bis heute an. Wie Sterne unterschiedliche Bereiche des HRD. Kurz andauernde Entwicklungsstadien sind ent-
sprechend dünn besetzt. Einige Nachbarsterne der Sonne sind individuell eingezeichnet.
ein Buchtitel zu diesem Thema es ausdrückte,
kann man sagen: „Die Schöpfung ist noch nicht des vorigen Jahrhunderts heraus, dass es ohne
zu Ende...“. Getreu unserem Vorgehen vom mehr Sterne als Brutöfen überhaupt keine Elemente
oder weniger direkt Beobachtbaren hin zum Ent- schwerer als Helium geben würde. Alle für
fernteren, wollen wir uns zunächst mit diesen Lebewesen wichtigen Elemente würden ebenso
11-33
noch heute ablaufenden Prozessen befassen. fehlen wie die Hauptbestandteile der Erde. Wa-
Größenvergleich von
rum das so ist, und wie das Leben und Sterben Sternen. Diese Grafik zeigt
Elementsynthese in Sternen der Sterne aus dem Urmaterial Wasserstoff und links die unterschiedlichen
absoluten Größen von
Helium schließlich das ganze Periodensystem
Riesensternen im Verhält-
Es zeigte sich, dass die Bildung komplexerer der Elemente hervorbringt, werden wir in den nis zur Sonne. Im rechten
Atome verknüpft ist mit den Details der Ener- folgenden Abschnitten untersuchen. Die Frage Teil der Abbildung wird
giefreisetzung während der Entwicklungssta- lautet: Wie entstehen aus einer universalen Ein- die Sonne mit einigen
ihrer Nachbarsterne und
dien von Sternen unterschiedlicher Massen. heitssuppe die notwendigen Zutaten für eine dem Gasplaneten Jupiter
Wissenschaftler fanden in der ersten Hälfte komplexe Chemie und schließlich Biologie? verglichen.
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469
KAPITEL 11 Kosmologie

Primordiale Elemente Suche nach der Energiequelle Atomgewichte sollten ganzzahlige Vielfache die-
H Wasserstoff ser Basisgröße sein. Allerdings fand ASTON eine
He Helium
(Li Lithium) Die Sonne gibt jährlich eine Wärmemenge ab, die geringe Ausnahme, ironischerweise ausgerechnet
ausreichen würde, um Eis vom fünfhundertfachen beim Wasserstoffatom selbst. Es war um etwa
Auswahl wichtiger mittel- Volumen der Erde zu schmelzen. ISAAC NEWTON 8 Promille schwerer, als es nach der Hypothese
schwerer Elemente
C Kohlenstoff beschäftigte sich bereits Anfang des 18. Jahrhun- hätte sein dürfen. Die Erklärung hierfür hatte
N Stickstoff derts mit der Frage, welcher Prozess diese enorme Jahrzehnte vorher, im Jahr 1861, ein Visionär
O Sauerstoff Energieproduktion in Sternen über die extrem vorgeschlagen: JEAN CHARLES GALISSARD DE
Ne Neon
Naa Natrium langen Zeiten aufrecht erhalten konnte, die sich MARIGNAC (1817 – 1894) vermutete, die Masse
Mg Magnesium schon allein aus den geologischen Daten der Erde könnte beim Zusammentreten der Bausteine in
Al Aluminium für ihr Mindestalter ergaben. Form von Energie entweichen. Vor dem Hin-
Si Silicium
P Phosphor
Obwohl die Schätzungen des Erdalters bis ins tergrund der 1905 veröffentlichten speziellen
S Schwefel erste Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts noch Relativitätstheorie, als deren Konsequenz man
Cl Chlor deutlich zu niedrig ausfielen, zeigten schon erste die Masse als eine Art kondensierter Energie
Ar Argon
Überschlagsrechnungen, dass hierfür chemische betrachten konnte (E = mc2), war damit erstmals
K Kalium
Caa Calcium Umsetzungen gleich welcher Art völlig unzurei- die wirkliche Quelle der Sonnenenergie geklärt.
Fe Eisen chend sind. Auf die Möglichkeit, dass Vorgänge Sie war einfach der Unterschied zwischen den
Ni Nickel
innerhalb der Atome genügend Wärme liefern Bindungsenergien, die verschiedenartige Atom-
Auswahl wichtiger könnten, wies 1899 erstmals der amerikanische kerne zusammenhält. Die Abhängigkeit dieser
schwerer Elemente Geologe THOMAS CHROWDER CHAMBERLAIN Energie von der Kerngröße ist in ÅAbbildung
Pb Blei (1843 – 1928) hin. Die Entdeckung der Radioak- 10-10 (Seite 422) dargestellt. Energie lässt sich
Au Gold
Hg Quecksilber tivität zeigte wenige Jahre später, dass Vorgänge also nicht nur durch Spaltung schwerer Atom-
U Uran in Atomkernen tatsächlich ein Millionenfaches kerne gewinnen, wie z. B. bei der Radioaktivität,
der Energie freisetzen können, die für chemische sondern auch durch Fusion leichter Kerne.
Vorgänge charakteristisch ist. Offen blieb weiterhin die Frage nach den
Trotz der Möglichkeiten der durch JOSEPH beteiligten Elementen und den Details der Ele-
Metallizität VON FRAUNHOFER (1787 – 1826) verfeinerten mentumwandlungen bei der Energiefreisetzung.
Im Gegensatz zur Defini-
tion in der Chemie ver-
Spektralanalyse ließen sich jedoch auf der Sonne Zu ihrer Klärung bedurfte es noch vieler unbe-
stehen Astronomen unter keinerlei radioaktiven Elemente nachweisen. kannter Puzzlestücke.
„Metallen“ alle Elemente, JOSEPH NORMAN LOCKYER(1836 – 1920)‚ hatte Zunächst wies RUTHERFORD 1919 als erster
die schwerer als Helium
sind. Die Metallizität gibt
allerdings schon 1870 eine andere Komponente Kernumwandlungen von leichteren in schwerere
deren Anteil in Sternen auf der Sonne vermutet, die sich später als zen- Atomkerne nach. Beim Beschuss von Stickstoffa-
oder Materiewolken an. tral für die Vorgänge bei der Energieerzeugung tomen mit Alphateilchen entstanden Sauerstoff-
Meist wird zur Definition
herausstellen sollte: das damals noch unbekannte atome und jeweils ein positiv geladenes Teilchen.
ein auf die Sonne bezoge-
nes logarithmisches Maß Element Helium. Es stellte sich im Folgenden Er identifizierte Letzteres als Kern des Wasser-
benutzt, das nur die Inten- heraus, dass die von RUTHERFORD verwendete stoffatoms. Zu Ehren von WILLIAM PROUT gab er
sitäten N der Wasserstoff- Alphastrahlung aus nichts anderem als Helium- ihm den Namen Proton. Analoge Prozesse fand
und der Eisenspektrallinien
berücksichtigt: atomkernen bestand. man später bei den meisten leichten Elementen
Ganz entscheidend für die weitere Entschlüs- außer Helium, Kohlenstoff und Sauerstoff, die
selung der Kernprozesse war die Entdeckung besonders stabile Atomkerne besitzen.
der Isotope des Elements Neon 1913 durch Damit war erstmals die prinzipielle Möglich-
J.J. THOMSON (1856 – 1940) und die dadurch keit aufgezeigt, durch den Aufbau komplexerer
angeregte Entwicklung eines leistungsfähigen Atomkerne Energie frei zu setzen. JEAN-BAPTISTE
Massenspektographen durch seinen Assisten- PERRIN (1870 – 1942) formulierte auf diesem
ten FRANCIS WILLIAM ASTON (1877 – 1945) im Fundament die Hypothese, dass die lang ge-
Jahr 1919. Im Rahmen seiner Messgenauigkeit suchte Energiequelle der Sonne die Fusion von
ließ sich zunächst eine bereits rund einhundert Wasserstoffatomen zu schwereren Kernen sei.
Jahre früher (1815) von dem englischen Che- Allerdings gab es für diese an sich plausible
miker und Arzt WILLIAM PROUT (1785 – 1850) These zwei Haupthindernisse:
aufgestellte Hypothese bestätigen, wonach alle 1 Spektroskopische Daten wiesen damals eher
Elemente aus gleichen Bausteinen aufgebaut sein auf Eisen als Hauptbestandteil der Sonne hin,
sollten, die er in Wasserstoffatomen sah. Alle nicht aber auf einen hohen Wasserstoffgehalt.

470
Erde, Wasser, Luft und Feuer

2 Schätzungen der Temperatur, die zu einer für inzwischen bekannte Masse-Leuchtkraft-Bezie-


die Fusion ausreichenden Annäherung zweier hung vorstellte (Å Abbildung 11-35). Sie besagt,
Protonen entgegen ihrer elektrostatischen Ab- dass bei Sternen ein ausgeprägter Zusammen-
stoßung führen würde, beliefen sich auf phan- hang zwischen ihrer Masse und ihrer absoluten
tastische zehn Milliarden (1010) Kelvin. Leuchtkraft bestehen muss, und wurde durch
Ohne die Kenntnis des erst 1932 durch JAMES die vorliegenden Beobachtungen hervorragend
CHADWICK (1891 – 1974) entdeckten Neutrons bestätigt. Je massereicher ein normaler Stern
bestand in den 1920er Jahren keine Chance eine (ein sogenannter Hauptreihenstern, ÅAbbildung
detaillierte Lösung zu finden. 11-32) ist, desto höher sind auch Temperatur
und Druck in seinem Kern und desto schneller
laufen dort die energieliefernden Prozesse ab.
Sterne im Gleichgewicht Für die Sonne wurden Kerntemperaturen von bis
zu vierzig Millionen Grad für möglich gehalten.
Immerhin konnte der britische Astrophysiker Es wurde auch klar, dass die Details der
Sir ARTHUR STA T NLEY EDDINGTON (1882 – 1944) Wärmeproduktion im Sterninneren für den Auf-
bereits 1916 erste mathematische Sternmodelle bau eines Sternes zweitrangig sind. Die hohe
aufstellen, die darauf basierten, dass an jeder Temperatur im Inneren kann zunächst allein
Stelle eines Sterns ein hydrostatisches Gleich- durch die Kompression des Gases durch die
gewicht herrschen musste. Der Gegendruck der Schwerkraft erklärt werden. Um aber stabile
Sternmaterie muss das Gewicht der darüber la- Verhältnisse über den extrem langen Zeitraum
gernden Schichten stets genau ausgleichen, sonst eines Sternlebens zu gewährleisten, muss ein ne-
wäre ein Zusammenbruch zu einem Schwarzen gativer Rückkopplungsprozess vorhanden sein. 11-34
Loch unvermeidlich. Die Wärmeproduktion muss bei Abkühlung und Hydrostatisches und
EDDINGTON beschränkte seine Untersuchun- Kontraktion des Kerns sofort hochgefahren wer- thermisches Gleichge-
wicht. Modelle für Sterne
gen zunächst auf Rote Riesensterne, da in ihnen den. Umgekehrt muss eine höhere Energiefreiset- basieren auf dem Gleich-
bei ungefähr gleicher Masse viel weniger extreme zung im Kern sofort zur Ausdehnung und der gewicht zwischen innerem
Verhältnisse herrschen als in der Sonne. Ein wich- Absenkung der Temperatur führen und so das Gas- bzw. Strahlungsdruck
und Schwerkraft. Zudem
tiges Ergebnis war, dass der Energietransport Gleichgewicht stabilisieren.
berücksichtigen sie das
im Zentralbereich zu einem beträchtlichen Teil Gleichgewicht zwischen
auf Strahlung statt auf Wärmeleitung oder auf Hauptreihensterne erbrüten Elemente der Wärmeproduktion
Konvektion beruht. Dabei gelangt die Strahlung durch Kernprozesse und
der Abstrahlung.
allerdings wegen der andauernden Streuprozesse Seit EINSTEINs spezieller Relativitätstheorie kennt
extrem langsam – erst nach Jahrtausenden – vom man zumindest theoretisch die Möglichkeit, dass
Zentrum in die äußeren Schichten. Als Kern- Masse vollständig in Energie zerstrahlen kann. 11-35
Masse-Leuchtkraft-Bezie-
temperatur errechnete EDDINGTON anhand der Allerdings gab es noch keinen Hinweis auf ei- hung. Die Leuchtkraft ei-
zugrunde gelegten theoretischen Annahmen zwi- nen Mechanismus, nach dem diese Umwand- nes Sterns wächst mit der
schen fünf und achtzehn Millionen Grad. Die lung stattfinden konnte. Einen näher liegenden, Masse stark an. Deshalb
verbrauchen superschwere
Dichte im Zentrum von Roten Riesensternen und wie sich später herausstellte, auch richtigen Sterne ihren Brennstoff
kann bis zum 13fachen der des Wassers betragen. Ansatz boten die 8 Promille verschwundener sehr rasch.
Entsprechend den Ionisierungsenergien, die sich
aus dem Bohrschen Atommodells ergaben, war
anzunehmen, dass unter diesen Umständen alle
Atome in der inneren Zone hochionisiert vorlie-
gen, also sehr viele ihrer Elektronen verloren hat-
ten. Das Zentrum der Sterne findet sich eindeutig
im Plasmazustand (ÅKapitel 8). Basierend auf
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Berechnungen des Astrophysikers EDWARD AR-


THUR MILNE (1896 – 1950) erkannte EDDINGTON
bald, dass sich die Gültigkeit der Modelle kei-
neswegs auf Rote Riesensterne beschränkt. Im
Jahr 1926 publizierte er sein einflussreiches Buch
„The Constitution of the Stars“, in dem er die

471
KAPITEL 11 Kosmologie

Masse, die ASTON zwischen Wasserstoff- und nicht alle Protonen dieselbe Geschwindigkeit
Heliumkernen gemessen hatte. RUTHERFORD haben, sondern einige von ihnen aufgrund der
hatte bereits gezeigt, dass durch Einfang von Maxwellschen Geschwindigkeitsverteilung sehr
Kernteilchen im Prinzip aus leichteren Elemen- viel energiereicher als der Durchschnitt sind,
ten unter Energiefreisetzung schwerere entste- können ausreichend viele Verschmelzungen bei
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hen könnten. Würde in Sternen Wasserstoff zu der Temperatur des Sonneninneren ablaufen, um
Helium „verbrannt“, so würde zwar mehr als den Energieumsatz zu erklären.
hundert mal weniger Energie frei als bei einer
totalen Umwandlung von Protonen in Energie, Einsichten in das Sonnenfeuer
aber immer noch genug, um die Sonne Jahrmil-
liarden lang leuchten zu lassen. Leicht ließ sich Tiefere Einsichten in die genaue Reaktionsfolge
errechnen, dass für den Strahlungshaushalt der bei der Energiegewinnung von Sternen waren
11-36 Sonne in jeder Sekunde vierhundert Milliarden erst nach der Entdeckung des Neutrons durch
Bindungsenergien leichter
Kerne. Vom Wasserstoff Kilogramm Wasserstoff (4·1011 kg) umgesetzt JAMES CHADWICK im Jahr 1932 möglich. Aller- r
bis zum Eisen nehmen werden müssten. Doch bei der Masse der Sonne dings war nun klar, dass Helium nicht, wie früher
Atomkerne immer tiefere (1,99 · 1030 kg) und 3,2 · 107 Sekunden pro Jahr fälschlicherweise vermutet, aus einem Atomkern
(stabilere) Energiezustände
an, da die pro Nukleon würde dies bereits bei einem Wasserstoffgehalt mit vier Protonen, sondern aus zwei Protonen
abgegebene Bindungs- von einigen Prozent problemlos für ein Mehrfa- und zwei Neutronen bestand. Da freie (nicht in
energie zunimmt. Die ches der vermuteten, bisherigen Lebenszeit der Kernen gebundene) Neutronen aber binnen we-
Energiekurve ist allerdings
unstetig, da bestimmte Sonne von einigen Milliarden Jahren ausreichen. niger Minuten zerfallen, müssen sie irgendwie
Kerne wie z. B. 4He und Ob die Sonne wirklich so viel Wasserstoff beim Einfang von Protonen aus diesen entstehen
12C aus Symmetriegrün-
enthalten kann, und welcher Kern überhaupt können. Genau einen solchen Prozess ermöglicht
den besonders stabil sind.
für den Einfang zusätzlicher Protonen in Frage das von WOLFGANG PAULI im Jahr 1933 für die
kam, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht be- Erklärung des kontinuierlichen Spektrums des
kannt. Ebenso war es rätselhaft, wie die er- Betazerfalls von Kernen postulierte Neutrino. Die
forderlichen Kernprozesse zum Einfang von Reaktion, die für die Entstehung von Neutronen
Protonen bereits bei Temperaturen in der Grö- aus Protonen entscheidend ist, ist der Beta-plus-
ßenordnung von einigen zehn Millionen Grad Zerfall. Dabei wandelt sich ein Proton innerhalb
ablaufen konnten, statt erst bei den errechneten eines Atomkerns spontan in ein Neutron um. Als
zehn Milliarden Grad. Zwischenprodukt entsteht ein W+-Boson, und
Die Lösung für die letzte Frage brachte dieses zerfällt umgehend in ein Positron und ein
schließlich die Quantentheorie. Nachdem ERW R IN Elektron-Neutrino. Der Beta-plus-Prozess ermög-
SCHRÖDINGER mit seiner berühmten Gleichung licht es also einem Atomkern im Endeffekt, durch
von 1926 das Verhalten von Quantenobjek - den Einfang von Protonen manchmal nicht seine
ten berechenbar gemacht hatte, konnte GEORG Ordnungszahl zu erhöhen, sondern seine Neutro-
GAMOW den quantenmechanischen Tunnelef- nenzahl. Er ist damit ein entscheidender Schritt bei
fekt (ÅVerbotene Wege – der Tunneleffekt, Seite der Entstehung schwererer Atomkerne mit aus-
207) zur Erklärung des Alpha-Zerfalls von geglichenen Nukleonenverhältnissen in Sternen.
Atomkernen heranziehen. Der Physiker FRITZ
GEORG HOUTERMANS (1903 – 1966) wandte zu- Der Bethe-Weizäcker-Zyklus
sammen mit dem Experimentalphysiker ROBERT
D‘ESCOURT ATKINSON (1898 – 1982) im Jahr Die erste genaue Beschreibung einer Reaktions-
1929 die Ideen GAMOWs auf den umgekehrten kette bei der stellaren Nukleosynthese wurde
Prozess an, als er seine berühmte Arbeit „Zur zwischen 1937 und 1939 durch HANS BETHE
Frage der Aufbaumöglichkeiten von Elementen in Amerika und unabhängig davon durch CARL
in Sternen“ publizierte. Der auf der Heisenberg- FRIEDRICH VON N WEIZSÄCKER R in Deutsckland er r-
schen Unschärferelation beruhende Tunneleffekt arbeitet. Wir haben die Namen beider Physiker
konnte, wie er zeigte, auch erklären, warum bereits bei der Bethe-Weizäcker-Formel zur Stabi-
Protonen bereits bei viel niedrigeren Tempera- lität der Atomkerne kennengelernt (ÅAbbildung
turen in Kerne eindringen können, als dies nach 10-6, Seite 421). HANS BETHE war zunächst As-
klassischen Rechnungen für möglich gehalten sistenzprofessor in Tübingen gewesen, verlor diese
worden war. Zusammen mit der Tatsache, dass Stelle aber wegen seiner jüdischen Abstammung

472
Erde, Wasser, Luft und Feuer

und musste 1933 wie so viele exzellente Wissen- Zyklus erforderlichen protoneneinfangenden
schaftler aus Nazi-Deutschland emigrieren. Dem Kerne. Sie eröffnete sich nach der Entdeckung
Vernehmen nach soll BETHEE die entscheidenden des schweren Wasserstoffs durch den Chemi-
Formeln innerhalb weniger Stunden auf einer ker HAROLD CLAYTON
A UREY (1893 - 1981). Wir
Bahnfahrt von Washington nach New York zu werden ihm im nächsten Kapitel bei Versuchen

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Papier gebracht haben. Die Reaktion wird nach zur Synthese organischer Substanzen in der
den am Einfang von Protonen beteiligten Kernen Uratmosphäre noch einmal begegnen. Der als
des Kohlenstoffs, des Stickstoffs und des Sauer- r Deuteriumkern bezeichnete stabile Kern enthält
stoffs als CNO-Zyklus (kurz auch als CN-Zyklus ) ein zusätzliches Neutron und kann durch densel-
bezeichnet. Es handelt sich eine komplexe Reakti- ben Beta-plus-Prozess nach der Verschmelzung
onsfolge, bei der Kohlenstoff als Katalysator fun- zweier Protonen entstehen, der auch Bestand-
giert. (Geringe Mengen dieses Elements sind in der teil des CNO-Zyklus ist. Dieser Deuteriumkern 11-37
Bethe-Weizäcker-Zyklus.
heutigen Entwicklungsphase der Galaxien bereits kann dann ein zusätzliches Proton einfangen Diese durch Kohlenstoff
Bestandteil des interstellaren Mediums bei der Bil- und zu leichtem Helium (3He) reagieren. In ei- katalysierte Umsetzung
dung von Sternen.) Beteiligt sind vier Protonenein- nem letzten Reaktionsschritt entsteht schließ- von Wasserstoff zu Helium
überwiegt in schweren
fang-Reaktionen, zwei Beta-plus-Zerfälle und ein lich durch Zusammenstoß zweier solcher 3He- und heißen Sternen.
Alpha-Zerfall. In der Summe werden bei dem Zy- Kerne unter Freisetzung zweier Protonen das
klus vier Wasserstoffatomkerne (Protonen, 1H) in Endprodukt, ein normaler Heliumkern aus zwei
einen Heliumkern (4He ) umgewandelt. Daneben Protonen und zwei Neutronen. In der Summe
entstehen zwei Positronen, zwei Elektron-Neutri- werden also wieder vier Protonen in einen sta-
nos und drei Gammaquanten. Insgesamt wird eine bilen Heliumatomkern 4He überführt. Diese

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Energie von 23,03MeV freigesetzt. Erstaunlich ist Reaktion läuft unter den in den Zentren von
die extreme starke Temperaturabhängigkeit der Sternen gegebenen Dichteverhältnissen schon
Reaktionsgeschwindigkeit des CNO-Zyklus, die ab ca. 3 Millionen Grad ab. Sie ist viel weniger
nach verschiedenen Theorien proportional zur temperaturabhängig als der CNO-Zyklus. Je
15. bis 22. Potenz der Temperatur ist. Sie hat zur nach Theorie findet man für die Zunahme der
Folge, dass der Prozess in sehr heißen Sternen do- Reaktionsgeschwindigkeit Werte zwischen der
miniert. (Die genauen Exponenten sind abhängig vierten und der siebten Potenz der Temperatur. 11-38
Proton-Proton-Reaktion.
von den zugrunde gelegten thermodynamisch-re- Dieser zweite Reaktionsweg zum Helium ist
Durchschnittliche Sterne
aktionskinetischen Modellen und den Annahmen in allen Sternen mit Massen bis knapp über wie die die Sonne gewin-
bezüglich Wirkungsquerschnitten.) Wie sich her- r der Sonnenmasse vorherrschend. Im Gegensatz nen ihre Energie haupt-
ausstellte, spielt der CNO-Zyklus jedoch bei der zum CNO-Zyklus benötigt die Proton-Proton- sächlich aus der direkten
Verschmelzung von Proto-
Kerntemperatur der Sonne mit nur 1,6 Prozent des Reaktion (P-P-Reaktion) auch keine schwereren nen in der P-P-Reaktion.
Energieumsatzes eine untergeordnete Rolle. Damit Kerne als Katalysatoren und konnte deshalb
die Reaktionen des CNO-Zyklus in ausreichender bereits in den allerersten Sternen ablaufen, die
Geschwindigkeit ablaufen können, muss ein Stern im Universum entstanden.
mindestens ungefähr 1 ppm Kohlenstoffatome
enthalten. Für die ersten Riesensterne, die im Uni-
versum aufleuchteten und nur aus Wasserstoff
und Helium bestanden, war diese Energiequelle
also zu Beginn nicht verfügbar. Dies änderte sich
erst, nachdem in den sehr massenreichen und
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heißen Sternen ausreichend viel Kohlenstoff über


den Drei-Alpha-Prozess entstanden war (ÅDrei-
Alpha-Prozess, Seite 475).

Proton-Proton-Reaktion

Kurz nach der Beschreibung des CNO-Zyklus 11-39


fanden BETHE und WEIZÄCKER auch eine Mög- Temperaturabhängigkeit. CN-Zyklus und P-P-Reaktion zeigen verschiedene Zündtem-
peraturen und unterschiedlich starke Beschleunigung bei erhöhter Temperatur. Bei klei-
lichkeit der Reaktionsfolge von Wasserstoff zu neren, kühleren Sternen spielt nur die P-P-Reaktion eine Rolle, und bei großen, heißen
Helium ohne Beteiligung der für den CNO- Sternen überwiegt der CN-Zyklus.

473
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11-40 11-41
Der Elementmix im Uni- Chemische Analyse eines Universums Lebenswege von Sternen. Die Masse eines Sterns be-
versum. Von 10 000 Ato- stimmt seinen Entwicklungsweg und seine Lebensdauer.
men im Universum sind Bei weniger als 0,08 Sonnenmassen kann keine ausrei-
Die beiden beschriebenen Reaktionswege von
9000 Wasserstoffatome, chende Kernfusion stattfinden, um einen Stern entste-
975 Heliumatome, sechs
Wasserstoff zu Helium bestimmen den größten hen zu lassen. Unterhalb der Chandrasekar-Grenze von
Sauerstoffatome und nur Teil eines Sternlebens und werden als Wasser- 1,44 Sonnenmassen entwickelt sich ein Hauptreihenstern
ein Kohlenstoffatom. Der stoffbrennen bezeichnet. In dieser Phase befinden zu einem über Jahrmilliarden langsam erkaltenden Wei-
Rest verteilt sich auf alle ßen Zwergstern von ungefähr Erdgröße. Sterne zwischen
sich Sterne der Hauptreihe des Hertzsprung-Rus- 1,44 und 3 Sonnenmassen entwickeln sich zu ungeheuer
übrigen Elemente.
sel-Diagramms (ÅAbbildung 11-32, Seite 469). dichten Neutronensternen mit nur ungefähr 20 km Durch-
Was hat nun diese Art der Energiegewinnung messer. Ihre Materie erreicht die Dichte von Atomker-
nen. Noch schwerere Sterne kollabieren zu Schwarzen
in Sternen mit Elementen jenseits des Heliums Löchern.
zu tun? Wie kann man überhaupt herausfinden,
wie häufig die auf der Erde bekannten Atomarten den Durchmischung der Sternmaterie ausgehen.
in Sternen vorkommen? Wir haben bereits die Massereichere Sterne zeigen eine unvollständige
Möglichkeiten der Spektralanalyse angesprochen. Durchmischung ihrer Materie. Insbesondere in
LOCKYER war mit ihr die Entdeckung des Heli- späten Entwicklungsphasen der Sterne entwi-
ums gelungen, und man konnte Spektrallinien ckeln sich Kern und Hülle sehr verschieden. Basis
zahlreicher bekannter Elemente in Sternen nach- für alle quantitativen Untersuchungen sind Ar-
weisen. Allerdings lässt sich dieses machtvolle beiten des indischen Physikers MEGHNAD SAHA
Instrument nicht allein dadurch zur Bestimmung (1893 – 1956), der mit der nach ihm benannten
der Elementarzusammensetzung anwenden, dass Gleichung im Jahr 1920 erstmals den Ionisations-
man die Intensitäten der spektralen Fingerabdrü- grad jedes Elements bei gegebenen Zustandspa-
cke im Sternenlicht miteinander oder mit einem rametern berechnen konnte. Basierend auf Me-
Standard vergleicht. Vielmehr müssen für eine thoden zur Schätzung der Elementhäufigkeit in
sinnvolle Analyse ausreichend genaue Atom- und Plasmen nach RALPH FOWLER (1889 – 1944) und
Sternmodelle zugrunde liegen. Das Atommodell Edward ARTHUR MILNE (1896 – 1950) gelang
(ÅKapitel 4) sagt uns etwas über die Ionisie- es einer jungen britische Astronomin namens
rungsenergien und damit über das Verhalten ein- CECILIA PAYN
A E-GAPOSCHKIN N (1900 – 1979) im Jahr
zelner Elemente bei bestimmten Temperaturen 1925 erstmals, diese Erkenntnisse auf Sternspek-
und Drücken. Das Sternmodell wiederum sorgt tren anzuwenden. Entgegen der damals herr-
dafür, dass realistische Werte für diese Parameter schenden Lehrmeinung ergaben ihre Berechnun-
in die Analyse eingehen. Ferner kann man nur bei gen, dass die Sonne tatsächlich zum allergrößten
den allerkleinsten Sternen von einer weitgehen- Teil aus Wasserstoff und Helium besteht. Ob-

474
Erde, Wasser, Luft und Feuer

wohl also die Spektrallinien anderer Elemente ausgewogener ihr Neutronen-Protonen-Verhält-


in vielen Sternspektren so prominent auftreten, nis ist und je näher sie mit ihrer Ordnungszahl Helium-Blitz
verbleibt für alle zusammen nur ein Anteil von dem stabilsten Atomkern 56Fe liegen.
ca. 2 Massenprozent (Abbildung 11-40). Als sich Was aber geschieht, wenn der Vorrat an Was- Bei Sternen unter 2,2 Son-
PEYNE-GAPOSCHKINs Ergebnis einer fast nur aus serstoff im Kern eines typischen Sterns langsam nenmassen gibt es eine be-
Wasserstoff und Helium bestehenden Sonne Ende zur Neige geht und sich die schwerere „Helium- merkenswerte Besonderheit:
der 1920er Jahre schließlich durchgesetzt hat- asche“ nach und nach im Zentrum anreichert. Hier setzt das Heliumbren-
ten, klärten sich immer mehr Unstimmigkeiten Verlöscht er dann einfach? nen explosionsartig ein, denn
der bisherigen Sternmodelle. Hatte EDDINGTON Interessanterweise ist gerade das Gegenteil es kommt zum quantenme-
noch mit einer Kerntemperatur der Sonne von der Fall: Wenn die Reaktionen nicht mehr genü- chanischen Effekt der Ent-
40 Millionen Grad gerechnet, so wurde diese nun gend Wärme zur Aufrechterhaltung des Strah- artung des Elektronengases
deutlich nach unten korrigiert, denn nach dem lungsdrucks erzeugen können, beginnt sich das (Fermi-Entartung). In diesem
allgemeinen Gasgesetz (p = n·R·T/T V) ist der Druck Innere eines alternden Sterns zusammenzuziehen. Zustand kann sich die Tem-
nur von der Teilchenzahl pro Volumen, nicht Dabei wird aber genügend Gravitationsenergie peratur zunächst erhöhen,
jedoch von der Masse der Teilchen abhängig. frei, um die Zentralregion weiter zu erhitzen. ohne dass sich Dichte und
Eine gegebene Masse leichter Wasserstoffteilchen Der Schlüssel zum Verständnis der Entstehung Druck ändern. Der Energie-
erzeugt somit viel mehr Druck als die gleiche schwererer Elemente liegt in der Erkenntnis, dass umsatz steigt für Sekunden
Masse schwerer Eisenatome, und es genügt be- Sternmaterie keineswegs gut durchmischt ist, wie auf ein Milliardenfaches an.
reits eine tiefere Temperatur, um im Gleichge- man dies bei den ersten Modellen in den 1930er Erstaunlicherweise merkt
wicht der Schwerkraft entgegen zu wirken. Die Jahren (aufgrund eines Rechenfehlers) zunächst man dem Stern die dramati-
Vorhersagen für die Kerntemperatur wichen nun angenommen hatte. Vielmehr entwickeln sich schen Geschehnisse von au-
nicht mehr stark von den ca. 15 Millionen Grad ein immer heißer und dichter werdender Zen- ßen kaum an: Die gesamte
ab, die wir heute für die Sonne annehmen. Auch tralbereich und äußere schalenförmige Zonen Energie des Helium-Blitzes
die für einen solchen Stern berechnete Leuchtkraft eines Sterns bezüglich Temperatur, Druck und wird in der Sternhülle ab-
deckte sich nun viel besser mit den Messwerten. den ablaufenden energieliefernden Reaktionen sorbiert. Ab einer kritischen
sehr unterschiedlich weiter. Temperatur wird die Entar-
Das Wasserstoffbrennen geht mit dieser „Fuß- tung aufgehoben, und der
Kosmochemie jenseits des bodenheizung“ in einem schalenförmigen Bereich Drei-Alpha-Prozess geht wie
Heliums weiter, in dem noch genügend Wasserstoff vor- bei den schwereren Sternen
handen ist. Bei Sternen über 0,3 – 0,5 Sonnen- in ein gleichmäßiges Helium-
Heliumkerne können im Zentrum von Sternen massen erreicht die Zentraltemperatur schließlich Brennen über.
bei den vorstehend genannten Parametern nicht mit 100 Millionen Grad eine kritische Grenze,
so einfach zu noch schwereren verschmelzen. bei der entweder explosionsartig (ÅKasten
Obwohl sie gemäß der Stabilitätskurve (ÅAbbil- Helium-Blitz) oder allmählich eine neue Kern-
dung 11-36, Seite 472) dabei Energie freisetzen reaktion auftritt, das Heliumbrennen, auch als
würden, reagieren sie nicht, denn wegen der hö- Drei-Alpha-Prozess bezeichnet.
heren Kernladung stoßen sie sich elektrostatisch
bei den berechneten Temperaturen viel zu stark Drei-Alpha-Prozess
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ab. Sie kommen sich einfach nicht nahe genug,


um die kurzreichweitigen Kernbindungskräfte Diese schon vorstehend angesprochene, auch
wirksam werden zu lassen. als Drei-Alpha-Prozess (auch 3α-Prozess oder
Um die Prozesse zu verstehen, die ausgehend Salpeter-Prozess, nach EDWIN ERNEST SALPETER,
von Wasserstoff und Helium-Atomkernen das 1924 – 2008) bekannte Fusionsreaktion ist für
ganze Periodensystem aufbauen können, muss die Kosmochemie von eminenter Bedeutung. Sie
11-42
man sich an die widerstreitenden Kräfte in Ker- stellt eine der wenigen Möglichkeiten dar, wie aus 3α-Prozess. Während der
nen erinnern, die wir in ÅKapitel 10 behandelt Wasserstoff und Helium überhaupt signifikante kurzen Lebensdauer des
haben: an die starke Kernkraft kurzer Reichweite, Mengen schwerer Elemente entstehen können. instabilen 8Be-Kerns von
10–17 s wird ein weiterer
die die Nukleonen verbindet, an die wirkende Dies ist dadurch erschwert, dass es in der Natur Heliumkern eingefangen.
elektrostatische Abstoßung zwischen Protonen weder einen stabilen Kern mit fünf Nukleonen Ein zweiter Grund dafür,
sowie an die Möglichkeit der schwachen Kraft, gibt (4He + 1H), noch einen mit acht (4He + 4He), dass die Reaktion über-
haupt stattfinden kann, ist
für Umwandlungen zwischen Neutronen und die als Zwischenstufen für einen Aufbau geeig- eine energetische Reso-
Protonen zu sorgen. Kerne sind umso stabiler, je net wären. Man nennt diesen Flaschenhals auch nanz (siehe Haupttext).

475
KAPITEL 11 Kosmologie

Beryllium-Barriere. Insbesondere ist die Bildung Kernladung wird allerdings die Bildung von
von Kohlenstoffkernen (12C-Kernen) wichtig, für Alpha-Elementen (α-Elementen) durch diesen
die drei Alpha-Teilchen (4He-Kerne) sich zusam- Prozess wegen der stärkeren Abstoßung des
menfinden müssen. Der Kohlenstoff ist nicht nur Alpha-Teilchens viel unwahrscheinlicher. Tat-
das zentrale Element alles Lebendigen, sondern sächlich spiegelt sich der Syntheseweg über den
auch eine unverzichtbare Zwischenstufe für die Alpha-Prozess auch in der Häufigkeitsverteilung
Bildung der meisten anderen Elemente. Müssen der Elemente im Universum wider – ein starker
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etwa drei He-Kerne auf einmal zusammen sto- Hinweis auf die Richtigkeit der Theorie. Wegen
ßen, um einen 12C-Kern aufzubauen? Ein solcher der in Richtung zum Eisen hin immer flacher
Dreierstoß müsste innerhalb von nur 10–21 s statt- verlaufenden Bindungsenergiekurve und der ge-
finden und wäre damit viel zu unwahrscheinlich! ringen Umsatzmengen spielt der Alpha-Prozess
Es zeigte sich schließlich, dass ein aus zwei 4He- nur für die Nukleosynthese eine Rolle, nicht
Kernen entstehender 8Be-Kern immerhin 10–17 s jedoch für die Energiegewinnung in Sternen.
11-43
lang existiert – ausreichend, um den Einfang eines
Alpha-Prozess. Als Folge-
reaktion der Bildung von weiteren 4He-Kerns und damit die Bildung von
12C-Kernen in Sternen 12C zehntausendfach wahrscheinlicher zu machen. Elementsynthese durch
werden weitere Alpha-
Doch selbst unter Berücksichtigung des Re- Ungleichgewichtsprozesse
Teilchen eingefangen, was
zur Bildung einer ganzen aktionswegs über 8Be würde die Kernreaktion,
Kette der Alpha-Prozess- wie der Astronom FRED HOYLE (1915 – 2001) Aus der Bindungsenergiekurve der Kerne folgt,
Elementen führt, die sich erkannte, längst nicht schnell genug ablaufen, dass Prozesse im thermischen Gleichgewicht keine
um jeweils vier Nukleonen
unterscheiden. Der Pro- um signifikante Mengen Kohlenstoff zu erzeugen Elemente jenseits von Eisen produzieren können.
zess ist hier exemplarisch (ÅRandspalte). Dies ist nur einem unwahrschein- Zudem verläuft die Energiekurve vom Wasserstoff
bis zum Neon gezeigt. lichen Zufall geschuldet: Der 12C-Atomkern be- zum Eisen nicht stetig abwärts, und auch das Zu-
sitzt ein Energieniveau bei 7,65MeV, das mit der standekommen vieler Elemente dazwischen, wie
Summe zweier Energieniveaus von 8Be und 4He Fluor, Natrium oder Phosphor, lässt sich durch
nahezu übereinstimmt. Man bezeichnet eine sol- die bisher beschriebenen Prozesse nicht erklären.
Verstecktes Hoyle-Niveau che Konstellation als Resonanz, und sie erhöht die Um ausgehend von den Alpha-Elementen zu
entsprechende Reaktionsgeschwindigkeit enorm. schwereren Elementen und zu solchen mit unge-
Erst 2011 konnten extrem Ein Beispiel für einen Stern in der Helium- raden Ordnungszahlen zu gelangen, müssen diese
aufwändige theoretische Brennphase ist der Rote Riesenstern Betei- Kerne auf irgendeine Weise mit weiteren Protonen
Rechnungen mit einem Su- geuze im Orion. Der Energieumsatz des Drei- versorgt werden. Der einfachste denkbare Prozess,
percomputer tatsächlich die Alpha-Prozesses ist sogar noch stärker tempera- nämlich der direkte Einfang eines Wasserstoff-
Existenz des angeregten Ho- turabhängig als bei der CNO-Reaktion. Er wächst kerns, ist bei Kernen hoher Ordnungszahl wegen
yle-Energieniveaus des 12C- etwa proportional zur dreißigsten Potenz der Tem- der extrem starken Coulomb-Abstoßung unmög-
Kerns auf Basis der Quanten- peratur (T30). Da die gesamte Energieproduktion lich. Selbst Protonen mit nahezu Lichtgeschwindig-
chromodynamik bestätigen. des Heliumbrennens wesentlich geringer ist, als die keit wären hierzu nicht in der Lage. Andererseits
des Wasserstoffbrennens, dauert diese Phase viel lassen sich Neutronen wegen ihrer fehlenden elek-
weniger lange an. Sie leitet das Ende des Haupt- trischen Ladung von dieser Kraft überhaupt nicht
11-44 reihensterns ein. behindern. Sie können ohne weiteres in Kerne
Lebenszyklus der Sonne. eindringen. Um diese Reaktionen zu verstehen,
Bei unserer Sonne haben werden wir uns zunächst die Vorgänge beim Altern
wir großes Glück gehabt.
Mit ihrer zu erwartenden Alpha-Prozess von Sternen und bei ihrem Todeskampf ansehen.
Lebensdauer von knapp
11 Milliarden Jahren lässt Ist über den Drei-Alpha-Prozess erst einmal 12C
sie uns hoffentlich genü- Schalenbrennen und Rote Riesen
gend Zeit, einen fremden entstanden, so kommt es unweigerlich zu weiteren
Stern für die Auswande- Zusammenstößen mit Alpha-Teilchen. Dadurch Geht die von seiner Geburtsmasse bestimmte Le-
rung zu finden, bevor sie können nacheinander die Nuklide 16O, 20Ne, benszeit eines gewöhnlichen Hauptreihensterns
das Stadium des Roten 24Mg, 28Si, 32S, 40Ar, 44Ca bis hin zu 48Ti mit
Riesen erreicht und die
mit etwa 0,6 bis 10 Sonnenmassen ihrem Ende
Erde verschlingt. der Kernladungszahl 22 entstehen. Mit höherer entgegen, so gerät er zunehmend aus dem inneren
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47 6
47
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Gleichgewicht. Dies ist bei einem Stern mit zehn- und seine Masse erhöhen. Damit dieser Prozess
facher Sonnenmasse bereits nach der in kosmi- möglich ist, müssen natürlich zumindest in be- Schalenbrennen
schen Maßstäben sehr kurzen Zeitspanne von ca. stimmten Bereichen oder Entwicklungsphasen
35 Millionen Jahren der Fall. Wie oben beschrie- von Sternen kontinuierlich freie Neutronen ent- Wasserstoffbrennen
ben, sinkt der Strahlungsdruck durch die nachlas- stehen, denn ungebundene Neutronen haben nur (H → He)
sende Energieproduktion, und das Zentrum des eine Halbwertszeit von etwa fünfzehn Minuten.
Heliumbrennen
Sterns zieht sich zusammen. Dabei heizt sich diese Beweise für das Stattfinden solcher Reaktionen (He → C, O)
Region durch die Gravitationsenergie immer mehr wurden bereits in den 1950er Jahren in Form von
Kohlenstoffbrennen
auf, bis die Zündtemperatur einer weiteren Kern- Spektrallinien kurzlebiger Isotope in den Spektren
(C, O → Ne, Mg)
reaktion erreicht ist. Ein solcher Prozess von der Roter Riesensterne entdeckt.
Erhitzung bis zur Zündung und dem Ablauf einer Einige der tief im Inneren solcher Sterne ab- Neon- und Magnesiumbrennen
neuen Reaktion kann sich in mehreren Zyklen laufenden Prozesse (zum Beispiel der Zerfall von (Ne, Mg → Si, S)

wiederholen. Währenddessen laufen im restlichen 24Mg-Kernen, die als Nebenreaktion aus 12C
Silicium- und Schwefelbrennen
Stern zwiebelschalenartig auch noch die früheren entstehen), liefern auch tatsächlich Neutronen (Si, S → Fe, Ni)
Kernreaktionen weiter (ÅKasten Schalenbrennen). als Nebenprodukte. Diese stehen eigentlich für
Kollaps des Eisenkerns
Wie viele dieser Stadien tatsächlich durchlaufen Einfangreaktionen zur Verfügung. Infolge ihrer
werden, und das weitere Schicksal des Sterns hän- geringen Lebensdauer erreichen sie allerdings nie Bildung einer Schockwelle
gen wiederum entscheidend von seiner Masse ab. eine besonders hohe Dichte, und entsprechende
In der Phase des Schalenbrennens entkoppelt Nukleosynthesereaktionen laufen nur sehr lang-
sich die Entwicklung des immer heißer werdenden sam ab (ein Kern wird durchschnittlich nur alle
Sternzentrums zunehmend von derjenigen der äu- 100 000 Jahre von einem Neutron getroffen).
ßeren Zonen. Die sichtbare Oberfläche dehnt sich Diese Reaktionen werden deshalb unter der Be-
extrem aus und kühlt ab. Der Stern wird zu einem zeichnung s-Prozess (s wie slow) zusammengefasst.
Roten Riesenstern, der im Falle der Sonne sogar Mit einem Neutronenüberschuss sind die pri-
bis über die Erdbahn hinausreichen wird. Rote mär entstehenden Kerne meist instabil. Sie können
Riesensterne in dieser Phase erbrüten ungefähr sich durch radioaktiven β–-Zerfall eines Neutrons
die Hälfte der schweren Elemente des Universums. in ein Proton stabilisieren und senden dabei ein
Elektron und ein Antineutrino aus. Dies erfolgt in
s-Prozess der Regel schneller, als ein neues Neutron einge-
fangen wird. Im s-Prozess der Roten Riesensterne

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Dringen Neutronen in Kerne ein, so können sie entsteht immerhin etwa die Hälfte der schwereren
darin durch die starke Kraft gebunden werden Elemente. Der massereichste Kern, der sich dabei
bilden kann, ist Bismut-209. Die schwersten und
neutronenreichsten Elemente wie Gold oder Uran
können auf diesem Wege nicht gebildet werden.
Um ausreichend schnelle Syntheseprozesse anzu-
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treffen, müssen wir Sterne bis zu ihrem furiosen


11-46
Ende beobachten.
Lichtkurven. Typische Ent-
wicklung der Leuchtkraft
Novae einer Nova im Vergleich
zu den wichtigsten Typen
von Supernovae. Letztere
Wir haben oben gesehen, dass die Geburt von erreichen die millionenfa-
11-45 Sternen sich in der Geborgenheit lichtundurch- che absolute Leuchtkraft
s-Prozess. Durch Einfang von Neutronen bei schwachen lässiger Staub- und Gaswolken abspielt. Neue (beachten Sie die logarith-
Neutronenflüssen werden im s-Prozess (von s = slow, mische Skala).
langsam) mit anschließendem β–-Zerfall Elemente bis hin Sterne werden erst sichtbar, wenn sich mögli- Supernovae des Typs II
zu Bismut (Wismut) in endothermen Ungleichgewichts- cherweise aus einem Teil dieser Materie Planeten zeigen im Gegensatz zu
prozessen gebildet. gebildet haben und der Sternenwind die Über- denen des Typs Ia ein
Sie finden hauptsächlich während des Schalenbrennens deutliches Plateau vor
Roter Riesensterne statt. reste der Wolke in einem nach Jahrmillionen dem endgültigen Hellig-
messenden Prozess ins All verteilt hat. Novae, keitsabfall.

