Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Liebmann
Materie
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Materie
Norbert Welsch · Jürgen Schwab · Claus Chr. Liebmann
Materie
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Adressen der Autoren:
Jürgen Schwab
Schellingstr. 47
72072 Tübingen
e-Mail: juergenm.schwab@matter-matters.de
homepage: www.matter-matters.de
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte biblio-
grafische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Springer Spektrum
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Ur-
heberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfälti-
gungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen
Systemen.
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch
ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Marken-
schutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.
Springer Spektrum ist eine Marke von Springer DE. Springer DE ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer
Science+Business Media.
www.springer-spektrum.de
Für meine Tochter
Laura-Marie
Norbert Welsch
Norbert Welsch
Jürgen Schwab
Claus Chr. Liebmann
VI
Vorwort
Die Idee zu diesem Buch wurde bald nach Fertigstellung eines Werkes über „Farben“ geboren. Sie
hat ihre Wurzeln in einen fast kindlich zu nennenden Interesse an der Welt um uns herum, in der
unmittelbaren Faszination des Erfahr- und Erforschbaren. Dieses Ausgehen von der direkt mit
unseren Sinnen erfahrbaren Alltagswelt halten wir trotz aller Theorielastigkeit der modernen Na-
turwissenschaften für den einzig gangbaren Weg zu einem tieferen Weltverständnis.
So soll auf der einen Seite durch einen breiten interdisziplinären Ansatz auch nicht versucht
werden, den zahlreichen ausgezeichneten Lehrbüchern der Chemie, Physik und Biologie „einfach“
noch ein neues, in erster Linie für Fachleute lesenswertes Werk hinzuzufügen.
Andererseits aber wollten wir auch vermeiden, auf einem oberflächlichen Niveau stehen zu
bleiben, das nur eine rein beschreibende Sicht der Dinge liefern könnte, und oft genug nicht geeig-
net wäre, tiefere Zusammenhänge aufzudecken.
Diese Gratwanderung war zweien von uns (Norbert Welsch und Claus Chr. Liebmann), laut
den meisten Kritikern, beim „Farben“-Buch (2004, 3. Aufl. 2012) weitgehend gelungen.
Wir werden also auch in diesem Buch die Unmittelbarkeit des Erlebens unserer Umwelt zum
Ausgangspunkt für eine Reise nehmen, die zuweilen auch in die Tiefe geht.
„Nur dadurch, dass ich Wasser anfasse, kann ich lernen, was es heißt, dass Wasser nass ist. Zugleich
höre ich es glucksen oder tropfen, sehe ich Wellen und Reflexe, rieche vielleicht das Meer oder das Gras
am Seeufer und erhalte so einen Gesamteindruck ...“(Manfred Spitzer)
Diesen Ansatz als Auseinandersetzung mit den verschiedenen Aspekten der Materialität der
Welt, der sich bei Spitzer auf das kindliche Lernen bezieht, auf den Aufbau adäquater Repräsenta-
tionen der Außenwelt im Gehirn, möchten wir als Anknüpfungspunkt für ein vernetztes Verständ-
nis materieller Erscheinungsformen und Vorgänge wählen.
Wir werden dabei nicht davor zurückschrecken, den Leser über Klippen von Theorie und For-
meln zu führen, wo dies für das Verständnis unabdingbar ist. Als Reisebegleiter und kompetenten
Führer durch solch unebenes Gelände habe ich (Norbert Welsch) meinen langjährigen Freund
Jürgen Schwab gewinnen können, der sich als weiterer Co-Autor vornehmlich den Formulierungen
der philosophischen und der etwas tiefer gehenden materialwissenschaftlichen, physikalischen und
mathematischen Teile widmete.
Aber keine Angst – am Wegesrand wartet mit interessanten Bildern stets eine bequeme Lodge
mit Gelegenheit zur Erholung und imposanten Ausblicken auf das erkundete Gebiet.
Wir werden bei unserer Wanderung eine große Zahl verschiedener Fachgebiete durchschreiten
oder auch nur streifen, was immer die Gefahr birgt, dass die dort herrschenden Kapazitäten gerade
ihr Gebiet als besonders grob zertrampelt empfinden und über die Eindringlinge herfallen. Wenn
man aber ein Buch über die gesamte materielle Welt schreibt, wird es schon aus Platzgründen an
manchen Stellen notwendig sein, Vereinfachungen und Verkürzungen vorzunehmen, die mancher
Experte vielleicht als zu weitgehend betrachten könnte. Hierfür möchten wir an dieser Stelle um
Verständnis bitten. Unseren Lesern wünschen wir, dass sie nach der hoffentlich anregenden Lektüre
mit ihren eigenen Gedanken ein wenig tiefer „in die Dinge der Welt“ eingedrungen sind, zumindest
so weit dies der heutige Stand der Wissenschaft erlaubt. Denn jenes nach bestem Vermögen erfol-
gende verstandesmäßige Durchdringen einiger Aspekte der Welt um uns ist es wohl, was unter nur
wenig anderem unser Menschsein definiert. Es ist das „sapiens“ (lat. einsichtsfähig, weise) in un-
serer so unbescheiden gewählten Artbezeichnung homo sapiens.
VII
Luft, Wasser, Erde, Feuer, Du...
Schöntal, 23.09.2005
Fünf Elemente
VIII
INHALT
Inhalt
1 Mensch und Materie
Woraus ist die Welt gemacht?
Kindliche Fragen... 3
Auf der Suche nach der Welt 3
Das Gewebe der Natur 5
Modelle 6
Etymologie 11
Was Sie in diesem Buch erwartet... 12
2 Wahrnehmung
Sehen und Co. – Die fünf Sinne
3 Historischer Überblick
Vom Mythos zum Logos – Die Antike
Wuxing
Fünf Elemente im chinesischen Denken 45
Vom Wandel in der Welt 46
IX
INHALT
Der Äther
Mysteriöses Medium des Lichts 87
Äther und Materie 89
4 Demokrits Erben
Das Geheimnis der Stoffe
Elemente im Periodensystem
Ein Schema erklärt die Materie 137
X
INHALT
Metallische Werkstoffe
Neue Zeiten brechen an 251
Vom Eisen zum Stahl 254
Eisen, Cobalt, Nickel – das magnetische Dreigespann 259
Amorphes Metall – ein Material zwischen zwei Welten 263
Edelmetalle 263
Leichtmetalle – Aluminium und Titan 270
Verrufenes Schwermetall – Blei 271
Buntes Allerlei – Chrom 272
Ein Schwergewicht – Uran 273
Starke Luftikusse – Metallschäume 275
Hartes zerschneiden – kein Problem 275
Grenzgänger: Halbmetalle 277
Anorganische Werkstoffe
Gläser – Nicht immer zerbrechlich 281
Glasfasern 284
Glaskeramik – Herdplatten und Teleskopspiegel 286
XI
INHALT
Organische Materialien
Von Hölzern, Fasern und Beuteln 287
Papier – Ein unentbehrliches Kommunikationsmittel 289
Aus dem Leben der Beuteltiere 291
Kunstfaser – Die neue Wolle 296
Ausgewählte Kunststoffe 297
Von Gummiadlern und -bären 302
Selbstheilende Werkstoffe 306
6 Wasser
Flüssigkeiten
Eine Materieform ohne Form 309
Rheologie – Alles fließt 311
Wasser
Das nasse Element 313
Die Erde, ein Wasserplanet 313
Das Wassermolekül 314
Von der Erde gen Himmel und zurück 319
Eis – das feste Wasser 321
Gespanntes Wasser 323
Stoffgemische
Ein schönes Durcheinander 326
Lösungen 326
Emulsionen 329
Suspensionen 330
Tenside – Sie lieben Wasser und Fette 331
Alkohole
Mehr als ein Genussmittel 349
Bekannte Alkohole 350
Exotische Flüssigkeiten
Das fließende Silber – Quecksilber 353
7 Luft
Das Element der Freiheit
Flüchtige Berührung
Die Eigenschaften von Gasen 361
Planetare Schutzhüllen 364
Boten des Eros oder üble Stinker – die Geruchsstoffe 368
XII
INHALT
Luftige Stoffe
Nicht nur Sauerstoff 371
Lebenselixier und Gift – der Sauerstoff 371
Stickstoff – Hauptbestandteil der Luft 376
Wasserstoff – Ein brandgefährliches Gas 377
Reaktionsträge Sonderlinge 378
Methan – Klimaschädling und Hoffnungsträger 379
8 Feuer
Geschichte und Mythologie
Der Stoff aus dem die Flammen sind 383
Plasma
Der vierte Aggregatzustand 387
Plasmen in der Natur 387
Plasmen in Technik, Forschung und Medizin 390
Entropie
Das Streben nach Unordnung 405
Komplexe Strukturen
Welt aus dem Gleichgewicht 410
10 Elementarteilchen
Physik der kleinsten Teilchen
Was die Welt im Innersten zusammenhält 417
Das Standardmodell
Von den Nukleonen zum Standardmodell 426
Wellenfunktionen und Quantenfelder 431
XIII
INHALT
11 Kosmologie
Welt des Großen und des ganz Großen
Sag mir was die Sternlein sind... 445
Asteroiden und Planetenmissionen als Informationsquelle 4 52
Wissen vom Kleinsten für das Größte 453
Das Universum im Computer 454
Materie im Universum
Welten aus Gas und Sternenstaub 454
Sonne 455
Planetologie 457
Monde 461
Von Fall zu Fall... 464
Deep Space
Von der Milchstraße zu den fernsten Objekten in Raum und Zeit 482
Urknall 490
Vom Anfang zum Ende der Welt 497
12 Leben
Das Geheimnis der Rose
Extraterrestrisches Leben
Wo beginnt man zu suchen? 519
Anhang
Bildquellen 522
Literaturverzeichnis 524
Index 528
XIV
KAPITEL 1
Materie ist um uns und in uns – wir selbst und das bekannte
Universum bestehen aus Materie und Energie. Doch manch-
mal hindert uns gerade die Unmittelbarkeit und Allgegenwart
der Materie daran, dieses Thema gebührend zu betrachten.
Man sieht sozusagen „den Wald vor lauter Bäumen nicht“.
Dieses erste Kapitel wird versuchen, den Blick auf diese
Bäume und den ganzen Rest der materiellen Welt zu lenken;
uns helfen, unseren Standpunkt gegenüber der physischen
Natur zu finden.
Dabei werden wir feststellen, dass die Beschäftigung mit
der Stofflichkeit der materiellen Welt nicht nur eine Sache
für spleenige Wissenschaftler ist, sondern dass sie direkt dem
kindlichen Urinteresse entspringt, das viele Lebewesen und
insbesondere menschliche Kinder ihrer Umwelt gegenüber
empfinden.
Wir werden anschließend kurz auf die Methodik eingehen,
die unser Forschen prägt, und dabei die Begriffe Hypothese,
Theorie und Modell thematisieren.
Daneben werden wir dem Ursprung der Begriffe Masse,
Materie, Material, Substanz und Stoff nachgehen.
Am Ende des ersten Kapitels erwartet uns ein kurzer
Überblick über den Inhalt dieses Buches und Gliederung
seiner restlichen Kapitel.
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Woraus ist die Welt gemacht? Auf der Suche nach der Welt
Das Interesse daran, wie die Natur beschaffen
Kindliche Fragen... ist, „was die Welt im Innersten zusammenhält“
(GOETHE, Faust) steckt aber noch im Erwach-
Wird ein Mensch geboren, so lernt er in den senenalter in jedem Menschen. Naturwissen-
ersten Lebensjahren langsam, sein Ich vom Rest schaftler haben es zu ihrem Beruf gemacht. Es
der Welt, der Außenwelt, zu unterscheiden. In gehört zu den charakteristischsten menschlichen
3
KAPITEL 1 Mensch und Materie
4
Erde, Wasser, Luft und Feuer
in die Strukturen und Ähnlichkeiten der Dinge. scheinbar aus dem Nichts wirken, Galaxien Hypothese
Und wir werden dieses Begreifen auch nicht aus ohne Sterne und schließlich sogar Zeit, die un- Angenommene, aber
(noch) nicht bewiesene
den Augen verlieren, wenn wir uns mit zugrunde terschiedlich schnell läuft. Aussage
liegenden Denkmodellen befassen, die nicht im-
mer gleich intuitiv zu erfassen sind. Theorie
Beschreibung eines Aus-
Das Gewebe der Natur schnitts der Realität, die
Schwierigkeiten im Kleinen wie im Großen unter definierten Voraus-
Trotzdem lässt sich – und das ist eigentlich ganz setzungen überprüfbare
Vorhersagen erlaubt.
Viele wissenschaftliche Theorien des letzten Jahr- erstaunlich – zumindest etwas von den Phänome-
hunderts sind ihrem Wesen nach recht unan- nen des Allerkleinsten und des Allergrößten mit
schaulich. Das kommt daher, dass sie sich mit unserem menschlichen Gehirn verstehen. Unser
Phänomenen beschäftigen, die weit außerhalb Gehirn schafft es irgendwie, Gedankenkonst-
unserer Alltagserfahrung liegen. Allerdings wäre rukte wie die Mathematik oder physikalische
es völlig verfehlt anzunehmen, dass diese Berei- Theorien zu entwickeln, die zur Untersuchung
che deshalb keinen Einfluss auf unsere Existenz der Grundfragen des Universums und der darin
hätten und von Wissenschaftlern womöglich nur enthaltenen Materie auf ganz eigentümliche und
deshalb untersucht werden, weil es in der uns überraschende Art und Weise geeignet sind. Sie
vertrauten Welt nichts mehr für sie zu tun gibt. „passen“. Und dies, obwohl das Gehirn seine
Die Welt der allerkleinsten Dimensionen und Evolution in irdischen Verhältnissen durchge-
die damit zusammenhängenden ungewöhnlichen macht hat und es bisher wohl nicht unbedingt
Phänomene erweisen sich als so grundlegend ein evolutionärer Vorteil war, astrophysikalische
für alles Existierende wie der Zement für ein oder quantenmechanische Zusammenhänge zu
Haus aus Beton. Wenn wir uns insbesondere verstehen. Aus Sicht der Biologie ist dies ein völ-
in den Kapiteln 3, 4 und 10 mit Teilchen be- lig überraschender Befund, denn normalerweise
schäftigen, die millionenfach kleiner sind als der ist die Natur bei der Selektion der Ausstattung
Punkt am Ende dieses Satzes, so wird uns der ihrer Organismen extrem ökonomisch, um nicht
gesunde Menschenverstand in diesen Regionen zu sagen geizig. Eigenschaften von Lebewesen
nicht leiten können. Hier zählt nicht mehr die beruhen nämlich auf körperlichen Strukturen
Anschaulichkeit einer theoretischen Beschrei- und erfordern für ihren Aufbau stets Energie,
bung, sondern nur noch ihre Übereinstimmung also Nahrung, eine in der Natur stets knappe
mit Messungen. Es ist das bizarre Reich der Ressource. Neue Eigenschaften entstehen bei-
Quantentheorie. Hier gibt es Teilchen, die von spielsweise durch zufällige Mutationen im Erb-
einem Ort zum anderen gelangen, ohne jemals gut. Aber nur solche bleiben in der natürlichen
dazwischen gewesen zu sein, Quantenobjekte, Selektion erhalten, die sich positiv auf die Zahl
die gleichzeitig stillstehen und sich bewegen und der Nachkommen auswirken oder diese zumin-
Katzen, die gleichzeitig tot und lebendig sind. dest nicht durch Verschwendung von Energie
© 2011 Welsch & Partner scientific multimedia
Und auch die wirklich großen Entfernungen reduzieren. Schließlich könnte die Energie, die wir
in der Welt, die ungeheuren Zeiträume ihrer für so „sinnlose“ Tätigkeiten verschwenden, ja
Existenz sowie die höchsten Geschwindigkeiten andernfalls für die Fortpflanzung genutzt werden.
nahe der Lichtgeschwindigkeit bereiten unserem Energie „verbraucht“ unser Denkapparat übri-
Vorstellungsvermögen gehörige Probleme. Die gens immerhin so viel wie ein durchschnittlicher
Welt verhält sich auch in diesen Dimensionen Prozessor in einem modernen Computer. Vom
einfach nicht mehr so, wie wir es gewohnt sind. Grundumsatz eines Menschen (der etwa der Leis-
Sie richtet sich ganz einfach nicht danach, was tung einer 75 Watt-Lampe entspricht), entfallen
bequem in unseren Kopf passt. Auch in diesen auf das Gehirn rund zwanzig Prozent, obwohl 1-2
kosmischen Regionen, über die wir in Kapi- es nur zwei Prozent der Körpermasse ausmacht. Entitätsebenen. Aus
tel 11 sprechen werden, müssen wir unseren Unser über das unmittelbar Nützliche hinaus- menschlicher Sicht lässt
sich Materie entsprechend
Alltagverstand gehörig umgewöhnen. Skur- gehendes Erkenntnisvermögen ist also nur dann ihrer stofflichen Basis und
rile Dinge warten da auf uns: Sterne mit einer biologisch erklärbar, wenn es quasi zufällig, als Komplexität in Stufen
Kruste aus Eisen, andere, die zu einem Pfannku- kostenloser und unschädlicher Nebeneffekt eines anordnen, die jeweils ei-
gene Metastrukturen und
chen abgeplattet sind und sich so schnell drehen anderen evolutionären Vorteils entstanden ist typische Eigenschaften
wie ein Zahnarztbohrer, Gravitationskräfte, die und kaum zusätzliche Energie erforderte. Wir aufweisen.
5
KAPITEL 1 Mensch und Materie
wissen bisher nicht mit Bestimmtheit, was dieser in Betracht zieht, so ist die Versorgung heute,
entscheidende Vorteil war. War es eine Weiter- prozentual gesehen, nicht schlechter geworden
entwicklung des planenden Vorausschauens, das als zu jeder früheren Zeit und in jeder natürlichen
schon viele Tiere zeigen? War es ein optimiertes Tierpopulation. Vielleicht schaffen wir sogar
Sozialverhalten? Oder waren es vielleicht die bald, (in evolutionären Zeiträumen gerechnet)
Folgen der Intensivierung des eigentlich noch andere Planeten der Milchstraße zu besiedeln und
weniger verstandenen Phänomens des Bewusst- zu kolonisieren, wie es der berühmteste Physiker
seins (ÅBewusstsein, Seite 518), das übrigens unserer Zeit, STEPHEN HAW A KINS, immer wieder
neueren Forschungen zufolge ebenfalls nicht auf propagiert. Die Menschheit wäre dann selbst ge-
Homo sapiens beschränkt ist? gen globale Katastrophen gefeit. Kann man sich
Man kann vermuten, dass ganz allgemein einen größeren Evolutionsvorteil vorstellen? Ob
die Fähigkeit zur Bildung mentaler Repräsen- uns die zahlreichen Folgen der Erkenntnisfähig-
tationen der Außenwelt den entscheidenden keit in diesem Sinne schließlich auch langfristig
Vorteil im Überlebenskampf mit sich brachte. Vorteile bringen werden oder womöglich genau
Offensichtlich ist es für Lebewesen nützlich, auch das Gegenteil, das wird sich wohl erst im großen
über Dinge nachdenken zu können, die nicht Experiment der nächsten Jahrtausende und Jahr-
unmittelbar sichtbar, sondern eher abstrakter Art millionen zeigen.
sind. Neuere Untersuchungen zeigen, dass solche
mentalen Repräsentationen und vielleicht ein Ich-
Empfinden auch schon im Tierreich wesentlich Modelle
verbreiteter sind, als früher allgemein angenom-
Modell men. So wurde bei Rabenvögeln beobachtet, Modelle werden oft scherzhaft als „Denk-Krü-
Ein Modell ist ein abstrak- dass sie gezielt aus einem Draht einen Haken cken“ bezeichnet, Hilfsmittel zum Denken also.
tes Abbild eines Systems,
das stellvertretend für das biegen können, um damit nach Nahrung zu an- Dies bringt zum Ausdruck, dass wir – ob mo-
System untersucht wird. geln. Dazu müssen sie über eine abstrakte Vor- mentan oder sogar prinzipiell – mit unserem
stellung verfügen, wie ein Haken funktioniert. Bewusstsein nicht in der Lage sind, eine be-
Affen können Symbole (keine Bilder konkreter stimmte Erscheinung in ihrer gesamten Komple-
Gegenstände) für Wörter benutzen und daraus xität zu erfassen, und uns irgendwie behelfen
Sätze bilden. Ebenso können sie mit kleineren müssen. Wir müssen vereinfachen, uns auf das
Zahlen umgehen. Auch das ist eine abstrakte Re- Wesentliche konzentrieren. So wird von einem
präsentation von etwas nicht direkt Sichtbarem. Haus, bevor man es baut, ein Modell erstellt. Es
Und selbst bei Vertretern anderer Tiergruppen erlaubt eine Vorstellung von dem späteren Aus-
wie Kopffüßern und Fischen bis hin zu Insekten sehen und einen Überblick über die wesentlichen
tritt erstaunlich planvolles Handeln auf. Wir Merkmale. Dabei ist niemand überrascht, dass
sehen hier den Beginn von Modellbildungen, in einem solchen Modell keine Geranien in den
auch wenn diese Fähigkeit bei unserer eigenen Balkonkästen wachsen. Modelle vernachlässigen
Spezies wesentlich weiter entwickelt ist. Weit ganz bewusst viele Aspekte der Realität, von
genug jedenfalls, um uns schließlich die Bildung denen man annimmt, dass sie für das interessie-
komplexer geistiger Konstrukte bis hin zur Ma- rende Phänomen keine große Bedeutung haben.
thematik zu gestatten, bei denen kein offensichtli- Wissenschaftler machen sich andauernd Modelle
cher Zusammenhang mehr zu einem unmittelba- der Wirklichkeit, und auch wir werden in diesem
ren Evolutionsvorteil besteht. Jedoch sollten wir Buch ständig Modelle verwenden, wenn wir nach
bedenken, dass unsere auf Verstandesprozessen den kleinsten Teilchen der Materie fragen, nach
basierende technische Zivilisation uns erlaubt den Strukturen, die bestimmte Eigenschaften
hat, auch die entferntesten Flecken dieses Plane- hervorbringen, oder nach der großräumigen Ver-
ten in einer Dichte zu besiedeln, die dutzendfach teilung der Materie in der Welt. Wissenschaftli-
höher ist, als jede natürliche Population einer che Modelle sind wie beim simplen Hausmodell
anderen Art mit ähnlicher Körpergröße. So etwas vereinfachte Repräsentationen eines realen Sys-
hat es in der gesamten Erdgeschichte noch nicht tems. Es können einfache Analogien sein, etwa
gegeben. Selbst wenn man das millionenfache der Vergleich eines Atoms mit einem Tennisball,
Leid durch Hunger, Krankheit und Armut bedeu- die vor allem didaktischen Zwecken dienen. Oft
tender Teile der menschlichen Erdbevölkerung basieren Modelle aber auf einer bestimmten phy-
6
Erde, Wasser, Luft und Feuer
7
KAPITEL 1 Mensch und Materie
1-3
Theorie, Modell und Realität. Theorien definieren die
Gesetze und Grundbegriffe, die man benötigt, um Mo-
delle realer Systeme zu formulieren. In wissenschaftli-
chen Theorien werden Begriffe und Strukturen aus der
Mathematik verwendet, um Zusammenhänge eindeutig
und quantitativ zu erfassen. In mit Hilfe der Theorie for-
mulierten Modellen werden theoretische Grundbegriffe
mit Eigenschaften der realen Systeme verknüpft. Aus einer
„Punktmasse“ der klassischen Mechanik wird in einem
Modell des Sonnensystems ein Planet wie die Erde oder
ein Stern wie unsere Sonne. Das Modell kann maximal
die Elemente des realen Systems berücksichtigen, für die
es in der Theorie Grundbegriffe gibt. Meist werden noch
weitere Vereinfachungen vorgenommen, so wird beim
Systeme Erde-Sonne links angenommen, dass die Masse
beider Körper in deren Mittelpunkt konzentriert gedacht
werden kann. Die Sonne wird zudem als fixiert betrach-
tet: ihre Bewegung aufgrund der Anziehungskräfte der
Planeten wird vernachlässigt. Das reale System selbst ist
also viel umfangreicher, und die Menge seiner Eigenschaf-
ten und Objekte ist eher diffus definiert. So besteht das
Sonnensystem nicht nur aus Planeten, sondern aus vielen
kleinsten Körpern, Gaswolken, elektromagnetischer Strah-
lung, Strömen von Elementarteilchen und vielem mehr.
Vieles davon ist im Rahmen der klassischen Mechanik, die
die Bewegung der Planeten so gut beschreibt, gar nicht
erklärbar. Neue Theorien mit anderen Begriffen müssen
hier an ihre Stelle treten.
8
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Modelle, die auf Basis von Gleichungen der können. Das Agentenparadigma liefert Erklä-
beschriebenen Art erstellt werden, nennt man rungen für kollektives Verhalten, zum Beispiel
deterministisch, unabhängig davon, ob man sie im Rahmen der Verkehrsmodellierung oder in
analytisch oder nur numerisch lösen kann. Kennt der Verhaltensbiologie („Schwarmintelligenz“).
man alle Eingabeparameter zu einem bestimm- Dennoch lassen uns manchmal auf diese Weise
ten Zeitpunkt, so steht das Verhalten des Mo- gewonnene Erklärungen unbefriedigt. Es ist ja
dells für alle Zeiten fest (was nicht zwingend für keineswegs trivial, aus dem Verhalten des Mo-
das reale System gelten muss!). Es gibt allerdings dells zu einem besseren Verständnis der inneren
auch Modelle, bei denen statistische Methoden Vorgänge zu kommen. Denn als „verstanden“
eingesetzt werden. Sie werden unter anderem empfinden wir einen Vorgang eigentlich erst
genutzt, wenn nur die Häufigkeitsverteilung von dann, wenn wir durch einen für uns unmittelbar
Eingabeparametern bekannt ist oder die zeitliche nachvollziehbaren geistigen Prozess quasi eine
Entwicklung eines Systems von so vielen Para- Abkürzung zur Lösung finden.
9
KAPITEL 1 Mensch und Materie
Es besteht dann eben kein thermodynamisches zige Ameise funktioniert, so würden viele Seiten
Gleichgewicht. Man tut also gut daran, den Dif- aus dem Buch des Lebens offen vor uns liegen.
ferenzierungsgrad des Modells der Wirklichkeit Wir wollen hier vorerst von sogenannten
sehr sorgfältig zu wählen. „emergenten“ Eigenschaften absehen, ohne sie
Um das Wesen einer beschriebenen Erscheinung ganz aus den Augen zu verlieren. So werden Ei-
von verschiedenen Seiten zu beleuchten, kann es genschaften bezeichnet, die wie bestimmte mak-
didaktisch sehr nützlich sein, das Erklärungsmo- roskopisch messbare Materialeigenschaften (Zä-
dell immer wieder zu wechseln. Nur in diesem higkeit, Leitfähigkeit) oder auch die Intelligenz,
Sinn einer Annäherung an die Realität mit Hilfe erst durch das Zusammenwirken einer großen
von Theorien und Modellen kann man von wis- Zahl von Einzelelementen entstehen. Für ein ein-
senschaftlicher „Erkenntnis“ über die Struktur zelnes atomares Bauteilchen ist es z. B. unsinnig,
von Materie sprechen, die wir in diesem Buch den Druck oder die Reißfestigkeit zu definieren;
vermitteln wollen. Die „Wirklichkeit“ kann und ebenso kann man nicht davon sprechen, dass
wird immer ganz anders aussehen. Was man ein Neuron ein wenig Intelligenz besitzt oder
1-6
Modelle für Atome. In sich unter dem Begriff „objektive Wirklichkeit“ ein Buchstabe ein wenig des Sinns von Schillers
Kapitel 3 und 4 werden überhaupt vorzustellen hat, bleibt auch heute Räuber enthält. Solche Eigenschaften großer
wir einige konkrete Atom- Gegenstand philosophischer Diskussionen. Ensembles hängen neben den Bestandteilen ganz
modelle betrachten, derer
sich die Menschen im
Trotz dieser Einschränkungen lässt sich heute entscheidend von der Struktur ab, von der Art
Laufe der Jahrhunderte ein in sich stimmiges Bild von normaler Mate- und Weise, wie die Komponenten miteinander
bedient haben. rie zeichnen, das ein befriedigendes Verständnis verbunden sind. Als klassisches Beispiel hierfür
vieler Prozesse erlaubt. Dass jede Erkenntnis kann der Kohlenstoff dienen. Sind seine Atome
an einem bestimmten Punkt endet, wird einem in regelmäßigen Sechsecken angeordnet, haben
schmerzlich bewusst, wenn man an die Grenzen wir es mit Graphit zu tun, eine elektrisch leitfä-
unseres Weltverständnisses im Kleinsten wie im hige, dunkelgraue, sehr weiche Substanz, die in
Größten denkt. Gibt es etwas noch Elementa- Bleistiften (im Widerspruch zu deren Namen)
reres als die heute kleinsten bekannten Elemen- für die Schwärzung des Papiers sorgt. Sind die
tarteilchen, die Leptonen und Quarks? Gibt es Kohlenstoffatome hingegen zu Tetraedern ver-
ein „Außerhalb“ des bekannten Universums? knüpft, so handelt es sich um Diamant mit völlig
Welchen Teil unserer universellen Heimat kön- anderen Eigenschaften: ein elektrischer Isolator,
nen wir überhaupt kennen? Wie alt ist die Welt? lichtdurchlässig und bis vor kurzem der härteste
Gab es vielleicht eine Welt vor dem Urknall? bekannte Stoff überhaupt. Wie die natürlichen
Diesen Fragen werden wir uns im hinteren Teil Stoffe zusammengesetzt sind, ist schon für sich
des Buches erneut zuwenden, denn gerade in den gesehen ein faszinierendes Thema. Doch die
letzten Jahren haben die Auswertungen neuerer Gewinnung und Herstellung der künstlichen
1-7
Materie, die uns umgibt. Daten von Satelliten sowie von Ballonmessungen Werkstoffe, aus denen der Mensch seine Zivi-
Im Lauf der zivilisatori- im Mikrowellenbereich und Statistiken über die lisation aufgebaut hat, ist nicht minder span-
schen Entwicklung hat Verteilung bestimmter Supernovae im Weltraum nend. So haben sich die Erscheinungsformen des
der Mensch große Teile
der Materie, mit der wir
geradezu eine neue Ära der Kosmologie herauf- Kohlenstoffs in den letzten Jahren um Fullerene,
täglich in Berührung kom- beschworen. Sie erlauben es nun erstmals auf Nanoröhrchen und Graphen erweitert, von de-
men, immer stärker be- einige Fragen quantitative Antworten zu bekom- ren Existenzmöglichkeit zuvor niemand etwas
einflusst. Ausgehend von
Anpassungen der makro-
men (ÅKapitel 11), oder zumindest begründete ahnte. Auch sie sind Themen in diesem Buch.
skopischen äußeren Form Hypothesen zu entwickeln, die einmal zu Ant- Jahrtausende an Erfahrung haben uns ursprüng-
(Steinwerkzeuge) über worten führen könnten. Die Erkenntnis, wie die lich ermöglicht, die Materialien zu finden und
Kombinationen und Struk-
Welt funktioniert, liegt zu einem beträchtlichen zu verarbeiten, die unsere heutige Lebensweise
turänderungen (Stahl) ist
heute Manipulation von Teil in jedem ihrer kleinsten Teile verborgen, – man mag sie verdammen oder preisen – erst
Materie auf molekularer denn es sind immer wieder grundlegende Prinzi- ermöglicht haben. Ein weiter Weg führte unsere
(Kunststoffe, Metamateri-
pien, die sich, einmal enthüllt, in tausendfacher Vorfahren von den Fundstellen bestimmter har-
alien) und sogar atomarer
Ebene (Quantenpunkte) Anwendung quer durch die Natur wiederfinden ter Steine über die Verarbeitung von Pflanzen-
möglich. Der Begriff Ma- lassen. Hätten wir nur einen Stein vollständig fasern zu Geweben bis zur Metallgewinnung.
terie wandelt sich. Er wird verstanden, so wüssten wir damit schon einiges Was die Nutzung der materiellen Umwelt als
immer häufiger auf das je-
weils beherrschte Material über das dazugehörige Gebirge. Könnten wir Werkzeug und Werkstoff anging, kam es zu einer
bezogen. wirklich genau verstehen, wie eine einzige win- geradezu explosionsartigen Entwicklung (ÅAb-
10
Erde, Wasser, Luft und Feuer
bildung 1-7). Zusätzlich zu den in der Natur kalisch orientierten Begriffs Materie, sondern es Etymologie
Lehre von der Herkunft
vorkommenden Stoffen lernte der Mensch immer steht für technisch angewandte, oft stark bear-
und Geschichte der Be-
mehr Stoffe eigens für seine Zwecke zu gewinnen beitete oder umgewandelte Materie. Das Schwer- griffe.
und zu nutzen. Ein verbessertes Verständnis der gewicht dieses Begriffs liegt eindeutig auf seiner
Materialien durch chemische und physikalische Bedeutung für den Menschen.
Forschung ermöglicht es Ingenieuren heute, Ma-
terialien mit genau für den geplanten Einsatz Masse
optimierten Eigenschaften herzustellen. Diese
„designten“ Materialien ermöglichen in vielen Das Wort Masse hat seinen Ursprung im lateini-
Fällen auch einen schonenderen Umgang mit schen massa, das einen Teigklumpen oder auch
natürlichen Ressourcen. Langlebigere Produkte einen Klumpen Erz bezeichnen konnte. Später
sind oft energetisch günstiger herzustellen, als wurde es generell als eine Ansammlung von Kör- r
mehrere kurzlebige. Andererseits können auf pern oder als Haufen verstanden. Seine physikali-
baldigen Zerfall „programmierte“ Kunststoffe sche Bedeutung als träge Masse erhielt es erst im
einen Beitrag zur Entschärfung des Müllprob- 17. Jahrhundert.
lems leisten. Massa wiederum hat seinen Ursprung im grie-
chischen maza, der Bezeichnung für ein grobes
Fladenbrot aus Gerste, das, im Gegensatz zum
Etymologie feineren Weizenbrot artos, vorwiegend von ein-
fachen Leuten gegessen wurde.
Die Herkunft von maza selbst ist nicht voll-
Materie, Matter und Matière ständig geklärt. Manches spricht dafür, dass es
aus dem Hebräischen stammt. Dort bezeichnet
Der Begriff Materie wie auch der englische Begriff mazza das ungesäuerte Brot der Israeliten, das
matter und das französische matière sind aus auch in der Bibel vielfach erwähnt wird. Denkbar
dem lateinischen materia entlehnt, das soviel wie ist aber auch, dass das Wort den umgekehrten Weg
Nutzholz, Bauholz, Stoff, aber auch Aufgabe, ging und von den Griechen über die Philister ins
Anlage, Talent bedeutet. Von dieser ursprüngli- Hebräische übernommen wurde.
chen Bedeutung des Wortes im Lateinischen zeugt Möglicherweise ist maza aber auch nur ab-
auch das portugiesische Wort madeira (Holz). Der geleitet vom griechischen Wort masso für kneten
Holzreichtum der portugiesischen Insel Madeira (noch heute kennen wir das Wort Massage in
gab dieser ihren Namen. dieser Bedeutung). Der arabische Ausdruck mad-
Materia selbst stammt wohl von materr ab, was dah wurde in der muslimischen Philosophie im
so viel wie Mutter, Ursprung, Quelle bedeutet, Sinne von Materie benutzt und bezeichnet das
aber auch den inneren Teil des Baumes bezeichnet. Ausgedehnte.
Mater wiederum hat seine Wurzeln im in-
dogermanischen materr (Mutter), aus dem auch Substanz
althochdeutsch muoter, altindisch matarr und alt-
griechisch materr für Mutter abgeleitet ist. Substanz leitet sich vom lateinischen substantia
Die griechischen Philosophen bezeichneten ab, das für das Zugrundeliegende steht. Es ist ein
das Substrat aller Dinge als hylê, was ebenfalls Synonym des Wortes essentia, von dem das Wort
Holz oder Wald bedeutete. Der Hylozoismus als Essenz (z. B. in Essigessenz) abstammt. In der
die Lehre von der Beseeltheit der Natur hat hier Philosophie steht es für „das, wodurch etwas ist,
seine Wurzeln, ebenso wie der Hylomorphismus, was es ist“, also all das, was zum Beispiel einen
die Lehre von Form und Materie. Menschen zu einem Menschen oder einen Stein
zu einem Stein macht. Es ist in diesem Sinn ver-
Material wandt mit dem griechischen Wort usia, das für
das Wesen von etwas steht. In der Umgangsspra-
Der Plural Materialia leitet sich vom Plural des che steht es meist für einen chemischen Stoff, in
lateinischen Worts materialis, was soviel wie „zur der Medizin für ein einheitliches Gewebe (etwa
Materie gehörig“ bedeutet. Im heutigen Sprach- die „graue Substanz“ des Nervengewebes) oder
gebrauch ist Materiall kein Synonym des physi- einen Wirkstoff.
11
KAPITEL 1 Mensch und Materie
12
Erde, Wasser, Luft und Feuer
formen der Materie als Festkörper, Flüssigkeit ebenso auf den Grund, wie der Frage, warum
und Gas auch nennen. sich letzteres in Wasser nicht löst, in Seifenlauge
Jedem antiken „Element“, also jedem Aggre- aber wohl. Alkohole sind wiederum Ausgangs-
gatzustand, wird in der Folge ein eigenes Kapitel punkt vieler interessanter Flüssigkeiten, unter
gewidmet. Die Kapitelabfolge der Aggregatzu- anderem der wohlriechenden Ester, zu denen
stände entspricht dabei bewusst weder der üb- auch Fette und Speiseöle gehören. Estern und
lichen Elementreihenfolge (Feuer, Wasser, Erde, ätherischen Ölen (die eigentlich gar keine Öle
Luft), noch der bei vielen chemischen und physi- sind) verdanken wir den Wohlgeruch von Blu-
kalischen Abhandlungen bevorzugten Gliederung men und Parfums. Heute wichtiger noch als
nach zunehmender struktureller Komplexität, Speiseöl ist allerdings das Erdöl, welches mit
ausgehend von Gas über Flüssigkeiten hin zu ersterem nicht viel gemein hat. Aber wie ent-
Feststoffen. Wir betrachten stattdessen zunächst steht eigentlich Erdöl und wie stellt man daraus
die Feststoffe, die uns sowohl in der Natur als Benzin, Diesel oder Plastik her?
auch in der zivilisatorischen Umwelt besonders
deutlich entgegentreten und die deshalb in diesem Natürlich bildet die uns um -
Buch überproportional viel Raum einnehmen. gebende Luft (Å Kapitel 7) mit
In jedem Stoffkapitel werden auch „Exoten“ ihren wichtigsten Bestandteilen
angesprochen, also besonders interessante Stoffe den Ausgangspunkt des Kapitels
mit eher unbekannten und seltsam anmutenden über Gase. Dabei geht es auch
Eigenschaften wie Ferrofluide, Aerogele, durch- um den Aufbau der Atmosphäre, um Ozon-
sichtiger Beton oder Superflüssigkeiten. löcher und den Treibhauseffekt. Im Zentrum
des physikalischen Verhaltens der Gase stehen
Die Er de (Å Kapitel 5 ), das natürlich die bekannten Gasgesetze, mit de-
Reich der mineralischen und oft- nen sich das Verhalten dieser vergleichsweise
mals kristallinen Stoffe, macht einfachen Materieform gut verstehen lässt. Es
den Anfang. Wir beschäftigen geht auch um angenehme Gerüche und wie
uns damit, worauf wir eigentlich wir sie von weniger gut riechenden Gasen un-
stehen und mit was wir bauen. Der Schichtauf- terscheiden können. Wir stellen viele wichtige
bau der Erde sowie die Zusammensetzung ver- Gase, mit denen der Mensch zu tun hat, einzeln
breiteter Gesteine, Bodenarten und Minerale vor: Wasserstoff, Stickstoff, Sauerstoff, Methan
ist ebenso Thema, wie die vom Menschen ge- bzw. Erdgas und die Edelgase. Damit kennen
nutzten Baumaterialien. Warum wird Ton beim wir schon die „üblichen Verdächtigen“, denen
Brennen hart? Aus was besteht Asphalt? Es wir im Kapitel über Kosmologie auf den Gas-
geht auch um Metalle, ihre Gewinnung und planeten erneut begegnen werden.
Veredelung. Was unterscheidet Eisen von Stahl?
Was versteht man unter Flotation? Wer ist der Der Aggregatzustand Plasma,
Nickel-Kobold? Wir sprechen über Hartme- symbolisiert durch das antike
talle, Gläser, Halbleiter, Papier, Kunstfasern und Element Feuer (ÅKapitel 8),
Kunststoffe, kurz: über die Werkstoffe, die uns schließt sich zwanglos an das
in der heutigen Zivilisation laufend begegnen. Gas an. Hier zeigt sich ein Vor-
Die Frage, wie man Stahl hart und Gummi ela- teil der gewählten ungewöhnlichen Reihenfolge
stisch macht, gehört dabei ebenso dazu wie die in der Behandlung der Aggregatzustände. Die
Frage, wie Solarzellen funktionieren und aus Betrachtung führt von der direkten Erfahrung
was Gummibärchen gemacht werden. mit Plasmen auf der Erde in Form von Flammen
und Leuchtstoffröhren hin zur Elementarteil-
Flüssigkeiten betrachten wir in chenphysik und zu kosmologischen Fragestel-
ihrer gesamten Breite, von Was- lungen. Wussten Sie, dass das auf der Erde eher
ser (Å Kapitel 6) über Öle, Sei- exotische Plasma der im Universum am weite-
fen, Alkohole, Ionische Flüssig- sten verbreitete Aggregatzustand ist? Plasmen
keiten, Quecksilber, Superflüs- in und zwischen Sternen und ionisierte kosmi-
sigkeiten und Magma. Der Frage, warum sich sche Gasnebel kommen dabei zur Sprache. Auch
Wasser nass anfühlt, Öl aber nicht, gehen wir hier stoßen wir auf direkte Verbindungen von
13
KAPITEL 1 Mensch und Materie
unseren irdischen Erfahrungen mit dieser Ma- Quantengravitation. Wir werden auch erfahren,
terieform. Zum Beispiel auf die in kommenden warum der LHC (Large Hadron Collider) in
Kapiteln thematisierten Zustände direkt nach Genf eine wichtige Rolle dabei spielt und warum
dem Urknall. viele Physiker glauben, dass unsere Welt mehr
als 3 Dimensionen haben muss.
Form und Materie (ÅKapitel 9)
geht der keineswegs trivialen Das folgende Kapitel Kosmologie
Frage nach, wie aus einfachen (ÅKapitel 11) widmet sich dem
Bausteinen kom p lexe, hoch - Aufbau und der Verteilung der
gradig organisierte Strukturen Materie im Großen. Ausgehend
wie Lebewesen entstehen können. Hier spielen von den irdischen Beobachtungs-
Begriffe wie Selbstorganisation, Chaos und En- möglichkeiten und Instrumenten wird unser Wis-
tropie eine zentrale Rolle. Warum widerspricht sen über die Verteilung der Materie und über die
steigende Komplexität nicht dem Streben nach von ihr gebildeten Strukturen im Sonnensystem,
Unordnung? Kann ein Schmetterling tatsächlich in der Galaxis und im sichtbaren Bereich des
einen Tornado auslösen? Und was hat Entropie Universum dargestellt. Die Strukturen der Welt in
mit Information zu tun? Aber auch der Rolle des unterschiedlichen Größenskalen führen uns zu-
Zufalls in einer Welt scheinbar deterministischer rück zur Frage nach dem Ursprung der Welt, den
Naturgesetze werden wir nachgehen. Compu- Kosmogonien, die wir im historischen Kontext in
ternutzer werden zudem erfahren, wie groß die Kapitel 3 bereits betrachteten. Wie hängt all das
Speicherkapazität eines USB-Sticks höchstens zusammen mit dem Aufbau der Materie aus sub-
sein kann und wie dies mit der Entropie schwar-r atomaren Teilchen wie Leptonen und Quarks?
zer Löcher zusammenhängt. Warum glauben Kosmologen, dass sich unser
Kosmos immer schneller ausdehnt? Und was
Im Kapitel Elementarteilchen können wir aus der allgegenwärtigen kosmischen
(Å Ka p itel 10) verlassen wir Hintergrundstrahlung über das junge Universum
erstmalig die Welt der Atome, vor beinahe 14 Milliarden Jahren lernen?
in der Protonen, Neutronen und
Elektronen den Ton angeben. Ein letztes Kapitel über Lebende
Wir begeben uns eine Ebene tiefer, in die Welt Systeme (Å Kapitel 12) ist den
der Elementarteilchen. Wie man im vorherigen strukturellen und entropischen
Jahrhundert feststellen musste, ist diese Welt Besonderheiten solcher Struktu-
ungleich reichhaltiger, als man es für „elemen- ren und der Emergenz der „Le-
tare“ Teilchen eigentlich erwartet hätte. Das so- bendigkeit“ gewidmet – der Entstehung und
genannte Standardmodell ordnet diesen Zoo der Evolution immer stärker spezialisierter (und
Elementarteilchen in drei Familien, von denen scheinbar entropisch unwahrscheinlicherer) Le-
nur die erste die uns bekannte materielle Welt benseinheiten bis hin zum Bewusstsein und zur
aufbaut. Erst die Wechselwirkungen zwischen Auseinandersetzung mit der Welt. Hier werden
solchen Teilchen liefern eine über das chemische wir erneut die Stellung des Menschen in der
Verständnis hinaus gehende physikalische Erklä- materiellen Welt thematisieren und damit den
rung der Eigenschaften der Materie. Beispiels- Bogen schlagen zu den einleitenden Kapiteln.
weise dient die Theorie der Wechselwirkung mit
dem Higgs-Feld als Erklärung für die Existenz
der Masse. Allerdings verlassen wir spätestens
auf dieser Ebene die „materielle“ Welt der Ma-
terie. Materie und Energie werden eins und im
Mittelpunkt stehen abstrakte Konzepte wie
Quantenfelder und Symmetrie. Hier stoßen wir
an die Grenzen unseres heutigen Verständnisses
über die Grundstruktur der Welt. Prominente
Ansätze, diese Grenzen zu überwinden, werden
wir kennenlernen: Superstringtheorie und Loop-
14
KAPITEL 2
Wahrnehmung
Sehen – Wahrnehmen – Verstehen
Fühlen und Tasten
Riechen und Schmecken
Hören
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
Zum zweiten Kapitel
Wenn wir uns mit der Materie in der Welt befassen wollen,
ist es angebracht, zunächst nach dem Wahrnehmungs- und
Erkenntnisprozess selbst zu fragen, der uns Menschen In-
formationen über eben diese Materie liefert. Die Evolution
hat uns mit Sinnen ausgestattet, die uns erlauben, für unser
Überleben wichtige Eigenschaften der materiellen Welt mehr
oder weniger direkt wahrzunehmen und darauf zu reagieren.
Die Tatsache, dass wir Informationen aus der Umwelt zum
Überleben brauchen, führte letzlich zur Entstehung unseres
Gehirns. Erstaunlicherweise gestattet dies uns sogar ein Be-
wusstsein unserer selbst. Und wir können diese Welt nicht
nur verwundert und staunend betrachten, sondern sie auch
neugierig untersuchen. Diese Neugierde zeichnet Kinder
und Wissenschaftler aus. Sie ermöglicht es uns vor allem,
einen Teil der materiellen Welt wirklich zu verstehen, auch
wenn wir letztlich nicht sagen können, wie groß dieser Teil
eigentlich ist.
Wir beschäftigen uns in diesem Kapitel damit, auf welche
Weise wir Materie mit unseren Sinnen wahrnehmen können
und wie unser Nervensystem mit der Ausbildung eines inne-
ren Modells dazu beiträgt. Wir diskutieren, welche Erweite-
rungen und Relativierungen z. B. ein Begriff wie „Sehen“ in
unserer modernen Welt erfahren hat. Und natürlich müssen
wir uns auch Gedanken darüber machen, warum wir nur die
Sinne besitzen, die wir tatsächlich haben, und keine anderen.
Dieser Ansatz führt weiter zu dem riesigen Gebiet unserer
technisch erweiterten Sinne, mit denen wir das Verständnis
(der Dinge in) der Welt während der letzten Jahrhunderte ein
gehöriges Stück vorantreiben konnten. Wir haben unsere na-
türlich vorhandenen Sinne mit der Technik geschärft und sogar
ganz neue Sinnesmodalitäten erschaffen, die wir vorher nicht
besaßen, ja für die es teilweise in der gesamten Lebenswelt der
Erde kein einziges Beispiel gibt. Künstliche Sinne lassen uns im
Dunkeln sehen, ein Magnetfeld wahrnehmen oder Gamma-
strahlung registrieren. Wir schauen in die Details der Materie
hinein und zu den entferntesten Sternen empor. Damit sind für
uns im wahrsten Wortsinn „unvorstellbare“ Dimensionen im
Allerkleinsten und im Allergrößten „zugänglich“ geworden.
Aber: Können wir das alles noch in gleicher Weise verstehen
und so begreifen wie die Information, für deren Bewältigung
unser Nervensystem ursprünglich entstanden ist?
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Wahrnehmung
17
KAPITEL 2 Wahrnehmung
2-3
Evolution der Lichtsin-
nesorgane. Von einfachen
© 2011 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
18
Erde, Wasser, Luft und Feuer
und Vögel können Magnetfelder buchstäblich hinzufügen oder vorhandene um viele Größen-
„sehen“, denn diese aktivieren dieselben Gehirn- ordnungen empfindlicher machen. Sind also un-
strukturen wie optische Eindrücke. sere technischen Errungenschaften das vorläu-
Ein möglicher Grund dafür, dass wir über fige Endergebnis einer Evolutionslinie? Nein, das
manche denkbaren Sinne nicht verfügen, ist also sollte man nicht anzunehmen, solange niemand
sicherlich, dass die daraus gewonnene Informa- nachweist, dass die Zahl der Nachkommen von
tion bei unserer jeweiligen Lebensweise im Laufe z. B. Gammastrahlungsastronomen aufgrund
der Evolution einfach nicht wichtig genug für ihres Berufs besonders groß ist. Der Zusam-
das Überleben war. menhang ist offensichtlich ein anderer: Bisher
Dies kann auch eine Ursache dafür sein, hat die starke Entwicklung unseres Gehirns das
dass manche Sinne, soweit man heute weiß, Überleben der Menschen enorm gefördert. Wir
überhaupt nirgendwo auf der Erde entstanden sind zur vorherrschenden Spezies unseres Pla-
sind. So kennen wir kein Lebewesen mit ei- neten geworden und leben auf der Erde in einer
nem Sinnesorgan für Radioaktivität. Diese war Dichte, die dutzende Mal höher ist, als man es
(zumindest vor Tschernobyl) im Vergleich zu für Tiere vergleichbarer Größe im besten Falle
anderen Gefahren so wenig schädlich, dass sie erwarten könnte (und als es ratsam wäre). Dieses
das individuelle Überleben kaum beeinflusste so nützliche Gehirn bringt als Nebeneffekt die
und somit der notwendige Selektionsdruck zur Neugierde mit sich. Dieser allgemeine Drang,
Ausbildung eines entsprechenden Sinns fehlte. mehr über die Umwelt wissen zu wollen, kann
Daneben ist natürlich auch keinerlei Garantie sehr wohl ein Überlebensvorteil sein. Das mas-
gegeben, dass stets eine passende Mutation für sive Interesse an allen Vorgängen in der Welt,
die Initialzündung zur Evolution eines eventuell das wir auch bei vielen Jungtieren beobachten,
nützlichen Sinns tatsächlich auftrat. Einiges an bleibt bei vielen Exemplaren unserer Spezies ein
der Ausstattung von Lebewesen scheint nicht Leben lang erhalten und bildet so die Grundlage
19
KAPITEL 2 Wahrnehmung
deshalb für die meisten Menschen ein so natürli- 6 Die Sehnerven leiten die Information in die
cher Vorgang, dass sie im täglichen Leben selten primäre Sehrinde (im Hinterkopf).
darüber nachdenken. Oberflächlich betrachtet,
geht es dabei um Licht, das in unsere Augen fällt 7 Die Information wird ins Frontalhirn (Stirn-
und auf der Retina in Nervensignale umgewan- lappen) transportiert und bewusst wahrge-
delt wird. Dies allein schon als Beschreibung des nommen.
Sehens zu bezeichnen, würde allerdings gerade
die wichtigsten Aspekte auslassen. Damit kommen wir der Sache schon etwas näher.
Sehen wir etwa eine völlig saubere Glas- Aber offenbar ist diese Beschreibung der visuellen
scheibe, durch die Licht in unsere Augen fällt? Wahrnehmung noch viel zu eng gefasst. Große
Können Fledermäuse Hindernisse sehen? Kön- Teile des Vorgangs finden völlig unabhängig vom
nen bewusstlose Personen sehen, wenn der Arzt Licht irgendwo zwischen der Netzhaut unserer
ihnen ins Auge leuchtet? Sehen wir Dinge im Augen und den neuronalen Strukturen in unse-
Traum? Sehen wir einen Baum auf einem Bild rem Gehirn statt, in denen sich unser subjektiv
wirklich, obwohl sich dort überhaupt kein Baum empfundenes Bewusstsein abspielt.
befindet, sondern eine Ansammlung von Farb- Zum Sehen gehören Rückkopplungsschlei-
tupfern? Oder sehen wir ein Modell auf einem fen. Es ist viel eher ein Teil des Denkens und des
Computerbildschirm? Ein Teilchen in einem Bewusstseins als ein isolierter Vorgang. Man
Elektronenmikroskop? Sehen wir den Kommis- muss sich frei machen von der rein mechanisti-
sar, wenn wir uns beim abendlichen Fernsehen schen Vorstellung, dass eine vom menschlichen
einen Krimi anschauen? Seltsame Fragen, sicher, Bewusstsein unabhängige materielle Außenwelt
aber durchaus wichtig für unsere Erkenntnisse über unser Auge wie durch die Linse eines Fo-
über die Welt. toapparats auf eine Art Leinwand im Gehirn
Normales, direktes Sehen (des Menschen) projiziert wird. Dieses Modell trägt wenig zum
hat tatsächlich erst einmal mit Licht zu tun. Verständnis der Wahrnehmung bei, es greift aus-
Man kann folgenden Ablauf notieren: schließlich für den dioptrischen Apparat, jenen
Teil des Auges, der nach dem klassischen Prinzip
1 Eine Lichtquelle sendet Licht aus. der Strahlenoptik funktioniert. Im Gehirn gibt es
aber keinen Homunculus, der eine Projektion als
2 Das Licht interagiert mit einem Objekt. unabhängiger Beobachter, als Bewusstsein unab-
hängig vom Gehirn, betrachten könnte.
2-5 3 Verändertes Licht fällt vom Objekt ins Sehr instruktiv ist es auch, sich klar zu ma-
Wahrnehmung. Die Wahr- Auge. chen, wie stark die von der materiellen Au-
nehmung unserer materi-
ellen Umwelt beruht nicht
ßenwelt einströmende Datenflut gefiltert und
auf einer Einbahnstraße 4 Das Auge erzeugt ein Bild des Objekts auf verdichtet wird, bevor sie in unser Bewusstsein
der Abstraktion von den der Netzhaut (Retina). gelangt. Unsere Augen sind in der Lage, von der
Sinnen ins Bewusstsein.
schwer abzuschätzenden Gesamtinformation,
Vielmehr werden alle
Wahrnehmungen auf 5 Die Retina wandelt das Bild in Nervensig- die in unserer unmittelbaren materiellen Um-
mehreren Ebenen von Er- nale um. welt auf unsere Netzhaut (Retina) einströmt,
wartungen und Kontext-
etwa 10 Milliarden Bits pro Sekunde über die
information gefiltert und
verändert. Sehzellen (Zapfen für Farbsehen und Stäbchen
für Schwarzweißsehen) aufzunehmen. Die Re-
tina ist evolutionär aus einer Ausstülpung des
Gehirns entstanden. Bereits in der Retina sorgt
eine komplexe Verschaltung der Signale dafür,
dass nach der Vorverarbeitung nur noch 6 Mil-
lionen Bits pro Sekunde, also weniger als ein
Tausendstel, über den Sehnerv transportiert
werden müssen. Über verschiedene Schaltstati-
onen (Chiasma, Corpus geniculatum laterale)
erfolgt auf dem Weg ins primäre Sehzentrum
(Area 17 am hinteren Gehirnpol) eine weitere
© 2011 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
Erde, Wasser, Luft und Feuer
bedeutende Kompression, so dass dort nur noch „Papst“ der Künstlichen Intelligenz, MARVIN
ca. 10 000 Bits pro Sekunde ankommen. Doch MINSKY, in seinem Buch „Mentropolis“ viel-
bis zur bewussten Wahrnehmung im Frontalhirn fach hingewiesen, nicht als einheitliche Instanz
wird heftig weiter reduziert. Psychologen schät- vorstellen, sondern eher als eine große Menge
zen, dass gerade noch etwa 100 Bits pro Sekunde miteinander interagierender Prozesse. Diese sind
in unser Bewusstsein gelangen. Das entspricht im Gehirn repräsentiert durch ineinandergrei-
einer phantastischen Informationsverdichtung fende neuronale Netzwerke (cell assemblies), die
um den Faktor 100 Millionen. beständig mit der Verarbeitung und Bewertung
2-6
Neuere Untersuchungsmethoden, mit denen der vorliegenden alten und neuen Informationen Welt und Gehirn. Die
die Intensität der Gehirntätigkeit erfasst werden beschäftigt sind. Informationsfülle der Welt
kann, belegen, dass die Erinnerung an bestimmte Es liegen keine Erkenntnisse vor, die es nahe (hier am Beispiel visueller
Informationen) wird durch
Eindrücke im Wesentlichen dieselben Gehirnre- legen würden, dass es irgendwelche grundsätz- unsere Sinne um Faktoren
gionen aktiviert wie die direkte Wahrnehmung. lichen Unterschiede bei der neuronalen Verar- r der Größenordnung 1 zu
Auch wird diese Wahrnehmung keineswegs beitung auf unterschiedlichen Abstraktionsni- 100 Millionen reduziert.
Die verbleibende Informa-
nur von den momentan einlaufenden Informa- veaus gibt. So scheinen einfachere Netzwerke tion dient dem ständigen
tionen bestimmt, sondern mindestens ebenso für die Verschaltung der Ausgangsinformation Abgleich eines internen
stark durch die aktuellen internen Zustände. verschiedener Sehzellen zur Kantenerkennung Weltmodells mit der wahr-
genommenen Umwelt.
Erinnerung, Absichten, psychischer und physi- verantwortlich zu sein, komplexere Versionen
scher Zustand beeinflussen das Gesehene durch sind vielleicht für die Erkennung eines roten
Rückkopplungen von Gehirnzentren höherer Balls, einer Rose oder eines Gesichts zuständig
Abstraktionsebene auf Teile des Sehsystems, und noch komplexere bilden vielleicht die in-
die der physischen Außenwelt in der Verarbei- terne Repräsentation einer Idee oder eines Vor-
tungskaskade näher stehen. Je weiter wir die habens. Komplexität muss in diesem Fall nicht
eingehende visuelle Information in ihrem Kon- notwendigerweise mit der Anzahl der Neuronen
zentrations- und Abstraktionsweg vom Auge korrelieren, die ein solches Netzwerk bilden. Es
bis ins Gehirn und Bewusstsein verfolgen, desto kann sich ebenso gut auf die komplexe Abstrak-
größer wird dieser „subjektive“ Anteil an der tionsebene beziehen, welche die Eingangsinfor-
Wahrnehmung. mation liefert (obwohl die Vermutung einer auch
So kann es passieren, dass wir ein gesuchtes zahlenmäßig komplexeren Struktur nahe liegt).
Objekt (etwa eine Zuckerdose auf dem Tisch) Wie kann das dünne Informationsrinnsal,
scheinbar nicht sehen können, obwohl wir di- das uns aus der Umwelt erreicht, genügen, um
rekt davor stehen – ganz einfach deshalb, weil die von uns empfundene Vielfalt der Welt und
sie vielleicht aus Porzellan besteht und wir eine des Erlebens zu generieren?
Dose aus Edelstahl erwartet hatten. Wie weit Offensichtlich ist unsere subjektive Wahrneh-
diese sogenannte Unaufmerksamkeitsblindheit mung nicht unmittelbar von den aktuell aufge-
gehen kann, wurde auch eindrücklich durch Ex- nommenen Informationen abhängig. Vielmehr
perimente gezeigt, in denen mit einer Beobach- scheint es so zu sein, dass wir über ein detaillier-
r
tungsaufgabe beschäftigte Betrachter eines Base- tes internes Weltbild verfügen, das sich haupt-
ballspieles nicht einmal einen Menschen bemerk- sächlich auf sich selbst bezieht. Fortwährend
ten, der in einem Gorillakostüm quer über das wird sein Zustand auf innere Konsistenz geprüft,
Spielfeld ging. Offenbar gibt es keine bewusste unser Gehirn ordnet und berechnet wahrschein-
Wahrnehmung ohne Aufmerksamkeit. Und je liche Zukunftsszenarien als Vorbereitung auf
unwahrscheinlicher ein Objekt ist, je weiter weg mögliche hereinkommende Informationen. Diese
vom Fokus unserer Aufmerksamkeit, desto eher Innenwelt ist nur schwach an die Außenwelt
wird es überhaupt nicht wahrgenommen. gekoppelt. Die wenige uns erreichende Infor-
Demnach wäre der Begriff „Sehen” durch mation dient dazu, den notwendigen Abgleich
die obige Aufzählung der Schritte von der Licht- durchzuführen, die Synchronisation zwischen
quelle zum Bewusstsein viel zu eng gefasst. We- der Welt und dem Weltmodell sicherzustellen.
sentlich am „Sehen” ist nicht die Unmittelbar- Diese Sichtweise wird auch von neueren Befun-
keit des Vorgangs, ganz im Gegenteil umfasst er den gestützt, auf die MARCUS E. RAICHLE auf Ba-
sogar mehrere relativ unabhängige Vorgänge. sis von PET- und fMRT-Scans hingewiesen hat,
Das Bewusstsein sollte man sich, darauf hat der nämlich dass unser Gehirn selbst ohne bewusste
21
KAPITEL 2 Wahrnehmung
22
Erde, Wasser, Luft und Feuer
sächlich einmal eine Wechselwirkung zum ge- terschied zwischen Körperoberfläche und dem
sehenen materiellen Objekt erlebt hat. Sehen ist angefassten Gegenstand. Beispielsweise kommt
Rüschlikon gelang, das erste Rastertunnelmikro- zwischen Haut und dem Gegenstand ab, aber
skop zu entwickeln. Mit der Weiterentwicklung auch davon, wie schnell Wärmeenergie vom
zum technisch viel einfacheren Atomkraftmi- Körper ab oder ihm zufließt, das heißt von
kroskop (AFM: atomic force microscope) 1985, dessen Wärmeleitfähigkeit. Bei Gegenständen
heraus, wenn sie etwa durch Nervenstörungen wie schichten. Sie haben einen Messbereich von
bei Lepraerkrankungen gestört sind. Andauernde 30 – 48 °C und reagieren deutlich langsamer als
Verletzungen sind die unweigerliche Folge. Blinde die Kälterezeptoren.
Menschen machen sich sogar ein inneres „Bild“
von Gegenständen allein durch den Tastsinn, ganz Direkter Kontakt – Mechanorezeptoren 2-9
ähnlich wie moderne Atomkraftmikroskope, wenn- UEM. Ultraschnelle Elek-
gleich auf viel größeren Skalen. Berühren wir ein Objekt, so können wir gröbere tronenmikroskopie (UEM)
Einige Eigenschaften fester oder flüssiger Oberflächenrauhigkeiten sofort wahrnehmen, kombiniert atomare Auf-
lösungen mit Bildfolgen
Materie können wir bei Berührung mit der Haut denn Mechanorezeptoren in unserer Haut wer-
im Femtosekundenbereich
direkt wahrnehmen. den lokal unterschiedlich ansprechen. Hierzu (10-15). Extrem kurze
dienen die in der Lederhaut (Dermis) lokalisier- UV-Pulse erzeugen Einzel-
elektronen, während ein
Heiß oder kalt? – Thermorezeptoren ten Ruffini-Körperchen, die als langsam adap-
synchronisierter IR-Puls die
tierende Dehnungsrezeptoren wirken, sowie die Probe anregt. Damit kön-
Fassen wir einen Stoff an, so ist es zunächst in der tieferen Oberhaut (Epidermis) liegenden nen z. B. Bewegungsab-
die Temperaturempfindung, die uns bewusst Merkel-Zellen. Letztere reagieren bevorzugt auf läufe bei der Faltung von
Biomolekülen oder Umla-
wird. Und zwar nicht die absolute Temperatur, Druckreize durch Eindrücken der Haut in einem gerungen in Kristallgittern
ja nicht einmal unbedingt der Temperaturun- Frequenzbereich 0,3 – 3 Sekunden. dargestellt werden.
23
KAPITEL 2 Wahrnehmung
Spätestens, wenn wir unseren Finger wieder werden von ihnen nicht mehr gemeldet. Hier hel-
zurückziehen, erhalten wir weitere Informati- fen uns übrigens die Rillen auf den Fingerkuppen
onen: Er ist klebrig oder nicht. Klebrigkeit ist sehr. Damit lässt sich sogar eine zufällige Rauig-
eine Qualität, die sich auf Grund der Reaktivität keit von einer zyklisch wechselnden regelmäßi-
von Oberflächen ergibt. Sie wird in der Regel gen Struktur unterscheiden. Selbst Rauigkeiten
durch kurzfristig entstehende schwache chemi- im Bereich einiger tausendstel Millimeter werden
sche Bindungen vermittelt, sogenannte Wasser- dabei erfasst.
stoffbrückenbindungen (ÅMaterialeigenschaft: Doch damit nicht genug. Es gibt in der Un-
klebrig, Seite 219). Nach dem Abheben des terhaut (Subcutis) auch Rezeptoren, die nur auf
Fingers verrät uns eine ggf. einsetzende Tempe- Änderungen der Geschwindigkeit eines Reizes
raturabnahme, dass wir es mit einer leicht ver- reagieren, also auf Beschleunigungen. Diese als
dunstenden Flüssigkeit zu tun haben. Reflexar- Vater-Paccini-Körperchen bekannten Sensoren
tig reiben wir nun die Fingerkuppen aneinander. erkennen besonders leicht Vibrationen. Auch
Damit bestätigen wir eine eventuelle Benetzung solche entstehen natürlich beim Gleiten von Fin-
und können bei leichtem Gleiten Seife oder Öl, gerrillen über unebene Oberflächen. Diese In-
bei mehr Reibung Wasser vermuten. formationen zur taktilen Wahrnehmung werden
Um einen Gegenstand aber noch näher zu über zwei unterschiedliche Systeme (das lemnis-
erfassen, pflegen wir unsere Finger prüfend in kale und das extralemniskale System) über ver-
mehreren Richtungen über ihn hinweg gleiten schiedene Relaisstationen (z. B. Hirnstamm und
zu lassen. Damit offenbart sich gleich eine große Thalamus) an den somatosensorischen Cortex
Menge zusätzlicher Informationen. Ist die Gleit- (der körperfühlenden Großhirnrinde) weiter-
reibung nur wenig oder viel geringer als die geleitet. Wie man sieht, verfügen wir also über
Haftreibung? Ist der Widerstand gegenüber der ein äußerst leistungsfähiges Instrumentarium,
Bewegung konstant, der Körper mithin glatt, um mechanische und manchmal sogar indirekt
2-10 oder wechselt er wie bei Oberflächenrauhigkeit? auch chemische Informationen über berührte
Molekulare Erkennung.
Molekulare Erkennung
Dazu besitzen wir in unserer Haut nicht nur die Stoffe zu erschließen.
ist der wohl wichtigste, erwähnten langsamen Druckrezeptoren, sondern
allen Lebensprozessen zu- insbesondere in den Fingerkuppen sogenannte
grunde liegende Vorgang.
Chemiker versuchen, die
Meissner-Körperchen, die als Geschwindigkeits- Riechen und Schmecken
hochspezifische Erken- rezeptoren bezeichnet werden und vielleicht die
nung von Molekülform wichtigste Komponente unseres Tastsinns dar- Obwohl das chemische Analyselabor in unserer
und Verteilung der Ober- stellen. Sie reagieren nur auf Druckreize, die Nase und Zunge bekanntermaßen nicht die Fä-
flächenladungen in soge-
nannten Molecularly Im- sich mit Frequenzen von 2 – 20 Hz ändern wie higkeiten einer Hundenase erreicht, verfügt es
printed Polymers (MIPs) sie typischerweise beim Gleiten von Haut über doch über etwa 350 – 400 unterschiedliche Re-
nachzuahmen. Feststoffe auftreten. Langsamere Veränderungen zeptoren zur Unterscheidung von Gerüchen und
dutzende unterschiedlicher Geschmacksrezepto-
ren. Wie funktionieren diese beiden chemischen
Nahsinne, die sich bei Säugetieren gegenseitig
beeinflussen und teilweise in sich überschneiden-
den Hirnregionen ausgewertet werden?
24
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Typen von Geruchsrezeptoren in den Zellmem- können übrigens auch völlig unbekannte Stoffe
branen des Riechepithels. Abhängig von ihrer riechen, denn die Wahrscheinlichkeit ist groß,
äußeren Form und der chemischen Struktur, die dass sie zumindest in gewissem Maße mit ei-
sich in unterschiedlichen elektrischen Ladungs- nigen der zahlreichen Rezeptoren interagieren.
verteilungen an der Moleküloberfläche äußert, Über assoziatives Lernen gelingt es den entspre-
passen diese Schlüssel unterschiedlich gut zu chenden Teilen der sensorischen Gehirnrinde
den Schlössern der Rezeptorproteine (Å Abbil- sogar, viele Substanzen zu klassifizieren. Einige
dung 2-11). Die Schlösser sind komplex gefal- der wahrgenommenen Gruppierungen besitzen
tete Proteinmoleküle, die ihre Faltung bei der übrigens auch klare Entsprechungen im Mole-
Interaktion mit einem passenden Stoff ändern külbau. So haben viele Alkohole eine ähnliche
25
KAPITEL 2 Wahrnehmung
giftigen und ungenießbaren Stoffen warnen, denn Was können wir prinzipiell verstehen?
sehr viele Gifte schmecken bitter. Da diese Sub-
stanzen aber teilweise chemisch sehr unterschied- Wir haben in diesem Kapitel unsere Wahrneh-
lich aufgebaut sind, ist es nicht verwunderlich, mung der materiellen Welt untersucht. Zusam-
dass mehrere Rezeptortypen zu ihrer Erkennung menfassend kann man sagen, dass die Antwort
notwendig sind. auf die im Einleitungstext aufgeworfene Frage, ob
Eine eigene Kategorie darüber hinaus bil- wir das alles wirklich verstehen können, bis zu ei-
det „umami“ (japanisch, Fleisch), der typische nem gewissen Maße „ja“ lautet. Unsere Fähigkeit,
würzig-herzhafte Geschmack von Glutamat. in Modellen zu denken, ist ausgesprochen ausge-
Als Abbauprodukt von Proteinen ist er u. a. in prägt und vermutlich angeboren. Trotzdem lassen
Fleischspeisen ausgeprägt. Das Vorhandensein sich Grenzen erahnen. Beispielsweise mutet uns
weiterer grundsätzlicher Geschmacksrichtungen die grundlegendste aller heutigen physikalischen
wie Calcium„geschmack“ und eventuell Fettge- Theorien, die Quantentheorie, enorm viel zu. So
schmack ist nicht gesichert. viel, dass sich auf Basis des quantenmechanischen
Atommodells wohl niemand ein Atom tatsächlich
vorstellen kann, ohne automatisch daneben an
Hören trivialere Modelle wie kleine Kugeln zu denken.
Kurze Wellenlängen ent- So ist zu erklären, dass sich Physik- und Che-
sprechen hohen Tönen,
lange tiefen Tönen. Zunächst mag es verwundern, das Gehör mit mielehrer sehr schwer tun, ihren Schülern z. B.
unterschiedlicher Materie in Verbindung zu das intuitiv eingängige aber im Grunde viel zu
Der (junge) Mensch kann bringen. Bei näherer Überlegung kann uns aber wenig erklärende Bohrsche Atommodell wieder
Frequenzen etwa zwi-
schen 16 und 16 000 Hz auch das Gehör einiges über die Stoffe verraten. auszutreiben und durch das wellenmechanische
(Schwingungen pro Se- Wenn Sie wissen wollten, woraus ein unbekann- Modell der Quantentheorie zu ersetzen.
kunde) wahrnehmen. ter Gegenstand besteht, haben Sie sicherlich Ähnlich ergeht es uns in kosmischen Dimen-
schon instinktiv mit etwas Hartem dagegen sionen. In beiden Fällen geht unsere mathema-
geklopft. Der Klang, den man hört, ist natür- tische Fähigkeit zur Modellbildung weit über
lich zum Teil von der äußeren Form abhängig. das intuitiv Vorstellbare hinaus. In seinem 1967
Trotzdem: Klopfen auf massives Holz klingt erschienenen Buch Vom Wesen physikalischer
definitiv anders als auf Glas. Metalle, Kunst- Gesetze schrieb der geniale Physiker und Mit-
stoffe, Stein – alles können wir am Klang meist entwickler der Quantenelektrodynamik RICHARD
eindeutig erkennen. Wird ein Körper angesto- FEYNMAN (1918 – 1988):
ßen, so schwingen seine Bausteine in komplexer
Weise und er gibt ein ganzes Spektrum von „Es gab eine Zeit, als Zeitungen sagten, nur
Schallwellen ab. Die Mischung unterschiedli- zwölf Menschen verstünden die Relativitäts-
theorie. Ich glaube nicht, dass es jemals eine
cher Tonhöhen erweist sich als typisch für das solche Zeit gab. Auf der anderen Seite denke
Material. Wir lernen aus Erfahrung, für diese ich, es ist sicher zu sagen, niemand versteht
Materialien ähnliche neuronale Filter zu bilden, Quantenmechanik.“
wie sie für die Erkennung von Gerüchen exis-
© 2011 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
tieren. Ähnlich wie man ein Musikinstrument So muss man sich natürlich die Frage stellen, ob
in der Regel auch in Räumen mit verschiedener es Bereiche gibt, bei denen nicht unsere Sinne die
Form und Akustik wiedererkennt, kann man Limitierungen zum Weltverständnis darstellen,
auch das Grundmaterial unterschiedlich ge- sondern die Fähigkeit unseres neuronalen Systems,
formter Körper meist heraushören. des Gehirns, ein Modell der Realität zu erfassen.
Wir wollen es an dieser Stelle nicht weiter ver- Möglicherweise müssen wir hier auf die weiter
2-12
Cochlea. Durch den klei- tiefen, aber es sei angemerkt, dass Materialien aus fortschreitende Evolution hoffen, oder darauf,
ner werdenden Radius der härteren Substanzen im allgemeinen höhere Töne dass wir Maschinen mit Möglichkeiten erschaffen
Gehörschnecke (Cochlea) können, die über unser menschliches Verständ-
produzieren, während weichere Stoffe wie Holz
des Innenohrs erfolgt die
Aufspaltung der Töne in oder Gummi vorwiegend tiefe Töne erzeugen. In nis hinausgehen. Dies ist vielleicht gar nicht so
ein Frequenzspektrum. Kapitel 4 werden wir sehen, dass die Härte eines unmöglich, denn schließlich kann auch ein nur
Gehörzellen registrieren Stoffes eng mit der Festigkeit von Bindungen durchschnittlich Schach spielender Programmierer
die Schallschwingungen
durch mechanische Rei- zwischen den atomaren Bestandteilen der Materie ohne weiteres ein Schachprogramm erstellen, das
zung feiner Fortsätze. zusammen hängt (Å Härte, Seite 201). ihn selbst schlägt.
26
KAPITEL 3
Historischer Überblick
Vom Mythos zum Logos – Die Antike
Spätantike und Mittelalter
Wuxing – Elemente im chinesischen Denken
Der Advent der modernen Naturwissenschaft
Materie als Masse
Von der Alchemie zur Chemie
Die Entwicklung der modernen Chemie
Feld und Materie
Der Äther
Wärme und Materie
Die Struktur des Atoms
Umbruch: Die Quantentheorie
© 2011 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
Zum dritten Kapitel
Materie ist kein Begriff der unmittelbaren Anschauung wie eine Fülle praktisch verwertbarer Fakten über die Welt, eine
Fuß oder Tisch. Es ist ein abstrakter Begriff, der ein Konzept Tatsache, die dazu beitrug, dass Europa lange Zeit die Welt-
benennt, das wir Menschen über die Natur entwickelt haben. geschichte dominierte.
Es ist ein Konzept über den Aufbau der Welt. Seit der Entdeckung der Atome und der Entwicklung der
Konzepte fallen nicht vom Himmel. Sie entwickeln sich Quantentheorien verliert der Begriff Materie wieder seine
mit der Kultur, in der sie entstanden sind. Und oft wandeln Bodenständigkeit. Quanten- und Stringtheorien bringen uns
sich Konzepte grundlegend, obwohl ihre Begriffe beibehal- vielleicht der Antwort auf die Frage näher, was die Welt im
ten werden. Der Begriff Materie ist von dieser Art. Was wir Innersten zusammenhält, sie führen aber gleichzeitig dazu,
heute unter Materie verstehen, ist kaum vergleichbar mit dass uns die Bedeutung solcher Begriffe wie Materie entglei-
dem Verständnis früherer Generationen. Was geblieben ist, tet. Was man in modernen Theorien damit assoziieren kann,
ist der Kern: Materie weist auf etwas Ursprüngliches, Zu- erinnert wieder an die Begriffe aus der Antike, an das Apeiron
grundeliegendes hin. ANAXIMANDERs oder das Dao der chinesischen Philosophie.
Die Wurzel des Wortes Materie ist die Mutter, der Ur- Der Weg zur Transzendenz des Materiebegriffs ist Thema des
sprung menschlichen Lebens. Entsprechend muss auch die letzten Abschnitts dieses Kapitels.
Geschichte der Materie mit den Vorstellungen der Menschen
über den Ursprung des Kosmos beginnen, mit den Schöp-
fungsgeschichten oder Kosmogonien.
Der Übergang von mythisch geprägten Schöpfungsge-
schichten zu einem rationalen Weltbild markiert den Weg
vom Mythos zum Logos; einen Weg, den im frühen ersten
Jahrtausend vor Christus die Hochkulturen in Asien ebenso
gingen wie die Kulturen im Mittelmeerraum. Nicht der Wille
der Götter prägt die Struktur der Welt, sondern rational
erfassbare Prinzipien.
Ein rationales Weltbild ist noch keine naturwissenschaft-
liche Theorie. Was fehlt, ist die methodische Verbindung zur
Beobachtung: Sind Aussagen überprüfbar, wenn möglich
messbar? Anfänge naturwissenschaftlicher Forschung gab
es in allen Hochkulturen, aber nur im christlichen Europa
entwickelte sie sich seit GALILEI zur dominierenden Methode
der Naturerklärung. Wir zeigen diesen Weg anhand der Ent-
wicklung des Materiebegriffs in der abendländischen Chemie
und Physik auf.
Mit der Verbreitung des naturwissenschaftlichen Weltbil-
des wandelte sich der Begriff der Materie. Er wurde in mehr-
facher Hinsicht reduziert: In der Physik war Materie lange
Zeit lediglich der Träger von Volumen und Masse, in der
Chemie stand die Umwandlung von Stoffen im Vordergrund.
Durch die von RENE DESCARTES (1596 – 1605) formulierte
Trennung von Geist (lat. res cogitans) und Materie (lat. res
extensa) wurde Materie gewissermaßen bodenständig. Wie
der Umfang dieses Buches zeigt, war diese Bodenständigkeit
außerordentlich fruchtbar für die Entwicklung von Wissen-
schaft und Technik. Das materialistische Weltbild lieferte
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Historischer Überblick
29
KAPITEL 3 Historischer Überblick
3-1
Ishtartor. Im Pergamon- Schöpfung aus den Ozeanen –
Museum in Berlin steht Tiâmat und Apsu
eine Rekonstruktion des
Ishtar-Tors
T des alten Ba-
bylon. Es zeigt Marduk als Nach dem babylonischen Lehrgedicht Enuma
Wesen mit dem Kopf einer elis (ca. 2000 – 600 v. Chr.) tötet der babylo- 3-2
Schlange, dem Schwanz nische Gott Marduk die Urgöttin Tiâmat und Die Zerstückelung. Sie steht in der Alchemie für den Rei-
eines Skorpions, den Kral- nigungsprozess der Materie. Diese Darstellung stammt
len eines Adlers und den schafft aus ihrem Leib Erde, Himmel, Götter aus dem alchemistischen Bildband Splendor Solis aus dem
Füßen eines Löwen. und Menschen. Tiâmat bedeutet Salzwasser- 16. Jahrhundert.
30
Erde, Wasser, Luft und Feuer
ismus zu einem rationalen Naturverständnis oberfläche und das gelegentliche Stampfen der
– ein Weg „vom Mythos zum Logos“. An die Erde war verantwortlich für Erdbeben. THALES
Stelle magischer Kräfte und göttlichen Wirkens war jedoch auch noch im Hylozoismus verwur-
treten Prinzipien, deren Geltungsanspruch sich zelt. Von ARISTOTELES ist der Ausspruch des
auf rationale Argumente gründet. Es sollte aller- THALES überliefert, dass „alles voller Götter“ sei.
dings noch viele Jahrhunderte dauern, ehe es zur Die Vorstellung des Urstoffs „Wasser“ ist daher 3-5
Thales von Milet. Der
Formulierung von Naturgesetzen im modernen nicht so zu verstehen, wie wir heute den Begriff Philosoph lebte von
Sinne kam. verstehen: als einen Grundbaustein der materi- 624 – 546 v. Chr.
31
KAPITEL 3 Historischer Überblick
ellen Welt. Laut ARISTOTELES verstand THALES auch in den Jahreszeiten erkennbar: Im Sommer
die Rolle des Wassers mythisch: Es verweist auf herrscht das Warme/Trockene vor, im Winter das
den griechischen Gott Okeanos und auf den Kalte/Feuchte. Das Apeiron sorgt für Gleich-
Fluss Styx, der das Totenreich vom Reich der gewicht und lenkt dabei die Entwicklung der
Lebenden trennte. Welt, da alle Prinzipien und Eigenschaften Teil
Eine Generation später setzte ANAXIMENES des Apeiron sind.
(585 – 526 v. Chr.) die milesische Tradition fort. Mit PARMENIDES (ca. 515 – 445 v. Chr.) tritt
Für ihn ist die Luft das arché, der göttliche Ur- ein Theoretiker auf den Plan, der im Gegensatz
stoff, und gleichzeitig als pneuma der belebende zu den Miletern die Wahrnehmung für die
Atem, die Seele. Die Elemente der Welt entstehen Wahrheitsfindung als völlig ungeeignet ansah:
durch Verdünnung bzw. Verdickung der Luft. Nur das Denken kann uns die Wahrheit zeigen,
Dabei entsteht durch Verdünnung das Feuer, Wahrnehmung ist Irrtum und Schein. Das
durch Verdickung das Wasser und durch stetig Sein nämlich ist unveränderlich, schon immer
weitere Verdickung Erde und Stein. gewesen und unvergänglich, während unsere
Etwa zwei Generationen später schuf EM- Wahrnehmung vor allem das sich Bewegende
PEDOKLES eine vereinheitlichte Elementelehre und Veränderliche registriert. Wäre das Sein aber
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
mit den vier Elementen Erde, Wasser, Feuer, veränderlich oder könnte es vergehen, so gäbe es
Luft. Wir werden uns noch eingehender damit ja etwas anderes Seiendes, zu dem hin sich das
beschäftigen. Zuvor werden wir zwei Philoso- Sein verändert oder wohin es vergeht. Das wäre
phen kennenlernen, die einen abstrakteren Weg jedoch ein Widerspruch. Nach PARMENIDES
gingen: ANAXIMANDER und PARMENIDES. kann es auch nicht Nichts geben, da Nichts
3-6 nicht denkbar ist. Damit kann es natürlich auch
Anaximander. Detailan- Grenzenloses und Unvergängliches – keinen leeren Raum geben, kein Vakuum. Gäbe
sicht aus „Die Schule von es ein Vakuum, so würde ja etwas anderes als
Athen“, RAFFAEL SANTI, Anaximander und Parmenides
1510/11, Stanzen des Va- das Sein existieren, es hätte eine Grenze. Und
tikans, Rom. ANAXIMANDER (ca. 611 – 547 v. Chr.) war ein natürlich: Wenn kein Vakuum existiert, kann
Zeitgenosse des THALES und ein bekannter Astro- sich auch nichts bewegen oder verändern, da
nom, der die erste griechische Landkarte sowie hierfür kein Platz ist. Bekannter als PARMENIDES
einen Himmelsglobus schuf. Anstelle der die selbst ist heute dessen Schüler ZENON von Elea.
Welt erschaffenden Götter oder anstelle des Was- Von ihm stammt das Paradox von Achilles und
sers trat bei ANAXIMANDER eine abstrakte Sub- der Schildkröte. Damit sollte nachgewiesen
stanz als Ursache der Welt in Erscheinung, das werden, dass Bewegung tatsächlich Illusion ist.
Apeiron. Apeiron, das Grenzenlose, ist zeitlos, PARMENIDES’ Lehre vom unvergänglichen
grenzenlos, hat keine Eigenschaften, durch die es S ein beeinflusste die nachfol g enden Phil o -
sich von anderen Dingen unterscheiden läßt, es s o p hen wesentlich. Obwohl weni g e seine
ist der Stoff schlechthin, aus dem Welt, Zeit und A uffassung über die Wahrnehmung teilten,
Raum und die Elemente erst entstehen können. k o nn te n s i e das We r de n ni c h t m e hr du r c h
Da das Apeiron alle Elemente und Eigenschaften ein Entstehen aus dem Nichts erklären. Erst
dieser Welt in sich vereinigt, einschließlich des die Vorstellung eines allmächtigen Gottes in
Prinzips der Bewegung, konnte Struktur durch Judentum, Christentum und Islam lieferte
Ausdifferenzierung der Prinzipien „das Warme/ einen akzeptablen Rahmen für diese creatio
Trockene“ und „das Kalte/Feuchte“ entstehen. ex nihilo. Die Vorstellung, dass kein Vakuum
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
ANAXIMANDER ging davon aus, dass durch die existieren könne, blieb aber bis in die Neuzeit
Bewegung eine Trennung zwischen dem Warmen hinein vorherrschend. Interessanterweise ist
und dem Kalten entstand, die zur Gestaltung des d ie Struktur des (anscheinend g ar nicht so
Kosmos führte. Die Erde bildete als tortenähn- leeren) Vakuums bis heute ein aktuelles For-
licher Zylinder das Zentrum des Kosmos und schungsthema (ÅKapitel 10).
3-7
Parmenides von Elea. De- wurde von glühenden Feuerrädern umkreist.
tailansicht aus „Die Schule Durch die Speichenöffnungen der Räder konnte
von Athen“, RAFFAEL SANTI, man den feurigen Mantel erkennen, von der
1510/11, Stanzen des
Vatikans, Rom. Sie soll Erde aus erschienen diese Löcher als Sterne. Die
PARMENIDES zeigen. wechselnde Dominanz von Warm und Kalt ist
32
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Die Vierheit als Ordnungsschema spielte in Antike und Mit- Auch die Medizin der Hildegard von Bingen, Kneipp-
telalter eine große Rolle. Den vier Elementen wurden die vier und Entschlackungskuren basieren letzten Endes auf
Qualitäten warm/kalt, trocken/feucht und die vier Körpersäfte der Vorstellung, dass Krankheiten durch Störungen
Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle zugeordnet. Die- im Gleichgewicht der Säfte (Dyskrasie) entstehen. Der
sen wiederum entsprachen die vier Charaktere Sanguiniker Aderlass diente dazu, schädlichen Blutüberschuss in
(von lateinisch sanguis, Blut), Phlegmatiker (von griechisch einem Körperteil zu entfernen. Auch der Speiseplan wurde
phlegma, Schleim), Choleriker (von griechisch chole, Galle) diesem Ordnungsschema angepasst. Bei einer Störung des
und Melancholiker (schwarze Galle aus griechisch mela, Säftegleichgewichts oder je nach Temperament wurden die
schwarz und chole). Auch die vier Jahres- und Tageszeiten, Speisen mit unterschiedlichen Schwerpunkten zubereitet.
sowie die menschlichen Lebensphasen wurden diesen Kate- Entsprechende Rezepte haben sich bis heute erhalten: eine
gorien zugeordnet. Hühnerbrühe soll aufgrund des kalt-trockenen Charakters des
Die Viersäftelehre oder Humoralpathologie (von lat. Huhns bei fiebrigen Erkältungen helfen. Die Vier-Elemente-
humores, Säfte) geht auf die griechischen Ärzte HIPPOKRATES Lehre fand auf die gleiche Weise Eingang in die Astrologie:
(ca. 460 – 370 v. Chr.) und GALEN (ca. 129 – 199 n. Chr.) Erde, Wasser, Feuer, Luft finden sich wieder in der Einteilung
zurück und prägte die Medizin bis ins 19. Jahrhundert. der Tierkreiszeichen in Erd-, Wasser-, Feuer-, und Luftzeichen.
33
KAPITEL 3 Historischer Überblick
Missbildungen, die jedoch nicht lebens- oder Feueratomen, die klein, rund und deshalb sehr
fortpflanzungsfähig sind. Die Seele ist nichts beweglich sind. Sie ist also nicht getrennt vom
anderes als ein bestimmtes Mischungsverhältnis übrigen Sein, es gibt keine Weltseele, die Atom-
der Elemente, das sich auch wieder auflösen theorie ist eine monistische, keine dualistische
kann, sie ist also nicht unsterblich. Theorie. Auch Sinneseindrücke wie Geschmack
und Farbe sind auf die Eigenschaften der Atome
zurückzuführen. So besteht Saures aus scharf-
Leukipp und Demokrit – kantigen Atomen, Süßes aus runden.
die frühen Atomisten
LEUKIPP (Anfang des 5. Jahrhunderts v. Chr.) aus Ideen oder Form?
Milet gilt als Begründer der ersten Atomtheorie,
Platon und Aristoteles
DEMOKRIT (ca. 460 – 370 v. Chr.) aus der thra-
kischen Küstenstadt Abdera nahe dem heuti- Knapp zweihundert Jahre nach ANAXIMANDER, in
gen Dorf Avdír arbeitete sie weiter aus. In ihrer der Blütezeit griechischer Philosophie, lebte der
Atomlehre teilten beide die Ansicht PARMENIDES, Athener PLATON (427 – 347 v. Chr.). Sein politi-
dass das Seiende unvergänglich sein muss. Für sie sches Engagement vor allem in Syrakus bei Kö-
jedoch existierte auch das Nichtseiende in Form nig DIONYSOS endete im Desaster; einmal wurde
des leeren Raums, da nur durch ihn Bewegung PLATON sogar als Sklave verkauft. PLATON war ein
möglich ist. Das Rätsel, wie aus dem unverän- Schüler des legendären SOKRATES und stellte seine
derlichen Seienden Veränderung entsteht, lösten philosophischen Gedanken in Form von Dialogen
sie durch die Einführung von Atomen (griech. zwischen SOKRATES und Zeitgenossen dar. Diese
átomos, unteilbar). Das Seiende besteht demnach Dialoge sind uns erhalten und sie tragen meist den
aus unteilbaren, unvergänglichen Atomen, die Namen des Dialogpartners. PLATON N entwickelt in
sich in Größe, Form, Lage und Anordnung un- diesen Dialogen auch seine Ideenlehre und stellt
terscheiden. Es gibt also verschiedene Arten von im Timaios seine Kosmogonie dar.
Atomen und Atome unterschiedlicher Größe ha- Auch er spricht vom ewig Seienden, die
ben unterschiedliches Gewicht. Das unterschied- wahrnehmbaren Dinge nehmen an diesem Sein
liche Gewicht der Stoffe entsteht auch durch aber lediglich vorübergehend teil, da sie ver-
die unterschiedlichen Hohlräume zwischen den gänglich sind. Das wahre Sein drückt sich aus
Atomen – durch ihre unterschiedliche Dichte, wie durch die Ideen, die wir in den Dingen erken-
man heute sagen würde. nen. Das wahre Sein eines Stuhles ist nicht der
Werden und Vergehen der Dinge erklären Stuhl selbst, sondern die Idee des Stuhl-Seins.
die Atomisten durch das Zusammen- und Aus- Damit gibt PLATON eine Antwort auf die Frage,
einandergehen der Atome. Atome verfügen über wie wir das Wesen von Dingen erkennen. Was
eine ihnen innewohnende Bewegung. Wechsel- ist das Gemeinsame an Stühlen und wie erken-
wirkungen zwischen ihnen kommen dadurch nen wir es? Woher kommt unsere Vorstellung
zustande, dass sie sich je nach Art abstoßen oder des Kreises ohne dass es vollkommene Kreise
aneinander haften. Harte Stoffe bestehen aus gibt? Unser Geist hat an den Ideen teil, die
Atomen, die sich auf Grund ihrer Gestalt fest in- Dinge selbst führen eine Schattenexistenz zwi-
einander verhaken; weiche bestehen aus solchen, schen Sein und Nichtsein. Die Materie, der
die leicht gegeneinander verschiebbar sind. Die Stoff aus dem die Dinge sind, spielt dabei eine
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
Welt entstand laut DEMOKRIT aus einem Wirbel, untergeordnete Rolle. Seine wesentlichste Ei-
der große und kleine Atome voneinander trennte. genschaft ist die Teilbarkeit.
Die großen (also schwereren) sammelten sich in Im Gegensatz zu ANAXIMANDER entsteht die
der „Mitte“ und bildeten die Erde, die kleineren Welt bei PLATON nicht von selbst und besteht
(leichteren) flogen nach außen und bildeten die auch nicht ewig wie bei PARMENIDES. Vor dem
3-9 Sterne. Da Raum und Anzahl der Atome unend- Anfang befanden sich die Ursubstanzen der
Demokrit. Skulpur von lich sind, muss es auch unendlich viele Welten Welt in einem wirren Durcheinander, in einer
LÉON-ALEXANDRE DELHOMME geben, die entstehen und vergehen. an „keine Regel gebundenen Bewegung“, in
(1841 – 1895) vor dem
Musée des beaux-arts in Die Atomisten vertraten auch eine materi- einem Chaos. Ein Weltbaumeister, ein Demiurg
Lyon. alistische Theorie der Seele: Diese besteht aus (griech. demiourgós, Schöpfer, Handwerker)
34
Erde, Wasser, Luft und Feuer
musste die Welt aus diesem Chaos erschaffen. zwischen den Basisdreiecken ineinander über-
Sie ist ein Ausdruck göttlicher Vernunft und führbar:
göttlicher Ideen. Die Menschen können die
göttlichen Ideen hinter der sinnlichen Welt er- 1 Wasser → 1 Feuer + 2 Luft: 120 Δ → 24 Δ + 2 · 48 Δ
1 Luft → 2 Feuer: 48 Δ → 2 · 24 Δ
kennen, da sie mit Vernunft ausgestattet sind
2 1/2 Luft → 1 Wasser: 2 1/2 · 48 Δ → 120 Δ
und die Welt selbst an diesen Ideen teilhat.
35
KAPITEL 3 Historischer Überblick
Platons Elementarteilchen
das leichteste und das spitzigste Element. Auf den Form bildet er nach PLATON die äußerste
die gleiche Weise entsteht das Oktaeder aus Schale des Kosmos. Seinen zwölf Flächen sind
8 · 6 Dreiecken des Typs 1, d. h. 48 Basisdrei- die zwölf Sternbilder zugeordnet.
nach wie vor aktuell. Deutlich wird dies unter sel Chalkidiki. Sein Vater war Arzt am Hof des
anderem bei der Suche nach einer physikali- makedonischen Königs und ARISTOTELES wurde
schen „Theorie für alles“, der TOE (Theory of Lehrer des jungen ALEXANDER DES GROSSEN. Er
Everything). Der Physiker STEVEN WEINBERG war von 367 bis 347 v. Chr. Schüler und Lehrer
formulierte diese Suche so: an PLATONs Akademie in Athen, 335 gründete
er eine eigene Schule, das Lykeion. Das Lykeion
„.. das ist unser Bestreben: nach einem einfachen wurde auch bekannt als Peripatos, nach dem
3-15
Ikosaeder (Wasser). Aus
Satz physikalischer Prinzipien zu suchen, denen griechischen Wort für Wandelhalle oder Spa-
insgesamt 120 Basisdrei- eine größtmögliche Zwangsläufigkeit anhaftet
und von denen alles, was wir über Physik wissen,
ziergang. Es war damals die Gewohnheit der
ecken entsteht ein Ikosa-
eder (Zwanzigflächner). zumindest im Prinzip abgeleitet werden kann.“ Philosophen, in den öffentlichen Gymnasien
im Umhergehen zu lehren.
Eine solche Theorie kann nicht ausschließlich auf
Erfahrung gegründet werden, da sie Phänomene Form und Materie
wie die Entwicklung oder Entstehung des Uni-
© 2011 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
versums erklären muss, die unserer Erfahrung Auch ARISTOTELES ist wie PARMENIDES der Über-
für immer unzugänglich bleiben. Sie muss sich zeugung, dass aus Nichts nichts entstehen und
letzten Endes auf Prinzipien und Schlussregeln etwas, was ist, nicht einfach verschwinden kann.
stützen, die nur mathematisch-logisch begrün- Das Seiende muss ewig währen. Wie ist dann
det werden können, die also zwangsläufig g sind. aber Veränderung, Entstehen und Vergehen zu
Damit sprechen wir mathematischen Sätzen aber erklären? Er kann sich nicht mit der Atomthe-
3-16 im Grunde eine eigene Existenz zu, die außerhalb orie von DEMOKRIT und LEUKIPP anfreunden, da
Hexaeder (Erde). Aus 24
des menschlichen Geistes liegt. Mathematische mit der Einführung von unteilbaren Atomen
rechtwinkeligen Dreiecken
(Typ
T 2) entsteht ein Hexa- Sätze wären nach dieser Sicht der Dinge „a pri- doch lediglich die große Zahl der Naturerschei-
eder (Sechsflächner). ori“ (vor der Erfahrung) gültig. nungen auf eine nicht minder große Zahl an
36
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Atomformen zurückgeführt werde. Auch gibt es sind für ARISTOTELES die einfachsten Substan-
für ihn keinen Grund anzunehmen, dass Materie zen, die aus der materia prima (Ersten Materie)
nicht unbeschränkt teilbar sein sollte. Allerdings hervorgehen. Die materia prima ist selbst nicht
sah er, dass Körper nicht beliebig geteilt werden fassbar, es gibt kein „Stück“ materia prima, da
konnten, ohne wichtige Eigenschaften zu verlie- sie ja keine Form besitzt. Aus den vier Elementen
ren. So konnten Pflanzen oder Tiere oder ihre entstehen in der nächsten Stufe die gleichartigen
37
KAPITEL 3 Historischer Überblick
den Gedanken, zu sagen, beide enthielten des- wurden sie aufgegeben. In der Folgezeit wurden
halb die gleiche Menge an Materie, so wenig, Schulen in anderen Städten des Mittelmeerraums
wie wir heute sagen, ein roter Ferrari enthalte g e g ründet, unter anderem im wichti g sten
die gleiche Menge Rotheit wie ein rotes Hemd. Kulturzentrum dieser Zeit, in Alexandria. Mit
den Eroberungszügen ALEXANDERS ab 334
Die Chemie der Elemente v. Chr. begann eine Zeit des Umbruchs. Die
Eroberungen erweiterten den geistigen Horizont
In der aristotelischen Chemie werden die vier der Griechen und führten zu intensiverem
Elemente durch die Gegensatzpaare warm/kalt Kontakt mit anderen Kulturen. Gleichzeitig
und trocken/feucht charakterisiert. Es handelt bedeutete der Niedergang der griechischen
sich nicht um Eigenschaften, die vom wahr- Stadtstaaten einen Verlust an Sicherheit.
nehmbaren Subjekt abhängig sind, sondern Beides gab unterschiedlichen geistigen Strö-
es sind essenzielle Eigenschaften der Elemente mungen Auftrieb. Es blühte Mystisches wie der
selbst. Nach ARISTOTELES verkörpern die ge- Hermetismus und in der Philosophie entstanden
wählten Gegensatzpaare jeweils das aktive und Lehren wie die Stoa und der Epikureismus, die
das passive Prinzip: Wärme trennt unterschied- das Streben nach innerem Frieden und Gelas-
liche Dinge und Kälte verbindet sie, beide Ei- senheit in den Mittelpunkt stellten. Weder Stoa
genschaften sind also aktiv. Trockenheit und noch Epikureismus hatten als philosophische
Feuchtigkeit sind passiv: Feuchtigkeit bedeutet Schulen nachhaltigen Einfluss, sie beeinflussten
beliebige Formbarkeit (man denke an weichen allerdings spätere naturphilosophische Vorstel-
Ton), Trockenheit bedeutet Abgegrenztheit und lungen über das Wesen der Welt. Auch der Plato-
Starrheit (man denke an trockenes Brot). Alle nismus entwickelte sich weiter zu dem, was man
anderen Gegensätze lassen sich laut ARISTO- heute als Neuplatonismus bezeichnet. Parallel
TELES darauf zurückführen. So ist das Grobe dazu wurde auch die Philosophie des ARISTOTE-
trocken, da es sich nicht in jede Form füllen LES, deren Anhänger Peripatetiker r genannt wurr-
lässt, das Feine feucht, da es sich leicht in jede den, weiterentwickelt. Sie bildete im Mittelalter
Form füllen lässt. das Fundament der Naturphilosophie.