11-47
V838 Mono. Entwick-
lung des Lichtechos der
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„Leuchtstarken roten
Nova“ V838
Monocerotis 477
KAPITEL 11 Kosmologie

also innerhalb von nur Tagen oder Wochen hell Nicht alle folgen dem skizzierten Mechanismus.
aufleuchtende Objekte, sind somit keine neuen So gehörte das vielleicht schönste astronomische
Sterne, wie noch TYCHO BRAHE (1546 –1601) mit Objekt überhaupt, die um den 1. Januar 2002
seiner Begriffsbildung in der lateinischen Form ausgebrochene Nova V838 Monocerotis (ÅAb-
„stellae novae“ nahe legte. Die Ausbrüche stellen bildung 11-47) zum Typus der „Leuchtkräftigen
vielmehr kataklysmische Vorgänge dar, die von roten Novae“. Der so reizvolle Kokoneffekt des
einer Existenzkrise eines Sterns zeugen, der zuvor etwa 20000 Lichtjahre entfernten Objekts kam
unscheinbar oder wegen seiner ursprünglich zu hier nicht etwa dadurch zustande, dass sich das
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geringen Helligkeit überhaupt nicht bekannt war. Gas so schnell ausdehnte, sondern das Licht der
Klassische Novae treten, wie man heute weiß, Nova erzeugte bei seiner Ausbreitung in der von
in speziellen Doppelsternsystemen aus nicht sehr der Sternentstehung übrig gebliebenen Molekül-
massereichen Hauptreihensternen (ÅAbbildung wolke ein Lichtecho.
11-32, Seite 469) der Art unserer Sonne auf,
wenn sich eine ihrer Komponenten im Stadium Supernovae
11-48 eines Roten Riesen befindet, während die andere
Modellgrafik einer Nova-
explosion. Neu aufflam- bereits das Stadium eines Weißen Zwergsterns Supernovae sind extreme Explosionen bestimmter
mende nukleare Fusions- erreicht hat. Weiße Zwerge sind normalerweise Klassen von Sternen, die für kurze Zeit so hell
reaktionen auf der Ober- zu keiner Energieerzeugung über Kernfusion mehr leuchten wie eine kleine Galaxie. Diese Fanale
fläche Weißer Zwergsterne
in Doppelsternsystemen. in der Lage. Sie bestehen im Wesentlichen aus den können über riesige Entfernungen hinweg wahr- r
(Bild rechts unten: HST, Produkten normaler thermonuklearer Reaktionen genommen werden, sogar dann noch, wenn sie vor
Nasa). solcher Sterne, nämlich Kohlenstoff und Sauer- r vielen Milliarden Jahren und einen halben Durch-
stoff (denn bei unzureichender Masse werden die messer des sichtbaren Universums von uns entfernt
Stadien des Schalenbrennens nicht vollständig bis stattgefunden haben. Mit etwa einem Ereignis pro
zum Eisen durchlaufen). Infolge schwacher Kon- 50 Jahren in unserer Galaxis sind sie viel seltener
vektion findet sich in oberflächennahen Schichten als gewöhnliche Novae. Diese „Katastrophen“ im
mehr Kohlenstoff, im Kernbereich vorwiegend Kosmos sind (neben dem s-Prozess) Quellen schwe-
der schwerere Sauerstoff. In engen Doppelstern- rerer Elemente als Eisen und die Ursache dafür,
systemen allerdings kommt es nun dazu, das sich dass in unserem Universum auch neutronenrei-
Gase (vorwiegend Wasserstoff), die vom größe- chere Elemente als Bismut existieren. Nur in einer
ren Partner abströmen, auf der Oberfläche des schnellen Reaktion fernab des thermodynamischen
Zwergsterns ansammeln (ÅAbbildung 11-48). Sie Gleichgewichts, wie sie für Supernova-Explosionen
gelangen entweder über eine Akkretionsscheibe typisch sind, können sie überhaupt entstehen.
oder beim Vorliegen starker Magnetfelder auch Besonders zwei Haupttypen von Supernovae
entlang der Feldlinien (ähnlich wie die gelade- sind für die Forschung interessant geworden. Sie
nen Teilchen bei Polarlichtern) über polnahe unterscheiden sich nach gängiger Theorie stark im
Trajektorien auf die Oberfläche. Sie heizen sich Mechanismus der Explosion und zeigen auch Un-
dabei extrem auf und erreichen schließlich die terschiede in den beobachteten Lichtkurven (ÅAb-
Zündtemperatur einer thermonuklearen Reak- bildung 11-46). Sie werden als Typ-Ia-Supernovae
tion. Abhängig von Parametern wie der Masse des bzw. Typ-II-Supernovae bezeichnet.
Zwergsterns, den Eigenschaften des Partners und
den Bahnparametern unterscheidet man mehrere
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Subtypen von Novae, die jeweils ein etwas anderes


Zeitverhalten und Variationen in der Lichtkurve
zeigen. Typisch ist ein Anstieg der Helligkeit um
über 11 Magnituden (entsprechend einem Faktor
von ca. 50 000). Während einer Nova-Explosion
stößt der Zwergstern nur etwa 1/10 000 seiner
Masse ab, die als sichtbare Hülle beobachtbar
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

11-49
Supernova vom Typ Ia. sein kann. Die beteiligten Sterne überstehen auch
Thermonukleare Ketten- wiederholte Explosionen nach diesem Mechanis-
reaktion beim Zusam-
menbruch eines Weißen mus nahezu unversehrt. In unserer Galaxis kommt
Zwerges. es zu etwa hundert Nova-Ausbrüchen pro Jahr.
11-50
Supernova PTF 11kly. In der Pinwheel-Galaxie (M101)
leuchtete am 23. August 2011 eine Supernova des Typs
478 Ia auf. Rechts: Negativ einer Aufnahme der Region mit
dem HST bei 814 nm Wellenlänge vor dem Ausbruch. Sie
zeigt zwei rote Riesensterne, die als mögliche Komponen-
ten des Vorläufersystems angesehen werden.
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Supernovae vom Typ Ia sereich genug, um in kurzer Zeit nacheinander


sämtliche Phasen der Fusionsprozesse des Scha-
Im Zuge wiederholter klassischer Nova-Ausbrü- lenbrennens vom Wasserstoff bis hin zum Eisen
che wird normalerweise weniger Masse abgesto- durchlaufen zu können (H → He → C, O → Ne,
ßen, als vom Nachbarstern zuströmt. Dadurch Mg → Si, S → Fe, Ni). Diese wegen ihrer einige
wird der Weiße Zwergstern immer massereicher zehntausend Kelvin heißen Oberfläche bläulich
und kann schließlich die Chandrasekhar-Grenze erscheinenden Riesensterne zeigen nach außen
der Stabilität weißer Zwerge erreichen (nach hin allerdings bis zuletzt starke Wasserstofflinien.
SUBRAHMANYA Y N CHANDRASEKHAR, 1910 – 1995). Mit jeder Brennphase erhitzt sich der Kern mehr,
Bei 1,457 Sonnenmassen reicht selbst der Gegen- aber die Energie, die noch gewonnen werden
druck (der eine Folge des Pauli-Prinzips ist) der kann, wird immer geringer. Dadurch beschleunigt
hochverdichteten Sternmaterie aus Kohlenstoff sich die Abfolge exponentiell. Die letzten Stadien
und Sauerstoff nicht mehr aus, der Gravitation dauern nur noch Tage und Stunden, und die
standzuhalten. Beim folgenden Kollaps heizt die Temperatur erreicht schließlich um 3 Milliarden
frei werdende Gravitationsenergie die Materie Kelvin. Übrig bleibt ein Kern aus Eisen- und Ni-
derart auf, dass nun plötzlich Kernreaktionen ckelatomkernen.
des Kohlenstoffs und Sauerstoffs in der gesamten Die Erzeugung von Atomkernen, die schwerer
Sternmaterie zünden, die zuvor wegen der zu ge- sind als Eisenatomkerne, setzt keine Energie mehr
ringen Temperatur noch nicht abliefen. In einer frei, sondern benötigt im Gegenteil zusätzliche
immensen nuklearen Kettenreaktion wird der Energie. Die Reaktion kommt deshalb zum Er- r
Weiße Zwergstern völlig auseinandergesprengt. liegen, und der Strahlungsdruck, der den Stern
Im Zuge der Explosion laufen in den äußeren gegen die Gravitation im Gleichgewicht gehalten
Schichten des sterbenden Sterns auch endotherme hatte, bricht abrupt zusammen. Sogar ein Teil der
Kernreaktionen ab, die zur Bildung von Atomker- schon gebildeten Eisenkerne kann durch Gamma-
nen jenseits von Eisen führen (År-Prozess). quanten unter Energieverbrauch wieder zerfallen
Da die Kernreaktion stets bei derselben kriti- (Photodesintegration), und freie Elektronen re-
schen Masse zündet, sind alle Typ-Ia-Supernovae agieren in einem inversen β-Zerfall mit Protonen
nahezu gleich hell. Sie erreichen Temperaturen zu Neutronen. Im Zuge dieser Prozesse setzt eine
von etwa 1 Milliarde Grad und eine 15-milliar- r solche Supernova die ungeheure Zahl von 1058
denfache Sonnenhelligkeit. Dadurch sind sie noch Neutrinos frei, die den ganz überwiegenden Teil
über intergalaktische Distanzen sichtbar und las- der Energie in sich tragen. In Sekundenbruchteilen
sen sich als „Standardkerzen“ zur Entfernungsbe- kollabiert der Kern, bis er sich bei einem Radius
stimmung verwenden. Die letzte Supernova, die von nur etwa 15 – 20km und einer Dichte von
vor Redaktionsschluss dieses Buches beobachtet 4 · 1014 g / cm3 – der Dichte eines Atomkerns –
wurde, war eine solche des Typ Ia in der recht be- nicht mehr weiter komprimieren lässt. Die äußeren
kannten, etwa 21 Millionen Lichtjahre entfernten Sternteile beginnen, auf den verdichteten Kern
Pinwheel-Galaxie (ÅAbbildung 11-50). einzustürzen.
Auch der Rote Riesenstern eines Super- Wenn er seine quantenmechanisch definierte
nova Ia-Systems überlebt diesen Ausbruch nicht dichteste Packung von Kernteilchen erreicht hat
unbeschadet. Seine Hülle wird ins All geblasen. und damit nicht weiter komprimierbar ist, prallt
Der Kern des Sterns, der nun nicht mehr von sei- der Kern wie ein Gummiball zurück. Es kommt
nem Partner auf eine Bahn gezwungen wird, fliegt zu einer so ungeheuren Materieverdichtung, dass
mit hoher Geschwindigkeit ins All, sobald sich selbst Neutrinos, die sich sonst nahezu ungehin-
der größte Teil der Materiereste des Zwergsterns dert durch Materie bewegen, der Weg nach außen
weiter vom Ort des Geschehens entfernt hat. verstellt ist. Die kinetische Energie entlädt sich in
einer gewaltigen nach außen gerichteten Schock-
Supernovae vom Typ II welle, die sich der nach innen fallenden Sternma-
terie entgegenbewegt.
Supernovae des Typs II entstehen nach einem In den äußeren Schichten des Riesensterns ver- r
komplett anderen Mechanismus als solche des ursacht die durchlaufende Schockwelle eine solche
Typs Ia. Sie sind Endstadien schwerer Sterne mit Überhitzung, dass dort verbliebene leichtere Ele-
etwa 10 bis 30 Sonnenmassen. Diese sind mas- mente in einer urgewaltigen Explosion reagie-
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11-51
Supernova vom Typ II. Sterne hoher Masse sind sehr heiß und durchlaufen schnell alle Stadien des Schalenbrennens
bis zum Kollaps der entstehenden Kernzone aus Eisen/Nickel. Die in der Folge ablaufende Explosion reißt große Teile
der Sternmasse mit und bildet einen Emissionsnebel (Supernova-Überrest). Die verbleibende Materie fällt zurück, und
479
47
479
es entsteht ein kompaktes Objekt. Unterhalb einer Restmasse von ca. drei Sonnenmassen ist dies ein Neutronenstern.
Massereichere Überreste können sogar noch kompaktere Objekte ausbilden (Quarkstern, Gravastar, Schwarzes Loch).
KAPITEL 11 Kosmologie

ren. Die äußeren Schichten des Sterns werden Alle im Kosmos entstandenen Elemente vom
durch die Gewalt der Supernova-Explosion mit Lithium bis zum Uran werden übrigens – für
fast 10 Prozent der Lichtgeschwindigkeit als Chemiker schwer zu glauben – von den Astro-
Gaswolken in den Weltraum geblasen. nomen unterschiedslos als „Metalle“ bezeichnet.
Beide Haupttypen von Supernovae tragen Sie dienten späteren Phasen als Rohmaterial für
somit wesentlich zur Bildung schwerer Elemente die Bildung neuer Sterngenerationen. Im Laufe
bei. Die dabei ablaufenden Reaktionen fasst man früherer Sterngenerationen gebildete Elemente
unter dem Begriff r-Prozess zusammen. sind auch in unserer Sonne vertreten und Haupt-
baustoffe der Erde und der Lebewesen.
r-Prozess
Neutronensterne
Charakteristisch für den oben erwähnten
s-Prozess ist, dass dabei niedrige Neutronenflüsse Der Ausgangsstern wird bei der Bildung einer
auftreten, die entstandenen Kernen vor einem er- r SN II (Supernova vom Typ II) nicht vollständig
neuten Neutroneneinfang genügend Zeit für einen zerstört. Ein Überrest von etwa 1,4 – 1,7 Son-
β–-Zerfall gewähren. Wie bereits erwähnt, können nenmassen bleibt erhalten. Dieser Reststern ist
sehr neutronenreiche Kerne wie Uran auf diese so dicht, dass die positiv geladenen Protonen der
Weise nicht gebildet werden. Mit der Identifikation Atomkerne negative Elektronen eingefangen und
des r-Prozesses (r = rapid, schnell) wurde auch ihr sich in Neutronen verwandelt haben. Die „Atom-
Bildungsort entdeckt: Sie entstehen in endothermen kerne“ in den inneren Schichten haben ihre In-
Ungleichgewichtsprozessen während Supernova- dividualität verloren und sind zu einer riesigen
Explosionen unter dem Einfluss von sehr hohen Ansammlung von Neutronen verschmolzen, ei-
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Neutronenflussraten. nem einzigen ungeheuer großen Atomkern oder


Neutronenstern. Dieser wird allerdings nicht von
Spallation Kernkräften zusammengehalten, sondern von der
Gravitation. Der sogenannte „Entartungsdruck“
Die Entstehung der drei Elemente Lithium, Be- der Neutronen (eine Folge des Pauli-Prinzips)
ryllium und Bor gab den Astronomen die größ- verhindert einen weiteren Kollaps. Er sorgt dafür,
11-52 ten Rätsel auf. Nur ein kleiner Teil des Lithiums dass der Neutronenstern nicht zu einem Schwar-
Spallation. Die Elemente
konnte bereits vor den ersten Sternen vorhanden zen Loch mit unendlicher Dichte zusammenfällt.
Lithium, Beryllium und Bor
entstehen nicht direkt in gewesen sein. Die Entstehung dieser drei leichten
Sternen. Sie werden gebil- Elemente in Sternen war einfach nicht möglich. Pulsare
det, wenn Kerne wie 12C Selbst in den kühlsten Sternen hätten sie binnen
von schnellen Protonen
der kosmischen Strahlung kurzem in thermonuklearen Reaktionen vernich- Der bei Supernovae des Typs II entstehende Neu-
mit hoher kinetischer tet werden müssen. Schließlich fand man ihre tronenstern enthält nicht nur einen beachtlichen
Energie getroffen und zu Herkunft in einem Prozess, der als Spallation (Ab- Teil der Masse des Vorgängersterns, sondern auch
kleineren Kernen zertrüm-
mert werden. splittern) bekannt ist. Die Teilchen der kosmischen einen entsprechend hohen Drehimpuls. Durch
Strahlung besitzen so viel Energie, dass sie Atom- die Drehimpulserhaltung, die auch Tänzerinnen
kerne, auf die sie in der interstellaren Materie tref-
f bei schnellen Pirouetten nutzen, kann sich der
fen, einfach durchschlagen können. Dabei werden winzige Reststern in wenigen Sekundenbruchtei-
diese aber so stark angeregt, dass sie kurze Zeit len um seine Achse drehen. Ist sein beim Kollaps
später (innerhalb von etwa 10–16 Sekunden) einige komprimiertes und auf ca. 108 Tesla verstärktes
ihrer Nukleonen ausstoßen oder sogar gänzlich Magnetfeld gegenüber der Rotationsachse ge-
zerplatzen. Beryllium und Bor sind somit nichts neigt, so entsteht aufgrund starker elektrischer
Anderes als zerstrahlte schwerere Atomkerne. Potenzialdifferenzen eine intensive Synchrotron-
11-53 strahlung im Radio- bis Röntgenbereich, die in
Entstehung der Elemente. zwei Strahlkegeln an den Magnetpolen entweicht.
In dieser Variante des Liegt die Erde zufällig im überstrichenen Bereich,
Periodensystems sind die
chemischen Elemente so können wir diese modulierte Strahlung nach-
entsprechend ihren Nukle- weisen. Durch die Aussendung der Strahlung
osynthesewegen markiert. verliert ein Pulsar laufend Rotationsenergie und
wird messbar langsamer, wenn es nicht – wie bei

480
Erde, Wasser, Luft und Feuer

verschiedenen Millisekundenpulsaren angenom- der von den meisten Astronomen angenommenen


men – zu einer Stabilisierung durch ständig von Deutung wird ein solcher Stern zu einem stellaren
außen einfallende Materie kommt. In neuester Schwarzen Loch. Selbst Licht kann seiner Gravi-
Zeit wurde allerdings beobachtet, dass einige Pul- tationswirkung nicht mehr entkommen, wenn es
sare wie J1823-3021A im Kugelsternhaufen NGC innerhalb des sogenannten „Ereignishorizonts“
6624 und sogar der berühmte Überrest der Super- entsteht. Stellare Schwarze Löcher führen auch
nova von 1054 im Krebsnebel auch unerwartet den Beinamen „gefrorene Sterne“ – eine Anspie-
starke Gammastrahlung abgeben. Diese lässt sich lung darauf, dass laut Relativitätstheorie ein hi-
mit den aktuellen Modellen nicht erklären. neinfallendes Raumschiff aus unserer Sicht eine

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extreme Zeitdehnung erfahren würde, sodass
Magnetare es in unserer Eigenzeit unendlich lange für den
Sturz benötigte. Die unglücklichen Raumfahrer
Magnetare sind eine besondere Art von Sternlei- allerdings würden den Ereignishorizont aus ihrer
chen, die mit bis zu 1011 Tesla ein etwa tausend- Sicht möglicherweise unbemerkt durchfliegen und
mal stärkeres Magnetfeld aufweisen als normale damit gewissermaßen aus unserem Universum
Neutronensterne. Etwa einer von zehn Neutro- verschwinden. Den Radius, auf den man eine be- 11-54
nensternen ist ein Magnetar. Typische Durchmes- stimmte Masse zusammenpressen müsste, um die Magnetar. Magnetare las-
sen sich gegenwärtig nicht
ser liegen bei etwa 20 km. Die äußere, ca. 1,5 km Entstehung eines Schwarzen Lochs zu provozie- detailliert beobachten.
dicke Kruste besteht vermutlich aus schweren ren, nennt man Schwarzschild-Radius (nach dem In dieser künstlerischen
Atomkernen (Eisen), während in den inneren Be- Astronom KARL SCHWARZSCHILD, 1873 – 1916). Darstellung sind das ver-
mutete Aufbrechen der
reichen aufgrund des hohen Drucks ein entartetes Ob Schwarze Löcher tatsächlich echte Singula- Eisenkruste und entste-
Neutronengas entstand. Magnetare werden mit ritäten bilden, die Materie also, wie es die Rela- hende Strahlungsausbrü-
nur wenige Minuten andauernden extrem star- tivitätstheorie vorhersagt, tatsächlich auf einen che visualisiert.
ken Röntgen- und Gammaausbrüchen in Verbin- Punkt, eine Singularität zusammenschnurrt oder
dung gebracht, die sogar noch in 40 000 Licht- nur auf eine kleine Raumregion extrem hoher
jahren Entfernung Satelliten außer Gefecht setzen Dichte, ist bis heute genauso umstritten wie der 11-55
können. Es wird vermutet, dass das Magnetfeld Extremzustand zu Beginn unseres Universums. Evolution der Materie.
In den Entwicklungs-
eines Magnetars zum Aufbrechen der Kruste Um die problematische Singularität zu vermeiden, stadien von Sternen
führen und die Ausbrüche verursachen kann. werden von einzelnen Forschern immer wieder unterschiedlicher Aus-
Dabei wurden Hinweise auf seismische Vorgänge alternative Hypothesen (etwa die Gravastar- gangsmassen entstehen
aus Wasserstoff und
in der Kruste gefunden, die den Erdbebenwellen Theorie) zur Diskussion gestellt. Diesen allen ist
Helium schließlich alle
bei irdischen Beben entsprechen. aber gemeinsam, dass gegenwärtig keine Beob- schwereren chemischen
Viele Details dieser Klasse von Objekten sind achtungsdaten vorliegen, mit denen sie sich von Elemente, aus denen
heute noch immer ungeklärt. So scheint es, dass echten Singularitäten unterscheiden ließen. alle chemischen Mole-
küle hervorgehen und
Magnetare auch aus extrem schweren Sternen mit Fallen Gase, Staub oder ganze Sterne in ein schließlich sogar Leben
rund 40 Sonnenmassen entstehen können, obwohl Schwarzes Loch, so tun sie dies sehr spektakulär. entstehen kann.
diese sich nach gängiger Theorie eigentlich zu
Schwarzen Löchern entwickeln sollten. Mögli-
cherweise gibt es Mechanismen, über die solche
Sterne 90 Prozent ihrer Masse verlieren können,
noch bevor sie zu Supernovae werden.

Schwarze Löcher

Bei Sternen von über 10 Sonnenmassen entsteht


nach einer Supernova-Explosion kein Neutronen-
stern, sondern ein ultrakompaktes kosmisches
Objekt. Der Entartungsdruck der Neutronen setzt
der übermächtigen Gravitation nicht mehr ge-
nügend Widerstand entgegen, und die Materie
fällt in sich zusammen. In der Nähe eines solchen
Objekts wird die Raumzeit extrem verzerrt. Nach
KAPITEL 11 Kosmologie

Da sie nie genau senkrecht fallen, werden sie bis etwa 16000 Lichtjahren im Zentrum. Als
zunächst in eine enge Umlaufbahn gezwungen Band erscheint die Scheibe uns nur deshalb, weil
und durch die frei werdende Gravitationsenergie wir uns mit der Sonne innerhalb von ihr befin-
extrem beschleunigt. So bildet sich noch au- den. Nach beiden galaktischen Polen hin sehen
ßerhalb des Ereignishorizonts eine Akkretions- wir nur wenige Sterne. Das Band der Milchstraße
scheibe, in der sich das Material durch Reibung ist nicht überall gleich dicht. Besonders deutlich
auf Millionen Grad aufheizt und unter anderem ist es in Richtung des Sternbildes Schütze aus-
Röntgenstrahlung abgibt. gebildet. Dort befindet sich das Zentrum der
Wie wir im Folgenden sehen werden, schei- Scheibe in etwa 28 000 Lichtjahren Entfernung
nen sich superschwere Schwarze Löcher in den von der Sonne, die sich somit eher in einer Rand-
Zentren fast aller großen Sternsysteme (Galaxien) lage in der Linse befindet. Allerdings erscheint die
zu befinden. Sie können Millionen von Sonnen- Milchstraße von uns aus keineswegs gleichmäßig
massen in sich vereinigen, und ihre Entstehung ist hell, sondern sie ist hier und da von dunklen Be-
Gegenstand aktueller Forschung. reichen durchzogen, die sich als lichtundurchläs-
sige Gas- und Staubwolken herausgestellt haben.
Deep Space Insbesondere die Zentralebene beherbergt
nämlich große Mengen interstellares Gas und
Von der Milchstraße zu den fernsten Plasma, das sogar mehr Masse besitzt als die
Objekten in Raum und Zeit Sterne, und zudem einen gewissen Anteil an in-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

terstellarem Staub. Staubwolken verhinderten


In einer wirklich dunklen, sternenklaren Nacht auch lange Zeit die Sicht auf das Milchstraßen-
sehen Sie am Himmel neben dem beeindruckenden zentrum. Mit optischen Teleskopen auf der Erde
Sternenmeer auch deutlich sichtbar ein milchiges konnte man dem Problem nicht beikommen.
Band, das sich quer über den Himmel zieht: die Jahrzehntelang waren nur Radioteleskope in der
11-56 Milchstraße. Nur noch an wenigen, lichtarmen Lage, den Staub zu durchdringen; erst heute lie-
Milchstraße. Nur im
Teleskop zeigt sich die Stellen der Erde erscheint sie in der selben ein- gen diese Regionen durch Instrumente wie das
Zusammensetzung aus drucksvollen Pracht, wie sie sich früheren Ge- weltraumgestützte Spitzer-Teleskop nun offen
Einzelsternen. Dunkel nerationen dargeboten hat. Diese fanden für das vor uns.
aussehende Staubwolken
– nicht zu verwechseln mit damals auffällige Phänomen verschiedene mytho-
Dunkler Materie – ver- logische Erklärungen. Die berühmteste und na- Ein riesiges Sternsystem
sperren uns bei Frequen- mensgebende entstammt der altgriechischen Sage
zen des sichtbaren Lichts
die Sicht in die dichteren
um Herakles, dem Sohn der sterblichen Alkmene Man schätzt den Gesamtbestand an Sternen in
Regionen des Milchstra- und des Göttervaters Zeus. Dieser soll den Säug- der Milchstraße auf etwa hundert bis dreihun-
ßenzentrums. ling seiner schlafenden, und – nicht ohne Grund dert Milliarden (1 · 1011 – 3 · 1011); viele davon
– stets eifersüchtigen Frau Hera an die Brust gelegt sind kleiner als unsere Sonne, einige aber auch
haben, um ihm über ihre Milch göttliche Kräfte riesig und erreichen die hundertfache Sonnen-
zukommen zu lassen. Diese aber erwachte, und masse.
dabei spritzte ein Strahl göttlicher Milch über Der niederländische Astronom JAN HENDRIK
das gesamte Firmament. Der Name Milchstraße OORT (1900 – 1992), den wir bereits von der
(Galaxis) stammt vom altgriechischen Wort „gala“ Oortschen Wolke um das Sonnensystem her
für Milch. kennen, untersuchte die Struktur der Milch-
Erst mit der Einführung von Teleskopen straße und die Bewegungen der Sterne darin.
wurde erkennbar, dass der „milchige Pinsel- Er entdeckte 1924, dass Sterne nicht nur in der
strich“ sich bei entsprechender Vergrößerung zentralen galaktischen Scheibe vorkommen,
in einzelne Sterne auflösen lässt. WILHELM sondern dass man sie auch in einem kugelför-
HERSCHEL (1738 – 1822) erkannte im Jahr 1785 migen Halo findet, wenngleich deutlich we-
aufgrund systematischer Sternzählungen, dass es niger. Er konnte die Dichten von Sternen und
sich dabei in seiner Gesamtheit um ein flaches, interstellarer Materie bereits gut abschätzen
etwa linsenförmiges Gebilde handeln muss. Sein und eine frühere Vermutung bestätigen, nach
Radius wird heute auf etwa 50 000 Lichtjahre der sich die Sterne um das Schwerezentrum der
geschätzt, und die Dicke der Scheibe variiert von Galaxis bewegen. Unsere Sonne benötigt für
etwa 3000 Lichtjahren in den Außenbereichen einen Umlauf ungefähr 200 Millionen Jahre. Im
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

11-57
Gestalt der Milchstraße. Da wir uns mit der Sonne in
der Scheibe unserer Galaxis befinden, sehen wir die
Milchstraße stets nur als Band am Himmel. Ein direkter
Überblick wie in dieser Grafik (NASA, verändert) ist uns
verwehrt.
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Jahr 1932 publizierte er eine bemerkenswerte Die Nebel lichten sich


Entdeckung: Die Sterne sind eigentlich viel zu
schnell, um von der geschätzten Gesamtmasse Im achtzehnten Jahrhundert stellte der französi-
an Sternen, Gas und Staub auf ihren Bahnen sche Astronom CHARLES MESSIER R (1730 – 1817)
gehalten zu werden. einen heute nach ihm benannten Katalog von über
O O RT untersuchte auch die galaktische hundert rätselhaften Objekten zusammen, die an-
Zentrumsregion in Richtung des Sternbilds ders aussahen als Sterne. Diese Sammlung enthält
Schütze, die als Sagittarius A bezeichnet wird, physikalisch sehr unterschiedliche Strukturen, die
mit ihrer sehr hohen Sternendichte. Dort sollte alle mit M-Nummern bezeichnet werden: Bei-
sich viel später, in den 1990er Jahren, etwas spielsweise gibt es darin kugelförmige Sternhau-
sehr Exotisches finden: Im innersten Zentrum, fen mit Hunderttausenden von Mitgliedern (etwa
dem Saggitarius-Nebel, finden sich Sterne, die M13 im Herkules), wie sie häufig im galaktischen
sich mit immenser Geschwindigkeit von bis Halo anzutreffen sind. In MESSIERs Katalog finden
zu 5000 km/s um ein selbst nicht sichtbares sich außerdem viele gas- und staubhaltige Reste
winziges Objekt herum bewegen! Die einzige von Supernova-Explosionen (ÅPlanetarischer Ne-
logische Erklärung: Unsere Milchstraße ent- bel in Abbildung 11-55, Seite 479481) die wegen
hält im Zentrum ein superschweres Schwarzes ihres in kleinen Teleskopen ähnlichen Aussehens
Loch (Å Abbildung 11-58). Die Masse des als mit dem unpassenden Ausdruck Planetarische Ne-
Sgr A* (gesprochen: „Sagittarius A Stern“) bel bezeichnet wurden. Auch leuchtende Stern-

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


bezeichneten Objekts lässt sich anhand der entstehungsgebiete wie der berühmte Orionnebel
Bahndaten der umkreisenden Sterne auf un- (M42) sind in MESSIERs Liste enthalten.
gefähr 4 Millionen Sonnenmassen bestimmen. Und es fand sich noch etwas Anderes: da-
Doch damit nicht genug: In den letzten Jahren mals rätselhafte elliptische oder spiralförmige
wurden im Umkreis von Sgr A* immer mehr Nebelflecken, allen voran der schon mit bloßem 11-59
kleinere Schwarze Löcher mit jeweils nur rund Auge sichtbare Andromedanebel (M31). Dieses Lokale Gruppe. Als
Schwestergalaxie der
tausend Sonnenmassen entdeckt. Man schätzt Lichtfleckchen am Himmel war erstmals im Jahr Milchstraße gilt die be-
ihre Gesamtzahl in der Re g ion inzwischen 964 von dem persischen Astronomen ABD AR- rühmte Andromeda-Gala-
auf 10 000 bis 20 000. Schwarze Löcher ma- RAHMAN AS-SUFI (903 – 986) aus Isfahan in sei- xie (M31, oben). Zusam-
men mit ihr und der klei-
chen vielen Leuten Angst, weil das endgül- nem Hauptwerk „Buch der Fixsterne“ erwähnt neren Triangulum-Galaxie
tige Dunkel dieser Schlunde an menschliche worden. Sie können ihn in klaren Sommernächten (M33, Mitte) sowie einigen
Urängste rührt. Trotzdem besteht keinerlei im Sternbild Andromeda nahe des auffälligen Kleingalaxien bildet sie die
„Lokale Gruppe“. Die ge-
Grund zur Beunruhigung. Von unserem ruhi- Quadrats des Pegasus aufsuchen (ÅࡳAbbildung
genwärtigen Geschwindig-
gen Logenplatz am Rande der Galaxis können 11-59). keitsvektoren zeigen, dass
wir das Geschehen im Zentrum mit großer Die schöne Andromeda hat es in sich: Im Jahr es in etwa 5 Milliarden
Jahren zu einer Verschmel-
Gelassenheit beobachten. Und obwohl Sgr A* 1923 bewies der amerikanische Astronom ED-
zung der Milchstraße mit
im Vergleich zu einem normalen Stern extrem WINN HUBBLE, was bereits IMMANUEL KANT T hun- Andromeda kommen
massereich ist, hat das Objekt an der Gesamt- dertfünfzig Jahre vor ihm vermutet hatte: M31 sollte. Solche Verschmel-
masse der Galaxis doch einen verschwindend ist nicht etwa ein einfacher Nebel, sondern eine zungen von Galaxien sind
im Kosmos keine Seltenheit
kleinen Anteil von gerade einmal 0,004 Pro- ganze Welteninsel, eine eigene Galaxie, bestehend und für die allermeisten
zent. Selbst wenn sich im Zentralbereich noch aus unzähligen einzelnen Sternen. Ihre Entfernung Sterne nicht katastrophal.
v i e l e u n be k a nn te Sc h wa rz e L öc h e r ve r ber- von uns muss demnach immens sein. Tatsächlich Wiederholte Fusionen
führen zum Anwachsen
gen sollten, tragen sie wohl nur unwesentlich ist dies das am weitesten entfernte Objekt, das der Galaxiengröße. Auch in
zur Masse bei. Möglicherweise sind sie aber wir noch mit bloßem Auge erkennen können unserer Milchstraße lassen
trotzdem ursächlich mit der Entstehung der (wenn man von einigen kurzzeitig aufleuchtenden sich Sternenströme nach-
weisen, die plausibel aus
Galaxis verknüpft, ähnlich wie ein winziger Supernovae einmal absieht). Seine Distanz wird eingegliederten Kleingala-
Kristallisationskeim auch sehr große Kristalle gegenwärtig mit 2,4 bis 2,7 Millionen Lichtjahren xien erklärbar sind.
entstehen lassen kann. angegeben. (Übrigens erstaunlich: trotz der heute
möglichen sehr exakten astronomischen Messun-
gen sind alle intergalaktischen Entfernungsanga-