Da sowohl die vier Elemente als auch die
vier Eigenschaften elementar für die Körper Die Welt aus dem Samen – die Stoiker
sind, stellt sich die Frage, wie sie kombiniert
werden können. Für ARISTOTELES war offen- Als Schulgründer der Stoa gilt ZENON VON
sichtlich, dass ein Element weder gleichzeitig KRITION aus Zypern (ca. 333/2 – 262/1 v. Chr.).
warm und kalt noch gleichzeitig trocken und Ihren Namen erhielt sie von Poikile Stoa, einer
feucht sein kann. Daraus und unter Zuhil- bunt bemalten Wandelhalle auf der Agora in
fenahme der offensichtlichen Affinität man- Athen, die von den älteren Stoikern als Schule
cher Eigenschaften und Elemente ergibt sich gewählt wurde.
Trocken Feucht „zwanglos“ das links beschriebe Schema. Die- Zentrales Prinzip der Stoa ist der Logos. Die
Warm Feuer Luft ses Schema war ein zentrales Fundament der menschliche Vernunft ist Teil dieses Logos. Der
Kalt Erde Wasser Chemie der Antike und des Mittelalters. Es Kosmos wird als beseelter Organismus verstan-
wurde erst im 17. Jahrhundert abgelöst durch den und ist ebenfalls dem Werden und Vergehen
einen pragmatisch definierten Elementbegriff: ausgesetzt. Er wird durch zwei Prinzipien regiert:
ein Element ist das, was man (zurzeit) nicht das Tätige und das Leidende (auch im Sinne von
weiter zerlegen kann. „erleiden", passiv sein). Die Materie wird mit
dem Leidenden assoziiert, Logos und Physis mit
dem Tätigen. Logos steht für die den Kosmos
Eine Zeit des Umbruchs lenkende Vernunft und Physis für das künstleri-
sche Feuer, das jeden Organismus entsprechend
Auch nach dem Tod von ARISTOTELES und eines im Samen angelegten Plans entwickelt. Die-
PLATONN bestanden das Lykeion und die Akademie ser Samen, der logoi spermatikoi, bewirkt, dass
weiter. Erst im Zuge des mithridatischen Krieges sich alles Geschehen in der Welt nach dem göttli-
88 – 86 v. Chr. zwischen römischem Reich und chen deterministischen Plan entwickelt. Wie der
dem kleinasiatischen Herrscher MITHRIDATES VI. göttliche Logos den Makrokosmos bestimmt, so
38
Erde, Wasser, Luft und Feuer
leitet die menschliche Vernunft das Denken und 6 Das Ganze ist unendlich.
Handeln des Mikrokosmos Mensch nach gött-
lichem Plan. So ist jedes Lebewesen mit jedem 7 Die Atome sind unendlich an Zahl, und die
anderen durch eine kosmische Sympathie ver- Leere ist unendlich an Ausdehnung.
bunden. Am Anfang gab es nur das künstlerische
Feuer (Physis), es wird in Verbindung mit dem 8 Die Atome von identischer Form sind un-
Vi b r at i o n e n : A to m e l öse n s i c h vo n de n
1 Nichts entsteht aus dem, was nicht ist. Gegenständen ab und treffen auf unsere Sinne.
2 Nichts löst sich auf in das, was nicht ist. Welt als Emanation – der Neuplatonismus
3-19
3 Das Ganze ist immer so gewesen, wie es PLOTIN (204 – 270 n.Chr.) gilt als der Schöpfer des Plotins Enneaden.
jetzt ist, und wird immer so bleiben. Neuplatonismus, seine Arbeiten fußen auf Gedan- Titelblatt der 1580 in Basel
nachgedruckten Enneaden
ken von AMMONIOS SAKKAS (175 – 242 n. Chr.)
in der lateinischen
4 Das Ganze besteht aus den Körpern und der und NUMENIOS VON APAMEIA
P A (Anfang zweites Jahr r- Übersetzung von MARSILIO
Leere. hundert), von denen wenig bekannt ist. FICINO. Die Schriften
Nach PLOTIN geht alles aus dem Einen hervor, PLOTINs wurden von
PORPHYRIOS, einem seiner
5 Es gibt zwei Arten von Körpern, Atome und dem schlechthin Guten. Es ist nicht das Sein oder Schüler, in den Enneaden
Atomzusammensetzungen (die Aggregate). der Geist, sondern steht über diesen. Das Eine zusammengefasst.
39
KAPITEL 3 Historischer Überblick
solange die Sonne existiert, ist der Geist notwen- im Wesentlichen zwischen dem ersten vorchristli-
dig da, weil das Eine da ist. Die Emanationen aus chen und dem fünften nachchristlichen Jahrhun-
dem Einen sind kein göttlicher Schöpfungsakt, dert. Die fiktive Figur stammt aus der Zeit nach
sondern zwangsläufig. Der Gegenpol des Einen der Eroberung Ägyptens durch ALEXANDER (332
ist die Materie. Auch sie ist nur negativ fassbar: v. Chr.) aus der Verschmelzung des ägyptischen
3-20 als Mangel an Gutem und an Form. Sie steht für Gottes Thot und des griechischen Hermes. Seinen
Thot. Der ibisköpfige Thot das Böse schlechthin: für das, dem alles Gute Beinamen Trismegistos erhielt HERMES erst im
galt in Ägypten als Gott abgeht. Der Geist ist die Ursache aller realen 2. Jahrhundert n. Chr.
der Weisheit.
Formen, die aus ihm emanieren. Auch die Welt- In der Naturphilosophie des Abendlandes
seele entspringt aus dem Geist und mit ihr die spielten besonders das Corpus Hermeticum und
Einzelseelen. Für PLOTIN ist die Seele das, was die später entstandene Tabula smaragdina eine
den Menschen ausmacht, seine Form. Der höhere prägende Rolle. Das Corpus Hermeticum ist
Teil der Seele ist mit dem Göttlichen verbunden heute noch in esoterischen Kreisen verbreitet,
und stellt die ewigen Formen dar, der niedere insbesondere wegen des umfassenden Welter-
Teil ist mit dem Körper verbunden und vermag klärungsversuchs, einer Theorie für Alles, sozu-
die realen Formen in der Welt wahrzunehmen. sagen (Å Kasten Tabula smaragdina).
Erkennen ist also Wiedererkennen der ewigen Aufgrund des symbolischen Bezugs zu den
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
Formen, die in uns sind. Elementen und der Anweisung zur Herstellung
Nachfolger PLOTINS verfeinerten die Ema- des „Lichts der ganzen Welt“ wurde die Tabula
nationslehre. Zwischen dem Einen, den Men- später als alchemistisches Rezept zur Herstellung
schen und seinen verschiedenen Vermögen des Steins der Weisen verstanden. Die Alchemie
und den anderen Dingen in der Natur wurden wurde sogar als die hermetische Kunst schlecht-
3-21
noch weitere Emanationsstufen eingefügt. Bei hin, die ars hermetica aufgefasst. Hermetische
Hermes-Merkur. Mittel-
alterliche Darstellung als APHRODISIAS finden wir die Zuordnung dieser Schriften beschreiben ein polares Bild des Kos-
Planet Stufen von Geist und Seele zu den Himmels- mos, in dem vor allem der platonisch-stoizistische
40
Erde, Wasser, Luft und Feuer
41
KAPITEL 3 Historischer Überblick
Schnittstellen zwischen der arabischen Welt und Schöpfer aus dem Nichts, sondern den Ord-
Westeuropa, über die das antike Wissen etwa ab ner der Materie, die er sich als unzerstörbare,
dem 10. Jahrhundert schließlich das Abendland schon immer existierende Atome vorstellte. Er
erreichte. Nach der Eroberung Toledos 1085 entwickelte auch einen abstrakten, an NEWTON
und der Einnahme von Sizilien 1091 wuchs die erinnernden Begriff des Raumes. Im Gegensatz
Zahl der Übersetzungen stark an und erreichte zu ARISTOTELES sah AL-RAZI den Raum als von
im 12. und 13. Jahrhundert ihren Höhepunkt. Körpern unabhängig an. ARISTOTELES hatte statt
GERARD VON CREMONA (1114 – 1187) verdanken des Raumes lediglich den Platz definiert, den ein
wir über 70 Übersetzungen, unter anderem von Körper einnimmt. Ein Platz ohne Körper konnte
EUKLID, PTOLEMÄUS, ARISTOTELES und GALEN. Er nach ARISTOTELES’ Vorstellung nicht existieren
übersetzte auch Werke von IBN SINA (AVICENNA) (da er einem Vakuum gleichkommt). Und wäh-
und des großen Mathematikers AL-CHWARI W ZMI, rend ARISTOTELES Zeit nur in Zusammenhang
von dessen Bezeichnung al-jabr (der Zwang) das mit Bewegung sah, war Zeit für AL-RAZI ein
Wort Algebra stammt und dessen Name für den von der Bewegung unabhängiger Begriff. Wegen
Algorithmus Pate stand. seiner philosophischen Ansichten wurde RHAZES
zu Lebzeiten und danach heftig angefeindet,
weshalb viele seiner philosophischen Schriften
Die islamische Wissenschaft nicht mehr erhalten sind.
AVICENNA entwickelte die neuplatonische
Während des Mittelalters war die islamische Emanationslehre weiter, in dem er die Welt
Wissenschaft dem Abendland weit voraus. Be- als kontinuierliche, notwendige Emanationen
griffe wie Algebra und Sternnamen wie Alde- Gottes betrachtete, anstelle eines willentlichen
baran sind arabischen Ursprungs und Gelehrte Schöpfungsaktes. Die Vorstellung einer kausalen
wie IBN SINA (AVICENNA, 980 – 1037) prägten Welt, in der Gott keine Einflussmöglichkeiten
die Medizin Europas bis zur Neuzeit. IBN SINA mehr besaß, wurde natürlich von vielen Seiten
ist sogar in einem Kirchenfenster des Mailän- angegriffen, unter anderem von den Ash’ariden,
der Doms verewigt. Und während im zehnten einer von ABU AL-HASAN AL-ASHARI (873 – 935)
Jahrhundert die Palastbibliothek der Fatimiden gegründeten theologischen Denkrichtung. Sie
in Kairo etwa 18 000 wissenschaftliche Bände sahen Gott als alleinige Ursache allen Gesche-
verzeichnete, enthielt die Vatikanbibliothek im hens an. Was wir Menschen als kausales Gesetz
15. Jahrhundert insgesamt weniger als 3000 wahrzunehmen glauben, ist permanentes Han-
Schriften. Mit dem Beginn der Neuzeit be- deln Gottes, das dieser jederzeit ändern kann. In
gann das Abendland allerdings aufzuholen, um ihrem Bestreben, die unmittelbare Wirkung Got-
schließlich alle anderen Hochkulturen technisch- tes auf das Geschehen in der Welt zu erklären,
naturwissenschaftlich hinter sich zu lassen. entwickelten die Ash’ariden einen Atomismus,
Eine umfassende Auseinandersetzung mit den der der epikureischen Variante ähnlich ist. Für
Ergebnissen der islamischen Wissenschaft und sie bestand die Welt aus identischen Atomen,
den Gründen ihrer Stagnation würde den Rah- die keine Ausdehnung besaßen und nicht kausal
men dieses Kapitels sprengen. Wir konzentrieren miteinander interagierten. Alle Interaktionen
uns auf ein Thema, das in unserem Kontext be- wurden durch Gott initiiert. Körper entstanden,
sonders relevant ist: den islamischen Atomismus. indem Gott Atome anordnete, aus zwei Ato-
men bildete er ein Linienelement, aus vier die
Gequantelt und dynamisch: kleinste mögliche Fläche und aus acht Atomen
der islamische Atomismus den kleinsten Körper. Zwischen den Atomen
bestand leerer Raum. Um den Argumenten ARIS-
Für den Philosophen, Alchemisten und Chefarzt TOTELES gegen den Atomismus entgegenzutre-
eines Bagdader Hospitals AL-RAZI (lat. Rha- ten, nahmen sie ähnlich wie EPIKUR an, dass
zes, ca. 865 – 923 oder 935) gab es nicht das nicht nur die Materie, sondern auch der Raum
Eine oder nur den einen Gott, sondern fünf und die Zeit diskontinuierlich ist; sie quantelten
universelle Prinzipien: den Schöpfer, die Seele, die Raumzeit, wie man heute sagen würde. Wenn
die Materie, Raum und Zeit. Ganz im Sinne Atome sich bewegten, so sprangen sie von einem
PLATONS sah AL-RAZI im Schöpfer nicht den Ort zum nächsten; unterschiedliche Geschwin-
42
Erde, Wasser, Luft und Feuer
digkeiten entstanden dadurch, dass Atome un- Materie, auch „Erste Materie“ oder materia
terschiedlich lange zwischen Sprüngen verharren prima genannt, ist bei ARISTOTELES abstrakt zu
konnten (die Zeit für den Sprung konnte nicht verstehen, da ja kein reales Ding in der Welt
variieren, da sie gequantelt war). ohne Form existieren kann. Die elementarsten
Der jüdische Philosoph MOSES MAIMONIDES Substanzen sind die vier Elemente, jedes Element
(1135 – 1204) machte auf die Schwächen dieses mit der ihm eigenen Form. Alle anderen Substan-
Ansatzes aufmerksam: Da die Atome eines sich zen sind entweder Verbindungen der Elemente
drehenden Mühlsteins am äußeren Rand eine oder Verbindungen anderer Substanzen.
höhere Geschwindigkeit haben als weiter innen,
müssen die äußeren offenbar länger zwischen Körperliche Form, das Abendmahl und
Sprüngen an einem Ort verharren. Dies müsste quantitas materiae
den Mühlstein auseinanderreißen, da sich innere
und äußere Atome voneinander weg bewegen. ARISTOTELES' Vorstellung einer eigenschaftslo-
Die Atomisten argumentierten, dass die Ver- sen Ersten Materie bereitete seinen Nachfolgern
bindung der Atome untereinander während der einiges Kopfzerbrechen. So war nicht klar, wo-
Drehung aufgelöst würde. Dass man dies nicht hin die Ausgedehntheitt als essenzielle Eigen-
erkenne, läge lediglich an der Unvollkommenheit schaft aller Körper gehört. Ist sie bereits der
unserer Sinne. MAIMONIDES’ Argument ist eine Ersten Materie zu Eigen oder wird sie erst über
Variation eines alten Problems, das im Mittelal- die Form vermittelt? Fragen dieser Art erhiel-
ter unter dem Namen Rota Aristotelis bekannt ten eine gewisse Brisanz durch das christliche
und viel diskutiert wurde. Es galt als ein Argu- Abendmahl. Das dabei gereichte Brot und der
43
KAPITEL 3 Historischer Überblick
war, wie entstand die Form einer Verbindung wirkungen zwischen Substanzen wurden als
aus den Formen der Ausgangsstoffe? Und wie Wechselwirkungen zwischen deren kleinsten Teil-
entstanden nach dem Lösen der Verbindung die chen gedeutet und auch Eigenschaften wurden
Formen der Ausgangsstoffe wieder? minimale Größen zugeordnet – es handelte sich
3-25 Nahm man an, die Formen bleiben erhalten gewissermaßen um eine mittelalterliche Form der
Verbindungen und Form. und nur die Akzidenzien werden abgeschwächt, Quantelung. Die minima-naturalia-Lehre unter-
Die Trennung von Form
und Materie bereitete wie AVICENNA und THOMAS VON AQUIN dach- schied sich sehr wohl von Atomtheorien. Für die
große Schwierigkeiten bei ten, konnte man zwar begründen, warum eine Minimisten behielten Minima alle Eigenschaften
der Erklärung der Natur Verbindung wieder zu trennen war, aber wie der Körper, während in den Vorstellungen der
chemischer Verbindungen.
Es gab unterschiedliche
entstand die neue Form? Wenn andererseits so- Atomisten Atome keine Eigenschaften außer
Ansätze, um zu erklären, wohl Form als auch Akzidenzien abgeschwächt Größe, Gestalt und Bewegung besaßen (ÅTabelle
wie sich die Formen und wurden (AVERROES), war zwar eher nachvoll- 3-26). Mit Ausnahme weniger (u.a. GIORDANO
Akzidenzien (äußere
Eigenschaften) der Aus-
ziehbar, wie eine neue Form entstehen kann, BRUNO) waren die Anhänger von Korpuskular-
gangsstoffe zur neuen gleichzeitig wurde damit aber an der Unverän- theorien zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert
Form und den neuen derlichkeit der Form gerüttelt. Oft wurde die Minimisten und keine Atomisten.
Eigenschaften der Ver-
Abschwächung als reversibler Zwischenzustand
bindung zusammenfügen
und wie es möglich ist, zwischen Potenzialitätt und Aktualitätt der Form Physik und Chemie auf Basis der minima
dass die Ausgangsstoffe betrachtet (ÅMateria prima, die Elemente und naturalia
nach Trennung der Ver- ihre Verbindungen, Seite 37). Am radikalsten
bindung in gleicher Form
wiedergewonnen werden war der schottische Theologe und Philosoph Vor allem AGOSTINO NIFO (1473 – 1538), JACOPO
können. DUNS SCOTUS (ca. 1266 – 1308). Er ging davon ZABARELLA D. Ä. (1532 – 1589) und JULIUS CESAR
aus, dass die Formen der Ausgangsstoffe samt SCALIGER (1484 – 1558) ist die breitere Verwen-
ihren Akzidenzien zerstört wurden und eine dung der minimistischen Theorie im 16. Jahr-
neue Form entstand. Unklar blieb dabei, wie die hundert zu verdanken. Die Vorstellung kleins-
Ausgangsformen durch Lösen der Verbindung ter Teilchen erwies sich dabei als hilfreich für
wieder entstanden. die Konkretisierung der Natur und des Ablaufs
Es ist nachvollziehbar, dass dieses Dilemma stofflicher Veränderungen. So sollten laut NIFO
im Mittelalter nicht gelöst werden konnte. Im qualitative Veränderungen durch die Wirkung
Rahmen der minima-naturalia-Lehre entstan- eines Vermittlers (agens) sprunghaft erfolgen:
den zwar konkretere Vorstellungen über das
Entstehen und Lösen von Verbindungen, insge- Das Agens beginnt damit, ein Minimum quan-
samt hatte die formbasierte Verbindungstheorie titatis des Stoffes so zu verwandeln, daß diese
Veränderung mit einem „minimum qualitatis“
aber wenig Einfluss auf die Laborpraxis der übereinstimmt. Danach bewirkt das Agens die
mittelalterlichen Alchemisten (ÅVon der Al- gleiche Veränderung an einem zweiten Mini-
chemie zur Chemie, Seite 59), da sich kaum mum quantitatis, während inzwischen das erste
praktisch verwertbare Erkenntnisse daraus ge- Minimum quantitatis eine zweite Qualitäts -
winnen ließen. Und dennoch blieb die Vorstel- veränderung, die mit dem Minimum qualitatis
übereinstimmt erfährt...
lung von die Materie prägenden Formen bis ins
17. Jahrhundert hinein lebendig. Der zu dieser Man denkt dabei unwillkürlich an die Quanten-
Zeit bereits im Vormarsch befindliche neue Ato- theorie, bei der ein Lichtquant (minimum qualita-
mismus bediente sich oft weiterhin des Formbe- tis) ein Elektron (minimum quantitas) anregt und
griffs, da auf atomistischer Ebene noch nichts damit die Eigenschaften eines Atoms verändert.
44
Erde, Wasser, Luft und Feuer
3-26
Vorstellungen des Atomismus Vorstellungen der minima-naturalia-Lehre Minima-naturalia-Lehre
versus Atomismus. Beides
Atome sind unteilbar, undurchdringlich Minima naturalia sind teilbar, auch wenn sie dabei unter Umständen ihre waren Lehren von kleins-
und unveränderlich. Form verlieren. ten T
Teilchen, aber es gab
In Verbindungen treten Atome mitein- Unterschiede.
Minima naturalia verschmelzen in Verbindungen miteinander und bilden
ander in Kontakt, bleiben aber selbst
eine neue Form (später sprach man ihnen mehr Eigenständigkeit zu).
unverändert.
Atome haben keine Eigenschaften außer Die Eigenschaften der minima naturalia entsprechen denen des Körpers,
Größe, Gestalt und Bewegung. dessen Form sie bilden.
Atome sind die fundamentalen Bausteine Minima naturalia repräsentieren nur einen bestimmten Zustand der Ma-
der Natur. terie und sind lediglich „Formträger".
SCALIGER schuf eine minima-naturalia-Lehre der Obwohl vieles in den Ausführungen der Mini-
vier Elemente, bei der sich Teilchen vor allem misten an Atome erinnert, blieben sie den aris-
durch ihre Größe unterscheiden. Er nahm an, totelischen Vorstellungen treu. Man erkennt dies
Erdteilchen seien größer als Wasserteilchen, an den Ausführungen ZABARELLAS, bei denen die
diese größer als Luftteilchen und diese wiederum ursprünglichen Luft- und Erdteilchen sich nicht
größer als Feuerteilchen. Er versuchte durch die einfach verbinden, sondern zu einer neuen Form
Eigenschaften der jeweiligen Minima natura- verschmelzen. Sie selbst bleiben nur als unterge-
lia physikalische Eigenschaften der Körper wie ordnete, gebrochene Formen in der neuen Form
Brennbarkeit, Dichte und Feinheit zu erklären. bestehen.
Erde brenne deshalb so langsam, weil die Erd-
teilchen hundertmal größer sind als die Feuer- Wuxing
teilchen. Bei Erwärmung drängen Feuerteilchen
zwischen die größeren Teilchen der anderen Fünf Elemente im chinesischen Denken
Elemente, weshalb es zur Ausdehnung der Kör-
Ein Etwas gibt es, chaotisch und ganz;
per kommt. der Entstehung von Himmel und Erde geht es
Verbindungen entstehen nach NIFO und SCA- voran.
LIGER durch den Kontakt zwischen den Minima Still ist es und grenzenlos,
naturalia der Ausgangsstoffe. ZABARELLA ver- für sich allein, unwandelbar,
sucht das Wesen von Verbindungen auch quan- kreisend und nie sich erschöpfend.
Der Welt Mutter könnte ich es nennen.
titativ zu erfassen, in dem er die Eigenschaften
Ich kenne seinen Namen nicht,
der Elemente in diskreten Werten angibt: ich nenne es dao.
...
Soll eine Verbindung hergestellt werden, die zu Das dao brachte das Eine hervor.
sechs Graden zur Erdnatur und zu zwei Graden das Eine die Zwei und die Zwei die Drei.
zur Luftnatur gehört, müssen Erd- und Luft- und die Dreizahl brachte
partikel zusammenwirken. D.h. Luft reduziert die zehntausend Wesen und Dinge hervor.
die Erdnatur um zwei Grade... so dass sechs Die zehntausend Wesen und Dinge:
Grade übrig bleiben, während die dominante getragen vom yin, umhüllt vom yang
Erde sechs Grade von der Luftnatur abzieht, geeint durch durchdringendes qi.
womit zwei Grade übrig bleiben... D.h. sowohl (Daodejing, Vers 25 und 42)
Erd- als auch Luftteilchen wandeln sich zur
gleichen Natur, da beide durch sechs Grade
Erdnatur und zwei Grade Luftnatur geprägt Diese Sequenz aus dem Daodejing (auch Tao-
sind; und beide sind nicht länger Erde oder Te-King geschrieben) beschreibt die Entstehung
Luft, sondern etwas dazwischen wie Gold. der Welt aus Sicht des Daoismus, neben dem
Auf diese Weise wird jeder Teil der Verbin-
Konfuzianismus die einflussreichste philosophi-
dung zur Verbindung... Die zerbrochenen und
beschädigten Formen wandeln sich in einen sche Schule des alten China. Die Entwicklungs-
dazwischenliegenden Zustand, dessen Form geschichte der chinesischen Philosophie ist nicht
dem Gold entspricht. weniger vielschichtig als die abendländische, es
45
KAPITEL 3 Historischer Überblick
standen jedoch andere Fragen im Vordergrund che? Woher wissen wir, ob das Gleiche gemeint
und damit ergaben sich auch andere Antwor- ist? Wir werden in den folgenden Abschnitten
ten. Schon zu KONFUZIUS’ Zeiten im 6. Jahr- deshalb etwas weiter ausholen müssen, um die
hundert vor Christus, aber stärker noch in den chinesischen Materievorstellungen zu verstehen.
darauf folgenden Jahrhunderten, war Einheit
und Stabilität des chinesischen Reiches ein zen- Dao – das Apeiron des Ostens
trales Thema philosophischer Überlegungen.
In einer für abendländisch geprägte Menschen Trotz vieler Unterschiede in der
ungewohnten Weise wurde Organisation und chinesischen und abendländischen
Zustand des Staates in Beziehung gesetzt zu Philosophie gibt es auch Verwand-
Organisation und Zustand des Universums. Ent- tes. So steht Dao ( ), ein Begriff
wicklungen auf der einen Seite korrelierten mit der „Weg“ oder „Prinzip“ bedeutet, für die
Entwicklungen auf der anderen. Konsequenter- höchste Wirklichkeit und das Eine, aus dem alles
weise wurde astronomisches Wissen zeitweise entsteht. Dao ist vergleichbar mit dem Apeiron
in den Rang eines Staatsgeheimnisses erhoben. des ANAXIMANDER (ÅGrenzenloses und Unver-
Auch die natürliche Abfolge von Dynastien gängliches – ANAXIMANDER und PARMENIDES,
wurde in Bezug gesetzt zu zyklischen Prozessen Seite 32). Wie die griechische Philosophie
in der Natur. Das Denken des Abendlandes war versuchte auch die chinesische zu erklären, wie
kausal orientiert und das Handeln der Men- aus Einheit das Viele und das Individuelle ent-
schen zielgerichtet und linear: Alles strebte zur stehen kann und wie Veränderung in der Welt
Erlösung. Das chinesische Denken war hinge- entsteht. In der Bedeutung eines umfassenden
gen zyklisch: Auf den Menschen wartete keine Einen erscheint Dao im Daodejing g (De steht für
Erlösung, er war als Individuum Episode im Kraft oder Tugend, Jing für eine Textsammlung
Kreislauf von Staat und Universum. Statt der oder Leitfaden), einem Werk, das LAOZI (LAOTSE,
Suche nach Wahrheit und Ursachen stand Har- chin. alter Meister) verfasst haben soll. LAOZI
monie im Fokus des chinesischen Denkens. Die soll im 6. Jahrhundert v. Chr. gelebt haben, doch
Frage war weniger, durch welches Handeln ein möglicherweise war er nur eine legendäre Figur.
vorgegebenes Ziel erreicht wird, sondern wann
Handeln Erfolg im Einklang mit dem Universum Die Polarität der Welt
sichert. Diese Weltanschauung förderte etwas,
was heute im Westen systemisches Denken ge- H ell – dunkel, hart – w eich, trocken – nass,
nannt wird: das Denken in Beziehungen anstatt warm – kalt: es waren die gleichen erlebten Po-
in Kausalketten und Zweifel an der Existenz laritäten wie im Abendland. Und auch die Idee,
„objektiver“ Standpunkte oder Wahrheiten. So dass Polarität wesentlich ist für Strukturbildung
wenig wie das Gegensatzpaar objektiv-subjektiv und Dynamik, ist in beiden Kulturkreisen prä-
zum Kern des chinesischen Denkens gehört, so sent. Und dennoch ging man getrennte Wege.
wenig entwickelten sich andere Dualitäten wie Den Weg des Abendlandes kann man charak-
die Trennung von Geist und Materie oder von terisieren als Trennung zwischen Substanz und
Substanz und Eigenschaft. Eigenschaft. So spricht RENE DESCARTES (ÅRes
cogitans und res extensa – DESCARTES, Seite
54) von einer geistigen und einer materiellen
Vom Wandel in der Welt Substanz, letztere hat als einzige fundamentale
Eigenschaft die Ausdehnung. Mit deren Hilfe
versucht er die Wechselwirkungen der materiel-
Eine Quelle nicht nur sprachlicher len Dinge zu erklären. Im chinesischen Denken
Missverständnisse stand dagegen die Wechselwirkung selbst im
Vordergrund, die Vorstellung einer unverän-
Wenn wir über den Materiebegriff in der chine- derlichen Substanz, der bestimmte Eigenschaf-
sischen Naturphilosophie reden, müssen wir uns ten anhaften, findet sich kaum. Aus dem Dao
die oben beschriebenen Unterschiede im Denken entsteht weder „Materie“ noch „Geist“. Das
vor Augen halten. Gibt es überhaupt einen ent- Dao manifestiert sich vielmehr in den beiden
sprechenden Begriff in der chinesischen Spra- Prinzipien Yin ( ) und Yang ( ), die für
46
Erde, Wasser, Luft und Feuer
alle Polaritäten stehen (ÅAbbildung 3-27). Sie Qi mit der energetisch-materiellen Natur wird
sind allerdings nicht statisch, sondern gehen in gern als Bestätigung der Nähe chinesischer
einem ewigen Kreislauf ineinander über. Und Lehren zur modernen Physik gesehen,
so, wie das Verhältnis zwischen Yin und Yang es handelt sich jedoch um eine rein i
wechselt, so wechseln Jahreszeiten, Lebenspha- begriffliche Analogie, die sich dank
sen und Herrscherdynastien. Und auch wuxing, der Universalität des Begriffs „Ener-
die fünf Elemente Wasser, Erde, Holz, Feuer und gie“ leicht bilden lässt. Die dem Qi
Metall, sind keine unveränderlichen oder gar zugeordneten Eigenschaften haben
unteilbaren Substanzen, sondern verwandeln wenig gemein mit der Physik von
sich ineinander getreu dem Verhältnis von Yin Materie und Energie.
und Yang, weshalb man sie korrekter als Wand-
lungsphasen übersetzt. Wuxing – die fünf
Wandlungsphasen
Qi und Taiji
T
Im Gegensatz zu den vier Elementen Erde,
Neben Dao und Yin-Yang gibt es Wasser, Feuer, Luft handelt es sich bei den 3-27
noch weitere zentrale Begriffe, die chinesischen Elementen Holz (mu, ), Feuer Yin und Yang. Diese Prin-
zipien stehen für alle Po-
die chinesische Philosophie von den (huo, ), Erde (tu, ), Metall (jin, ) und
laritäten in der Welt. Das
frühen Anfängen an durchziehen: Wasser (shui, ) nicht um unveränderliche Taijitu (chin., Diagramm
T
Qi ( ) und Taiji ( ). Taiji kennt man im Substanzen, sondern um dynamische Zustände des Höchsten) symbo-
lisiert das rhythmische
Westen als Schattenboxen, einer chinesischen des Qi, weshalb man sie treffender als „Wand-
Wechselspiel und die ge-
Kampfkunst, die auf Taiji – Prinzipien beruht lungsphasen“ übersetzt. Erste Zeugnisse über genseitige Durchdringung
und eigentlich Taijiquan (auch Tai Chi Chuan) Wuxing ( ) kennt man bereits aus dem von Yin und Yang.
heißt. Taiji steht für das Höchste und wird in 8. Jahrhundert v. Chr. Eine Systematisierung
vielen Kontexten im gleichen Sinn wie das Dao der Lehre von Yin, Yang und Wuxing geht auf
gebraucht. Taiji vereint die Polaritäten Yin und ZOU YAN (ca. 305 – 240 v. Chr.) zurück. In den
Yang und seine Bewegungen induzieren den folgenden Jahrhunderten entwickelte sich das
Wechsel zwischen beiden. Bewegt sich das Taiji, Wuxing-Konzept zu einem zentralen Pfeiler
so produziert es Yang, ist es in Ruhe, produziert der chinesischen Philosophie. Es diente in der
es Yin. Die zyklische Bewegung und die Verei- Chemie als Erklärungsmodell für chemische
nigung von Yin und Yang im Taiji wird durch Reaktionen, in der Medizin als Modell für
das bekannte Taijitu – Symbol dargestellt, das Krankheits- und Heilungsprozesse, in der Poli-
allerdings erst seit dem 16. Jahrhundert verwen- tik als Modell für situationsgerechtes Handeln
det wird (ÅAbbildung 3-28). und Herrschaftszyklen, im Feng Shui als Mo-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
Der Begriff Qi wird meist als Energie oder, dell für die Gestaltung von Orten in Harmonie
spezieller, als Lebensenergie übersetzt. In seiner mit den Elementen und schließlich auch als
ursprünglichen Bedeutung erinnert es an das Weissagungsinstrument. Sein Charme bestand
griechische Pneuma, das alles durchdringt und darin, dass es universelle, einleuchtende Erklä-
nicht materieller, sondern universeller Natur rungsmuster für die Dynamik der Welt lieferte.
ist. Der große chinesische Philosoph ZHU XI Moderne Theorien über komplexe Systeme in 3-28
Taijitu. Das Yin-Yang-
(auch Chu Hsi, 1130 – 1200) trennte formbil- Chemie, Biologie oder Soziologie nutzen diese Symbol wie wir es ken-
dende und materielle Aspekte und identifizierte Erklärungsmuster ebenfalls, allerdings in spezi- nen (Abbildung 3-27)
Qi mit etwas, was man heute wohl mit dem fischen, mathematischen Formulierungen. ist wesentlich jünger als
die Lehre von Yin und
Begriff Materie-Energie verbinden würde. Yin Die Dynamik der Welt folgt der Wandlung
Yang. Eine frühe Form
und Yang sind die zwei Zustände des Qi und der Elemente ineinander über zwei zyklische (a) stammt von LAI ZHIDE
da alles durch die Dynamik dieser Polaritäten Prozesse, den Produktions- und den Eroberungs- (1525 – 1604) aus der
Ming-Dynastie. Aus dem
entsteht und vergeht, ist alles Qi, wenn auch zyklus. Im Produktionszyklus erzeugt ein Ele-
5. Jahrhundert ist das
in unterschiedlicher Form (Li). Zu Beginn des ment das ihm folgende: Holz erzeugt Feuer (es Symbol als Wappen rö-
Lebens empfangen wir das Qi des Himmels, wir ist leicht brennbar), Feuer erzeugt Erde (Asche), mischer Militäreinheiten
nehmen es auch auf, wenn wir atmen und wir Erde erzeugt Metall (es befindet sich in der Erde) (b, 2. Reihe von unten)
bekannt. Auch aus dem
altern, weil sich unser Lebens-Qi verbraucht. und Metall erzeugt Wasser. Dieses Muster ent- Keltischen kennt man
Die auf ZHU XI zurückgehende Identifikation des spricht der Abfolge der Jahreszeiten: Im Frühling ähnliche Formen.
47
KAPITEL 3 Historischer Überblick
48
Erde, Wasser, Luft und Feuer
49
KAPITEL 3 Historischer Überblick
Welch gewaltiger Perspektivwechsel in dieser Epoche statt- Ganz anders das Titelblatt zu FRANCIS BACONs (1561 – 1626)
fand, wird bei der Gegenüberstellung von Bildern aus dem unvollendetem Hauptwerk Instauratio magna, in dem er un-
13. und 17. Jahrhundert deutlich. Als Sinnbild mittelal- ter anderem seine neue wissenschaftliche Methode darstellt.
terlichen Weltverständnisses kann eine Abbildung DANTE Es zeigt den Weg hinaus durch die Säulen des Herkules bei
ALIGHIERIs (1265 – 1321) göttlicher Komödie dienen. DANTEs Gibraltar in den endlosen Ozean; ein Weg zu neuen Ufern,
Dichtung beschreibt seinen Weg von der Erde über die Stufen von dem man zurückkehrt mit fremden Gütern und neuen
der Hölle zum Fegefeuer und von dort über die Himmels- Erkenntnissen. BACONs Welt ist nicht festgefügt und endlich,
sphären zum Paradies. Seine Welt ist in Stufen eingeteilt, sie erscheint grenzenlos und Neugier ist keine Sünde mehr
alles hat seinen Platz, jede Sünde eine bestimmte Strafe. Gott wie noch im Mittelalter, sondern eine Tugend.
ist oben, der Teufel im Mittelpunkt der Erde, es gibt Gut und
Böse. Die Welt ist theozentrisch und endlich.
3-30 3-31
Dantes Göttliche Komödie. Zu neuen Ufern. Das Titelblatt
DANTEs Dichtung über Hölle, zu FRANCIS BACONs Hauptwerk
Fegefeuer und die himmlischen aus dem frühen 17. Jahrhundert
Sphären repräsentiert die wohl- zeigt die Säulen des Herakles bei
geordnete, endliche Welt des Gibraltar, das T
Tor zur Weite des
Mittelalters. Zentrum der Nord- atlantischen Ozeans.
halbkugel ist Jerusalem. Von dort
geht es hinab zur Hölle (Hell) und
wieder hinauf zum Fegefeuer
(Purgatory), das auf der Südhalb-
kugel Jerusalem gegenüber liegt.
Es folgen das irdische Paradies,
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
50
Erde, Wasser, Luft und Feuer
51
KAPITEL 3 Historischer Überblick
über Monde, also gibt es Himmelskörper, die was veranlasste die Planeten dazu, um die Sonne
nicht um die Erde kreisen, und der Mond hat zu kreisen wie KOPERNIKUS behauptete und was
Berge, ist also der Erde ähnlicher als dem Him- bewirkte den Fall aller Körper in Richtung
mel. Auch die Sonne ist keineswegs makellos, Erdmittelpunkt? Zwei Namen sind besonders
sondern zeigt Flecken. mit dem Sturz des scholastischen Weltbildes
aristotelischer Prägung verbunden: JOHANNES
Keine Angst vor dem Vakuum KEPLER (1571 – 1630) und GALILEO GALILEI, der
erkannte, dass die Beschleunigung beim freien
Noch ein als unverrückbar geltendes antikes Fall Folge einer Krafteinwirkung war. KEPLER
Prinzip sollte im Lauf des 17. Jahrhunderts fal- hingegen suchte nach einem Kraftbegriff, der
len: die Vorstellung, dass die Natur ein Vakuum mit seinen Gesetzen der Planetenbewegung kom-
nicht zulässt, den horror vacui. patibel war.
Noch GALILEI glaubte 1638 an dieses Prinzip, Einen anderen Weg ging kurz darauf RENÉ
versuchte jedoch bereits, dieses Widerstreben DESCARTES. Für ihn reduzierten sich Kräfte auf
der Natur quantitativ zu bestimmen. Es sollte Stoßprozesse zwischen kleinsten Teilchen, die
allerdings noch zwei Jahrzehnte dauern bis sich den Raum lückenlos ausfüllen. Kräfte sind keine
durch Versuche von EVANGELISTA TORICELLI realen physikalischen Entitäten. Für DESCARTES
(1608 – 1647), BLAISE PASCAL (1623 – 1662), existierten die ausgedehnte Materie (res extensa),
EDME MARIOTTE (1620 – 1684) und ROBERT BO- die Bewegung und der Geist (res cogitans), sonst
YLE (1627 – 1691) die Vorstellung durchsetzte, nichts (ÅRes cogitans und res extensa – DESCAR-
dass zumindest ein luftleerer Raum existieren TES, Seite 54).
kann, in dem kein Feuer brennt, der von Schall
nicht durchdrungen wird und in dem Tiere Gravitationskraft und Trägheit
verenden. Dass der äußere Luftdruck für den
Widerstand gegen das Vakuum verantwortlich Wenn die kreisförmige Bewegung der Planeten
ist, wurde ebenfalls erkannt und unter anderem keine „natürliche“ ist, so muss es einen äu-
durch OTTO VON GUERICKES (1602 – 1686) spek- ßeren Zwang geben, der sie auf Kreisbahnen
takulären Versuch 1654 auf dem Reichstag in hält. Und wenn es keinen „natürlichen“ Ort der
Regensburg demonstriert (Å Abbildung 3-34). Körper gibt, so bedarf es ebenfalls eines äußeren
3-34
Magdeburger Halbkugeln. Zwangs, der sie zum Fallen bringt. Zwangsbe-
Der Magdeburger Bürger- Aristoteles’ Fall wegungen setzten aber einen Beweger voraus,
meister OTTO V. GUERICKE eine vis anima. KEPLER durchbrach diese seit der
(1602 – 1678) demons-
trierte 1654, dass man Trotz der im Mittelalter bereits erfolgten Modi- Antike geltende Trennung zwischen Bewegtem
zwei leergepumpte, anei- fikationen der peripatetischen Mechanik fehlte und Beweger, zwischen aktivem und passivem
nander gesetzte metallene auf diesem Gebiet noch der entscheidende Element. Für ihn war Anziehung wechselsei-
Halbkugeln auch mit 16
Pferden nicht auseinander Durchbruch. Wenn es keine „natürlichen“ Orte tig: So wie die Erde einen Stein anzieht, wirkt
reißen kann. und „natürliche“ Bewegungen der Körper gab, dieser auch auf die Erde. Und so wie die Erde
den Mond und die Ozeane anzieht, wirkt der
Mond auf die Ozeane und erzeugt den Wechsel
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
Sein Magnetmodell der Gravitation ist das erste fallen gleich schnell, weil pondus und moles
rein mechanische Modell der Gravitationskraft einander proportional sind.
und der Planentenbewegung, das ganz ohne
die Annahme „natürlicher“ Bewegungen und
bewegender Seele auskam. Galileo Galilei – die Geburt der
KEPLER nahm an, dass beim Wegfall der
modernen Mechanik
antreibenden Gravitation jeder Körper aus ei-
ner Bewegung zur Ruhe kommt. Trägheit, oder GALILEIS Hauptwerk, die Unterredungen und
„inertia“ (von lat. iners, träge), wie es KEPLER mathematischen Demonstrationen über zwei
nannte, war also das Bestreben eines Körpers, Wissenszweige, die Mechanik und die Fall-
zur Ruhe zu kommen. Zu KEPLERs Zeit hatten gesetze betreffendd ist in mehrfacher Hinsicht
sich andere schon von dieser Vorstellung ge- wegweisend für die Physik: Es ist nicht in La-
trennt und gingen davon aus, dass Trägheit dazu tein, sondern in Italienisch geschrieben, seine
führt, dass ein Körper eine einmal gewonnene Sprache ist klar verständlich und es ist ein aus
Geschwindigkeit beibehält. So nahm der Nieder- heutiger Sicht modernes Werk, das detailliert be-
länder ISAAC BEECKMAN (1588 – 1637) an, dass schriebene Experimente und zugehörige Theorie
die Gravitation wie kleine Stöße wirkt, die einem miteinander verbindet. Da GALILEI seit seinem
Körper einen Geschwindigkeitszuwachs erteilen, Inquisitionsprozess 1633 unter Hausarrest stand
der auch erhalten bleibt. Durch fortwährende und nichts veröffentlichen durfte, erschienen
Stöße während des Falls kommt es zu einer lau- die Unterredungen 1638 zunächst bei LOUIS
fenden Geschwindigkeitserhöhung. Im Grenzfall ELSEVIER im holländischen Leiden, vier Jahre
immer kleinerer Zeitintervalle und Stöße erhält vor GALILEIS Tod.
man durch dieses Bild das von GALILEI aufge-
stellte Fallgesetz. BEECKMANS Stoßmodell inspi- Wann Balken brechen
rierte auch DESCARTES, der die inertia ablehnte,
da Ausdehnung für ihn die einzige Eigenschaft Neben seinen astronomischen Entdeckungen
eines Körpers war. gilt GALILEI zuallererst als Entdecker der Fallge-
Zu KEPLERs und GALILEIs Zeiten existierte setze. Weniger bekannt sind seine ausführlichen
53
KAPITEL 3 Historischer Überblick
viele unendlich kleine Teilchen endliche Körper geschieht, in dem mehr und mehr unendlich
unterschiedlicher Größe bilden können. Wenn kleine Leerstellen zwischen die Teilchen gescho-
zwei Körper beide aus unendlich vielen Teilchen ben werden. Auf ähnliche Weise schmilzt ein
bestehen, wie können sie dann verschieden groß fester Stoff. Die unendlich kleinen Feuerteilchen
sein? Anhand der beiden unendlichen Mengen drängen sich in die Leerstellen, wodurch die
der Quadrat- und der natürlichen Zahlen macht Kraft des Vakuums reduziert wird, der Stoff löst
er anschaulich klar, dass bei unendlichen Men- sich in seine kleinen Teilchen auf. Beim Festwer-
r
gen Größenvergleiche nicht funktionieren. Eine den verschwinden die Feuerteilchen wieder aus
3-36 formale Theorie der Mächtigkeit unendlicher den Zwischenräumen (ÅAbbildung 3-36).
Feuerteilchen. Feste Mengen wurde erst Jahrhunderte später von Indem GALILEI unendlich kleine Teilchen und
Körper schmelzen, weil GEORG CANTOR, dem Vater der Mengenlehre, unendlich kleine Zwischenräume annimmt, um-
die kleinen Feuerteilchen
in die unendlich kleinen entwickelt. GALILEI glaubt, dass für die Festigkeit geht er die Argumente ARISTOTELES gegen Atome
Zwischenräume eindrin- der Körper der Widerstand der Natur gegen das und das Vakuum. Die unendlich kleinen Teilchen
gen. Dadurch können sich Vakuum, der horror vacui verantwortlich ist. entstehen nicht durch fortwährende Teilung,
die T
Teilchen auseinander
bewegen, ohne dass ein
Diese Kraft sorgt für den Zusammenhalt der bis unteilbare Teilchen übrigbleiben. Auch das
Vakuum entsteht. unendlich kleinen Teilchen. Diese sind nämlich Vakuum existiert nicht als ein Stück unteilbarer
durch unendlich kleine Leerstellen voneinander Raum, die Leerstellen zwischen den Teilchen
getrennt. Die Kraft des Vakuums verhindert, haben keine messbare Ausdehnung. GALILEI ge-
dass sich diese Leerstellen vergrößern. lingt es, mit den Begriffen unendlich viell und
Flüssigkeiten sind Stoffe, deren unendliche unendlich klein so geschickt umzugehen, dass er
kleine Teilchen frei beweglich sind. Verdünnung alle Gegenargumente unterlaufen kann.
Galileis Festigkeitslehre
Res cogitans und res extensa –
DESCARTES
GALILEI ging davon aus, dass Körper starr
sind, das heißt, sie verändern ihre Form nicht RENÉ DESCARTES (1596 – 1650) berühmtester Satz
unter Belastung. Nur unter dieser Bedingung ist zweifellos das Cogito ergo sum, zu Deutsch:
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
gelten die Formeln GALILEIs. So kommt er Ich denke, also bin ich. Die Popularität dieses
zu dem Schluss, dass die maximale Länge, Satzes lässt sich kaum besser illustrieren als durch
die ein Draht haben kann, bevor er durch seine Verwendung in Medien, die eher selten
sein Eigengewicht reißt, nicht von dessen mit Philosophie assoziiert werden: Werbung und
Dicke abhängt. Dies trifft zu, wenn die (ma- Comics (ÅAbbildung 3-37/38).
3-37
terialabhängige) Reißfestigkeit proportional Der wahre Antrieb DESCARTES, der ihn zu diesem
Asterix denkt. In Asterix
der Legionär stellt Obelix zum Durchmesser des Drahtes ist. Da sich Satz führte, war der Zweifel. DESCARTES ging es
ganz im Sinne Descartes’ ein Draht aber unter Belastung dehnt und darum, herauszufinden, was wir sicher wissen
klar, welche Rolle Asterix damit sein Durchmesser abnimmt, wird er können. Er stellte fest, dass wir an der Existenz
und er einnehmen.
wesentlich früher reißen. Nach GALILEIs Be- von allem zweifeln können, nur nicht am Zwei-
rechnungen sollte ein Kupferdraht bei einer fel selbst. Da der Zweifel ein Produkt unseres
Länge von 4800 Ellen reißen, da ein Draht Denkens ist, ist zumindest unser Geist real – co-
von einer Elle Länge maximal 600 Unzen gito ergo sum. Da wir darüber hinaus Gott als
trägt und selbst 1/8 Unze schwer ist. vollkommenes Wesen denken können, muss er
GALILEI nahm an, dass der horror vacui, existieren. Die Wirkung – nämlich unser Denken
das Widerstreben der Natur gegen das Va- an Gott – kann ja nicht größer sein als deren Ur-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
kuum, für den Zusammenhalt der Materie sache – also Gott selbst. Wenn Gott vollkommen
verantwortlich ist. Die Vakuumkraft ist es, ist, so wird er uns auch nicht täuschen wollen,
die verhindert, dass ein Kupferdraht reißt. das heißt, die Außenwelt ist keine Illusion, son-
Da nun eine Wassersäule ab einer Höhe von dern real, ebenso wie unsere Vorstellungen über
achtzehn Ellen abreißt, Kupfer aber neunmal Logik und Mathematik und allem, was unserem
3-38 schwerer ist als Wasser, sollte die Vakuum- Geist evident erscheint, also vernünftig g ist. Wenn
iMac ist für Denker. Auch
für Werbung nutzt man kraft so stark sein wie das Gewicht von zwei aber unsere Vernunft sicheres Wissen vermittelt,
DESCARTES. Ellen Kupfer, also ¼ Unze. so bedeutet Forschen, die allgemeinen Prinzipien
54
Erde, Wasser, Luft und Feuer
zu finden, die den Naturerscheinungen zugrunde laufen unsere Beine? Es ist keine Kraft bekannt,
liegen. Die Überzeugung, dass es solche Grund- die derartige Wechselwirkungen vermittelt.
prinzipien hinter allen Naturerscheinungen gibt
und dass sie so real sind wie die Erscheinungen Konsequent mechanisch –
selbst, bezeichnet man als Rationalismus (lat. Descartes Erklärung der Welt
ratio, Vernunft). Hier steht DESCARTES im Gegen-
satz zu angelsächsischen Philosophen wie JOHN DESCARTES legte weniger Wert auf empirische
LOCKE (1632 – 1704), für die alle Erkenntnis auf Bestätigung als auf das Entdecken der Grund-
Erfahrung beruht, es mithin kein sicheres Wissen prinzipien natürlicher Vorgänge. Er ging der
gibt. Obwohl sich Naturwissenschaft heute längst Frage nach, wie denn die res extensa strukturiert
auf einer eher pragmatischen Position zwischen sei und wie ihre vielfältigen Erscheinungsformen
dem Empirismus LOCKEs und dem Rationalismus auf der Erde und im Himmel erklärt werden
DESCARTES befindet, kann man noch heute in der können. Er entwickelte eine Korpuskulartheorie
zeitgenössischen Philosophie Frankreichs bezie- der Materie, die wenig gemein hatte mit den
hungsweise Englands und Amerikas diese Tren- Atomtheorien seiner Zeit (ÅVon Minima Natu-
nungslinie spüren, insbesondere bei der Frage ralia zu Atomen, Seite 64). Ihr Schwerpunkt
nach dem Verhältnis zwischen Körper und Geist. lag in der konsequenten Anwendung rationaler
Prinzipien zur quantitativen Beschreibung der
Nicht aus einem Stoff gemacht – Welt. Dazu gehört bei DESCARTES auch die Ab-
Körper und Geist sage an den leeren Raum, das Universum ist bei
ihm vollständig mit Materie gefüllt. Wie aber
Im Gegensatz zur Gewissheit unseres Geistes können sich Körper bewegen, wenn kein Zwi-
können wir an der Existenz unseres Körpers schenraum existiert? Hier entwirft DESCARTES
zweifeln, wie uns Träume zeigen. In Träumen einen Kosmos aus drei unterschiedlichen Ma-
tun wir im Geist Dinge, ohne dass sich unser terieformen, die zusammen dicht gepackt und
Körper rührt. Es gibt also offenbar einen Unter- dennoch beweglich sein sollen. Die erste Form
schied zwischen beiden. Für DESCARTES war die besteht aus sehr kleinen, schnellen Teilchen, die
Ausgedehntheit die einzige Eigenschaft, die wir zweite aus kugelförmigen, die sich langsamer
Körpern sicher zusprechen können. Neben dem bewegen und die dritte aus grobkörnigen, sich
Geist, der res cogitans, gibt es also noch die res ebenfalls nur langsam bewegenden Teilchen.
extensa, die ausgedehnte Substanz. Und Aus- Natürlich unterscheiden sich die drei Materie-
dehnung impliziert Bewegung, nämlich dann, formen nicht stofflich, sondern nur durch ihre
wenn sich das Ausgedehnte von einem Ort zum Ausdehnung.
anderen bewegt. Alle anderen Phänomene, auch DESCARTES
R beschreibt, wie Kosmos und Erde
die Grundqualitäten Nass, Trocken, Warm und und alle Stoffe entstehen konnten: Zu Beginn des
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
Kaltt der antiken Philosophie, sollten auf die Universums war die Materie in gleich große, sich
Ausgedehntheit und die Bewegung der Körper gegeneinander bewegende Teile geteilt, aus denen
zurückgeführt werden, also auf die Mechanik. durch Bewegung mit der Zeit kleine, schnelle und
Die Zweiteilung zwischen Geist und Kör- mittlere bis große, langsame Körper entstanden.
per, der sogenannte Dualismus, prägte lange Aus den anfangs beliebig geformten Körpern
3-39
Zeit die Philosophie des Geistes. Für manche bilden sich so mit der Zeit kugelförmige Teilchen, Der Kosmos als Wirbel-
Philosophen bildete er die Basis für Argumente deren Kanten durch ständiges Aneinanderstoßen geflecht. Der Himmel ist
gegen die Materialisierung des Geistes. Aufbau abgeschliffen werden. Die entstehenden Split- ausgefüllt von Materiewir-
beln, wobei sich im Zen-
und Funktion des Gehirns könne niemals Geist ter bilden die feinsten Teilchen und füllen die
trum eines jeden Wirbels
erklären. Auf der Gegenseite standen Materialis- Zwischenräume aus. Größere Stücke bleiben als (L, C, S, O, K) die feine
ten, die keinen Grund dafür sahen, eine zweite dritte Form zwischen den Kugeln und Splittern erste Materie sammelt
und die Sonne (S) und Fix-
Substanz einzuführen, um Geist zu erklären. bestehen. Der Kosmos ist lückenlos, aber nicht
sterne bildet. Die Wirbel
Geistige Tätigkeit ist ihrer Ansicht nach eine gleichmäßig ausgefüllt mit diesen Formen. Er rotieren längs der Achsen
Folge von Zustandsänderungen unseres Gehirns. besteht aus riesigen Wirbeln, in deren Mitte je- AB, TT,
T ZZ usw. Materie
Ein fundamentales Problem des Dualismus ist weils ein Stern steht (ÅAbbildung 3-39). Die Erde wird immer an den Polen
der Drehachsen (A, B, T
die Frage, wie denn die geistige Substanz auf die und andere Planeten bestehen aus Zusammenbal- usw.) zwischen den Wir-
körperliche wirke. Wie bewegt unser Wille zu lungen der grobkörnigen Teilchen, durch deren beln transportiert.
55
KAPITEL 3 Historischer Überblick
56
Erde, Wasser, Luft und Feuer
direktes Wirken Gottes. Auch schien es ihm dass die Fliehkraft eines Körpers von dessen Sub- Beschleunigungsprinzip
unmöglich, Leben, seine Entstehung und die stanzmenge abhing. Da man aber zu dieser Zeit Durch einwirkende Kräfte
Fortpflanzung allein durch die unorganisierte meist in Verhältnissen dachte statt in absoluten erfährt ein Körper eine
Beschleunigung, die der
Bewegung von Materiepartikeln zu erklären, Größen, war es in der Regel gleichgültig, ob man Kraft proportional ist und
eine andere Kraft, eine Art Spirit (Geist) musste Gewichts- oder Masseverhältnisse verwendete. deren Richtung besitzt:
dafür verantwortlich sein. NEWTON sah in den Allerdings wusste man seit 1671 durch Versuche Kraft = Masse · Beschleuni-
gung. Zu Ehren Newtons
allegorischen Beschreibungen der Alchemie von JEAN RICHTER, dass das Gewicht eines Kör- wird die Einheit der Kraft
(ÅVon der Alchemie zur Chemie, Seite 59) pers nicht konstant war, sondern davon abhing, Newton (N) genannt.
den Schlüssel zu einem tieferen Verständnis der wo man sich auf der Erde befand. RICHTER stellte
Welt und entwickelte alchemistische Hypothe- bei astronomischen Messungen in Cayenne fest, 3. Newtonsches Gesetz
sen, die sich an stoizistisches und hermetisches dass seine mitgebrachten Pendeluhren zweiein-
Gedankengut anlehnten (Å Geheimnisvoll – Der halb Minuten pro Tag nachgingen. Da die Pen- Wechselwirkungsprinzip
(actio = reactio)
Hermetismus, Seite 40). dellänge in Frankreich und Cayenne gleich war,
Übt ein Körper A auf einen
konnte nur das veränderte Gewicht des Pendels Körper B eine Kraft aus
für die Abweichung verantwortlich sein. (actio), so übt auch B auf
NEWTONs Definition wurde als zirkulär kriti- A eine Kraft aus, Gegen-
kraft (reactio) genannt, die
siert: Wie sollte man die Masse eines Körpers be- entgegengesetzt gleich der
stimmen, wenn man zuvor die Dichte bestimmen ersten Kraft ist.
57
KAPITEL 3 Historischer Überblick
muss, welche wiederum von der Masse abhängt? onswirkung verantwortlich, während die träge
Man müsste entweder Abstände und Massen der Masse in das Newtonsche Kraftgesetz eingeht.
kleinsten Teilchen anderweitig ermitteln oder das Diese Äquivalenz bedeutet, dass wir in einem
Änderung der Bewegung der wirkenden Kraft nachzuweisen, dass die elliptischen Bahnen der
proportional, es handelt sich um das berühmte Planeten und Monde nur dadurch zu erklären
„Kraft gleich Masse mal Beschleunigung“. Das sind. Und da sich Planeten und die Sonne wech-
dritte Gesetz ist „actio gleich reactio“, jeder selseitig anziehen, gelang ihm auch der Nachweis,
Kraft steht eine gleichgroße Gegenkraft entge- dass die Keplerschen Ellipsen in Wirklichkeit
3-43 gen. Dieses Prinzip erlaubt es unter anderem, Näherungen sind. Sonne und Planeten kreisen
Newton und der Apfel. Kreisbewegungen zu beschreiben. Die Zentri- um das gemeinsame Gravitationszentrum, das
Bild NEWTONs mit dem
fugalkraft, die Körper nach außen treibt, ist die sich aus der Kombination der Anziehungskräfte
fallenden Apfel von dem
japanischen Künstler HOSAI Reaktion auf die Kraft, die sie auf die Kreisbahn aller Planeten und der Sonne ergibt.
aus dem Jahr 1869. Das zwingt, zum Beispiel die Gravitation. Die Tatsache, dass NEWTON eine Erklärung
Bild trägt den Untertitel NEWTON formulierte die Bewegungsgesetze für die magische Fernwirkung der Körper auf-
„Isaac Newton, sehr gro-
ßer theoretischer Kopf, als zwar experimentell prüfbare, aber nicht einander schuldig blieb, provozierte vor allem
aber nicht eingebildet“. als begründbare Gesetze der Natur. So blieb in Kontinentaleuropa Widerspruch. HUYGENS
die Frage, warum Körper träge sind, unbe - vermutete in der Tradition DESCARTES’, dass
antwortet. Im 19. Jahrhundert vermutete der Wirbel kleinster Partikel die Planeten auf ihre
österreichische Physiker ERNST MACH, dass elliptischen Bahnen zwangen, und GOTTFRIED
die Trägheit der Körper eine Folge der Gra- WILHELM LEIBNIZ (1646 – 1716) leitete das qua-
vitationswirkung aller Massen im Universum dratische Abstandsgesetz auf Basis einer Theorie
sei. Wäre das Universum leer, gäbe es keine flüssigen Äthers ab. NEWTON selbst empfand die
Trägheit. Dieses sogenannte Machsche Prinzip magische Fernwirkung als Manko und versuchte
inspirierte ALBERT EINSTEIN bei der Formu- sich in Ätherhypothesen. Letzten Endes war für
lierung der allgemeinen Relativitätstheorie. ihn die Massenanziehung nur ein mathematisches
Sie postuliert die Äquivalenz von träger und Konstrukt, dessen physikalischer Hintergrund
schwerer Masse. Letztere ist für die Gravitati- zumindest zu seiner Zeit unbekannt blieb.
58
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Von der Alchemie zur Chemie dem 3. oder 4. Jahrhundert n. Chr., die beide um
1828 entdeckt wurden. Sie enthalten Rezepte zur
Aus Mystik wird Wissenschaft Behandlung und Imitation von Edelmetallen, zur
59
KAPITEL 3 Historischer Überblick
philosophie wurden die vier Elemente und die Schwefel und Salz setzte sich endgültig in der
vier Qualitäten (warm, kalt, feucht, trocken) neuzeitlichen Alchemie des PARACELSUS durch.
übernommen, sowie die Idee der materia prima, Die Zusammenhänge zwischen Elementen,
der Urmaterie, aus der alles entsteht. Nach al- Qualitäten, Pneuma, Samen und Prinzipien sind
chemistischen Vorstellungen mussten bei der schwer zu fassen, da die entsprechenden Kon-
Goldherstellung die Ausgangsstoffe zuerst in die zepte sich von Autor zu Autor unterscheiden.
Urmaterie überführt werden. Die Goldherstel- Insgesamt entwickelte die Alchemie nie eine
lung aus unedlen Metallen war im Prinzip nur nach heutigen Maßstäben geschlossene und wi-
eine Veränderung der Form der Urmaterie. Zur derspruchsfreie Theorie der Stoffe und ihrer
Elementelehre trat die stoizistische Lehre, die Umwandlungen.
Feuer und Luft (Pneuma) als aktive, göttliche
Prinzipien auffasste, die die passiven Elemente Das mystisch-religiöse Erbe
Erde und Wasser formen. Aus der Stoa stammt
auch die Vorstellung eines geistigen Samens, Die Alchemie war von Beginn an eingebettet in
des logoi spermatikoi. Er überträgt durch sein mystisch-religiöse Vorstellungen über den Auf-
Pneuma die Qualitäten auf die Materie und bau des Kosmos. Dieser Kontext prägte auch die
bringt damit die Einzeldinge zur Entwicklung. Form alchemistischer Forschungen. Man legte
Dem Traktat Novum Lumen (Neues Licht) des wenig Wert auf die akribische Aufzeichnung
polnischen Alchemisten MICHAEL SENDIVOGIUS physikalischer Größen wie Gewicht oder Druck
von 1604 zufolge sollte durch die Vereinigung während eines Experiments. Eine empirische
von männlichem und weiblichem Prinzip aus den Prüfung von Aussagen, wie wir sie heute kennen,
vier Elementen der Samen der Metalle entstehen. wäre Alchemisten als überflüssig erschienen.
Dieser entwickele sich dann in der Erde je nach So existierte die Vorstellung, dass Bocksblut
Gegebenheiten in mehr oder weniger edle Me- Glas erweichen könne, eine Aussage, die sich
talle. Daher wurden im Mittelalter Bergwerke natürlich leicht empirisch widerlegen lässt. Für
zeitweise geschlossen, um den Reifungsprozess einen Alchemisten war die Sache jedoch nicht so
der Metalle ungestört ablaufen zu lassen. einfach: Vielleicht bedeutete ein Misserfolg nur,
Eine wesentliche Rolle spielten auch Queck- dass der falsche Zeitpunkt, der falsche Ort, das
silber und Schwefell als Grundprinzipien der falsche Blut oder das falsche Glas vorlag. Der
Metalle. Darunter wurden allerdings nicht die Alchemist ging eher vom Komplexen aus, nichts
in der Natur anzutreffenden Substanzen ver- wurde so in Einzelteile zerlegt, dass man es auf
standen, sondern es wurden essenzielle stoffliche einfache Weise hätte bestätigen oder widerlegen
Eigenschaften mit ihnen assoziiert. Zur Unter- können. Die alchemistischen Konstrukte muss-
scheidung zwischen realer Substanz und Prinzip ten im Gegensatz zu wissenschaftlichen Hypo-
3-46 sprach man von philosophischem Schwefell oder thesen weder logisch konsistent noch testbar
Planeten und Metalle. philosophischem Quecksilber, wenn man letzte- sein, sie konnten auch Widersprüche enthalten.
Die Zuordnung zwischen res meinte. Nicht-metallische Stoffe wurden oft Sie waren in diesem Sinn eher am menschlichen
Planeten und Metallen
änderte sich im Lauf der durch Salz als Grundsubstanz einbezogen. Die Weltgefühl orientiert (das Gegensätze anerkennt)
Jahrhunderte. Vorstellung von den drei Prinzipien Quecksilber, als an rationalem, quantifizierbaren Wissen.
Die Ents p rechun g en zwischen Göttern,
Planet Traditionell Griechisch ab dem 7. Jahrhundert Planeten und irdischen Dingen, sowie der kos-
Sonne Gold Gold mische Einfluss auf den Lauf der Welt gehen
auf den babylonisch-sumerischen Kulturkreis
Mond Silber Silber zurück. Die Zuordnung zu den Metallen kam
Quecksilber, auch Zinn Quecksilber (davor Elektron, wohl etwas später und wandelte sich auch im
Merkur
(„weißes Blei“) eine Silber-Gold-Legierung)
Lauf der Zeit (ÅTabelle 3-46). Das Tripel Gott-
Venus Kupfer Kupfer
heit – Planet – Metall ist jedoch zentral für die
Mars Eisen Eisen alchemistische Symbolik. Da die Zahl der Pla-
neten damals sieben betrug (Sonne und Mond
Jupiter Elektron, Zinn, Bronze Zinn
zählten als Planeten), war offensichtlich, dass es
Saturn Blei (Bismut galt als Bleiart) Blei nur sieben Metalle geben konnte, alle weiteren
wurden als Mischungen angesehen. Im Sinne des
60
Erde, Wasser, Luft und Feuer
„wie oben, so unten“ stand die Sonne nicht nur Transmutationen – nichts als Betrug?
für Gold, sondern auch für das Männliche und
das Unsterbliche. Es existieren Berichte über erfolgreiche Trans-
Der Kreislauf von Werden und Vergehen, mutationen, die zum Teil sogar öffentlich statt-
von Tod und Schöpfung tritt in der Alchemie fanden. So führte JOHANN FRIEDRICH BÖTTGER,
in vielfältiger Gestalt auf. Ein sehr häufig an- der Miterfinder des europäischen Porzellans,
zutreffendes Motiv, die Zerstückelung aus dem in Berlin 1701 mit Hilfe einer geheimnisvollen
Isis/Osiris-Mythos, haben wir bereits kennen roten Tinktur vor zahlreichen Zuschauern eine
gelernt (ÅTod und Wiedergeburt, Ei und Schöp- Transmutation durch. Sie machte ihn über die
fung, Seite 30). Im gleichen Sinn wird bei Grenzen Preußens hinaus bekannt und führte
der Herstellung von Gold die Überführung der dazu, dass er in die Hände von AUGUST DEM
Ausgangsstoffe in die materia prima als Tod der STARKEN von Sachsen geriet. Diesem Umstand
Materie bezeichnet. Der Tod geht der Schöpfung verdanken wir die Meißner Porzellanmanufak-
des Goldes voraus. tur.
Die umfassende Korrespondenz zwischen Man tut Alchemisten Unrecht, stempelt man
Mikrokosmos und Makrokosmos bildet die Ba- Berichte über Transmutationen pauschal als Be-
sis der reichen Symbolsprache und Allegorien in trügerei ab. Ohne den modernen Elementbegriff
alchemistischen Werken. Die damit verbundene ist schließlich nicht offensichtlich, was Gold zu
Mehrdeutigkeit alchemistischer Beschreibun- Gold macht. Legt man die Quecksilber-Schwe-
gen hatte allerdings auch Methode. Die großen fel-Lehre zugrunde, so sind Gold und andere
Geheimnisse, die arcana maiora, konnten nur Metalle lediglich Kombinationen dieser beiden
charakterfesten Menschen offenbart werden,
die einen untadeligen Lebenswandel führten.
Die Eingeweihten, sogenannte Adepten, gaben Von Betrügern und gierigen Herrschern
ihr Wissen daher in verschlüsselter Form weiter,
wichtige Prozeduren wurden in Form phan- Wo es viel zu gewinnen gibt, sind auch Betrüger nicht weit. So drehte
tastischer Träume erzählt, oft wurde ein Text DANIEL VON SIEBENBÜRGEN Apothekern goldhaltige Pillen an, ließ diese
sogar fragmentiert und auf mehrere Kapitel oder dann von unverdächtigen Personen kaufen und gewann daraus Gold.
Werke verteilt. Eine andere Methode bestand darin, in den Rührstab Gold einzugießen
und das Loch mit Wachs zu verschließen. Tauchte man den Stab in
den heißen Tiegel, schmolzen Wachs und Gold und letzteres sammelte
Elemente und Transmutation sich am Grund des Gefäßes an. Beliebt war auch die Verwendung
eines Goldamalgams: Überzog man Gold mit Quecksilber, so konnte
Wir wissen heute, dass die Methoden der Al- man dieses über dem Feuer abrauchen und das Gold kam wieder zum
chemisten nicht dazu geeignet sind, Gold her- Vorschein. Bei der Vergoldung von Kupfer überzog man dieses mit
zustellen. Allein durch chemische Verfahren ist Goldamalgam und erhitzte gelinde. Das Quecksilber verdampfte und
eine Transmutation unedler Metalle in Gold zurück blieb eine dünne Goldschicht. Sehr beliebt war auch die Ansage,
nicht möglich, da die geringe Energie chemi- dass das Gebräu eine Nacht stehen müsse. Des Nachts tauschte dann
scher Reaktionen für die Umwandlung von ein in einer Kiste verborgener Gehilfe das Gebräu durch Gold aus. Auf
Elementen nicht ausreicht. Um Gold zu erzeu- diese Weise versuchte GEORG HONAUER den Herzog FRIEDRICH VON
gen, sind Kernreaktionen notwendig, bei denen WÜRTTEMBERG hinters Licht zu führen, was ihm das Leben kostete. Er
die Zahl der Protonen, der positiven Teilchen wurde 1597 in Stuttgart in einem vergoldeten Gewand an einem mit
im Atomkern, verändert wird (ÅKapitel 10). Flittergold überzogenen eisernen Galgen gehängt, eine Strafe, die für
Zwar ist es möglich, in einem Atomreaktor vermeintliche Goldmacher durchaus üblich war. Die Alchemistin und
oder Teilchenbeschleuniger Gold aus anderen Giftmischerin ANNA MARIA ZIEGLER wurde 1575 auf einem eisernen
Metallen herzustellen, das Verfahren ist aller- Stuhl verbrannt, während ihre Kumpane gevierteilt wurden.
dings viel zu teuer, um wirtschaftlich zu sein. Generell waren auch Herrscher nicht zimperlich bei dem Versuch,
Das beste Ausgangsmaterial für eine kerntech- dem Geheimnis der Goldmacherei auf die Spur zu kommen. Noch 1784,
nische Transmutation ist übrigens Quecksilber, als der Stern der Alchemie bereits am Versinken war, wurde der Adept
also just der Stoff, den auch viele Alchemisten FRANZ SEHFELD durch die österreichische Kaiserin MARIA THERESIA
als Ausgangsmaterial für ihre Versuche zur verhaftet und gefoltert, um ihm das Geheimnis der Geheimnisse zu
Goldherstellung benutzten. entlocken.
61
KAPITEL 3 Historischer Überblick
Prinzipien. Im Wesentlichen ist also das Mi- digkeit zu verstärken, und damit aus einem un-
schungsverhältnis verantwortlich dafür, dass sich edlen ein edleres Metall zu erzeugen. Die Vorstel-
die Eigenschaften der Metalle unterscheiden. So lungen darüber, mit welchen Arbeitsgängen und
könnte es sogar verschiedene Arten von „Gold“ Reagenzien eine Transmutation durchzuführen
geben, die nur in „unwesentlichen“ Eigenschaf- war, unterschieden sich von Autor zu Autor; im
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
ten verschieden sind. Der berühmte Bagdader Wesentlichen ging man jedoch von zwei mög-
Arzt und Alchemist AL-RAZI (860 – 925/935) lichen Wegen aus: Entweder sollte durch Zu-
kommentierte ein Rezept zur Herstellung von gabe eines entsprechenden Elixiers aus unedlem
Silber mit den Worten: Metall Gold entstehen oder es sollte im opus
magnum (lat., großes Werk) durch einen lang-
3-47 Es kommt Silber heraus, besseres gibt es nicht, wierigen Prozess aus Substanzen wie Blei oder
Wolf verschlingt König. aber es ist weich. Wenn Du es kochst, zerfällt Quecksilber über die materia prima Gold und
Allegorie für die Verbin- es weiß wie weißes Mehl.
dung von Antimon (Wolf) letzten Endes der Stein der Weisen entstehen.
und Gold (König). Der Begriff Elixier hat seine Wurzeln in der
Wenn es um Zahlungsmittel ging, wusste man antiken Praxis des Färbens von Metallen mittels
natürlich auch damals, welche Eigenschaften eingestreutem Zinn- oder Kupferpulver. Aus
„echtes“ Gold oder Silber haben sollte. Mit dem griechischen Wort xerion (Streupulver)
einem zu Pulver zerfallenden Silber hätte sich entstand so das arabische iksir oder al-iksir,
niemand abspeisen lassen. Eine zentrale Frage aus dem wiederum das lateinische Wort Elixier
der Alchemie war also, wie man genau jene Ei- stammt. Eine geringe Menge eines Elixiers sollte
genschaften dauerhaft erzeugen kann, die dem die Umwandlung einer großen Menge uned-
Gold seinen Wert geben. len Metalls bewirken. Für GABIR IBN HAYYAN
(8. Jahrhundert) bringt der Stein der Weisen, der
Elixiere und das opus magnum lapis philosophorum, als Elixier der Elixiere die
unfertigen Metalle zu ihrem vollendeten Zustand
Alchemisten gingen von einer hierarchischen (d.h. zu Gold) und vermag gleichzeitig den Men-
Ordnung der Metalle aus, die den Grad ihrer schen von seiner Unfertigkeit und vom Altern
Vollkommenheit ausdrücken sollte. Am voll- zu erlösen. Der Stein der Weisen vereinigt alle
kommensten war Gold, das unvollkommenste Gegensätze, vor allem das männliche und das
Metall war Blei. Bei der Transmutation ging es weibliche, bewirkt Zeugung und Entwicklung,
darum, „edle“ Eigenschaften wie Feuerbestän- Schwangerschaft und Geburt. So phantastisch
62
Erde, Wasser, Luft und Feuer
seine Eigenschaften gedacht wurden, so schwer seiner Polemiken gegen überkommene medizini-
schien seine Herstellung zu sein. Allgemein sche Autoritäten und seiner „Neuen Medizin“
stellte man sich vor, dass man ein Elixier wie auf Betreiben der Ärzteschaft Basel verlassen.
eine Essenz aus einer Substanz „herausziehen“ PARACELSUS bediente sich der Signaturenlehre
könne, also zum Beispiel Goldessenz durch hun- zum Auffinden von Heilmittelträgern und alche-
dertfaches Umschmelzen von Gold gewinnen mistischer Techniken zur Extraktion der darin
könne. Die Herstellung des Steins der Weisen enthaltenen Wirkstoffe.
aber war das große Werk, das opus magnum.
Die Signaturenlehre
Vom Rabenhaupt über den Pfauenschweif
zum Stein der Weisen Für PARACELSUS wirken in der irdischen und
63
KAPITEL 3 Historischer Überblick
Aus den Dingen entstehen durch Scheidung mit- Brücke zwischen dem Atomismus EPIKURs und
tels Feuer oder Sonne die tria prima. Chemische der Theologie zu schlagen. Im Gegensatz zum
Umwandlungen werden also angetrieben durch materialistischen Weltbild EPIKURs existierten
Hitze und Feuer. Nach PARACELSUS Vorstellun- GASSENDIs Atome nicht ewig, sondern waren
gen ist die gesamte Natur ein Prozess des Gebä- von Gott geschaffen und auch die Kraft ihrer
rens/Erzeugens und der Scheidung (Spagyrik). Bewegung erhielten sie von Gott. Damit war
Die Scheidung ist auch das der Destillation der Atomismus aus theologischer Sicht akzep-
und der Verdauung zugrunde liegende Prinzip. tabel. Die Erklärungskraft des Atomismus blieb
Durch die ars spagyrica, der Scheidekunst sollte zunächst dennoch gering, da es nicht gelang,
mittels Destillation oder Extraktion aus den die Eigenschaften der Substanzen oder chemi-
Stoffen das medizinisch Wirksame geschieden sche Reaktionen nur auf Bewegung, Größe und
werden. PARACELSUS führte damit die Alchemie Form der Atome zurückzuführen. Auch die neue
in Richtung Pharmakologie, in dem er ihre Ar- Physik NEWTONs änderte daran wenig, obwohl
beitsmethoden für die Gewinnung von Arzneien man erstmals ein allgemeines Prinzip der Kraft-
nutzte. Im Gegensatz zur Viersäftelehre GALENs wirkung zwischen Körpern in den Händen hielt.
(ÅKasten Die Ordnung der Vier, Seite 33) stand Nach dem Muster der Gravitation sollten an-
bei PARACELSUS nicht der Ausgleich von Gegen- ziehende und abstoßende Kräfte für chemische
sätzen im Vordergrund, sondern die Heilung Verbindungen verantwortlich sein, während die
durch Gleiches, eine Vorstellung, die sich auch Atome selbst ohne spezifische Eigenschaften
in der Homöopathie wieder findet. Die von ihm blieben. Dann mussten auch die „Elemente“
initiierte Behandlung durch Mineralien anstelle der Chemiker zusammengesetzte Partikel sein,
von Kräutern wurde von seinen Anhängern deren Form über ihre spezifischen Eigenschaften
chymiatria oder Iatrochemie (griech. Iatros, entschied. Aber wie viele Arten der Zusammen-
Arzt) genannt. So befürwortete er gegen Syphi- setzung gab es und warum waren Elemente
lis eine Quecksilbertherapie anstelle der damals nicht zerlegbar?
üblichen Guajakholz-Therapie. Das Aufblühen der chemischen Industrie
förderte das Bestreben, Stoffeigenschaften und
chemische Reaktionen vorherzusagen; und so
Die Entwicklung der modernen entstanden im 18. Jahrhundert pragmatische
Chemie Atomtheorien, die davon ausgingen, dass je-
dem Element eine Partikelsorte entsprach. Die
Von Minima Naturalia zu Atomen Klärung der Frage, ob diese aus noch funda-
mentaleren Partikeln bestanden, wurde den Phy-
Es scheint keine absurde Annahme zu sein,
dass bei der ersten Erschaffung gemischter Kö- sikern überlassen. JOHN DALTON (1766 – 1844)
per die allgemeine Materie, aus der jene, wie erkannte als erster, dass die Mengenverhältnisse
andere Teile des Weltalls, bestanden, tatsäch- bei chemischen Verbindungen ganzzahlig sind,
lich in kleine verschieden bewegte Teilchen von als ob unterschiedlich schwere „Atome“ sich
verschiedener Größe und Gestalt geteilt wurde. paarweise verbinden. Der schwedische Chemi-
ROBERT BOYLE (1627–1691)
ker JÖNS JAKOB BERZELIUS (1779 – 1848) entwi-
ckelte die heute noch gebräuchliche chemische
Weder der Atomismus noch die minima-natura- Kurzschreibweise für die Mengenverhältnisse
lia-Lehre waren im 17. Jahrhundert in der Lage, in Verbindungen. Und ANTOINE LAURENT DE
die Vielfalt der Stoffe und ihre Eigenschaften LAVOISIER (1743 – 1794) erkannte das Prinzip
zu erklären. Die empirische Forschung gewann der Oxidation.
aber seit GALILEI gegenüber der aristotelischen Vieles, was im Rahmen der chemischen
Philosophie die Oberhand und der irische Na- Atomtheorie seit DALTON entstand, konnte erst
turforscher ROBERT
R BOYLE entwickelte in seinem im 20. Jahrhundert auf fundamentale physika-
Buch „Der skeptische Chemiker“ (1661) erst- lische Prinzipien zurückgeführt werden. Geht
mals einen Elementbegriff, der sich an empi- man nur von der klassischen Physik NEWTONs
rischen Sachverhalten orientierte. Gleichzeitig aus, hatte LAPLACE Recht, wenn er zu Beginn
vermochte der französische Theologe und Na- des 19. Jahrhunderts meinte, dass der Versuch,
turforscher PIERRE GASSENDI (1592 – 1665) eine chemische Affinitäten auf Basis physikalischer
64
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Kräfte zu erklären, für den Fortschritt der Wis- spiel) ein primärer und einfacher, entzündlicher,
riechender usw. Körper ist, dann kann ich an
senschaften nutzlos sei.
ihren Worten zweifeln, wenn sie mir erzählen,
dass ein Körper, welcher entweder zusammen-
Iatrochemische, atomistische minima gesetzt oder nicht entzündlich ist, ein derartiger
naturalia mit Weltseele Schwefel ist. Auch muß ich denken, dass sie mit
Der skeptische Chemiker – Robert Boyle NEWONs Gesetze schufen einen neuen Ansatz
für Atomtheorien. Er selbst machte den Anfang
Den Chemikern stand es anfangs frei, die Stoffe,
die sich bei ihren Analysen ergaben, Schwefel in seiner Frage 31 im dritten Buch der Opticks:
oder Quecksilber oder Gas oder Blas oder was
ihnen sonst gefiel, zu nennen. Wenn sie aber Have not the Particles of Bodies certain Po-
einmal gesagt haben, dass Schwefel (zum Bei- wers, Virtues, or Forces, by which they act at
65
KAPITEL 3 Historischer Überblick
a distance, not only upon the Rays of Light for gleichzeitig so stark, dass Elemente nicht durch
reflecting, refracting, and inflecting them, but
chemische Methoden in ihre Bestandteile zerlegt
also upon one another for producing a great
3-50 werden konnten?
Partikelmodelle. Je nach Part of the Phænomena of Nature?
zugrunde liegenden
Kraftgesetzen entstanden Da Körper offenbar durch die Kräfte der Gra- Elegant, aber unpraktikabel –
unterschiedliche Modelle vitation, des Magnetismus und der Elektrizität
für größere Partikel,
mechanistische Atomtheorien
den Elementen oder
aufeinander wirken, so argumentierte er, sei es
Verbindungen. NEWTON, nicht unwahrscheinlich, dass Anziehung zwi- Für eine empirische Fundierung von Teilchen-
dem englischen Physiker schen Körpern ein allgemeines Prinzip der Natur kräften gab es im 18. Jahrhundert einige Ansatz-
STEPHEN HALES (1677 –
ist. Und es könne durchaus Kräfte geben, die nur punkte. NEWTON zeigte, dass „elastische Flüssig-
1761) und anderen
diente Äther, Luft oder eine geringe Reichweite besitzen, gerade so kurz, keiten“ (so wurden Gase damals bezeichnet), bei
Feuer als Füllstoff der dass sie kleinste Teilchen zusammenfügen konn- denen Druck und Dichte einander proportional
Materie, der für deren ten. So könnte aus einer Verbindung zwischen sind, durch eine abstoßende Kraft beschrieben
unterschiedliche Elastizität
sorgte. KNIGHT hingegen Metall und Salpetersäure das Metall durch ein werden können, die umgekehrt proportional
postulierte anziehende anderes deshalb verdrängt werden, weil dessen zum Abstand der Teilchen ist. Auch die mag-
und abstoßende Anziehung zur Säure stärker ist. NEWTON stellte netische Kraftwirkung und Kohäsionskräfte
Materiesorten, um die
verschiedenen Stoffe die entsprechende Verdrängungskette Quecksil- schienen auf ein solches Gesetz hinzuweisen
und ihre Eigenschaften ber – Silber – Kupfer – Eisen – Zink auf. und die Affinitäten der chemischen Substanzen
zu erklären. Luft bestand NEWTON war sich bewusst, dass sich die Viel- sah schon NEWTON als Beispiel für die Wirkung
aus abstoßender Materie,
da dies dem Boyleschen falt der stofflichen Phänomene schlecht vertrug von Partikelkräften an.
Gesetz zu entsprechen mit homogenen Teilchen und zentral wirkenden Bei der Suche nach entsprechenden Kraft-
schien, Feuer als alles Anziehungskräften. Und so entwickelte er wie gesetzen, zeigte sich bald, dass man auf die
durchdringender Stoff
bestand aus anziehender
schon manche seiner Vorgänger eine hierarchi- A nnahme unterschie d licher Partikelformen
Materie. Je fester ein sche Korpuskulartheorie. Aus den kleinsten, verzichten konnte. Gleichgroße, runde, homo-
Stoff war, desto größer homogenen Partikeln sollten größere Strukturen gene Partikel erfüllten ihren Zweck ebenso gut
waren die Partikel aus
entstehen, zunächst die Elemente und in wei- (Å Abbildung 3-50). Unterschiedliche Kraftwir-
anziehender Materie,
aus denen er bestand. teren Aggregationen auch Verbindungen. Die kungen zusammengesetzter Partikel konnte man
Wasser als neutrales spezifischen Formen dieser Strukturen erlaubten einfach durch deren innere Struktur erklären.
Element bestand aus einer
auch inhomogene Kraftverteilungen, eine uner- Wesentlich wichtiger schienen Art und Verlauf
Mischung beider Sorten.
Boscovichs Kraftgesetz lässliche Voraussetzung für die Erklärung von der Kräfte zwischen den Partikeln zu sein. Sta-
erlaubte die Bildung stofflichen Unterschieden wie die spezifische bile Verbindungen zwischen Partikeln konnten
beliebig geformter Partikel Affinität von Metallen gegenüber Säuren. Aber sich zum Beispiel bilden, wenn die anziehende
unterschiedlicher Größe,
die nur aus Kraftzentren wie sollte man diese Partikelkräfte bestimmen, Kraft mit zunehmender Nähe wieder abstoßend
bestanden. wenn deren Reichweite so gering war, sie aber wurde. Am Punkt des Nulldurchgangs blieb ein
Teilchen dann „gebunden“, ohne den Bindungs-
partner zu berühren. Auch durch Kombination
von anziehenden und abstoßenden Kräften war
es möglich, stabile Bindungszustände zu mo-
dellieren (Å Abbildung 3-51). COMTE DE BUFFON
(1707 – 1788) ging davon aus, dass chemische
Affinitäten auf der gleichen Kraft basieren wie
die Gravitation. Die unterschiedlichen Affi-
nitäten der Stoffe waren seiner Ansicht nach
eine Folge der Gestalt und Orientierung der
elementaren Partikel, die dadurch unterschied-
lich starke Kräfte aufeinander ausüben könnten.
D e r vo n N E W T O N zur Erklärun g der
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
66
Erde, Wasser, Luft und Feuer
3-51
Kraftgesetze. Im 18. Jahrhundert wurde eine Vielzahl
spekulativer Kraftgesetze vorgeschlagen, um die Inter-
aktion kleinster Partikel zu beschreiben. Der Holländer
'SGRAV
A ESANDE (1688 – 1742) nahm gleichförmige Partikel
an, die sich im Nahbereich stark anziehen, bei größerer
Entfernung hingegen abstoßen. Der Engländer GOWIN
KNIGHT (1713 – 1772) schlug zwei unterschiedliche Arten
von Partikeln vor, die sich entweder anziehen oder absto-
ßen. Die Anziehungskraft sollte bei kleinen Entfernungen
in eine abstoßende Kraft übergehen. Ein T Teilchen, das
sich im Nulldurchgang der Kraft befindet, bleibt dort „ge-
bunden“. Damit kam KNIGHT qualitativ den tatsächlichen
Verhältnissen (Gravitation und sogenanntes Lennard-
Jones-Potenzial, rechts unten) schon nahe. Der Ragueser
ROGER BOSCOVICH beschrieb ein universelles Kraftgesetz,
das für große Abstände in das Gravitationsgesetz über-
67
KAPITEL 3 Historischer Überblick
Stoffe Verbindungen aufgrund einer Art Sympa- tausend chemische Reaktionen zwischen 27 Säu-
thie füreinander eingehen, finden wir schon bei ren, 8 Basen und 14 Metallen tabellierte.
PARACELSUS und den Stoikern. Erst im 18. Jahr- Anfangs ging man davon aus, dass Verdrän-
hundert wurde begonnen, unter dem Einfluss gungsreaktionen immer vollständig erfolgten,
des neuen Begriffs der Kraft, Bindungsstärken d.h. in der Reaktion AB +C→ AC+ B sollte von
von Substanzen systematisch zu vergleichen. C am Ende nichts mehr übrig bleiben. CLAUDE
NEWTON hatte mit einer Verdrängungsreihe der LOUIS BERTHOLLET (1748 – 1822) erkannte je-
Metalle den Anfang gemacht und der franzö- doch, dass die Umsetzungsgeschwindigkeit um-
sische Chemiker ÉTIENNE FRANÇOIS GEOFFROY gekehrt proportional ist zur Menge des bereits
(1672 – 1731) griff diese Idee auf und veröffent- umgesetzten Stoffes. Die vollständige Umsetzung
lichte 1718 bei der französischen Akademie der tritt nur auf, wenn das Reaktionsprodukt laufend
Wissenschaften seine „Tafel der verschiedenen entfernt wird, etwa indem es als unlöslicher Stoff
Verhältnisse, wie sie zwischen verschiedenen aus der Reaktionslösung ausfällt. Dieses Gesetz
Substanzen beobachtet wurden“ (ÅAbbildung ist heute als Massenwirkungsgesetz bekannt.
3-54). Sie ordnete Stoffe, die miteinander Ver-
bindungen eingehen, nach ihren relativen Bin- Georg Ernst Stahl und das Phlogiston
dungsstärken. Die Bindung zwischen A und
C ist stärker als die zwischen A und B, wenn Der Chemiker GEORG ERNST STAHLL (1659 – 1734)
die folgende Verdrängungsreaktion stattfindet: unterschied zwischen chemischen Prinzipien,
AB + C → AC + B. Im Lauf der folgenden Jahr- auf die alle Verbindungen letzten Endes
zehnte entstanden noch eine ganze Reihe weite- reduziert werden könnten und Partikeln, die der
rer Tafeln chemischer Verdrängungsreaktionen, Materie zugrunde liegen mochten, über deren
unter anderem vom schwedischen Chemiker Beschaffenheit man aber nichts wusste. Für STAHL
TORBEN BERGMAN (1735 – 1784), der mehrere waren die chemischen Prinzipien Wasser, eine
68
Erde, Wasser, Luft und Feuer
69
KAPITEL 3 Historischer Überblick
Schon HERON VON ALEXANDRIA und PHILON Die Gedanken und Experimente eines Mannes
VON BYZANZ stellten durch Versuche fest, dass hätten, wären sie damals bereits in vollem Um-
eine Kerze beim Brennen Luft verbraucht. Den- fang bekannt geworden, die Chemiker vielleicht
noch saß die Überzeugung, dass Feuer zerlegend schneller auf die richtige Fährte geführt. Der
wirkt und bei der Verbrennung nichts hinzutritt, russische Chemiker und Dichter MICHAILO WAS-
bis ins 18. Jahrhundert hinein so tief, dass frühe SILIEWITSCH LOMONOSSOW (1711 – 1765) schrieb
Hinweise auf die Rolle des Sauerstoffs falsch in einem Brief an den Mathematiker LEONARD
gedeutet wurden. Bereits im 17. Jahrhundert EULER: „Es besteht kein Zweifel, daß die Par-
fanden JOHN MAYOW (1641 – 1679) und ROBERT R tikelchen der Luft, die fortwährend um den
HOOKE heraus, dass bei der Verbrennung eine kalzinierenden [oxidierenden] Körper schwe-
3-55 besondere Art von Luft benötigt wird, die MA- ben, sich mit ihm vereinigen und sein Gewicht
Verbrennung. MAYOW
nahm an, dass „Salpeter- YOW als salpeterartige Luft bezeichnete, da sie vermehren“.
luft“ (Stickoxide) bei der auch bei der Verbrennung von Salpeter (Nitrate) Aber zunächst setzte sich die Phlogiston-
Verbrennung zwischen entsteht. Er entdeckte, dass diese Luft etwa ein theorie durch. Sie passte zu experimentellen
die tria prima der Metalle
drang und sie voneinan- Viertel des Gesamtvolumens ausmacht. Es han- Daten, solange man für Inkonsistenzen in den
der löste. Der entstehende delte sich natürlich um Sauerstoff, dessen Anteil Gewichtsbilanzen andere Ursachen verantwort-
Metallkalk sollte aus den an der Luft 21 Prozent beträgt. Seiner Ansicht lich machte. Das Phlogiston stand zudem in der
Luftteilchen und dem
Salzbestandteil bestehen. nach diente sie dazu, Metalle in ihre Bestand- Tradition eines anderen unwägbaren Stoffes,
STAHL (Mitte) entwickelte teile Schwefel, Salz und Quecksilber (tria prima) des Äthers. Durch Identifikation des Phlogis-
den Kreislauf des Phlogis- zu zerlegen. Die salpeterartige Luft verband sich tons mit dem Äther wurde eine Verbindung
tons, der im Prinzip dem
Oxidations-Reduktions-
daraufhin mit dem entstehenden Salz, was so- zwischen Licht (seit NEWTON als Ätherschwin-
Kreislauf entspricht (un- wohl die Gewichtszunahme der Metalloxide als gungen verstanden), den elektrischen und ma-
terstes Bild), nur anders- auch die Abnahme des Luftvolumens erklären gnetischen Kräften und der Verbrennung ge-
herum. Phlogiston wird
konnte (ÅAbbildung 3-55). schaffen, bei der ebenfalls Licht entstand.
bei der Metallverbrennung
ausgeschieden, es entsteht
Metallkalk (Metalloxid). Seite Seite 66). BLACK stellt auch fest, dass die zeichnete, weil er die Verbrennung unterstützte.
Das Phlogiston kommt
verbleibende Substanz sich chemisch verändert Da sein Buch erst nach JOSEPH PRIESTLEYs Veröf-
über die Luft ins Holz und
bildet beim Glühen von hatte. Fixierte Luft besaß chemische Wirkungen fentlichung über die dephlogisierte Luft erschien,
Metallkalken mit Holz- und unterstützte die Verbrennung und Atmung galt lange Zeit PRIESTLEY als der Entdecker des
kohle wieder Metall. Nicht nicht. CARL WILHELM SCHEELE (1742 –1786) Sauerstoffs. Nach SCHEELEE übte die Feuerluft eine
das Metall, sondern der
Metallkalk ist nach dieser entdeckte 1774 einen weiteren Bestandteil der stärkere Anziehungskraft auf das Phlogiston aus
Vorstellung elementar. Luft, den Sauerstoff, den er als Feuerluftt be- als die brennbaren Substanzen, weshalb ihnen
bei der Verbrennung das Phlogiston entzogen
wurde. Dies galt auch für „kalte“ Oxidationspro-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
das Knallgasgemisch zu zünden. Diese Methode dass die Welt mathematisch fassbaren Gesetzen
wurde in der Folgezeit auch zum Amüsement folgt und dass Menschen keineswegs nur der
bei gesellschaftlichen Anlässen genutzt. Man Gnade Gottes ausgeliefert sind. Weg mit Aber-
zündete Knallgaspistolen oder -kanonen durch glauben, es lebe die Vernunft! IMMANUEL KANT
elektrische Funken aus Elektrisiermaschinen drückte es in seinem berühmten Essay „Was ist
(ÅAbbildung 3-56). Aufklärung?“ von 1784 folgendermassen aus:
Bei seinen Versuchen, die übrig gebliebene
phlogisierte Luft mittels elektrischer Funken Aufklärung ist der Ausgang des Menschen
weiter in ihre Bestandteile zu zerlegen, blieb aus seiner selbstverschuldeten Unmündig-
keit. ... Sapere aude! Habe Mut, dich deines
immer ein winziger Teil Restluft übrig, der allen eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der
weiteren Zerlegungsversuchen widerstand. Es Wahlspruch der Aufklärung.
handelte sich um die Edelgase, die erst über hun-
dert Jahre später (1894) von WILLIAM RAMSAY In England gelang es nach der „Glorious Revo-
und Lord RAYLEIGH identifiziert wurden. lution“ von 1688, bürgerliche Rechte erfolgreich
im Rahmen einer konstitutionellen Monarchie
zu etablieren, so dass Wissenschaft, Handwerk
Revolution in Chemie und und Handel gut gedeihen konnten. Deutschland
blieb aufgrund seiner Zersplitterung provinziell
Gesellschaft
und Aufklärung war vor allem ein Thema an
Es muß jetzt klarer Beweis gebracht oder stille den Universitäten. Im absolutistischen Frank-
geschwiegen werden: Der Beweis aber muß in
reich brach sich das neue Denken am Ende mit
keinem Hirngespinste, sondern in Thatsache
bestehen. Hierdurch eben unterscheidet sich Gewalt seine Bahn.
unsere jetzige Zeit vorzüglich von den vorigen
Jahrhunderten... JOHANN CHRISTIAN WIEGLEB Lavoisier – Revolution in der Chemie
Dieses Zitat drückt eine intellektuelle Haltung Die französische Revolution von 1789 wurde
des 18. Jahrhunderts aus, die sich keineswegs einem Mann zum Verhängnis, der nach eigener
nur auf die wissenschaftliche Arbeit bezog. Es Einschätzung und der vieler Zeitgenossen und
71
KAPITEL 3 Historischer Überblick
Nachfolger selbst ein Revolutionär war: ANTOINE hatte, konnte LAVOISIER zeigen, dass Verbrennung
LAURENT DE LAVOISIER (1743 – 1794). LAVOISIER (Oxidation) und Reduktion spiegelbildliche
wurde 1794 auf der Guillotine hingerichtet, Prozesse sind, bei denen keine Masse verloren
denn man warf ihm unter anderem Erpressung geht. Damit war Phlogiston für die Erklärung
des französischen Volkes bei seiner Arbeit als von Verbrennun g s p rozessen überflüssi g
Steuerpächter vor. geworden. Nachdem COMTE DE PELUSE MONGE
LAVOISIERs revolutionäre Arbeit betraf nicht (1746 – 1818) im Jahr 1783 nachgewiesen hatte,
das Feld der Politik, sondern das der Chemie. dass das bei einer Knallgasexplosion entstehende
Er war die treibende Kraft bei der Schaffung Wasser die gleiche Masse besitzt wie beide
einer neuen chemischen Nomenklatur, die wir Ausgangstoffe zusammen, konnte LAVOISIER
heute noch verwenden und wir haben ihm zeigen, dass man Wasser wieder in Wasserstoff
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
die Erkenntnis zu verdanken, dass es keines und Sauerstoff zerlegen kann. Wasserstoff nannte
Phlogistons bedarf, um Verbrennungsprozesse er daher Hydrogène, den Wassererzeuger. Er
zu erklären. LAVOISIER erkannte, dass ein zeigte auch, dass bei anderen Oxidations- und
Bestandteil der Luft, die schon bekannte Feuerluft Reduktionsprozessen wie der Verbrennung von
SCHEELEs, als Erklärung vollkommen ausreicht. Schwefel die Gesamtmasse erhalten blieb. Als
3-57
Lavoisier. Mit seiner Frau, Er nannte diesen Bestandteil in seinem neuen bekannte Chemiker wie BERT R HOLLET und MARTIN
R
der Chemikerin MARIE- Begriffssystem Oxygène, den Säureerzeuger HEINRICH KLAPROTH (1743 – 1817) LAVOISIERs
ANNE PIERRETTE PAULZE. (griech. oxys, scharf, spitz, sauer und gen, Ergebnisse bestätigen konnten, wuchs die Zahl
Portrait von JACQUES-LOUIS
DAV
A ID (1748 – 1825)
erzeugen, gebären), da bei der Verbrennung der Anhänger der Oxidationstheorie und Anfang
nichtmetallischer Stoffe wie Schwefel oder des 19. Jahrhunderts hatte sie sich praktisch
Phosphor ein Gas entsteht, das in Verbindung durchgesetzt. Im Kontext elektrischer, optischer
mit Wasser eine Säure bildet (Schwefel- bzw. und thermischer Erscheinungen hielt sich
Phosphorsäure). Angeregt durch einen Versuch Phlogiston allerdings noch länger (ÅWärme und
PRIESTLEYs, der mit Hilfe eines Brennglases Materie, Seite 90). Auch LAVOISIER behandelte
dephlogisierte Luft aus Quecksilberoxid erzeugt die bei chemischen Reaktionen entstehende
Wärme als chemisches Element und nannte es
3-58
Elemente. Liste der ein- Calorique (lat. Caloricum, ÅAbbildung 3-58).
fachen Substanzen nach Seiner Ansicht nach war der an Substanzen
LAV
A OISIER. Dazu zählten
durch Erhitzen gebundene Wärmestoff für
auch Licht (Lumière) und
Wärmestoff (Calorique), deren Verdampfen verantwortlich. Seine
dessen abstoßende abstoßende Wirkung bildete das Gegenstück zu
Wirkung für Schmelzen den anziehenden Kräften der kleinsten Teilchen.
und Verdampfen verant-
wortlich sein sollte. Er
Wurde einem Körper Wärme zugeführt, so
unterschied zwischen den überwog am Ende die abstoßende Wirkung des
Bestandteilen aller Körper Wärmestoffs und der Körper wurde flüssig.
der belebten und unbeleb-
ten Welt. Neben Licht und
Im Jahr 1787 veröffentlichte LAVOISIER
Wärmestoff unterschied z usa mm e n mi t B ERTH OLLET , F O UR C R O Y
er namentlich Sauerstoff, (1755 – 1809) und G U Y T O N -M O RV E A U
Stickstoff (Azote) und
(1737 – 1816) die Méthode de nomenclature
Wasserstoff, nichtme-
tallische und metallische chimique, in der er die neue Nomenklatur der
Substanzen und die soge- chemischen Substanzen vorstellte. Neben teils
nannten Erden wie Kalk
neuen Bezeichnungen für die Elemente führten sie
(Chaux) oder Siliciumdi-
oxid (Silice). Letztere sind einheitliche Namen für deren Verbindungen ein,
nach heutigem Wissen die wir auch heute noch verwenden. Die Säuren
natürlich keine Elemente, definierte LAVOISIER als binäre Verbindungen
sondern Verbindungen.
zwischen Nichtmetallen und Sauerstoff, ihr Name
wurde aus dem Namen des Elementes abgeleitet.