11-58
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

Sagittarius A*. Infrarot-, Radio- und Röntgenteleskope zeigen, dass sich im Zentrum
unserer Galaxis einige Sterne sehr schnell um ein selbst nicht sichtbares superschweres
Objekt bewegen. Seine Position und Masse (fast vier Millionen Sonnenmassen) lässt
sich besonders genau anhand der Bahndaten von Sternen bestimmen, die ihm bei dem
Umlauf sehr nahe kommen wie die hier eingezeichneten Objekte S0-2, S0-16, S0-17 483
und S0-19.
KAPITEL 11 Kosmologie

ben noch mit bemerkenswerten Unsicherheiten des Spektrums zu kurzwelligerem Licht. Wird
Dreimal
behaftet.) die Entfernung zwischen uns und der Licht-
Rotverschiebung
Mit immer leistungsfähigeren Teleskopen quelle größer, verschiebt sich das Lichtspekt-
Doppler-Effekt
fand man bald Myriaden weiterer Galaxien, die rum entsprechend zu längeren Wellen. In erste-
Lineare Relativbewegung einer sich zu kleineren Gruppen, größeren Haufen und rem Fall spricht man – etwas unexakt, aber an-
Lichtquelle von uns weg führt zu teilweise zu riesigen Superhaufen mit Tausenden schaulich – von Blauverschiebung, in letzterem
einer Rotverschiebung, auf uns
zu entsprechend zu einer Blau-
von Mitgliedern zusammen fanden. Darin müs- von Rotverschiebung. Dieser Effekt lässt sich
verschiebung. Rotiert ein nur als sen die einzelnen Galaxien offensichtlich gravi- hervorragend nutzen, um die großräumigen
Ganzes sichtbares Objekt, so tativ gebunden sein, sonst hätten sie sich schon Bewegungen der Galaxien im Universum zu
führt dies durch Mischung zu ei-
längst gleichmäßig im Raum verteilt. bestimmen. Während sich beim Andromeda-
ner Verbreiterung der Spektralli-
nien. Der schweizer Astronom FRITZ ZWICKY nebel und einigen wenigen anderen Galaxien
(1898 – 1974) untersuchte im Jahr 1933 die Be- eine Blauverschiebung ergab (sie sich also auf
Gravitations-Rotverschiebung wegungen der Komponenten von Galaxienhau- uns zu bewegen), fand HUBBLE eine eigenartige
Muss Licht aus einem Gravitati-
onsfeld entkommen, so verrin- fen und fand Seltsames: Die Geschwindigkeit ist lineare Abhängigkeit: Je weiter ein System von
gert sich nach der allgemeinern so hoch, dass die Mitglieder von Superhaufen uns entfernt ist, desto stärker ist das Licht in
Relativitätstheorie (ART) seine eigentlich nicht beieinander bleiben dürften. Er Richtung Rot verschoben. Alle Versuche, diese
Energie. Es erscheint daher
rotverschoben. Umgekehrt er- vermutete als Ursache eine unsichtbare Dunkle entfernungsabhängige Rotverschiebung z. B.
scheint von außen einfallendes Materie, die genügend Anziehungskraft bewirken mit einer Art „Ermüdung“ der Lichtquanten zu
Licht einem Beobachter in einem sollte. Dies konnte auch die Erklärung für OORTs erklären, scheiterten. Ist unsere Galaxis etwa
starken Gravitationsfeld blauver-
schoben. Befunde sein. ZWICKYs These wurde allerdings das Zentrum der Welt?
jahrzehntelang wenig beachtet, bis schließlich in
Kosmologische Rotverschiebung den 1970er Jahren auch genauere Messungen der
Lichtwellen, die zu einem frühe-
Furioser Auftritt der Welt
ren Zeitpunkt im Universum aus-
Rotationskurven von Galaxien möglich wurden.
gesandt wurden, erscheinen rot- EDWIN HUBBLE beobachtete Galaxien am Die heute allgemein anerkannte Erklärung für
verschoben, denn das elektroma- Mount-Wilson-Obervatorium und teilte sie in die entfernungsabhängige Rotverschiebung fand
gnetische Feld dieser Photonen
unterschiedliche Typen ein. Es gibt unterschied- im Jahre 1927 der belgische Priester und Ast-
hat sich inzwischen zusammen
mit der Raumzeit gedehnt. Für lich ausgeprägte elliptische Galaxien, einfache rophysiker Abbé GEORGES EDOUARD LEMAÎTRE
die Rotverschiebung verwendet Spiralgalaxien, ferner Balkenspiralen sowie ir- r (1894 – 1966) und wurde so zum Vater der
man den Buchstaben z und defi-
reguläre Galaxien (Å Abbildung 11-61). Heute Urknall-Theorie: Wenn das Universum als Ge-
nert sie als: z = (λb – λ0) /λ0.
λb ist die beobachtete, λ0 die wissen wir, dass unsere Milchstraße zum Typ samtes expandiert, besteht eine Situation, die
ausgesandte Wellenlänge. der Balkenspiralen gehört (ÅAbbildung 11-57, mit einem einfachen Modell zu erklären ist
Seite 482). (Å Abbildung 11-62). Rechnete man die Bewe-
11-60 HUBBLE untersuchte auch die sogenannte gung der Galaxien zurück, so war der Schluss
Doppler-Effekt. Beim Doppler-Verschiebung der Spektren des And- unvermeidlich, dass das Universum aus einem
Doppler-Effekt (bei der
romedanebels und anderer Spiralnebel. Dieser Anfangszustand hervorgegangen sein musste,
Doppler-Verschiebung)
beobachtet man eine Wel- bereits 1842 von dem österreichischen Phy- bei dem alle Materie auf engstem Raum kon-
lenlängenverschiebung siker und Mathematiker CHRISTIAN ANDREAS zentriert war. Dieser musste ungeheuer dicht
aufgrund einer Relativbe-
DOPPLER (1803 – 1853) für Doppelsterne vor- und heiß gewesen sein – vielleicht sogar punkt-
wegung zwischen Licht-
quelle und Beobachter. hergesagte Effekt entspricht der Verschiebung förmig und unendlich dicht. Heute lässt sich die
Sie ist in Linienspektren des Fahrgeräuschs eines vorbeifahrenden Autos Expansion des Alls auch unabhängig von der
leicht nachweisbar, da von hohen zu tiefen Tönen und beruht einfach kosmologischen Rotverschiebung z (Å Rand-
jedes Atom und Ion Linien
charakteristischer Farbe darauf, dass bei relativer Annäherung mehr spalte) nachweisen, nämlich aus Helligkeit und
absorbiert oder emittiert, Wellenberge und -täler pro Sekunde unser Ohr Sichtwinkel von Galaxien mit gleicher Rotver-
die auch nach der Ver- erreichen, als wenn sich die Schallquelle von uns schiebung. Erwartungsgemäß ergibt auch diese
schiebung wie Fingerab-
drücke identifiziert werden entfernt. Bei Licht bewirkt eine Geschwindig- Betrachtung eine Expansionsrate wie durch die
können. keitskomponente auf uns zu eine Verschiebung Urknalltheorie vorausgesagt.
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Sieg der Argumente bei den Galaxienhaufen


ZWICKYs ergeben die
GEORGES LEMAÎTRE besuchte im Januar 1933 Messwerte, dass mehr
ALBERT EINSTEIN am California Institute of Tech- Materie da sein muss,
nology in Pasadena. Obwohl EINSTEIN zunächst als sichtbar ist – und
Anhänger eines ewig währenden statischen Uni- zwar sehr viel mehr!
versums war, ließ er sich von LEMAÎTRES Inter-
pretation der Beobachtungsdaten HUBBLEs von Licht (fast) vom Anfang der 11-62
einem mit einem Urknall beginnenden Kosmos „Ballon-Universum“.
Welt Klebt man auf einen Bal-
überzeugen.
lon Konfettischnipsel auf,
So einleuchtend das Ballon-Modell auch sein In den Jahren 1964 / 65 versuchten der Physiker die Galaxien repräsentie-
mag, in einem Punkt ist Vorsicht geboten: Es ARNO ALLAN PENZIAS (*1933) und der Astro- ren sollen, und bläst ihn
danach auf, so entfernen
verleitet zu der Annahme, der Raum selbst habe nom ROBERT WOODROW WILSON (*1936) die
sich die Papierschnipsel
bereits vor dem Urknall existiert und dieser sei le- Empfindlichkeit einer Empfangsanlage der Bell- von jedem anderen aus
diglich eine gewöhnliche Explosion gewesen, die Laboratorien zu optimieren, deren Hornantenne gesehen schneller, je
Materie und Energie in den Raum katapultierte. eigentlich für Experimente zur Kommunikation weiter sie voneinander
entfernt sind. Die Sterne
Doch weit gefehlt: Durch den Urknall dehnt sich mit Satelliten gedacht war. Aber monatelang innerhalb einer einzelnen
die Raumzeit selbst aus. Es existiert also in unse- ging die Sache nicht recht voran, denn ein un- Galaxie sind davon nicht
rem Universum gar kein „leerer“ Weltraum, der erklärliches, permanent einfallendes Störsignal betroffen, da sie zuein-
ander zu nah sind, aber
noch nicht von der Urexplosion erreicht wäre. machte ihre eigentliche Arbeit unmöglich. Die auch durch Gravitation
Man sollte sich im Ballon-Modell vorstellen, mysteriöse Quelle dieses Rauschsignals ließ sich aneinander gebunden
wir seien zweidimensionale schattenhafte Wesen, partout nicht lokalisieren. Es war unabhängig sind. Der Bewegung von-
einander weg ist allerdings
die nur in der unendlich dünnen Oberfläche der vom Stand der Sonne und kam anscheinend aus in der Realität eine mehr
Gummimembran existieren. Die Dimension, in allen Richtungen gleichzeitig. Irdische Ursachen, oder weniger zufällige
die hinein sich der Ballon ausdehnt, entzieht sich etwa benachbarte Städte, kamen daher nicht in Eigenbewegung der Gala-
xien überlagert, die dafür
unserer Vorstellung. Betracht. Sogar ein Vogelnest in der Antenne verantwortlich ist, dass
In diesem Sinne ist auch die Rotverschiebung selbst wurde fälschlicherweise verdächtigt. In einige uns besonders nahe
der Galaxien keine „echte“ Geschwindigkeits- ihrer Verzweiflung kam ihnen, wie so oft in der Galaxien (wie der Andro-
medanebel) sich auch auf
Rotverschiebung aufgrund einer Bewegung der Wissenschaftsgeschichte, ein Zufall zu Hilfe.
uns zubewegen können.
Galaxien im Weltraum, sondern sie ist eine Folge In einem Telefonat mit dem Physiker ROBERT
der Expansion des Raums selbst und wird als HENRY DICKE (1916 – 1997) von der nahegele-
kosmologische Rotverschiebung bezeichnet. genen Princeton University klagten sie ihr Leid.
Die einfache Doppler-Rotverschiebung, die Ihr Gesprächspartner muss damals wie elektri-
tatsächlich auf Bewegungen im Raum beruht, siert gewesen sein, denn genau ein solches Signal
kann allerdings auch noch in anderem Zusam- plante er im Mikrowellenbereich zu suchen. Er
menhang genutzt werden. Da wir nur selten hatte nämlich berechnet, dass ein Nachglühen
genau von oben oder unten auf die Äquatorebene des Urknalls heute noch zu finden sein müsste –
von Galaxien blicken, erzeugt die Rotation ihrer und zwar als typische Schwarzkörperstrahlung
Bestandteile um das jeweilige Galaxienzentrum mit einer charakteristischen Temperatur von drei
auf der einen Seite eine Verschiebung ins Blaue, Kelvin. Damals war in Vergessenheit geraten,
auf der anderen Seite ins Rote. Somit bietet sich dass entsprechende Strahlungsrelikte des Urknalls
eine Möglichkeit, die Umlaufgeschwindigkei- bereits in den 1940er Jahren in gemeinsamen Rot, röter, Mikrowelle ...
ten von Sternen um ihr Galaxienzentrum direkt Arbeiten des russisch-amerikanischen Physikers
zu messen. Trägt man die Rotationskurve der GEORGE GAMOW, seines Schülers RALPH ASHER Die kosmologische Rotverschie-
Sterne um das Zentrum gegen den Radius auf, ALPHER (1921 – 2007) sowie vom Physiker und bung der Mikrowellen-Hinter-
grundstrahlung des Universums
so ergibt sich ein eindeutiges Bild: Ähnlich wie Kosmologen ROBERT HERMAN (1914 – 1997) be-
entspricht dem Verhältnis der ur-
schrieben worden waren. Die Entstehung der sprünglichen zur heutigen Strah-
Mikrowellen-Hintergrundstrahlung kann auf un- lungstemperatur.
gefähr 380 000 Jahre nach dem Urknall datiert Sie beträgt:

werden. Damals betrug der Radius des heute z = 3000 K / 2,725 K


beobachtbaren Teils des Universums gemäß Mo- = 1089 (±0,1).
dellrechnungen nur ungefähr ein Tausendstel

11-61 485
Hubble-Gabel. Galaxien werden nach Ihrer äußeren Form mit Buchstabencodes bezeichnet. Man unterscheidet die
Grundtypen: Elliptische Galaxien (E), Spiralgalaxien (S) und Balkenspiralen (SB) und untergliedert weiter nach dem Grad
der Ausprägung. Irreguläre Galaxien (Irr) können z.B. Folgen von Kollisionen sein.
KAPITEL 11 Kosmologie

Größe des Universums – Distanzskalen

Die Frage nach der Ausdehnung des Universums scheint auf den Helligkeits-Distanz DL (Luminosity) – Die Helligkeit eines ent-
ersten Blick leicht zu beantworten zu sein, denn man glaubt das fernten Objekts nimmt auf kurze Distanzen mit dem Quadrat
Alter mit 13,7 Milliarden Jahren aufgrund der Beobachtung des der Entfernung ab (ÅࡳAbbildung 11-31, Seite 468). In einem
Mikrowellenhintergrunds inzwischen recht genau zu kennen. expandierenden Universum allerdings ist diese Abnahme viel
Sollte nicht ein damals – nur wenige hunderttausend Jahre nach stärker, da sich die früher ausgesandten Lichtteilchen ja auf einen
dem Urknall – ausgesandtes Lichtteilchen inzwischen 13,7 Milli- viel größeren Raum verteilen. Zudem werden sie durch die Deh-
arden Lichtjahre zurückgelegt haben? nung der Raumzeit viel langwelliger und damit energieärmer. Die
Bei genauerem Hinsehen stimmt diese Überlegung aber nicht. entferntesten Galaxien, die z.B. im Hubble-Teleskop noch sicht-
Während das Photon unterwegs war, hat sich das Universum, die bar sind, erscheinen deshalb so lichtschwach, als wären sie (in
Raumzeit selbst, ja ständig ausgedehnt. Sowohl der Weg, den das einem statischen Universum) 350 Milliarden Lichtjahre entfernt.
Lichtteilchen bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zurückgelegt
hatte, wie auch der noch verbliebene Weg veränderten sich deshalb Winkeldurchmesser-Distanz DA (Angular) – Die entferntesten
laufend. Könnte ein solches Teilchen zurückblicken, so würde es gerade noch sichtbaren Galaxien sehen wir so, wie sie vor fast
erstaunt feststellen, dass es sich sogar mit Überlichtgeschwindig- 14 Milliarden Jahren aussahen. Sie standen uns in jener Zeit
keit von seinem Ursprung weg bewegt hat. Für die Ausdehnung aber noch sehr viel näher, nur wenige Milliarden Lichtjahre
des Raumes gilt keine „Einsteinsche Geschwindigkeitsbeschrän- entfernt. Da nähere Dinge aber unter einem größeren Sehwinkel
kung“! Summiert man die Effekte, so kommt man heute zu einem erscheinen, sehen sie für uns viel größer aus als vergleichbare
Radius des beobachtbaren Universums von ca. 47 Milliarden nähere Galaxien. Sie haben deshalb auch eine besonders geringe
Lichtjahren. Nur aus diesem Bereich konnten uns seit dem Urknall Flächenhelligkeit. Aus dem Vergleich der Winkeldurchmesser
Informationen erreichen. Fast alle Kosmologen gehen aber von lässt sich somit (unter Annahme eines flachen Universums) auf
Modellen aus, in denen die Ausdehnung des gesamten Universums die frühere Entfernung schließen.
sehr viel größer ist als die des von unserer Position aus beobacht-
baren Universums. Hier gibt es nur vage Hinweise darauf, dass Mitbewegungs-Distanz DC (comoving) – Dies ist eine Entfer- r
es mindestens 78 Milliarden Lichtjahre sein müssten. Der wahre nungsskala, die sich zusammen mit dem Universum ausdehnt.
Wert könnte aber auch sehr viel größer sein. Beispielsweise sagt Sie sagt aus, wie weit die Galaxien heute entfernt sind, obwohl
die Inflationstheorie voraus, dass es etwa 1023 Mal (!) größer wir sie natürlich nur in einem früheren Zustand sehen, als sie
ist – und selbst eine unendliche Ausdehnung wird diskutiert. Ein noch viel näher bei uns und jünger waren. In dieser Größenskala
philosophisches Problem in unendlich großen oder sehr großen ist der Rand des sichtbaren Universums etwa 47 Milliarden
Universen ist die Tatsache, dass darin auch sehr unwahrscheinliche Lichtjahre von uns entfernt. Die entferntesten mit dem Hubble-
Ereignisse mit hoher Wahrscheinlichkeit vorkommen. Teleskop gerade noch sichtbaren Galaxien sind etwa 32 Milli-
Man verwendet in der Kosmologie hauptsächlich vier Skalen arden Lichtjahre entfernt.
zur Entfernungsmessung. Es lohnt sich, diese näher anzuschauen,
denn sie helfen uns, die Vorgänge im sich ausdehnenden Kos- Lichtreisezeit-Distanz DT – (Travel time)
mos besser zu verstehen. Die Lichtreisezeit-Distanz sagt einfach aus, wie lange das Licht
von weit entfernten Galaxien zu uns unterwegs war. In dieser
Skala ausgedrückt, gibt es natürlich keine Entfernungen sicht-
barer Objekte, die größer sind als die 13,7 Milliarden Jahre, die
man heute als Alter des Universums annimmt. Von möglichen
Objekten, deren Entfernungen auf dieser Skala größer wären,
könnte uns bis heute noch kein Licht erreicht haben.

11-63
Größe des beobachtbaren Universums. Die Größe des von unserer Posi-
tion aus prinzipiell beobachtbaren Teils des Unversums ist begrenzt durch
die Zeit, die das Licht seit dem Urknall unterwegs war. Durch die Deh-
nung der Raumzeit, die während der Lichtausbreitung erfolgte, sind die 11-64
entferntesten Regionen für mitbewegte (comoving) Beobachter heute ca. Kosmische Entfernungsskalen. Bei weniger als ca. 2 Mrd. Lichtjahren Ent-
DC = 47 Milliarden Lichtjahre entfernt. fernung unterscheiden sich die verschiedenen Distanzskalen nur wenig.
Erde, Wasser, Luft und Feuer

seiner heutigen Größe, nicht einmal die zwan- allgemeiner Relativitätstheorie (ART) gab es
zigfache heutige Distanz zum Andromedanebel. Versuche, die Gestalt und Entwicklung des
Der gesamte Kosmos war zu diesem Zeitpunkt Kosmos daraus herzuleiten. Bekannt sind etwa
noch etwa das, was man sich unter einer Hölle die 1917 vom niederländischen Astronom
vorstellen kann. Lichteilchen wurden ständig WILLEM DE SITTER (1872 – 1934) erarbeiteten
an elektrisch geladenen Teilchen des Plasmas Modelle und insbesondere die 1922 veröffent-
gestreut und verhinderten so auch deren Zusam- lichten, allgemeineren Gleichungen des russi-
menballung zu gravitativ gebundenen Strukturen schen Mathematikers und Physikers ALEXANDER
(ÅࡳSeite 494). ALEXANDROWITSCH FRIEDMANN (1888 – 1925).
Als die Temperatur des sich weiter ausdeh- Unter der zusätzlichen Randbedingung eines
11-65
nenden und abkühlenden Urplasmas erstmals auf sehr großen Längenskalen homogenen und
Primordiale Elemente und
etwa 3000 Kelvin unterschritt, konnten sich aus isotropen Universums bestimmen ihre Lösungen ihre Isotope. Die Entste-
Protonen und Elektronen neutrale Wasserstoffa- die Gestalt der Raumzeit. hung leichter Elemente
(vor allem Wasserstoff-
tome bilden. Durch das weitgehende Verschwin- Aus astronomischen Beobachtungen lässt sich
und Heliumisotope) im
den freier Ladungsträger (Rekombination) wurde tatsächlich bestätigen, dass wir keine heraus- Urknall war bereits nach
das Universum transparent für das Gros der gehobene Beobachtungsposition im Universum Minuten abgeschlossen.
elektromagnetischen Wellen: Materie und elek- einnehmen, ein Postulat, das später als „kosmo- ROBERT VERNON WAGONER,
WILLIAM FOWLER, und
tromagnetische Strahlung entkoppelten sich. logisches Prinzip“ bekannt wurde. Es besagt, dass FRED HOYLE konnten 1974
Aufgrund der Ausdehnung des Raumes wur- das sichtbare Universum heute auf sehr großen nachweisen, dass sich
den die Wellen dieses Lichts inzwischen so weit Längenskalen (ab etwa 100 Millionen Lichtjah- dabei die Mengenverhält-
nisse zwischen den Iso-
gedehnt (kosmologische Rotverschiebung), dass ren) ungefähr gleichförmig aufgebaut ist, dass topen der leichtesten Ele-
sie inzwischen der Schwarzkörperstrahlung eines die Naturgesetze nicht von Ort und Richtung mente ergaben, die heute
Körpers von etwa drei Kelvin und damit einer abhängen, und insbesondere dass der Kosmos tatsächlich beobachtet
werden. Sie lieferten damit
Mikrowellenstrahlung entsprechen mussten. Wie überall ungefähr dieselbe Materiedichte aufweist. ein wichtiges Argument
sich herausstellte, war die mysteriöse Störung in (Tatsächlich muss man jedoch zugeben, dass dies für die Urknalltheorie.
der Hornantenne nichts anderes als genau diese keineswegs streng bewiesen ist – wir sind stets da- Schwerere Atomkerne
bildeten sich in den ver-
im wahrsten Sinne „All“gegenwärtige Hinter- rauf angewiesen, den beobachtbaren Bereich auf schiedenen Lebenszyklen
grundstrahlung. Sie entsprach mit 2,725(1) K das unsichtbare Restuniversum zu extrapolieren.) der Sterne.
sehr gut den Erwartungen einer thermischen Wie nahe kommt man dem Urknall mit solchen
Gleichgewichtssituation vor der Rekombination, Theorien? Wann war das Universum nur einen
und ihre Messung wurde zu einem der wichtigs- Meter groß? Wann so groß wie ein Atom oder Kosmologisches Prinzip.
ten Fundamente moderner Kosmologie. noch kleiner? Das Problem: Das klassische Ur- r So wird das Postulat ge-
nannt, dass der Weltraum
Die Entdeckung der Mikrowellenstrahlung knall-Modell geht davon aus, dass das Universum von jedem Punkt aus und
bestätigte die Urknalltheorie auf eindrucksvolle in einer Singularität begann, einem Punkt unendli- in jede Richtung betrach-
Weise. Sie brachte den beiden Entdeckern dieser cher hoher Dichte, der sich im Rahmen bekannter tet gleich aussieht. Zumin-
dest auf großen Skalen
Hintergrundstrahlung, PENZIAS und WILSON Physik nicht sinnvoll beschreiben lässt. Selbst wenn betrachtet, ist dies mit
1978 den Physiknobelpreis ein. Sowohl ALPHER man keine unendliche Dichte annimmt, sondern den Beobachtungsdaten
wie auch HERMAN und DICKE dagegen gingen nur von einem extrem kleinen Universum noch konsistent. Implizit setzt
das kosmologische Prin-
leer aus. Und GAMOW, der große alte Mann endlicher Dichte ausgeht, haben wir allen Grund,
zip auch voraus, dass für
des Urknalls, war zu diesem Zeitpunkt bereits zumindest an der Gültigkeit der ART in diesen jeden Beobachter unab-
seit zehn Jahren tot. Die weitere Untersuchung Bereichen zu zweifeln. Die ART beschreibt das hängig von Zeit und Ort
dieselben Naturgesetze
der Mikrowellenstrahlung führt uns zurück in Universum in allen Dimensionen oberhalb von
gelten. Dies kann zumin-
eine Zeit, als das Universum nur 0,003 Prozent Atomen sehr erfolgreich. Aber kurz nach seiner dest zeitlich sehr nah beim
seines heutigen Alters erreicht hatte. Entstehung war das Universum so klein, dass es Urknall nicht mehr sicher
dem Regime der Quantenmechanik unterworfen angenommen werden.

Den ersten Augenblicken auf der Spur war. Quantenfluktuationen führten dann zu einer
unstetigen Verzerrung des Raumes, der damit nicht
Mit immer besseren Modellen kann man sich mehr durch die ART beschreibbar ist.
den Geschehnissen um den Urknall aber noch Aber es gibt noch andere Schwierigkeiten. Jenseits der ART. Die
sehr viel weiter nähern, als es die Beobachtung Die nahezu perfekte Isotropie der Hintergrund- Gültigkeit der allgemeinen
Relativitätstheorie (ART)
des Mikrowellenhintergrunds erlaubt. Bereits strahlung weist nämlich darauf hin, dass sich das muss bei extrem kleinen
kurz nach der Veröffentlichung von EINSTEINs Universum anfangs in einem thermodynamischen Skalen bezweifelt werden.

487
KAPITEL 11 Kosmologie

Gleichgewicht befunden haben muss. Das Strah- Inflation


lungsspektrum entspricht in jeder Richtung dem
eines schwarzen Strahlers (Å Strahlungsgesetze Im Jahre 1979 entwickelten ALEX EI A. STA
E EI T ROBINSKY
von STEFAN bis PLANCK, Seite 96). Allerdings (*1948) sowie unabhängig davon 1981 ALAN N H.
sollte sich das Universum während der gesamten GUTH (*1947) und PAUL A L J. STEINHARDT (*1952 )
Zeit mit Überlichtgeschwindigkeit ausgedehnt eine Theorie des frühen Universums, die diese Pro-
haben (ÅKasten Größe des Universums – Dis- bleme scheinbar zwanglos zu lösen half. Sie gingen
tanzskalen, Seite 486). So wäre niemals Zeit ge- davon aus, dass sich das Universum zu einer sehr
Isotropie blieben, dass sich anfängliche Schwankungen von frühen Zeit, nämlich ab etwa 10–35 Sekunden nach
Unabhängigkeit einer
Eigenschaft von der Rich-
Dichte und Temperatur zu einem thermodynami- dem Urknall, innerhalb von rund 10–30 Sekunden
tung. schen Gleichgewicht hätten ausgleichen können. mindestens um den Faktor 1018 ausdehnte, was 60
Hierzu müssten sich ja Energie und Materie mit Verdopplungen seiner jeweiligen Größe entspricht.
Superluminale Ausdeh- Überlichtgeschwindigkeit zwischen verschiedenen In dem zuvor noch winzigen Universum herrschte
nung
Teilen des Universums bewegen. Vielmehr sollte thermodynamisches Gleichgewicht, und die damit
Eine überlichtschnelle
Ausdehnung des Univer- man erwarten, dass sich anfängliche Schwankun- verbundene Isotropie des Raumes blieb durch die
sums ist kein Widerspruch gen durch die Ausdehnung inzwischen gigantisch Inflation nicht nur erhalten, sondern wurde noch
zur Relativitätstheorie, da vergrößert hätten – und diese müssten sich noch viel ausgeprägter. Die extreme Aufblähung des
diese nur die Geschwin-
digkeit von Objekten in heute unter anderem in einer anisotropen Mik- Raumes bedeutete auch, dass dieser viel größer
der Raumzeit beschränkt, rowellenstrahlung manifestieren. sein sollte als das heute von uns beobachtbare
nicht aber die Dehnung Ebenfalls ungeklärt war zunächst die extreme Universum. Dies erklärt, warum der Raum um
der Raumzeit selbst.
Flachheit des heutigen Universums (Krümmungs- uns herum so flach erscheint. Die sich als Galaxien
radius >1060 Meter!), die sich aus der Anwen- und Galaxienhaufen manifestierende Inhomogeni-
Baryonische Materie dung der Friedmann-Gleichungen ergibt, wenn tät der Materieverteilung ist ihrerseits eine Folge
Baryonen nennt man in
man in sie die inzwischen recht gut abschätzbare von Quantenfluktuationen während der Inflation,
der Elementarteilchen-
physik die schweren, aus durchschnittliche Materie- und Energiedichte ein- die sich räumlich ins Gigantische vergrößerten.
Quarks bestehenden Teil- setzt. Sie wäre nur erklärbar, wenn die Dichte Für die Inflation soll die Zustandsänderung
chen. Man grenzt damit des Universums nach dem Urknall aufs genaueste eines skalaren Quantenfelds verantwortlich sein,
Teilchen wie Neutronen
und Protonen gegen die abgestimmt wäre. Bereits geringste Abweichun- das sich ähnlich wie das Feld des Higgs-Bosons
leichten Leptonen (z. B. gen würden zu wesentlich stärkerer Krümmung verhält (ÅWie Teilchen ihre Masse bekommen,
Elektronen) ab. Astro- der Raumzeit führen – eine wahrhaft „göttliche“ Seite 436). Während das Quantenfeld in einen
nomen verstehen unter
„baryonischer Materie“ Koinzidenz! Außerdem hatte man mit der ur- energetisch günstigeren Zustand übergeht, sinkt
aber alles, was aus klassi- sprünglichen Urknalltheorie Schwierigkeiten, die seine Energiedichte; dies entspricht einem negati-
schen Elementarteilchen Entstehung großräumiger Strukturen wie Gala- ven Druck, der gemäß der ART abstoßend wirkt
aufgebaut ist, inklusive
der Leptonen. xienhaufen zu erklären, und die Theorie sagt das und zu einer Expansion des Raumes führt.
Vorkommen magnetischer Monopole voraus, die Obwohl man über den genauen Mechanis-
in der Realität offensichtlich nicht vorhanden sind. mus der Inflation gegenwärtig nur spekulie-
ren kann, wird diese Theorie heute von der
Mehrzahl der Kosmologen als das wahrschein-
lichste Erklärungsmodell für die Entwicklung
des Universums angesehen. Allerdings gibt es
auch Zweifel. So setzt die Inflation die exakte
Feinabstimmung eines Parameters voraus, der
die Expansionsgeschwindigkeit während der In-
flation bestimmt. Da eine Theorie des zugrunde
liegenden Quantenfeldes fehlt, ist dieser Wert
11-66 nicht aus anderen bekannten Größen ableit-
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Inflationsphase. Gemäß
bar. Darüber hinaus scheint es wahrscheinlich,
der Inflationstheorie hat
das Universum kurz nach dass die Inflation keineswegs nur einmal zu
seiner Entstehung eine Pe- Beginn des Universums auftrat, sondern laufend
riode rapiden Wachstums und ewig ist, jeweils an anderen Punkten des
durchlaufen. Die Geo-
metrie wurde dabei quasi praktisch unendlichen Universums. So wäre der
„glattgebügelt“. gesamte Raum erfüllt mit riesigen Blasen, die

488
Erde, Wasser, Luft und Feuer

jeweils unserem bekannten Teil des Universums Diese Entdeckung der Anisotropie des Mik-
entsprechen, allerdings nur im Prinzip: In jeder rowellenhintergrunds war für die Kosmologie
dieser Blasen können völlig andere Verhältnisse so bedeutsam, dass den Astrophysikern JOHN
herrschen. In manchen ist die Materie zu fein ver- r C RO MWELL M ATHER (*1946) und G EO RG E
teilt, als dass sich Sterne und damit auch Planeten FITZGERALD S MOOT III (*1945) hierfür der
und Leben bilden könnten, in anderen wiederum Physiknobelpreis des Jahres 2006 zugesprochen 11-68
herrscht eine Fülle an Sternen, Galaxien und Ga- wurde. Die Ergebnisse konnten ab 2002 durch Isotropie. Auf einer groben
laxienhaufen. Unsere Blase liegt dabei in einem die Nachfolgemission WMAP (Wilson Micro- Temperaturskala (0 – 4 K) ist
nur isotrope Strahlung von
Mittelfeld. Dass sie gerade so ist, wie sie ist, wäre wave Anisotropy Probe) großartig bestätigt und T = 2,728 K erkennbar.
kein besonders großer Zufall, schließlich gebe es noch viel detaillierter ausgearbeitet werden.
eine praktisch unendliche Menge unterschiedlicher Die Bilder der Hintergrundstrahlung erin-
Blasen – wenigsten eine „passende“ muss also mit nern an unterschiedlich große Tintenkleckse.
hoher Wahrscheinlichkeit dabei sein. Die Auswertung erfolgt hauptsächlich, indem
Eine wichtige Frage war deshalb, ob die Vertei- man die beobachteten Temperaturschwankun-
lung der Mikrowellenstrahlung wirklich so isotrop gen in Beiträge unterschiedlich großer Winkel-
ist, wie bei einem inflationär aufgeblähten thermo- variationen zerlegt und als eine Art Spektrum
11-69
dynamischen Gleichgewichtszustand zu erwarten, aufträgt (ÅAbbildungen 11-69 und 11-70). Dipol-Term. Die Variation
oder ob sich aufgrund von Dichteschwankungen Die beobachtete Variation höherer Momente um ΔT = 3,353 mK lässt
im anfangs noch winzigen Universum Bereiche mi- wird dabei als Gravitations-Rotverschiebung sich als Relativbewegung
mit 368 km/s gegenüber
nimaler Temperaturabweichungen zeigen würden. des Lichts beim Entkommen aus unterschied- dem Mikrowellen-Strah-
Zur Beantwortung dieser Frage trugen und lich dichten Regionen gedeutet. Angleichung lungsfeld erklären.
tragen vor allem Weltraummissionen bei. Daten von Spektren aus Modellrechnungen an die
des 1989 gestarteten Satelliten COBE (Cosmic Beobachtungsdaten erlauben die Bestimmung
Background Explorer) waren die ersten Hoff- grundlegender kosmologischer Parameter.
nungsträger. Die diversen bekannten Strah- Wie viel Information sich in der detaillier-
lungsquellen im Vordergrund (beispielsweise ten Winkelstruktur der Temperaturvariationen
Supernova-Überreste und Radiogalaxien sowie verbirgt, ist erstaunlich. Erstmals lässt sich
eine Vielzahl von Quellen in der Milchstraßene- damit das Alter des Universums mit 13,7 ±
bene) mussten dazu natürlich zunächst sorgfältig 0,11 Milliarden Jahren relativ genau angeben.
kartiert und herausgerechnet werden. Zu den Nach gegenwärtiger Interpretation der Daten
ersten Entdeckungen gehörte eine deutliche di- muss man zudem davon ausgehen, dass die
polare Frequenzverschiebung im Promillebereich daraus abgeleitete Materie- und Energiedichte
– in eine bestimmte Richtung hin zu kürzeren des Universums nur zu ungefähr 4,6 Prozent
Wellen und entsprechend in der Gegenrichtung (!) durch normale Materie (und Energie) abge-
hin zu längeren. Diese Erscheinung war nicht das deckt ist. Zwei ganz andere Akteure scheinen
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

erhoffte Ergebnis, aber schon für sich gesehen die Hauptrollen im kosmischen Theater zu
interessant. Sie kann als echter Doppler-Effekt spielen: mysteriöse Dunkle Materie und noch
gedeutet werden, der durch die Relativbewegung schwerer zu fassende Dunkle Energie. Dabei
unseres Sonnensystems gegenüber dem univer- bedeutet der Begriff „Dunkel“ eher transparent
salen Strahlungsfeld entsteht. Dieses spielt die bzw. unsichtbar, denn diese Materie bzw. Ener-
11-70
Rolle eines aus unserer Sicht ruhenden globalen gie scheint mit normaler baryonischer Materie Vermessung des Mikro-
Bezugsystems. Für die weitere Auswertung wird ausschließlich über die Gravitation in Wechsel- wellenhintergrunds. Die
diese Variation ebenfalls herausgerechnet. wirkung zu treten. Die Berechnungen ergeben Weltraumteleskope COBE
(1989/1990), WMAP
In der Sache selbst tat sich aber zunächst nichts 23 Prozent Dunkle Materie und 72 Prozent (2002) und Planck (2009,
Spektakuläres: Nach der Auswertung einer ersten Dunkle Energie. Auswertung nicht abge-
Überblicksmessung befand man noch Mitte 1990: Noch genauere Resultate erhofft man sich schlossen) konnten die Va-
riation des kosmischen Mi-
Alles flach – keine Temperaturschwankungen! vom Infrarot-Weltraumteleskop Planck, dessen krowellenhintergrunds auf
Erst nach Erhöhung der Genauigkeit durch Aus- Mission bis Ende 2011 geplant war. Allerdings immer detaillierteren Skalen
wertung größerer Datenmengen gelang tatsächlich stellte sich heraus, dass bei der Vermessung mit untersuchen. Ihre Ergeb-
nisse haben die wichtigsten
der Nachweis von richtungsabhängigen Variati- dieser extrem hohen Genauigkeit das von den
Erkenntnisse geliefert, auf
onen (Anisotropien) der Strahlungstemperatur Vorgängermissionen gewohnte klare Bild des denen die moderne Kosmo-
in der Größenordnung von tausendstel Prozent. Mikrowellenhintergrunds schwieriger heraus- logie beruht.

11-67
Gravitations-Verschiebung. Photonen, die aus dichteren
Regionen (weiß) entweichen, erfahren eine Energiemin- 489
derung (Rotverschiebung), umgekehrt erhöht sich die
Energie von Licht aus durchschnittlich weniger dichten
Regionen (Blauverschiebung).
KAPITEL 11 Kosmologie

Urknall

Die Entfaltung des Universums

Einer der interessantesten Fragenkomplexe der


Astrophysik dreht sich darum, wie der heutige
Kosmos mit seinen Galaxien und Sternen aus
einem unvorstellbar dichten und nur subatomare
Dimensionen messenden Universum direkt nach
dem Urknall hervorgegangen ist. Einige der Ak-
teure kennen wir schon gut: das Licht und die

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


baryonische Materie. Die Dunkle Materie, von der
oben die Rede war, spielt ihre Rolle im Geheimen,
denn sie versteht es extrem gut, sich zu verstecken.
Schlimmer noch: Alles scheint unter dem Einfluss
eines unbekannten „Deus ex machina“ namens
zuarbeiten ist. Vielerlei schwache Emissionen Dunkler Energie abzulaufen, die wir nicht einmal
legen sich wie ein Schleier über das Bild: so etwa ansatzweise verstehen. Wie dirigieren die Gesetze
aus der Milchstraße Emissionen von Staubwol- der Quantenmechanik und der allgemeinen Re-
ken in Sternentstehungsgebieten, von vorher lativitätstheorie (ART) zusammen diese wilden
unbekanntem, molekularen „dunklem Gas“ Akteure des Welttheaters?
in Randgebieten großer Molekülwolken und Viele Details hierzu sind heute noch unzu-
11-71 von hochgradig rotationsangeregten, winzigen reichend geklärt. Hier spielen Vorstellungen wie
Großräumige Materieverteilung. Staubteilchen, die sich bis zu zehn Milliarden „Große Vereinheitlichte Theorie“, „Quantengra-
Im 2dF Galaxy Redshift Survey
wurde die tatsächliche Verteilung mal pro Sekunde drehen. Weitere Störungen ge- vitation“, „Stringtheorie“ oder „M-Theorie“ eine
von Galaxienhaufen bis in Ent- hen von fast zweihundert Galaxien-Superhaufen entscheidende Rolle (ÅKapitel 10). Manches im
fernungen von zwei Milliarden und anderen Quellen aus. Während all dies be- frühen Universum liegt gänzlich außerhalb eines
Lichtjahren untersucht, und es
wurden entsprechende räumliche
reits selbst hochinteressante astrophysikalische Bereichs, von dem man heute ernstlich erwarten
Karten erstellt. Es zeigt sich eine Forschungsergebnisse zu Zuständen und Ver- kann, Bestätigungen durch Beobachtungen oder
großräumige Struktur, die an teilung von Materie sind, muss man abwarten, Experimente zu erhalten. Wichtigstes Werkzeug
einen Schaum oder Schwamm er-
innert. Die Galaxien konzentrieren
ob die noch Jahre dauernden Auswertungen der neben den mathematischen und astrophysikali-
sich auf Wände und Filamente um Planck-Ergebnisse am Ende die Schleier lüften schen Theorien sind dabei Computersimulationen
größere materiefreie Blasen, die und auch unser Bild des Mikrowellenhinter- – eine Art Beobachtungen zweiter Klasse. Einige
als Voids bezeichnet werden. Im
grunds wie erhofft verfeinern können. der Vorstellungen über die Strukturbildung haben
Vordergrund zum Vergleich der
strukturellen Ähnlichkeit ein Aus- sich bereits durch Beobachtungen untermauern
schnitt der bereits früher erwähn- lassen, aber viele andere Teile harren noch einer
ten Millennium-Simulation (nach solchen Bestätigung.
dem ΛCDM-Modell).
Trotz all dieser Einschränkungen fügen sich die
Puzzleteile aber inzwischen zu einem Gesamtbild
Von Steinen, Federn und atomaren Teilchen dessen, wie die einzelnen Phasen der Strukturbil-
dung nach dem Urknall abgelaufen sein könnten
Auch wenn wir es in der Schule anders gelernt haben: Gefühlsmäßig neigen wir und zum Teil noch heute weiter gehen. Wir wollen
stets dazu, die Wirkung der Gravitation auf leichte Teilchen zu unterschätzen. die wichtigsten Phasen dieses Szenarios in ÅAbbil-
Denn wir sehen täglich: Leichte Federn oder Staubkörnchen setzen sich aus der dung 11-72 darstellen.
Luft, wenn überhaupt, dann nur ganz langsam ab. Genau betrachtet, fallen na-
türlich auch Teilchen minimaler Masse genau gleich schnell wie Steine, wenn sie Planck-Zeit
dabei nicht durch Luftmoleküle behindert werden. Insbesondere fallen einzelne
in Fallen festgehaltene Atome oder noch kleinere Teilchen im Vakuum völlig 5,391 · 10–44 Sekunden – MAX PLANCK beschrieb
ungehindert. Dies müssen wir auch in Betracht ziehen, wenn wir daran denken, bereits 1899 die Möglichkeit, physikalische Ge-
wie aus winzigen Dichtefluktuationen des frühen Universums im Laufe der Zeit setze in allerkleinsten Grundeinheiten auszudrü-
mächtige Halos entstanden, in denen sich Teilchen der Dunklen Materie sam- cken. Hierbei werden etwa die Lichtgeschwin-
melten. Bei geladenen baryonischen Teilchen spielte anfangs das intensive Strah-
lungsfeld eine ähnliche Rolle wie die Luft bei einem Staubkorn. Sobald sie aber
ihre Außenladung durch Rekombination verlieren, fallen einzelne Atome völlig
ungehindert in die Halos und erreichen dabei hohe Geschwindigkeiten, bis sie
schließlich durch Zusammenstöße im dichter werdenden Gas gebremst werden.
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11-72
Zeitleiste des Universums Zusammenfassung der wichtigsten Entwicklungsphasen des Univer- Den Anteil der (baryonischen und dunklen) Masse an der gesamten Masse-Energie-Dichte des
sums in logarithmischer Zeitskala. Gy steht für Gigayears (= Milliarden Jahre), My für Mega- Universums bezeichnet man als ਝ0 (27 Prozent). Der Anteil Dunkler Energie ist ਝΛ (72 Pro-
years. Unter a(t) versteht man die relative Größe des Universums (Skalierungsfaktor) zur Zeit t zent). Das untere Drittel der Grafik zeigt das klassische Urknallmodell, oberhalb ist die Variante
Erde, Wasser, Luft und Feuer

im Vergleich zur heutigen Größe a0. inklusive Inflation dargestellt.