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
72
Erde, Wasser, Luft und Feuer
dabei nach dem Grad der Sauerstoffsättigung der tigt man immer 2 Gewichtsteile Wasserstoff und
Säure, zum Beispiel zwischen Sulfiten und Sulfaten 16 Gewichtsteile Sauerstoff um 18 Gewichts-
als Salze der schwefeligen Säure (H2SO3) und teile Wasser zu erhalten. Dies gilt unabhängig
der Schwefelsäure (H2SO4). Metalloxide nannte davon, ob ein Gewichtsteil einem Gramm oder
er „Basen“, analog definierte er „Radikale“ einer Tonne entspricht. Zwischen 1799 und 1807
der or g anischen Säuren (Weinsteinsäure, entdeckte JOSEPH LOUIS PROUST (1754 – 1826)
73
KAPITEL 3 Historischer Überblick
fung und Kondensation, der Lösung von Gasen druck auf die Gefäßwand ist einfach die Summe
in Flüssigkeiten und über die Natur der Wärme. der Partialdrücke aller Gase im Gefäß. Diese
Dabei entwickelte er eine Atomtheorie, die sich Feststellung ist als Daltonsches Gesetz bekannt.
von den anderen seiner Zeit in vielen Aspekten Aber wie konnte der Prozess des Mischens ab-
unterschied. Für DALTON bestand jedes Element laufen, wenn es keine Kräfte geben sollte, die
(im Sinne LAVOISIERs) aus einer einzigen Art von die unterschiedlichen Gaspartikel zueinander
Atomen und alle Atome desselben Elements wa- ziehen? Warum blieben die Gasmoleküle nicht
ren exakt gleich. Dies stand im Gegensatz zu den einfach unter sich und bildeten Schichten ent-
Auffassungen der meisten Physiker seiner Zeit, sprechend ihres Gewichts wie bei Sedimenten?
nach denen Elemente aus Partikelkonglomeraten Aus heutiger Sicht ist der Fall klar: Gase dif-
bestanden, die keinesfalls identisch sein muss- fundieren ineinander, weil die Gaspartikel sich
ten. Im Gegensatz zu den Vorstellungen anderer mit hoher Geschwindigkeit bewegen. DALTON
Chemiker waren für DALTON Gasmischungen ging wie die meisten seiner Zeitgenossen aber
3-61 oder Lösungen von Gasen in Flüssigkeiten rein davon aus, dass Gaspartikel im Wesentlichen in
Daltons Elemente und mechanische Mischungen und keine Folge der Ruhe sind. Wärme stellte sich DALTON vor als
Verbindungen. Im Ge- chemischen Affinitäten zwischen den Substan- Wärmepartikel, die die Atome umhüllen und
gensatz zu BERZELIUS, der
die heutige gebräuchliche zen. Für DALTON spielten die Affinitäten nur in aufeinander abstoßend wirken. Bei Gasen sei die
Schreibweise für Ele- Verbindungen eine Rolle. Diese waren von Mi- Hülle besonders groß, weshalb die Abstoßungs-
mente und Verbindungen schungen gut zu unterscheiden, da laut DALTON kraft überwiegt. Bei Flüssigkeiten sei sie kleiner,
einführte, verwendete
DALTON noch kreisförmige
nur in Verbindungen die Verbindungspartner Abstoßungskraft und Anziehungskraft der Par-
Symbole (1: Wasserstoff, immer in ganzzahligen Gewichtsverhältnissen tikel (Affinität) halten sich in etwa die Waage,
2: Stickstoff, 3 Kohlenstoff vorlagen. DALTON ließ sich von der Vorstellung weshalb sich die Partikel gegeneinander bewegen
usw.). DALTON bezeichnete
leiten, dass sich Gaspartikel verschiedener Gase lassen. Bei Festkörpern sei die Anziehungskraft
Verbindungen als „binär“,
wenn jeweils nur ein Atom miteinander mischen, ohne sich wechselseitig zu am größten, die Partikel lassen sich nicht gegen-
eines Reaktionspartners beeinflussen, das heißt, ohne dass die verschie- einander bewegen. Die Wärmehüllen vergrößern
beteiligt war, als „ter-
denen Gaspartikel Kräfte aufeinander ausüben. sich bei Erwärmung, weshalb sich Festkörper
när", wenn von einem
Partner zwei Atome be- Jedes Gas verhält sich so, als ob die anderen ausdehnen. Die universelle Rolle der Wärme als
teiligt waren und so fort. Gase nicht vorhanden wären. Das bedeutet, dass abstoßende Kraft war für DALTON der Grund
Wasser sollte aus einem der Druck, den ein Gas in einem Gefäß ausübt, dafür, dass sich alle Gase zumindest innerhalb
Wasserstoff- und einem
Sauerstoffatom bestehen unabhängig ist vom Vorhandensein weiterer eines großen Temperaturbereichs gleich stark
(Nr. 21). Gase, die ihrerseits Druck ausüben. Der Gesamt- ausdehnen. Wäre diese Ausdehnung abhängig
von Anziehungskräften zwischen den Partikeln,
so müssten sich Gase verschieden stark ausdeh-
nen. Die Anziehungskräfte müssen ja von der
Natur der Gase abhängen, da sie für die spezifi-
schen chemischen Verbindungen verantwortlich
gemacht werden. Damit hatte DALTON 1801
sechs Monate vor GAY-LUSSAC (1778 – 1850) das
Erste Gesetz von Gay-Lussac entdeckt.
Atomgewichte messen
74
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Prinzip: In einer chemischen Verbindung ver- Dies schien der Atomtheorie zu widersprechen,
bindet sich immer eine ganz bestimmte Anzahl denn aus jeweils einem Volumen Stickstoff
Atome der Reaktionspartner miteinander. Daher u n d Saue r sto ff e n tsta n de n z we i Vo l u m e n
blieben ihre Gewichtsverhältnisse auch kons- Stickstoffmonoxid. Müsste das Volumen nicht
tant, unabhängig davon, ob es sich um wenige kleiner werden? Schließlich sollte sich ja die Zahl
75
KAPITEL 3 Historischer Überblick
Elementen gab es Isotope, also Varianten mit positiven Metalle enthielten. Dieses sogenannte
unterschiedlichem Atomgewicht aber gleichen dualistische System der Verbindungen konnte
chemischen Eigenschaften. In der Natur liegen viele chemische Reaktionen anschaulich deuten
meist Isotopenmischungen vor, weshalb sie keine und blieb lange Zeit populär.
ganzzahligen Vielfache des Wasserstoffs sein
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
konnten. Und noch etwas später erkannte man Verwirrende Vielfalt
die Zusammensetzung der Atomkerne aus Pro-
tonen und Neutronen, die beide den Hauptanteil Be r e i ts L AVOISI ER hatte nachgewiesen,
des Atomgewichts stellen. dass tierische oder pflanzliche Produkte im
Wesentlichen aus Kohlenstoff und Wasserstoff
3-63
u nd zu einem geringen Teil aus Sauerstof f
Justus von Liebig. JUSTUS Von Atomen zu Molekülen bestanden. Dies stand im Gegensatz zur toten
VON LIEBIG war ein äußerst Materie: Während diese offenbar aus einer
produktiver Chemiker. Mit
Hilfe des von ihm ent-
Obwohl die Atomtheorie das Gesetz der mul- g roßen Zahl von Elementen in einfachen
wickelten Kali-Apparats tiplen Proportionen stützte, beeinflusste sie Verbindungen bestand, war organische Materie
konnte man relativ einfach zunächst – ähnlich wie schon die Jahrhunderte aus wenigen Elementen mit einer großen
und sehr genau die Zu-
zuvor – die Chemie nur wenig. Vielen Che- Zahl an Atomen und Verbindungsvarianten
sammensetzung organi-
scher Stoffe bestimmen. mikern genügte der Begriff des Elements und aufgebaut. Die Chemiker FRIEDRICH WÖHLER
Er entdeckte, dass Pflan- die Vorstellung, dass diese in Verbindungen (1800 – 1882) und J U STUS V ON L IEBI G
zen aus dem Boden vor
stets in ganzzahligen Gewichtsverhältnissen (1803 – 1873, (Å Abbildung 3-63) stellten 1832
allem Stickstoff und Phos-
phor aufnehmen, was (Äquivalenten) vorlagen. Der Grund für diese fest, dass sich viele Atomgruppen organischer
ihn zur Entwicklung des Zurückhaltung lag darin, dass Chemikern die Verbindungen wie Elemente verhielten: Sie
Phosphatdüngers führte, bloße Vorstellung von Atomen bei drängenden blieben bei chemischen Reaktionen zusammen.
der die Agrarwirtschaft
des 19. Jahrhunderts re- Fragen nicht weiter half: Warum reagierten B E RZELIU S integrierte diese organischen
volutionierte. Der von ihm Elemente oder Verbindungen mit anderen auf Radikale in sein dualistisches System. Die
entwickelte Fleischextrakt die beobachtete Weise? Und wie konnte man positiv gedachten Radikale sollten sich mit
ist der Vorläufer heutiger
Brühwürfel. Auch der die Eigenschaften von Verbindungen vorher- negativen Elementen wie Sauerstoff verbinden.
Silberspiegel ist eine Erfin- sagen? Aus der Entdeckung, dass elektrischer Allerdings konnte dies nicht erklären, warum
dung Liebigs; vor seiner Strom Verbindungen wie Wasser in die Ele-
Einführung wurde giftiges
Quecksilber eingesetzt.
mente zerlegen kann, folgerten SIR HUMPHRY R
DAVY (1778 – 1829) und BERZELIUS, dass che- Radikale
mische Affinitäten eine Folge elektrischer An-
ziehungs- und Abstoßungskräfte sind (Å Die Heute wird unter einem Radikal eine Gruppe
Kraft der Elektrizität). BERZELIUS stellte sich von Atomen mit ungepaarten Elektronen ver- r
Atome elektrisch polarisiert vor, je nach Ele- standen, die leicht an chemischen Reaktionen
ment überwog dabei die positive oder negative teilnehmen. Die Gruppe wechselt dabei als
Ladung. Entsprechend der Spannungsreihe der Ganzes den Verbindungspartner. Radikale
Elemente sollte Kalium stark positiv, Sauer- sind extrem reaktionsfreudig und wirken
stoff stark negativ polarisiert sein, weshalb sich daher auch als Zellgift. Wichtige Radikale
beide besonders heftig miteinander verbanden. sind das Hydroxyl-Radikal (·OH), das in
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
Wasserstoff nahm eine neutrale Mittelstellung ionisierter Form für die basische Wirkung
ein. Die Trennung der Verbindungen durch von Seifenlaugen verantwortlich ist und das
Elektrolyse war möglich, weil die elektrische von LIEBIG und WÖHLER untersuchte Benzoyl-
Kraft die Verbindungspartner wieder auseinan- Radikal C7H5O·, das in der Benzoesäure, dem
3-64 der riss. BERZELIUS dehnte dieses Prinzip auch Benzoaldehyd und dem Benzylalkohol zu fin-
Liebigbilder. Liebigs auf Verbindungen aus. Sie sollten immer aus den ist. Grundsätzlich hatte BERZELIUS Recht,
Fleischextrakt wurde
einem negativen und einem positiven Teil beste- wenn er elektrische Kräfte zwischen Radikal
weltweit in Packungen
mit humoristischen oder hen, die er nach LAVOISIER als Radikale bezeich- und anderen Komponenten für ihre chemi-
informativen Bildern ver- nete. Metalloxide und Säuren verbanden sich schen Reaktionen verantwortlich machte. Der
kauft. Die Abbildung zeigt zu Salzen, weil Säuren (nach den Vorstellungen Prozess der Bindung ungepaarter Elektronen
eine deutsche Version mit
Darstellungen über Afgha- LAVOISIERs) den stark negativ polarisierten Sau- ist allerdings nur quantenmechanisch zu ver-
nistan. erstoff trugen, während die Metalloxide die stehen (ÅKapitel 4).
76
Erde, Wasser, Luft und Feuer
77
KAPITEL 3 Historischer Überblick
78
Erde, Wasser, Luft und Feuer
79
KAPITEL 3 Historischer Überblick
war allerdings in der Lage, mehr als nur Bekanntes zwisc h en Atomvo l umen (b estimmt d urc h
zu repräsentieren; es konnten keine neuen AVOGADROs Gesetz) oder Elektronegativität
Elemente vorhergesagt werden. Auch begriffliche und Atomgewicht deutlich gemacht zu haben.
Unsicherheiten behinderten zunächst weiteren Hier zeigt sich besonders gut die Periodizität der
Fortschritt. Bei einem Kongress in Karlsruhe Elemente.
1860 gelang es CANNIZZARO, den Unterschied Trotz dieser Teilerfolge bleibt MENDELEJE EWs
zwischen Äquivalent und Atomgewicht zu Veröffentlichung des Periodensystems 1869 der
klären und die von ihm bestimmten „echten“ entscheidende Durchbruch. Nicht nur war sein
Atomgewichte trugen viel zur Entwicklung des System vollständiger als alle anderen zuvor,
Periodensystems bei. MENDELEJ E EW erkannte auch als erster in aller
In der Zeit zwischen 1860 und 1870 folgte Deutlichkeit, wie wesentlich die aufsteigende
schließlich der Durchbruch, der mit MENDELEJ E EWs Ordnung der Atomgewichte war. Er hatte nicht
Periodensystem der Elemente den entscheidenden nur den Mut, Atomgewichte zu korrigieren,
Abschluss fand. 1862 erkannte ALEXANDRE-EMILE wenn sie dadurch aus chemischer Sicht an die
BÉGUYER DE CHANCOURTOIS R (1819 – 1886), dass „richtige“ Stelle rückten, sondern er betrachtete
die Eigenschaften der Elemente eine periodische Lücken in der aufsteigenden Ordnung als
Funktion des Atomgewichts sind. Er konstruierte Hinweis auf noch unentdeckte Elemente. Auf
ein Periodensystem in Form einer Helix, in der diese Weise postulierte er Eka-Aluminium, Eka-
Elemente mit gleichen Eigenschaften übereinander Bor und Eka-Silicium (von sanskrit eka, eins)
standen. Aufgrund der wenig anschaulichen als neue Elemente, die auch noch zu seinen
Form und weil es nur ungefähr Ähnlichkeiten Lebzeiten gefunden wurden. Eka-Aluminium
wiedergab, blieb dieses Modell weitgehend wurde 1875 von BOISBAUDRAN entdeckt, der es
unbeachtet. JOHN NEWLANDS (1837 – 1898) Gallium nannte. 1879 entdeckte der Schwede
postulierte das Gesetz der Oktaven, nach dem LARS FREDRIK NILSON (1840 – 1899) Eka-Bor
sich die chemischen Eigenschaften nach 8 und nannte es Scandium. Eka-Silicium wurde
Elementen wiederholen. Er entwickelte 1865 ein 1886 von K LEMEN S A LEXA NDER W INKLER
System aus 65 Elementen, in dem er bereits statt (1838 – 1904) entdeckt und erhielt, ganz der
3-70 Atomgewichten eine laufende Ordnungsnummer Tradition folgend, den Namen Germanium.
Das Periodensystem
Mendelejews. In dieser verwendete. Leider erkannte er nicht, dass Diese Erfolge überzeugten die meisten Chemiker
deutschen Übersetzung die heute als Nebengruppen bezeichneten von der Richti g keit des Periodens y stems.
von 1871 erkennt man die Untergruppen die Periodizität erhöhen (ÅTabelle M ENDELEJEW hatte einige chemische und
durchgängige horizontale
Ordnung nach aufstei-
3-68). 1864 veröffentlichte LOTHAR MEYER physikalische Eigenschaften der prognostizierten
gendem Atomgewicht. (1830 – 1895) in einem Lehrbuch eine Tabelle Elemente aufgrund ihrer vermeintlichen Position
Die vertikale Gruppierung von 28 Elementen, geordnet nach Atomgewichten im Periodensystem vorhergesagt, die sich als
folgt chemischen Eigen-
schaften, insbesondere
und Valenzen. Diese Tabelle wies bereits eine weitgehend zutreffend erwiesen.
der Wertigkeit, die sich Lücke für das damals noch unbekannte Element Natürlich blieb die Ursache der Ordnung der
durch die Verhältnisse in Germanium auf; MEYER wagte allerdings keine Elemente im 19. Jahrhundert ein Mysterium.
Verbindungen mit Was-
Prognose. Ein umfangreicheres Periodensystem Erst im 20. Jahrhundert gelang es, die Ordnung
serstoff und Sauerstoff
ausdrückt. Durch diese mit 52 Elementen entwarf er 1868 im Rahmen des Periodensystems aus der Struktur der Atome
Darstellung ergeben sich einer Vorlesungsreihe, veröffentlichte es aber erst selbst abzuleiten.
natürlicherweise Lücken, nach MENDELEJ E EWs Arbeit von 1869, weshalb sich
die oft durch später ent-
deckte Elemente aufgefüllt zwischen beiden ein Prioritätenstreit entspann. Feld und Materie
werden konnten. MEYERs Verdienst ist es, den Zusammenhang
Von der Natur des Lichts
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
I m Z e i ta l te r de r M ob il te l e f o n e wu n de rn
wir uns kaum mehr über die geheimnisvolle
Fernwirkung elektromagnetischer Strahlung,
g eschwei g e denn über ihre Fähi g keit, den
leeren Raum zu durchdringen. Obwohl schon
DEMOKRIT und EPIKUR die Existenz des leeren
R aumes postulierten, glaubten sie nicht,
80
Erde, Wasser, Luft und Feuer
dass eine Wirkung ohne materiellen Kontakt dass unser Auge das von Gegenständen reflek-
möglich sei. Und dank des Durchbruchs der tierte Licht wahrnimmt. Es fehlte allerdings noch
mechanistischen Naturphilosophie hatten lange Zeit eine schlüssige Theorie über die Natur
Verweise auf körperlose Wirkungen in der des Licht"stoffes“ selbst. NEWTON favorisierte
frühen Neuzeit den Ruch des My stischen. die Vorstellung, dass Licht ein Strom von Teil-
Elektromagnetische Felder und Wellen als etwas chen ist, während HUYGENS in Anlehnung an
real Existierendes zu betrachten, fiel Physikern DESCARTES glaubte, Licht sei eine Anregung des
lange schwer. Bis ins frühe 20. Jahrhundert Äthers. Das sogenannte Huygenssche Prinzip
hinein gingen die meisten davon aus, dass es erklärt auf dieser Basis anschaulich Brechung,
eine körperliche Substanz gibt, einen Äther, Beugung und Reflexion von Licht an Medien-
der Träger dieser Wellen ist. Der Entdecker grenzen (Å Abbildung 3-71). Gegen einen Strom 3-71
der elektromagnetischen Strahlung, HEINRICH aus Lichtteilchen sprach vor allem eines: Wie Huygensche Elemen-
H ERTZ ( 1857 – 1894 ) , d rüc k te d ies 1889 können sich Lichtstrahlen ungestört durchdrin- tarwellen. Trifft eine
Wellenfront wie dar-
folgendermaßen aus: gen? HUYGENS’ Modell orientierte sich deshalb gestellt schräg auf eine
an der Ausbreitung von Schallwellen in Luft, bei Mediengrenze, so breiten
Die Wellentheorie des Lichts ist, menschlich dem diese Schwierigkeit nicht bestand. Die Rolle sich von links beginnend
gesprochen, Gewißheit: was aus derselben mit der Luft nahm der Äther ein, dessen Teilchen um Elementarwellen im un-
Notwendigkeit folgt, ist ebenfalls Gewißheit. Es teren Medium aus. Ist die
ist also auch gewiß, daß aller Raum, von dem
vieles kleiner, elastischer und härter sein sollten Ausbreitungsgeschwindig-
wir Kunde haben, nicht leer ist, sondern erfüllt als die der übrigen Materie. Durch ihre geringe keit im unteren Medium
Größe konnten sie sich auch zwischen anderen größer als im oberen, sind
mit einem Stoffe, welcher fähig ist, Wellen zu
die ersten Elementarwel-
schlagen, dem Äther. Materieteilchen bewegen, weswegen Licht durch len schneller als die später
ein evakuiertes Glasgefäß zu scheinen vermag. eintreffenden. Die Wel-
Erst EINSTEINs Relativitätstheorie machte den A uc h N E WTO N vertrat zeitweise die lenfront, gebildet aus den
Scheiteln aller Elemen-
Äther überflüssig. In seinen Worten: Vorstellung eines raumerfüllenden Äthers. Licht tarwellen knickt deshalb
bestehe aus Teilchen, die sich durch den Äther nach innen ein.
Physikalischer Raum und Äther sind nur ver- bewegen, wogegen Wärme durch Schwingungen
schiedene Ausdrücke für ein und dieselbe Sache; des Äthers selbst verursacht werde, vermutete er.
Felder sind physikalische Zustände des Raumes.
Denn wenn dem Äther kein besonderer Bewe-
Die geradlinige Ausbreitung des Lichts konnte
gungszustand zukommt, so scheint kein Grund seiner Ansicht nach nicht durch die Bewegung
dafür vorzuliegen, ihn neben dem Raum als ein des Äthers selbst hervorgerufen werden,
Wesen besonderer Art einzuführen. die turbulente Wärmeausbreitung hingegen
sehr wohl. N EW T O N s Kor p uskulartheorie
Dass es sich bei Licht, Magnetismus und Elek- konnte Brechung, Streuung und Reflektion
trizität um die Wirkung derselben Kräfte han- weniger elegant erklären, dafür aber die
delt, war bis zum 19. Jahrhundert unbekannt. unterschiedliche Polarisation des Lichts beim
Bedenkt man die Vielfalt und Verschiedenheit Durchgang durch doppelbrechende Kristalle.
dieser Erscheinungen, so zählt ihre erfolgreiche HUYGENS ging von Ätherschwingungen parallel
Erklärung durch eine einzige Theorie zu den zur Ausbreitungsrichtung aus, sogenannten
größten Erfolgen der Physik. Als unerwartet Longitudinalwellen. Die Schwingungen
schwierig erwies sich aber, das Zusammenspiel konnten sich also nicht unterscheiden, die
zwischen Strahlung und Materie zu erklären. Polarisation blieb unerklärt. Als später THOMAS
Y OU N G ( 1773 – 1829 ) und A UGUS TI N J EA N
Welle oder Korpuskel – FRESNEL (1788 – 1827) zeigten, dass Licht eine
HUYGENS oder NEWTON Transversalwelle ist (das heißt, die Schwingung
erfolgt senkrecht zur Ausbreitungsrichtung),
Lange Zeit war der Zusammenhang zwischen k o nn te auc h d i e P o l a ri sat i o n du r c h d i e
betrachtetem Gegenstand, Auge und Licht im We ll e n t h eo ri e e rkl ä r t we r de n . N E W T O N S
Wahrnehmungsprozess umstritten. Unklar war Korpus k u l art h eorie h errsc h te d ennoc h
unter anderem, ob etwas vom Gegenstand aus- knapp ein Jahrhundert lang vor, bis 1802 die
ging und das Auge trifft oder ob das Auge Seh- Doppelspaltexperimente von THOMAS YOUNG
strahlen aussendet. Der islamische Gelehrte IBN endgültig den Nachweis erbrachten, dass Licht
AL HAITHAM kam schließlich zu dem Schluss, eine Wellenerscheinung war.
81
KAPITEL 3 Historischer Überblick
wärmt die Erde und spendet uns Licht; alle licher Zeit bekannt. Unerklärlich blieben die
chemischen Reaktionen von der Verbrennung Fernwirkung von Magneten und die Fähigkeit,
bis zum Stoffwechsel sind Folgen elektromag- durch andere Stoffe hindurch zu wirken. So
netischer Kräfte. Und natürlich ist die Funktion zitiert ARISTOTELES THALES, der Magneten eine
unseres Gehirns ohne sie nicht denkbar. Seele zuschrieb, weil sie in der Lage waren, Kör-
Das Phänomen der elektrostatischen Anzie- per ohne direkten Kontakt zu bewegen.
3-72 hung nach Reiben von Bernstein war bereits
Natürlicher Bernstein.
Das fossile Baumharz
in der Antike bekannt. In vornehmen antiken Von fließenden Formen und Ausflüssen
enthält oft Einschlüsse von Haushalten wurde Bernstein als Kleiderbürste
Pflanzen- und Tierresten. verwendet, weil er den Staub anzog. Der Begriff Die Erklärungsversuche von Magnetismus und
Es schwimmt auf Wasser
und lässt sich polieren.
Elektron leitet sich vom griechischen Namen Elektrizität waren in der Neuzeit zunächst ge-
Dank seines hohen elek- électron des Bernsteins ab, was so viel bedeutet prägt durch die vorherrschenden naturphilo-
trischen Widerstands leitet wie „hell, glänzend, strahlend“. Die Germanen sophischen Strömungen. Auf der einen Seite
er durch Reibung entste-
fanden seine Brennbarkeit bemerkenswert: Bern- standen mechanistische Erklärungen, auf der
hende Oberflächenladun-
gen schlecht ab und zeigt stein stammt ab vom mittelniederdeutschen bör- r anderen Seite solche, die sich noch auf aristote-
elektrische Phänomene nen (brennen). Die Natur der elektrischen Phäno- lisches Gedankengut oder Sympathien stützten.
wie etwa die Anziehung
mene bereitete anfangs reichlich Kopfzerbrechen. Besonders schwierig war Elektrizität einzuord-
kleiner Papierschnipsel.
Der griechische Name für Kleine Partikel konnten zunächst angezogen und, nen. Sowohl die elektrisierbaren als auch die
Bernstein ist Elektron. angezogenen Stoffe waren völlig unterschied-
licher Natur, so dass es schwer fiel, ihnen eine
Richtungsweisend: der Magnetkompass gemeinsame Eigenschaft zuzuschreiben. Auch
das delikate Zusammenspiel von Anziehung und
Die ersten Aufzeichnungen über den Ge-
Abstoßung narrte die Experimentatoren.
brauch eines Magnetkompasses für die Na-
Dem Londoner Arzt WILLIAM GILBERT
vigation in Europa stammen von dem engli-
(1544 – 1603) verdanken wir den Begriff Elektri-
schen Wissenschaftler ALEXANDER NECKAM
zität für die Kraft, die elektrisch geladene Stoffe
(1157 – 1217). Am bekanntesten ist der aus-
ausüben, und die Entdeckung weiterer elektri-
führliche Bericht PETER PEREGRINUS von 1269
sierbarer Stoffe neben Bernstein. Er bezeichnete
über in Wasser sich ausrichtende Magnet-
diese Stoffe als Electrics. GILBERT
R betrachtete die
steine und trocken gelagerte Magnetnadeln.
magnetische Kraft als eine essenzielle Eigenschaft
Er nannte die beiden Enden der Magnete in
des Erdelements. Sie sei im aristotelischen Sinn
Anlehnung an die Erde „Pole".
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
82
Erde, Wasser, Luft und Feuer
weil die innen zugeführte elektrische Materie in alle Beobachtungen überzeugend erklären, und
gleicher Menge durch die geerdete Außenseite die Natur der elektrischen Kräfte und Ladungen
abgeführt wird, eine isolierte Flasche vermag dies blieb noch einige Zeit im Dunkeln.
nicht. Weil FRANKLIN negative Ladung als einen
Mangel an elektrischer Materie ansah (und nicht Wo steckt die Ladung?
3-78 als eine andere Art von Ladung), war allerdings
Franklins Experiment. Es
ist nicht jedermanns Sa-
schwer zu erklären, warum sich negative geladene FRANKLIN glaubte, dass bei Leidener Flaschen
che, einen Drachen in eine Körper abstoßen. die elektrische Materie im Glas stecke und beim
Gewitterwolke steigen zu Auch FRANKLIN bemühte sich um eine me- Aufladen aus diesem verdrängt werde. Erstaun-
lassen. Aus heutiger Sicht
chanistische Erklärung der abstoßenden und
hatte BENJAMIN FRANKLIN 3-80
großes Glück, seinen be- anziehenden Wirkung elektrischer Materie. Sie Franklins Ladungen. Für FRANKLIN gab es nur eine Art
rühmten Versuch zu über- sollte Folge einer elektrischen Atmosphäre sein, elektrischer Ladung. Ein Körper ist positiv geladen, wenn
leben, bei dem er Funken die geladene Körper umgibt. Überschüssige La- er zuviel und negativ, wenn er zu wenig davon enthält.
aus einem Metallschlüssel Jeder Körper enthält im neutralen Zustand eine ihm zuge-
am Ende der Drachen- dung war in dieser Atmosphäre konzentriert und
ordnete Ladungsmenge.
schnur ziehen konnte. sorgte für die Fernwirkung auf Körper in der
84
Erde, Wasser, Luft und Feuer
lich war ein Versuch von ALESSANDRO VOLTA jeweils bestehend aus einer Kupfer- oder Silber-
(1745 – 1827). Er goss einen Zinnteller mit Harz und einer Zinkscheibe. Zwischen den Elementen
aus, elektrisierte das Harz durch Reibung und wird eine mit Salzwasser gedrängte Papp- oder
erdete den Zinnteller. Daraufhin legte er eine Filzscheibe gelegt. In der Kupfer-Zink – Version
an seidenen Schnüren aufgehängte, mit Metall- konnten bei 23 Elementen immerhin etwa 36
folie überzogenen Scheibe auf die Harzfläche Volt Spannung erzielt werden. Durch nicht unge-
(ÅAbbildung 3-81). Dann entlud er die Scheibe fährliche Selbstversuche mit Zunge, Augen und
85
KAPITEL 3 Historischer Überblick
lang ihm der Nachweis der magnetischen Induk- Grundla g e der O p tik, der Nachrichten-
tion. Bereits vorher vermutete man, dass elektri- und der Starkstromtechnik , in ihnen sind
sche Ströme sich nicht nur magnetisch, sondern praktisch alle elektrischen und magnetischen
auch elektrisch beeinflussen sollten, wie dies Erscheinungen vereint. MAXWELL nutzte die
elektrische Ladungen tun. Aber erst FARADAY Feldlinienvorstellungen FARADAYS und erkannte
3-84 erkannte, dass nicht der Strom selbst, sondern auch die Symmetrie der elektromagnetischen
Andre Marie Ampère
die Änderung g der Stromstärke eine Spannung in Erscheinungen. Ein sich änderndes elektrisches
(1775 – 1836). Er vermu-
tete, dass Magnetismus einem zweiten Leiter induzierte. FARADAY nutzte
durch winzige Stromkreise um stromführende Leiter kreisende Feldlinien
erzeugt wird und sollte als Modell der elektromagnetischen Wirkung.
damit recht behalten.
Sie sollten sowohl die mechanischen Kräfte
zwischen Leitern oder Magneten als auch die
Strominduktion vermitteln. Die damals übli-
chen Vorstellungen gingen von einer Fernwir-
kung zwischen Körpern aus, die wie unsichtbare
Fäden nur auf deren Verbindungslinie wirken
sollte. Erst die Idee FARADAYs, dass Kräfte im 3-86
Faradayscher Käfig. FARADAY ist vor allem durch den Fa-
3-85 radayschen Käfig bekannt. Durch ein äußeres elektrisches
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
Michael Faraday. Der Physiker auf einer frühen Daguer- Feld (äußere Platten) werden in einem Leiter (Kasten
rotypie. Er begann sich während seiner Buchbinderlehre innen) die Elektronen so verschoben, dass das dadurch
für die Naturwissenschaften zu interessieren. Seine Noti- entstehende Feld das äußere gerade kompensiert: Das In-
zen sandte er an DAVA Y, der ihn daraufhin 1813 als Assis- nere des durch den Leiter umschlossenen Bereichs bleibt
tent der Royal Institution in London anstellte. Dort wurde feldfrei. Dieser Effekt schützt vor dem Feld eines Blitzes,
er 1827 Professor für Chemie. der in den Käfig einschlägt.
86
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Feld erzeugt ein Magnetfeld und umgekehrt. Auf Verfügung standen, um Gebilde wie Wirbell oder
diese Weise kann sich eine elektromagnetische Kraftlinien auch quantitativ zu beschreiben, ent-
Welle (je nach Schwingungsfrequenz standen im Laufe des 19. Jahrhunderts immer
als Radiowelle, Radarstrahl, Licht oder ausgefeiltere Modelle eines Mediums, das alles
Röntgenstrahl) durch wechselseitige Erregung durchdringen und Träger der elektromagneti-
im freien Raum ausbreiten ( Å K aste n Di e schen Kräfte sein sollte: der Äther. Es sollte einige
87
KAPITEL 3 Historischer Überblick
88
Erde, Wasser, Luft und Feuer
89
KAPITEL 3 Historischer Überblick
Energie-Impuls-Tensor. der Nachweis, dass es sich bei Kathodenstrahlen kann. War mithin Masse nichts an d eres
Der Energie-Impuls-Tensor
T
ist eine mehrkompo- um negativ geladene Teilchen handelte. JOSEPH a ls ein elektromagnetischer Effekt? Die
nentige mathematische JOHN THOMPSON (1856 – 1940) bestimmte 1897 elektromagnetische Theorie der Masse erfreute
Größe, in der die Energie- deren Masse aus der Ablenkung in einem Ma- sich bis Anfang des 20. Jahrhunderts großer
und Impulsdichte in Zeit
und Raum beschrieben
gnetfeld und der durch die kinetische Energie Beliebtheit. Im Gegensatz zu den mechanischen
wird. In einem druck- und an der Anode entstehenden Wärme. Er entwi- Ä thertheorien des Elektromagnetismus
beschleunigungsfreien ckelte auch ein Modell des Atoms, in dem die erschien sie wesentlich eleganter und einfacher.
Bezugssystem reduziert
sich der T
Tensor auf die
Elektronen in die Materie des Atoms wie in Auch konnten um die Jahrhundertwende die
Energiedichte. Ruht in einem Pudding eingebettet waren oder sich darin Physiker HENRI POINCARÉ (1854 – 1912) und
diesem Bezugssystem auf Kreisbahnen bewegten (ÅDie Struktur des MAX ABRAHAM (1875 – 1922) zeigen, dass
ein homogener Körper
Atoms, Seite 98). dem elektromagnetischen Feld umgekehrt ein
der Dichte ρ, so ist der
Energie-Impuls-Tensor
T Impuls zugeordnet werden kann, der auf Körper
innerhalb des Körpers Lorentz’ Elektronentheorie als Strahlungsdruck wirkt. Da auch hier der
einfach gleich ρc2, c ist die Impulserhaltungssatz gelten musste, konnte man
Lichtgeschwindigkeit. Dies
folgt aus der Einsteinschen MAXWELL und HERT R Z nahmen einen überall ru- einem Feld der Energie E die Masse m zuordnen,
Beziehung E = mcc2 für die henden Äther an, bewegte Ladungen sollten ört- nach der etwas später durch EINSTEIN berühmt
Gesamtenergie des Kör- liche Änderungen des Ätherzustands bewirken, gewordenen Formel E = mc2.
pers mit der Masse m.
sichtbar durch entsprechende Feldstärkeände- Falls Masse ausschließlich elektromagneti-
rungen. Ein ruhender Äther stand allerdings im scher Natur sein sollte, musste für sie nach HEA-
Widerspruch zur experimentell gut belegten Fres- VISIDE, WIEN und ABRAHAM allerdings E = ¾mc2
nelschen Gleichung. Sie wies auf einen mit dem gelten.
Medium mitbewegten Äther hin. Das Problem, Das von den Vertretern der elektromag-
den Bewegungszustand des Äthers widerspruchs- netischen Theorie angestrebte Ziel, auch die
frei zu bestimmen, führte letzten Endes zu dessen Gravitation und die molekularen Kräfte auf
Aufgabe im Zuge der Speziellen Relativitätsthe- die Dynamik elektrischer Ladungen zurück zu
orie. HENDRIK ANTOON LORENTZ (1853– 1928) führen, erwies sich letzten Endes als undurch-
gelang es 1892 in seiner Elektronentheorie, führbar. Und doch bereiteten sie den Weg für
sowohl die Fresnelsche Gleichung als auch die eine andere Theorie, die die Äquivalenz von
Maxwellschen Gleichungen für stoffliche Medien Masse und Energie postulierte: die Spezielle
mit der Bewegung freier Elektronen und den Relativitätstheorie EINSTEINs. 1933 gelang der
Schwingungen elektrischer Dipole zu begründen; endgültige experimentelle Nachweis der voll-
der Äther ruhte im Raum und diente lediglich als ständigen Äquivalenz beider Größen. Die Phy-
Träger elektromagnetischer Felder. Ursprung aller siker PATRICK MAYNARD BLACKETT (1897 – 1974)
elektrischen und magnetischen Erscheinungen und GUISEPPE OCCHIALINI (1907– 1993) zeigten
waren nach LORENTZ ausschließlich (bewegte) die Erzeugung von Elektron-Positron-Paaren aus
elektrische Teilchen. Die Frequenzabhängigkeit Gammastrahlung und deren Vernichtung. Auch
des Brechungsindexes, die Dispersion, konnte die Abweichung um den Faktor ¾ zwischen der
LORENTZ damit ebenso erklären wie die 1896 ent- elektromagnetischen Theorie und der Relativi-
deckte Aufspaltung der Spektrallinien im Magnet- tätstheorie konnte erklärt werden. Erstere be-
feld, den nach seinem Entdecker PIETER ZEEMAN rücksichtigte nur das elektrische Feld außerhalb
(1865 – 1943) benannten Zeeman-Effekt. Beide des Körpers. Bezieht man das Innere des Körpers
erhielten dafür 1902 den Nobelpreis. über den sogenannten Energie-Impuls-Tensor
mit ein, erhält man EINSTEINs Resultat.
Ist Masse elektromagnetischer Natur?
Wärme und Materie
Berechnungen der Physiker THOMPSON, OLIVER
H EAV I S I DE ( 185 0 – 1925 ) , G EO R GE S E ARLE Wohl temperiert
(1864 – 1954) und WILHELM WIEN (1864 – 1928)
zei g ten g e g en Ende des 19. J ahrhunderts, Das Wort Temperatur ist lateinischen Ursprungs
dass die Energie des elektromagnetischen und bedeutet „gemischt sein“. Im Einklang mit
Feldes eines bewegten geladenen Körpers den zwei universellen Eigenschaftspaaren warm-
auch als Massezuwachs gedeutet werden kalt und trocken-nass wurde für Temperatur
90
Erde, Wasser, Luft und Feuer
91
KAPITEL 3 Historischer Überblick
quantitativ gut erklären konnte. Den Ausschlag leichter sein musste als jede andere Substanz. Es
für die Bewegungstheorie ("kinetische schien zudem unerschöpflich zu sein! Schließlich
Theorie“) der Wärme gaben die entdeckte war es möglich, beliebig viel Wärme aus einem
Äquivalenz von Wärme und mechanischer Körper durch Reibung zu gewinnen. Bohrte
Arbeit sowie der erfolgreiche Ansatz, mit Hilfe man ein Kanonenrohr mit einem scharfen
statistischer Methoden Wärmephänomene auf Bohrer entstand weniger Wärme als mit einem
die Bewegung vieler Teilchen zurückzuführen. stumpfen, da dieser wesentlich länger brauchte.
Wo kam diese praktisch beliebige Menge
Wärme als Substanz Caloricum her?
Trotz dieser offenen Fragen war die Zeit
Der schottische Mediziner und Chemiker noch nicht reif für eine andere Theorie der
WILLIAM CULLEN (1710 – 1790) identifizierte Wärme. Auch SADI NICOLAS LEONARD CARNOT
Feuer mit dem abstoßenden Äther NEWTONs. (1796 – 1832), der Grundlegendes zur Theorie
Äther war in seiner Vorstellung auch für der Wärmekraftmaschinen leistete, ging noch
chemische Reaktionen verantwortlich, bei denen vom Substanzcharakter der Wärme aus. Dem-
oft Hitze, also Äther, ausgetauscht wurde. Seine gegenüber erschienen viele Versuche einer Erklä-
Theorie war zwar bei der Erklärung chemischer rung auf Basis der Bewegung von Materie sehr
Reaktionen nicht erfolgreich, führte aber zu hypothetisch und wurden lange nicht akzeptiert.
einer wichtigen Entdeckung seines Schülers
JOSEPH BLACK (1728 – 1799). Dieser zeigte, Wärme als Bewegung
dass Körper gleicher Masse unterschiedlich viel
Wärme aufnehmen können und dass besonders Nach BACONs qualitativen Schlussfolgerungen
während des Schmelzens und Verdampfens entstanden erste quantitative Ergebnisse einer
Wärme absorbiert wird. Da die dabei zugeführte kinetischen Theorie der Wärme in Basel. DANIEL
Wärme die Temperatur nicht erhöht, nannte BERNOULLI (1700 – 1782) veröffentlichte 1738
er sie latente Wärme. Die unterschiedliche sein Werk Hydrodynamica, in dem er den Druck
Wärmekapazität bei gleicher Masse widersprach von Gasen auf die Gefäßwände als Folge der
nach Meinung BLACKs einer kinetischen Theorie Stöße ihrer kleinsten Teilchen beschrieb. Dieser
der Wärme; er vermutete, es handele sich um Druck sei proportional zum Quadrat ihrer
eine elastische Flüssigkeit, deren Teilchen sich Geschwindigkeit und Wärme nichts anderes
zwar gegenseitig abstoßen, sich aber leicht mit als ihre kinetische Energie. Während seine
Materiepartikeln verbinden. Die Abstoßung Ausführungen aus heutiger Perspektive den Nagel
ist dabei die Ursache der Wärmeausdehnung auf den Kopf trafen, fanden sie zu BERNOULLIs
der Körper. LAVOISIER nahm das Caloricum, Zeit wenig Beachtung. Auch andere nach ihm traf
wie wir schon gesehen haben, als chemisches diese Ignoranz. So JOHNN HERAPATH (1790 – 1868),
Element in seine Tabelle auf. Den größten Erfolg der ähnliche Gedanken wie BERNOULLI hatte,
feierte die Substanztheorie bei JEAN BAPTISTE insbesondere aber den jungen schottischen
JOSEPH FOURIERs (1768 – 1830) Theorie der Physiker JOHN JAMES WATERSTON (1811 – 1883),
Wärmeleitung von 1807. Er behandelte den der 1845 aus Bombay einen Artikel an die Royal
Strom des Caloricums von einem warmen zu Society sandte, der vieles aus der kinetischen
einem kalten Körper wie den Strom von Wasser Gastheorie vorwegnahm. Sein Artikel wurde
entlang eines Gefälles. Dem Gefälle entsprach abgelehnt, da ihn einer der Lektoren als „Unsinn“
die Temperaturdifferenz. abtat. Erst 1891 veröffentlichte Lord RAYLEIGH
Sollte das Caloricum existieren, so musste (1842– 1919) den Artikel im Namen der Royal
es auf jeden Fall extrem fein sein. Nicht nur, Society, in deren Archiven er ihn gefunden hatte.
dass es jede Substanz durchdringen konnte, es Zu dieser Zeit hatte sich die kinetische Theorie
war offenbar auch sehr leicht, wie BENJ N AMIN bereits durchgesetzt, nachdem sie zunächst
T H OMPSO N (175 3 – 1814) feststellte. G RAF vo n A UGU ST K ARL K R ÖNIG (182 2 – 1879)
RUMFORD, wie THOMPSONs Titel nach Erhebung 1856 wieder aufgenommen wurde. KRÖNIG
in den Adelsstand durch den bayrischen König verwendete ein stark vereinfachtes Modell der
lautete, stellte nach sehr genauen Messungen Teilchenbewegung, um die Zustandsgleichung
fest, dass Caloricum um ein millionenfaches der idealen Gase herzuleiten.
92
Erde, Wasser, Luft und Feuer
RUDOLF JULIUS EMANUEL CLAUSIUS (1822 – 1888) „lebendige Kraft“ (vis viva) gebräuchlich (nicht zu
und JAMES CLERK MAXWELL sorgten für den verwechseln mit der vis vitalis, die allem Organi-
Durchbruch der kinetischen Theorie der Wärme. schen innewohnen sollte). LEIBNIZ nahm bereits
CLAUSIUS berücksichtigte in seinem Artikel Über an, dass die Größe mv2 in einem dynamischen Sys-
die Art der Bewegung, welche wir Wärme nennen tem erhalten bleibt. Der Energiebegriff wurde erst
von 1857 nicht nur geradlinige Bewegungen der allgemein akzeptiert, als seine universelle Bedeu-
Moleküle, sondern auch Rotationen und Vibrati- tung über mechanische Systeme hinaus sichtbar
onen zur Herleitung der Zustandsgleichung. Auch wurde. Das Gesetz von der Erhaltung der Energie, 3-93
Gase. Bei Zimmertempe-
beschrieb er Verdunsten als dynamischen Prozess, gleich welcher Form, haben wir drei Männern
ratur liegt die Geschwin-
bei dem schnelle Moleküle die Bindungskräfte in zu verdanken: JOULE, MAYER und HELMHOLTZ. digkeit von Luftteilchen
der Flüssigkeit überwinden konnten. In einem Der Energieerhaltungssatz wird auch der Erste in der Größenordnung
von 500 m/s. Die mitt-
geschlossenen Gefäß geschehe dies solange, bis Hauptsatz der Thermodynamik genannt. Dem-
lere freie Weglänge, die
im Mittel pro Zeiteinheit genauso viele Moleküle nach kann Energie nicht aus Nichts erzeugt wer- r durchschnittliche Distanz
entweichen wie in die Flüssigkeit wieder eintre- den, ein Perpetuum mobile ist also unmöglich. bis zum nächsten Zusam-
ten. CLAUSIUS berechnete auch die Geschwindig- Der Zweite Hauptsatz ist noch enttäuschender: menstoß, beträgt jedoch
bei Normaldruck nur ca.
keit von Gasmolekülen. Die sehr hohen Werte Die Umwandlung von Energieformen ineinander 68 nm.
um 500 m/s stießen bei manchen Zeitgenossen ist (fast) immer ein Verlustgeschäft!
auf Skepsis. Wenn Gasmoleküle so schnell sind,
warum riecht man nicht die in ein Zimmer ge- Energieerhaltung
tragenen Speisen im gleichen Moment wie man
sie sieht? CLAUSIUS argumentierte völlig korrekt, Bereits im 18. Jahrhundert war die Erhaltung Energieerhaltung
dass die Moleküle nicht geradlinig fliegen, son- mechanischer Energie Konsens unter den Phy- Bereits LEIBNIZ vermutete,
dass die Größe mv2 in ei-
dern durch laufende Zusammenstöße einem Zick- sikern, die Pariser Academie des Sciences nahm nem dynamischen System
zackkurs folgen. Er entwickelte das Konzept der seit 1775 keine Perpetuum mobile – Entwürfe erhalten bleibt.
mittleren freien Weglänge, der Strecke, die ein Mo- mehr an. Von einer Äquivalenz zwischen Wärme
lekül im Mittel zwischen zwei Kollisionen zurück- und mechanischer Energie war indes noch keine Kraft
legt. In Luft unter Standardbedingungen ist diese Rede. Geht man von der Substanztheorie der Noch bis in die zweite
Hälfte des 19. Jahrhun-
Strecke gerade einmal 68 Nanometer (nm) lang. Wärme aus (Caloricum), ist eine solche Äqui- derts wurde der Begriff
MAXWELL gelang es schließlich mathematisch zu valenz auch nicht nahe liegend, schließlich ist „lebendige Kraft“ im
zeigen, dass die Geschwindigkeitsverteilung der die Substanz eines fallenden Steins nicht mit Sinne von Energie ver-
wendet.
Gasmoleküle einer Gausskurve entspricht, deren seiner kinetischen Energie identisch. NICOLAS
Mittelwert und Streuung von der Temperatur LÉONARD SADI CARNOT (1796 – 1832), der 1824
abhängen (ÅGleichverteilungssatz und Maxwell- erstmals die Funktion von Wärmekraftmaschi-
Boltzmann-Verteilung, Seite 400). nen theoretisch beschrieb, nahm an, dass deren
Arbeitsleistung durch den Fluss des Caloricums
zwischen Heizkessel und Kondensator erzeugt
Energie und Entropie werde, so wie fließendes Wasser ein Mühlrad
antreibt. Die durchfließende Menge an Ca-
Erster Hauptsatz der Thermodynamik : loricum blieb, wie das Wasser im Mühlbach,
Du kannst nicht gewinnen! konstant.
Im Jahr 1841 stellte JOULE anhand der
Zweiter Hauptsatz der Thermodynamik: Wärmeentwicklung eines stromdurchflossenen
Du kannst nicht einmal gleichziehen!
Leiters fest, dass es offenbar eine Äquivalenz
zwischen elektrischem Strom und Wärme gab:
Der Begriff Energie (griech. energeia, Werk, Die erzeugte Wärmemenge war dem Quadrat
Wirken) wurde um 1800 von THOMAS YOUNG der Stromstärke proportional. Zwei Jahre später
(1773 – 1829) für die Summe aus potenzieller und gelang es ihm, auch die Äquivalenz von me-
kinetischer Energie (wie man diese Größen heute chanischer Energie und Wärme nachzuweisen.
nennt) einer schwingenden Feder verwendet. Noch Er verwendete hierzu einen Rührer in einem
bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war Wassergefäß, der durch ein nach unten sin-
für die kinetische Energie der von GOTTFRIED kendes Gewicht angetrieben wurde und maß
WILHELM LEIBNIZ Z (1646 – 1716) geprägte Begriff die Temperaturerhöhung des Wassers aufgrund
93
KAPITEL 3 Historischer Überblick
Naturkräften der Fall. HELMHOLTZ argumen- erkannte er, dass es keinen Prozess geben kann,
tierte, dass man daher den Satz von der Erhal- der Entropie vernichtet. Zwar ist es möglich, die
tung der Energie als eigentliches Fundament Entropie an einem Ort zu senken; dazu muss sie
der Naturgesetze ansehen kann, die Form der jedoch an anderer Stelle um mindestens den glei-
Bewegungsgleichungen ergibt sich daraus. chen Betrag zunehmen. In einem abgeschlossenen
3-94 Eine weitere Konsequenz seiner Überlegun- System nimmt die Entropie daher solange zu, bis
Ludwig Boltzmann. Auf
gen war, dass die Bewegungsgesetze nicht von ein Maximum erreicht ist und verbleibt dann
seinem Grabstein auf dem
Zentralfriedhof in Wien der Zeit abhängen können. Ihre Zeitinvarianz dort. Bestehen anfangs Temperaturunterschiede
ist S = k·log W eingraviert. ist eine Folge des Energieerhaltungsatzes, sie in einem isolierten Gefäß, so herrscht irgendwann
BOLTZMANN litt zeitweise sind „symmetrisch in der Zeit“. Symmetrien überall die gleiche Temperatur. Die Entropie des
an starken Depressionen
und starb 1906 durch sind heute wichtiges Konstruktionsprinzip bei gesamten Universums kann also ebenfalls nur
Selbstmord. der Suche nach fundamentalen Theorien wie bis zu einem Maximum zunehmen, da man das
94
Erde, Wasser, Luft und Feuer
95
KAPITEL 3 Historischer Überblick
Ihre Mächtigkeit konnten die Hauptsätze der Doch wenn Strahlungsenergie und -spektrum
Thermodynamik auch bei der Erforschung der nicht von der Beschaffenheit eines Körpers ab-
Wärmestrahlung von Körpern unter Beweis hängen, wovon hängen sie dann ab? KIRCHHOFF
stellen. Mit ihrer Hilfe gelang es bis 1900, die konnte immerhin zeigen, dass sie eine Funktion
korrekten Strahlungsgesetze aufzustellen, ohne der Temperatur des Körpers sind.
dass der Aufbau der Materie im Detail bekannt
war. Allerdings machte diese Entwicklung Wi- Strahlungsgesetze von Stefan bis Planck
dersprüche im wohlgeordneten Gebäude der
klassischen Physik deutlich, die entscheidend JOSEF STEFAN (1835 – 1893) kam durch die Aus-
zur Entwicklung der Quantenphysik beitrugen, wertung von Experimenten 1879 zum Schluss,
wie wir später sehen werden. dass die Gesamtstrahlungsdichte über alle Fre-
quenzen des Hohlraumstrahlers proportional
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
Hohlraumstrahlung und schwarzer Körper zur 4. Potenz seiner Temperatur sein sollte. Diese
Vermutung untermauerte BOLTZMANN
Z N 1884 durch
Der Musiker und Astronom FRIEDRICH WILHELM ebenso einfache wie geniale Überlegungen auf
HERSCHEL (1738 – 1822) entdeckte 1800, dass Basis der Elektrodynamik und der Thermody-
bei der Spektralzerlegung des Sonnenlichts ein namik, wieder ohne spezifische Annahmen über
3-97 in den Bereich jenseits des Rots gehaltenes Ther- die Natur des umschließenden Materials. Darauf
Infrarotstrahlung. mometer den stärksten Temperaturanstieg zeigt aufbauend zeigte WILHELM WIEN (1864 – 1928) in
FRIEDRICH WILHELM
HERSCHEL entdeckte um
(ÅAbbildung 3-97). Offenbar stammte ein gro- den Jahren 1893/94, dass die Strahlungsdichte
1800 Strahlung jenseits ßer Teil der Strahlungsenergie der Sonne aus dem bei einer Frequenz υm ein Maximum erreicht,
des roten Bereichs im unsichtbaren, infraroten Bereich, dem Bereich wobei υm proportional zur 3. Potenz der Tem-
Sonnenspektrum. Oben:
der Wärmestrahlung. Mit Hilfe einfacher Über- peratur ist. Er leitete das sogenannte Wiensche
Originallupe und Ther-
mometer von HERSCHEL legungen auf Basis der beiden Hauptsätze konnte Verschiebungsgesetz ab, mit dessen Hilfe man
(Greenwich Observatory). KIRCHHOFF 1860 nachweisen, dass ein Körper, das Strahlungsspektrum für eine Temperatur
96
Erde, Wasser, Luft und Feuer
97
KAPITEL 3 Historischer Überblick
Die Struktur des Atoms kinetische Theorie wenig ändern, ihr Modell von
Atomen als elastische Billardkugeln war weit
Moderne Atomtheorien von realen Objekten entfernt. Der Atomtheorie
verhalfen Entdeckungen zur Akzeptanz, die das
Die Atomtheorie hat in der Physik eine ähn-
liche Funktion wie gewisse mathematische „Innenleben“ von Atomen auf eine Weise offen-
Hilfsvorstellungen; sie ist ein mathematisches barten, die letzten Endes keinen vernünftigen
Modell zur Darstellung der Tatsachen. Wenn Zweifel an deren Existenz mehr zuließ.
man die Schwingungen durch Sinusformeln
... darstellt, so denkt doch niemand daran,
dass die Schwingungen an sich mit einer Win- Zitternde Pollen
kel- oder Kreisfunktion ... zu schaffen hat.
ERNST MACH, zit. nach Melsen. Es gab ein Indiz für die Existenz von Atomen,
das für sich allein genommen nicht jeden Skep-
So formulierte 1883 der Physiker und Philosoph tiker überzeugt hätte, dafür aber umso mehr ins
ERNST MACH (1838 – 1916) seine Einstellung zur Auge fiel. 1827 beobachtete der schottische Bo-
Atomtheorie. Atome waren für MACH keine re- taniker ROBERT BROWN (1773 – 1858), dem wir
alen Objekte, sondern nur Modellvorstellungen, auch die erste präzise Beschreibung des Zellkerns
die nützlich waren, um gewisse Beobachtungen verdanken, dass schwimmende Pollen unter dem
mathematisch zu beschreiben. Diese als Empi- Mikroskop Zitterbewegungen vollführten. Zu-
riokritizismus bekannte Sicht auf den Erkennt- nächst machte er dafür eine den Pollen innewoh-
nisprozess betrachtet Aussagen über die Welt als nende Lebenskraft verantwortlich, stellte jedoch
reine Spekulation, wenn sie sich nicht aus der bald fest, dass sich anorganische Partikel gleich
sinnlichen Erfahrung ergeben. Physik treiben verhielten. Diese Zitterbewegung wird ihm zu
heißt, nach möglichst ökonomischen Erklärun- Ehren Brownsche Molekularbewegung genannt.
gen für sinnliche (messbare) Erscheinungen zu Schon LUKREZ (ÅKasten Lukrez, Seite 40)
suchen. Es gibt daher für MACH weder Atome machte Atombewegungen (fälschlicherweise)
noch den absoluten Raum NEWTONs. Raum sei für die tanzende Bewegung von Staubpartikeln
schließlich nur durch die Existenz von Körpern in der Luft verantwortlich; allgemein ging man
erfahrbar. Konsequenterweise führte MACH die aber im 19. Jahrhundert davon aus, dass sich die
Trägheit auf die kumulative Wirkung der Mas- Stöße von Molekülen an vergleichsweise riesigen
sen des Universums zurück. Und auf Atome Staubpartikeln im Mittel ausgleichen. EINSTEIN
war die Physik nach MACH gar nicht angewie- konnte jedoch 1905 theoretisch nachweisen,
sen. Die Thermodynamik konnte ohne Rekurs dass Partikel durch Molekülstöße sehr wohl
auf die kinetische Theorie definiert werden. Zitterbewegungen ausführen können. PERRIN ge-
WILHELM OSTWALD (1853 – 1932) griff daher lang schließlich 1909 der experimentelle Nach-
HELMHOLTZ’ Gedanken auf und strebte nach weis, dass die Brownsche Molekularbewegung
einer am Energiebegriff orientierten Physik (die durch EINSTEINs Ergebnisse gut erklärt wird
sogenannte Energetik), in der Atome keine Rolle und keine Folge von Konvektionsströmen sein
spielten. konnte, wie viele glaubten.
Die Skeptiker akzeptierten letzten Endes,
dass man über Atome als Objekte zumindest Das Innenleben des Atoms
im physikalischen Sinn sprechen konnte. Zu
Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wiesen die Spätestens seit der Entdeckung des Elektrons
experimentellen Hinweise zu deutlich in diese als Bestandteil von Atomen war klar, dass
Richtung. Zum Zeitpunkt des oben stehenden Atome ein Innenleben besaßen. Neben negativ
Zitats allerdings war die Atomfrage für Physiker geladenen Elektronen musste es auch noch eine
alles andere als geklärt. Im Bereich der Chemie gleich große positive Ladung geben, denn Atome
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
3-100 hatte sich die Atomtheorie zwar als hilfreich waren normalerweise elektrisch neutral. Seit
Atomtheorien von der
Antike bis heute. Von der
erwiesen, im Bereich der Physik blieben noch THOMSONs Messungen 1897 wusste man zudem,
Idee zum quantenmecha- zu viele Fragen offen. Daran konnte auch die dass die Elektronen kaum nennenswert zum
nischen Objekt.
98
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Gesamtgewicht eines Atoms beitrugen. Völlig einer fortlaufenden Nummer, die in der Regel
offen war allerdings, wie viele Elektronen es im synchron mit dem Atomgewicht anstieg. Es gab
Atom gab und wie Atome intern strukturiert wa- aber auch Fälle, in denen man zwei Elemente
ren. Ausgehend von Arbeiten KELVINs entwickelte aufgrund ihrer chemischen Eigenschaften vertau-
THOMSON 1904 ein Modell, das als Rosinen- schen musste, so zum Beispiel Tellur (Atomge-
99
KAPITEL 3 Historischer Überblick
100
Erde, Wasser, Luft und Feuer
101
KAPITEL 3 Historischer Überblick
treffen. Wohl galt sie für sogenannte polare Bin- in der sogenannten kovalenten Atombindung
dungen wie sie bei Salzen vorlagen. Sie zerfielen, (ÅTeilchen finden zusammen, Seite 144). Das
wie SVANTE AUGUST ARRHENIUS (1859 – 1827) Bohr-Sommerfeldsche Atommodell konnte noch
schon 1887 zeigte, im Wasser in negativ und keine Begründung für diese Art der Bindung lie-
positiv geladene Ionen (NaCl → Na+ + Cl–), wäh- fern, weshalb LEWIS ihm auch ablehnend gegen-
rend die Atome des Natriums und des Chlors überstand.
ansonsten elektrisch neutral waren. Umgekehrt
zerfielen unpolare organische Verbindungen wie Transmutation reloaded:
Methan (CH4) keineswegs in Ionen und zeigten der radioaktive Zerfall
auch sonst wenig elektrische Polarität, ganz zu
schweigen von Verbindungen wie O2 oder H2, bei 1896, ein Jahr nach RÖNTGENs Entdeckung
denen die Affinität für Elektronen bei beiden Part- der nach ihm benannten Strahlen entdeckte
nern gleich war, die aber trotzdem höchst stabile BECQUEREL eine weitere Art von Strahlung, die
Verbindungen bilden konnten. Unabhängig von- er Uranstrahlung nannte. Bei Untersuchungen
einander entwickelten 1915 WALTHER KOSSEL über die Phosphoreszenz von Uransalzen hatte er
(1888 – 1956) und 1916 GILBERT R NEWTON LEWIS diese versehentlich auf eine lichtdicht verpackte
(1875 – 1946) eine Theorie der Bindung, die po- fotografische Platte gelegt. Nach dem Belichten
lare und unpolare Verbindungen berücksichtigte. stellte er eine Schwarzfärbung der Platte wie bei
LEWIS nutzte als Modell für die Elektronenkon- einer normalen Belichtung fest. Seine Ergebnisse
figuration einen Kubus, dessen acht Ecken mög- erfuhren zunächst wenig Aufmerksamkeit,
liche Positionen der Elektronen in der äußersten aber MARIE (1867 – 1934) und PIERRE CURIE
Schale eines Atoms bildeten (ÅAbbildung 3-105). (1859–1906) untersuchten die dabei entstehende
Bindungen entstanden bei stark polaren Atomen Strahlung genauer. Dank eines von ihnen
durch Wechsel eines Elektrons von der äußersten entwickelten neuen Messverfahrens für die
Schale des einen Partners zum anderen, bei weni- elektrische Leitfähigkeit der Luft konnten sie die
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
ger polaren Atomen nahmen die Elektronen teil Stärke der Strahlung verschiedener Substanzen
an beiden Schalen. Ob der eine oder der andere präzise bestimmen und stellten fest, dass
Fall zutrifft, hängt davon ab, wie viele Positionen Uranminerale wie Pechblende und Torbernit noch
im Kubus von Elektronen besetzt sind. Fehlt nur stärkere Strahler waren, deren Aktivität nicht
3-105 ein Elektron zur vollen Achterbesetzung wie beim vom Uran allein kommen könne. Ihnen gelang
Lewis’ kubische Atome. Chlor, so nimmt das betreffende Atom sehr gerne schließlich 1898 die Gewinnung zweier neuer
Nach LEWIS sind Atome ein Elektron auf, insbesondere dann, wenn beim radioaktiver Elemente, Radium und Polonium
bestrebt, mittels Bindun-
gen ihre kubische Schale Reaktionspartner, z. B. Natrium, nur eine Position aus Pechblende. Polonium erhielt seinen Nahmen
der äußeren Elektronen zu im Kubus besetzt ist. Natrium profitiert von der zu Ehren der polnischen Heimat MARIE CURIEs.
vervollständigen oder zu Abgabe eines Elektrons. Bei mittleren oder glei- Zusammen mit BEQUEREL erhielten MARIE und
leeren. Dies gelingt durch
gemeinsame Nutzung von chen Besetzungszahlen bei beiden Partnern, wie PIERRE CURIE 1903 für die Entdeckung der
Elektronen (oben für das beim Sauerstoffmolekül, teilt man sich eben die Radioaktivität den Nobelpreis für Physik. MARIE
Chlormolekül dargestellt) Elektronen; die Bindung bleibt unpolar. Dieses CURIE erhielt zudem 1911 für die Entdeckung
oder durch deren Aus-
tausch (unten zwischen
Bestreben, durch chemische Bindung eine gefüllte und Gewinnung der Elemente den Nobelpreis
Natrium und Chlor dar- Achterschale zu erreichen, wird als Oktettregel der Chemie. Ihr Mann PIERRE starb 1906 bei
gestellt). Auch mehr oder bezeichnet. LEWIS Kubusmodell war falsch, aber einem Verkehrsunfall, sie selbst 1934 an einer
weniger polare Zwischen-
stufen sind möglich.
man kann heute quantenmechanisch begründen, sehr seltenen Erkrankung des Knochenmarks,
warum die Oktettregel zumindest als Faustregel Folge ihres intensiven Umgangs mit radioaktiven
für die Bindungsaffinität zutrifft. Elemente bei Substanzen.
denen die sogenannten s- und p-Unterschalen der Der deutsche Physiker FRIEDRICH ERNST
äußersten Schale durch 8 Elektronen vollständig DORN (1848 – 1916) entdeckte 1900, dass Ra-
gefüllt sind, sind chemisch besonders stabil, da die dium ein radioaktives Gas abgab, das er Ra-
Energiedifferenz zu Konfigurationen mit weniger dium Emanation nannte. Andere entdeckten
oder mehr Elektronen besonders hoch ist. Auch kurz darauf ähnliche Emanationen bei Thorium
das „Teilen“ von Elektronen zwischen zwei Ato- und Actinium. Später stellte man fest, dass es
men hat seine quantenmechanische Entsprechung sich um Isotope eines Edelgases handelte und
durch die Bildung eines kombinierten „Orbitals“ nannte das Element Radon. Seine Wirkungen
102
Erde, Wasser, Luft und Feuer
103
KAPITEL 3 Historischer Überblick
abhing. Wieder ließ sich der Einfluss des Planck- 3-107). DE BROGLIES kühne Thesen stießen bei
schen Energiequantums hν erkennen. Physikern dieser Zeit sowohl auf Skepsis als auch
EINSTEIN ging einen entscheidenden Schritt Anerkennung. ERWIN R SCHRÖDINGER R (1887 –1961)
weiter. Er deutete die Größe hν nicht nur griff diese Gedanken 1926 auf und ordnete jedem
© 2011 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
als „Energieportion“, sondern schrieb dem Teilchen eine Wellenfunktion zu, deren Dynamik
Licht Teilchencharakter zu. Licht bestehe aus er durch die berühmte Schrödingergleichung
Quanten, deren Energie nur von ihrer Frequenz ausdrückte. Er berechnete die Wellenfunktion
abhänge. Damit gelang es EINSTEIN 1905, d es Wasserstoffatoms und konnte die
den photoelektrischen Effekt als Absorption Quantenzahlen als sogenannte „Eigenwerte“
von „Lichtteilchen“ zu beschreiben, wofür dieser Wellenfunktion ableiten (ÅAbbildung
3-107 er 1921 den Nobelpreis erhielt. Die winzigen 3-110 , Seite 105 sowie Å Wellenfunktion
Stehende Wellen um Zitterbewegungen einer mit Licht bestrahlten und Quantenfelder, Seite 431). Für ein freies
einen Atomkern. Die
Platte konnte er als kombinierte Wirkung des Teilchen ergab sich aus der Schrödingergleichung
das Elektron führenden
Materiewellen fügen sich klassischen Strahlungsdrucks und „Stößen“ von die de Brogliesche Materiewelle. DE BROGLIE
periodisch in die Bahnen Lichtquanten deuten. Er leitete die Gleichung für und SCHRÖDINGER schienen damit die Welt der
ein, wobei mit steigender
die Entropie des schwarzen Körpers ab, indem er Materie und die Welt der Wellenerscheinungen
Quantenzahl n mehr
Schwingungsperioden in das Licht im Hohlraum als Gas („Photonengas“) zu vereinen. Während Photonen zumindest
eine Bahn passen. betrachtete. Die Plancksche Strahlungsformel in m a n c h e r Hin s i c h t Te il c h e n c h a r a k te r
ergab sich dann zwanglos als Gleichgewicht z ei g ten, zei g ten Teilchen Wellencharakter
zwischen Erzeugung und Vernichtung von beziehungsweise schienen von einer Welle
Photonen. EINSTEINs Photonen wurden anfangs „begleitet“ zu sein. DE BROGLIE gelangte zu
von Pionieren der älteren Quantentheorie wie Berühmtheit, als die amerikanischen Physiker
SOMMERFELD und PLANCK mit Skepsis betrachtet. CLINTON DAVISSON (1881 – 1958) und LESTER H.
Eine großartige Bestätigung erhielt diese erste GERMER (1896 – 1971) 1927 durch Bestrahlung
Form des Welle-Teilchen-Dualismus durch von Nickelkristallen mit Elektronenstrahlen
den amerikanischen Physiker ARTHUR HOLLY nachwiesen, dass diese am Kristall so gestreut
COMPTON (1892 – 1962). Er stellte 1922 fest, werden, wie es ihrer Wellenlänge entspricht.
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
dass Röntgenstrahlung an Elektronen auf Parallele Versuche von GEORGE PAGET THOMSON
eine Weise gestreut wurde, die nicht mit dem (1892 – 1975) in England führten zum gleichen
Wellencharakter von Licht verträglich war. So Resultat. DE BROGLIE erhielt für seine kühne
entsprach die Veränderung der Strahlungsfrequenz Theorie der Materiewellen zwei Jahre später den
3-108 dem Impuls, den das Elektronen als Folge des Nobelpreis für Physik.
Euklidischer Raum. Im uns „Photonenstoßes“ erhielt. Die Schrödingersche „Wellenmechanik“, wie
vertrauten dreidimensio- sie genannt wurde, war sehr anschaulich, auch
nalen euklidischen Raum
kann man die Position Quantentheorie, die Zweite: T
Teilchen als wir nutzen sie in Kapitel 4 zur Beschreibung des
(Ortsvektor) eines Teil-
T Wellen Atoms. Und anfangs glaubten noch viele, man
chens als Summe soge- könne mit der de Broglie-Schrödingerschen The-
nannter „Basisvektoren“
x, y, z darstellen. Diese N ac h de r R e l at i v i tätst h eo ri e beste h t e in e orie die klassischen Vorstellungen von Teilchen
werden so gewählt, dass Äquivalenz zwischen Energie und Masse, und ihren Bewegungen in die merkwürdige Welt
sie senkrecht (orthogonal) die sich in der berühmten Gleichung E = mc2 der Quantenmechanik hinüberretten – so, wie
aufeinanderstehen, Die
Orientierung des gemein- ausdrückt. Gleichzeitig gilt für die Energie eines man die geometrische Optik mit ihren Sehstrah-
samen Achsenkreuzes im Photons E = hν. Der französische Physiker LOUIS- len mit der Wellenoptik verbinden kann, in der
Raum ist willkürlich. Es VICTOR DE BROGLIE (1892 – 1987) folgerte aus sich Licht nicht entlang einer geraden Linie be-
gibt daher unendlich viele
Sätze von Basisvektoren.
beiden Beziehungen 1923 nicht nur, dass das wegt, sondern als Welle nach allen Seiten ausbrei-
Basisvektoren heißen sie, Photon eine Masse besitzen müsse, sondern tet. Aber es gab auch einen radikaleren Ansatz.
weil sie linear unabhängig auch, dass Teilchen von einer Welle begleitet
voneinander sind: Man
werden, der sogenannten Materiewelle, die die Quantentheorie, die Dritte: Gibt es
kann keinen als Summe
der anderen ausdrücken. Teilchen auf ihren Bahnen „führt“. Die stabilen T
Teilchenbahnen?
Außerdem ist der Ba- Elektronenbahnen des Bohr-Sommerfeldschen
sisvektorensatz (x,y,z)
Atommodells seien deshalb möglich, weil ihr Der junge deutsche Physiker WERNER HEISENBERG
„vollständig“: Er genügt,
um jede Position im Raum Umfang ganzzahligen Vielfachen der Wellenlänge (1901 – 1976) nutzte 1925 eine durch Heu-
eindeutig zu beschreiben. der Elektronen“wellen“ entspräche (ÅAbbildung schnupfen erzwungene Erholungszeit auf Helgo-
104
Erde, Wasser, Luft und Feuer
105
KAPITEL 3 Historischer Überblick
106
Erde, Wasser, Luft und Feuer
der Welt der Quantenmechanik Messung eine Weltbild zu sein. Schien doch ausgemacht, dass
Reduktion der Wellenfunktion auf eine Teil- sich alles Geschehen im Raum-Zeit-Gefüge der
funktion, ein Vorgang, den man als Kollaps der Welt präzise verorten läßt. Kannte man die
Wellenfunktion bezeichnet. Der Anteil des re- raumzeitlichen Koordinaten eines Objektes,
duzierten Teils an der gesamten Wellenfunktion gleich ob Welle oder Teilchen, konnte man mit
ist dabei ein Maß für die Wahrscheinlichkeit, bei Hilfe deterministischer Gesetze dessen raum-
einer Messung den zugehörenden Messwert zu zeitliche Entwicklung vorhersagen. Gewiss,
erhalten (ÅAbbildung 3-113). Auf welche Teil- Messungen konnten diese Entwicklung stören
funktion eine Wellenfunktion kollabiert, kann u n d u n vo llk o mm e n e Ge r äte M esswe r te
nicht mit Bestimmtheit vorhergesagt werden. verfälschen, es gab jedoch keinen Grund
Was Messungen betrifft, ist die Quantenmecha- anzunehmen, dass der Minimierung dieser
nik offenbar nicht deterministisch! Störungen prinzipielle Grenzen gesetzt sind. Und
so traf NIELS BOHR auf erheblichen Widerstand,
Verschränkung als er 1927 die „Kopenhagener Deutung“ der
Quantenmechanik vorstellte. Demnach würden
Eine weitere, sehr merkwürdige Eigenschaft zwar auch in der Quantenwelt deterministische
107
KAPITEL 3 Historischer Überblick
109
KAPITEL 3 Historischer Überblick
110
Erde, Wasser, Luft und Feuer
111
KAPITEL 3 Historischer Überblick
jeder mögliche Messwert gleichzeitig auftritt. Es Welt und dies führte zu einer entscheidenden
wäre so, als ob sich durch die Verschränkung Reduktion. Der Mathematiker LEONARD EULER
von Messobjekt und Messapparat die Welt in (1707 – 1783) definierte in seiner Fassung der
so viele Welten aufspalte, wie es mögliche Mess- Mechanik Körper nur durch die Eigenschaften
werte gibt. In einer Welt durchläuft das Teilchen Ausdehnung, Beweglichkeit, Trägheit und Un-
den oberen Spalt und wird dort registriert, in durchdringlichkeit. Für EULER war damals die
der anderen den unteren. Natürlich gilt diese Undurchdringlichkeit die wesentlichste Eigen-
Aufspaltung auch für den Beobachter, der das schaft der Körper und damit bewies er Weitsicht.
Messgerät abliest. Und natürlich können wir nur Wie wir noch sehen werden (ÅKapitel 4 und
eine Welt wahrnehmen, da wir immer nur eine 10), sind Elektron und die Bestandteile von Pro-
Variante der Welt beobachten können. ton und Neutron Fermionen, also Teilchen mit
Diese Interpretation der Quantenmechanik halbzahligem Spin für die das Pauli-Prinzip gilt.
war theoretisch konsequent, da sie nicht auf den (Å Das Periodensystem, das Pauli-Prinzip und
Kollaps als Zusatzpostulat angewiesen war. Ver- der Pauli-Effekt, Seite 101). Sie können deshalb
ständlicherweise traf sie bei EVERETTs Doktor- niemals den gleichen Zustand einnehmen, was
vater JOHN ARCHIBALD WHEELER (1911 – 2008) für die wechselseitige Undurchdringlichkeit der
und praktisch allen anderen Physikern dieser Atome sorgt.
Zeit auf Ablehnung. Eine ständige, billiarden- Was ist von den anderen Eigenschaften
fach pro Sekundenbruchteil auftretende Auf- geblieben, die EULER Körpern zusprach? Aus-
spaltung der Welt in viele Welten war einfach dehnung und Beweglichkeit würde man heute
absurd! Seine Dissertation wurde schließlich in kaum mehr dazu rechnen, da auch Felder beide
einer abgeschwächten Form publiziert. EVERETT Eigenschaften besitzen und ihnen in der Quan-
war enttäuscht von der Aufnahme seiner Arbeit tentheorie Teilchen zugeordnet werden, die aber
und verließ die theoretische Physik um sich bis keine Fermionen sind. Auch kann Ausdehnung
zu seinem frühen Tod praktischen Problemen aufgrund der Unschärferelation keine feste Ei-
vor allem im militärischen Bereich zuzuwenden. genschaft eines Körpers sein. Was bleibt, ist die
Erst 1970 wurden seine Vorstellungen im Trägheit. Sie ist mit Masse verbunden, einem
Rahmen der Dekohärenztheorie (siehe oben) Begriff, der seit NEWTON in zwei Ausführungen
wieder aufgegriffen. Sie baut auf EVERETTs Ar- vorkommt: als träge Masse und als schwere
beit auf, indem sie nicht nur den Messapparat, Masse. Letztere ist Ursache der Gravitations-
sondern die gesamte Umwelt eines Messobjektes kraft und nach allem, was wir wissen, sind beide
als Quantenobjekte betrachtet. Auch im Rahmen Massen gleich groß. Dass Masse selbst jedoch
von Quantengravitation und Stringtheorie wer- keine konstante Größe eines Körpers ist, son-
den EVERETTs Gedanken zumindest theoretisch dern von dessen Geschwindigkeit im Bezugssys-
weiter geführt. tem abhängt, in dem sie gemessen wird, wissen
wir seit EINSTEIN. Man sollte daher besser von
der Ruhemasse eines Körpers sprechen. Masse
Was ist Materie heute? ist zudem äquivalent zu Energie. Deshalb erzeugt
auch jedes Feld ein Gravitationsfeld und besitzt
Diese Frage stellen Sie sich vielleicht im Moment, Trägheit. Was also bleibt, ist die Frage, warum
nachdem wir durch mehr als zwei Jahrtausende manche Teilchen eine Ruhemasse besitzen und
Geschichte gewandert sind. Wir sagten schon zu manche nicht. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist
Beginn, dass es sich um einen abstrakten Begriff Ruhemasse eine Folge der Wechselwirkung mit
handelt, kein Element der unmittelbaren Erfah- einem Feld, dem Higgs-Feld (ÅWie Teilchen ihre
rung. Dieser Begriff entwickelte sich, wie wir Masse bekommen, Seite 436).
gesehen haben, aus der Vorstellung über einen Betrachtet man heute die fundamentals-
Urstoff, aus dem die Welt besteht. Auf die daraus ten Theorien über die Welt, Stringtheorie und
sich ergebende Frage, wie denn das Vielfältige Quantengravitation, so bleibt nichts mehr, was
aus dem Einen entstehe, haben Menschen un- man „materiell“ nennen könnte. Es geht um
terschiedliche Antworten gefunden. Im Westen mathematische Strukturen, deren Symmetrien
vollzog sich mit DESCARTES dabei eine Tren- und „Eleganz“. Mancher mag sich da an die
nung zwischen „materieller“ und „geistiger“ platonische Welt der Ideen erinnert fühlen.
112
KAPITEL 4
Demokrits Erben
Das Geheimnis der Stoffe
Elemente im Periodensystem
Teilchen finden zusammen
Eigenschaften der Stoffe
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
Zum vierten Kapitel
Die Materie, aus der wir selbst bestehen, von der wir leben auch sie sind durch die Eigenschaften der Teilchen des betref-
und die wir von unserer unmittelbaren Umgebung bis in fenden Materials definiert. Denn diese bestimmen ja auch
den entferntesten Winkel des Weltraums vorfinden, besteht die möglichen Anordnungen der Atome untereinander, aus
überraschenderweise aus einer durchaus überschaubaren denen sich viele der Materieeigenschaften ergeben. Noch um
Anzahl verschiedener Atomarten. Dies verstanden zu haben, einiges schwieriger ist es natürlich, etwa die Weichheit einer
ist vielleicht die wichtigste Einzelerkenntnis, die Wissenschaft- Kuscheldecke oder den Geruch einer Rose atomar zu erklä-
ler jemals errungen haben (ÅKapitel 3). Stoffe aus gleichen ren. Es sollte aber – zumindest im Prinzip – stets möglich sein.
Atomen nennen wir Elemente. Natürlich sind dies nicht mehr Vor etwa hundertfünfzig Jahren ist es gelungen, die nur
die Elemente der griechischen Antike, und auch die Atome etwa hundert Atomarten, aus denen das gesamte sichtbare
haben ihre Unteilbarkeit längst eingebüßt. Ihre wichtigsten Universum besteht, in einem einfachen Schema anzuordnen,
Bestandteile, Elektronen, Protonen und Neutronen, sind uns dem Periodischen System der Elemente (PSE oder einfach
schon in Kapitel 3 begegnet. Periodensystem). Darin sind die Elemente spaltenweise nach
Atome sind nach außen hin elektrisch neutral und alle- Gruppen chemisch und physikalisch einander ähnlicher Ele-
samt nach einem einheitlichen Schema aufgebaut. In ihnen mente und zeilenweise nach Perioden geordnet.
stimmt die Anzahl negativ geladener Elektronen der Hülle In diesem Kapitel werden wir den gesamten Aufbau des
mit der Zahl positiver Ladungen des Atomkerns überein. Periodensystems sowie die Eigenschaften wichtiger Gruppen
Atome können bequem nach aufsteigender Kernladungszahl und exemplarisch einige wichtige einzelne Elemente kennen-
(Ordnungszahl) geordnet werden. Man benötigt tatsächlich lernen.
nur zwei Arten von Teilchen im Atomkern (Protonen und Wir werden uns auch fragen, auf welche Weise gleiche und
Neutronen) sowie die Elektronen der Atomhülle, um nicht verschiedene Atome untereinander Bindungen ausbilden bzw.
nur alle Elemente, sondern auch deren chemisches Verhalten wie und weshalb sich die Teilchen zu größeren Aggregaten
erklären zu können. zusammenlagern können. Und schließlich versuchen wir uns
Es ist Aufgabe der Chemiker, das Verhalten der Elemente in der Erklärung einiger Eigenschaften von Stoffen aufgrund
sowie der aus verschiedenenartigen Atomen zusammengesetz- ihrer atomaren Zusammensetzung. Viel Spaß beim Kennen-
ten Verbindungen aus den Eigenschaften ihrer Bestandteile lernen der wichtigsten Bauprinzipien unserer Welt!
und aus deren Anordnung zu erklären. Sie müssen sich dazu
fast ausschließlich um die Zustände in den Elektronenschalen
kümmern, denn diese sind für das Verhalten nach außen hin
verantwortlich. Sie legen beispielsweise fest, wie ein Atom
„aussieht“ und welche Bindungen es eingehen kann. (Die un-
gleich schwierigere Aufgabe, die Bestandteile des Atomkerns
tiefer gehend zu untersuchen, überlassen Chemiker gern ihren
Kollegen aus der Physik, und wir verschieben diesen Aspekt
auf Kapitel 10.)
Wie sich herausstellt, kann man erstaunlicherweise eine
ganze Reihe von Stoffeigenschaften direkt auf Eigenschaften
von Atomen und Bindungen zurückführen. Zum Beispiel
sind Stoffe besonders hart, wenn ihre Atome besonders feste
Bindungen untereinander ausbilden, besonders schwer, wenn
sie aus Atomen hoher Ordnungszahl bestehen, und sie leiten
den elektrischen Strom besonders gut, wenn sich in ihnen
Elektronen frei von Atom zu Atom fortbewegen können.
Andere Eigenschaften von Stoffen, wie etwa die Zähigkeit
eines Metalls, lassen sich etwas weniger direkt herleiten. Aber
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Demokrits Erben
Das Geheimnis der Stoffe Die historische Reihenfolge, in der sie erstmals
beschrieben wurden, sagt natürlich wenig über
Elemente und ihre Eigenschaften die Elemente selbst aus. Allenfalls kann man
daraus auf gewisse Eigenschaften schließen,
Wie wir im vorherigen Kapitel gesehen haben, wie auf die Reaktionsträgheit der Edelmetalle,
versuchten und versuchen Wissenschaftler, die deshalb auch gediegen gefunden werden
immer tiefer in das Wesen der Materie vorzu- und daher schon früh bekannt waren. In an-
dringen. Wir haben gehört, dass uns schließlich deren Fällen, wie beim Kohlenstoff, kann man
die Entwicklung des periodischen Systems der vielleicht eine gewisse Häufigkeit in unserer
Elemente und die Theorie der Atome mächtige Umgebung oder zumindest die Beständigkeit
Mittel in die Hand gaben, unsere materielle an der Luft erschließen. Im Wesentlichen aber
Umwelt detailliert zu beschreiben. ist dies eine Reihenfolge der historischen Zu-
Tatsächlich erlauben uns die Erkenntnisse fälle.
insbesondere des neunzehnten und zwanzigsten
Jahrhunderts, enorm viel von der Struktur der Erste Elemente –
Materie zu verstehen. Es soll aber nicht ver- Die Grundstoffe der Alchemisten
schwiegen werden, dass in der Natur hinter je-
dem gelösten Geheimnis neue, tiefer liegende
Fragen stehen. Das gilt auch für die Bestandteile
der Atome, von denen wir in diesem Kapitel nur
die drei wichtigsten kennenlernen werden.
Bevor wir uns aber anschauen, wie die Che-
Cu
miker den Aufbau der materiellen Welt heute Kupfer
im Detail erklären, sollten wir zunächst exem- Das im Lateinischen als
plarisch einige der Elemente so betrachten, wie „cuprum“ bezeichnete
sie sich für unsere Sinne darstellen, nämlich Element ist schon aus
als einheitliche Stoffe. Weder ihren Aufbau aus vorgeschichtlicher Zeit
Atomen sieht man ihnen äußerlich an, noch bekannt , denn es
ihren Elementcharakter. Sie unterscheiden sich kommt in der Natur
nicht offensichtlich von den viel zahlreicheren auch gediegen vor. Be-
Verbindungen, den Stoffen, die aus mehreren reits gegen Ende der
Elementen bestehen. Steinzeit, in der nach diesem Metall benannten
Kupferzeit, wurden Gerätschaften aus dem sehr
Einige Elemente stellen sich vor zähen Kupfer hergestellt. Auch für Waffen wurde
es verwendet, obwohl es hierfür eigentlich viel
Tatsächlich sind etwa ein gutes Dutzend wirk- zu weich ist. Die Bezeichnung geht zurück auf
licher chemischer Elemente bereits seit langem „aes Cyprium“ (zyprisches Erz), es wurde des-
stofflich bekannt. Einige, wie etwa Kohlenstoff halb auch der zyprischen Göttin Aphrodite zu-
oder Gold, sogar nachweislich seit prähistori- geordnet und später der römischen Venus. In der
scher Zeit. Mit Ausnahme des Quecksilbers sind Bronzezeit wurde Kupfer der wesentliche Legie-
dies allesamt Feststoffe (ÅZeitleiste folgende rungsanteil für Bronze. Mit Zink bildet es die Bronze
Doppelseite unten). Unsere Vorfahren nutzten später erfundene weichere Legierung Messing. Kupfer + Zinn (u. a.)
sie seit Jahrtausenden – freilich ohne sie als Interessant am Kupfer ist aus materialwissen- Messing
Grundbausteine der Welt zu erkennen. schaftlicher Sicht hauptsächlich seine unter den Kupfer + Zink
115
KAPITEL 4 Demokrits Erben
Metallen einmalige rötliche Farbe. Kupfer absor- verändert erhalten. Die Verarbeitung des extrem
Oxidation
biert blaues und grünes Licht, weil deren Ener- duktilen (leicht verformbaren) Metalls, vor al-
Früher verstand man gien den Energiedifferenzen von Bandlücken des lem zu Schmuckzwecken, ist seit mindestens
unter Oxidation
ausschließlich den Kupfers entspricht (ÅTransparenz und Absorp- 6000 Jahren nachgewiesen. Erste Goldmünzen
Vorgang, bei dem sich tion, Seite 215). waren in orientalischen Ländern um 650 v. Chr.
ein Stoff (etwa ein im Umlauf. Mindestens seit dem 11. Jahrhun-
Metall) mit Sauerstoff
verbindet, also z.B. dert ist die Auslaugung von Gold aus fein ver-
die Verbrennung oder
das langsamer ablau-
fende Rosten (siehe
erweiterte Definition
Pb teiltem Goldstaub durch Legierungsbildung mit
Quecksilber (Amalgamierung) bekannt. Die
künstliche Umwandlung anderer Elemente in
Seite 138). Blei Gold („Transmutation“) war eines der Ziele der
Bemühungen der Alchemisten bei der Suche
Blei (lat. plumbum) war nach dem „Stein der Weisen“. Die Herstellung
in Ägypten bereits um v on Goldatomen ist heute ausgehend von
Reduktion das Jahr 3000 v. Chr. Quecksilber in Kernreaktoren tatsächlich mög-
Die Gewinnung eines als Gebrauchsmetall lich, allerdings ist sie völlig unwirtschaftlich.
Reinelements (meist und Abfallprodukt der
eines Metalls) aus sei-
Silbergewinnung be-
C
nen natürlich vorkom-
menden Erzen kann als kannt. Die Griechen gewannen es auf Zypern
Reduktion bezeichnet und Rhodos, die Römer in Italien, Spanien, Element des Lebens
werden. Technisch Frankreich und Deutschland. Der deutsche und
wird dieser Prozess
zumeist durch Erhitzen Name geht auf das altgermanische „blio“ oder Kohlenstoff „A girl’s best friend“
mit Koks (Kohlenstoff) „bliw“ (schimmern, glänzen) zurück. Blei
bewerkstelligt. Dabei kommt manchmal in gediegener Form, haupt- Kohlenstoff (lat. car-
r
bildet sich zunächst
das giftige Gas Kohlen- sächlich aber als Bleiglanz (Galenit, ÅAbbildung boneum) , das Element
monoxid (CO), das 5-85) vor, aus dem sich das Metall leicht gewin- des Lebendigen (ÅKa-
dann als eigentliches nen lässt. Im Mittelalter wurde die Gefährlich- pitel 12), nutzten
Reduktionsmittel dem
Metall den Sauerstoff keit des hauptsächlich chronisch krank machen- Menschen seit prähis-
entzieht und dabei den Schwermetalls deutlich, nachdem durch torischer Zeit in Form
selbst in Kohlendioxid Bleiazetat gesüßter Wein zu Vergiftungen geführt von Holzkohle, Kno-
(CO2) übergeht.
hatte (Reutlinger Krankheit). Trotzdem diente chenkohle, Ruß etc.
das Metall bis in die Neuzeit zur Herstellung von sowie als Brennstoff und Pigment. Später spielte
Wasserleitungsrohren. es eine große Rolle als starkes Reduktionsmittel
bei der Gewinnung von Metallen aus oxidischen
Erzen. Neben Schwefel war es ein wichtiges Re-
116
Erde, Wasser, Luft und Feuer
ger nicht sein. Zum Beispiel zeigt der Gegensatz Hauptingredienz vieler Rezepturen. Gießt man
von weichem schwarzen Graphit, folienartigem geschmolzenen Schwefel in kaltes Wasser, so ent-
Graphen, pulverförmigen Fullerenen, hartem steht eine knetbare Modifikation, die als plasti-
transparentem Diamant oder den in manchen scher Schwefell bezeichnet wird. Bereits bei Ho-
Fällen sogar noch etwas härteren Nanoröhrchen mer und im Alten Testament wird das Element
überdeutlich, dass die Eigenschaften der Atome mit einigen seiner Eigenschaften erwähnt. Der
keineswegs eindeutig die Stoffeigenschaften fest- raschen Bildung von Kupfersulfid beim Kontakt
legen. Wohl bestimmt der Atombau, welche mit Kupfer verdankt der Schwefel seinen Namen.
Möglichkeiten es insgesamt gibt, aber die in den Die aus dem Sanskrit stammende Bezeichnung
Kristallen realisierten Symmetrien und die Bin- „sulfur“ bedeutet „Feind des Kupfers“.
dungsverhältnisse sind letztlich entscheidend für
das tatsächliche Stoffverhalten. Sie sind dem
Material über seine Entstehungsgeschichte bzw.
Herstellungsmethode aufgeprägt.
Aufgrund seiner besonderen Bindungseigen-
Ag
schaften spielt Kohlenstoff in biologischen und Silber
künstlichen Makromolekülen eine herausra-
gende Rolle: Er bildet das Rückgrat dieser Mo- Auch Silber (lat. argen-
leküle und sorgt für deren unglaubliche Vielfalt, tum) gehört zu den
und dies in einem Ausmaß, dass die Kohlenstoff- Metallen, die teils ge-
chemie („organische“ Chemie) allein schon viel diegen, teils minera-
mehr Verbindungen kennt als die Chemie aller lisch vorkommen. Es
anderen Elemente zusammen. Der Grund liegt findet sich oft verge-
in der flexiblen Kombinierbarkeit. Dass Kohlen- sellschaftet mit Gold,
stoffatome aufgrund ihres Atombaus gleichzeitig Kupfer und anderen
vier sehr stabile Bindungen zu ihresgleichen oder Metallen und wird seit mindestens 5000 v. Chr.
anderen Atomen ausbilden können, erlaubt die verwendet. Schon bei Homer ist von „silbernen
Entstehung einmalig komplexer kettenförmiger Rüstungen“ die Rede. Erste Silbermünzen wur-
oder vernetzter organischer Strukturen. den in der Zeit um 550 v. Chr. in Kleinasien
geprägt. Silber wird vor allem in Form seiner
Legierungen eingesetzt. Wichtige Anwendungs-
117
lich gediegen vor, wurde aber hauptsächlich durch gelungen mit Quecksilber gefüllte Becken und
Rösten (Å Kapitel 5) seiner sulfidischen (schwefel- Teiche in Form von Porphyrmuscheln anlegen.
haltigen) Erze und Reduktion der entstehenden Quecksilber gibt allerdings (im Gegensatz zu
Oxide mit Koks gewonnen. Anfang des 16. Jahr- r seinen Amalgamen) schon bei normalen Tempe-
hunderts, zur Zeit des PARACELSUS, wurde das raturen nennenswert Dämpfe ab, die beim Ein-
Element als Mittel gegen viele Gebrechen ange- atmen zu akuten und chronischen Vergiftungen
priesen. In dem Buch „Triumphwagen des Anti- führen können. Noch giftiger ist es allerdings in
monii“ findet sich eine Beschreibung zur Gewin- Form seiner löslichen Verbindungen.
nung aus dem Sulfid mit Eisen und über die Ver- r
wendung von Antimon in Legierungen für das
Gießen von Glocken sowie im Letternmetall für
den Buchdruck. Der Ursprung der Elementbe-
zeichnung „Antimon“ wird im Arabischen
Sn
Sprachraum vermutet. Das Symbol Sb ist von lat. Zinn
„stibium“ abgeleitet, einer früheren Bezeichnung
für das Element selbst bzw. seine sulfidischen Erze. Obwohl Zinn (lat. stan-
num) mit nur 2 g / t in
der Erdkruste eigent-
118
Erde, Wasser, Luft und Feuer
reich als Werkstoff für Waffen eingesetzt. Nach- menschliche Körper bei wiederholter Aufnahme
dem zuerst den Hethitern ca. 1400 v. Chr. die kleiner Mengen an das Gift gewöhnen und
Gewinnung aus Erzen gelang, setzte sich Eisen schließlich ein Mehrfaches der sonst tödlichen
etwa 800 v. Chr. allgemein als Material durch Dosis von ca. 0,1 g verkraften. PARACELSUS führte
und gab dieser Periode die Bezeichnung Eisen- Arsenik im 16. Jahrhundert in die Heilkunde ein.
zeit. Der Anfang der Eisenzeit schwankt entspre- Sehr geringe Dosen (weniger als 2 mg) sollten
chend dem Entwicklungsstand der einzelnen Wohlbefinden und Schönheit steigern sowie ge-
Regionen. Später wurde Eisen vor allem in Form gen Appetitlosigkeit helfen. Anfang des 19. Jahr-
seiner Legierungen mit Kohlenstoff (Stahl) ver- hunderts wurde es mit fraglicher Wirksamkeit
wendet. Die berühmten persischen Damaszener- auch als Asthmamittel eingesetzt.
Schwerter erreichten durch einen heute nicht
mehr genau bekannten Prozess herausragende
Eigenschaften. Elektronenmikroskopische Un-
tersuchungen wiesen darin eingelagerte Fasern
aus Kohlenstoff-Nanoröhrchen neben hartem
Bi
Eisencarbid nach. Eisen und seine Legierungen Bismut
waren eine Grundlage der industriellen Revolu-
tion und wurden zum Symbol für das technische Da man das ungiftige
Zeitalter überhaupt (Å Kapitel 5). B ismut ( lat. b isemu -
tum) sowohl gediegen
als auch in Form sei-
As ner Verbindungen in
der Natur vorfindet,
w ar es vermutlich
Arsen schon früh vereinzelt bekannt. Anfangs wurde
es allerdings häufig mit Antimon, Zinn und
ALBERTUS MAGNUS be- Zink verwechselt. Seit alters her kennt man die
schrieb um 1250 erst- adstringierende (zusammenziehende), antisep-
mals die Herstellung tische (infektionshemmende) und diuretische
e l e m e n ta r e n Ar se n s (harntreibende) Wirkung dieses Schwermetalls.
durch Reduktion von E rste schriftliche Belege finden sich bei
Arsenik (Arsenoxid, AGRICOLA und PARACELSUS. Letzterer bezeich-
As 2O 3) mit Kohle. net das Element 1526 erstmals als Metall. Al-
Obwohl es eini g e lerdings gehört Bismut zu den sehr seltenen
Hinweise auf frühere Gewinnung gibt, gilt er chemischen Elementen ; sein Anteil an der
daher gemeinhin als Entdecker des Halbmetalls. obersten, 16 km dicken Erdkruste wird auf nur
Der Name Arsen stammt von der griechischen 0,2 g / t geschätzt.