491
KAPITEL 11 Kosmologie

Quantenfluktuationen digkeit, das Plancksche Wirkungsquantum und sich starke Kraft und Elektroschwache Kraft an-
Energie und Zeit unterlie- die Gravitationskonstante einfach als 1 definiert. fangs noch nicht, es gibt also auch noch keine
gen wie Ort und Impuls
der Unschärferelation: Die Größe der Einheiten spielt in der Physik näm- Photonen. Schon nach etwa 10–36 Sekunden ist
ΔE ⋅ Δt ≥ 2π · h. Wegen lich keine Rolle, ähnlich wie auch ein Schneider die Energiedichte so weit abgesunken, dass sich
E = mc2 kann ein virtuelles eine Stoffbahn in Metern oder in Ellen messen Starke und Elektroschwache Kraft trennen.
Teilchen der Masse m also
bis zu 2π · h / mc2 Sekun-
kann. Im Jahr 1955 allerdings stellten JOHN Die Quantenfluktuationen führen zu Dichte-
den lang existieren, ohne ARCHIBALD WHEELER R (1911 – 2008) und OSKAR unterschieden, die in der folgenden Inflations-
den Energieerhaltungssatz N MIN KLEIN
BENJA N (1894 – 1977) fest, dass sich aus phase ins Gigantische vergrößert werden und die
zu verletzen. Virtuelle Teil-
chen können so nicht nur
diesen Grundeinheiten eine äußerste Grenze für Keime zukünftiger Sterne und Galaxien bilden.
aus einem Strahlungsfeld, die Gültigkeit der heute bekannten Physik ergibt,
sondern auch aus dem die auf Quantenmechanik (QM) und allgemeiner
Vakuum entstehen. Man
Inflationsphase
Relativitätstheorie (ART) basiert. Berechnungen
spricht von Quantenfluk-
tuationen des Vakuums. unterhalb bestimmten Zeiten und Längen er- Bis ca. 10–33 Sekunden – ALAN GUTH modellierte
geben einfach keine sinnvollen Werte mehr. An die Inflation als Phasenübergang eines das Uni-
dieser Grenze würde die quantenmechanische versum erfüllenden Inflatonfeldes, bei dem dieses
Ortsunschärfe (Å Abbildung 4-11, Seite 127) von einem lokalen Minimum der Energie (oft als
eines Objekts gerade so groß werden, wie sein „falsches Vakuum“ bezeichnet) in sein globales
Schwarzschild-Radius – es müsste gemäß der ART Minimum („echtes Vakuum“) übergeht. Die dabei
folglich zu einem schwarzen Loch werden. Längen freiwerdende Energie wirkt der Gravitationskraft
unterhalb der so definierten Planck-Länge von entgegen und führt deshalb zu einer schnellen
1,616199 ·10–35 Metern haben keinerlei Bedeutung Expansion des Raumes. Dieser Prozess sollte ähn-
Inflatonenfeld mehr. Die Zeit, die Licht bräuchte, um diese Länge lich wie Tautropfen oder Blasen einer kochenden
Der Phasenübergang des
zurückzulegen, wird Planck-Zeit genannt. Sie ist Flüssigkeit an Energiefluktuationen als Keimzellen
Inflatonenfeldes ist die
Folge einer Symmetriebre- die kleinste physikalisch sinnvolle Zeiteinheit. beginnen, und diese Blasen könnten später zu-
chung, wie wir sie bei den Auch andere kleinst- bzw. größtmögliche physi- sammenlaufen. Das Modell lieferte aber zunächst
Higgs-Bosonen kennen ge- kalische Größen lassen sich daraus ableiten, so viel zu große Unstetigkeiten. Es wurde 1982 un-
lernt haben (ÅAbbildung
10-42, Seite 437). etwa das Volumen des ersten „fassbaren“ Stadiums abhängig von ANDREI LINDEE (*1948) sowie PAUL
des Universums als dritte Potenz der Planck-Länge JOSEPH STEINHARDT (*1952) und seinem Dokto-
(10–105 Kubikmeter), seine ursprüngliche Dichte randen ANDREAS JOHANN N ALBRECHT abgewandelt.
(die 1093-fache Dichte des Wassers) und seine Tem- In seiner „new inflation“ genannten Form vermag
peratur (1032 Kelvin). Man geht heute davon aus, es nun die beobachteten relativ geringen Dichte-
dass im Bereich der Planck-Länge alle Kräfte zu schwankungen in der Hintergrundstrahlung zu
einer Urkraft vereinigt sind. Die spekulativen The- erklären. Das Universum soll sich während der In-
orien, die wir in Kapitel 10 kennen gelernt haben, flation um einen riesigen Faktor (vermutet werden
operieren mit Objekten (Strings bzw. Spin-Knoten) Werte zwischen 1018 und 1050) ausgedehnt haben.
in der Größenordnung der Plancklänge (ÅJenseits Die ursprünglichen Quantenfluktuationen und die
des Standardmodells, Seite 437). Raumkrümmung sollten dadurch vergrößert und
weitgehend „flachgebügelt“ worden sein.
Prä-Inflations-Zeitalter
Post-Inflations-Zeitalter
Bis ca. 10–35 Sekunden – In den nach der Planck-
Zeit unvorstellbar kurzen Sekundenbruchteilen Nach ca. 10–33 Sekunden – Die Inflation endet.
dehnt sich das Universum aus, bleibt aber noch Im Gegensatz zu den bisher beschriebenen, teil-
sehr viel kleiner als ein heutiges Atom. Zur Be- weise noch sehr spekulativen Vorstellungen der
schreibung kann nur die Quantentheorie, aber Geschehnisse in den ersten 10–33 Sekunden, kön-
nicht die ART herangezogen werden. Die Hei- nen wir nun die ART in Form der Friedmann-
senbergsche Unschärferelation erwingt unver- Gleichungen für Fragestellungen zur Krümmung
meidliche Quantenfluktuationen (ÅRandspalte) der Raumzeit und zur Entwicklung des Kosmos
– Teilchen entstehen und vergehen ständig aus als Ganzem anwenden. Der heute beobachtbare
Strahlung. Während bei der in dieser Phase herr-
r Teil des Universums überschreitet nach Ende der
schenden Energiedichte die Gravitationskraft von Inflation die Größe eines Gymnastikballs. Aus den
der Urkraft schon abgespalten ist, unterscheiden ehemaligen Quantenfluktuationen sind schwa-

492
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Varianten und Alternativen zum ΛCDM-Modell der Dunklen Materie

Kandidaten für WIMPs sind meist ebenfalls noch hypothetische Da solche Ereignisse aber sehr selten gefunden wurden, können
Teilchen, z. B. Axionen, supersymmetrische Teilchen (ÅGUT, Grand MACHOs höchstens für einen kleinen Bruchteil der Dunklen Ma-
Unified Theory, SUSY, Supersymmetrie, und WIMPs, Seite 439) terie verantwortlich sein.
oder WDM (Warm Dark Matter) aus Neutrino-Varianten ohne Schließlich glaubt eine Minderheit von Kosmologen, dass
schwache, starke oder elektromagnetische Ladung, die auch nur Dunkle Materie überhaupt nicht existiert, und stützen sich dabei,
über die Gravitation wechselwirken und deshalb sterile Neutrinos z.B. in einer Publikation aus dem Jahre 2010, auf einige Unge-
genannt werden. Aber auch andere Erklärungen für die scheinbare reimtheiten in der vom CDM-Modell vorhergesagten Dynamik der
Wirkung Dunkler Materie sind noch nicht völlig aus dem Spiel. Galaxienbildung. Sollte sich die Dunkle Materie aber tatsächlich als
In Erwägung gezogen wurden etwa sogenannte MACHOs Chimäre herausstellen wie vor über hundert Jahren der Weltäther,
(Massive Astrophysical Compact Halo Objects). Dies sind Objekte so würde dies bedeuten, dass das Gravitationsgesetz Newtons wie
aus normaler baryonischer Materie mit weniger als 0,5 Sonnen- auch die relativistische Fassung Einsteins einer Ergänzung bedürf-f
massen (z.B. Braune Zwergsterne), die nicht leuchten, da sie eine ten. Solche geänderten Dynamiken als Deutungsversuche werden
zum Zünden einer Kernfusion unzureichende Masse besitzen. unter dem Akronym MOND (Modified Newtonian Dynamics)
Allerdings müssten solche Objekte in riesigen Mengen im Halo zusammengefasst. Wie viele der durch das Lambda-CDM-Modell
unserer Galaxis vorkommen, und man müsste ihre bündelnde Wir- r anscheinend befriedigend geklärten Strukturbildungsprozesse sich
kung auf das Licht (Mikrolinseneffekt) detektieren können, wenn auch durch MOND erklären ließen und wie es ggf. um verifizierbare
sie sich vor Hintergrundsternen vorbei bewegen. Entsprechende Voraussagen der Hypothese bestellt ist, bleibt weiteren Untersu-
Untersuchungen fanden vor allem zwischen 1986 und 1993 statt. chungen vorbehalten.

che Dichteunterschiede im Urplasma geworden. sive Particles) bezeichnet werden – ein Wortspiel,
Die Strahlung ist noch so energiereich, dass sich denn Wimps sind in der englischen Umgangs-
spontan Teilchen und Antiteilchen aller Art bilden sprache Schwächlinge, Feiglinge. Langsame
C-Invarianz
und sofort wieder zerstrahlen können. Zwischen Partikel sind, so lehrt es uns die Thermody- Lange wurde angenom-
Strahlung und Teilchen besteht überall ein lokales namik, identisch mit geringen Temperaturen. men, dass Zerfälle von
Teilchen und Antiteilchen,
Gleichgewicht, allerdings lässt die weiterhin mit Man spricht daher von CDM (Cold Dark Mat-
die sich nur durch ihre
Überlichtgeschwindigkeit erfolgende Expansion ter). Das Modell wird wegen der implizierten Ladung (C = charge) un-
des Raums keinen globalen Ausgleich zwischen Annahme einer kosmologischen Konstanten Λ terscheiden, genau analog
entfernteren Teilen des Universums mehr zu. (Lambda) auch als ΛCDM-Modell bezeichnet. ablaufen. Dies erwies sich
für Reaktionen unter Be-
Man muss annehmen, dass die Teilchen – in teiligung der schwachen
Entstehung der Dunklen Materie? einem noch unbekannten Prozess – nach der Wechselwirkung als falsch.
Inflation, aber wegen ihrer großen Masse noch
P-Invarianz
Nach ca. 10–15 Sekunden? – Solange die Natur vor den Quarks entstanden sind. Dies könnte P steht für Parität, das
der Dunklen Materie weitgehend unbekannt ungefähr nach den ersten 10–15 Sekunden ge- Spiegeln einer Reaktion.
ist, müssen wir alle Aussagen hierzu mit großer schehen sein. Als grobe Schätzung für die Masse Tatsächlich ist bei der
schwachen Wechselwir-
Vorsicht betrachten. Hier sei daran erinnert, dass eines solchen WIMP wird angenommen, dass sie kung auch eine Paritäts-
wir ihre Existenz in den Halos um alle Galaxien mit der von Atomen vergleichbar ist. In dem su- verletzung festzustellen.
hauptsächlich aus der Dynamik der Bewegung perdichten und superheißen Zustand des jungen Spiegelbildliche Reaktio-
nen laufen verblüffender-
von Sternen in der Galaxien sowie von Galaxien Universums besaßen Photonen so viel Energie, weise nicht genau gleich
in Galaxiensuperhaufen folgern. dass aus ihnen jederzeit alle Arten von Teilchen ab.
Zunächst standen schnelle Neutrinos im Ver- und ihre Antiteilchen entstehen konnten. Auch
dacht, eine Hot Dark Matter (HDM) zu bilden. die Art der beobachteten Strukturbildung im
CP-Invarianz
Mittlerweile hat man aber erkannt, dass die Universum, nämlich ausgehend von kleinen hin Unter diesem Begriff ver-
drei bekannten Arten der Neutrinos des Stan- zu großen Strukturen (Bottom Up), passt viel steht man die Annahme,
dass wenigstens die
dardmodells (ÅAbbildung 10-24, Seite 428) besser zur Hypothese einer Cold Dark Matter
gleichzeitige Vertauschung
dafür viel zu massearm sind. Stattdessen könnte (CDM). Sie ist – obwohl die WIMPs selbst noch von rechts/links und der
dunkle Materie aus sehr schweren, verhältnis- nicht identifiziert werden konnten – momentan Ladung symmetrisches
mäßig langsamen und nur über die schwache die wahrscheinlichste Theorie und wird deshalb Verhalten hervorbringt.
Wie sich zeigte, wird aber
Kraft interagierenden Teilchen bestehen, die im dem folgenden Szenario der Strukturbildung selbst diese Invarianz
Englischen als WIMPs (Weakly Interacting Mas- zugrunde gelegt. verletzt.

493
KAPITEL 11 Kosmologie

Quark-Ära kungen, Reste der Fluktuationen aus der Inflati-


onsphase. Sie leiten damit die Bildung größerer
Nach 10–13 Sekunden – Zunächst entstehen noch Strukturen im Kosmos ein, sogenannter Dunkler
alle Arten von Quarks und Antiquarks. Ab etwa Halos. Diese Verdichtungen beeinflussen durch
10–10 Sekunden (entsprechend einer Temperatur ihre Schwerkraft auch die Bewegungen gewöhnli-
von 1013 Kelvin) besitzen Strahlungsteilchen cher Materie und werden zu deren Sammelbecken.
nicht mehr genügend Energie, um die schwersten Während sich das Universum ausdehnt, wachsen
Quarks zu erzeugen. Gleichzeitig trennt sich die die Dichteunterschiede der Dunklen Materie an.
schwache von der elektromagnetischen Kraft. Ab Die meisten Bereiche werden verdünnt, aber es
diesem Zeitpunkt existieren Photonen, wie wir sammelt sich immer mehr Materie in den Dunk-
sie kennen. Das Universum ist neben der Strah- len Halos. Der sogenannte Virialsatz besagt, dass
lung von einem Quark-Gluon-Plasma (QGP) in einem System, in dem Graviationskräfte wir- r
erfüllt, einem Materiezustand, wie er möglicher- ken, die gesamte kinetische Energie der Hälfte
weise noch heute im Zentrum von Neutronen- des gesamten Gravitationspotenzials entspricht.
sternen existiert. Den Zustand eines QGP kann Da man die kinetische Energie einer Galaxie aus
man in Schwerionenbeschleunigern inzwischen den Radialgeschwindigkeiten ihrer Sterne und
auch künstlich erzeugen. Die Quarks tauschen Gasmassen abschätzen kann, lässt sich daraus
darin andauernd Gluonen miteinander aus und auch ermitteln, welche Dichte die Halos erreichen
sind relativ frei beweglich. Allerdings schließt können. Die Grenze liegt etwa beim 200fachen der
man aus Messungen, dass die Fluiddynamik in Durchschnittsdichte des Universums. Die Halos
diesem Zustand eher dem einer Flüssigkeit als bilden später die Keime zukünftiger Galaxien.
dem eines Gases entspricht. Mit weiterem Rück- (ÅAbbildung 11-71, Seite 490).
gang der Temperatur des Strahlungsfelds endet
zunächst die Synthese der schwersten Quarks Leptonen-Ära
11-73 und Antiquarks; nach und nach genügt die Ener- r
Zusammensetzung des Univer- r
gie auch nicht mehr für die leichteren Teilchen. Nach ca. 101 bis 102 Sekunden – Die Bildung
sums. Die Komponenten der
Masse-Energie-Dichte haben Vernichtungsreaktionen zwischen Teilchen und der wesentlich leichteren Leptonen (Elektronen
heute im Vergleich zum frühen Antiteilchen sind jedoch weiterhin möglich. Der und Positronen) geht noch etwas länger von-
Kosmos völlig andere Werte.
allergrößte Teil der Materie und alle Antimaterie statten als die der Quarks. Schließlich endet
zerstrahlen wieder. Dass überhaupt Materie in auch sie und Elektronen sowie ihre Antiteil-
unserem Universum verbleibt – gerade einmal chen, die Positronen, werden fast nur noch
1 Gramm von 1000 Tonnen –, liegt wohl in zerstrahlt. Wiederum wird die CP-Verletzung
einer winzigen Asymmetrie der Naturgesetze, der Schwachen Wechselwirkung dafür verant-
einer minimalen Verletzung der sogenannten CP- wortlich gemacht, dass am Ende ein Teil der
Invarianz (ÅCPT-Theorem, Seite 435). Elektronen der Vernichtung entgeht.

Hadronen-Ära Primordiale Elementsynthese

Nach ca. 10–6 bis 100 Sekunden – Quarks unter-r Bis ca. 20 Minuten – In den ersten Minuten läuft
liegen nun dem Confinement aufgrund der starken die primordiale Elementsynthese ab. Zunächst
Kernkraft. Sie finden sich in Zweiergruppen zu entsteht aus Protonen und Neutronen vorwie-
Mesonen und in Dreiergruppen zu Protonen (Was- gend Deuterium (2H), das jedoch unter diesen
serstoffatomkernen) und Neutronen zusammen. Bedingungen fast vollständig zu Helium (4He)
weiter reagiert. Am Ende – so sagt es die Theorie
Strukturbildung Dunkler Materie – sind etwa 25 Prozent der Nukleonen zu 4He-
Kernen umgewandelt, und es existieren Spuren
Nach 100 Sekunden – Etwa eine Sekunde nach von Lithium. Neutronen, die noch nicht Unter-
dem Urknall beginnt die Dunkle Materie, die ja schlupf in einem Kern gefunden haben, unterlie-
nicht mit Photonen wechselwirkt, verstärkt zu gen dem β--Zerfall und wandeln sich mit einer
verklumpen. Gravitation und Expansion des Alls Halbwertszeit von ca. 15 Minuten in Protonen,
liefern sich ein Tauziehen. Ausgangspunkte für die Elektronen und Antineutrinos um. Messungen
gravitative Instabilität sind winzige Dichteschwan- der Verteilungen von Wasserstoff und Helium im

494
Erde, Wasser, Luft und Feuer

heutigen Universums stimmen hervorragend mit winzige Frequenzverschiebungen (Temperatur-


den theoretischen Werten überein (ÅAbbildung schwankungen) im Bereich 1 : 100 000. Diese
11-65, Seite 487). lassen sich durch Gravitations-Rotverschiebung
Die baryonische Materie des Universums ist von Photonen erklären, die aus unterschiedlich
nach dieser Zeit ein stark gekoppeltes Plasma. dichten Bereichen entkommen mussten.
Es kommt beständig zur Streuung von Photonen
an den elektrisch geladenen Materieteilchen, was Erste Sterne entstehen
eine Strukturbildung baryonischer Materie zu-
nächst verhindert. Langreichweitige Kräfte wie Nach 100 – 200 Millionen Jahren – Die Materie 11-74
die Gravitation spielen im Vergleich zur elektro- verklumpt nun in den Filamenten und Halos, Sternentstehungsrate. Die Stern-
entstehungsrate erreichte vor
magnetischen Wechselwirkung noch keine Rolle. die von der Dunklen Materie vorgeprägt sind. etwa 3,3 Mrd. Jahren (ca. z = 2)
Fallen Gasteilchen in diese Potenzialsenken, ein Maximum. Sie beträgt im
so werden sie beschleunigt. Sie erreichen Ge- heutigen Universum nur noch
Materie dominiert ca. 5 Prozent dieses Wertes. Die
schwindigkeiten, die Temperaturen von mehre- Metallizität der Sterne bei ihrer
Nach 30 000 Jahren – Durch die Ausdehnung ren tausend Kelvin entsprechen (E =kT). Dies ist Geburt nimmt stetig zu und hat
des Kosmos fällt die Strahlungs- und Materie- ein Problem: Je heißer nämlich ein Gas ist, desto heute etwa 2 Prozent erreicht.
dichte natürlich ständig, da sich die Anzahl der mehr Widerstand setzt es weiterer Kompression
Materieteilchen und der Photonen auf ein grö- entgegen, und es stellt sich ein Gleichgewicht ein.
ßeres Volumen verteilen. Allerdings nimmt die Das sogenannte Jeans-Kriterium (nach Sir JAMES
Strahlungssenergie viel schneller ab als die Ma- HOPWOOD JEANS, 1877–1946) ist mit dem bereits
teriedichte. Durch die Ausdehnung des Raumes erwähnten Virialsatz (ÅStrukturbildung dunkler
wird nämlich auch die Wellenlänge der Photonen Materie, Seite 494) verwandt und ermöglicht es
vergrößert. Größere Wellenlängen entsprechen abzuschätzen, ab welcher Kombination der Pa-
aber bei gleichbleibenden Naturkonstanten h und rameter Temperatur, Dichte und Masse eine Gas-
c niedrigeren Frequenzen und damit niedrigerern wolke kollabiert. Es ergibt sich, dass Wolken einer
Energien. Die relativen Anteile der Komponen- gegebenen Masse umso leichter zusammenfallem,
ten des kosmischen Materie- und Energiegehalts je niedriger ihre Temperatur und je höher ihre
verschieben sich also im Laufe der Entwicklung. Dichte ist. In heutigen Sternentstehungsgebieten
Nach 30 000 Jahren ist die Strahlung so weit beträgt die Temperatur etwa 10 Kelvin, bei einer 11-75
Jeans-Masse. Die Jeans-
zurückgedrängt, dass das Universum von nun an Teilchendichte von ca. 10000 pro Kubikzentime- Masse beschreibt die
hauptsächlich von (größtenteils Dunkler) Materie ter. Wenige Lichtjahre große Gaswolken erfüllen kleinste Masse (in Son-
beherrscht wird. Die Strahlung trägt heute nur dann gerade das Jeans-Kriterium. nenmassen), bei der eine
Gaswolke bei gegebener
noch im Zehntel-Promille-Bereich zum Energiein- Lange war völlig unklar, wie der heiße pri- Temperatur und Dichte
halt des Universums bei. mordiale Wasserstoff es schafft, sich weiter ab- noch nicht kollabiert.
zukühlen und schließlich einen Stern zu bilden.
Entkopplung der Strahlung Denn hier stellt uns der Quantencharakter der
(Rekombination) Materie zunächst vor ein Rätsel: Atome in einem
Gas kühlen sich ab, indem sie elektromagneti-
Nach 380 000 Jahren – Bei etwa 3000 Kelvin sche Energie als Photonen abstrahlen. Aber wir
rekombinieren Elektronen und Protonen zu wissen, dass dies nur in Paketen geschehen kann,
neutralen Wasserstoffatomen. Eigentlich ist der die den Energiedifferenzen eines Quantensprungs
Begriff „Re-kombination“ hier etwas irrefüh- entsprechen. Genügt die thermische Energie ei-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

rend, denn von „wieder“ („Re-“) kann bei der nes Zusammenstoßes, so kann ein Elektron auf
Geburt des Universums natürlich nicht die Rede eine höhere Schale gehoben werden. Beim Zu-
sein. Das Strahlungsfeld wird von der Mate- rückfallen emittiert es die Energie als Photon
rie entkoppelt, da die elektrischen Ladungen entsprechender Wellenlänge. Betrachten wir die
nun in Atomen „eingeschlossen“ sind, die auf Anregungsenergie des energetisch niedrigsten
11-76
der Größenskala der Lichtwellenlänge neutal mit einiger Wahrscheinlichkeit auftretenden Antennen-Galaxien. Diese
erscheinen, und die heute als Mikrowellenhin- Übergangs im Wasserstoffatom (der Lyman-α- Hubble-Aufnahme zeigt
tergrund in Erscheinung tretende Schwarzkör- Übergang zwischen 1s- und 2s-Orbital). Dabei die Galaxien NGC 4038
und NGC 4039, die sich
perstrahlung entsteht (Å Abbildung 11-70, Seite stellt man fest, dass die emittierte Wellenlänge offenbar im Stadium einer
489). Sie zeigt auf verschiedenen Winkelskalen von 121,6 nm einer Energiedifferenz von 10,4 eV Verschmelzung befinden.

495
KAPITEL 11 Kosmologie

11-77
Rotverschiebung – Alter
– Radius. Zusammenhang
zwischen kosmologischer
Rotverschiebung, relati-
ver Größe des sichtbaren
Horizonts und Alter des
Universums.

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529


entspricht – in Temperatur ausgedrückt sind das Generationen dieser Sterne mit bis zu hundert-
E = h·ν
erstaunliche 118 000 Kelvin! Ist die Energie eines facher Sonnenmasse entstehen. Sie explodieren
Stoßes geringer, so kann es zu keiner Anregung nach kurzem, wilden Leben von wenigen Jahr- r
ν=c/λ
kommen, und er verläuft voll elastisch. millionen als Supernovae und beginnen ihre Um-
Natürlich besitzen nicht alle Gasmoleküle die gebung mit Metallen anzureichern. Schwerere
E=h · c/λ
gleiche Energie. Auch bei deutlich niedrigerer Atomarten und komplexere Moleküle ermögli-
Temperatur werden noch einige schnell genug chen nach der Kindheit des Universums eine viel
E = k·Τ
für eine Stoßanregung sein und für weitere Ab- effektivere Kühlung. Aus solchen kühleren Wol-
kühlung auf einige tausend Kelvin sorgen. Da ken können sich auch immer kleinere und damit
dieser Mechanismus aber bei tieferen Tempera- langlebigere Sterne wie unsere Sonne bilden. Su-
turen ineffizienter wird, können sich atomare perschwere Riesensterne sind heute die Ausnahme.
Wasserstoffwolken auf diese Weise nicht ausrei-
chend tief abkühlen. Allerdings vereinigen sich Reionisation
bei den erreichten Temperaturen auch bereits ei-
nige Wasserstoffatome zu Wasserstoffmof lekülen. Nach 150 Millionen bis 1 Milliarde Jahren – Die
Das ist die Rettung! Diese Moleküle besitzen sehr heißen Riesensterne der ersten Generationen
in ihren Molekülorbitalen Niveaus geringerer führen über ihre intensive UV-Strahlung dazu,
Energiedifferenz, die bereits bei schwächeren dass auch das wegen der Expansion des Uni-
Entstehung der Sonne
Auch die Sonne entstand Stößen angeregt werden und weitere Kühlung versums stark verdünnte, noch nicht in Sternen
aus dem Kollaps einer ermöglichen. Zudem sind Wasserstoffmoleküle gebundene Gas wieder vollständig ionisiert wird.
Gaswolke vor ungefähr nicht kugelsymmetrisch und verfügen somit auch Nur die Innenbereiche sehr dichter Materieglo-
4,6 Milliarden Jahren.
Interessanterweise kennt über Rotations- und Schwingungszustände, die bulen werden wegen der Selbstbschattung von
man in diesem Fall sogar Atomen nicht zur Verfügung stehen. der ionisierenden Strahlung nicht erreicht und
die Ursache, die zum Über- r Über die Molekülemissionen können primor- enthalten bis heute neutralen Wasserstoff. Das
schreiten des Jeans-Krite-
riums geführt hat. Aus der
diale Wasserstoffwolken etwa 200 Kelvin errei- Universum wird durch diesen Prozess auch für
Messung des Verhältnisses chen. Das ist noch immer viel im Vergleich zu solche Wellenlängen durchlässig, die Übergängen
zwischen Uranisotopen un- heutigen Sternentstehungsgebieten, aber niedrig von Energieniveaus in neutralen Wasserstoffato-
terschiedlicher Halbwerts-
zeiten weiß man, dass das
genug, um die Sternentstehung zu ermöglichen. In men entsprechen.
im Sonnensystem gefun- den Teilen der Wolken mit den größten Dichten
dene Uran erst kurz zuvor und Massen wird das Jeans-Kriterium schließlich
entstanden sein kann.
Quasare und Galaxien entstehen
erreicht, und es kommt zum Kollaps. Dabei fallen
Uran kann aber nur bei der
Explosion einer Supernova die Gaswolken so schnell in sich zusammen, dass Nach 500 Millionen Jahren – Selbst aus dieser
entstehen. Offenbar hat kein thermodynamisches Gleichgewicht erreicht noch relativ frühen Phase der kosmischen Ent-
die Schockwelle dieser
wird. Bei der Verdichtung entstehen Temperatu- wicklung lassen sich mit heutigen Teleskopen
Explosion in unmittelbarer
Nähe die solare Urwolke ren von über 15 Millionen Kelvin – genug, um einzelne Objekte nachweisen. Dass diese keine
zusammengepresst und die die Kernverschmelzung in Gang zu setzen. Aus- erkennbare Flächenausdehnung zeigten, brachte
Entstehung unserer Sonne gehend von noch sehr warmen Ursprungswolken ihnen bei ihren ersten Beobachtungen die Bezeich-
(wahrscheinlich zusammen
mit etlichen Schwesterster-
r können im frühen Universum jedoch nur sehr nung Quasistellare Radioquellen oder Quasare
nen) eingeleitet. massereiche Sterne gebildet werden. ein. Inzwischen ist man sicher, dass es sich dabei

496
Erde, Wasser, Luft und Feuer

um superschwere Schwarze Löcher handelt, wie Galaxie zusammenstoßen. Solche kosmischen


wir sie heute noch in Zentren von Galaxien an- Kollisionen sind übrigens für eventuelle Bewoh- Endzeit-Szenarien
treffen. Quasare sind aktive Galaxienkerne. Nur ner keineswegs so desaströs, wie man erwarten
in Schwarze Löcher fallende Materie kann bei könnte. Sterne sind gewöhnlich so weit von- Big Freeze
Dieses Szenario geht davon
Erhitzung in einer Akkretionsscheibe derartige einander entfernt, dass es kaum zu direkten aus, dass nach etwa 1014 Jahren
Energiemengen freisetzen, wie sie bei Quasaren Zusammenstößen kommt. Da sich Galaxien auch die langlebigsten Sterne
beobachtet werden. Bei sehr frühen Exemplaren hauptsächlich entlang des von Dunkler Materie ausgebrannt sind. Über sehr viel
längere Zeit würden die Galaxien
konnte man spektroskopisch feststellen, dass nur vorgegebenen Gerüsts von Blasen und Filamen-
letztlich verdampfen, und sogar
urtümliches Gas beteiligt ist, während spätere ten bilden, werden diese Strukturen heute von Schwarze Löcher würden sich
Exemplare auch Hinweise auf Metalle und Staub sichtbaren Galaxienhaufen und Superhaufen durch Abgabe von Hawking-
Strahlung auflösen. Unklar ist, ob
zeigen. nachgezeichnet (Å Abbildung 11-71, Seite 490).
in Zeiträumen über 1034 Jahren
Das Licht früher Quasare trägt wichtige Infor-
r schließlich sogar die Nukleonen
mationen zu uns. Es lässt sich wie ein kosmisches Beschleunigte Expansion zerfallen können. Der Endzustand
Tomographiegerät nutzen. Auf seinem langen wäre eine Mischung aus Lep-
tonen und niederenergetischen
Weg musste es immer wieder noch nicht ionisierte Nach 9 Milliarden Jahren – Nachdem die Vor- Photonen, die möglicherweise
Wasserstoffwolken durchdringen, die ihre Finger-r herrschaft der Materie die Expansion zunächst sehr langsam einem thermodyna-
abdrücke darin als sogenannter Lyman- α-Wald gebremst hatte, gewann schließlich die Dunkle mischen Gleichgewicht zustrebt.
zurückließen. Diese charakteristischen Lyman-α- Energie die Oberhand, wie Messungen der Big Crunch
Absorptionslinien der Wasserstoffatome (ÅAbbil- Häufigkeit und Helligkeit von Supernovae des Das Universum stürzt in diesem
dung 3-103, Seite 100) wurden dem Spektrum Typs Ia nahelegen. Sie beschleunigt die Expan- Szenario nach der Expansions-
phase zurück zu einem umge-
an verschiedenen Stellen aufgeprägt, abhängig sion seit knapp 5 Milliarden Jahren wieder. Etwa kehrten Urknall. Varianten dieses
von der Rotverschiebung. So lassen sich Ent- um diese Zeit entstand auch die Erde und wenig Modells münden in ein immer
fernung und Größe solcher Wolken bestimmen später die ersten bakteriellen Lebensformen. wieder zyklisch expandierendes
und schrumpfendes Universum.
und damit der Ablauf der Reionisation und die
Bildung erster Galaxien studieren. Menschen Big Rip
Sehr große Galaxien beobachtet man unter Falls die Energiedichte der Dunk-
len Energie unbegrenzt zuneh-
den frühen Exemplaren eher selten. Kosmo- Nach 13,7 Milliarden Jahren – Irdisches Leben
men kann, würde der Kosmos
logische Modelle zur Strukturbildung neigen bringt unter anderem Kosmologen hervor. Sie immer schneller expandieren. In
dazu, im Vergleich zu der heute beobachtbaren finden einen Kosmos mit einer Schaumstruktur Zeiträumen über 20 Mrd. Jahren
vor, in dem es von Galaxienhaufen und Sternen würden zunächst alle gravitativ
Galaxienpopulation die Entstehung zu vieler
gebundenen Systeme ihren Zu-
und zu kleiner Galaxien – Zwerggalaxien – zu wimmelt und auch von zahlreichen Planeten. sammenhalt verlieren. Schließlich
postulieren. Offensichtlich durchlaufen diese Viele von ihnen könnten Leben tragen. würde die Expansion die elek-
Gebilde in der kosmischen Entwicklung eine Art tromagnetische Kraft überwie-
gen, und Atome und Moleküle
Evolution, bei der viele Details noch ungenau würden instabil. Während die
verstanden sind. Klar ist allerdings das Zustan- Vom Anfang zum Ende der Welt Expansionsrate gegen unendlich
dekommen der Scheibenform von Spiralgala- strebt, würden schließlich selbst
Atomkerne und ihre Bestandteile
xien. Schon beim Einströmen von Gas in dunkle Trotz der immensen Erfolge der letzten Jahr- zerrissen.
Halos bewirkt nämlich die Drehimpulserhaltung zehnte, finden sich in der Kosmologie auch heute
(Pirouetteneffekt), dass sich eine beherrschende noch die im wahrsten Sinne des Wortes größten Big Blow
So könnte man das unange-
Rotationsachse ausbildet und die Wolke haupt- Rätsel. Eines davon ist das Vakuum selbst. Das nehmste aller Szenarien nennen,
sächlich senkrecht dazu kollabiert. Vakuum? Klassisch nach NEWTON betrachtet, die Vakuum-Metastabilität. Sollte
war dies nur leerer Raum und sollte eigentlich sich das Vakuum auch heute noch
in einem nur lokalen Minimum
Galaxienhaufen bilden sich überhaupt kein Geheimnis enthalten. Aber wir befinden, so könnte durch quan-
haben bereits in ÅKapitel 10 gesehen, dass diese tenmechanische Variation jeder- r
Entsprechend beobachtet man auch heute noch naive Vorstellung im Lichte der ART und der zeit ein winziger Bereich in einen
tieferen Energiezustand geraten.
häufig Zusammenstöße zwischen Galaxien Quantentheorie nicht mehr funktioniert. Ein
In der Folge würde sich dieser
(ÅAbbildung 11-76, Seite 495). Diese müssen Vakuum ist eher ein Raum, aus dem man all Zustand mit Überlichtgeschwin-
in der Frühentwicklung des Universums noch das weggenommen hat, das sich wegnehmen digkeit ausbreiten und Alles ohne
viel häufiger gewesen sein, denn der Raum zwi- lässt. Dass das Vakuum nie ganz leer sein kann, jede Vorwarnung zerstören.

schen den Sterneninseln war wesentlich kleiner. sondern stets zumindest Strahlung aus der Um- Big Bore
Selbst unsere Milchstraße wird voraussichtlich gebung enthält, leuchtet schon klassisch unmit- Dieses langweiligste Ende geht
in 5 Milliarden Jahren mit der Andromeda- telbar ein, denn kein Körper lässt sich bis genau davon aus, dass sich einfach alle
Materie für immer auseinander
bewegt und nichts Aufregendes
mehr passiert. Die Temperatur
des Kosmos sinkt nach unend-
licher Zeit zum absoluten Null-
punkt ab.
KAPITEL 11 Kosmologie

Milliarden Jahren betreffen, waren die Fragen nach


Geister im Vakuum der fernsten Zukunft und nach einem irgendwann
vielleicht unvermeidlichen Ende unserer Welt, stets
HENDRIK BRUGT GERHARD CASIMIR (1909 – 2000) sagte 1948 voraus, dass die von brennendem Interesse. In Anlehnung an den
Nullpunktsschwingungen eine winzige Kraft zwischen sehr eng benachbarten Urknall, den „Big Bang“, werden für diese Szena-
ungeladenen Metallplatten erzeugen sollten. Diese Kraft entsteht dadurch, dass die rien Ausdrücke mit der vorgestellten Bezeichnung
Platten für dazwischen entstehende virtuelle Teilchen Randbedingungen vorgeben, „Big“ verwendet. Welche davon im Angebot sind,
die man als stehende Wellen auffassen kann. Virtuelle Teilchen, die Wellenlängen zeigt der Kasten Endzeit-Szenarien (ÅRandspalte
besitzen, die höher sind als durch den Plattenabstand vorgegeben, können dort Seite 497). Mit unseren heutigen astrophysikali-
nicht existieren. Da im umliegenden Raum keine entsprechende Beschränkung schen Kenntnissen können wir noch keine finale
besteht, kommt es zu einer Art „Unterdruck“ – die Platten werden zusammen- Aussage wagen, welchen Weg unsere Welt ein-
gepresst. Seine Hypothese wurde zunächst als Kuriosität behandelt und nicht schlagen wird. Gegenwärtig glauben viele Forscher,
weiter beachtet. Dies änderte sich nicht, als 1956 der russische Physiker JEWGENIJ
I dass das „Big Whimper“-Szenarium am besten mit
M. LIFSCHITZ (1915 – 1985) die Kraft für verschiedene Materialkombinationen den vorliegenden Daten zusammenpasst.
berechnete und dabei abstoßende Varianten entdeckte und selbst dann nicht, als Ein Kapitel über Kosmologie muss man noch
sie durch den holländischen Physiker MARCUS SPA A 1958 experimentell be-
P RNAAY immer mit einer Menge offener Fragen abschlie-
stätigt wurde. Erst 1997, als der Effekt von einer amerikanischen Forschergruppe ßen. Diese gehören – vielleicht neben dem Rätsel
quantitativ bestimmt werden konnte, fand sie die gebührende Aufmerksamkeit. des menschlichen Bewusstseins selbst – zu den
grundlegendsten, denen sich Menschen gegenüber-
auf den absoluten Nullpunkt abkühlen – daher sehen, und sie sind sicherlich geeignet, das Gebiet
muss jedes Gefäß zumindest ein klein wenig der Kosmologie auch für kommende Generatio-
Wärmestrahlung abgeben. nen interessant halten.

Geborgte Existenz

Aus der Quantenfeldtheorie ergibt sich, dass die


Energie des Vakuums nicht Null sein kann, denn Suche nach Antworten ...
dann wäre sie entgegen der Heisenbergschen Un-
schärferelation ja exakt definiert. Im Vakuum
treten deshalb Fluktuationen auf, die sich als vir-
r s Was hat den Urknall eigentlich ausgelöst?
11-78 tuelle Teilchen aller Art zeigen, die fortwährend
Casimir-Kraft. Diese Kraft entstehen und wieder vergehen. Diese postulier- r s Gab es wirklich eine Phase der Inflation?
zwischen elektrisch un-
geladenen Metallplatten
ten virtuellen Teilchen lassen sich nicht direkt
im Vakuum ist ein Beweis beobachten. Ein experimenteller Nachweis der s Wo sind die 90 Prozent der Masse, die wir
dafür, dass Vakuum weit Quantenfluktuationen im Vakuum ist über die sogar von der normalen Materie bisher
mehr ist, als nur leerer
Raum. Die Casimir-Kraft
Casimir-Kraft möglich (ÅAbbildung 11-77). einfach nicht auffinden konnten?
entsteht dadurch, dass Zunächst war es naheliegend, die virtuellen
zwischen den Platten Teilchen (die Vakuumenergie) mit der Dunklen s Woraus besteht die Dunkle Materie?
keine Vakuumfluktuati-
Energie, d. h. der kosmologischen Konstanten
onen entstehen können,
deren Wellenlänge größer in EINSTEINs Feldgleichungen zu identifizieren. s Gibt es Dunkle Energie tatsächlich?
ist als der Plattenabstand. Berechnungen der zu erwartenden Größenord-
nungen führen aber zu absurden Ergebnissen: s Sind die Naturkonstanten wirklich kons-
Die Vakuumenergie ist um einen Faktor von tant?
10120 zu groß – zweifellos die schlimmste Nicht-
Übereinstimmung aller Zeiten! Erklärungen s Wird das Universum einmal enden?
werden noch gesucht ...
s Gibt es andere Universen außer unserem
Schicksalsfragen eigenen?