Form „arsenikón“ (bei ARISTOTELES und DIOS- Der Name lässt sich bis 1472 zurückverfol-
KURIDES) ab, im klassischen Altertum eine Be- gen und geht nach einer Hypothese darauf zu-
zeichnung für die sulfidischen Arsenerze Auri- rück, dass es in Deutschland im Schneeberger Bi-Legierungen
pigment (As2S3) und Realgar (As4S4). Ersteres Revier im sächsischen Erzgebirge auf Wiesen
Woodsches Metall
ist lebhaft goldgelb gefärbt und wurde lange Zeit abgebaut („gemutet“) wurde. Im weiteren Ver- 50% Bi, 25% Pb,
als Pigment eingesetzt, ist jedoch wie alle Arsen- lauf entstand daraus Wiesemutung, Wiesmut 12,5% Sn, 12,5% Cd
verbindungen hochgiftig. Im antiken Standard- u n d Wi s m ut. B e r e i ts A GRIC O L A l at ini s i e r te Smp. ca. 73 °C
werk „Physica et Mystica“ werden Arsenverbin- den Namen zu Bisemutum. Trotzdem war in Roses Metall
dungen erwähnt. Die Alchemisten vermuteten Deutschland bis 1979 Wismut statt Bismut die 50% Bi, 25% Pb,
eine Verwandtschaft des Elements mit Schwefel offizielle Bezeichnung für das Schwermetall. 25% Sn
Smp. ca. 98 °C
und Quecksilber. Arsen kommt sehr selten ge- Bismut ist ein wichtiger Bestandteil extrem
diegen (als „Scherbenkobalt“) vor, aber vorwie- niedrig schmelzender Metalllegierungen wie des Fieldsches Metall
gend in Form seiner Sulfide. Diese wandeln sich bekannten Woodschen Metalls bzw. seiner un- 32,5% Bi, 16,5% Sn,
51% In
leicht in das als Mordgift berüchtigte Oxid „Ar- giftigen Alternativen wie des Roses Metalls oder Smp. ca. 62 °C
senik“ um. Erstaunlicherweise kann sich der des teuren Fieldschen Metalls.
119
KAPITEL 4 Demokrits Erben
Zn Co
Zink Cobalt
Phosphor wurde zufäl- Wir haben nun die historisch als erste gefun-
lig von dem Alchemis- denen Elemente kennengelernt. Doch vielleicht
ten HENNIG BRAND sind ja überhaupt nicht sie oder die Metalle, die
(ca. 1630 – 1692) ent- den Löwenanteil der Elemente ausmachen, die
deckt, der 1669 ver- allerwichtigsten. Welche könnten es sein?
suchte, mittels menschlichen Urins Gold zu gewin-
nen. Zu diesem Zwecke verdampfte er mehrere
1000 Liter Urin und reduzierte den Verdamp-
fungsrückstand mit Kohle. Dabei erzeugte er die
weiße Modifikation elementaren Phosphors, das
H
zu seinem Erstaunen in der Dunkelheit leuchtete. Wasserstofff – Der Alte
Der Name kommt von griechisch phosphóros,
lichtbringend. Erst LAVOISIER
A R erkannte, dass Phos- Gleich mehrere gute
phor ein chemisches Element ist. Gründe lassen einen
Roter Phosphor wurde 1848 von ANTON Kandidaten besonders
VON SCHRÖTTER hergestellt. Er und JÖNS JACOB hervortreten: ein Gas,
BERZELIUS erkannten ihn als Modifikation des den Wasserstoff (lat.
weißen Phosphors. Später fand man heraus, hy dro g eniu m) . „Im
dass Phosphor auch noch in anderen Modifika- Anfang war der Was-
tionen vorkommt, beispielsweise als schwarzer serstoff“, so lautet der
Phosphor mit teils metallischen Eigenschaften. Titel des 1972 erschienenen Kultbuches des
120
Erde, Wasser, Luft und Feuer
121
KAPITEL 4 Demokrits Erben
O N
Sauerstoff – Lebenserhaltend und zerstörerisch Stickstoff – Unbemerkt um uns und für Pflanzen
zugleich unentbehrlich
Anmerkung: Da wir ihn zum Leben Mehr als drei Viertel der
Das „N“ auf den Fla- mit jedem Atemzug so Luft besteht aus Stick-
schenschultern der abge-
bildeten Stickstoffflasche
d ringend brauchen, stoff (lat. nitrogenium).
(rechts) steht nicht etwa vergisst man leicht, Doch wir bemerken
für das darin enthalten Ni- dass Sauerstoff (lat. ihn kaum. Das liegt
trogenium, sondern ist das
oxygenium) ein hoch- ganz offensichtlich an
Ergebnis eurokratischer
Normierungsbemühun- aggressives Element seiner chemischen Na-
gen, die dieses in DIN EN ist, das sich begierig tur. Stickstoff, der un-
1096-3 seit 1. Juli 2006
und unter großer Energiefreisetzung mit vielen ter den Bedingungen der Erdatmosphäre ebenfalls
für Gasflaschen zusam-
men mit neuem Farb- anderen verbindet. Das zeigt sich etwa bei einem als zweiatomiges Gas (N2) vorkommt, ist bekannt
code vorschreiben. „N“ Waldbrand oder darin, wie das Rosten von Eisen für seine notorische Reaktionsträgheit.
steht für „New“ (sic!). in unserer Zivilisation immense Schäden anrich- Und doch ist auch Stickstoff ein Hauptbe-
Daher ist das „N“ auch
auf Sauerstoffflaschen tet und nur durch allerlei Beschichtungen und standteil in sehr vielen wichtigen Lebensmolekülen
korrekt. (Nach derselben Tricks für einige Jahre im Zaum gehalten werden wie Eiweißen (Proteinen) und der Erbsubstanz
absurden Logik müsste kann. ANTOINE LAVOISIER
A erkannte Sauerstoff als DNA. Wir nehmen den Stickstoff, den alle Le-
bei der nächsten Reform
wohl „NN“ oder „N2“ für Element und seine Rolle bei der Verbrennung um bewesen in unzähligen biochemischen Prozessen
Sauerstoff vorgeschrieben 1779, einige Jahre, nachdem er von JOHN benötigen, mit den Proteinen der Nahrung auf und
werden!). PRIESTLEY und CARL WILHELM SCHEELE erstmals scheiden ihn schließlich im Harnstoff auch aus.
hergestellt worden war. Die Pflanzen, aus denen letztlich auch unser
Elementarer Sauerstoff kommt in zwei ver- Nahrungsstickstoff kommt, haben wegen der
schiedenen Formen vor, die beide bei Normal- Reaktionsträgheit ernsthafte Probleme, an ge-
temperatur gasförmig sind. Sie können sich da- nügend nutzbaren Stickstoff zu kommen. Den
her nicht nur durch die Kristallstrukturen der reaktionsträgen Stickstoff der Luft können sie
gefrorenen Formen unterscheiden. Vielmehr ist nicht unmittelbar nutzen. Einige beherbergen
hierfür entscheidend, wie viele Sauerstoffatome deshalb symbiotische Bakterien in ihren Wur-
zu einem Molekül zusammentreten. Normaler zeln, die den Trick beherrschen.
Sauerstoff, der zu etwa 21 Volumenprozent in Stickstoff ist die wichtigste Komponente in
der Luft vorkommt, besteht wie Wasserstoff aus Düngemitteln wie Harnstoff- oder Ammonium-
zweiatomigen Molekülen (O2). Daneben ist seit nitratdüngern, von denen jährlich etwa 120 Mio.
einigen Jahren aber auch der noch aggressivere Tonnen zum Einsatz kommen. Sie werden zu
dreiatomige Sauerstoff (O3) unter der Bezeich- einem großen Teil (allerdings mit enormem Ener-
nung Ozon zu trauriger Berühmtheit gelangt. Eine gieaufwand) aus Luft hergestellt. Auf diese Weise
spannende Geschichte ist auch, wie Sauerstoff in konnte die landwirtschaftliche Produktion auf
unsere Atmosphäre kam. Neben Kohlenstoff und das fünffache pro Flächeneinheit gesteigert wer-
Wasserstoff ist Sauerstoff eines der Elemente, die den. Ohne Stickstoffdünger könnte die Erde nicht
für höheres Leben der Art, wie wir es auf der Erde mehr annähernd die vielen Milliarden Menschen
kennen, völlig unentbehrlich ist. Sein Kreislauf – ernähren, die heute auf ihr leben. Hunger wäre
von Tieren verbraucht und von Pflanzen gebildet nicht nur ein politisches und Verteilungsproblem,
– sowie seine Rolle in fast allen Lebensmolekülen sondern er würde die meisten von uns treffen.
wird deshalb in den ÅKapiteln 7 und 12 noch
ausführlicher zur Sprache kommen. 4-3
In unserer kurzen exemplarischen Vorstellung Elemente des Lebens. Die sechs Elemente Wasserstoff,
Kohlenstoff, Stickstoff, Sauerstoff, Phosphor und Schwefel
einiger Elemente fehlt nun noch der Kandidat, der sind die unentbehrlichen Hauptingredenzien von Lebewe-
den Löwenanteil der Luft ausmacht und ebenfalls sen. Daneben spielen allerdings noch einige andere, wie
für das Leben unabdingbar ist. Calcium, Natrium und Kalium, wichtige Nebenrollen.
122
Erde, Wasser, Luft und Feuer
4-4
Rutherfordsches Atommodell. RUTHERFORD beschoss dünne Goldfolie mit Alphateilchen (Helium-
kernen). Die Art, wie diese Teilchen gestreut wurden, führte RUTHERFORD zum Schluss, dass fast die
gesamte Masse eines Atoms im Kern konzentriert sein und dieser extrem klein sein muss. Die Vor-
stellung von Elektronen, die den Atomkern wie Planeten die Sonne umkreisen (unteres Bild), geht
allerdings auf den japanischen Physiker NAGAOKA HANTA T RO (1865 – 1950) zurück.
12
23
extrem stark, wirken aber nur auf sehr kurze konnte allerdings 1900 das Strahlungsspektrum
Distanz (ÅDer innere Aufbau der Nukleonen, ideal schwarzer Körper nur unter der Annahme
Seite 426). Atome sind die kleinsten reaktions- erklären, dass Körper elektromagnetische Strah-
fähigen Einheiten in der Chemie. Sie können sich lung (Wärmestrahlung) in Form fester Energie-
untereinander zu komplexen Molekülen und portionen emittieren und absorbieren (ÅStrah-
Festkörpern verbinden und sind die grundlegen- lungsgesetze von Stefan bis Planck, Seite 96).
den Bausteine der gesamten uns vertrauten be- Wenig später (1905) schrieb ALBERT EINSTEIN
lebten und unbelebten Materie. Alle chemischen seine Arbeit zum photoelektrischen Effekt (das
Vorgänge beruhen ausschließlich auf Wechsel- Herauslösen von Elektronen aus Metallen durch
wirkungen zwischen den Hüllenelektronen von Lichteinstrahlung), für die er 1921 den Nobel-
Atomen und deren Verhalten im Kraftfeld der preis erhielt. Dieser Effekt war nur erklärbar,
Kerne. Die Kerne selbst verändern sich in che- wenn Licht in Form von Energiepaketen, den so-
mischen Reaktionen nie, da die dabei auftreten- genannten Photonen, auftritt. Wie bei PLANCKs
den Kräfte viel geringer sind als die Kernkräfte. Strahlung des schwarzen Körpers verfügt dabei
Genau deshalb ist auch die Erzeugung von Gold jedes Photon über eine bestimmte Energie E,
aus Blei durch chemische Reaktionen unmöglich. die von seiner Frequenz ν (also der „Farbe“ des
Lichts) abhängig ist:
Seltsame Entdeckungen und Eigenschaften
E = h·ν
Nach RUTHERFORD endete die Ära der Atom-
modelle, die auf den Gesetzen der klassischen Die Größe h nennt man das Plancksche Wir-
Physik basierten. Die tatsächlich beobachteten kungsquantum. Es hat die Dimension Energie
4-6 und theoretisch erwarteten Eigenschaften von mal Zeit oder Ort mal Impuls, Physiker nennen
Massenverhältnisse als Atomen konnten in ihrem Rahmen nicht sinn- eine solche Größe „Wirkung“. Physikalische
Flächen.
voll in Einklang gebracht werden. Objekte bewegen sich immer so, dass die Wir-
In der Grafik entspricht
die Fläche etwa der Masse Schon GUSTATAV KIRCHHOFF (1824 – 1887) und kung minimal wird (oder bleibt). Der Apfel fällt
der Atombausteine. Das ROBERT BUNSEN (1811 – 1899) hatten 1859 fest- auf dem kürzesten Weg nach unten, und auch
Neutron n0 ist etwa so
gestellt, dass alle chemischen Elemente Licht das Licht bewegt sich geradlinig von einem
schwer wie das Proton p+
(nur ca. 0,14% schwerer). ganz bestimmter Frequenzen emittieren und ab- Punkt zum anderen. Das Wirkungsquantum
Das Elektron e– hat fast sorbieren, die sogenannten Spektrallinien. Gegen ist eine zentrale Größe in der Physik. Wäre es
eine 2000fach geringere Ende des 19. Jahrhunderts wurde deutlich, dass gleich null, gäbe es keine Quanteneffekte, die
Masse. Selbst alle Elektro-
nen eines schweren Atoms zumindest für den Wasserstoff die Frequenzen Welt würde sich „klassisch“ verhalten. h ist
wie Uran zusammenge- einem einfachen Gesetz folgten. (Å Abbildung allerdings sehr klein:
nommen würden also nur 4-8). Aber die klassische Physik war weder in der h = 6,626 068 96 (33) · 10−34 J · s.
einen kleinen Bruchteil
eines Kernbausteins aus- Lage, zu erklären, warum Atome Licht nur mit Licht hatte also sowohl Teilchen- als auch Wel-
machen. bestimmten Wellenlängen absorbieren und emit- leneigenschaften. Hatten dann Elektronen viel-
tieren können, noch wie dieses Gesetz zustande leicht auch Welleneigenschaften?
kommt. Das Rutherfordsche Atommodell hatte Im Jahr 1924 postulierte LOUIS DE BROGLIE
aber noch eine weitere Schwäche. Elektronen, (1892 – 1987) den Welle-Teilchen-Dualismus,
die wie Planeten um den Atomkern kreisen, wonach jedem Teilchen eine Materiewelle zu-
sollten nämlich nach den Gesetzen der Elektro- geordnet werden kann, deren Frequenz pro-
dynamik Energie in Form elektromagnetischer portional zur Energie ist. Seine Bestätigung
Wellen abstrahlen und deshalb in kürzester Zeit erhielt die Theorie bereits drei Jahre später:
in den Kern stürzen. 1927 wiesen die amerikanischen Physiker CLIN-
Auch an anderen Stellen begann zur glei- TON DAVISSON
A (1881 – 1958) und LESTER H.
chen Zeit das Gebäude der klassischen Physik GERMER (1896 – 1971) die Beugung von Elek-
zu wanken (ÅUmbruch: Die Quantentheorie, tronen am Gitter eines Nickelkristalls nach.
Seite 103). Spätestens seit THOMAS YOUNGs Der Welle-Teilchen-Dualismus schien eine sehr
Doppelspaltexperiment 1802 schien eindeutig anschauliche Begründung für das von NIELS
bewiesen zu sein, dass Licht eine elektromag- BOHR (1885 – 1962) bereits 1913 vorgeschla-
netische Wellenerscheinung ist. MAX PLANCK gene Atommodell zu liefern.
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
12
1 24
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Photonenexperimente
4-8
Erlaubte Bahnen Spektrum des atomaren
Wasserstoffs. Die Spek-
M i t de m A to mm ode ll vo n N IELS B OHR trallinien im Spektrum des
Wasserstoffatoms folgen
(1885 – 1962) begann 1913 die Zeit der Quan-
einem einfachen Gesetz,
tentheorie. BOHR ging davon aus, dass Elek- in dem die Frequenz ν
tronen sich nur auf bestimmten, „erlaubten“ bzw. die Wellenlänge
Bahnen um den Atomkern bewegen. Auf diesen λ nur von zwei ganzen
Zahlen m und n abhängt.
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
speziellen Bahnen sollte es nicht, wie von der Einen Grund für dieses
klassischen Theorie vorhergesagt, zu einer Ab- Verhalten liefert erst die
strahlung von Energie kommen. Da jeder erlaub- Quantentheorie.
12
25
KAPITEL 4 Demokrits Erben
4-9
Erlaubte Bahnen. Im
„Sonnensystemmodell“
kreisen negativ geladene
Elektronen in beliebigen
Abständen um den positiv
geladenen Atomkern,
dessen elektrische Anzie-
hung als Potenzialmulde
dargestellt ist (oben). Im
BOHRschen Modell gibt es
hingegen nur bestimmte
erlaubte Bahnen (darge-
stellt als Treppenstufen,
unten). Die potenzielle
Energie ist hier „gequan-
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
telt“.
4-10
Stehende Wellen um einen Atomkern. Eine gute Ver-
anschaulichung, wie einzelne Energieniveaus statt eines
Bahnradien konnten gut mit den Wellenlängen kontinuierlichen Energiespektrums entstehen können,
bietet das Bild stehender Elektronenwellen um einen
der kreisenden Elektronen in Einklang gebracht Atomkern. Obwohl dieses Bild die Verhältnisse nicht
werden. Eine erlaubte Bahn war eine Bahn, auf exakt widerspiegelt, kann man sich leicht vorstellen, dass
der die Materiewelle eine stehende Welle bil- beispielsweise zweieinhalb Wellenzüge hier keinen Sinn
ergeben, denn sie würden sich mit der Zeit auslöschen.
det (ÅࡳAbbildung 4-10). Dennoch blieben viele Nur Ganzzahlen stellen in diesem Bild gültige Elektronen-
Fragen offen. Zwar konnte man bestimmte bahnen dar.
Aufspaltungen der Spektren durch Variationen
der erlaubten Bahnen erklären, wichtige De-
tails zu Spektren und besonders zum Verhältnis Operatoren und Unschärferelation
zwischen Atomstruktur und Periodensystem
blieben ungeklärt. Dies änderte sich erst, als Die Wellenfunktion beschreibt ein Teilchen
die sogenannte „ältere“ Quantentheorie BOHRs vollständig. Sie umfasst alles, was man von
ersetzt wurde durch die Quantentheorie ERW
R IN ihm wissen kann. Leider handelt es sich nicht
SCHRÖDINGERs und WERNER HEISENBERGs, in der um eine messbare physikalische Größe wie
ein neue Größe in den Vordergrund rückte: die Ort, Impuls (Masse mal Geschwindigkeit) oder
Wellenfunktion. Energie, sondern um eine recht abstrakte ma-
thematische Größe. Dies ist eine etwas un-
Wellenfunktion erquickliche Vorstellung, und es gab bereits
mehrere Versuche, der Wellenfunktion eine
Durch den Welle-Teilchen-Dualismus DE BRO- physikalische Interpretation zu geben, bisher
GLIEs bekamen die „erlaubten“ Bahnen des ohne anschauliches Ergebnis. Hat man die
Bohrschen Atommodells eine sinnvolle Bedeu- Wellenfunktion eines Teilchens mit Hilfe der
tung: Nur jene Bahnen sind stabil, bei denen Schrödinger-Gleichung ermittelt, ist es aller-
die Wellenlänge der Elektronen-Materiewellen dings nicht schwer, Ort, Impuls oder Energie
ein ganzzahliger Bruchteil des Bahnumfangs ist. zu berechnen. Je nach physikalischer Größe
ERW
R IN SCHRÖDINGER (1887 – 1961) verallgemei- wendet man eine bestimmte Rechenvorschrift
nerte 1926 dieses Konzept in der berühmten auf die Wellenfunktion an. Eine solche Vor-
Schrödinger-Gleichung (Å Kasten Schrödinger- schrift nennt man Operator. Zur Berechnung
Gleichung, Abbildung 4-12). Sie beschreibt die des Ortes dient der Ortsoperator, zur Berech-
sogenannte Wellenfunktion eines Teilchens in nung des Impulses der Impulsoperator und zur
einem beliebigen Energiefeld. Für den Fall eines Berechnung der Teilchenenergie der Hamilton-
freien Teilchens entspricht die Wellenfunktion Operator. Leider erhält man dabei nur unter
der DE BROGLIEschen Materiewelle. bestimmten Bedingungen eindeutige Werte für
126
Erde, Wasser, Luft und Feuer
127
KAPITEL 4 Demokrits Erben
Schrödinger-Gleichung
In den Vorstellungen der klassischen Physik exakt lösbar (Å Abbildung 4-12). In kompli-
sind Ort und Impuls (Geschwindigkeit mal zierteren Fällen sind nur Näherungslösungen
Masse) elementare Größen bei Teilchen, die verfügbar.
man im Prinzip unabhängig voneinander be- Die stationäre Schrödinger-Gleichung liefert
liebig genau messen kann. Die Natur der Wel- die möglichen Energiewerte, die ein Teilchen in
lenfunktion trägt der Tatsache Rechnung, dass einem Potenzial annehmen kann. Für das Was-
dies zumindest für sehr kleine Teilchen nicht serstoffatom liefert sie die Energieniveaus des
der Fall ist. Die Wellenfunktion, die mit dem Elektrons, die NIELS BOHR in Form „erlaubter“
griechischen Buchstaben Ψ bezeichnet wird, Elektronenbahnen zuvor postuliert hatte. Der
ist zwar selbst nicht messbar, aus ihr lassen Bahnbegriff ist allerdings etwas irreführend,
sich aber alle bekannten Größen der klassi- wie der nächste Abschnitt zeigt. Das Elektron
schen Physik ableiten. Man wendet dazu ma- „kreist“ nicht um den Atomkern, das einzige,
thematische Operationen auf sie an, sogenannte was die Wellenfunktion über den Aufenthalts-
Operatoren. Für jede klassische Größe gibt ort aussagen kann ist, mit welcher Wahrschein-
es einen entsprechenden Operator (nach dem lichkeit es sich an einem Ort x aufhält, diese
sogenannten Korrespondenzprinzip). Wahrscheinlichkeit ist nämlich gleich |Ψ(x)|2.
Aber wie bestimmt man die Wellenfunktion In der Schrödinger-Gleichung werden Teil-
eines Teilchens? chen stark vereinfacht behandelt. Es handelt
Am häufigsten wird hierzu die von ERWIN sich um unendlich kleine Materiepunkte, die
SCHRÖDINGER 1926 aufgestellte Schrödinger- sich zudem nicht zu schnell bewegen dürfen.
Gleichung verwendet. Sie beschreibt, wie sich Berücksichtigt man Drehimpulse, relativistische
die Wellenfunktion bei einem gegebenen Poten- Geschwindigkeiten, Magnetfelder und andere
zial (Å Abbildung 4-17, Seite 131) zeitlich und Phänomene, so erhält man komplexere Glei-
räumlich verändert. Ist das Potenzial zeitlich chungen, die allerdings auch die sogenannten
konstant, so vereinfacht sich die Gleichung Fein- und Hyperfeinstrukturen der Energieni-
und wird für einfache Systeme wie ein Elektron veaus von Atomen erklären können (ÅAbbil-
im Potenzial eines Protons (Wasserstoffatom) dung 4-19, Seite 133).
4-12
Stationäre Schrödinger-Gleichung. Die stationäre Schrödinger-Gleichung beschreibt die Wellenfunktion in ei-
nem zeitlich konstanten Potenzial. Der Hamilton-Operator steht für die Gesamtenergie des Teilchens, also für
potenzielle und kinetische Energie, E steht für den Wert der Energie selbst. Die Gleichung besagt, dass der
Hamilton-Operator angewandt auf die Wellenfunktion diese wieder reproduziert, multipliziert mit der Energie
E. Lösungen dieser Gleichung gibt es in der Regel nicht nur für einen Wert der Energie, sondern für mehrere. Ist
kein Potenzial vorhanden (oben), so handelt es sich um ein freies Teilchen. Als Wellenfunktion erhält man die de
Broglieschen Materiewellen, und es sind beliebige Werte für die Energie möglich. Die Energie tritt als Phasen-
geschwindigkeit der Welle in Erscheinung. In einem Potenzial (unten) ist die Wellenfunktion lokal begrenzt und
nimmt vom Energieniveau abhängige Formen an.
128
Erde, Wasser, Luft und Feuer
4-13
Quantelung. Die Wellenfunktion eines in einem Potenzialtopf gefangenen Teilchens kann nicht jede beliebige
Form annehmen, sie muss in den Topf „passen“ wie eine stehende Welle in einer Flöte (links). Da die Form der
Wellenfunktion von der Energie des Teilchens abhängig ist, sind nur diskrete Energiewerte möglich, die Energie
ist „gequantelt“ (rechts). Die Dichte dieser Energiewerte hängt von der Breite des Topfes ab: je breiter der Topf
ist desto mehr Energiewerte sind möglich. Im Grenzfall eines unendlich breiten Topfes liegen die Energiewerte
unendlich dicht, das Teilchen ist „frei“. Ein Teilchen kann nur dann auf die nächsthöhere Energiestufe wechseln,
wenn es durch ein Energiequant (etwa ein Photon) angeregt wird, das genau so groß ist wie die Energiedifferenz
beider Stufen. Deshalb absorbieren Elektronen in Atomen nur bestimmte Lichtfrequenzen. In der linken Darstel-
lung ist das Quadrat der Wellenfunktion in Abhängigkeit von der Energie dargestellt, also die Wahrscheinlichkeit,
das Teilchen an einem bestimmten Ort entlang des Potenzialtopf zu finden.
4-14
Wellenfunktion und Unschärferelation. Links sind Quadrate der Wellenfunktion eines in einer „Box“ (graue
Linien) gefangenen Elektrons dargestellt (farbige Kurven). Sie sind ein Maß für die jeweilige Aufenthaltswahr-
scheinlichkeit des Elektrons in der Box. Eine schmalere Box konzentriert die Aufenthaltswahrscheinlichkeit auf
einen kleineren Bereich (von rot über grün nach blau). Gleichzeitig wächst die Unsicherheit über die Geschwin-
digkeit des Elektrons in der Box (rechts). Eine breite Box (rote Kurven) lässt uns bezüglich des Orts im Unge-
wissen, führt aber zu einem nur wenig streuenden Impuls. Bei einer sehr schmalen Box (blau, links) sind wir im
Ungewissen über die Geschwindigkeit (blau, rechts). Im linken Bild ist auch erkennbar, dass sich das Elektron
sogar mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit außerhalb der Box befinden kann! Nach klassischem Verständnis
ist dies genauso unmöglich wie die Vorstellung, ein Ball könne von selbst aus einem Korb springen. Diesen nur
quantenphysikalisch erklärbaren Effekt nennt man Tunneleffekt: Die Teilchen durchtunneln gewissermaßen eine
unüberwindliche Barriere.
129
KAPITEL 4 Demokrits Erben
Energiezustand des Elektrons ist (also je kleiner beim feldfreien Niveau (m = 0) liegen. Diesen
n ist) desto größer ist diese Energie (Å Abbildung Effekt der Aufspaltung nennt man den norma-
4-12, Seite 128). Wird sie durch Photonen len Zeeman-Effekt. Zustände der Quantenzahl
zugeführt, benötigt man entsprechend hohe Fre- n, die nicht aufgespalten sind, bezeichnet man
quenzen (E = h · ν ). Deshalb ist Röntgenstrah- mit dem etwas seltsamen Ausdruck „entartet“.
lung viel gefährlicher als Licht, obwohl es sich
ebenfalls „nur“ um elektromagnetische Wellen
handelt. Durch die hohe Energie ihrer Photonen Quantenzahlen
werden Atome ionisiert. Dadurch zerbrechen
Bindungen, und Ionen können im Körper Scha-
den anrichten, indem sie ihrerseits mit anderen n l m
Molekülen reagieren. 1 0 0
2 0 0
Atome sind keine Kästen, sondern enthalten 1 –1, 0, 1
einen winzigen Kern, der eine positive Ladung 3 0 0
trägt. Trotzdem gilt für die Elektronen eines 1 –1, 0, 1
Atoms im Prinzip das Gleiche wie im einfachen 2 –2, –1, 0, 1, 2
Kastenmodell. Und hier kann man tatsächlich 4 0 0
1 –1, 0, 1
das Bild eines atomaren „Sonnensystems“ zu 2 –2, –1, 0, 1, 2
Hilfe nehmen. Ein Elektron, das sich in der Nähe 3 –3, –2, –1, 0, 1, 2, 3
des Kerns befindet, würde durch die elektrische
... ... ...
Anziehung auf diesen stürzen, wenn es ihn nicht
wie ein Planet mit hoher Geschwindigkeit um-
laufen würde. Die entstehende Zentrifugalkraft 4-15
Quantenzahlen. Für jeden Wert der Hauptquantenzahl
macht die Anziehungskraft des Kerns wieder
n gibt es n –1 mögliche Nebenquantenzahlen l, die
wett. Dem Umlauf des Elektrons um den Kern wiederum unterteilt sind in 2l +1 Magnetquantenzahlen.
entspricht ein Drehimpuls (der Drehimpuls hat Die Werte des Drehimpulses sind gleich
die Dimension Energie mal Zeit, das heißt, er ist m · h / 2π = m · 105,45727 · 10 –36 J · s. Die Aufspaltung der
Nebenquantenzahlen in 2l +1 Magnetquantenzahlen
eine Wirkung). Auch der Drehimpuls kann nicht gilt generell für jede Art von Drehimpuls, auch für
beliebige Werte annehmen, sondern ist gequan- den sogenannten Spin der Elementarteilchen. Der
telt. Aufgrund dieser Quantelung kann sich ein Grund hierfür sind universelle Symmetrieeigenschaften
quantenphysikalischer Größen, die in Kapitel 10
Elektron zwar in verschiedenen, aber nicht in be- ausführlicher behandelt werden.
liebigen Bahnabständen um den Kern bewegen.
Insgesamt gibt es für jede Hauptquantenzahl n2 Spin
Möglichkeiten. Die n2 verschiedenen Möglich-
keiten kann man noch etwas weiter sortieren. Schon auf Basis des einfachen Bohrschen Mo-
Jedem Wert von n sind n–1 Nebenquantenzah- dells konnte man die obigen Überlegungen an-
len l zugeordnet und jeder Nebenquantenzahl stellen und die Aufspaltung der Energieniveaus
2l + 1 Magnetquantenzahlen m. Letztere heißen vorhersagen. Eine Konsequenz dieser Aufspal-
so, weil sie das Verhalten des Elektrons in einem tung ist, dass sich ein Strahl aus Atomen mit
Magnetfeld bestimmen. Anschaulich betrachtet einem Elektron in einem Magnetfeld in 2l + 1
ist m so etwas wie die (gequantelte) Orientierung Strahlen aufspalten sollte, entsprechend der (zu-
der Elektronenbahn gegenüber dem Magnetfeld. fälligen) Orientierung der Elektronen. Ein Strahl
Da das kreisende Elektron wie ein kleiner Mag- aus Atomen, bei denen die Elektronen in einem
net wirkt (ähnlich wie eine stromdurchflossene Zustand mit der Nebenquantenzahl l = 0 sind
Spule), wirkt bei Vorhandensein eines äußeren (keine Drehung), sollte keine Aufspaltung erfah-
Magnetfeldes eine Kraft auf das Elektron, die ren, da bei l = 0 nur m = 0 möglich ist (kein Mag-
von der Orientierung der Elektronenbahn ab- netfeld). Bei einem Experiment mit Silberatomen
hängt. Die unterschiedlichen Kraftwirkungen stellte sich allerdings schon 1922 heraus, dass in
führen zu einer Aufspaltung der Energieniveaus einem Magnetfeld trotz l = 0 eine Aufspaltung
des Elektrons. Befindet es sich auf dem Niveau stattfindet, und zwar in zwei Strahlen! Genauere
n, so sind je nach Wert von m 2l +1 Energieni- Messungen verschiedener Atomspektren in die-
veaus möglich, die allerdings alle recht nahe ser Zeit zeigten zudem, dass die Energieniveaus
130
Erde, Wasser, Luft und Feuer
131
KAPITEL 4 Demokrits Erben
muss sich jedes Elektron in mindestens einer Bei Teilchen mit ganzzahligem Spin behält
Quantenzahl von den anderen unterscheiden. die kombinierte Wellenfunktion ihr Vorzeichen,
Wie wir noch sehen werden, ist mit Hilfe des Vertauschungen von Teilchen bleiben also ohne
Pauli-Prinzips das Periodensystem der Elemente Wirkung. Teilchen mit ganzzahligem Spin kön-
einfach erklärbar. nen sich alle im gleichen Zustand befinden. Dies
Eine exakte Begründung ist nur im Rahmen ist eine wichtige Eigenschaft, auf die wir noch
4-18 der sogenannten Quantenfeldtheorie möglich, zurückkommen werden.
Welt ohne Pauli-Prinzip? aber das Prinzip hängt mit einer Konsequenz der
Die Tatsache, dass wir
quantenmechanischen Beschreibung von Teil- Bosonen, Fermionen und die
trotz weitgehend aus
Leerraum bestehenden chen zusammen, die man aus der klassischen Ausgedehntheit der Materie
Atomen nicht durch Physik nicht kennt. In der klassischen Physik
Wände gehen können, sind zwei Teilchen immer unterscheidbar. Selbst Mit der Weiterentwicklung der Quantenphysik
lässt sich auf das Pauli-
Prinzip zurückführen. wenn sie sich bezüglich Masse, Form, Größe, erkannte man, dass nicht nur Elektronen einen
Geschwindigkeit und so weiter exakt glichen, Spin besitzen, sondern auch alle anderen Ele-
gäbe es doch einen Unterschied: Sie können mentarteilchen. Der Wert der Spinquantenzahl
nicht zugleich am selben Ort sein. Man müsste s ist aber für jede Teilchenart konstant und un-
sich nur merken, welches Teilchen links und veränderlich. Bei den sogenannten Fermionen
welches rechts ist, und sie dann nicht mehr aus ist s = ±1/2, bei den Bosonen nimmt s ganzzahlige
Fermionische
den Augen verlieren. Wie sieht es aus quan- Werte an. Zu den Fermionen gehören alle Ele-
Materie
tenmechanischer Sicht aus? Aufgrund der Un- mentarteilchen, die unsere makroskopische Welt
Elektron e– schärferelation können wir den genauen Ort bestimmen: Elektronen, Protonen und Neutro-
Proton p+
Neutron n0 eines Teilchens nicht wissen (ohne bezüglich nen. Da jedes Teilchen mit einem halbzahligen
anderer Größen unsicher zu sein). Also hilft Spin dem Pauli-Prinzip unterliegt, können nicht
uns bei ansonsten gleichen Teilchen die Ortsan- nur Elektronen, sondern auch Protonen und
gabe nichts. Alles, was wir wissen können, sind Neutronen (und ihre Bestandteile, die Quarks)
die beiden Wellenfunktionen der Teilchen. Und keine gemeinsamen Quantenzustände einneh-
wären beide gleich, gäbe es keine Möglichkeit, men. Dies ist der Grund für die Ausgedehntheit
beide Teilchen zu unterscheiden. Jemand könnte der Materie: Zwei Atome können sich nicht
sie vertauschen, ohne dass wir es merkten! Aber beliebig nahe kommen, da bei der Überlagerung
können die Wellenfunktionen zweier Teilchen ihrer Elektronenhüllen zu wenig Quantenzu-
überhaupt gleich sein? stände für alle Elektronen frei wären. Das Ergeb-
Das kommt auf die Teilchenart an. Bei Teil- nis ist eine bei zunehmender Annäherung steil
chen mit ganzzahligem Spin geht es, bei solchen ansteigende Abstoßungskraft zwischen Atomen
mit halbzahligem geht es nicht, also auch nicht (ÅࡳAbbildungen 4-16 und 4-17, Seite 131).
bei Elektronen. Aus Gründen, die wir hier nicht Zu den Bosonen zählen alle Teilchen, die
erörtern können, ist nämlich die kombinierte Wechselwirkungen („Kräfte“ im klassischen
Wellenfunktion zweier Teilchen mit halbzahli- Sinn) vermitteln, also das Photon der elektro-
gem Spin so beschaffen, dass sie bei der Vertau- magnetischen Wechselwirkung sowie die Gluo-
schung beider das Vorzeichen wechselt. „Ver- nen der starken Wechselwirkung, welche Quarks
tauschung“ heißt hier einfach, dass man überall in Protonen und Neutronen binden. Ebenso die
dort, wo die Quantenzahlen für Elektron 1 ste- sogenannten Weakonen der schwachen Wechsel-
hen, die von Elektron 2 einsetzt. Ohne auf die wirkung. Das hypothetische Graviton, der Ver-
132
Erde, Wasser, Luft und Feuer
133
KAPITEL 4 Demokrits Erben
tronen sowie Effekte durch die Inhomogenität diese Körnigkeit in sehr kleinem Maßstab sogar
der Ladungsverteilung im Kern. Ähnlich wie bei für Raum und Zeit... (Å Kapitel 10).
der Spin-Bahn-Kopplung können sie beschrieben
4-22
Radiale Verteilungsfunktion. Aus der Wellenfunktion
kann man die radiale Verteilungsfunktion berechnen. Sie
gibt die Aufenthaltswahrscheinlichkeit des Elektrons in
einem bestimmten Kernabstand an. a0 ist der sogenannte
Bohrsche Radius. Ihn erhält man im Bohrschen Modell als
Bahnradius auf dem tiefsten Energieniveau (n = 1).
s-Orbitale (l = 0) haben einen Hochpunkt nahe am Kern,
p-Orbitale (l = 1) immer außerhalb. Man erkennt, dass
mit wachsendem n das Elektron meist weiter weg vom
s p d f Kern zu finden ist.
134
Erde, Wasser, Luft und Feuer
rechnung der Wellenfunktion der Elektronen und kernnah, p-, d- und f-Orbitale haben eine
mit der größten Hauptquantenzahl n, da sie am sehr komplexe geometrische Struktur und sind
weitesten vom Atomkern entfernt und damit in einer gegebenen Schale stets weiter vom Kern
für chemische Reaktionen entscheidend sind. entfernt als das s-Orbital (Å Abbildung 4-22).
In der einfachsten Näherung werden die innen Aus der Form der Orbitale wird deutlich, wie
liegenden Elektronen pauschal als zusätzliche sehr der Begriff „Bahn“ hinkt, wenn man ver-
„negative Ladung“ des Kerns berücksichtigt, die sucht sich vorzustellen, welche Haken ein Elek-
die positive Kernladung abschirmt. tron schlagen müsste, um in der Spur zu bleiben.
Unter Berücksichtigung der oben beschriebe-
nen Effekte kann man ein Modell der Elektro- Das Auffüllen von Orbitalen
nenhülle der Atome aufstellen, das die meisten
der chemischen und physikalischen Eigenschaf- Ein neutrales Atom besitzt ebenso viele Elektro-
ten der Elemente und den Aufbau des Perioden- nen in den Schalen wie Protonen im Kern. Wie
systems erklärt. Es ist bekannt unter dem Namen verteilen sich nun diese Elektronen auf die Scha-
Orbitalmodell. len, Unterschalen und Orbitale? Generell werden
die Elektronen sich auf dem tiefsten möglichen
Von Schalen und Orbitalen Energieniveau anordnen, idealerweise also im
Zustand (n, l, m) = (1, 0, 0), dem 1s-Orbital. Auf-
Die Hauptquantenzahl n bestimmt primär die grund des Pauli-Prinzips können sich jedoch
Energie eines Elektrons. Gleichzeitig wächst mit maximal zwei Elektronen diesen Zustand teilen.
wachsendem n auch sein Abstand vom Atom- Ist dieser besetzt, muss das nächste Elektron auf
kern. Man spricht deshalb von unterschiedli- die L-Schale (n = 2) ausweichen und so fort. Das
chen Schalen, auf denen sich die Elektronen je Elektron des Wasserstoffs (H) findet bequem im
nach Quantenzahl n bewegen, und bezeichnet 1s-Orbital Platz, auch das zusätzliche Elektron
sie fortlaufend mit Großbuchstaben K, L, M des nächsten Elements Helium (He) passt noch
etc. Innerhalb einer Schale unterscheiden sich hinein. Lithium mit 3 Elektronen besetzt das
die Elektronen durch ihren Bahndrehimpuls l. 1s-Orbital mit zwei Elektronen, das dritte findet
Den jeweiligen Werten von l entsprechen ver- auf dem energetisch folgenden 2s-Orbital Platz.
schiedene Unterschalen im Orbitalmodell. Man Generell wächst die Energie mit steigender Un-
bezeichnet sie mit den Kleinbuchstaben s, p, d terschale s → p → d → f innerhalb einer Schale,
und f (höhere Werte von l sind zwar möglich, allerdings können sich Schalen auch überlappen,
werden aber aus energetischen Gründen bei den so dass mit dem s-Orbital einer oberen Schale
heute bekannten Elementen nicht belegt). n, l begonnen wird, obwohl die eigentlich darunter
und die Magnetquantenzahl m legen zusam- liegende Schale noch nicht voll besetzt ist.
men die Form der Wellenfunktion fest. Da das In den Unterschalen p, d, f haben die Elektro-
Quadrat dieser Funktion den wahrscheinlichen nen die Wahl zwischen mehr als einem Orbital,
Aufenthaltsbereich des Elektrons bestimmt, ist aufgrund der verschiedenen möglichen Werte der
4-23
damit gewissermaßen die „Bahn“ des Elektrons, Quantenzahl m. Es wird zunächst jedes Orbital Überlappende Schalen.
das sogenannte Orbital, festgelegt. Die räumli- einfach besetzt, bevor mit dem zweiten Elektron Bei Atomen mit meh-
che Form dieser Orbitale hängt vor allem von aufgefüllt wird. Aufgrund der unterschiedlichen reren Elektronen kön-
nen sich die Schalen
l und m ab. s-Orbitale (l = 0) sind kugelförmig räumlichen Orientierungen der Orbitale kann so überlappen. Vergrößert
gezeigt ist der Bereich
um die Kernladungs-
zahl Z = 20 (Calcium).
Da das s-Orbital der
4. Schale hier energe-
tisch tiefer liegt als das
3d-Orbital, wird bei
Kalium (K) und Cal-
cium (Ca) zunächst 4s
gefüllt, erst beim näch-
sten Element Scandium
(Sc) mit Z = 21 geht es
wieder in der dritten
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
Schale weiter.
135
KAPITEL 4 Demokrits Erben
die Entfernung der einander abstoßenden Elek- von Elementen und damit eine Begründung für
tronen maximiert werden (was die potenzielle die Anordnung der Elemente im Periodensystem
Energie verringert). Bei der einzelnen Besetzung (siehe nächsten Abschnitt). So verfügen die sehr
eines Orbitals orientieren sich die Spins der Elek- reaktionsfreudigen Alkalimetalle Lithium, Nat-
tronen so, dass die Zahl der gleichen Spins im rium und Kalium alle über ein Elektron in einer
Atom maximal ist (Hundsche Regel). ansonsten leeren Schale. Dieses Elektron sitzt im
Für die Elektronenkonfiguration der Ele- Vergleich zu den anderen Elektronen sehr „lo-
mente gibt es im Orbitalmodell eine einfache cker“, es kann leicht vom Atom gelöst werden.
Schreibweise. Man schreibt die Unterschalen Je leichter Außenelektronen eines Metalls abge-
beginnend mit der ersten Schale hintereinander, geben werden können, desto reaktionsfreudiger
wobei man für jede Unterschale die besetzten ist es. Umgekehrt verfügen die Edelgase über ab-
Orbitale angibt. Möchte man zusätzlich die Ver- geschlossene Schalen oder zumindest abgeschlos-
teilung der Elektronen auf die jeweiligen Orbi- sene Unterschalen. Ihre Elektronen sind schwer
tale einer Unterschale darstellen, so schreibt man vom Atom zu lösen, ihre Ionisierungsenergie
zum Beispiel für Schwefel: [Ne]3s23px23py13pz1. ist also hoch (ÅKasten Ionisierungsenergie und
Die oben stehende Tabelle gibt bereits einen Elektronenaffinität, Seite 146), Edelgase sind
ersten Einblick in die Ursache der Ähnlichkeiten daher sehr reaktionsträge.
Elektronen in s-Orbitalen sind besonders häufig in Kernnähe heben sich. Dies hat Folgen für die chemischen und mechani-
anzutreffen. Da die Geschwindigkeit aufgrund der stärkeren schen Eigenschaften der Elemente. So sollte Quecksilber bei
elektrostatischen Anziehung mit zunehmender Kernnähe Raumtemperatur fest sein, indem es durch eine Überlagerung
und -ladung zunimmt, spielen relativistische Effekte eine der s- und p-Orbitale (ÅAbbildung 4-21, Seite 134) Kristall-
Rolle. So sind die kernnahen Elektronen des Quecksilbers gitter bildet. Aufgrund der kleineren s-Orbitale passen jedoch
und Goldes durch ihre rasende Bewegung um ca. 23 Prozent beide nicht mehr richtig zusammen, die Bindungskräfte sind
schwerer als im Ruhezustand. Sie erreichen etwa 58 Prozent zu schwach, um den festen Zustand zu gewährleisten. Gold
der Lichtgeschwindigkeit. Die s-Elektronen rücken dadurch ist aus ähnlichem Grund gelb statt silbern, wie es ohne relati-
näher an den Kern heran, ihre Energieniveaus senken sich vistische Effekte sein sollte. Das durch s-Elektronen gebildete
entsprechend. Da sie so die positive Kernladung stärker ab- Leitungsband rückt näher an das durch d-Elektronen gebil-
schirmen, wandern die Elektronen auf den anderen Orbitalen dete Valenzband heran. Dadurch wird blaues Licht absorbiert,
(vor allem d und f) weiter nach außen, ihre Energieniveaus und Gold leuchtet in der Komplementärfarbe gelb.
136
Erde, Wasser, Luft und Feuer
137
KAPITEL 4 Demokrits Erben
eine Schale aufnehmen kann (2, 8, 18, 32 etc.). ton, Xenon und Radon kennt man inzwischen
Aus der energetischen Lage der Orbitale folgt Verbindungen, meist zu extrem elektronegativen
aber, dass bei steigender Kernladungszahl zum Partnern wie Fluor, bei denen über die Einglie-
Beispiel die 3d-Orbitale erst nach dem s-Orbital derung eines Elektrons in die Elektronenschale
der nächsthöheren Schale gefüllt werden. Ur- mehr Energie frei wird, als etwa dem Xenon
sache ist der zwischen aufeinander folgenden verloren geht.
Hauptquantenzahlen bei wachsendem n immer
Schwach gebundene
geringer werdende Energieunterschied zwischen Metalle Außenelektronen
den Schalen. Man kann diesen Sachverhalt auch
so ausdrücken: Zustände mit 8 Außenelektronen Elemente, die nur einige wenige Elektronen in
(2 s- und 6 p-Elektronen) sind besonders stabil. ihrer äußersten Schale haben, geben diese leicht
Eine solche Schale, bei der alle s- und p-Orbitale unter Bildung positiver Ionen ab. Der verblei-
besetzt sind, wird als abgeschlossen bezeichnet. bende positiv geladene Atomrumpf (Kation) be-
Dies ist bei den Edelgasen der Fall, weshalb man sitzt dann nach außen die Edelgaskonfiguration
4-25 von Edelgaskonfiguration spricht. Eine Aus- der nächst darunter liegenden Schale. Ein solcher
Ionenarten.
nahme ist das Helium, dessen Elektronenschale Zustand ist für Metallatome wie Natrium, Ka-
Elektrisch positiv geladene (n = 1) nur ein s-Orbital besitzt und bereits mit lium oder Calcium typisch, die im Übrigen rund
Teilchen heißen Kationen zwei Elektronen voll ist. Die Elektronenvertei- 80 Prozent der Elemente ausmachen. Wie wir
Elektrisch negativ ge-
lung (die Summe der Aufenthaltswahrschein- noch sehen werden, erklärt die lockere Bindung
ladene Teilchen heißen lichkeiten der Außenelektronen aus den s- und der Außenelektronen an den Kern auch viele
Anionen p-Orbitalen) ist bei Edelgaskonfigurationen Stoffeigenschaften der Metalle. Atome aus hö-
besonders symmetrisch, nämlich genau kugel- heren Perioden wie Rubidium und Cäsium links
Anionen sind typischer-
weise deutlich größer als förmig. Obwohl Edelgase gewöhnlich als achte unten im Periodensystem gehören quasi zu den
Kationen. Gruppe ins Periodensystem eingeordnet werden, „typischsten“ Metallen, denn bei ihnen sind die
wollen wir sie hier als erste behandeln, denn bis einzelnen Außenelektronen (Valenzelektronen)
zu einem gewissen Grad kann das Verhalten aller wegen des großen Kernabstands am lockersten
anderen Elemente aus ihrem Bestreben erklärt gebunden.
werden, eine den Edelgasen ähnliche Elektro-
nenanordnung zu erreichen. Nichtmetalle Elektronenlücken
138
Erde, Wasser, Luft und Feuer
139
KAPITEL 4 Demokrits Erben
Erdalkalimetalle
Redox-Reaktionen
Die Begriffe Oxidation und Reduktion sind heute nicht mehr an eine Konfiguration: ...[n]s2
Reaktion mit Sauerstoff gebunden, sondern werden viel allgemeiner Oxidationsstufe: +2
für alle Reaktionen mit Elektronenübertragung (Redox-Reaktionen)
benutzt. Dabei treten natürlich beide Reaktionen stets gemeinsam auf:
Ein Stoff gibt die Elektronen ab, der andere nimmt sie auf. Werden wie Be Mg Ca Sr Ba Ra*
bei der Reaktion von Metallen mit Sauerstoff elektrisch neutrale Teil- (* nur radioaktive Isotope)
chen oxidiert, so entstehen daraus positiv geladene Ionen (Kationen).
Neutrale Reaktionspartner werden dabei zu negativ geladenen Ionen Die II. Hauptgruppe des Periodensystems umfasst
(Anionen) umgesetzt. die Elemente Beryllium, Magnesium, Calcium,
Strontium, Barium und das radioaktive Radium.