Obwohl unsere Zivilisation gerade einmal einige s Ist das Universum in einen höherdimensio-
Jahrtausende existiert und die meisten Zukunfts- nalen Raum eingebettet?
szenarien eher Voraussagen über Hunderte von

498

= 42
© 201
2012
012
0 12 WEELSCH
LLSC
LS
SSC
C & PAR
PARTNER
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ARTNER
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C ENT
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N CMMULTI
MU
MULT
ULT
LT
T ME
TI MEDIA
MED
M ED A

KAPITEL 12

Das Geheimnis der Rose


Die chemische Evolution

Extraterrestrisches Leben
Die biologische Evolution
Lebendige Materie
Zum zwölften Kapitel

Auf den ersten Blick könnte es vielleicht überraschen, in schließen. Es ist den Strukturen lebender Organismen und
diesem Buch ein getrenntes Kapitel über „Lebende Systeme“ der Emergenz ihrer typischen Eigenschaften aus einfacheren
zu finden. Denn die Zeiten, als Lebendiges für grundsätz- Komponenten gewidmet. Hier wird die Stellung des irdischen
lich verschieden von Unbelebtem erachtet wurde, sind in Lebens im Allgemeinen und des Menschen im Besonderen in
der Naturwissenschaft eigentlich seit FRIEDRICH WÖHLERS der materiellen Welt thematisiert und damit auch der Bogen
Harnstoffsynthese im Jahr 1828 vorbei. Die Idee der „Le- zu den einleitenden und historischen Kapiteln gespannt. So
benskraft“, die nach früheren Annahmen alle Wesen und wie die Betrachtung des Kosmos uns mit neuen technischen
ihre Komponenten beseelte, ist mit jeder neuen Erkenntnis „Augen“ auf eine zuvor verborgene Welt schauen lässt, so
tiefer im Speicher der offensichtlich falschen und nur noch ist es die Untersuchung des Lebendigen, die uns gestattet,
historisch interessanten Hypothesen verstaubt. Dass sie unter unsere im ersten Kapitel thematisierte Stellung in der Welt
Ignoranz aller Forschungsergebnisse auch noch heute von zu hinterfragen.
manchen vertreten wird, entspringt wohl dem menschlichen An einigen Stellen werden wir in diesem Kapitel auch auf
Gefühl, dass bewusste und fühlende Lebewesen „besonders“ Theorien eingehen, wie Leben entstehen kann und wie es sich
sind, abgehoben von einer „gefühl- und willenlosen“ Materie. – auf den ersten Blick scheinbar im Gegensatz zum Entropie-
In der Tat sind Lebewesen – verglichen mit anderen Formen gesetz – zu immer höheren Organisationsgraden aufschwingt.
der Materie – etwas Besonderes, wie wir noch sehen werden. Wir werden uns hierbei aber nicht auf die Diskussion um
Das Besondere ist jedoch nicht Folge einer expliziten Lebens- „Intelligent Design“ als vermeintliche Alternative zur Evolu-
kraft, sondern eine Folge der Selbstorganisation von Materie tion nach CHARLES DARW R IN (1809 – 1882) einlassen. Jedem,
unter bestimmten Bedingungen. der im 21. Jahrhundert noch Zweifel an den Grundzügen der
Die offensichtlich materielle Natur allen Lebens erklärt Evolution durch Mutation und Selektion hat, sei die Lektüre
auch, warum wir in diesem Buch schon so häufig Produkten der Originalveröffentlichung DARW R INS „Über die Entstehung
und Baustoffen lebender Systeme begegnet sind. Materielle der Arten durch natürliche Zuchtwahl“ nahegelegt. Es ist
Bestandteile von Lebewesen können ohne weiteres als mehr vermutlich eine der am sorgfältigsten belegten und inspirie-
oder weniger komplexe Moleküle betrachtet werden, ange- rendsten wissenschaftlichen Arbeiten überhaupt. Durchaus
fangen von einfachen Zuckern und Fetten über Polymere wie erhellende Betrachtungen zu diesem Thema aus neuerer Zeit
Cellulose oder Stärke bis hin zu den komplex strukturierten finden sich z. B. auch bei dem Entwicklungsbiologen RICHARD
Nukleinsäuren und Eiweißen. DAW
A KINS (*1941).
Doch das ist nicht die ganze Geschichte. Je besser man
lebende Systeme seit dem Aufblühen der Molekularbiologie
in den 1950er Jahren versteht, je tiefer man eindringt in
die Details aller Lebensvorgänge, desto mehr gerät man ins
Staunen über die in der Evolution entstandenen Feinstruktu-
ren. Sie ermöglichen letztlich den kontrollierten simultanen
Ablauf einiger zehntausend wichtiger chemischer Reaktionen
in Lebewesen und führen dazu, dass so eine Ansammlung
chemischer Reaktionstöpfchen nun dieses Buch in Händen
hält und sich beim Lesen (hoffentlich) einige Verbindungen
in den Synapsen ihres Großhirns verändert – das im übrigen
die komplexeste Struktur im Universum ist, die wir kennen.
Nach langer Diskussion haben wir uns daher entschlos-
sen, dem Schaudern bei der Betrachtung der Komplexität der
lebenden Materie einen eigenen Platz zu geben und dieses
Buch mit einem Kapitel über die materiellen, strukturellen
und dynamischen Besonderheiten lebendiger Materie zu
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Lebendige Materie

Das Geheimnis der Rose chen. Nicht die Stoffe an sich machen das Le-
ben aus, sondern deren Zusammenwirken in
Was ist eigentlich Leben? einem erstaunlich geordneten, raumzeitlichen
Muster. Dieses Muster ist nicht auf ein Indi-
In der Vase auf dem Tisch vor mir steht eine viduum oder eine Spezies beschränkt, sondern
einzelne gelbe Rose. Betrachte ich ihre Blüte, es erstreckt sich über die gesamte Lebewelt der
ihren Stiel oder ihre Blätter mit dem analytischen Erde – über unser lebendes System.
Blick eines Naturwissenschaftlers und versuche Es ist bis heute nicht gelungen, sich auf eine
mir ihre molekularen Strukturen – soweit sie mir einfache Definition zu einigen, was Leben wirk-
bekannt sind – möglichst genau vorzustellen, lich ausmacht. Man schreibt ihm gerne einige
dann fällt zunächst ihre ungeheure Komple- „typische“ und „unverzichtbare“ Eigenschaften
xität auf. Und selbst die in der Schule und im zu, nur um bald zu erkennen, dass sich durchaus
Studium gelernten molekularen Modelle sind Ausnahmen denken lassen, welche die jeweilige
von der Realität dieser Gestalt „Rose“ so weit Definition unterlaufen. Naturgemäß gehen wir
entfernt, wie das Libretto einer Oper Verdis von im Folgenden vom Beispiel der irdischen Bio-
der Vorführung selbst. Diese Rose ist grundle- sphäre aus. Von dem System also, zu dem wir
gend und völlig verschieden von einem Kristall selbst gehören und ausnahmslos alle Exempel,
oder auch von einer Plastikblume. Und doch die wir kennen – angefangen von den Bakterien
besteht auch sie nur aus genau den gleichen (Bacteria), über die Archaeen (Archaea) bis hin
„natürlichen“ Atomen, welche die Chemiker zu unserem Zweig des Stammbaums, von dem
im Periodensystem so übersichtlich zusammen- sich die Tiere als Eukaryoten (Eukarya) aber
gestellt haben. Denn andere gibt es nicht. Schaut auch die Pilze (Fungi) und Pflanzen (Plantae)
man tiefer, so ist sie letztlich aufgebaut aus den ableiten. Die zuerst genannten, die Bakterien,
wenigen grundlegenden Teilchen, die uns die sind übrigens von Beginn an und – man kann es
Physiker im Standardmodell als vorläufige ul- nicht anders formulieren – selbst heute noch die
tima ratio der Weltsicht präsentieren. Wie wir in beherrschende Lebensform auf der Erde.
früheren Kapiteln diskutiert haben, bestehen sie Die Eigenschaften von Lebewesen können
aus Elektronen sowie Protonen und Neutronen im Einzelfall, etwa in bestimmten Lebensstadien,
(bzw. deren Konstituenten, den up-Quarks und sehr unterschiedlich ausgeprägt sein - vergleiche
den down-Quarks). Die Rose auf dem Tisch man nur einen ausgewachsenen Baum mit einem
oder die Hand eines Kindes daneben scheint nahezu trockenen Samenkorn. Einzelne dieser
in einem ganz seltsamen und verstandesmäßig Eigenschaften können auch durchaus in Sys-
schwer fassbaren Gegensatz zu den nur wenigen temen auftreten, die wir eindeutig als unbelebt
Grundkomponenten zu stehen, die Lebewesen bezeichnen. Beispiele wäre das Wachstum von
typischerweise aufbauen. Was also ist das „Ge- Kristallen oder die Kommunikation elektroni-
heimnis der Rose“? scher Systeme. Andere für Leben so typische Ei-
genschaften wie Fortpflanzung und Entwicklung
Wie definiert man Leben? wiederum könnten sich vielleicht bei fremden,
außerirdischen lebenden Systemen auch nur auf
D e n U n te r sc hi ed z w i sc h e n L ebe n u n d Tod Selbstreparatur und Adaptation beschränken.
kennt schon jedes Kind. So wenig man sich Der chilenische Neurobiologe und Philo-
unter „ein wenig schwanger“ vorstellen kann, soph HUMBERTO MATURANA (*1928) prägte im
so unnütz scheint es auch zu sein, von mehr Versuch, die Charakteristika von Leben in eine
oder weniger „lebendiger“ Materie zu spre- allgemeingültige Definition zu kleiden, in den

501
KAPITEL 12 Leben – Materie organisiert sich

1970er Jahren den Begriff Autopoiesis (altgriech. genz, Seite 160). So beruht die Eigenschaft
autos, selbst und poiein, schaffen). Gemeint ist eines Metalls, den elektrischen Strom zu leiten,
damit, dass ein lebendes System so organisiert auf den Eigenschaften seiner Atome, man kann
sein muss, dass das Zusammenwirken seiner aber nicht von der Leitfähigkeit eines einzelnen
Teile wieder ein solches organisiertes System Metallatoms sprechen. Bei Lebewesen gehören
hervorbringen kann. Es gibt also nach dieser De- zu den emergenten Eigenschaften unter ande-
finition keinen Unterschied zwischen dem Erzeu- rem eine differenzierte Reaktion auf die Um-
ger und dem Erzeugten. Vereinfacht kann man welt – und schließlich unser Bewusstsein. Nie-
auch von Replikation als zentraler Eigenschaft mand kann heute ausschließen, dass zukünftig
sprechen, obwohl bei der konkreten Definition Computer nicht ein Bewußtsein ihrer eigenen
autopoietischer Systeme noch eine ganze Reihe Existenz entwickeln können und in der Lage
anderer Eigenschaften eine Rolle spielen. sind, die Erzeugung eigener Kopien zu steuern.
Sollte man dies dann nicht als Leben bezeichnen?
Oder als Bewußtsein ohne Leben? Aber letztlich
braucht jede Information auch einen Träger, der
1 Die Einheit hat erkennbare Grenzen. nicht zwingend mit typisch biologischen Stof-
2 Die Einheit besteht aus Komponenten.
fen realisiert sein muss, sondern dessen Kom-
ponenten aus Halbleitern oder Nanoröhrchen
Die Einheit ist ein mechanistisches System. Die Relationen zwischen den Kompo- bestehen könnten. Am Ende genügt auch ein
3 nenten bestimmen die Eigenschaften des Gesamtsystems.
System miteinander wechselwirkender Quanten-
Die Komponenten, welche die Grenze der Einheit darstellen, tun dies als Folge felder in einem Quantencomputer der Definition
4 der Relationen und Interaktionen zwischen ihnen.
MATURANAs.
Die Komponenten, welche die Grenze der Einheit darstellen, werden produziert Die Bedingungen in Punkt 4 und 5 drücken
5 von Komponenten der Einheit selbst, oder entstehen durch Transformation von
aus, dass die Grenze zwischen der lebenden
Elementen, die keine Komponenten sind, durch Komponenten.
Einheit und deren Umgebung nicht von außen
Alle übrigen Komponenten der Einheit werden ebenfalls so produziert oder sind
6 anderweitig entstandene Elemente, die jedoch für die Produktion von Kompo- definiert ist; es gibt also kein „Reaktionsgefäß“,
nenten notwendig sind. das nicht Teil des Systems ist und nicht von
diesem produziert oder aus fremden Elementen
12-1 „zusammengebaut“ wird. Ganz klar hat der
Autopoiesis. Die Defini- Maturanas Definition lebender Systeme
tion einer autopoietischen Autor dabei die Zellmembran im Sinn, aber
Einheit nach HUMBERTO R. MATURANAs Definition der Autopoiesis enthält bis zu einem gewissen Grad werden die Forde-
MATURANA und FRANCISCO 6 Punkte, die in ÅTabelle 12-1 aufgeführt sind. rungen auch schon von einer Seifenblase erfüllt
VARELA (1946 – 2001) ist
eher abstrakt und benötigt
Punkt 1 drückt die Forderung aus, überhaupt (ÅAbbildung 12-2 und 6-41, Seite 332). Etwas,
konkretisierende Erläute- zwischen dem lebenden System selbst und seiner das im Inneren einer Seifenblase lebt und in der
rung (siehe Text). Umgebung unterscheiden zu können. Lage wäre, diese auch zu produzieren, würde
Punkt 2 stellt sicher, dass triviale homogene also diese Bedingung erfüllen.
Systeme ausgeschlossen werden. Beides ist un- Punkt 6 ist letzten Endes eine formale Defini-
mittelbar einleuchtend. tion dessen, was man als den Stoffwechsel eines
Interessant ist der dritte Punkt. Die Beschrän- Lebewesens bezeichnet. Ein Lebewesen nimmt
kung auf mechanistische Systeme schließt nicht- von außen Stoffe auf und produziert daraus
materielle Elemente aus, mithin also auch jeden seine eigenen Komponenten, oder nutzt sie, um
Bezug auf eine geistige Substanz als Essenz des diese Komponenten zu produzieren. Damit ge-
Lebendigen. Die Eigenschaften des Gesamtsys- hören Viren nicht zu den Lebewesen, da sie über
tems entspringen zwar den Relationen zwischen keinen Stoffwechsel verfügen und vollständig auf
den Komponenten, sind aber durchaus verschie- den Stoffwechsel der Wirtszelle angewiesen sind.
den von deren Eigenschaften. Oft kann ja eine Es fällt auf, dass der Schwerpunkt der De-
Systemeigenschaft überhaupt nicht sinnvoll für finition MATURANAs stark auf dem Aufbau der
eine einzelne Komponente definiert werden. So lebenden „Einheit“ und deren Grenze zur Um-
etwas haben wir auch schon früher in diesem gebung gelegt wird. Seine Definition ist nach
12-2 Buch angetroffen. Es tritt nicht nur bei lebenden fast einem halben Jahrhundert Forschung noch
Seifenblasen. Sie ähneln
in ihrer Struktur Biomem- Systemen auf und wird als Emergenz bezeichnet immer aktuell, wenn sie auch ein wenig abstrakt
branen. (ÅDas Ganze ist mehr als seine Teile: Emer- daherkommt.

502
Erd
Erde
e, W

Konkretere Lebensdefinitionen hestadien, in denen der Stoffwechsel praktisch 1 Stoffwechsel


auf Null heruntergefahren ist. Abhängig von ih- Ein Lebewesen „ernährt“
Im Wesentlichen ähnlich, aber etwas konkreter rem Stoffwechsel unterscheidet man autotrophe sich, indem es Stoffe auf-
formuliert ist die folgende Sammlung von Eigen- (griech: sich selbst ernährende) und heterotrophe n imm t u n d u n te r En er-
schaften, die typischerweise bei Lebewesen auf (griech: sich von anderen ernährende) Orga- g iefreisetzun g in andere
der Erde auftreten: nismen. Autotrophe Lebewesen benötigen nur u mwandelt. Typischer-
anorganische Grundstoffe. Man untergliedert sie weise nutzt es dafür Koh-
1 Abgrenzung gegen die Umgebung weiter in zwei Hauptgruppen: Einerseits photo- lenwasserstoffe oder Koh-
Jedes uns bekannte Lebewesen besitzt eine klar autotrophe – sie können selbstständig über Pho- lenhydrate und oxidiert sie
definierte Abgrenzung gegenüber seiner Um- tosyntheseprozesse Energie aus Lichtquanten zu Kohlendioxid.
welt in Form einer Membran, die nur selektiv nutzen (hauptsächlich Pflanzen, Cyanobakterien
durchlässig ist und durch die viele Stoffe aktiv und einige Bakterienarten) und andererseits che- 2 Energieaustausch
transportiert werden. Sie hat bei allen Lebewe- moautotrophe, die ihre Energie aus chemischen S ein „Körper“ befindet
sen auf der Erde einen sehr ähnlichen Grund- Umsetzungen verschiedener energiereicher an- sich in einem Fließgleichge-
aufbau und wird deshalb auch als Biomembran organischer Stoffe ihrer Umgebung gewinnen wicht mit der Umgebung,
oder Einheitsmembran bezeichnet. Wie wir noch (einige Bakterien oder Archaeenarten). Auch wobei es zu einem bestän-
sehen werden, beruht ihre Funktion auf dem die ursprünglichsten Lebewesen der Erde waren digen Austausch seiner ge-
Unterschied zwischen unpolaren (fettliebenden) wahrscheinlich chemoautotroph. Zu den hetero- samten „Körpersubstanz“
und polaren (wasserliebenden) Eigenschaften trophen Organismen rechnet man alle Tiere, die kommt.
von Molekülteilen. Pilze und viele Bakterien und Archaeen.
Wegen des fehlenden Stoffwechsels zählt man 3 Ernährung
2 Stoffwechsel übrigens Viren und Phagen im Allgemeinen nicht Findet es genügend Nah-
Lebewesen sind sogenannte „Offene Systeme“. zu den Lebewesen, obwohl komplexere Viren sehr rung, so wächst es und
Sie nehmen aus ihr Umgebung Stoffe auf und ge- wohl z. B. Andockreaktionen an Zellen zeigen pflanzt sich fort.
ben andere Stoffe an sie ab (Atmen, Essen, Aus- und mit ihrer Proteinausstattung bestimmte bio-
scheidungen). Sinn des Stoffwechsels ist sowohl chemische Prozesse katalysieren können. Solche 4 Aktivität und Brutpflege
die Energiegewinnung als auch die Aufnahme katalytische Aktivität allein ist noch kein sicheres Es kann aktiv seine Umge-
von Baustoffen für das Wachstum. Dabei kommt Zeichen für Leben, es gibt auch unzählige kata- bung beeinflussen. Dabei
es auch zu einer ständigen Erneuerung der Kör- lytische Systeme in der anorganischen Chemie. ve r besse r t es d i e Übe r-
persubstanz; man spricht von einem Fließgleich- lebenschancen für seine
gewicht. Beispielsweise hört man immer wieder, 3 Ungleichgewicht und Negentropie „ Nachkommen“ durch
dass ein Mensch durchschnittlich alle sieben Lebende Systeme sind weder von der Um- ausreichende „Nestwärme“
Jahre seine gesamten Atome gegen andere aus- gebung isoliert, noch stehen sie mit ihr im
tausche. Mag die genaue Zahl nun stimmen oder thermodynamischen Gleichgewicht. Wichtig 5 Anpassungsfähigkeit
nicht, jedenfalls werden verschiedene Teile des für die Betrachtung lebender Systeme ist der Abhängig von der Nah-
Körpers mit sehr unterschiedlichen „Halbwerts- Begriff der Å Entropie (Seite 405), den man als r ungsgrundlage kann es
zeiten“ umgeschlagen. Bemerkenswert ist also, das Maß an Unordnung, die in einem System s ich anpassen und z. B.
dass Lebewesen eine zwar stabile, aber gleich- herrscht, verstehen kann. Lebende Systeme Zwerg oder Riesenformen
zeitig dynamische Struktur darstellen und keine nehmen nicht nur Energie aus der Umwelt auf, ausbilden oder sich auf an-
Ansammlung unveränderlicher Materie wie ein sondern sie exportieren laufend Entropie in dere Nahrung umstellen.
Stein. Ausnahmen hiervon sind extreme Ru- Form von Wärme, ihre eigene Entropie bleibt
auf einem geringen Niveau, sie erhalten eine 6 Interaktion
gewisse Ordnung aufrecht. Man könnte auch Es kann auf positive und
sagen, Lebewesen nehmen negative Entropie auf, negative Einflüsse von au-
ERW
R IN SCHRÖDINGER führte dafür in seinem Buch ßen mit Verhaltensände
Verhaltensände-
Was ist Leben? den Begriff „Negentropie“ ein. r
rungen reagieren .

4 Wachstum und Fortpflanzung 7 Tod


Uns ist kein Lebewesen bekannt, das einfach Ohne Nahrung hungertt es
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existiert, ohne zumindest in einigen Lebens- aus und stirbt nach


phasen zu wachsen und sich fortzupflanzen. kurzer Zeit.
Diese beiden Begriffe werden hier gemeinsam
12-3
Es ist das Feu
ueerr
Photosynthese. Die Nutzung von Lichtenergie zur Erzeu-
gung energiereicher Kohlenhydrate aus Kohlendioxid und
Wasser ist heute für Pflanzen sowie Wasser auch für Tiere
unverzichtbar, obwohl dieser Prozess für die erstmalige
Entstehung von Leben keine Rolle gespielt hat.
KAPITEL 12 Leben – Materie organisiert sich

genannt, weil sie entscheidende Ähnlichkeiten Feuer hingewiesen, die wir bereits im Kapitel 8
aufweisen und je nach betrachteter Metaebene angesprochen hatten. Auf dieser abstrakten
sogar gleichbedeutend sein können. Wächst ein Ebene betrachtet, sind es eigentlich nur ganz we-
Organismus, so heißt das in der Regel, dass sich nige Eigenschaften, welche die beiden Prozesse
seine einzelnen Zellen replizieren und teilen, also grundsätzlich unterscheiden. Hierzu gehört im
fortpflanzen. Viele Pflanzenarten können sich Wesentlichen die beim Feuer fehlende materielle
asexuell durch „Ableger“ vermehren, was im Grenze zur Außenwelt und die nicht vorhandene
wörtlichsten Sinne nichts anderes bedeutet als Codierung in einem replizierten Informations-
Fortpflanzung durch Wachstum und Umgestal- speicher, welcher der DNA entsprechen würde.
tung des Organismus. Normalerweise hat aller-
dings Fortpflanzung in unserer Lebewelt eine
andere Hauptfunktion. Durch die Mechanismen Weniger Materie – mehr Form
von Veränderlichkeit (Mutation) und Selektion,
die der Darwinschen Evolutionstheorie zugrunde
liegen, konnte es im Rahmen der Fortpflanzung Materielle Heterogenität
erst zur Entstehung und Weiterentwicklung von
Arten kommen. Insbesondere in Verbindung Gegenüber unbelebter Materie, wie etwa einem
mit der Genmischung im Zuge der sexuellen Metall oder einem Ionenkristall, fällt zunächst
Fortpflanzung wird jede neue Generation erneut die starke Komplexität lebendiger Strukturen
auf ihre Angepasstheit an die veränderlichen auf. Komplexität ist laut einer Definition von
Lebensbedingungen getestet. Dies ist ein effizi- Sir JULIAN HUXLEY (1887 – 1975), dem Bruder
entes – wenngleich nicht das einzige denkbare des Schriftstellers ALDOUS HUXLEY, aber nichts
– Verfahren, um Anpassung zu gewährleisten. anderes als Heterogenität, hier diejenige der
Leider ist dies bei höheren Organismen auch mit molekularen Bestandteile. Greift man beliebige
der „Erfindung“ des Todes verbunden. Während Stücke aus einem einfachen Metall, aus einem
das Ende des individuellen Lebens bei Mik- Glas oder Kunststoff heraus, würde man im
roben (außer bei widrigen Umwelteinflüssen) Wesentlichen immer wieder nahezu identische
noch durch deren Teilung definiert ist (bei der Strukturen finden: in einem anderen Ausschnitt
keine „Leiche“ zurückbleibt), sterben fast alle aus der recht monotonen Kristallstruktur des
anderen Organismen nach sehr unterschiedli- Metalls, in einem Stück eines sich immer wieder-
chen Zeiträumen von Tagen bis Jahrtausenden. holenden Polymerfadens oder in einer amorphen
Nur wenige Spezies haben gelernt, dem Tod ein Anordnung immer gleicher Silikatmoleküle in
Schnippchen zu schlagen. Bei Süßwasserpolypen einem Glas. Möglicherweise ein wenig verdreht
etwa hat man noch keine Anzeichen von Altern oder mit Baufehlern versehen, aber doch nichts
beobachtet. Auch von einer Quallenart (Turrit- grundsätzlich Neues.
opsis nutricula) weiß man, dass sich Individuen Bei der Rose haben wir gute Chancen, auf
am Ende eines Lebenszyklus entdifferenzieren sehr unterschiedliche molekulare Komponenten
und so quasi einen Neustart machen können – zu stoßen. Wir fördern einmal vielleicht aus ei-
auch sie sind potenziell unsterblich. nem Stück einer Zellmembran ein Lipidmolekül
zu Tage, ein anderes Mal ein Kohlenhydrat aus
6 Informationsaustausch einem Stärkekorn, ein Cellulosemolekül aus der
Eine weitere Eigenschaft, die wir Lebewesen zu- Zellwand, das Wachs aus einer Blattoberfläche,
schreiben können, ist der Austausch von Infor- r das Eiweiß eines Enzyms oder, wenn wir Glück
mationen mit ihrer Umwelt und entsprechende haben, sogar eine Stück DNA aus dem Zellkern.
Reaktion auf Veränderungen. Allerdings handelt Vielleicht finden wir ein Carotinoidmolekül des
es sich hier wieder um eine zwar notwendige, aber gelben Blütenfarbstoffs oder ein Chlorophyllmo-
keine exklusive Eigenschaft. Selbst ein einfaches lekül aus einem Blatt.
Gerät wie ein Thermostat reagiert auf Informa- Die Moleküle werden sich häufig in ihrem
tionen aus der Umwelt und interagiert mit ihr. Bau stark unterscheiden. Noch wichtiger sind
An dieser Stelle sei auch noch einmal auf aber deren Anordnung und die schwachen inter-
die erstaunliche und amüsante Analogie der molekularen Wechselwirkungen zwischen ihnen.
Eigenschaften von Lebewesen mit denen von Meist sind komplexe biologische Moleküle wie

504
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Spurenelemente
Elemente des irdischen Lebens (CHONPS) Die „großen 6“ sind na-
türlich bei weitem nicht
die einzigen Elemente, die
Wir haben bereits in Kapitel 4 die wichtigsten ren (–COOH), Ether (–O–) und Ester (–COO–) in der heutigen Lebewelt
unverzichtbar sind. Hier
chemischen Elemente vorgestellt, die lebende genannt (Å Funktionelle Gruppen, Seite 335). wären vor allem noch ei-
Materie charakterisieren. In Kapitel 11 wurde Stickstoff ist weniger stark elektronegativ nige Alkali- und Erdalkali-
klar, dass diese keineswegs exotisch, sondern als Sauerstoff. Er stellt in organischen Mole- ionen (Natrium, Kalium,
Calcium, Magnesium)
im Universum sehr weit verbreitet sind. Was- külen so etwas wie eine sanftere Reaktivität zu nennen und deren
serstoff, entstand bereits beim Urknall, die bereit und trägt durch seine Dreibindigkeit Anionen wie Chlorid. Sie
anderen waren unter den ersten, die bei Kern- auch wesentlich zur Vielfalt der organischen stabilisieren Zellstrukturen
als Elektrolyte und bauen
reaktionen in Sternen gebildet wurden. So ist Chemie bei. Kommen Heteroatome in einem Membranpotenziale für
auch die große Verbreitung von Wasser (H2O) Ring eines zyklisch geschlossenen organischen die Nervenleitung auf.
leicht erklärlich. Moleküls vor, so spricht man von heterocycli- Auch nutzen zahlreiche
Enzyme (Proteine mit
Kohlenstoff, das typische Lebenselement, schen Verbindungen. Solche Ringe sind typi-
katalytischen Funktionen)
bildet in vielgestaltiger Weise nicht nur Lipide sche Strukturelemente bei vielen Zuckern, bei die Fähigkeit von Über-
(Fette), Kohlenhydrate (Zucker) und Proteine Protein-Seitenketten und kommen insbesondere gangsmetallen wie Eisen,
Kupfer und Mangan,
(Eiweiße), sondern ist wirklich überall vertre- auch bei Bestandteilen von Nukleinsäuren, den
zwischen verschiedenen
ten. Zigtausende Moleküle mittlerer Komple- Nucleosiden vor. Oxidationsstufen wech-
xität und eine nicht eingrenzbare Anzahl von In Proteinen kommen zwei Aminosäuren seln zu können. Diese
Makromolekülen bestehen aus Kohlenstoff- (Tryptophan und Cystein) vor, die Schwefel in Übergangsmetalle gehö-
ren zu den sogenannten
gerüsten. ihrer Seitenkette tragen. Dieser kann verschie- Spurenelementen, also un-
Ähnlich weit verbreitet ist auch Wasserstoff. dene Stellen eines Proteinfadens miteinander verzichtbaren Substanzen,
Seine unpolaren Bindungen zu Kohlenstoff sät- quervernetzen und spielt damit eine Rolle bei die nur in sehr geringer
Konzentration benötigt
tigen die meisten Kohlenstoffbindungen ab und der Stabilisierung der räumlichen Struktur. Der werden (beim Menschen
sorgen damit für eine gewisse Mindeststabilität unangenehme Geruch faulender organischer weniger als 50 mg / kg
vieler organischer Moleküle. Diese sind aber Substanzen ist wesentlich auf Abbauprodukte Körpergewicht).
an spezifischen Stellen durch reaktivere, so- dieser Aminosäuren wie Schwefelwasserstoff
genannte funktionelle Gruppen aufgehoben, (H2S) und Mercaptanen (R-SH) zurückzufüh-
die beispielsweise Doppelbindungen zwischen ren. Schwefel findet sich auch in katalytisch
Kohlenstoffatomen oder Heteroatome (andere aktiven Eisen-Schwefel-Proteinen (hierauf wer-
als C und H) enthalten. Reine gesättigte Koh- den wir bei der Besprechung der Chemischen
lenwasserstoffe (solche ohne Doppelbindun- Evolution noch zu sprechen kommen).
gen) spielen deshalb auch nur eine untergeord- Phosphor schließlich ist das Lebenselement,
nete Rolle. Meist sind sie, wie die aus Erdöl das zusammen mit Sauerstoff (als Phosphat)
stammenden, sekundär aus ehemals lebender und dem Zucker Desoxyribose eine Grund-
Materie hervorgegangen. Ungesättigte Kohlen- struktur der DNA-Stränge bildet. Unverzicht-
wasserstoffketten wie Carotinoide findet man bar ist es auch in Form von ATP (Adenosintri-
beispielsweise als sekundäre Pflanzenstoffe. phosphat) für den Energiestoffwechsel und in
Mit polaren Endgruppen versehen bilden sie Form von Phospholipiden als Bestandteil von
die wesentlichen Strukturelemente der Zell- Biomembranen. Phosphor ist deshalb auch ein
membranen. wichtiges Düngemittel für Pflanzen, das es den
Bei den funktionellen Gruppen kommen Menschen in den letzten hundert Jahren erlaubt
oft die anderen erwähnten Lebenselemente ins hat, die landwirtschaftliche Produktion auf ein
Spiel. Sauerstoff ist stark elektronegativ und Vielfaches zu steigern. Seine nur noch sehr be-
damit für die Reaktivität vieler typisch orga- grenzten Vorräte und nicht schnell zu findende
nischer Verbindungsklassen verantwortlich. Alternativen zum Phosphor verursachen größte
Hier seien exemplarisch Aldehyde (–CHO), Sorgen für die Welternährung in den kommen-
Alkohole (–OH), Ketone (–CO–), Carbonsäu- den Jahrzehnten.

12-4
Typische Lebensmoleküle. Obwohl sie aus fast den
gleichen chemischen Elementen bestehen, zeigen Be-
standteile von Lebewesen bis in molekulare Dimensionen
hinein einen sehr heterogenen Aufbau. Die beteiligten
Stoffe besitzen meist ein hohes chemisches Potenzial. Sie
sind also nicht im chemischen Gleichgewicht und können
bei ihren Reaktionen Energie freisetzen. 505
KAPITEL 12 Leben – Materie organisiert sich

Eiweiße auch nicht starr. Sie verbiegen oder durch ein pflanzliches oder ein tierisches Organ,
falten sich und können abhängig von ihrer che- so kann man noch viel mehr Gewebearten unter-
mischen Umgebung mehrere verschiedene stabile scheiden. Deren erschöpfende Aufzählung würde
Konfigurationen aus bilden. hier viel zu weit gehen. Sie bilden Stützgewebe,
Auch werden wir immer wieder auf Mole- Speichergewebe und viele mehr. Beim Menschen
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
küle treffen, die gerade an chemischen Reak- unterscheidet man etwa 220 verschiedene Ge-
tionen beteiligt sind, die gerade auf-, ab- oder webetypen.
umgebaut werden. Lebende Systeme sind keine Allen ist gemeinsam, dass sie aus gewebespe-
statischen Strukturen. Es ist immer etwas los. zifisch spezialisierten Zellen bestehen, die ge-
Wie auf einem orientalischen Markt werden häuft an einem Ort vorkommen, in der Regel in
ständig Stoffe und Energie zwischen allen betei- Kontakt zueinander stehen und eine gemeinsame
12-5
Archaea. Diese Zelle eines
ligten Strukturen getauscht. Es sammelt sich und Funktion erfüllen.
Archaeons (Sulfolobus) es wird geteilt, es wird geboren und gestorben.
wurde von XIAOYU XIANg Das einzig Konstante daran ist der stetige Um- Zellen – Grundstrukturen des Lebens
in einer sauren heißen
bau. Das Leben ist ein rastloses Geflecht von
Quelle in der Provinz
Yunnan, China isoliert. Die simultan ablaufenden chemischen Reaktionen. Die Zelle ist die Struktur, die man als die für alle
spindelförmigen Körper Wo dieses Gewimmel am stärksten ist, etwa Lebewesen charakteristische Einheit bezeichnen
sind STSV1-Viren (Sul- im Kern sich teilender Zellen, sind die Struk- darf. Jedes Lebewesen besteht aus einer oder
folobus tengchongensis
Spindle-shaped Virus 1), turen auch irgendwie „am lebendigsten“. Wo mehreren Zellen. Diese Definition schließt Viren
die das Archaeon befallen diese Prozesse träger dahin fließen, etwa beim als Grenzfälle lebender Systeme aus. Der Be-
haben und gerade ausge- Auf- und Abbau tragender Körperstrukturen wie griff (lat. cellula, Kämmerchen) wurde 1665 von
schleust werden.
Knochen, Chitinpanzern oder Perlmuttstruktu- ROBERT HOOKE geprägt, nachdem er die Struktur
ren, ist deren „Lebendigkeit“ weit weniger of- zunächst an Flaschenkorken und dann auch an
fensichtlich. Man könnte in manchen Fällen fast anderen Pflanzengeweben entdeckt hatte.
von einem fließenden Übergang zu unbelebten Erst mehr als 150 Jahre später, Anfang des
Strukturen sprechen. 19. Jahrhunderts, hatte sich die Erkenntnis
durchgesetzt, dass Pflanzenorgane generell aus
Stark strukturiert Zellen bestehen. Diese These wurde 1838 von
12-6 MATTHIAS JACOB SCHLEIDEN (1804 – 1881) expli-
Strukturierung. Betrachtet man die Rose mehr mit Blick auf zit für alle Pflanzen formuliert und kurz darauf
Im direkten Vergleich zei- ihren funktionalen Bau, so treten die hierarchi- von THEODOR SCHWANN W (1810 – 1882) auch auf
gen sich Gemeinsamkeiten
und Gegensätze zwischen schen Strukturen lebender Materie in den Vor- Tiere erweitert.
unbelebter und belebter dergrund. Obwohl Zusammenhänge zu der im Alle Zellen sind von einer Zellmembran
Materie. Typisch für un- vorigen Abschnitt untersuchten Heterogenität abgegrenzte, bis zu einem gewissen Grad eigen-
belebtes ist die Wiederho-
lung genau identischer, existieren, war jene Betrachtungsweise mehr die ständige und sich selbst erhaltende Gebilde. Auf
meist einfacher Baumus- eines Chemikers. Die hierarchischen Strukturen innere und äußere Reize können sie durch den
ter. Charakteristisch für in der Rose betreffen hingegen biologische Kate- Ablauf ganzer Reaktionskaskaden reagieren.
belebte Materie ist ihr
hoher Organisationsgrad
gorien, die sich chemisch nicht einmal besonders In der Folge können sie sich zum Beispiel ver-
mit heterogenen Unter- unterscheiden müssen. formen oder Stoffe abgeben. Insbesondere die
strukturen auf mehreren Wir finden verschiedene, vielfach bereits Möglichkeit vieler Zellen, auf Reize mit extern
Größenskalen. Diese
von außen durch ihre Funktion unterscheidbare sichtbaren Bewegungen zu reagieren, ist wohl
morphologischen Charak-
teristika reichen aber zur Gewebe: die zarten, duftenden und gefärbten diejenige Eigenschaft, die unserer intuitiven
Unterscheidung keinesfalls Blütenblätter, die verfestigten Gewebe des Stils Vorstellung von Leben am nächsten kommt.
aus, denn auch nicht
und der Dornen, die Blätter mit ihrer Wasser Jedes Kind probiert mit einem Stock aus, ob
lebende Objekte können
lebendig anmutende abweisenden und harten Oberseite und mit ihrer ein gefundenes kleines Tier sich bei Berührung
Strukturen bilden und helleren und weicheren Unterseite. bewegt. Tot oder lebendig ist der messerscharfe
Lebewesen entwickeln Nimmt man ein optisches Mikroskop zu – aber manchmal voreilige – Schluss. Selbst-
Strukturen, für die man
auf den ersten Blick einen Hilfe, und nutzt eine der vielen Techniken zum verständlich können solche Bewegungen auch
anorganischen Ursprung Anfärben bestimmter Komponenten in Schnitten, so langsam ablaufen, dass wir sie nicht ohne
vermuten würde.
12-7
Strukturierung in Zellen.
Gemeinsames Charakteristikum aller lebenden Systeme
(zumindest auf der Erde) ist ihr Aufbau aus Zellen, die
sich gegen die „Außenwelt“ durch eine nur selektiv
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durchlässige Membran abgrenzen. Um die Ordnung in


506 den chemischen Abläufen aufrecht zu erhalten, muss der
Zutritt von Reaktanten genau kontrolliert ablaufen. Bei
Eukaryoten dienen Biomembranen auch zur weiteren Un-
tergliederung in unterschiedliche Reaktionsräume.
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Zeitraffer wahrnehmen. Dazu zählen Wachs- Zellmembran


tumsprozesse und fast alle Bewegungen von
Pflanzen. Membranen sind wahrscheinlich die Struktu-
Zellen sollte man sich keinesfalls als wasser- ren, die für das Leben von früh an am wichtigs-
gefüllte Säcke mit einigen darin gelösten Sub- ten waren. Was Nichtbiologen immer wieder
stanzen vorstellen. In Zellen befinden sich dicht erstaunt: Ihr Grundaufbau ist bei allen Lebe-
gepackt und hoch geordnet Moleküle unter- wesen gleich. Aus diesem Grund spricht man
schiedlichster Formen und Größenordnungen: auch von einer biologischen „Einheitsmem- 12-8
Bakterie. Bakterien und
von Zellmembranen über Zellskelettfilamente, bran“. Sie hat viel mit der Struktur einer ganz
andere Prokaryoten sind
Nukleinsäuren, Proteine und Zucker bis her- gewöhnlichen Seifenblase gemein und wird oft für ihren im Vergleich zu
unter zu Ionen und Wassermolekülen. Insge- als zweidimensionale Flüssigkeit beschrieben. unseren Zellen sehr ein-
samt entsteht viel eher der Eindruck des mit Ihre Bestandteile „schwimmen“ sozusagen in fachen Aufbau bekannt.
Tatsächlich können sie
Technik randvoll gestopften Motorraums eines der charakteristischen Doppelschicht, die sie alle lebensnotwendigen
Zwölfzylindermotors als der eines einfachen selbst aufbauen (Å Abbildung 12-9). Verhaltensweisen von
Reaktionstanks. Die wichtigsten Bauelemente von Membranen Ernährung, Bewegung
und Fortpflanzung bis hin
Aus ihrer Umgebung nehmen Zellen Nah- sind Moleküle mit einem stark polaren Ende, ge- zu einfacher Orientierung
rung auf, aus der sie die Energie für ihre Re- bildet aus Atomen wie Phosphor oder Sauerstoff, mit den Mitteln einer
aktionen beziehen. Sie verfügen über einen und aus einem längeren „Schwanzteil“, der aus einzigen Zelle vollbrin-
gen. Sie erreichen damit
Stoffwechsel, der die Nahrung zum Beispiel Kohlenstoff- und Wasserrstoffatomen besteht. eine bewundernswerte
durch Atmung oder Gärung abbaut. (Ein wei- Man bezeichnet solche Zwittermoleküle als Am- Flexibilität und haben sich
teres Unterscheidungskriterium zu Viren!) Mit photere und wir haben einige schon in Kapitel 6 auf der Erde an fast alle
Lebensräume angepasst.
Hilfe der gewonnenen Energie kann die Zelle kennen gelernt (ÅTenside – Sie lieben Wasser und Bakterien besiedeln die
aus einfachen aufgenommenen Molekülen kom- Fette, Seite 331). Zwischen Wassermolekülen trockensten Wüsten und
plexere Stoffe aufbauen. So kann sie auch ihre und den polaren Enden solcher Moleküle treten das antarktische Eis. Sie
kommen schwebend in
eigenen inneren Strukturen erhalten und neu starke elektrostatische Wechselwirkungen auf.
der Atmosphäre ebenso
ausbauen. FRANZ MEYEN (1804 – 1840) stellte Das funktioniert nicht mit unpolaren Partnern. vor wie am Meeresgrund,
die Theorie auf, dass jede Zelle nur aus einer Aber auch diese binden sich aufgrund schwäche- in tiefen Sedimentschich-
anderen entstehen kann („omnis cellula e cel- rer Van-der-Waals-Kräfte aneinander. So finden ten und am Rande von
Vulkanschloten.
lula“). Diese Theorie wurde im Jahr 1855 von sich die Membranbestandteile schon allein aus
RUDOLF VIRCHOW W (1821 – 1902) bestätigt und ist thermodynamischen Gründen zu Schichten zu-
seither die Grundlage der Zellbiologie. Natür- sammen (ÅEntropische Kräfte, Seite 410). Be-
lich ist sie genau genommen falsch. Zumindest findet sich aber in- und außerhalb eines Vesikels,
am Anfang muss ja die erste Zelle aus etwas das wir hier als „Protozelle“ bezeichnen wollen,
anderem entstanden sein. Doch hierzu später. ein wässriges Medium, so ist die einzige stabile
In der Biologie unterscheidet man zwei deut- Anordnung die, bei der die Lipidmoleküle ihre
lich verschiedene Bauweisen von Zellen, die polaren Enden (blau in ÅAbbildung 12-9) zum
Prokaryoten, zu denen die Bakterien und Ar- Wasser hin ausrichten und sich mit ihren unpo-
chaeen gehören, und die Eukaryoten. Zu letzte- laren Molekülteilen (gelb) eng zusammenlagern.
ren zählen alle höheren Pflanzen, die Pilze und So entsteht notwendigerweise eine dreischichtige
die Tiere. Um es ganz krass zu sagen: Bakterien Lipiddoppelschicht. Sie ist quasi das Basismodell
braucht die Welt, uns aber braucht sie nicht. für jede Art auf der Erde bekannter Zellen und 12-9
Seit es Leben auf der Erde gibt, also seit ca. 3,5 unterscheidet sich von Fall zu Fall lediglich durch Biomembran. Zellmem-
bis 3,9 Milliarden Jahren, beherrschen Proka- Details im Aufbau der amphoteren Moleküle, branen trennen das
Äußere und Innere ei-
ryoten den Planeten. Die Prokaryoten sind für aus denen sie besteht. Andere biologische Ma-
ner lebenden Zelle und
alles Leben auf der Erde absolut unverzichtbar, kromoleküle, wie Proteine und Polysaccharide, dienen zur Abgrenzung
die Eukaryoten hingegen nicht. Insbesondere können sich in solche Membranen einlagern und innerer Reaktionsräume.
halten die Prokaryoten die geologischen Stoff- bei lebenden Systemen jeweils ganz spezifische Ihre Struktur besteht aus
aneinandergelagerten
zyklen wichtiger Elemente aufrecht, die dem Aufgaben übernehmen. Erst durch diese Zusätze Phospholipiden. Dane-
Leben ansonsten bald nicht mehr zur Verfügung erhalten die Membranen ihre für jede Zellart ben enthalten sie weitere
stünden. Dies sind zum Beispiel der Stickstoff- einzigartige Ausstattung an Eigenschaften. Hier Bestandteile wie Tunnel-
proteine, die einen kon-
zyklus (ÅAbbildung 7-26, Seite 376) und der finden wir z. B. Erkennungsstellen für die Kom- trollierten Stofftransport
Phosphorzyklus. munikation, Tunnelproteine, die die gesamte ermöglichen.
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

507
50
12-10 Membran durchdringen und den spezifischen eine Aminogruppe (–NH2) sowie eine variable
Aminosäuren. Von den Transport durch die Membran bewerkstelligen Seitengruppe. In Lebewesen kommen nur zwan-
zahllosen möglichen
und zahlreiche andere funktionale molekulare zig Aminosäuren vor, obwohl sich chemisch weit
Aminosäuren kommen
in Proteinen nur zwanzig Strukturen (ÅAbbildung 12-9, Seite 507). mehr herstellen lassen. Wegen ihres tetraedrisch
ganz bestimmte vor und koordinierten zentralen Kohlenstoffatoms sind
diese auch nur in einer der
alle Aminosäuren, außer der einfachsten (Glycin
beiden möglichen spiegel-
bildlichen Formen. Zentrale Biomoleküle mit der Seitengruppe – H), wie man sagt, chiral.
Sie existieren ähnlich wie Handschuhe in zwei
Vertreter einer biologisch wichtigen Stoffklasse spiegelbildlichen Formen, von denen aber nur
haben wir bereits kennengelernt: Fette und Tri- eine, die sogenannte L-Aminosäure tatsächlich
glyceride (Å Öle, Fette und ihre Abkömmlinge, in den Proteinen von Lebewesen vorkommt.
Seite 334). Beide zählt man zur Klasse der Die Abfolge dieser Aminosäuren heißt Pri-
Lipide (griech. lipos, Fett), wasserunlösliche Sub- märstruktur. Sie ist für ein Protein genau so cha-
stanzen, die meist lange Kohlenwasserstoffketten rakteristisch wie die Reihenfolge der Wörter in
besitzen. Lipide sind wichtige Energiespeicher einem Text. Dabei kommt es für die Funktiona-
und Gerüstsubstanzen. lität vor allem auf die dreidimensionale Struktur
Auch eine weitere Stoffklasse ist uns bekannt: an, in die sich die langen Proteinmoleküle falten,
die Kohlenhydrate oder Saccharide. Das Mo- und ob sich mehrere davon zu Komplexen zu-
nosaccharid Glucose (Traubenzucker) ist ein sammen finden. Diese sogenannte Sekundär-
Polyalkohol (mehrwertiger Alkohol, ÅAbbil- und Tertiärstruktur wird wiederum weitgehend
dung 6-45, Seite 150335) und Produkt der durch die Primärstruktur bestimmt. Der Grund
pflanzlichen Photosynthese. Diese energiereiche dafür ist, dass Aminosäuren abhängig von ihrer
Verbindung entsteht unter Nutzung der Licht- jeweiligen Seitengruppe völlig unterschiedliche
energie aus Kohlendioxid und Wasser. Glucose hydrophile oder hydrophobe Eigenschaften auf-
kann als Nahrung von allen Lebewesen verwen- weisen und in Lösung auch mehr oder weniger
det werden und stellt den wichtigsten Ausgangs- leicht positive oder negative elektrische Ladun-
stoff für fast alle Synthesewege in Organismen gen annehmen. In der wässrigen Umgebung des
dar. Auch viele andere Zucker (z. B. Fructose, Zellinneren legen sich positive und negative
Maltose, Ribose, Desoxyribose, Galactose) Kettenteile aneinander. Hydrophile Teile der
kommen in Lebewesen vor. Unter Wasseraus- Kette legen sich vorzugsweise nach außen und
tritt können mehrere Zuckereinheiten Oligo- Bereiche mit eher hydrophoben Aminosäuren
oder Polykondensate bilden. Der gewöhnliche verstecken sich im Inneren des sich automatisch
Rohrzucker (Saccharose) ist beispielsweise ein bildenden geordneten Proteinknäuels.
Zucker-Dimer aus Fructose und Glucose. In Die nach tausenden zählenden unterschied-
Form polykondensierter Kettenmoleküle (Poly- lichen Proteinarten eines Organismus überneh-
saccharide) bilden Kohlenhydrate wie Cellulose men je nach ihrer Struktur ganz verschiedene
oder Stärke auch wichtige Struktur- und Spei- Aufgaben. Teilweise stellen sie Strukturkompo-
cherstoffe (ÅKasten Cellulose, Seite 290). nenten wie im Zellskelett, vor allem aber über-
nehmen sie katalytische Aufgaben im Rahmen
Proteine – des Stoffwechsels. Die räumliche Struktur und
12-11 Makromoleküle aus Aminosäuren angelagerte Cofaktoren wie Metallionen sind
Proteine. Proteine beste- dafür verantwortlich, dass diese Proteine sehr
hen aus Ketten von Ami- Müsste man eine einzelne Verbindungsklasse spezifisch nur bestimmte Reaktionen katalysie-
nosäuren, die über Pep-
tidbindungen verknüpft
benennen, die typisch für das Leben auf der Erde ren. Diese organischen Katalysatoren werden als
sind. Bei Aminosäuren ist, so würde die Wahl wohl auf die Proteine Enzyme bezeichnet.
mit sauren oder basischen (Eiweiße) fallen, da sie im Organismus mit Ab-
Seitengruppen nehmen
stand die vielfältigsten Funktionen übernehmen. Nukleinsäuren
diese in Lösung unter-
schiedliche Ladungen an, Diese Kettenmoleküle sind aus einer Abfolge
die durch ihre Anziehung oft tausender Aminosäure-Einheiten aufgebaut. Die Proteine müssen, um ihre Aufgaben erfüllen
zur Faltung beitragen. Die
Aminosäuren tragen an den vier Bindungen zu können, zuverlässig eine definierte Aminosäu-
dreidimensionale Form der
Proteine ist für die Funk- eines Kohlenstoffatoms neben einem Wasser- rensequenz besitzen. Sie werden auf Grundlage
tion entscheidend. stoffatom (-H) eine Carboxygruppe (-COOH), von Information hergestellt, die auf DNA gespei-

508
Erde, Wasser, Luft und Feuer

chert ist. DNA (engl. für DNS, Desoxyribonukle- Biosynthese


insäure) ist ebenfalls ein Ketten-Makromolekül:
ein Polymer aus Nukleosid-Einheiten, die jeweils Da DNA normalerweise nur als „Langzeitspei-
über Phosphatgruppen miteinander verbunden cher“ der genetischen Information dient, müs-
sind (Å Abbildung 12-11). Betrachtet man Phos- sen für die Proteinbiosynthese von den jeweils
phat und Nukleosid zusammen, so spricht man relevanten Sequenzen mittels spezieller Enzyme
von Nukleotiden. Jedes DNA-Nukleosid besteht handlichere Arbeitskopien erstellt werden. Die
aus einer Einheit des Zuckers Desoxyribose, an DNA wird hierzu an einzelnen Stellen aufgedrö-
das eine von vier möglichen sogenannten Nuk- selt, und die Einzelstränge müssen sich wie bei
leobasen gekoppelt ist: Adenin (A), Cytidin (C), der Replikation zunächst trennen. Sogenannte 12-14
Guanin (G) oder Thymin (T). Das Raffinierte Messenger-RNA-Moleküle (mRNA) dienen als Nukleobasen. Sie bilden
daran ist, dass je zwei Basen miteinander Wasser-
r Arbeitskopien von DNA-Sequenzen. Die mRNA- die kodierenden Teile der
DNA. Im Doppelstrang
stoffbrücken ausbilden können: zwei zwischen Moleküle unterscheiden sich chemisch nur wenig sind Adenin (A) und Thy-
A und T, drei zwischen G und C. DNA besteht von der DNA. Sie enthalten anstelle von Desoxy- min (T) bzw. Cytosin (C)
aus dem berühmten gegenläufigen Doppelstrang ribose den Zucker Ribose, der sich nur durch und Guanin (G) durch
Wasserstoffbrücken mit-
(Å Titelbild dieses Kapitels), der solche AT- oder eine zusätzliche Hydroxygruppe im Molekül einander verbunden. Den
GC-Basenpaare wie Sprossen einer Leiter ein- unterscheidet. Auch eine Base ist ausgetauscht: genetischen Code schreibt
schließt. Der zweite Strang trägt also exakt die Statt Thymidin wird bei RNA das chemisch man als Basensequenz:
AACTCTTAA...
gleiche Information, aber als Negativmatritze. ähnliche Uracil eingebaut. Über die sogenann-
Werden die beiden Stränge getrennt – wie vor ten Transfer-RNA-Moleküle (tRNA) erfolgt die
der Zellteilung erforderlich –, so kann jeder Zuordnung zwischen einem Nucleotid-Triplett
durch Anlagerung der richtigen Monomerein- und einer Aminosäure. tRNAs falten sich zu Codon Aminosäure
UUU
heiten wieder zum ursprünglichen Doppelstrang einer kleeblattartigen Struktur und besitzen auf Phenylalanin
UUC
ergänzt werden. Diesen Vorgang nennt man Re- der einen Seite ein exponiertes sogenanntes Tri- UUA
plikation. plett, eine Andockstelle aus drei Nucleotiden Leucin
UUG
Die Abfolge der Basenpaare enthält die In- für passende drei Nucleotide einer mRNA. Am CU* Leucin
formation, die ein Organismus für die Steu- anderen Ende des Moleküls tragen sie jeweils GU* Valin
erung der Lebensvorgänge benötigt und an eine Aminosäure. tRNAs ermöglichen die Pro- UC* Serin
die nächste Generation weitergegeben werden teinbiosynthese, gesteuert durch die auf mRNA CC* Prolin

muss. Jedes Basenpaar trägt dabei zwei Bit an definierten Sequenzen unter katalytischer Mit- 12-15
Information, entsprechend den vier möglichen wirkung von Zellorganellen, die als Ribosomen Codon-Tabelle (Aus-
Basen an jeder Stelle eines Strangs. Die mensch- bezeichnet werden. Während ein Ribosom auf ei- schnitt). Die Basentripletts
(Codons) der mRNA
liche DNA besteht aus 3,27 Milliarden Basen- ner mRNA entlanggleitet, werden entsprechend kodieren für verschie-
paaren, während manche Bakterien mit einem der Basenpaarung (AU bzw GC) ständig neue dene Aminosäuren. Da
Tausendstel davon auskommen. passende tRNAs angelagert und ihre Aminosäu- 64 Kombinationen aus
drei Basen möglich sind,
ren zu einem Proteinfaden verkettet. Nachdem aber nur 20 Aminosäuren
die tRNAs ihre Aminosäuren abgeliefert haben, produziert werden, wird
werden sie durch Enzyme erneut mit der richti- jede Aminosäure durch
mehrere Codons kodiert.
gen Aminosäure beladen. Sie sind damit auch
Da diese sich oft nur in
selbst nur Katalysatoren der Biosynthese. einer Base unterscheiden,
erhöht dies die Fehlertole-
ranz der Synthese.
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

12-12 12-13
Desoxyribonukleinsäure (DNA). Die DNA besteht aus Biosynthese. In Eukaryotenzellen wird DNA im Zellkern zu
zwei helikal gewundenen gegenläufigen Strängen aus mRNA umgeschrieben (Transkription). Im Cytoplasma findet
Phosphat- und Zuckerkomponenten (Desoxyribose). Sie an Ribosomen die Proteinbiosynthese statt. An die mRNA
sind über Wasserstoffbrückenbindungen zwischen Nu- wird ein passendes Triplett einer der zwanzig tRNAs angela- 509
kleobasen verbunden sind. A bildet zwei Bindungen zu gert, die mit einer spezifischen Aminosäure beladen ist. Wäh-
T, G drei Bindungen mit C. Somit ist die Gesamtstruktur rend die Bindung der Aminosäure an die wachsende Protein-
bereits durch einen Strang komplett festgelegt. kette erfolgt (Translation), wird die tRNA wieder freigesetzt.
KAPITEL 12 Leben – Materie organisiert sich

ATP – Treibstoff des Lebens 2 Wie konnten sich daraus Makromoleküle


bilden?
Der Aufbau von Biomolekülen wie Proteinen,
Lipiden oder Nukleinsäuren erfordert Energie, 3 Wie gelang es ersten „Reaktionszentren“,
denn es handelt sich um endergone Reaktionen, sich stabil gegen die Außenwelt abzugrenzen?
die nicht spontan ablaufen (ÅEntropie, Ener-
gie und Temperatur, Seite 409). Dabei genügt 4 Wie konnten selektive Stoffwechselprozesse
es nicht, dem Prozess diese Energie einfach in entstehen, um Energie und Stoffe aus der
Form von Wärme oder Licht zuzuführen. Sie Umgebung zu nutzen?
muss vielmehr in Form energiereicher Moleküle
direkt auf die beteiligten Reaktionsteilnehmer Und vielleicht der härteste Brocken, ein klassi-
übertragen werden. Gleichzeitig muss die Zelle sches Henne-Ei-Problem:
dafür sorgen, dass im sogenannten Energiestoff-
wechsel genug dieser energiereichen Moleküle 5 Wie konnte die komplexe Replikationsma-
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produziert werden, sei es durch Photosynthese, schinerie entstehen, bei der Proteine und
Zellatmung oder Gärung. In allen Zellen über- DNA in ineinandergreifenden Prozessen
nimmt Adenosintriphosphat (ATP) die Funktion Aufbau und Fortpflanzung einer Zelle voll-
des Energieträgers. Im Energiestoffwechsel wird bringen?
ATP aus Adenosindiphosphat (ADP) oder Ade-
12-16 nosinmonophosphat (AMP) und Phophat wieder Immerhin können wir inzwischen für einzelne
ATP. Adenosintriphosphat
ist der universelle Energie- regeneriert. Bei der Zellatmung handelt es sich Stufen der Lebensentstehung sinnvolle Hypo-
speicher jeder Zelle auf der um Oxidations-Reduktionsreaktionen (Redox- thesen aufstellen und deren Plausibilität im
Erde. Durch Abspaltung Reaktionen), wie die Umsetzung von Glucose und Labor testen. Allerdings wird es vermutlich
eines oder zweier Phos-
phatgruppen wird die ge- Sauerstoff zu Wasser und Kohlendioxid oder die leichter werden, ein lebendes System neu zu
speicherte Energie wieder Umsetzung von Kohlendioxid und Wasserstoff erschaffen, als definitiv herauszufinden, wel-
frei. Das entstehende ADP zu Methan und Wasser (Archaea). Bei der Pho- cher der vielen möglichen Wege in unserem
(-diphosphat) bzw. AMP
(-monophosphat) wird tosynthese entstehen durch Photonenabsorption Fall tatsächlich historisch beschritten wurde.
im Energiestoffwechsel energiereiche Elektronen, deren Energie in che- Man muss befürchten, dass wir die Geschichte
der Zelle wieder „aufge- mische Energie umgesetzt wird. Mit Ausnahme unseres LUCA, des „Last Universal Common
laden“. Die Omnipräsenz
der Substanz und ihr Auf-
der Gärung erfordert der Energiestoffwechsel Ancestor“, nur mit Indizien werden belegen
bau aus einer Nukleinbase Membranstrukturen, um die elektrochemischen können.
und Ribose ist ein Indiz Potenzialdifferenzen der Reaktionspartner gezielt
für eine präbiotische RNA- —
Welt. Während DNA den
zur ATP-Gewinnung auszunutzen. Es begab sich zu der Zeit...
Zucker Desoxyribose ent-
hält, enthält RNA Ribose. Die chemische Evolution Fragen wir zunächst danach, wann denn das
Leben auf der Erde unter den damaligen geo-
LUCA - Last Universal Common Ancestor chemischen Bedingungen entstanden sein kann.
Glycolyse und ATP Vor etwa 4,56 Milliarden Jahre entstand
Beim Abbau eines Glucosemoleküls
entstehen 38 ATP-Moleküle:
Wie kann man sich nun das Zustandekommen die Erde durch Zusammenstöße größerer und
dieses so unglaublich komplizierten und gleich- kleinerer Brocken aus der solaren Urwolke.
38 H+ + C6H12O6 + 6 O2 + 38 ADP zeitig so perfekt abgestimmten chemischen Ge- Neben der Energie der kollidierenden Brocken
+ 38 P*i
webes des Lebens erklären? Neben dem Rätsel sorgte auch die von radioaktiven Elementen ab-
→ 6 CO2 + 38 ATP + 44 H2O
des Urknalls und dem Zustandekommen von gegebene Wärme im Erdinneren dafür, dass die
Nutzbar für die Biosynthese sind Bewusstsein zählt die Lebensentstehung zu den Urerde anfangs weißglühend und flüssig war.
davon etwa 30 Moleküle, der Rest drei ganz großen Menschheitsfragen. Es gibt Mit der Zeit sanken schwerere Elemente wie
wird verbraucht für Transportvor-
gänge zwischen Mitochondrium dabei mehrere Hürden, die in der präbiotischen Eisen und Nickel vorzugsweise zum Kern ab,
und Zellplasma. Die Ladung der Entwicklung überwunden werden mussten: leichtere reicherten sich eher an der Oberfläche
Protonen (H+) wird durch die nega- an. Die ältesten Gesteine der Erde stammen
tive Ladung der Phosphatgruppen
(Pi*) kompensiert. 1 Wie und wo entstanden einfache organische aus einer Zeit vor etwa 3,9 Milliarden Jahren.
Grundmoleküle? Darin eingeschlossene winzige Splitter des Mi-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

12-17
Stufen zum Leben. Die präbiotische Evolution von einfa-
chen organischen Grundbausteinen hin zu einem ersten
Replikator (LUCA, Last Universal Common Ancestor)
wirft noch immer viele Rätsel auf. Obwohl für einige Teil-
prozesse Experimente, Beobachtungen und Hypothesen
existieren, ergibt sich gegenwärtig noch kein stimmiges
Gesamtbild. Auch die dargestellte Reihenfolge ist durch-
aus nicht unstrittig.
Erde, Wasser, Luft und Feuer

nerals Zirkon sind noch etwas älter, nämlich Wie der Mond entstanden
Spurensuche auf der Erde ist. Nach der Kollisions-
etwa 4,2 Milliarden Jahre. theorie streifte vor etwa
Damals herrschten recht unwirtliche Bedin- 4,5 Milliarden Jahren
gungen. In den Zeitraum vor 3,8 bis 4 Milli- Erste Hinweise auf Leben gibt es in Form noch ein letzter Brocken
von der Größe des Plane-
arden Jahren fällt die als „Großes Bombarde- ungewöhnlicher Isotopenzusammensetzun- ten Mars die Protoerde.
ment“ bezeichnete Periode, eine Zeit, in der gen schon in 3,75 Milliarden Jahre alten Ge- Dieser hypothetische
die Meteoriteneinschläge stark zunahmen und steinen auf Grönland. Beweiskräftiger aber Planet bekam den Namen
Theia. Der größte Teil
von denen die erhalten gebliebenen zahlreichen erscheinen Funde 3,4 Milliarden Jahre alter seiner Masse vereinigte
Einschlagskrater auf dem Mond (ÅRandspalte, Mikrofossilien, die 2011 im Sandstein der sich mit der Erde. Etwa
rechts) beredtes Zeugnis ablegen. Wahrschein- Strelley Pool Formation, West-Australien, 1 Prozent der gesamten
Masse wurde dabei als
lich brach die Erdkruste in diesen ersten hun- gefunden wurden. Sie werden als frühe bak- geschmolzenes Gestein in
dert Millionen Jahren immer wieder auf und terienähnliche Lebewesen interpretiert, die Umlaufbahnen geschleu-
verhinderte zunächst die Entstehung organischer Schwefel statt Sauerstoff veratmen konnten. dert und aggregierte nach
dieser Theorie binnen
Verbindungen, denn nur wenige davon sind auch An den wenige Mikrometer großen Struk-
weniger hundert Jahre
nur bis zu einigen hundert Grad Celsius stabil. turen ließen sich kettenförmig angeordnete zum Mond. Dieser war
Zellhohlräume nachweisen und kohlenstoff- der Erde zunächst noch
viel näher als heute, die
Die Uratmosphäre und stickstoffhaltige Bereiche deuten auf eine
Entfernung betrug etwa
ehemalige Zellmembran hin. In unmittelbarer 60 000 Kilometer. Rei-
Die erste Atmosphäre der Erde bestand aus den Nachbarschaft zu den Zellen, die heutigen bung durch extreme Ge-
Urelementen Wasserstoff und Helium, die man lebenden Sulfobakterien frappierend ähneln, zeitenkräfte führte dazu,
dass sich die Erdrotation
auch in den Atmosphären der Gasplaneten fin- wurden Pyrit-Mikrokristalle gefunden und immer mehr verlangsamte
det. Deren Teilchen sind jedoch viel zu leicht, als Stoffwechselprodukte interpretiert. Die und der Mond sich weiter
um dauerhaft an die Erde gebunden zu werden. Theorie der organischer Herkunft wird auch von der Erde entfernte.
Bald entwickelte sich eine zweite Atmosphäre, durch das Vorhandensein überproportional
die wohl hauptsächlich aus Wasserdampf, Koh- vieler leichter Isotope des Kohlenstoffs und
lendioxid und Schwefeldioxid mit geringeren Schwefels in den Strukturen gestützt, denn
Anteilen anderer Gase wie Stickstoff bestand. leichte Isotope werden wegen ihrer leicht hö- Tholine
Flüssiges Wasser konnte aus dieser Atmosphäre heren Reaktivität beim Einbau in Lebewesen (griech. schlammig) sind
erst in einer riesigen Sintflut kondensieren, als etwas bevorzugt. rötlich-braune organische
Substanzen, die man spek-
die Oberfläche sich unter den Siedepunkt des Auf der Erde gab es wohl zur fraglichen troskopisch etwa auf dem
Wassers abgekühlt hatte (dieser muss abhängig Zeit nur an wenigen Stellen feste Landober- Saturnmond Titan, aber
vom damaligen Atmosphärendruck keineswegs fläche. Die Wassertemperatur muss etwa auch auf Kometen und so-
gar in Staubscheiben um
bei 100 °C gelegen haben). Auf welche Weise das 40 – 50 °C betragen haben. Die nach der junge Sterne nachgewie-
Wasser ursprünglich auf die Erde kam, wurde Uratmosphäre zweite Atmosphäre bestand sen hat, die gerade Plane-
immer wieder kontrovers diskutiert. Es könnte am Ende ihrer Entwicklung wahrscheinlich im tensysteme bilden. Noch
ist ihre genaue Struktur
größtenteils aus dem irdischen Gestein entwichen Wesentlichen aus Stickstoff, enthielt aber auch nicht aufgeklärt, die In-
sein und wäre demnach bereits in den Planetesi- Wasserdampf, Kohlendioxid und Argon. Gesi- frarotspektren sprechen
malen enthalten gewesen, aus denen sich die Erde chert scheint ferner ihr reduzierender Charak- aber für komplexe Makro-
moleküle auf Basis von
gebildet hat. Denkbar ist aber auch, dass wasser- ter, sie enthielt noch keinen freien Sauerstoff. Kohlenstoff, Stickstoff und
haltige Asteroiden es erst später bei Einschlägen Zu vermuten ist, dass unter den damaligen Wasserstoff, die offenbar
aus äußeren Bereichen des Sonnensystems mit- Bedingungen auch Tholine auf der Erde vor- unter UV-Einwirkung in
reduzierenden Umgebun-
gebracht haben. Wie unten zu sehen ist, können kamen. Diese könnten ersten Organismen als gen z. B. aus Methan und
wir uns keineswegs sicher sein, dass erste lebende als Kohlenstoffquelle gedient haben. Ethan entstehen können.
Systeme ebenso empfindlich auf hohe Tempera-
turen reagierten, wie das heute der Fall ist. Diese
Ereignisse um die Lebensentstehung könnten des-
halb schon in einem noch kochenden Ozean vor
etwa 3,9 Milliarden Jahren stattgefunden haben
oder aber erst einige hundert Millionen Jahre
später, als moderatere Temperaturen herrschten.
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

12-18
Atmosphären der Erde. Die Chemie der Atmosphäre hat
sich im Laufe der Erdentwicklung mehrmals grundlegend
geändert. Man geht heute davon aus, dass die Atmo-
sphäre in der Zeit, als das Leben entstand, weniger stark
reduzierende Eigenschaften hatte, als man noch Mitte
des 20. Jahrhunderts annahm.
KAPITEL 12 Leben – Materie organisiert sich

Man hat auf der Erde keine Fossilien gefunden, die zurück. Obwohl er sich in seinem Hauptwerk
uns genügend Aufklärung aus der Zeit der aller- r Über die Entstehung der Arten (1859) nicht
ersten lebenden Systeme geben könnten und man über die allerfrühesten Stufen der Evolution
wird vermutlich auch keine finden. Sicher ist aber, äußerte und auch der Stammbaum des Lebens
dass das Leben erstaunlich schnell auf der Erde in der einzigen Abbildung des Werks mehrere
Fuß fasste (ÅKasten Spurensuche auf der Erde). parallele Stämme zeigte, weiß man aus einem
Als gesicherte Indizien gelten 3,5 Milliarden Jahre Brief an den Botaniker JOSEPH HOOKER, dass er
alte Stromatolithen, dünnlagige Sedimente mit mutmaßte, das Leben könne in einem „kleinen
kegel- bis pilzförmigen Aufwölbungen, die auch warmen Tümpel“ entstanden sein. DARW R IN hielt
heute noch unter bakteriellen Biofilmen (Mikro- es nicht für möglich, diese Frage auf Basis der
benmatten) in Küstenzonen entstehen (ÅAbbil- damaligen Kenntnisse ernstlich anzugehen und
dung 5-42, Seite 243). verglich sie mit der Frage nach der Herkunft
Die Vorgänge, die zur Entstehung von Leben der Materie überhaupt. Möglicherweise hielt er
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

führt haben, könnten heute auf der Erde wohl aber auch das religiös geprägte gesellschaftliche
nicht mehr ablaufen, da sich die Rahmenbedin- Umfeld noch nicht für reif genug, sich damit zu
gungen eben durch den Einfluss des Lebens radi- beschäftigen. Der zweite große alte Mann in der
kal verändert haben. Auch würde wohl jedes zarte Erforschung der chemischen Evolution ist der so-
„Pflänzchen“ eines neu entstehenden Lebensrei- wjetische Biochemiker ALEXANDER IWANOW WITSCH
12-19 ches durch die bereits vorhandene Lebenswelt OPARIN (1894 – 1980). Er ging (entgegen heuti-
Miller-Urey Experiment.
umgehend vernichtet werden. ger Einschätzung) von einer stark reduzierenden
Im Miller-Urey-Experiment
wurde erstmals versucht, Uratmosphäre aus, die aus Verbindungen wie
komplexe präbiotische Bildung einfacher organischer Moleküle Methan, Ammoniak und Schwefelwasserstoff be-
Moleküle herzustellen, standen haben sollte. Unter Einwirkung von Son-
indem man Wasser
„Urmeer“ und einfache Ist das Leben vielleicht vom Himmel gefallen? nenenergie, Vulkanismus und Blitzentladungen,
anorganische Gase (eine Zumindest für manche organische Grundstoffe so stellte er sich vor, konnten daraus organische
„Uratmosphäre“) elektri- kann man dies wahrscheinlich bejahen. Bausteine Moleküle entstehen und sich in einem Urozean
schen Funkenentladungen
aussetzte.Tatsächlich für die Entstehung von Leben sind im Kosmos weit zu einer Ursuppe anreichern, in der er die Entste-
entstehen in solchen Ver- verbreitet und bereits in großen Mengen Bestand- hung von Lebensprozessen vermutete. Vor allem
suchen unter anderem teile von Gas- und Staubscheiben um junge Sterne. sein 1936 publiziertes Werk Entstehung des Le-
Purine, Pyrimidine und
Aminosäuren, die sich im
Spektroskopisch nachgewiesen wurden sie bei- bens auf der Erde hatte großen Einfluss auf die
Wasser anreichern. Pu- spielsweise 2007 um den 220 Lichtjahre entfernten weitere Entwicklung des Fachgebiets und führte
rine und Pyrimidine sind Stern HR 4796A. Diese als Tholine (ÅRandspalte, zu entsprechenden Experimenten von UREY und
Ausgangssubstanzen der
Nukleobasen, aus denen
Seite 511) bezeichneten organischen Stoffe finden MILLER.
die Nukleinsäuren aufge- sich auch heute noch in unserem Sonnensystem,
baut sind. etwa in Kometen und auf dem Saturnmond Titan. Die Ursuppe und das
Allerdings kann man davon ausgehen, dass Miller-Urey-Experiment
eine ganze Reihe einfacher, für das Leben wichtiger
organischer Moleküle auf der Erde gebildet wur- r Das bekannteste Experiment zur chemischen Evo-
den, z. B. der chemisch nicht sehr stabile Zucker lution wurde im Jahr 1953 von STANLEY MILLER
Ribose, der zusammen mit Phosphat das Rückgrat (1930 – 2007) auf Anregung von HAROLD CLAY-
der Ribonukleinsäuren (RNA) bildet. Auf welche TON UREY (1893 – 1981) durchgeführt. Er simu-
Weise diese Moleküle entstanden sind, ist heute lierte die Bedingungen der Urerde und die damals
noch weitgehend ungeklärt. Womöglich hatten für die Uratmosphäre angenommene Zusammen-
manche auch einfachere Vorläufer ähnlicher Funk- setzung in einer Apparatur aus mehreren Glaskol-
tion und entstanden erst, als es bereits Leben auf ben. Ein heizbarer, wassergefüllter Kolben stand
der Erde gab. für den Urozean, ein mit Röhren verbundener
zweiter Kolben, gefüllt mit den Gasen Methan,
Ammoniak, Kohlenmonoxid und Wasserstoff,
Von Makromolekülen zur Urzelle simulierte die Atmosphäre. Der „Ozean“ wurde
erhitzt und elektrische Gewitterentladungen wur-
r
Die Idee, das Leben könnte sich im Urozean ent- den durch die Atmosphäre geschickt. Verdampf-
wickelt haben, geht bereits auf CHARLES DARW
R IN tes Wasser wurde über einen Kühler als „Regen“

512
Erde, Wasser, Luft und Feuer

in den Ozean zurückgeführt. MILLER ließ den ren deshalb meist alle oben genannten Fragen
Versuch einige Tage laufen und analysierte die gleichzeitig.
entstandenen gelbbraunen Verbindungen. Die
Ergebnisse waren seinerzeit eine Sensation: Bei RNA-Welt

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dem Experiment und seinen späteren Abwand-
lungen entstanden tatsächlich in guter Ausbeute In der sogenannten RNA-Welt soll RNA anstelle
zahlreiche der für Leben typischen Grundbau- der DNA als Matrix für die Replikation dienen,
steine wie Aminosäuren und Nukleobasen. Da- da man erkannte, dass sie ihre eigene Synthese
mit war ein wichtiger Schritt bei der Entstehung katalysieren kann. Für ihre präbiotische Rolle in
von lebender aus unbelebter Materie eindrucks- diesem Sinn spricht, dass RNA auch in heutigen
voll nachvollzogen – so konnte es gewesen sein. Organismen Bestandteil einer ganzen Klasse von 12-20
Aber aus heutiger Sicht, war die Euphorie Protein-RNA-Komplexen, sogenannten Ribozy- Tonmineralien als Re-
nur zum Teil berechtigt. Indizien weisen inzwi- men, ist, in denen sie die Rolle eines Katalysa- aktionszonen. In den
Zwischenräumen von
schen darauf hin, dass die Erde damals wahr- tors spielt. So katalysiert die ribosomale RNA Dreischicht-Tonmineralen
scheinlich eine nur schwach reduzierende Atmo- (rRNA) die Verkettung der Aminosäuren bei der kann sich ein RNA-Strang
sphäre besaß, die statt großer Anteile an Methan Proteinsynthese in den Ribosomen. MANFRED an die dort haftenden
Kationen (+) anlagern und
und Ammoniak eher Wasserdampf, CO2, SO2 EIGEN (*1927) u. a. konnten zeigen, wie in sol- damit als Matrize für die
und Stickstoff mit Beimengungen von Wasser- chen Systemen Mutations-Selektionsprozesse Replikation fungieren.
stoff und CO enthielt. Versuche unter diesen stattfinden konnten. Mit der Zeit wurde die
geänderten Rahmenbedingungen ergaben viel instabilere RNA dann durch DNA als Informa-
geringere Ausbeuten von Aminosäuren. Die tionsspeicher ersetzt, gleichzeitig übernahmen die
Vorstellung einer „Ursuppe“, einer planeten- flexibleren Proteine einen Großteil der katalyti-
weiten konzentrierten Bouillon, in der sich das schen Funktionen der RNA.
Leben herausgebildet hätte, verliert dadurch an Eine stabile Replikation eines RNA-Strangs
Wahrscheinlichkeit. Aus der Bouillon wurde scheint allerdings ein Substrat zu erfordern, an Reaktionsräume
sozusagen eine dünne Wassersuppe. Man kann dem dieser haftet. Dafür sind schon seit län- Tonminerale oder Pyrit-
sich auch schwerlich vorstellen, dass die Grund- gerem Dreischicht-Tonminerale (Å Abbildung kristalle eignen sich als
katalytisch wirksame
stoffe unter den Bedingungen im Urozean erste 12-20 und 5-12, Seite 229) in der Diskussion: Oberflächen, an denen
Schritte in Richtung Leben hätten gehen können, Die polaren Phosphatgruppen des Rückgrats komplexe Reaktionen
und dass beispielsweise eine Polykondensation eines RNA-Strangs können sich an Kationen stattfinden können.
Aber wie entstanden die
zu Makromolekülen wie Proteinen, Nukleinsäu- anlagern, die sich in den Zwischenräumen der
Membranen der späteren
ren, Lipiden und Kohlenhydraten abgelaufen Tonschichten befinden. Damit wäre auch ein Zellen? Man weiß, dass
wäre. Ein Grundproblem besteht in der Lage des praktisch abgeschlossener Reaktionsraum vor- sich Lipide selbst zu Bläs-
chen zusammenlagern
chemischen Gleichgewichts: Da bei der Bildung handen, in dem sich die benötigten Substanzen
können. Eine unbedingt
durch Polykondensation Wasser als Nebenpro- in den notwendigen Konzentrationen sammeln notwendige Eigenschaft
dukt entsteht (Å Polymere, Seite 292), laufen könnten. Tonminerale könnten sogar selbst als für eine Zellmembran ist
diese Reaktionen bei Wasserüberschuß nicht eine präbiotische Replikationsmaschine fungiert aber ihre selektive Durch-
lässigkeit: Kleinere Mole-
von selbst ab. Erst hochentwickelte Enzymre- haben, die später durch RNA- oder DNA-Repli- küle sollten als Bau- und
aktionen können diese Umsetzungen heute im katoren ersetzt wurde. Eine offene Tonschicht Nährstoffe eindringen
wässrigen Milieu des Zellinneren erzwingen. ist in der Lage, ihre gegenüberliegende Schicht können, während die pro-
duzierten Makromoleküle
Die Frage, wie Makromoleküle entstanden immer wieder aus gelösten Molekülen aufzu- möglichst innen bleiben
sind, ist daher eng verknüpft mit der Frage, bauen, wobei sogar Gitterfehler u.ä. repliziert sollten. Untersuchungen
in welcher Art von „Reaktionsraum“ sie sich werden. Damit dies funktioniert, müsste der haben gezeigt, dass Lipid-
doppelschichten mit Koh-
bilden konnten und in welcher Reihenfolge dies Prozess allerdings in Tümpeln stattfinden, die lenwasserstoffkettenlängen
geschah (ÅRandspalte). Gab es zuerst Proteine regelmäßig austrocknen. zwischen etwa 10 und 14
oder Nukleinsäuren? Oder gab es womöglich Auch Peptidketten sind in der Lage, ihre C-Atomen selektiv durch-
lässig sind: Aminosäuren
Vorläufermoleküle ähnlicher Funktion, die erst eigene Bildung zu katalysieren, und könnten und Nukleotide können
später durch effizientere Formen ersetzt wurden? somit Vorläufermoleküle der Nukleinsäuren passieren, Polypeptide und
Und entstand zuerst ein stabiler, energieliefern- sein. Denkbar wäre auch, dass sich Peptidket- Nukleinsäuren hingegen
nicht. Lipidmoleküle dieser
der Stoffwechsel und dann ein Replikations- ten anfangs an der Stelle des Ribose-Phosphat-
Länge könnten wiederum
prozess oder umgekehrt? Die heute diskutierten Rückgrates der RNA befanden (sogenannte an Ton- oder Kristallober-
Hypothesen zur chemischen Evolution adressie- Peptid-Nukleinsäuren, PNA). flächen gewachsen sein.

513
KAPITEL 12 Leben – Materie organisiert sich

Eisen-Schwefel-Welt Stoffwechsel vor Replikation

Für die Hypothese der RNA-Welt und andere De r C h e mik e r u n d P ate n ta n wa l t G Ü NTER
Ansätze, die die Entstehung des Lebens „an der WÄCHTERSHÄUSER (*1938) entwickelte als erster
Luft“ bzw. in „Tümpeln“ ansiedeln, ist eine eine Theorie der chemischen Evolution, die nicht
nur wenig reduzierend wirkende Uratmosphäre die Replikation, sondern den Stoffwechsel an
ein Problem: Der Aufbau von Kohlenwasser- den Anfang stellte. Eine von ihm vorgeschlagene
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

stoffen aus CO2 erfordert neben einer Ener- Eisen-Schwefel-Welt, ähnlich den Verhältnissen
giequelle auch starke Reduktionsmittel (Elek- an schwarzen Rauchern, stellt dieser Theorie
tronenlieferanten), die in der Uratmosphäre zufolge ein ideales Medium für die präbiotische
nicht ohne weiteres verfügbar waren. (In UREYs Synthese dar. Bei der Reaktion von Eisensulfid
und MILLERs Uratmosphäre stand Wasserstoff und Schwefelwasserstoff zu Pyrit entsteht aus-
als Reduktionsmittel zur Verfügung.) Heutige reichend Wasserstoff und Energie für die Biosyn-
Pflanzen verfügen zu diesem Zweck über einen these (ÅRandspalte links). Im Jahr 2003 wurde
sehr komplexen Prozess, die Photosynthese. Es auch nachgewiesen, dass unter diesen Bedin-
ist nicht sehr wahrscheinlich, dass ein vergleich- gungen Ammoniak aus elementarem Stickstoff
barer Prozess bereits zu Beginn der chemischen entstehen kann.
Evolution zur Verfügung stand. Im Jahr 1977 An der Oberfläche von Pyritkristallen lagern
wurde nun zum ersten Mal ein Lebensraum sich organische Anionen wie Carbon- oder Nu-
entdeckt, dessen extreme Bedingungen an die kleinsäuren leicht an, was komplexere Folge-
noch junge und heiße Erde denken lassen und reaktionen wie die Replikation erleichtert. Die
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

der ein reduzierendes Umfeld bietet. Mit Hilfe Reaktanten sind nicht mehr irgendwo in einer
des berühmt gewordenen Tauchboots Alvin dünnen Ursuppe verteilt, sondern eng benach-
fanden Forscher im Ostpazifik untermeerische bart in einem organischen Film in der Nähe
hydrothermale Quellen, eine Art Geysire am katalytisch wirkender Metallsulfide und ener-
Meeresgrund. Inzwischen weiß man, dass sie gieliefernder Prozesse.
12-21 an vielen vulkanisch aktiven Zonen entlang der Für die Eisen-Schwefel-Welt spricht, dass
Hydrothermale Quellen.
Weiße Raucher (oberes geotektonischen Plattengrenzen vorkommen. sowohl ein stabiler Energielieferant als auch eine
Bild) verdanken ihre Farbe Hier dringt mehrere hundert Grad heißes und katalytisch wirksame und stabilisierende Reak-
ausfallenden Sulfaten von mineralgesättigtes Wasser aus Öffnungen des tionsoberfläche vorhanden ist. Zudem gehören
Elementen wie Calcium,
Barium oder Silicium. Meeresgrunds. Die austretenden Fluide stehen gerade die thermophilen (hitzeliebenden) Bak-
Schwarze Raucher (un- unter dem hohen Wasserdruck der Tiefsee. Un- terien zu den ältesten Organismen überhaupt.
teres Bild) sind oft besie- ter diesen Umständen löst Wasser in großen Es gibt eine Reihe weiterer Modelle der che-
delt von Bakterien und
Archaeen, die aus der Mengen Metallsalze aus dem Gestein. Kommt mischen Evolution, und die Suche nach plau-
Oxidation von Schwe- es nach dem Austritt zum Kontakt mit dem siblen Prozessen, die schließlich zu den ersten
felwasserstoff Energie 2 °C kalten Ozeanwasser, fallen sofort große reproduktionsfähigen „Urzellen“ führten, wird
gewinnen und wiederum
Ernährungsgrundlage für
Mengen an Mineralen aus. Ringförmig um die gewiß noch lange dauern. Aus menschlicher Sicht
höhere Organismen sind. Öffnungen bilden sich Niederschläge, die zu begann die wichtigste Phase erst, als LUCA schon
Schornsteinen emporwachsen können, über existierte: mit der Entwicklung mehrzelliger Or-
denen mächtige „Rauchfahnen“ zu sehen sind ganismen in der biologischen Evolution. —
(Å Abbildung 12-21).
Abhängig von den vorherrschenden gelösten Die biologische Evolution
Eisensulfid-Reaktion Stoffen unterscheidet man schwarze und weiße
Durch die exotherme Reaktion
von Eisensulfid mit Schwefelwas-
Raucher. Die Hydrothermalwässer schwarzer Von LUCA zu Domänen
serstoff entsteht Wasserstoff, der Raucher enthalten typischerweise große Mengen
als Reduktionsmittel (Elektro- an Sulfiden (S2– - Ionen) sowie dunkel gefärbte Die Replikations- und Transkriptionsmecha-
nenlieferant) für die präbiotische
Synthese dienen kann:
Metallionen, z. B. Eisen. In ihrer Umgebung kön- nismen der ersten Urzellen funktionierten wohl
nen sich beachtliche Erzvorkommen aus dem noch sehr unvollkommen. Da die Fehlerrate mit
FeS + H2S → FeS2 + H2 Mineral Pyrit (FeS2) bilden. Weiße Raucher der Länge eines codierenden Bereichs zunimmt,
verdanken ihre Farbe vorwiegend ausfallenden waren die ersten Gene (ÅKasten Einige Begriffe
Dabei entstehen 36 kJ/mol Ener-
gie (Freie Enthalpie) und Wasser- Sulfaten von Elementen wie Barium, Calcium der Genomik) relativ kurz und damit auch die
stoff als Reduktionsmittel. und Silicium. Bausteine und Enzyme der Urzellen sehr einfach.

514
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Einige Mutationen führten zu Proteinen, die die


Translation oder Transkription fehlerfreier kata- Einige Begriffe der Genomik
lysieren konnten als zuvor, was die Entstehung
größerer Gene ermöglichte. So entstand mit der Gene, Transkription und Translation
Zeit ein immer größeres Genom mit immer grö- Als Gen wird im allgemeinen ein Bereich der
ßerer Funktionsvielfalt. DNA bezeichnet, aus dem durch Transkrip-
Möchte man wissen, wie das Genom unseres tion eine biologisch aktive mRNA erstellt
ältesten gemeinsamen Vorfahren ausgesehen ha- wird, die während der Proteinsynthese in den
ben könnte und auf welchen Wegen sich die heute Ribosomen in eine Aminosäuresequenz um-
bekannten Domänen des Lebens daraus entwickel- gesetzt wird (Translation). Die DNA enthält
ten, kann man prüfen, welche heutigen Gene oder noch regulatorische Bereiche – und „Schrott“,
RNA-Sequenzen in allen Domänen des Lebens also Bereiche, die offenbar keine Funktion
(ÅAbbildung 12-22) mehr oder weniger unverän- besitzen.
dert sind. Man fand tatsächlich eine ganze Reihe
von RNA-Sequenzen, die in allen drei Domänen Transkriptionsfaktoren
vorkommen und daher als wahrscheinliche Kandi- Sogenannte Enhancer- und Silencer-Bereiche
daten des Urgenoms gelten können. Allen voran ge- der DNA regulieren die Transkription von
hören dazu ribosomale RNA (rRNA), tRNAs und Genen. An sie binden sich Proteine, die Tran-
mRNAs, sowie Enzyme zur Spaltung von ATP, die skriptionsfaktoren, die die Transkription ver-
auch als Membranproteine fungieren. Es zeigte sich anlassen oder hemmen. Sie sorgen u. a. dafür,
aber noch mehr: Offenbar herrschte zwischen den dass Zellen je nach Umgebung unterschiedli-
sich herausbildenden Domänen ein reger Austausch che Eigenschaften ausbilden.
12-23
von Genen. Sicherlich kam es auch zur Verschmel- Systematik der Lebe-
zung von Zellen und zu symbiotischen Gemein- Chromatid und Chromosom wesen. Dieses Klassifi-
schaften. So waren die Kraftwerke der Zelle, die Ein Chromatid ist ein in Proteine eingepackter kationsschema dient in
der Biologie dazu, die
Mitochondrien, und die Photosynthesezentren der DNA-Doppelstrang. In der Phase zwischen Lebewesen hierarchisch zu
Pflanzen, die Chloroplasten, ursprünglich eigen- zwei Zellteilungen liegt nur ein Doppelstrang klassifizieren. Bei Bedarf
ständige Organismen, die im Laufe der Evolution vor und das Chromatid entspricht dem Chro- werden noch feinere Un-
terteilungen verwendet.
von Eukaryoten aufgenommen wurden (Endosym- mosom. Vor der Zellteilung (Mitose) verdop- In der heute gebräuch-
bionthentheorie). Beide Organellen besitzen eine pelt sich die DNA und es bilden sich zwei lichen phylogenetischen
eigene Membran und eigene DNA. Chromatiden, die an einem Punkt miteinan- Systematik wird der Klas-
sifizierung die stammesge-
der verknüpft sind. Es entsteht das klassische schichtliche Entwicklung
Die Mechanismen der Evolution Bild eines x-förmigen Chromosoms. Bei der der Organismen zugrunde
Zellteilung lösen sich die Chromatiden von- gelegt. Die daraus entste-
henden „Kladogramme“
Als CHARLES DARWR IN 1859 sein Werk Über die einander und wandern jeweils in eine der spiegeln die (hypotheti-
Entstehung der Arten durch natürliche Zucht- Tochterzellen. schen) Entwicklungspfade
wahl veröffentlichte, konnte er durch eine Fülle der Organismen wieder.
von Belegen darstellen, dass wohl jede Spezies vererben konnten. Erst nach der Entdeckung
durch „natürliche Zuchtwahl“ (natural selec- der DNA und Entschlüsselung ihrer Struktur
tion) aus anderen hervorgegangen sein muss. 1953 durch JAMES WATSON (*1928), FRANCIS
Er konnte noch nicht wissen, auf welche Weise CRICK (1916 – 2004) und ROSALIND FRANKLIN
Organismen ihre Eigenschaften verändern und (1920 – 1958) konnten die Mechanismen der

12-22
Kladogramm des Lebens. Heute geht man davon aus,
dass sich aus den Urzellen drei getrennte Domänen bil-
deten, die zellkernlosen Bakteria und Archaea, sowie die
Eukarya (Eukaryoten, mit Zellkern), aus denen sich alle
mehrzelligen Organismen entwickelten. Welche Domäne
sich von welcher zuerst trennte, ist allerdings unklar, da
anfangs wohl ein reger Gentransfer zwischen den Orga-
nismen aller Arten stattfand.
Der rege Gentransfer zwischen den Domänen drückt sich
in Eigenschaften aus, die paarweise gleich sind. Sowohl
Archaeen als auch Bakterien verfügen über eine zirkuläre
DNA, Eukaryoten teilen sich mit Archaeen bestimmte
Translationsmechanismen. Mit Bakterien gemeinsam ha-
ben sie die Struktur der verwendeten Lipide. Alle Eukary-
oten verfügen über Zellkerne und Mitochondrien.
KAPITEL 12 Leben – Materie organisiert sich

Vererbung und Mutation auf biochemischer Schritte entstanden sein, da es ja keine Zwischen-
Ebene identifiziert werden. stufen gebe, die einen Selektionsvorteil bieten!
Dies ist kein Buch über Evolution, und auch Abgesehen davon, dass Biologen inzwischen
eine Darstellung der Entwicklung der Arten unzählige Belege für eine „Strukturentstehung
würde seinen Rahmen sprengen. Die biologi- im Kriechgang“ fanden (ÅAbbildung 2-3, Seite
sche Evolution ist jedoch im Kern eine Folge des 18), ist diese Art der Argumentation ein Bei-
Zusammenspiels reproduktionsfähiger Systeme spiel für BACONs Trugbilder (ÅEine neue Me-
aus Materie mit der Umwelt. Und in diesem Sinn thode der Wissenschaften – Francis Bacon, Seite
ist es interessant, wie durch kleine(!) Schritte der 51), denen wir Menschen anheimfallen. Wir
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

Veränderung aus einer einfachen Urzelle so etwas schließen gerne aus komplexen Veränderungen
wie eine Rose oder ein Mensch entstehen konnte. direkt auf die Existenz komplexer Ursachen.
Die Mechanismen der Evolution sind im Komplexes Verhalten kann aber durchaus durch
Prinzip einfach: Durch Veränderungen eines einfache Gesetze gesteuert sein (Å Kapitel 9)!
Gens wird dessen Funktion oder der Zeitpunkt
12-24
DARWIN als Affe. Diese seiner Transkription verändert. Tritt die Mu- Evo-Devo –
Karikatur Darwins als tation in einer Keimzelle auf, so überträgt sie kleine Ursachen mit großer Wirkung
Affe erschien 1871 in der sich auf die Nachkommen, sofern sie nicht zum
Zeitschrift „The Hornet“
mit dem Unterltitel: „Ein Absterben der Zelle führt. Hat eine Mutation Bis vor wenigen Jahrzehnten glaubte man, dass
ehrwürdiger Orang-Utan. keine Auswirkungen auf die Überlebens- oder das Genom der Säugetiere oder gar des Men-
Ein Beitrag zur (Un)Na- Fortpflanzungschancen des Trägers (des Phäno- schen wenig gemein habe mit dem einfacherer
turgeschichte (unnatural
history)“.
typs), so geschieht (zunächst) nichts. Anderen- Tiere wie der Fliege. Überraschenderweise ver-
falls verschafft es ihm einen vielleicht winzigen fügen aber alle Säugetiere, inklusive uns Men-
12-25
Mutationen. Genetische Vorteil gegenüber Artgenossen, so dass er etwas schen zu etwa 99 Prozent über die gleichen
Mutationen gibt es in besser angepasste Nachkommen hat als diese. Gene! Diese sind zwar oft in unterschiedlicher
vielen Formen. Bei der Auf Sicht wird sich diese Mutation in der Po- Zahl vorhanden und auch die Basensequenzen
Punktmutation wird ein
Basenpaar in einem Gen
pulation deshalb durchsetzen. Mutationen mit mögen sich etwas unterscheiden, aber insge-
entweder durch ein an- weniger vorteilhaften Auswirkungen werden samt ist es sehr schwer, beim Vorliegen eines
deres ausgetauscht oder demgegenüber mit der Zeit verschwinden. Dieser Genoms auf die Art zu schließen. Auch kodie-
es entfällt bzw. es kommt
Selektionsprozess ist außerordentlich wirksam, ren beim Menschen weniger als 2 Prozent des
ein neues hinzu. Die Si-
chelzellenanämie ist ein wie die schnell eintretenden Resistenzen von Genoms für irgendwelche Proteine! Es scheint
Beispiel einer Punktmuta- Bakterien gegen Antibiotika oder die von Insek- so, als ob die Natur aus wenigen Bausteinen
tion, bei der ein Basenpaar
ten gegen Insektizide zeigen. ganz unterschiedliche Wesen erschaffen kann,
ausgetauscht ist. Auch
eingeschobene Sequenzen Da sich Mutationen laufend ereignen, wird ähnlich wie Kinder mit einem Lego-Baukasten
(Insertionen) kommen vor, sich eine relativ abgeschlossene Population von die verschiedensten Dinge zaubern können.
ein Beispiel sind die von Individuen einer Art durch den Mutations-Se- Wie funktioniert das und was bedeutet das für
GREGOR MENDEL unter-
suchten runzeligen Erbsen, lektionsprozess irgendwann soweit von anderen die Evolution?
denen durch Insertion ein Artgenossen entfernt haben, dass zwischen ihnen Mit diesen Fragen beschäftigt sich die noch
Gen für die Stärkesynthese keine sexuelle Fortpflanzung mehr möglich ist: recht junge evolutionäre Entwicklungsbiologie,
abhanden gekommen ist.
Genkopien bewirken, dass Eine neue Art ist entstanden. kurz Evo-Devo genannt (von engl. evolutionary
die zugehörige Substanz Die Vorstellung, dass alle Tier- und Pflanzen- developmental biology). Tatsächlich lernte man
in größeren Mengen pro- arten durch viele winzige Mutationen aus einer viel vom Arbeitstier der Molekulargenetik, der
duziert wird. Menschen
unterscheiden sich z. B. Urzelle über einen Selektionsprozess entstanden Schwarzbäuchigen Taufliege (Drosophila me-
von Schimpansen in der sein sollen, erschien allerdings nicht nur einigen lanogaster), über die Steuerung der Embry-
Zahl der Kopien für ein Zeitgenossen DARW R INs höchst unglaubwürdig onalentwicklung aller Tiere und damit auch
stärkespaltendes Enzym.
Bei Duplikationen wird ein
(die Entstehung der Arten aus Urformen wurde über ihre Evolution. Das Grundprinzip der
Basenpaar mehrfach wie- schon vor DARW R IN diskutiert), auch heute noch Embryonalentwicklung ist überraschend ein-
derholt. Bei Replikations- setzen Gegner der Evolutionstheorie an diesem fach und wird von einem recht überschaubaren
veränderungen ändern
Punkt an: Komplexe biologische Prozesse wie die Satz (einige hundert) sogenannter Entwick-
sich z. B. die Enhancer-
Sequenzen eines Gens. So Biosynthese und Strukturen wie das Auge könn- lungsproteine gesteuert. Ist ein solches Protein
entstand der langstielige ten doch unmöglich durch kleine evolutionäre in den Zellen an einer Stelle des Embryos zu
Mais aus büscheligen Vor-
einer bestimmten Zeit aktiv, so veranlasst es die
läufern.
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Produktion anderer Proteine, z. B. Farbstoffe binierte Konzentration der vier Entwicklungs-


oder Signalmoleküle, die Nachbarzellen zum proteine im Zentrum kann ein weiteres Gen
Wachsen und Teilen veranlassen. Entwicklungs- einschalten, das ein Signalprotein bildet, was
proteine wirken u. a. als Transkriptionsfaktoren z. B. die Zellen an dieser Stelle veranlasst, nach
auf Enhancer oder Silencer von Genen (Å Kas- außen zu wachsen und eine Extremität zu bilden.
ten Einige Begriffe der Genomik), sie verstärken Der embryonale Wachstumsprozess ist natür- r
oder hemmen also deren Transkription. Für sie lich um einiges komplexer, aber das Prinzip der
gilt das Schlüssel- und Schloßprinzip: Da En- Kartierung des Embryos mit Hilfe lokaler Steue-
hancer und Silencer spezifische DNA-Sequen- rung der Genaktivität lässt sich eindrucksvoll im
zen sind, müssen die Transkriptionsfaktoren Experiment nachweisen (Å Abbildung 12-28).
strukturell dazu „passen“. Viele Gene verfügen Evolutionsgeschichtlich bedeutet diese Form
über mehrere Schlösser, so dass sie durch meh- des Embryonalwachstums, dass für die Bildung

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rere Transkriptionsfaktoren gesteuert werden neuer Körperstrukturen keineswegs neue Gene
können; hemmende und verstärkende Faktoren „erfunden“ werden müssen. Es scheint auszu-
werden dabei miteinander „verrechnet“: Bei reichen, durch geringfügige Mutationen der En-
einem Übermaß an Hemmern erfolgt keine hancer oder Silencer die lokale Aktivierung der
Transkription, im anderen Fall wohl. Durch Entwicklungsgene zu beeinflussen. Dafür spricht,
die Kombination verschiedener Schlösser gibt dass diese Sequenzen in der DNA häufiger als an-
12-27
es eine riesige Zahl an unterschiedlichen Steu- dere mutieren. Auch sind entwicklungsgeschicht- Transkriptionsfaktoren.
erungsmöglichkeiten. Natürlich werden die liche Phänomene wie die Differenzierung von Die Genaktivität wird in
jeweiligen Entwicklungsproteine selbst eben- Gliedmaßen auf diese Weise gut erklärbar. Die eukaryotischen Zellen
auf mehreren Ebenen re-
falls transkribiert, auch für ihre Gene gibt es zunehmende Differenzierung der Organismen im guliert. Die Übertragung
Transkriptionsfaktoren, und auch für deren Zuge der Evolution der Tiere ging wohl einher (Transkription) eines Gens
Transkription gibt es welche und so fort. Da mit der Vervielfachung einer Klasse zentraler Ent- auf der DNA in Messen-
ger-RNA kann beispiels-
die Transkriptionsfaktoren selbst auch Andock- wicklungsgene, des sogenannten Hox-Clusters. weise nur dann initiiert
stellen für andere Substanzen haben, kann die werden, wenn neben dem
Kette durch ein Signalmolekül ausgelöst wer- Quo vadis homo? Enzym Polymerase meh-
rere Transkriptionsfaktoren
den, das zum Beispiel in einer befruchteten
zugegen sind.
Eizelle aktiv wird. Man könnte meinen, dass wir Menschen dank
So weit, so gut. Aber woher weiß z. B. eine unserer intellektuellen und handwerklichen Fä-
Zelle, dass sie an der Stelle, an der sie sich be- higkeiten die Evolution „außer Kraft“ gesetzt ha-
findet, durch fortwährende Teilung einen Fuß ben, schließlich passen wir eher unsere Umwelt an
bilden soll? Warum wird gerade dann ein Ent- uns an, als umgekehrt. Aber die Evolution kann
wicklungsgen „eingeschaltet“, wenn die Zelle man nicht „abschalten“. Es gibt viele Anzeichen
an einem bestimmten Ort ist? Der Trick ist dafür, dass wir uns in den letzten Jahrtausenden
ebenso genial wie einfach (ÅAbbildung 12-26): genetisch verändert haben und dies auch weiter
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529

Eine anfängliche (zufällige) Heterogenität der tun werden. Beispiele sind die Laktosetoleranz
Konzentration von Substanzen führt dazu, dass der Milchviehzüchter oder die blauen Augen der
auf einer Seite des Embryos ein anderes Ent- Nordeuropäer und vieles mehr. Und auch das
wicklungsgen eingeschaltet wird als auf der gerne bemühte steinzeitliche „Jäger-Sammler-Ge-
anderen, und wieder andere auf der Ober- bzw. hirn“ gehört eher ins Reich der Mythen. Unser
Unterseite. Das entstehende Konzentrationsge- Verhalten wäre – wenn man es denn auf diesen 12-28
fälle an Entwicklungsproteinen führt in diesem Ebenen eindeutig auf genetische Faktoren zurück- Differenzierung eines
Fliegenembryos. Anfangs
Fall zu einer Vierteilung des Embryos. Die kom- verfolgen könnte – nicht nur geprägt durch die
werden im westlichen und
Lebensverhältnisse vor 15 000 Jahren, sondern mittleren Bereich zwei
noch stärker durch die danach folgende Zeit der Entwicklungsproteine aktiv
(a, grün und rot). In einem
Ackerbauern und Viehzüchter. Männer sollten
weiteren Schritt enstehen
sich daher damit abfinden, dass sie keineswegs weitere Unterteilungen.
genetisch zum Mammutjäger prädestiniert sind. Die hellen Bereiche kenn-
Die globale Mobilität des Menschen hat ver- zeichnen Entwicklungspro-
teine, die in jedem zweiten
hindert, dass neue Menschenarten entstehen. Segment einen Streifen
Das könnte sich natürlich ändern, zum Beispiel erzeugen (b).

12-26
Lokale Differenzierung eines Embryos. Unterschiedliche
Konzentrationen an Entwicklungsproteinen zwischen 5 17
linker und rechter (a, b) bzw. Ober- und Unterseite (1, 2)
ergeben in der Mitte eine Kombination, die in den dorti-
gen Zellen ein Gen aktivieren kann, das sie zum „Nach-
außen-Wachsen“ veranlasst.
KAPITEL 12 Leben – Materie organisiert sich

Geist, GÖDEL und Com- durch die Besiedlung weit entfernter Planeten, sind diese Fragen noch keineswegs geklärt. Dies
puter
Gelegentlich wird auf oder indem wir selbst Hand an unseren geneti- liegt unter anderem daran, dass sich Bewusstsein
Basis des Gödelschen schen Code legten. nicht an einer bestimmten Stelle im Gehirn ver-
Unvollständigkeitssatzes Möglich wäre, dass unsere moderne Lebens- orten läßt, sondern ein kollektives Phänomen
argumentiert, dass der
Geist aus prinzipiellen führung (gehaltvolle Nahrung und geringe kör- vieler Areale der Großhirnrinde ist (ÅAbbildung
Gründen nicht durch einen perliche Belastung) in den Industrieländern in den 12-29). Zwar kennt man inzwischen recht gut
Computer simuliert wer- nächsten Jahrhunderten zu einer genetischen An- die Funktion der einzelnen Areale, aber wie
den könne. Kurz gesagt,
bewies der österreichische
passung führte, aber auch ganz andere Szenarien daraus unser Gefühl, eine „Person“ zu sein, ent-
Mathematiker KURT GÖDEL sind denkbar: neben der bewussten genetischen steht, weiß heute niemand. Allerdings sind viele
(1906 – 1978), dass es Manipulation werden Menschen womöglich Kör- r höhere geistige Funktionen, wie das Erkennen
kein widerspruchsfreies
formales Verfahren geben
perfunktionen durch künstliche Komponenten, von Zahlen oder Begriffen, unbewusste Prozesse.
kann, mit dem sich alle mechanischer oder biologischer Natur, ersetzen. Das Bewusstsein scheint eine dünne „Schicht“
Sätze der Arithmetik (und Manche Autoren gehen sogar so weit, dass sie oberhalb ansonsten unbewußter Gehirnfunkti-
mächtigerer mathemati-
die völlige Körperlosigkeit prognostizieren: Der onen zu sein. Bewusste Prozesse zeichnen sich
scher Systeme) beweisen
lassen. Der englische Ma- Mensch transferiert seinen Geist in ein „künstli- wohl vor allem dadurch aus, dass sie sequentiell
thematiker ALAN TURING ches Gehirn“ oder prägt ihn gar in die Struktur ablaufen und langsam sind, während alle unbe-
(1912 – 1954) bewies der Raumzeit ein, wie es ARTHUR C. CLARKE wussten Prozesse hochgradig parallelisiert und
diesen Satz für das von
ihm entwickelte univer- (1917 – 2008) in seinem Roman 2001: Odyssee sehr schnell sind.
selle Modell eines Com- im Weltraum beschreibt. Aber: Läßt sich unser Es ist natürlich auch nicht leicht, Bewusstsein
puters, der sogenannten Geist, unsere Persönlichkeit einfach von unserem zu definieren. Wann würden wir sagen, ein Lebe-
Turing-Maschine. Manche
Interpreten folgern dar- Körper lösen und in etwas anderes übertragen? wesen sei mit Bewusstsein ausgestattet?
aus, dass der menschliche Als wesentliches Element von Bewusstsein
Geist mächtiger sein muss wird angesehen, dass die eigene Identität und
als eine Maschine, da Bewusstsein
er schließlich die Sätze das eigene Erleben als abgegrenzt von der Um-
der Arithmetik beweisen Die meisten Philosophen und Naturwissen- welt und anderen Personen erfahren wird. Dazu
könne. Abgesehen davon, schaftler vertreten heute einen materialistischen gehört auch, dass wir uns nicht als willenlose
dass man durchaus Com-
puter bauen kann, die
Standpunkt, wonach Bewusstsein in die Welt der Marionetten empfinden, sondern als Urheber
keine Turing-Maschinen physikalischen (materiellen) Phänomene gehört, unseres Handelns, kurz: Wir fühlen einen freien
sind (z. B. auf Quanten- im Gegensatz zum dualistischen Standpunkt, der Willen. Auch empfinden wir uns in der Regel Zeit
basis), beweist dieser Satz
nur, dass auch ein Compu-
von prinzipiell unterschiedlichen Seinsbereichen unseres Lebens als „ein Ich“, selbst wenn uns an-
ter in diesem Punkt keinen ausgeht. Damit ist natürlich noch nicht geklärt, dere Leute sagen, man hätte sich sehr verändert.
Vorsprung vor mensch- was mentale Phänomene vor anderen auszeich- Die Schwierigkeit, den subjektiven Gehalt unse-
lichen Mathematikern
net. Ist unser Bewusstsein womöglich nur ein res Erlebens in Form objektiver Gesetze auszu-
hätte. Ein Mathematik
treibendes Computerpro- „Begleitphänomen“ deterministischer neuronaler drücken, wird in der Philosophie des Geistes als
gramm könnte – ganz Prozesse, das keinerlei Einfluss auf unser Handeln das Qualia-Problem bezeichnet (lat. qualis, wie
menschlich – auch mal hat, wie es der Epiphänomenalismus postuliert? beschaffen). Wir haben Schwierigkeiten zu glau-
„hängen“ bleiben.
Ebensowenig ist damit erklärt, unter welchen ben, dass unser subjektives Erleben des Duftes
Bedingungen Bewusstsein auftritt. Benötigt man einer Rose „nichts anderes“ ist als ein bestimm-
dazu ein materielles Substrat, einen „Körper“? ter Erregungszustand unseres Gehirns! Deshalb
Könnte man Bewusstsein auch in einem Compu- können wir uns auch kaum vorstellen, dass wir
ter erzeugen, vielleicht, in dem man ein Modell zum Beispiel eines Tages in der Lage sein werden,
des menschlichen Gehirns „simuliert“ (ÅRand- einfach durch Inspektion von Programmcodes
spalte)? Und: Sind wir Menschen auf der Erde die festzustellen, ob dieses Programm – auf einem
einzige lebende Spezies mit Bewusstsein? Computer ausgeführt – Bewußtsein hat, oder
Obwohl man heute mittels bildgebender Ver- erzeugt. Generell haben wir Schwierigkeiten,
fahren Menschen beim Denken zuschauen kann,
12-29
Die Großhirnrinde. Bewußtsein ist ein kollektives Phä-
nomen der Großhirnrinde (blassgelb), insbesondere des
Frontallappens (1), des Parietallappens (2) und des da-
runter liegenden Temporallappens (nicht markiert). Der
innen liegende Hippocampus (3) ist für die Koordination
des deklarativen Gedächtnisses zuständig. Seinen Namen
verdankt er seiner Form, die an ein Seepferdchen erin-
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA

nert. Das Kleinhirn (4) steuert Bewegungsabläufe, seine


Aktivitäten sind nicht bewusst, ebensowenig die Aktivitä-
518 ten des primären visuellen Cortex (5) und vieler anderer
Areale des Gehirns.
Erde, Wasser, Luft und Feuer

bei Lebewesen, die keine für uns verständliche erscheint als eines der einfachsten Moleküle aus
Sprache besitzen, den Grad ihres Bewusstseins den sehr weit verbreiteten Elementen Wasserstoff
festzustellen. Lange glaubte man daher, dass Be- und Sauerstoff ein idealer Kandidat. Allerdings
wusstsein allein uns Menschen zukommt. Heute könnte man sich wohl auch die Kombination
weiß man, dass immerhin einige der Prozesse, Kohlenstoff/Ammoniak (NH3) vorstellen.
die Menschen nur bewußt ausführen können, Dann ist da noch die anscheinend triviale
auch bei Tieren vorkommen. So erkennen einige Frage, wo man nach „lebender Materie“ suchen
Affenarten und gewisse Arten aus anderen Tier- sollte. Klar doch, auf Planeten! Aber so einfach ist
gruppen (z. B. einige Rabenvögel) sich selbst im die Sache nicht. Natürlich werden wir zunächst
Spiegel und sind fähig, auch komplexere Hand- auf unserem Nachbarplaneten, dem Mars, gründ-
lungsketten wie die Fertigung von Werkzeugen lich nachsehen. Ganze Flotten von Sonden und
zur Erbeutung schwer zugänglicher Happen im Robotergefährten haben den Mars in den letzten
voraus zu planen. Derartige Leistungen scheinen Jahren untersucht oder werden noch dorthin auf-
eine Großhirnrinde mit sehr hoher Zelldichte brechen. Interessanterweise gibt es auf unserem
vorauszusetzen, die in der Lage ist, eine große Nachbarplaneten Mars offensichtlich tatsächlich
Menge an Informationen miteinander zu ver- aktive Quellen für Methan, denn es wurden auf-
netzen. Eine recht junge Theorie, die Integrated fallend große Mengen dieses Gases gefunden, die
Information Theory des Psychiaters GIULIO TO- sich nicht sehr lange in der Atmosphäre halten
NONI von der Universiät Wisconsin definiert auf könnten. Auch der Saturnmond Titan scheint mit
dieser Basis ein numerisches Maß für den Grad seinen Methanflüssen und Eisfelsen ein interes-
an Bewusstsein, dass man im Prinzip auf alle Ar- santer Kandidat zu sein. Und vielleicht ist auch
ten von Systemen, biologischen und künstlichen, noch der Jupitermond Europa interessant, der
anwenden kann. Allerdings ist die Berechnung über einen Wasserozean unter seiner Eisschicht
dieser Größe so aufwändig, dass es derzeit nicht verfügen soll. Was aber wesentlich darüber
einmal möglich ist, sie für Nervensysteme mit hinausgeht, ist für uns, wie schon erwähnt, nur
wenigen Hundert Zellen zu berechnen. Es wir indirekt zugänglich. Diese Überlegungen führen
also noch etwas dauern, bis wir den Grad an Be- ganz natürlich zu der Frage, wo im Kosmos Leben
wusstsein eines Computerprogramms ausrechnen noch entstanden sein müsste.
können – sofern dieses Theorie korrekt ist. —
Leben in anderen Sonnensystemen?
Extraterrestrisches Leben
Natürlich liegen die allermeisten der Orte, an
Wo beginnt man zu suchen? denen man nachsehen müsste, weit außerhalb des
Sonnensystems. Sie sind deshalb mit keiner heute
Aus einem Beispiel lässt sich schwer abstrahieren. vorstellbaren Technik physisch zugänglich. Zum
Aber wir kennen leider bisher nur das irdische Glück ist das aber auch gar nicht erforderlich.
Leben. Voraussetzung für die Entstehung von auf Suchen wir doch einfach nach den „Fingerab-
Kohlenstoff und wässrigen Lösungen basierenden drücken“ bestimmter Moleküle im Licht, das uns
Lebewesen sind vermutlich ähnliche chemische erreicht. Mit Hilfe der Spektroskopie ist es mög-
und physikalische Bedingungen, wie sie bei der lich, Moleküle aufzuspüren, die an den entfern-
Entstehung irdischen Lebens geherrscht haben. testen Regionen im Weltraum vorkommen und
Aber muss es überhaupt Leben wie unseres dort Licht bestimmter Wellenlängen aussenden
sein? Viele Argumente sprechen tatsächlich für oder absorbieren. Inzwischen hat man hunderte
Kohlenstoff als Basis. Kein anderes chemisches extrasolarer Planeten entdeckt, die man spek-
Element kann so leicht komplexe Molekülstruk- troskopisch auf Anzeichen von Wasser, Methan,
turen mit Ketten, Verzweigungen und Mehr- Sauerstoff oder sogar von komplexeren „Lebens-
fachbindungen hervorbringen. Dies ist die Folge zeichen“ wie Chlorophyll durchsuchen kann.
der Elektronenstruktur des Kohlenstoffatoms, Bei letzterem wäre es allerdings verwunderlich,
die auch in seiner Stellung im Periodensystem wenn zur Absorption von Strahlungsenergie in
Ausdruck findet. Kohlenstoffatome können vier einem anderen Lebenssystem eine sehr ähnliche
stabile Atombindungen ausbilden und kommen Substanz entstanden wäre. Eigentlich wäre es für
zudem im Universum häufig vor. Auch Wasser Pflanzen ohnehin besser, wenn sie das ganze auf

519
KAPITEL 12 Leben – Materie organisiert sich

der Planetenoberfläche ankommende Lichtspek- dynamischen Systems – das sind alles Eigenschaf-
trum des Sterns verarbeiten könnten und somit ten, die man bisher nur lebenden Systemen zuge-
ideal schwarz wären, fast so wie eine Aubergine. schrieben hatte. Durch Polarisation des Plasmas
Deshalb suchen Astrobiologen denn auch können sich dabei sogar gleich geladene Teilchen
nicht nur nach der Signatur irdischen Chloro- nah beieinander anordnen. Plasmaströme beein-
phylls, sondern allgemein nach Anzeichen auf- flussen die Struktur der Verzweigungen dieser
fälliger Absorptionen. Ein starker Hinweis wäre Gebilde. So ist es nicht völlig ausgeschlossen,
das gleichzeitige Vorkommen von Substanzen dass dieser neue Materiezustand des „staubigen
wie Methan und Sauerstoff, die im Stoffwechsel Plasmas“ das Zeug dazu hat, eine Evolution zu
des irdischen Lebens eine Rolle spielen, aber durchlaufen und stets komplexere Strukturen
ohne stetige Produktion nicht lange gemeinsam auszubilden: also anorganisches Leben? Immer-
existieren können: Methan wird bei Anwesenheit hin gibt es im Universum so viele Orte, an denen
von Sauerstoff langsam zu Kohlendioxid und sich Plasma und Staub finden, dass an möglichen
Wasser oxidiert. Geburtsstätten wohl kein Mangel sein dürfte.
Selbst wenn diese Idee bisher nur eine interes-
Leben auf Siliciumbasis? sante Simulation ist, so kann sie uns doch zeigen,
dass man bei der Suche nach außerirdischem
Die Fixierung auf die Suche nach Leben auf Leben ab und zu die Kohlenstoff-Scheuklappen
Kohlenstoffbasis wird oft provokant als Koh- abnehmen sollte. Denkt man weiter, so kann
lenstoff-Chauvinismus bezeichnet. Schaut man man sich sogar fragen, ob Leben unbedingt an
sich das Verhalten anderer Elemente an, so stellt Materie aus Atomen gebunden sein muss, ob
sich heraus, dass neben Kohlenstoff allenfalls nur zwischen ihnen genügend komplexe Gebilde
noch Silicium ähnlich komplexe Strukturen bil- entstehen können, um die für Leben typischen
den kann, wenn auch längst nicht in gleichem Merkmale ausbilden zu können. Schließlich geht
Maße. Immerhin kann die Silicium-Chemie mit man gegenwärtig davon aus, dass gewöhnliche
großen Gitterstrukturen und Polymermolekü- Materie nur etwa 4 Prozent Anteil am gesam-
len aufwarten. Man konnte entgegen früheren ten Kosmos hat. Vom ganzen Rest haben wir
Annahmen seit den 1980er Jahren sogar Si = Si- momentan, gelinde gesagt, noch sehr unklare
Doppelbindungen synthetisieren. Allerdings sind Vorstellungen. Immerhin 20 Prozent soll die mys-
diese deutlich weniger stabil als ihre Kohlen- teriöse Dunkle Materie ausmachen. Aus welcher
stoff-Pendants. Obwohl die Si - O-Bindung sehr Art von Teilchen mag sie bestehen? Bekannt ist
stabil ist, und es für Siliciumpolymere wichtige lediglich, dass diese kaum mit gewöhnlicher Ma-
technische Anwendungen gibt, erreicht die Sili- terie wechselwirken und nur durch ihre Gravita-
ciumchemie doch bei weitem nicht die Vielfalt tionswirkung erkennbar sind. Ob diese geister-
der Kohlenstoffchemie. haften Teilchen wohl untereinander Strukturen
bilden können? Möglicherweise sogar komplexe?
Wahrhaft exotische Lebensformen? Solche Gedanken sind natürlich pure Spekulation
und erscheinen völlig unwahrscheinlich. Aber
Aber könnte es Leben nicht in noch fantastische- mit welchem Recht bezeichnen wir eigentlich
ren Formen geben, an die wir planetenansässige „unsere“ 4 Prozent der Welt als „gewöhnliche“
Wesen einfach nicht denken? Ein Artikel einer Materie?
russisch-australisch-deutschen Arbeitsgruppe
aus dem Jahr 2007 zeigt eine solche Möglichkeit Was noch bleibt...
auf. Die Autoren zeigten in einer Computersi-
mulation, dass sich interstellare Staubteilchen An dieser Stelle sollte sich ursprünglich ein Ka-
in kosmischen Plasmen selbstorganisierend zu pitel anschließen, in dem wir alle noch offenen
mikroskopischen kleinen spiraligen Staubfäden Fragen zur Materie und dem Universum ab-
anordnen können. Diese sollen eine nicht nur schließend beantwortet hätten. Redaktionstech-
zufällige strukturelle Ähnlichkeit mit DNA besit- nische Gründe standen dem jedoch entgegen,
zen. Unter bestimmten Einflüssen können sie sich und auch der Rand ließ zuwenig Platz dafür. Die
teilen und replizieren. Sie können verzweigt sein Beantwortung dieser letzten Fragen muss daher
und sie sind Bestandteile eines offenen thermo- leider noch etwas warten... —

520
Bildquellen
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Index
ANHANG

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527
ANHANG

Begriff 123 Bernstein 82 Bronzezeit 118


Index Fremd- 181, 182, 185, 206,
254
Beryllium-Barriere 476
Beryllium (Be) 480
Bruch 190
Ermüdungs- 191
Struktur 99 Berzelius, Jöns Jacob 76, 120 Bruchfestigkeit 53
Atomgewicht 74, 75, 79, 80, 99 Betazerfall (β-Zerfall) 419, 421, Bruchgrenze 180
Atomismus 45, 64, 65 435, 472, 477 Bunsen, Robert, Wilhelm 124,
A islamischer 42
Atomisten 34, 43, 44
Beton 178, 193, 246, 247
Leicht- 248
449

Abgase 367 Atomkern 123, 417, 421, 426, Ultrahochfester 248


Absorption 219 479 Betonarten 247 C
Abstraktion 20 magischer 421 Beugung 448
Calcit 242
Achromat 447 Atomkraftmikroskop 23 Bewegungsenergie 165
Calcium 122, 135, 140
Actinoide 143 Atommodell Bewusstsein 20, 518
Calciumcarbonat 242, 244
Adaptive Optik 448 Bohr 126 und Quantentheorie 111
Caloricum 91, 93
Adenosintriphosphat (ATP) 510 Bohrsches 100, 125 Bindemittel 245
Cassini, Giovanni, Domenico 446
Aerosole 320 Bohr-Sommerfeldsches 99, 101 Bindung
cell assemblies 21
Aggregatzustand 152, 164, 165, Daltonsches 123 Atom- 142, 145, 148, 152,
Cellulose 159, 219, 355
166 modernes 134 216, 230, 315
Chalkogene 142
Agnosie 22 Rutherfordsches 123, 124 Atom polare 149
Chaos 413
Agricola 119, 120 Rosinenkuchenmodell 123 C=C-Doppel- 336
Chemie, organische 117, 124
Akustik 26 Atomorbitale 134 chemische 101, 102, 144, 218,
Chemotaxis 17
Alchemie 37, 40, 59, 60, 62 Atomradius 139 418
Cherenkov-Strahlung 451
Alhazen 446. Siehe Ibn al- Atomrümpfe 148, 204, 208, 217 Doppel- 149, 336, 505
Chiasma 20
Haitham Atomuhr 133 Dreifach- 149
Chlor (Cl) 142, 150
Alkalimetall 139 Aufenthaltsbereiche 148 Hauptvalenz- 145
Chondrite
Alkohol 25, 335, 349 (von Elektronen) 134 Ionen- 145, 152, 216, 230
kohlige 465
Amalgam 116, 118, 354 Auflösung Metall- 145, 146, 147, 152
silikatische 465
Aminosäure 508, 513 atomare 23 Nebenvalenz- 145
Chromosom 515
L- 508 (des menschlichen Auges) 22 Siloxan- 333
Chromosphäre 388
Ammoniumnitratdüngern 122 erdgebundener Teleskope 448 Si-O- 520
Clarke, Arthur C. 518
amorph 152 Augen Wasserstoffbrücken- 149, 315,
Clathrate 379
Ampère, André, Marie 86 Baupläne 19 327, 329
Clausius, Rudolf Julius Emanuel
Andromedanebel 447 Auger-Observatorium 451 π- 148
93, 94, 95
Anisotropie 164, 165 Auripigment 119 σ- 148
CNO-Zyklus 473
Anode 85 Ausgangsstoffe 44, 63 Bindungsaffinität 102
Cobalt (Co) 120
Antimon (Sb) 117, 277 Ausgedehntheit Bindungsarten 145
Cochlea 26
Antiteilchen 427, 429 (Materie) 132 Bindungsenergie 121, 162, 165,
Computersimulation 9, 454
Anziehung 66 Ausscheidungen 184 180, 184
Comte, Auguste
Coulombsche 146 Außenelektron 136, 139, 204, Bindungsstärken 68, 145
449
Anziehung der Körper 58 386 Binnig, Gerd 23
Cooper-Paare 208, 355
Apeiron 32, 46 Autopoiesis 502 Biodiesel 337, 338
Corpus geniculatum laterale 20
Apparat, dioptrischer 20 Avogadro, Amadeo 75, 163 Biomembran 332, 333
Cracken 347
Äquipartitionstheorem 95, 97 Avogadro-Konstante 163 Bismut (Bi) (Wismut) 119
Crick, Francis 515
Aragonit 242, 243, 244 bitter 25
Curie
Archaeen 501, 507, 515 Bitumen 243, 251
- Punkt 167
Area 17 20 B Blauverschiebung 484, 489
Blei (Pb) 116, 271
- Temperatur 214, 438
Aristoteles 36, 37, 38, 39, 41, Cyanobakterien 18
42, 43, 44, 52, 59, 396, Bahndrehimpuls 131, 133, 213 Blitz 390
446 Bahnen (erlaubte) 125 Blut 331
Arsen (As) 119, 279 Bakelit 189 Bogenlampen 390
Bohr, Niels 124, 128
D
Arsenik 119 Bakterien 18, 515
Asphalt 245, 249 Boden- 376 Bohrsches Atommodell 100 Dalton, John 73, 74, 91, 123
Guss- 250 Zellbau von 507 Bor (B) 480 Damaszener-Schwerter 119
natürlicher 249, 250 Band Bose-Einstein-Statistik 97, 402 Dampf 359
Splitt-Mastix- (SMA) 250 Leitungs- 147, 204, 216 Boson 214, 355 Dampfdruck 318, 324, 326, 354
Asphaltbeton 250 Valenz- 147, 204 Eich- 436 Dao 46
Asteroide 452, 464, 466 Bänder Goldstone- 437, 438 Darwin, Charles 500, 512, 515
Astronomie 444, 446, 447, 454 Energie- 147, 204, 205 Higgs- 437, 488 Dawkins, Richard 500
Äther Bändermodell 147, 205 Spinquantenzahl eines 132, De Broglie, Louis 126
- als elastische Flüssigkeit 66 Bandlücke 116, 204, 205 435 Default Mode Network 22
- als fünftes Element 35, 37 Baryonen 419, 429, 430 Boyle, Robert 65, 83 Dehngrenze 177, 186, 190
- als Stoff 57, 58 Basenpaare 509 Brand, Hennig 120 Dehnungsrezeptoren 23
- als Wärmestoff 70, 92 Basilisk 59 Brandt, Georg 120 Demiurg 34
- und elektromagnetische Kräfte Basisdreieck (Platon) 35 Bran(en) 440, 441 Demokrit 34, 80, 123
83, 87, 88, 90 Baumaterial 231, 239, 245 Branntkalk 241, 248 Denken 20
Atmosphäre 364 Baustein 231, 232, 245, 248 Bravais-Gitter 154, 155 Descartes, Rene 28, 46, 52, 54,
des Titan 463 künstlicher 231 Brennstoff 385 55, 91
Ur- 511, 514 Belastung 192 Fusions- 393 Destillation
Atom 34, 42, 65, 74, 98, 124, Benetzung 323, 324, 325 de Broglie, Louis-Victor 104, 124 (Erdöl) 346
130, 470 Benzin 347, 348 Bronze 115, 118, 253 Diamant 10, 116, 172, 188

528
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Dichromat 22 Begriff 82, 89 Reaktions- 384, 386 magnetische 210


Dichte 460 Hüllen- 217 Symmetrie- 420 Fermi-Dirac-Statistik 402
Eis 323 - im Atom 98, 100, 125 Wärme- 198, 199, 200 Fermi, Enrico 451
Wasser 316 in Atombindungen 149 Energieerhaltungssatz 94 Fermi-Niveau 205
Dieselöl 348 Spin 131 Energieniveau 126, 133 Fermion 132, 208, 213, 429,
Diffusion 404 und Leitfähigkeit 203 bei schweren Kernen 136 431, 435, 437
als Strukturbildner 405 und Orbital 135 des Wasserstoffelektrons 133 Fermionische Materie. Siehe Ma-
und Entropie 407 und Pauli-Prinzip 132 einer Leerstelle 206 tierie
und Kriechen 192 ungepaartes 213 im Atomkern 422 Fermi-Verteilung 205
Dilatanz 177 Elektronegativität 142, 145, 146, im Bändermodell 147 Fernordnung 151, 152, 165,
Diode 206 149, 315 und Farbe 219 309
Dipol 149, 315, 351 Elektronenaffinität 146 Energiepakete 125 Festkörper 124, 151, 212, 223
Dirac, Paul 133 Elektronenbahn 130 Energiequant 129 kristalline 153, 165, 235
Paul 429 Elektronengas 146, 147 Energiesparlampen 391, 392 polykristalline 153
Dissoziation 328 Elektronenhülle 123, 425 Energieträger 343 Fette
Distanzskalen 486 Elektronenkonfiguration 136, 144 Entartung 130 Nahrungs- 336
DNA (deoxyribonucleic acid) 122, Elektronenschale 101, 102, 121, Enthalpie 162, 170 Pflanzen- 335
149, 509, 515 138, 420 Entropie 162 Speise- 335
Domäne Elektronenstruktur 137 absolute Wert der 409 Fettsäuren 335, 336, 340
(Biologie) 515 Element -bilanz 410 gesättigte 336
Doppler-Effekt 484 Begriff 38, 123 des schwarzen Körpers 104 ungesättigte 336
Dotierung 205, 206 Elementarschichten 228 eines schwarzen Lochs 408 Feuer 33, 36, 47, 70, 383, 385
Drall 131 Elementarteilchen 10, 213, 418, Einführung des Begriffs 94 Feynman-Diagramme 434
Drehimpuls 130 426, 428, 432, 437, 440, und Negentropie 503 Feynman, Richard 26
Drei-Alpha-Prozess 475 453, 454, 464 und Ordnung 406 Flamme 386
Druckreize 24 Elementarzelle 157 Erdalkalimetalle 140 Flammenfärbungen 140
Druckrezeptoren 24 Elemente 227 Erde Flashspeicher 207
Druckwellen 18 chemische 67, 72, 74, 79, 115, Element 33, 35 Flexibilität (des Gehirns) 22
Duftstoffe 368, 369, 370 476 Name 223 Fließverhalten
Duktilität 177, 185 d-Block- 143 Planet 55 dilatantes 312
Düngemittel 122 (die Entdeckung) 78 Erdgas 380 viskoelastisches 312
Dunkle Halos 494 fünf 47 Erdkruste 121, 224, 411, 459 (visko)plastisches 312
Duroplaste 160, 189 Nebengruppen- 142 Erdmantel 121, 314, 345 Floßofen 255, 256
primordiale 470, 487 Erdöl 343 Flotation 254
schwere 480 Erdölentstehung 344 Fluchtgeschwindigkeit 121
E schwerere 475, 476, 477
vier 33, 35, 38, 43, 60
Erkenntnis 5, 10, 16
Erkennung molekulare 24
Fluide
Newtonsche 311
Eddington, Arthur Stanley 447 Elementsynthese Erz 255, 256 Fluor 142
Edelgas 101, 136, 378, 391 primordiale 494 Ester 352, 353 Flüssigkeiten 164, 165, 309
Edelgaskonfiguration 138, 139 Emergenz 10, 160, 161 Ethanol 351 als Lösungsmittel 326
Effekt Empedokles 32, 33, 37, 446 Etymologie (Materie) 11 ideale 309
relativistischer 136 Emulgator 329, 331, 332, 410 Eukaryote 371, 501, 507 ionische 354
Ehrlich, Robert 455 Emulsion 329 Europa Nah- und Fernordnung 151
Eigen, Manfred 513 Öl-in-Wasser (O/W) 329 (Jupitermond) 462 Newtonsche 177, 311
Eigenschaften O/W/O 330 Eutektikum 169 Nicht-newtonsche 311
kolligative 324 Wasser-in-Öl (W/O) 330 Evolution 16, 18, 26 organische 323
Materie 137 W/O/W 330 biologische 514, 516 Super- 355
(von Elementen) 137, 139 Enceladus chemische 512, 514 überkritische 167
(von Stoffen) 161 (Saturnmond) 462 Exosphäre 366 und Diffusion 404
(von Verbindungen) 137, 144 Energie 93 unpolare 334, 348
Einkristalle 153 Aktivierungs- 170, 171, 384, Wärmekapazität von 199
Einstein, Albert 124, 446 385, 403, 410
chemische 372, 510
F Wärmeleitfähigkeit von 201
Flüssigkristalle 165
Einzeller 17
Eis 321, 322 Coulomb- 420 Fallgesetz 53 Fraktionen
Eisen 118, 143, 164, 254, 256, Dunkle 489, 497 Faraday-Effekt 86 (Rohöl) 346, 347
459 elastische 190 Faraday, Michael 86, 88 Franklin, Benjamin 84
Eisencarbid 119 elektromagnetische 372, 495 Faradayscher Käfig 86 Franklin, Rosalind 515
Eisenmeteorite 465 Gibbs- 409 Farbe 218, 219 Fraunhofer, Josef von 99
Eisen-Schwefel-Welt 514 Gravitations- 475, 477, 479, Farbmittel 218 Fraunhofer, Joseph von 449
Eisenzeit 119 482 Feld Freiheitsgrade 402
Eiweiße 122 Hydratations- 328 Eich- 431 und Chaos 413
Elastizität 178 innere 409 elektrisches 18, 204, 393, 394 und Entropie 406
Elastizitätsmodul 176, 179 Ionisations- 139 elektromagnetisches 90, 431 und Phasenraum 404
Elastomere 160, 189 Ionisierungs- 127, 145, 146, Higgs- 437 und Wärmekapazität 198
Elektrizität 82, 84 388, 471 Inflaton-(sic) 492 Frontalhirn 20, 21
Elektroden 85 kinetische 93, 103, 203, 318, Magnet- 209, 210, 212, 214, Fulleren 106, 117
Elektrolichtbogenverfahren 257 393, 401, 431, 479, 494 425, 481 fünf Sinne 17
(Stahlerzeugung) 256 mechanische 409 magnetisches 19 Funktionelle Gruppen 335
Elektrolyse 78, 85 potenzielle 131, 136, 178, 409, Quanten- 431, 432, 433, 488 Fusionsreaktoren 393
Elektron 418 412 Feldlinien 210

529
ANHANG

Gödel, Kurt 518 Heraklit 31


G Goethe, Johann Wolfgang von 3 Herschel, Friedrich, Wilhelm 96,
J
Gold (Au) 116, 136, 258 454
Jacobs, Gerald H. 22
Galaxie 447, 455, 483, 490, 497 Goldherstellung 59, 60 Hertzsprung-Russel-Diagramm
Janssen, Pierre 449
Galaxis 469, 482 Grand Unified Theories (GUT) (HRD) 469
Galilei, Galileo 51, 53, 54, 64, 439 Hesiod 29
446, 447 Graphen 117 Hess, Victor Franz 451 K
Galmei 120 Graphit 10, 220 Heterosphäre 366
Gas 361 Gravitation 58, 445, 490 Higgs-Boson 437 Kalium (K) 122, 140
ideales 362 Kugelform von Planeten 464 Hochofen 255 Kalksteine 240, 241
Nah- und Fernordnung 151 Quantentheorie der 432, 437 Höhenstrahlung 451 Kältesensoren 23
reales 362 und Dunkle Energie 489 Holz 47 Kaltumformung 185
Treibhaus- 367 und schwarze Löcher 481 Holzkohle 116 Kant, Immanuel 458
und Aggregatzustand 165 Gravitationsgesetz 446 Homosphäre 366 Kaolin 233
und Chaos 400 Gravitationskonstante 446 Homunculus 20 Kaolinit 228
und Diffusion 404 Gravitationskraft 133 Hooke, Robert 506 Kapillareffekt 325, 334
Wärmekapazität von 198 Graviton 132 Hören 26 Kapillaren 325, 355
Wärmeleitfähigkeit von 201 Grundkräfte 445 Hubble Kategorie
Gasdruck 9 Grundqualitäten 55 Teleskop 448 (der Wahrnehmung) 3
Gasentladungslampen 391 Grundzustand 424 Hüllenmoment Kathode 85
Gasgemische Gruppe magnetisches 213 Kepler, Johannes 52, 53, 458
natürliche 363 funktionelle 505 Hundsche Regel 136 Keramik 172, 202
Gasgesetze 362, 363 OH- 219 Huxley, Julian 504 Bau- 230
Gasmolekül 93, 96 (Periodensystem) 137 Huygens,Christiaan 446 Begriff 230
Gaspartikel 74 Gummi 410 Huygenssches Prinzip 81 Dental- 234
Gehirn 5, 19, 26, 518 Gusseisen 118 Hydratation 328 Fein- 230, 234
Geißeln 18 gyromagnetisches Verhältnis 131 zementchemische 246 Feldspat- 234
Gen 22, 515, 516, 517 Hydrate 158 Gebrauchs- 232
Geruch 18 Hydrogenium 120 Glas- 188
Gerüche 24, 25 H Hydronium-Ion (H3O+) 328 Hochleistungs- 233
Nichtoxid- 235
Geruchsmoleküle 25 hylê 11, 37
Geruchsrezeptoren 25 Habitus Hylomorphismus 11 Oxid- 234
Geruchssinn 24 (von Kristallen) 154 Hylozoismus 11, 31 Ton- 229, 230
Gesamtdrehimpuls 133 Hadron 430, 435 Hyperfeinstruktur (Wasserstoffa- Kernkraft 417, 420
Geschmack 18, 25 Haitham, Ibn Al 81 tom) 128 schwache 210
Geschmacksrezeptoren 24 Halbkugeln, Magdeburger 52 starke 210, 417
Geschmackssinn 25 Halbleiter 204 Kernladung 99
Gesetz n-dotierte 206 I Kernspin 424, 425
Kernteilchen 419, 426
Daltonsches 74, 317 p-dotierte 206
der Bewegung 58 und Sperrschichten 206 Ibn al-Haitham 446 als baryonische Materie 454
(der großen Zahlen) 9 Halbmetall 119 Impfkristalle 172 dichteste Packung 479
(der multiplen Proportionen) Halogene 79, 142, 361 Impuls 126 Magnetfelder von 212
73, 76 Hamiltonoperator 126, 128 Impulsoperator 127 Kerogen 344, 380
Kirchhoffsches 78 Hämoglobin 372, 374 Inflation 492, 493 Kieselsäure 237, 241
Gesichtssinn 19 Hantaro, Nagaoka 123 (Universum) 439, 488 Kirchhoff, Gustav, Robert 78, 96,
Gestank 368, 370 Harnstoff 122 Information 124, 449
Gesteine 121, 140, 235, 239, Härte 187, 257 visuelle 21 Klang 26
314, 356, 460, 464 Brinell- (HBW) 187 Informationsfluß 20 Klassifikation (nach Ordnung)
Begriff 226 Buchholz- 187 Informationsverdichtung 21 152
magmatische 244 Carbonat- 340 Infrarotsinn 18 Klebrigkeit 24, 219
Gesteinskreislauf 236 Gesamt- 340 Infrarotstrahlung 96, 200 Klinker 232
Gewicht 37, 57 Mohs- 188, 243 Inkohlung 241 Knochenkohle 116
Gewichtsteil 73 Rockwell- 187 Innenohr 26 Kohle 241
Geworfenheit (Heidegger) 3 Rosiwal Schleif- 188 Interferometrie 448 Aktiv- 116
Gitterfehler 182 Shore- 187 Invarianz 434 Humus- 243
Glas 216, 333 Vickers- 187 Io Sapropel- 243
Glasfaser 284 Häufigkeitsverteilung 399 (Jupitermond) 462 Kohlendioxid 69, 168, 327, 359,
Glasphase Hauptgruppen Iod (I) 142 511
amorphe 231, 234 (von Elementen) 139 Ion 102, 144, 204, 328 als Treibhausgas 367
Glasübergangstemperatur 188 Hauptquantenzahl 127, 130 Ionengitter 144 im Stoffwechsel 503
Gleichheit 134 Hauptsätze der Thermodynamik Ionenradius 139 Kohlenhydrate 508
Gleitbänder 192 93 Ionisierung 387, 391 Kohlenmonoxid 459
Gleitebene 182 Heidegger, Martin 3 Ionosphäre 367, 389 Kohlensäure 327
Gleitsystem 182 Heisenberg, Werner 105, 126 Irdengut 232 Kohlenstoffatom 77, 163, 333
Glucose 508 Heliumbrennen 475, 476 Isolatoren 361 Kohlenstoff (C) 116, 473
Gluonen 422, 427, 431 Helium (He) 168, 355, 378, 388, elektrische 216 Bindungsfähigkeit 78, 159
Glutamat 26 469, 472, 511 Isomerie 77 Darstellung in Formeln 218
Glycerin 336, 352 Helligkeit Isopren 189 Element des Lebens 122, 505,
Gnothi seauton (von Sternen) 468 Isotope 76, 102, 353, 373, 376, 519
(Selbsterkenntnis) 22 Helmholtz, Hermann von 94 378, 419, 470 Elementsynthese von 476

530
Erde, Wasser, Luft und Feuer

wässrige 328, 410 normale 121, 426, 427, 429,


in Meteoriten 465
in weißen Zwergen 478
L Lösungsenthalpie 327 489, 520
Kohlenwasserstoffe 345, 348, Lösungsmittel 308, 315, 326, räumliche Verteilung 445
380 Ladung 328, 349, 351, 354 umgewandelte 11
Kometen 51, 464, 466, 467 elektrische 89, 418, 419, 445 Luft 69, 93, 359 und Form 37
kommutierende Eigenschaften Lamb-Verschiebung 133 als Element 33, 37 Materiewelle
127 Lanthanoide 143 als Oktaeder 36 de Brogliesche 104, 128
Komplexität 5, 411 Laplace, Pierre-Simon 458 Düngemittelherstellung aus Elektronen- 126
Komplexitätstheorie 411 Larmorfrequenz 425 122 Materiewolken
Kondensation 317, 363 Lauge 140 Edelgase in der 378 interstellare 453
Konvektion 200, 201, 411, 412 Lava 356 Wasserdampf in der 319 Maturana, Humberto 501
Konvektionszelle 411, 412 Lavoisier, Antoine, Laurent de 72, Luftdruck 360 Maxwell, James Clerk 86, 95
Konzentration 168 116, 120, 122, 123, 372 Mayer, Julius Robert von 87,
Koordinationszahl 157, 158 Lebenselemente 122, 505 93, 94
Kopernikus, Nikolaus 458 Lebensmoleküle 122, 508 M Mazerale 243
Kopffüßer 6 Lebewesen Mechanorezeptoren 23
Kopplungen 133 autotrophe 503 Mach, Ernst 98 Meissner-Körperchen 24
Körnigkeit 182 Definition von 503 Magma 356 Membran
Korona 388 extraterrestrische 519 Magmatite 226 Bio- 503, 505
Körper, platonische 35 früheste 511 Magnesium 140, 459 Zell- 506, 507, 511
Korpuskulartheorie 66, 67 heterotrophen 503 Magnetare 481 Mendelejew, Dimitri Iwanowitsch
(des Lichts) 81 Leerstellen 54, 182, 192 Magnete 79, 80
Korrespondenzprinzip 128 Legierung Dauer- 215 Mengenverhältnisse
Kosmogonien 29 Begriff 253 Elementar- 210, 212, 214 von Verbindungen 64
Kosmos 28, 55, 444, 445 Eisen-Kohlenstoff 256 organometallische 215 Mensch 3, 445
als beseelter Organismus 38 Legierungen 118, 119, 139, 253 Magnetisches Moment 212 Merkel-Zellen 23
äußere Schale des 36 Fünf-Komponenten- 258 Magnetismus 82, 209 Mesomerie 218
cartesianischer 55 Lehm 239 Antiferro- 215 Meson 422, 494
im Hermetismus 40 Lehre Dia- 213 Mesosphäre 365
Ort der Elemente im Kosmos (minima-naturalia) 44, 45, 65 Elektro- 210 Messing 115, 120
35 Leitfähigkeit Ferri- 214 Metall
und Alchemie 60 Ionen- 204 Ferro- 212, 213, 215 (chinesisches Element) 47
und Logos 39 von Halbleitern 205 Para- 213 duktiles 183
unendlicher 51 Wärme- 200, 201 und Atome 212 Fieldsches 119
Kraft 53, 58, 67, 68 Wärme- (von Kristallen) 201 Magnetit 209, 210 Gebrauchs- 253, 353
elektromagnetische 417, 445, Lepton 418, 427, 431, 494 Magnetkompass 82 gediegenes 255
494, 497 Leuchten 89 magnetogyrisches Verhältnis 131 Roses 119
Gravitations- 445, 464 Leuchtstofflampen 391, 392 Magnetpole 210 Woodsches 119
schwache 445, 475, 493 Leukipp 123 Magnetquantenzahl 130 Metalle 138, 153, 251
starke 123, 420, 445, 475, Licht Magnus, Albertus 119 amorphe 152
477, 492 als Sinnenreiz 18 Martensit 172, 185 Ferminiveau 205
Kraftfeld 88 als Teilchen 81, 106 Masse 37, 90 Gleitebenen in 182
Kraftstoffe 347 infrarotes 216 Begriff, Etymologie 11 Leitfähigkeit von 203
Kriechen Moderne Lichtquellen 392 kompakte 68 Supraleitfähigkeit von 208
Korngrenzen- 192 sichtbares 216 relativistische 133 typischste 139
Versetzungs- 192 Transparenz und Absorption schwere 53 und Phlogiston 69
Kriechen (Werkstoffe) 178, 192 215 träge 53 und Planeten 60
Kristall 153, 157, 159, 180, 323 von Himmelskörpern 445 Masseeinheit Wärmeleitfähigkeit von 202
(aus Viren) 158 Lichtabsorption 125 atomare 163 Metallerze 253
Begriff 153 Lichtäther 87 Massendefekt Metall (Kristallgitter) 183
Ionen- 154, 158, 216 Lichtbogen 390 (von Atomen) 163 Metall (Kugelpackung) 183
Molekül- 154 Lichtgeschwindigkeit 446, 447 Material (Begriff, Etymologie) 11 Metalloxide 73
Quasi- 157 Lichtkegel 447 Materialermüdung 191 Metallurgie
Kristallgitter 157, 158, 208, 322 Lichtquelle 20 Materialien Elektro- 253
hexagonales 322, 355 Lichtsinnesorgane 18 hartmagnetische 212 Hydro- 253
kubisch-flächenzentriertes 157, Lichtsinneszellen 17 opake 216 Pulver- 253
183 Lichtwellen 23 materia prima 36 Pyro- 253
kubisch-raumzentriert 183 Liebig, Justus von 76, 77 in der Alchemie 60, 62 Recycling- 253
Kristallbildung 153, 181 Linienspektrum 125 Materie Metamorphite 226, 244
Kristallisation 155, 236, 244 Linsenfernrohr 447, 448 atomarer Aufbau 123 Meteore 453
Kristallisationskeim 171, 172, Linsenteleskop 448 baryonische 454, 489, 490, Meteorit 452, 466
175 Lipiddoppelschicht 507 495 Stein- 465
Kristallkeim 154 Lipide 508, 513 (Begriff, Etymologie) 11, 28 Meteoriteneisen 118
Kristallsysteme 154, 155 Liposome 333 Dunkle 454, 484, 489, 490, Methan 25, 379, 380
Kritische-Punkt-Trocknung 173 Lithium (Li) 480 493, 494, 497, 520 Methanhydrat 379, 380
Kugelpackung Lithosphärenplatten 225 Erste 37, 43 Methanol 351
hexagonal dichteste 183 Lockyer, Joseph Norman 449 fermionische 132, 454 Meyen, Franz 507
Kuiper-Gürtel 466 Loop-Quantengravitation 438, im Hermetismus 41 Meyer, Lothar 80
Kupfer (Cu) 115, 137 439 im Neuplatonismus 40 Milankovitch-Zyklen 455
Lösungen 237, 326, 327 im Stoizismus 38 Milch 329, 330

531
ANHANG

Nebenquantenzahl 130 in Leuchtstofflampen 392


Milchstraße 469, 482
Miller, Stanley 512 Neonröhren 391
P zur Wunddesinfektion 392
Miller-Urey-Experiment 512 Nervensignale 20 Plastik 189
Minerale 226, 242 Netzhaut 20 Paarverteilungsfunktion 151 Platon 34
Mineralklassen 227 Netzwerke, neuronale 21 Palmieri, Luigi 449 Polarlicht 166, 389
Mineralkristalle 153 Neugierde 19 Paracelsus 63, 119, 120, 349 Polyethylen 159
Mira 450, 451 Neutrino 427, 428, 457, 479, 493 Parkettierungen 157 Polymere 159, 160, 188, 356
Mischkristallhärtung 185 -Observatorien 452 Partikel 66, 68 Flüssigkristall- 189
Mischungen 44, 74, 167, 168 Neutron 132, 419, 471, 472, Partikelmodelle 66 Polytetraflourethylen 159
Mitochondrien 372, 385 477, 480 Pauli-Prinzip 131, 132 Porzellan 233
Modell Neutronenstern 421, 453, 480, im Kern 422 Positron 203, 429, 430, 472,
abstrakter Begriff 6, 8 481, 494 und Orbitale 135 473, 494
des Sonnensystems 8 Neutrosphäre 366 Pauli, Wolfgang 101, 132, 472 Potenzial (Begriff) 131
des Wasserstoffatoms 101 Newton, Isaac 81, 91, 470 Periode Potenzialkurve 131
Drahtgitter- 218 Nichtleiter 233 (PSE) 137 Potenzialtopf 129
Kalotten- 216 Nichtlinearität 411 Periodensystem der Elemente Priestley, John 122
Kugelstab- 216 (von Systemen) 398 (PSE) 79, 80, 132, 137, Prokaryote 18, 507
Stab- 216, 218 Nichtmetalle 138 143 Proteine 122, 508, 513
Modelle Nickel-Eisen-Kern 460, 462 Perle 243, 244 Entwicklungs- 516, 517
deterministische 9 Niederschläge 321 -Natur 243 Proton 121, 132, 419
diskrete 9 Novae 478 Zucht- 243 im Strahlungsgürtel 389
großer und kleiner Dimensio- Super- 478 Perlmutt 243, 244 in der Elementsynthese 476
nen 9 Typ-Ia-Super- 479 Phase Namensgebung 470
kontinuierliche 9 Typ II-Super- 479 äußere 329, 330, 331 Umwandlung 473
mentale 17 Nukleobasen 509, 512, 513 Begriff 166 und Neutronen (Symmetrie)
statistische 9 Nukleonen 144, 420, 422, 426, innere 329, 330, 331 439
Typen von 7 475, 480, 497 metastabile 170, 172, 185, 186 Proton-Proton-Reaktion (P-P-
Modellrechnungen 454 Nukleosynthese 469, 472, 476, Phasendiagramm 168 Reaktion 473
Modifikation 116, 120, 158, 242, 477 Eis 323 Prozess
322 Nukleotid 509 Phasengeschwindigkeit 128 thermisch aktivierter 192
Allotropie 158 Nuklide 476 Phasenraum 103, 404, 413 Ptolemäus, Claudius 468
Polymorphie 158 Phasensysteme 331 Pulsar 480
Mol 163 Phasenübergänge 166, 167, 168 Punktdefekte 181, 205
Molalität 324 O Pheromone 370, 371 Puzzolane 247
Molekül 124, 144, 150, 159, Primer- 371
217, 220, 326, 361 Oberflächenrauhigkeit 24 Releaser- 371
Bio- 373, 374, 510 Objekt 20 Phlogiston 68, 72 Q
Protein- 25, 508 Oktettregel 102 und Äther 70 Qi 47
Wasser- 219, 314, 315, 316, Öl 334, 336 Phonon 199, 202, 432 Quantelung 129, 134
322, 410, 412 ätherisches 334, 341, 342, 370 akustisches 199 Quanten 104, 431
Wasserstoff- 121 Erd- 343 optisches 199 Volumen- 438, 439
Molekularbewegung Brownsche 98 fettes 334, 335 Phosphor (P) 120, 122, 505, 507 Quantenfeldtheorien 89, 431
Molekülmasse 121 Mineral- 220, 334, 343 weißer 385 Quantenfluktuationen 127, 487,
Molekülschwingungen 18 Pflanzen- 335, 337 photoelektrischer Effekt 124 488, 492, 498
Moment Roh- 343, 344, 346 Photon 104, 124 Quantentheorie 125, 403
magnetisches 213, 214 Silicon- 220 Meißner-Ochsenfeld-Effekt 438 Bohmsche Form der 111
Mond 464, 511 Speise- 335, 337 nach dem Urknall 494 Entwicklung der 97, 103
Monocarbonsäuren 336 synthetisches 335 Selbstauslöschung 106 Vollständigkeit der 107
Monomere 159 Oortsche Wolke 466 und Quantenfelder 432 Quantenzahlen 127, 130, 133
Mörtel 246, 247, 251 Oparin, Alexander Iwanowitsch Photosphäre 388 quantitas materiae 57
Luft- 246 512 Phototaxis 18 Quarks 123, 426, 430, 494
Putz- 246 Operatoren (Quantenmechanik) Piezoelektrizität 384, 385 Quarz 230, 239
Wasser- 246 105, 126, 128 Pion 422, 430 Quasar 496, 497
Moussierpunkt 172 Optische Interferometrie. Sie- Planck-Länge 419, 438, 492 Quecksilber (Hg) 60, 118, 136,
Müller, Erwin W. 23 he Interferometrie Planck, Max 97, 124 208, 353, 354
Multiplizität 214 Orbitale 135, 148 Planck-Zeit 492 Quecksilbersulfid 118
Münzen 253 Orbitalmodell 135, 148 Planet 458, 464
Mutation 516 Kernladungszahl 137 extrasolarer 519
Myon 428, 430 Ordnungszahl 79, 99, 137, 143
Organellen 18
Gas- 454, 458, 460, 461, 511
Gesteins- 454, 458, 459, 460,
R
Oswald-Miers-Bereich 171 464 Radikale 76, 121, 374, 375, 387,
N Oszillator
harmonischer 179
und Metall 60
Planetoide 466
392
radioaktiv 102
Nahordnung 151, 152 Oxidation 116, 140, 251, 373 Plasmakristalle 394 Radioaktivität 470
Nanoröhrchen 117, 119 historische Definition 116 Plasmen/Plasma 166, 382, 387 Radioteleskop 450
Nässe (Wasser) 313 Oxidationsmittel 385 der Sonne 388, 456 Raffination 254
Natriumacetat 172 Oxide 79 in Bogenlampen 390 Raichle, Marcus E. 21
Natrium (Na) 122, 139, 150 Ozon 122, 365, 374 in der Milchstrasse 482 Rauch 367
Natronlauge Ozonloch 375 in Fusionskraftwerken 393 Raum 438
(NaOH) 140 Ozonschicht 374 in Lautsprechern 393 euklidischer 104

532
Erde, Wasser, Luft und Feuer

Raumzeit 438, 439, 440, 487, Schallgeschwindigkeit 195 von Einzellern 17 Stickstoff (N) 122, 376
488 Schallimpedanz 195 von Menschen 17, 18 als Element des Lebens 505
Rayleigh (Lord) 78, 97 Schallintensität 195 von Pflanzen 17 in der Uratmosphäre 511
Reaktionspartner 75, 102 Schechtmann, Daniel 157 Sinne menschliche 18 Stoff (Begriff, Etymologie) 12
Realgar 119 Scheibe Sinnesmodalitäten 23 Stoffe 37, 115
Redox-Reaktionen 140, 373, 510 protoplanetare 459 Sintern 230 Stoffgemische 326
Reduktion 140 Scherben 230, 232, 234 Softwareagenten 9 Stoffkonzentration 18
und Metallgewinnung 116, Scherbenkobalt 119 Solarkonstante 455 Stoffwechsel 503, 508, 513, 514
254 Schichtung Solarzellen 280 Störungen 8
Reduktionsmittel 116, 378 (der Atmosphäre) 364 Somatosensorischer Cortex 24 Strahlenoptik 20
Refraktor 447 (von Tonmineralen) 229 Sonne 387, 455 Strahlung
Reibung Schleiden, Matthias Jacob 506 als Hauptreihenstern 471 elektromagnetische 80, 81,
Gleit- 220 Schlüssel-Schloss-Prinzip 25 Energiequelle der 457, 470 387, 454, 487
Haft- 220 Schmecken 24 Masse der 456 Gamma- 451, 452, 481
Relativitätstheorie 26 Schmelze (Gestein) 236, 244, und Metall (Alchemie) 60 Hintergrund- 451, 485, 487
Rennofen 255 356 Sonnenenergie 470 Infrarot- 368
Repräsentation, interne 21 Schmelzen (Prozess) 92 Sonneneruptionen 388 ionisierende 365, 387, 496
Resonanz Schmiermittel 220 Sonnensystem 454, 458, 466 kosmische 451, 480
kernmagnetische 424 Schneeflocke 49, 322, 405 Relativbewegung des 489 Mikrowellen- 487
Retina 20 Schockwellen 451 Sonnenwind 388, 389, 451, 457, Röntgen- 387, 389, 455
Rezeptoren 17, 23 Schöpfungsmythen 29 463 Schwarzkörper- 96, 487
Riechchips 25 Schreibkreide 241 Spallation 480 solare Teilchen- 388
Riechen 24 Schrödinger, Erwin 126, 128, 472 Spannung UV- 365, 372, 375
Riechepithel 24 Schrödinger-Gleichung 126, 128, Bruch- 190 Strahlungsdichte 96
Riechstoffe 368, 369 134 Druck- 176, 186 Strahlungsgürtel 389
RNA (ribonucleic acid) 509, 512, Schrödingers Katze 109 Oberflächen- 310, 311, 323, Stratosphäre 365, 375
513 Schubmodul 176, 177 325, 331, 339, 353 Streichhölzer 384
Roheisen 255, 256 Schwann, Theodor 506 Scher- 176, 311 Streuung 433
Rohrer, Heinrich 23 Schwarzer Körper 124 Schub- 176, 311, 312 Strings 441, 442
Rohstoffe 231, 233, 339 Schwarzes Loch 451, 481, 482, Zug- 176, 236 Stringtheorie 438, 441
chemische 343, 352 497 Spannungsrisskorrosion 193 Strom
Rømer, Ole, Christensen 446 Entropie des 408, 439 Speiseeis 323 elektrischer 203, 204
Röntgenlicht 451 in der Milchstrasse 483 Spektralbereich Stromatolithen 243
Röntgenstrahlung 130 und Jets 452 ultravioletter 219 Struktur
Rost 191 Schwefeldioxid 117, 511 Spektralklassen kristalline 153
Rösten Schwefel (S) 60, 117, 462 (Sterne) 468 räumliche 77
(von Erzen) 120, 254 als Element des Lebens 122, Spektrallinien 124, 131, 133 Strukturformel 77, 217, 218
Rote Riesensterne 471, 477, 479 505 Spektroskopie 449 vereinfachte 217, 218
Rotverschiebung 484, 487, 489, auf der Urerde 511 Spektrum Styropor 159
496 Schwefelverbindungen 25 des atomaren Wasserstoffs Substanz (Begriff, Etymologie) 11
r-Prozess 480 Schweiß 318, 336 124, 125 Substitutionstheorie 77
Ruffini-Körperchen 23 Schwerkraft. Siehe Gravitation Sperrschicht 206 Summenformel 217, 218, 314
Ruhestandardnetz 22 Schwerkraftsinn 17 Spiegelteleskop 447, 448 Superflüssigkeiten 356
Ruß 116 Schwingung 193, 194 Spin 130, 133, 208, 214, 424 Superisolation 209
Rutherford, Ernest 99, 103, 123 Schwingungsfrequenz 97 des Elektrons 131 Supersymmetrische Theorien
Rydberg-Konstante 125 Sedimentite 226, 237, 238 Spin-Bahn-Kopplung 133, 134 (SUSYs) 439, 440
biogene 241 Spinkorrelationsfunktion 173 Supraleiter 207, 353
klastische 239 Spinquantenzahl 132, 214 Hochtemperatur 208
S Sehbahn 20 Splitt 244 Supraleitung 208
Sehen 17, 19, 21 s-Prozess 477 Suspension 330, 340
Salze 72, 73, 328, 386, 462 Sehnerv 20 Stahl 256 süß 25
flüssige 354 Sehpigmente 22 (Eigenschaften) 257 Süßrezeptoren 25
salzig 25 Sehzellen 20 Veränderungsverfahren 185, Symmetrie 434
Sandsteine 239, 240 Sehzentrum, primäres 20 257 -brechung 437
Sättigungsdampfdruck 317, 324 Seifen 220, 331, 338, 339, 340 Standardkerzen 479 des Standardmodells und SUSY
Sauerstoffblasverfahren 256 Seifenblasen 332 Standardmodell 439
Sauerstoff (O) 122, 371, 478 Seitenlinienorgan 18 (der Kosmologie) 121 Dreh- 436, 437
als Lebenselement 505 Selbstorganisation 412 (der Teilchenphysik) 427, 432, Isospin- 435
dreiatomiger (Ozon) 122 Selektion (Evolution) 18, 515 434, 436 lokale 436
Entdeckung von 70 Sgraffito 247 Staubringe 459 und Extradimensionen 441
kosmische Häufigkeit 459 Sicherheitsgläser 186 Stein 235 Syndet 340, 341
und extraterrestrisches Leben Siedeverzug 172 Stein der Weisen 62, 116 synthetisch
519 Silber (Ag) 117 Steingut 232 Begriff 222
und Verbrennung 385 Silbersulfid 117 Steinzeug 232
Säule Voltasche 86 Siliciumdioxid 237 Stern 121, 471, 474
Säure 72 Silicium (Si) 277, 459, 520 Sterne T
Schalenbau (Erde) 224 Silikatkern 463 schwere 479
Schalenbrennen 477 Sinne Sternenstaub 454 Taiji 47
Schall 18, 194, 195 fünf 17 Stickoxide 367, 376 Tastrezeptoren 17
Schalldämmung 195 künstliche 16 Stickstoffdünger 122 Tauon 428

533
ANHANG

Teer 243 Plasma im 166 Wärmekapazität am Doppelspalt 106


Teilbarkeit (Stoff, Materie) 34 unendliches 51 molare 198 Kollaps der 107
Teilchen Unschärferelation (Heisenberg) spezifische 198, 199, 201, 316 Wellentheorie
bei Boyle 65 105, 126, 129 Wärmeleitfähigkeit 9, 200 (des Lichts) 81, 87
bei Descartes 55 Unterscheidbarkeit (von Teilchen) Wärmesensoren 23 Welle-Teilchen-Dualismus 104,
bei Newton 66 132 Wärmestrahlung 96, 200 106, 124
hierarchische Anordnung von Urey, Harold Clayton 512 Wasser 72, 168, 315 bei Phononen 201
68 Urknall 447, 484, 487, 490 als Element 33, 47 Weltraumteleskop 448
Quanten- 106 und Elemente des Lebens 505 Wasseranomalien 316 Weltraumwetter 457
virtuelle 432, 433, 498 und Loop-Quantengravitation Wasserdampf 316, 319, 363, Werkstoff 244
Teilchenstrahlung 445 439 365, 367, 385, 412, 511 künstlicher 164
Temperatur 90, 94 Urstoff 31 Wassereis 462, 463 Widerstand
Temperatursinn 18 Wasserfilm 323 elektrischer 208
Temperatursinneszellen 23 Wasserhärte 340 Widmanstättenschen Strukturen
Tenside 329, 331 V Wassermolekül 314 465
amphotere 333 Wasserstoff 75, 120, 139, 377, Wien, Wilhelm 96
anionische 332 Vakuum 52, 498 419, 472 Wirbel, elektrische 83
kationische 332 Vakuumlichtgeschwindigkeit 447 als Element des Lebens 122, Wirklichkeit 10
nichtionische 332 Valenz 77, 101 505 Wirkung 124
Terpene 342, 376 Valenzelektronen 202, 204 in der Uratmosphäre 511 Wirkungsquantum, Plancksches
Tetraeder 228 Varela, Francisco 502 in Strukturformeln 218 124, 127, 492
Thales von Milet 31 Vater-Paccini-Körperchen 24 metallischer 461 Wochentage 458
Theorie 7 Verbindungen 76, 144 und Elementsynthese 469, 475 Wolken 319
Thermolumineszenz 172 anorganische 226 und extraterrestrisches Leben Wuxing 47
Thermoplaste 160, 189 bei Aristoteles 44 519
Thermorezeptoren 23 bei Lewis 102 und Platin 385
Thermosphäre 365 chemische 378 Wasserstoffatom 121, 128, 470,
Y
Tholine 463, 511 organische 77, 102 487, 495 Yin und Yang 46
Thomson, Joseph John 123 ternäre 72 Wasserstoffbrennen 474, 475, Yukawa-Potenzial 422
Titan und minima naturalia 45 476
(Saturnmond) 463, 512, 519 Verdampfen 92, 318 Wasserstoffbrücken 219, 322
Tongut 230 Verdampfungswärme 175, 318 -bindung 149 Z
Tonheit 195 Verdrängungsreaktion 68 in Clathraten 379
Tonhöhe 26 Verdunstung 317, 318, 319, 325, in Nukleinsäuren 509 Zeeman-Effekt 130
Tonminerale 228, 229, 237 363 Wasserstoffgas 248 Zeit 447
Tononi, Giulio 519 Vererbung 516 Watson, James 515 Zelle 18
Tonsteine 239, 240, 330 Verschaltung neuronale 22 Weakon 132 Zement
Tonzeug 232 Verseifung 339 Wechselwirkung (Baumaterial) 245
Tracht Versetzung 181, 188, 191 elektromagnetische 132, 419, (Petrographie) 238
(von Kristallen) 155 Schrauben- 181, 192 436 Portland- 245, 246
Trägheitsgesetz 58 Stufen- 181, 192 intermolekulare 504 Zementklinker 245
Transmutation 61, 79, 116 Verstehen 9 schwache 132, 419, 429, 436, Ziegel 232
Transparenz 215 Verwitterung 236 437, 493 Ziegelstein 231
Transurane 417 biologische 237 starke 132, 419 Zink (Zn) 115, 120
tria prima 63 chemische 237 Wechselwirkungen 132, 145, Zinnober 118, 353
Trichromat 22 hydrolytische 237 427, 432 Zinnpest 172
Tripelpunkt 167, 316 Lösungs- 237 bei realen Gasen 362 Zinn (Sn) 115, 118, 172
Trocknungsränder 334 physikalische 236 Dipol- 149 Zucker 219
Tröpfchenmodell 420 Vibration 18 elektrische 199 Zustand
Troposphäre 319, 320, 365 Vielzeller 18 elektromagnetische 144 angeregter 424
Tunneleffekt 129, 207 Virchow, Rudolf 507 im chinesischen Denken 46 (Phasenraum) 406
Turing, Alan 518 Viskosität 177, 311 im Plasma 387 Plasma- 387, 388, 471
bei Superflüssigkeiten 355 Van-der-Waals- 150, 329 Singulett- 214, 373
und Konvektionsströmung 412 Weglänge Triplett- 214, 373
von Magma 356 Zustandsgrößen 161
U Vulkanisierung 189
freie 365, 400
mittlere, freie 93
Übergangselemente 213 Weißer Zwergstern 478, 479
Ultraviolett 450 W Weißsche Bezirke 214
Wellen
-katastrophe 96
umami 26 Wachse 333 Begriff 194
Unaufmerksamkeitsblindheit 21 Wächtershäuser, Günter 514 elektromagnetische 89, 124,
Unitaritätsmethode 442 Wahrnehmung 17, 20, 26 193, 215
Universum 445 bei Parmenides 32 Erdbeben- 196
bei Descartes 55 taktile 24 Körper- 196
bei Newton 56 Wahrscheinlichkeit 127, 398 Longitudinal- 194, 196
Gleichförmigkeit des 487 Wandlungsphasen 47 Schall- 193, 195
Größe des 486 Wärme 91 seismische 196
häufigste Elemente im 459 (kinetische Theorie der) 92 Transversal- 194, 196
im chinesischen Denken 46 latente 92 Wasser- 193
Materie im 454 Wärmeausdehnung 179 Wellenfunktion 104, 126, 128

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