Ihre Neigung, Elektronen abzugeben, ist deutlich
sie unter Petroleum aufbewahrt oder sogar unter geringer als bei den Alkalimetallen. Wie bei der
Luftausschluß in Glasampullen eingeschmolzen. ersten Hauptgruppe fällt das erste Element Be-
Die Reaktion mit Wasser führt zu Wasserstoffgas ryllium wegen seines extrem kleinen Atom- bzw.
und den Metallhydroxiden (MeOH), also zu ty- Ionenradius im Verhalten deutlich aus der Reihe.
pischen Alkalien oder Basen, deren stark ätzende Auch bei Magnesium besteht noch eine leichte
wässrige Lösungen auch als Laugen bezeichnet Tendenz zu nichtionischen Verbindungen. Die
werden (Natronlauge NaOH, Kalilauge KOH). restlichen bilden typische Ionenverbindungen und
Sie dienen als chemische Grundstoffe für viele Re- liegen in Lösungen als zweifach geladene Me-
aktionen, zum Beispiel zur Seifenherstellung. Vor tallkationen vor. Magnesium und Calcium sind
allem in Schwaben wird NaOH auch zur Her- mit 1,9 bzw. 3,4 Prozent häufig in der Erdkruste
stellung der berühmten Laugenbrezeln benutzt. anzutreffen. Sie sind Bestandteile zahlreicher Mi-
Interessant ist, dass sich Alkalimetalle in flüs- nerale und Gesteine. Ersteres verbrennt mit extrem
sigem Ammoniak (NH3) mit dunkelblauer Fär- heller Flamme zu MgO, weshalb man es früher für
bung lösen. Die Lösung ist elektrisch leitfähig. Blitzlichtbirnchen einsetzte. Calcium ist in Form
Das Außenelektron ist offensichtlich so schwach des Hydroxylapatits Ca5[OH |(PO4)3] der Haupt-
gebunden, dass es durch Ammoniakmoleküle bestandteil der mineralischen Komponenten von
abgelöst wird und sich frei in der Lösung bewe- Knochen und Zähnen und spielt eine große Rolle
gen kann. bei vielen Prozessen in lebenden Zellen, beispiels-
Insbesondere die Elemente Natrium und Ka- weise bei der Nervenleitung. Calciumsalze werden
lium sind wesentliche Bestandteile vieler Gesteine. als Futtermittelzusätze und als Bestandteile von
Sie treten allerdings in der Natur stets in Form Mineraldüngern verwendet. Barium kennt man in
ihrer Ionen auf. Kochsalz ist die Ionenverbindung Form seines Sulfats (BaSO4) als Röntgenkontrast-
aus Natrium und Chlor. Natriumionen und Kali- mittel zur Darstellung des Magen-Darm-Traktes.
umionen sind für Lebewesen in den Körperflüs- In Feuerwerkskörpern verwendet man Strontium
sigkeiten unentbehrliche Elektrolyte und werden für rote und Barium für grüne Effekte.
auch für die Nervenleitung benötigt.
In einer anderen Anwendung sehen wir Alka-
limetalle alljährlich besonders gerne: Ihre Salze
zeigen elementtypische Flammenfärbungen, die
in Feuerwerken zusammen mit denen einiger
Erdalkalimetalle genutzt werden.
H Li Na K Rb Cs Ca Sr Ba
4-28
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
141
KAPITEL 4 Demokrits Erben
Konfiguration:
d-Elemente
F Cl Br I As* Oxidationsstufen:
(* nur radioaktive Isotope) variabel, oft +2, +3
Die VII. Hauptgruppe des Periodensystems sind Wir haben bisher die 44 Elemente gesprochen,
die Halogene („Salzbildner“) mit den Mitglie- die zu den Hauptgruppen gehören und deren
dern Fluor, Chlor, Brom, Iod und dem radio- Außenelektronenkonfigurationen durch Unter-
aktiven Astat. Sie bilden insbesondere mit den schiede in der Belegung der s- und p-Orbitalen
meisten Metallen typische Salze, von denen das charakterisiert sind.
Kochsalz (NaCl) nur das bekannteste Beispiel Doch was ist mit den d-Orbitalen? Wie aus
ist. Die Elektronegativität nimmt in der Gruppe dem Energieniveau-Schema zu entnehmen ist,
von oben nach unten ab. Als Reinstoffe sind kommt es bei höheren Perioden zu Überlappun-
die Elemente dieser Gruppe eher unangenehme gen der Energie von Orbitalen (ÅÜberlappende
Kandidaten. Nur von der Zahnpastawerbung Schalen, Abbildung 4-23, Seite 135) verschiede-
bekannt ist das extreme Nichtmetall Fluor. Da- ner Schalen. Bei Argon sind die s- und p-Orbitale
142
Erde, Wasser, Luft und Feuer
143
KAPITEL 4 Demokrits Erben
für Salzkristalle charakteristisch sind. Dabei kaum über den Kernradius hinausreicht.
begegnen wir allen Arten von Mischformen und Warum lieben es Atome, Bindungen mit an-
übergeordneten Strukturen, die jeweils ganz deren oder ihresgleichen einzugehen? Die Ant-
wesentlich zu den individuellen Eigenschaften wort ist einfach: Atome gehen Bindungen dann
der Verbindungen beitragen. So besteht etwa ein, wenn der gebundene Zustand energetisch
das Mineral Gips (CaSO4) aus Metallkationen günstigster ist als der getrennte.
4-30 (Ca2+) und komplexen Sulfatanionen (SO42–), Da die symmetrischen Elektronenkonfigura-
Argon-Gasentladungs-
bei denen die beiden negativen Ladungen kei- tionen der Edelgase energetisch besonders güns-
lampe. Edelgase wie z. B.
Argon neigen nicht zur nem einzelnen Atom der Gruppe zugeordnet tig sind, werden insbesondere Bindungen be-
Ausbildung chemischer werden können. Diese Komponenten bilden vorzugt, bei denen die beteiligten Atome durch
Bindungen. Das Modell
dann, oft noch zusammen mit eingelagerten Austausch oder gemeinsame Nutzung von Elek-
eines einzelnen Argon-
atoms ist rechts oben ein- Wassermolekülen, ein räumlich ausgedehntes tronen diese Edelgaskonfiguration erreichen.
geblendet. Der Atomkern Ionengitter, das im konkreten Fall die größten Edelgase verfügen bereits über die energetisch
ist im Verhältnis zur Elek- bekannten Einkristalle von über zehn Metern optimale Konfiguration und gehen deshalb nur
tronenhülle etwa um den
Faktor 10 000 vergrößert Ausdehnung bilden kann. Andererseits kön- in Ausnahmefällen und unter ganz speziellen
dargestellt. nen sich auch neutrale Moleküle wie Zucker Bedingungen Bindungen ein.
144
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Bindungsarten und Bindungsstärken hängt allerdings noch vom Verhältnis der Ionen-
radien ab, also davon, wie gut die Kugeln anei-
Die Bindungen werden in starke Bindungen nander passen. Diese einfache Tatsache bildet
(Hauptvalenzbindungen) und schwache Bindun- die Basis für die Kristallographie.
gen (Nebenvalenzbindungen) unterteilt. Erstere Ionenbindungen entstehen zwischen zunächst
meint man normalerweise, wenn man von ei- neutralen Atomen, wenn ein Partner leicht ein
145
KAPITEL 4 Demokrits Erben
Als Ionisierungsenergie bezeichnet man die Energie, die selbst, um beim Sprung zum darauffolgenden Alkalimetall
notwendig ist, um ein Elektron vom Atom zu lösen. Sie ist steil abzufallen (ÅAbbildung).
abhängig von der Kernladungszahl und dem Abstand des Mit zunehmender Kernladungszahl nimmt die Ionisie-
Elektrons vom Atomkern, da beide die Coulombsche An- rungsenergie ab, da der Abstand zwischen Elektron und
ziehung bestimmen. Deshalb steigt sie im Periodensystem Kern immer größer wird.
von links nach rechts an. Wichtig ist allerdings auch die Umgekehrt heißt die Energie, die bei der Aufnahme eines
Konfiguration der äußeren Schale. Die gefüllten äußeren Elektrons frei wird, Elektronenaffinität. Sie ist negativ für
Schalen der Edelgase sind energetisch optimale Konfigurati- Edelgasatome, da Energie aufgewendet werden muss, um sie
onen. Atome mit nur einem Elektron auf der äußeren Schale negativ zu ionisieren. Atome mit fast vollständig gefüllten
(Alkalimetalle) geben dieses leicht ab, da sie dadurch die Schalen sind dagegen leicht bereit, Elektronen aufzunehmen,
Edelgaskonfiguration erreichen. Ihre Ionisierungsenergie ist um die Edelgaskonfiguration zu erreichen, ihre Elektronen-
daher am geringsten. Am höchsten ist sie bei den Edelgasen affinität ist daher positiv.
4-34
Ionisierungsenergie und Elektronenaffinität von Elementen.
nach oben zu. Deshalb gehen die links stehenden Metallbindung. Metallatome können sich näm-
Alkali- und Erdalkalimetalle mit den rechts ste- lich wie Ionen zu Kristallstrukturen zusammenla-
henden Halogenen (Fluor, Chlor,...) besonders gern. Die Bindung zwischen äußeren Elektronen
starke Ionenbindungen ein. In der Praxis bildet und Atomkern wird dabei aufgrund der positiven
Cäsiumfluorid (CsF) den Extremfall größtmög- Ladungen der angrenzenden Atomkerne weiter
licher Differenz der Elektronegativitäten. geschwächt, und die Elektronen bewegen sich
4-35 schließlich praktisch frei zwischen den Atomen,
Atom- und Ionengrößen. Die Atome und Ionen der Elemente des Periodensystems be- sie bilden ein sogenanntes Elektronengas.
sitzen sehr unterschiedliche Größen. Generell sind Anionen desselben Elements größer,
Kationen kleiner als das Atom selbst. Die Atomgrößen nehmen mit der Anzahl der Scha- Die Gleichsetzung dieser freien Elektronen
len stark zu. Beim Wasserstoff-Kation verbleibt keine Elektronenhülle, es ist ein Proton. mit einem Gas ist natürlich eine stark verein-
146
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Gekoppelte Schwingungen
MEDIDIIIA
MEDIA
EED
MED D A
Elektronen. Das Quadrat der Frequenz ist pro-
CMMULT
MUL
U
MU TIME
LTI
ULTI
MULTI
LLT M
portional zur Energie.
2012
20
©2 01
201
0 12
1 ELSCH
ELS
LLS
2 WEEL CH
SSC
LSC C AR
H & PA
PA R CIENTIF
R SSC
RTNEER
PARTN
ARTN
PART
PAR C IENTIF
CIENT
IE NT
EN
IIENN TI
NTI
T IFFIIC
TIF
EENTIF
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
4-36 4-37
Gekoppelte Schwingungen. Mit zunehmender Zahl Elektronengas. Die äu-
der Schwingungselemente n nimmt auch die Zahl der ßeren Elektronen können
Schwingungsfrequenzen zu, und damit auch die Zahl sich in einem Metall
der Energieniveaus, da diese vom Quadrat der Fre- relativ frei zwischen den
quenz abhängen. positiven Atomrümpfen
bewegen.
fachte Modellvorstellung. Auf ihrer Basis for- r nur niedrig genug sind. Je nachdem, wie weit die
mulierte aber der deutsche Physiker PAUL DRUDE Atome im Gitter voneinander entfernt sind und
(1863 – 1906) im Jahr 1900 noch vor der Ent- wie groß die Energiedifferenzen zwischen den
wicklung der Quantenmechanik eine Elektronen- Niveaus der Einzelatome sind, bleiben die Bänder
theorie der Metalle, die wichtige Eigenschaften der einzelnen Atome getrennt oder überlagern
wie ihre elektrische Leitfähigkeit gut beschrieb, sich. Im zweiten Fall können sich die Elektronen
insbesondere für Alkalimetalle, bei denen die praktisch ungehindert von Atom zu Atom im
äußeren Elektronen besonders „locker“ sitzen. Gitter bewegen. Da sich die Wellenfunktionen
der äußeren Elektronen stärker überlagern als
Das Bändermodell die der inneren, sind in den sogenannten Va-
lenzbändern meist nur die äußeren Elektronen
Viele physikalische Effekte kristalliner Festkör- beteiligt (ÅAbbildung 4-38). Metallbindungen
per lassen sich nur mit Hilfe quantenmechani- sind wie Ionenbindungen nicht räumlich gerich-
scher Modelle verstehen. Durch die periodische tet, sondern sie wirken gleichermaßen in alle
Struktur erhält man als Lösung der Schrödinger- Richtungen. Anisotropien entstehen höchstens
Gleichung statt weniger diskreter Energieniveaus durch die Gitterebenen. 4-38
der Elektronen (Schalen) sehr viele extrem dicht Energiebänder. Durch die
beieinander liegende Niveaus, die als Bänder Überlagerung der Wellen-
funktionen der Elektronen
bezeichnet werden. Dies ist eine Folge der Über-
im Metallgitter entstehen
lagerung der Wellenfunktionen der einzelnen aus den Einzelniveaus
Elektronen (ÅAbbildung 4-36). der Elektronenorbitale
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
147
KAPITEL 4 Demokrits Erben
Coulombanziehung und
Abstoßung. Die Kombi- Das Prinzip, nach dem Elektronen zwischen
nation von abstoßendem positiv geladenen Atomrümpfen wie eine Art
und anziehendem Poten- „Kitt“ wirken, kennen wir bereits in ähnlicher
zial führt zu einem ener-
getischen Optimum U0 Form von der Metallbindung. Ein wesentli-
beim Bindungsabstand r0. cher Unterschied zur Metallbindung ist aber,
dass bei Atombindungen in aller Regel nur
zwei Atomrümpfe beteiligt sind, und dass sich
die Elektronen deshalb nicht weit vom Ort
der Bindung zwischen den beteiligten Atomen
entfernen können. Im Modell der Orbitale ge-
sprochen: Nur die Orbitale der gebundenen
Atome überlappen sich und führen zu erhöh-
ter Ladungsdichte zwischen den Atomen. Die
lokale Bindung der Elektronen ist die Ursache
für die mangelnde Leitfähigkeit von Substanzen
Im Wasserstoffmolekül ziehen sich die positiven mit Atombindungen.
Kerne und die negativen Elektronen natürlich
an. In der Summe führt dies zu einem Energie- σ-Bindungen
gewinn, wenn sich beide Atome näherkommen.
Andererseits stoßen sich die beiden Kerne aber Das Orbitalmodell führt auch noch zu einer
ab, ebenso wie die beiden Elektronen unterei- weiteren Charakterisierung solcher Bindungen.
nander. Abstoßend wirkt vor allem das Pauli- Betrachten wir die Schalen, aus denen die bin-
Prinzip, wenn sich die Orbitale der beiden Elek- denden Elektronen stammen. Bei der betrachte-
tronen zu nahe kommen. Ab einem bestimmten ten Bindung im H2-Molekül ebenso wie bei den
Abstand überschreitet daher der Energiebedarf Bindungen zwischen Wasserstoff und Kohlen-
für eine weitere Annäherung den Energiegewinn stoff oder zwischen Kohlenstoffatomen gehören
durch die elektrostatische Anziehung. Dieser Ab- die Elektronen zu s-Orbitalen mit kugelsymme-
stand stellt somit das energetische Optimum dar trischer Ladungsverteilung. Schon rein intuitiv
und entspricht folglich dem Bindungsabstand wird klar, dass bei Überlagerung zweier solcher
im Molekül. Orbitale die Elektronendichte auf der Kernver-
bindungslinie erhöht ist. Man bezeichnet diesen
weit verbreiteten Typ von Bindungen zwischen
s-Elektronen als σ-Bindungen (der griechischen
Buchstabe sigma steht für „s“ und soll an den
Orbitaltyp erinnern).
4-40
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
Wasserstoff-Molekülion.
Obwohl die Aufenthalts- π-Bindungen
wahrscheinlichkeit des
Elektrons pro Volumen-
einheit an den Kernen am Etwas komplizierter wird es, wenn an den
größten ist, erreicht sie Bindungen Elektronen beteiligt sind, die zu
auch dazwischen beträcht- p-Orbitalen gehören. Wir haben schon frü-
liche Werte.
her gesehen, dass die Aufenthaltsbereiche von
148
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Die Elektronen, welche die Atombindungen gung schon bei Raumtemperatur ausreicht, eine
vermitteln, sind nicht in jedem Fall gleichmäßig dieser Bindungen ohne weiteres zu trennen.
zwischen den Bindungspartnern verteilt. Man- Bestehen mehrere Wasserstoffbrücken zwischen
che Atome ziehen Elektronen stärker zu sich 2 Molekülen, ist die Bindung zwar stabiler,
heran als andere. Man sagt, sie besitzen eine hö- aber minimale Einflüsse anderer Moleküle in
here Elektronegativität. Dadurch bilden sich in der Nähe, der Temperatur oder der Salzkon-
4-44
den meisten Molekülen Bereiche, die dauerhaft zentration einer Lösung reichen dennoch aus,
DNA. Wasserstoffbrücken
eine negative oder positive Teilladung besitzen. Bindungen entweder zu bilden oder zu lösen. zwischen den Nucleo-
Tatsächlich findet man reine Atombindungen Diese sensible Spielwiese zwischen ungebun- basen (Sprossen der Lei-
nur zwischen Atomen desselben Elements mit denem und gebundenem Zustand ist das typi- ter)halten die Stränge der
DNA zusammen. Wäh-
genau gleicher Elektronegativität. Sehr häu- sche Terrain aller Lebensprozesse, von denen in rend der Replikation wer-
fig kommen in Molekülen Übergangsformen ÅࡳKapitel 12 noch die Rede sein wird. den sie lokal aufgetrennt.
149
KAPITEL 4 Demokrits Erben
4-46
Van-der-Waals-Wechselwirkung. Das Gas Argon wird
bei Abkühlung auf ca. –186 °C (87,29 K) flüssig und bei
bei –189 °C (83,78 K) sogar fest. Dieser Phasenübergang
basiert auf der schwachen, auch zwischen neutralen Ato-
men herrschenden Van-der-Waals-Wechselwirkung.
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
150
Erde, Wasser, Luft und Feuer
tauschen, verfügen über sehr starke elektrische lich kann man die mittlere Zahl der Schritte,
Anziehungskräfte (ionische Bindungen), sind nach denen man auf einen Menschen trifft, als
also fest. Warum genau ein Stoff bei gegebenen Maß für die Ordnung einer Menschenmenge
Temperatur- und Druckbedingungen einen be- nehmen. Dieses Prinzip wird angewandt, um
stimmten Aggregatzustand einnimmt, werden die Ordnung von Materie zu beschreiben. Die
wir später sehen (Å Aggregatzustand), hier geht sogenannte Paarverteilungsfunktion gibt an, mit
es zunächst darum, die verschiedenen Formen, welcher Wahrscheinlichkeit sich in einem gewis-
in denen Stoffe vorliegen können, kennen zu sen Abstand r von einem Teilchen ein anderes
lernen. Ein wichtiges Klassifikationsmerkmal ist befindet (Å Abbildung 4-47). Bei Festkörpern
dabei die innere Ordnung g eines Stoffes. mit kristalliner Struktur hat diese Funktion in
regelmäßigen Abständen Spitzen, auch über
4-47
Paarverteilungsfunktion. Die Paarverteilungsfunktion g(r) r
gibt die Wahrscheinlichkeit an, im Abstand r ein Teilchen
zu treffen. Sie ist so normiert, dass sie in einem Gas für
großes r den Wert 1 hat. Da bei Gasen kaum Kräfte
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
151
KAPITEL 4 Demokrits Erben
dann mit 1/r2 ab. Die Paarverteilungsfunktion Auch die Natur der Bindungen zwischen den
von Wasser hat aufgrund der Bildung von Was- Teilchen spielt eine große Rolle. Metall- und
serstoffbrücken zwischen den Molekülen eine Ionenbindungen sind isotrop, also richtungsun-
ausgeprägte Nahordnung. Mit zunehmender abhängig, weshalb die Teilchen relativ frei in
Temperatur wird diese allerdings zerstört, die ihrer gegenseitigen Orientierung sind. Atombin-
Maxima der Funktion werden also flacher und dungen sind oft räumlich in einer Ebene oder
breiter, und entferntere Maxima verschwinden. entlang einer Linie orientiert, was Moleküle
„sperriger“ macht und damit das Erreichen einer
Eine andere Klassifikation von Materie optimalen Konfiguration erschwert. Gerade die
Makromoleküle von Kunststoffen sind auf diese
Die räumliche Ordnung der Materie ist nicht Weise kaum vollständig zu kristallisieren.
unbedingt an Aggregatzustände gebunden. So
haben nicht nur Flüssigkeiten, sondern auch feste
Stoffe wie Gläser oder die meisten Kunststoffe
nur eine Nahordnung, man nennt sie deshalb
amorph. Metalle, viele Keramiken und auch ei-
nige Kunststoffe haben hingegen eine Kristall-
struktur: Eine räumliche Anordnung von einigen
Teilchen wiederholt sich in alle Raumrichtungen,
Netzwerke bilden.
Die Unterscheidung zwischen Nah- und
Fernordnung ist eine Form der Kategorisierung,
die uns bei der Erklärung von Materialeigen-
schaften weiterhilft. Viele Materialeigenschaften
sind nämlich weniger eine Folge des Aggregat-
zustands als des Ordnungsgrads der Materie.
4-49
Klassifikation nach der Ordnung. Man kann Materialien
auch nach dem Grad ihrer inneren räumlichen Ordnung
klassifizieren und bekommt eine etwas andere Einteilung
als nach dem Aggregatzustand. Danach sind Gläser und
viele Kunststoffe eher mit den Flüssigkeiten verwandt als
mit kristallinen Feststoffen.
152
Erde, Wasser, Luft und Feuer
153
KAPITEL 4 Demokrits Erben
lung. Ebenso können sie sich aus Lösungen bil- tisch, wie er vielleicht anmutet. Ohne ihn gäbe es
den, wenn die unter den gegebenen Bedingungen keine Reifbildung, und gefrorene Wäsche würde
maximal im Lösemittel lösliche Substanzmenge im Winter nicht trocknen.
überschritten wird. Dies kann etwa dadurch ge- Werden die thermodynamischen Bedingungen
schehen, dass ein Teil des Lösemittels verduns- für die Bildung eines Kristalls zum Beispiel durch
tet, dass sich die chemische Zusammensetzung Abkühlen einer Schmelze erreicht, so muss sich
ändert oder dass die Temperatur absinkt. noch nicht zwangsläufig ein Kristall abscheiden.
Eine Grundregel lautet: Je langsamer sich Hierzu muss zunächst ein Keim vorhanden sein,
Kristalle bilden, desto regelmäßiger werden sie. eine Mindestansammlung von Teilchen, von der
Im Extremfall entstehen durch sehr schnelles das Wachstum durch Anlagerung weiterer Teil-
Abschrecken sogar überhaupt keine Kristalle, chen ausgeht. Ist der Erstarrungspunkt unter-
sondern nur amorphe Festkörper (Gläser). schritten, ohne dass ein Kristallkeim vorhanden
Auch aus der Gasphase können sich direkt wäre, so spricht man von einer unterkühlten
Kristalle abscheiden. Den Vorgang nennt man Lösung oder Schmelze. Bei immer stärkerer Un-
Resublimation (Sublimation ist entsprechend der terkühlung reichen schließlich immer kleinere
direkte Übergang von der festen in die gasför- Agglomerationen von Teilchen aus, damit der
mige Phase). Wer schon einmal einen aktiven Kristall wächst und sich nicht umgekehrt wieder
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
Vulkan besucht hat, kennt das vielleicht offen- auflöst. Schließlich können sogar schon winzige
sichtlichste Beispiel: Schwefelhaltige vulkanische Unebenheiten der Oberfläche des Behälters zu
Gase scheiden an kühleren Stellen wunderschöne ersten Kristallisationspunkten werden.
gelbe Schwefelkristalle ab. Der direkte Übergang
zwischen Feststoff und Gasphase ist nicht so exo- Gitter und Elementarzellen
4-54
Kristalle durch Resublimation. Schwefelhaltige vulkanische Gase (hier am Ätna und den
Phlegräischen Feldern bei Neapel) scheiden sehr reine Schwefelkristalle ab. Sublima- Kristalle werden oft anhand der vorherrschen-
tions-/Resublimationszyklen werden auch technisch zur Reinigung chemischer Substan- den Bindungsart als Ionenkristalle oder als Mo-
zen eingesetzt. lekülkristalle bezeichnet. Sie bauen sich aus einer
kleinsten Wiederholeinheit dieser Teilchen (Atome,
Kristallsysteme und die 14 Bravais-Gitter Ionen und/oder Moleküle) auf, die man sich in
allen Raumrichtungen quasi „unendlich“ oft anei-
nandergesetzt vorstellen kann. Dabei bilden die für
Kubisches System
die Teilchen möglichen Positionen (Gitterpunkte)
Alle Achsen im Achsenkreuz sind gleich lang und schneiden sich im rechten Winkel
(a = b = c; α = β = γ ). Typische Kristallformen sind Hexaeder, Oktaeder, wie sie z. B. die ein in alle Richtungen ausgedehntes regelmäßiges
Minerale Granat Pyrit, und Halit (Steinsalz) ausbilden. Gitter. Seine Symmetrie ist entscheidend für die
154
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Monoklin Monoklin
primitiv basiszentriert
Triklines System
Alle drei Achsen im Achsenkreuz sind verschieden lang und die
4-56
Winkel dazwischen unterschiedlich, aber nicht 90º (a ≠ b ≠ c;
Tracht. Nach dem Gesetz der Winkelkonstanz sind die
α ≠ β ≠ γ ); Typische Kristallformen sind pinakoidale Prismen
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
155
KAPITEL 4 Demokrits Erben
ausreichend Zeit zur Verfügung stehen, so dass nur eine sechseckige (hexagonale) Anordnung
sich jedes Teilchen seinen energetisch günstigsten eine optimale Packungsdichte erlaubt. Doch wie
Platz auf dem wachsenden Kristall aussuchen sieht es im dreidimensionalen Raum aus?
kann, und wenn auch keine Verunreinigungen
die Ausbildung eines idealen Kristalls behindern? Kugelpackungen
Von außen betrachtet gleichen manche Kris-
talle einfachen Würfeln. Andere wiederum bil- Die Lösung der Aufgabe, eine möglichst enge
den Platten, Nadeln, Sechsecksäulen oder noch Packung gleicher Kugeln zu erhalten, erinnert
kompliziertere Formen. Um der Vielfalt Herr zu sehr an die Art, wie in alten Burgen Kanonenku-
werden, unterscheidet man die äußere Kristall- geln gelagert wurden oder Gemüsehändler Obst
form phänomenologisch nach ihrem Habitus. Er aufstapeln. Auf gleich große Kugeln beschränken
wird ganz analog zur sonstigen Wortbedeutung wir uns zunächst, da sich damit die für die Praxis
bei Menschen verwendet, wo sie bezeichnet, ob wichtige Situation bei elementaren Metallen gut
ein Mensch eher gedrungen oder eher hoch- beschreiben lässt. Sorgfältig gestapelte Orangen
gewachsen ist (Å Abbildung 4-55, Seite 154). könnte man ohne Weiteres als Orangenkristall
Kristalle desselben Habitus ähneln sich auf den bezeichnen (Sie sollten aber nicht versuchen, sie
ersten Blick, obwohl ihr genauer Bau sehr wohl unter dieser Bezeichnung zu kaufen).
wichtige Unterschiede aufweisen kann. Umge-
kehrt können Kristalle aus demselben Material
abhängig von ihrer Entstehungsgeschichte durch- B A
156
Erde, Wasser, Luft und Feuer
das Anion einfach negativ, so muss die Koordi- mehreren Varianten vor, so bezeichnet man diese
nationszahl der Kationen doppelt so groß sein Erscheinung allgemein als Polymorphie (griech.
wie die der Anionen: Jedes Kation benötigt im „Vielgestaltigkeit“). Die einzelnen Varianten
Mittel doppelt so viele Anionen als Nachbarn werden dann Modifikationen genannt. Das Auf-
wie umgekehrt. treten unterschiedlicher Modifikationen bei che-
4-62 mischen Reinelementen nennt man Allotropie.
Kristalle aus Viren. Das
Tabakmosaikvirus (TMV) Teilchengröße in Elementarzellen Polymorphie bei Verbindungen bzw. allotrope
gehört zu den ersten un- Modifikationen eines Elements können zu Un-
tersuchten Viren. Sie befal- Neben der Ladung spielt bei Kristallen aus terschieden in nahezu allen Materialeigenschaf-
len Tabakpflanzen und lö-
sen die Tabakmosaikkrank- verschiedenen Teilchen natürlich auch deren ten führen, etwa Lichtbrechung, Farbe, Dichte,
heit aus. Die etwa 300 nm unterschiedliche Größe eine Rolle. So sind An- Härte, Schmelzpunkt, chemische Reaktivität,
langen Partikel bestehen ionen aufgrund der zusätzlichen Elektronen Leitfähigkeit. Wir haben bereits zu Beginn dieses
aus 2130 identischen Pro-
teinen, die sich regelmäßig meist größer als Kationen. Oft sind daher in Kapitels einige typische Beispiele kennengelernt.
um die Erbsubstanz (RNA) Ionenkristallen die Anionen an den Gitterpunk- So allen voran die Polymorphie zwischen Graphit
anordnen. Auch ganze ten eines Gitters angeordnet, während die Kat- (C, Dichte 2,1 – 2,3 g / cm3; Mohs-Härte 1) und
Virenröhrchen lagern sich
regelmäßig aneinander
ionen ein in dieses Gitter eingepasstes, zweites Diamant (C, Dichte 3,5 g / cm3; Mohs-Härte 10).
und bilden kristalline Gitter bilden. Aus Sicht der Anionen sitzen sie Bei Phosphor haben wir die weiße, rote und
Strukturen. Unter dem auf Zwischengitterplätzen. So bildet einerseits schwarze Modifikation erwähnt, bei Schwefel
Elektronenmikroskop kann
Natriumchlorid (Kochsalz, NaCl) ein flächen- und auch bei Zinn finden wir Modifikationen.
man sie nach Anfärbung
mit Schwermetallsalzen zentriertes kubisches Gitter, auf dem sich jeweils Polymorphie kommt offensichtlich am häufigs-
sichtbar machen. Chlorid- und Natriumionen abwechseln, wäh- ten bei Feststoffen vor, was nicht überraschen
rend beim Zinksulfid (Zinkblende, ZnS) trotz muss, sind doch hier die Anordnungen der Teil-
gleicher Ladungsverhältnisse die Zinkionen ku- chen offensichtlich stabil. Viele Elemente zeigen
bisch flächenzentriert angeordnet sind und die polymorphe Modifikationen in Abhängigkeit
Sulfidionen ein kubisches Gitter auf Zwischen- von thermodynamischen Verhältnissen (α-Eisen,
gitterplätzen bilden (ÅAbbildung 4-64). Das γγ-Eisen mit unterschiedlichen Gitterstrukturen,
Ionenradienverhältnis von Natrium- zu Chlor- Å Abbildung 4-82). Aber auch von gasförmigen
Ionen beträgt 0,536, während das zwischen Substanzen sind Modifikationen bekannt, so sind
Zink und Schwefel 0,402 beträgt. Auch kleinere die molekularen Gase Sauerstoff (O2) und Ozon
Moleküle, insbesondere die sehr kleinen Was- (O3) beides Modifikationen des Elements Sau-
sermoleküle, können in Kristallen Koordinati- erstoff. Diese Molekülmodifikationen können
onsplätze einnehmen. Man bezeichnet es dann bei Abkühlung selbst wieder in verschiedenen
als Kristallwasser, die entstehenden Stoffe als Gittern kristallisieren und so weitere Modifika-
Hydrate. Meist ist Kristallwasser nur locker tionen bilden.
4-63 gebunden, und ein solcher Kristall zerfällt bei Durch das Auffinden immer neuer metasta-
Kupfer(II)-sulfat. Blaue mäßiger Erhitzung. Beispielsweise verlieren die biler bzw. nur unter Extrembedingungen stabiler
Pentahydrat-Kristalle ge-
hen bei Erhitzen in farblo- wunderschön blauen Kristalle des Kupfersul- Modifikationen sowie durch die Beschäftigung
ses Anhydrit-Kupfersulfat fat-Pentahydrats (CuSO4 · 5 H2O) ab ca. 88 °C mit nanostrukturierten Metamaterialien kommen
über. sukzessive ihr Kristallwasser und gehen in das immer mehr exotische Stoffe zutage und sprengen
ungefärbte Anhydrit über. die Grenzen klassischer Modifikationen.
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
4-64
Ionengitter. Abhängig von
den Radienverhältnissen
der beteiligten Ionen neh-
men Ionenkristalle unter-
schiedliche Strukturen an.
158
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Polymere – Zufall, dass die belebte Welt eine Welt der Koh-
alte Werkstoffe der Menschheit lenstoffpolymere ist, der organischen Polymere.
Polymere werden in späteren Kapiteln einen
Kristalle bestehen aus regelmäßigen Wieder- breiten Raum einnehmen. An dieser Stelle wer-
holungen einer Elementarzelle, die meist nur den wir uns nur über grundlegende Strukturen
wenige Atome umfasst. Auch die sogenannten und Eigenschaften auslassen. Das einfachste or-
Polymere (griech poly, viel, und méros, Teil) ganische Polymer ist gleichzeitig das häufigste in
sind aufgebaut aus elementaren molekularen der Welt der Kunststoffe, das Polyethylen:
Einheiten, den Monomeren. Was sie von den
bisher betrachteten Kristallen unterscheidet,
sind die vorherrschenden kovalenten Bindun-
gen. Da diese im Gegensatz zu ionischen Bin-
dungen starr sind und eine feste räumliche An-
ordnung der Partner bedingen, sind Polymere
„sperriger“. Sie können sich nicht in beliebiger Polyethylen selbst ist bereits sehr robust und
Form im Raum gruppieren: Es ist wesentlich widerstandsfähig. Die Widerstandsfähigkeit ge-
schwerer, Äste kompakt zu stapeln als Orangen. gen chemische Angriffe kann man jedoch noch
Polymere bilden meist Ketten, die Seitenketten enorm steigern, in dem man die Wasserstoff-
tragen können und teilweise miteinander ver- atome durch Fluoratome ersetzt. Man gelangt
netzt sind (Å Abbildung 4-65). so zum Polytetrafluorethylen, besser bekannt
Viele Moleküle können als Monomere dienen, unter dem Handelsnamen Teflon™:
weshalb auch die Zahl unterschiedlicher Poly-
mere sehr groß ist. Demgegenüber wirkt das
Reich der Kristalle und Mineralien geradezu
eintönig. So bestehen alle Lebewesen aus Poly-
meren, nämlich aus Proteinen, Lipiden, Nukle-
insäuren und Polysacchariden. Auch einer der Etwas üppiger fallen die Seitenketten beim Poly-
ältesten Werkstoffe der Menschheit, das Holz, styrol (zum Beispiel Styropor™) aus, dessen
hat seine Werkstoffeigenschaften vor allem den Monomer ein Sechseck aus C-Atomen (die man
Polymeren Cellulose und Lignin zu verdanken. nicht einzeln darstellt) enthält, dem sogenannten
Und natürlich sind Polymere als Kunststoffe aus Benzolring:
unserer heutigen Welt nicht mehr wegzudenken
(ÅAus dem Leben der Beuteltiere, Seite 291).
159
KAPITEL 4 Demokrits Erben
Klassifikation von Polymeren Haken und Ösen für feste Stoffe und runde für
Flüssigkeiten, aber auch bereits modern anmu-
Die Vielfalt der Polymere macht eine Klassifika- tende Vorstellungen von Kräften verschiedener
tion schwierig. Meist wird zwischen den in Le- Reichweite, welche die Bildung von immer grö-
bewesen vorkommenden Biopolymeren und den ßeren Zusammenballungen von Atomen erklä-
synthetischen Polymeren unterschieden. Eine ren sollten (ÅVon Minima Naturalia zu Atomen,
Zwischenstellung nehmen die chemisch modifi- Seite 64). Diese frühen „Kraft“modelle wiesen
zierten Biopolymere wie Celluloid oder Kunst- bereits eine gewisse Ähnlichkeit mit modernen,
seide ein. Synthetische Polymere, also Kunst- quantenphysikalisch begründeten Modellen auf.
stoffe im eigentlichen Sinn, werden meist auf- Ihr Nachteil war, dass über die Natur und Stärke
grund ihrer Materialeigenschaften klassifiziert. dieser Kräfte Ad-hoc–Annahmen getroffen wer-
Die Sperrigkeit der Moleküle und der Grad ihrer den mussten, da sie weder experimentell noch
Vernetzung sind hier bestimmend. Diese Sper- theoretisch bestimmt werden konnten. Dies ist
rigkeit wird vor allem bestimmt durch Größe dank der Quantentheorie heute anders. Und
und Anordnung der Seitenketten und die Art dennoch ist es keineswegs so, dass die Eigen-
der Bindungen der Kettenglieder. π-Bindungen schaften der Stoffe sich dadurch wie von selbst
können im Gegensatz zu σ-Bindungen nicht ergeben. Mit Ausnahme von Gasen bestehen
entlang der Bindungsachse rotieren, was die Ket- Stoffe aus mehr oder weniger festen Zusammen-
ten starrer macht (ÅAtombindung, Seite 148). ballungen vieler Atome, und ihre Eigenschaften
Große Seitenketten machen die Moleküle eben- sind nicht nur eine Funktion der Atome selbst,
falls unbeweglicher, insbesondere erschweren sie sondern auch davon, wie diese sich organisieren.
das Gleiten der Ketten aneinander. Wir haben eine wichtige Klasse solcher Stoffe
Thermoplaste sind Polymere, die durch Er- bereits kennengelernt: die Kristalle. Ihre Homo-
wärmung ähnlich wie Glas formbar, unterhalb genität bietet relativ einfache Ansätze, um ihre
der sogenannten Glasübergangstemperatur aber Eigenschaften theoretisch zu beschreiben. Für
fest sind. Sie bestehen aus unvernetzten, flexib- nicht-kristalline Stoffe wie Flüssigkeiten müssen
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
len Ketten. Zu den Thermoplasten gehören das andere Methoden gefunden werden. Wir werden
Polyethylen und das Plexiglas. Elastomere wie in diesem Abschnitt die wichtigsten Stoffeigen-
Gummi bestehen aus verknäulten Molekülen, schaften aus der Organisation ihrer Teilchen und
die sich durch Zug reversibel dehnen können. deren Eigenschaften qualitativ begründen. Eine
Sie sind deshalb elastisch. Duroplaste sind stark quantitative Ableitung ist meistens äußerst kom-
vernetzte, lineare oder verzweigte Molekülket- plex und vor allem bei Stoffen mit komplexer
ten. Sie sind daher hart und kaum elastisch. Im Struktur nur mit Hilfe von Computern möglich.
4-66
Gegensatz zu den Thermoplasten werden sie
Polymere. Polymere aus durch Erhitzen nicht weich, sondern zersetzen Das Ganze ist mehr als seine Teile: Emergenz
unverzweigten Ketten (a) sich. Polyurethan-Hartschaum als Dichtmasse
sind weicher, da die Ket-
ist ein häufig verwendetes Duroplast. Die spontane Entstehung neuer Eigenschaften,
ten leichter gegeneinander
bewegt werden können. wenn sich Elemente zu einem Ganzen vereinigen,
Verzweigungen (b) kön- Eigenschaften der Stoffe wird als Emergenz (lat. emergere, auftauchen,
nen die Festigkeit erhö- hervorkommen, sich zeigen) bezeichnet. Es gibt
hen, da sie die Beweglich-
keit behindern. Vernetzte Das Ganze aus den Teilen viele Beispiele für Emergenz in unserer Welt,
Polymere (c, d) sind fester, von der Biologie und Medizin über die Chemie
aber auch spröder. Bereits die Atomisten der Antike sahen, dass und Physik bis in die Mathematik. Ein Beispiel
die Annahme kleinster Teilchen nicht erklärt, aus der Physik ist der Druck eines Gases in
warum es Stoffe mit unterschiedlichen Eigen- einem Gefäß. Er ist eine emergente Eigenschaft
schaften gibt. Warum ist Metall elastisch und des Gases, nicht die Eigenschaft eines Gasmo-
Stein brüchig? Warum sind beide hart und Was- leküls. Der Druck entsteht dadurch, dass zu
ser flüssig? Und warum ist Quecksilber flüssig, jedem Zeitpunkt sehr viele Moleküle gegen die
obwohl es ein Metall ist? Wie wir in ÅKapitel Gefäßwände stoßen, was dazu führt, dass diese
3 bereits gesehen haben, entstanden im Lauf nach außen „gedrückt“ werden. Druck ist ein
der Zeit unterschiedliche Modelle, um die Ei- Beispiel dafür, wie emergente Eigenschaften
genschaften der Stoffe zu erklären: Atome mit sich anschaulich aus dem kollektiven Verhal-
160
Erde, Wasser, Luft und Feuer
ten der elementaren Bausteine erklären lassen. kennen die meisten dieser Größen aus dem Alltag
Ein einzelnes Gasmolekül versetzt dem Gefäß und denken im Allgemeinen nicht darüber nach,
einen Stoß, ein gleichmäßiger Druck entsteht worin ihre Verlässlichkeit besteht. Vom Druck ei-
erst durch die kollektiven Stöße vieler Moleküle. nes Gases haben wir bereits gesprochen, weitere
Werden wir von einem Menschen angerempelt, Größen dieser Art sind die Temperatur, das Vo-
sprechen wir von einem Stoß, im Falle einer lumen, die Masse und die Energie eines Systems,
Menschenmenge, die sich uns entgegenstellt, um nur die wichtigsten zu nennen. Der Physiker
sprechen wir von Druck. nennt sie Zustandsgrößen, und sie ändern ihren
Andere emergente Eigenschaften sind weni- Wert nicht, wenn das System sich im Gleichge-
ger offensichtlich. Woher bekommt eine Schnee- wicht mit seiner Umgebung befindet. Auch ist
flocke ihre filigrane Struktur? Wie entsteht aus ihr Wert nur vom aktuellen Zustand des Systems
dem Zusammenspiel vieler Moleküle eine sich abhängig, nicht von seiner Vorgeschichte. Egal,
selbst vermehrende, autonome Bakterienzelle? ob ein Körper zuvor heiß oder eisgekühlt war,
Und wie entsteht Bewusstsein aus dem kollekti- wird er in ein zwanzig Grad Celsius warmes
ven Zusammenspiel der Neuronen unseres Ge- Zimmer gebracht, beträgt seine Temperatur am
hirns? Muss hier womöglich noch etwas anderes, Ende immer zwanzig Grad.
161
KAPITEL 4 Demokrits Erben
Wenn wir einem Körper Energie zuführen, wird spontan zu Membranen, da diese Anordnung
er „heiß“: die zugeführte Energie wird in Bewe- entropisch günstiger ist.
gungsenergie der Atome umgesetzt. Der spontane Ablauf eines Prozesses ist mit-
hin nichts anderes als die Bewegung des Sys-
tems von einem weniger wahrscheinlichen in
einen wahrscheinlicheren Zustand. Entropie und
Energie sind miteinander verknüpft. Die Energie
eines Systems liegt teils als Bindungsenergie und
teils als Bewegungsenergie seiner Teilchen vor.
Die Zufuhr von Wärme führt in der Regel zu
einem Anstieg der ungeordneten Bewegungen
der Atome, also zu einer Zunahme der Entropie.
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
162
Erde, Wasser, Luft und Feuer
teilt. Wenig später stellte man fest, dass es ver- lenstoffatome auch zwölfmal schwerer sein als
schiedene Isotope des Sauerstoffs gibt. Während tausend Wasserstoffatome. In 12 g Kohlenstoff
Chemiker die natürlich vorkommende Isotopen- sollten daher ebenso viele Atome enthalten sein
mischung des Sauerstoffs als Basis des relativen wie in 1 g Wasserstoff. Um Stoffmengen auf
Atomgewichts verwendeten, nutzten Physiker diese Weise zu vergleichen, wurde die Einheit
dafür das reine Isotop 16O, was dazu führte, dass Moll eingeführt.
zwei unterschiedliche Maßeinheiten parallel be-
nutzt wurden. Um diesen Missstand zu beheben, Ein Mol eines Stoffes enthält ebenso viele Atome Die atomare Massenein-
heit u ist ein Zwölftel des
wurde schließlich 1961 ein internationaler Stan- (oder Moleküle) wie genau zwölf Gramm Koh- Gewichts eines Kohlen-
dard auf Basis des reinen Kohlenstoffisotops 12C lenstoff (12C). stoffatoms des Isotops
12C.
eingeführt. Eine atomare Masseeinheit (atomic
mass unit) u ist seither definiert als ein Zwölftel Da in chemischen Reaktionen das Verhältnis
des Gewichts eines neutralen, nicht angeregten der Teilchenzahlen der Reaktionspartner kons-
Kohlenstoffatoms, das sechs Protonen und sechs tant ist, lassen sich mit Hilfe dieser Einheit die
Neutronen enthält: Mengenverhältnisse einer chemischen Reaktion
unabhängig von der Masse der Reaktionspartner
1 u = 1,660 538 782 (83) · 10 –24 g darstellen:
163
KAPITEL 4 Demokrits Erben
Anzahl von Teilchen pro Volumen von Gasen ist serverstärkten Kunststoffen hinsichtlich ihrer
bei gegebenen Werten von Druck und Tempe- elastischen Verformbarkeit. Metalle und Me-
ratur also immer gleich. Dies liegt daran, dass talllegierungen zeigen aufgrund ihres Metall-
in Gasen alle Teilchen weit voneinander ent- gitters eine anisotrope plastische und elastische
fernt sind, ihre Größe spielt also für die Dichte Verformbarkeit. Die magnetische Anisotropie
kaum eine Rolle. Erst bei hohem Druck weichen beschreibt die vorzugsweise Magnetisierungs-
Gase von diesem Verhalten deutlich ab. Bei richtung von ferromagnetischen Körpern. So hat
Flüssigkeiten und Festkörpern enthält ein Mol Eisen drei leichte Magnetisierungsrichtungen
zwar immer noch NA Teilchen, das Volumen entlang der Würfelkanten und vier schwere ent-
ist allerdings abhängig von den herrschenden lang der Raumdiagonalen. Die Erforschung der
Bindungskräften zwischen den Teilchen und magnetischen Anisotropie gewinnt eine wach-
von der Packungsdichte (ÅࡳAggregatzustand). sende Bedeutung für die Entwicklung neuer
Festplatten.
Nicht von allen Seiten gleich – Anisotropie
164
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Offenbar kann man Aggregatzustände kategori- Kristalline Festkörper sind meistens anisotrop,
sieren nach der Beweglichkeit der Teilchen und da die räumliche Anordnung der Teilchen nicht
nach der Bindungsenergie. Bewegungsenergie ist in allen Richtungen gleich ist, ihre Fernordnung
immer dann vorhanden, wenn Teilchen um eine ist richtungsabhängig. Ausbreitungsvorgänge
Achse rotieren, hin- und herschwingen oder sich in diesen Körpern sind daher meist ebenfalls
wie Billardkugeln frei bewegen. Ob bei einer richtungsabhängig, was sich unter anderem als
gegebenen Temperatur ein Stoff fest, flüssig oder optische Doppelbrechung bemerkbar machen Absolute Temperatur T
gasförmig ist, hängt vom Verhältnis zwischen kann (ÅAbbildung 4-69). Flüssigkeiten und Wärmeenergie W~T
Bewegungs- und Bindungsenergie ab. In Fest- Gase sind in der Regel isotrop, da sie ledig-
körpern sind die Teilchen durch die starken Bin- lich über eine Nahordnung verfügen. Es gibt Bindungsenergie E
dungskräfte ortsfest, das heißt, die Bewegungs- bei Flüssigkeiten allerdings auch Ausnahmen, fest W < E
energie kann nur in Schwingungsbewegungen die sogenannten Mesophasen, deren wichtigste flüssig W E
umgesetzt werden. Wird diese Energie größer als Vertreter die Flüssigkristalle sind, die wir alle gasförmig W >> E
die Bindungsenergie, so schmilzt der Körper. In von LCD-Bildschirmen (LCD = Liquid Crystal
Flüssigkeiten sind die Teilchen nicht ortsfest, al- Display) kennen. Sie verfügen in ein oder zwei
lerdings werden sie von den Bindungskräften in Raumrichtungen über eine Fernordnung, d. h.
ihrer Beweglichkeit gebremst wie ein einzelner sie sind wie Kristalle orientiert, während sie
Mensch in einer Menschenmenge. Bei Flüssig- in den verbleibenden Richtungen Flüssigkeiten
keiten liegt die Bewegungsenergie in der gleichen sind, also nur über eine Nahordnung verfügen.
Größenordnung wie die Bindungsenergie. Wird Es handelt sich also um eine Art kombinierten
durch zugeführte Wärme die Bewegung immer Aggregatzustand zwischen flüssig und fest. Was
heftiger, so können immer mehr Teilchen die sie so interessant macht, ist die Kombination
Flüssigkeit verlassen, die Flüssigkeit beginnt zu aus Anisotropie und Beweglichkeit. Die An-
sieden. Im gasförmigen Zustand schließlich ist isotropie bewirkt eine Vorzugsorientierung der
die Bewegungsenergie wesentlich größer als die Teilchen, ihre Beweglichkeit kann dazu aus-
Bindungsenergie, die Teilchen interagieren im genutzt werden, diese Richtung zum Beispiel
Wesentlichen nur noch über Zusammenstöße. durch Anlegen elektrischer Felder zu ändern.
Teilchen/cm3
1,76 · 1023 8,48 · 1022 4,08 · 1022 3,35 · 1022 1,03 · 1022 2,69 · 1019 2,68 · 1019
Schmelzpunkt bei
Normaldruck (°C) 3547 1536 -38,8 0 –114 – 218 -
Schmelzwärme 715
[kJ/mol] 15,0 2,3 6,01 4,6 0,2 -
(Sublimation)
4-70
Stoffe und Aggregatzustand. Ob Stoffe unter Normalbedingungen (0 °C und 1000 hPa = 1 bar) fest, flüssig oder gas-
förmig sind, hängt von der Bindungsstärke zwischen den beteiligten Atomen oder Molekülen ab. Höhere Bindungs-
kräfte sorgen auch für eine höhere Dichte des Stoffes, da die Teilchen näher zusammen rücken, und sie erhöhen den
Schmelzpunkt. Es muss zudem mehr Energie aufgewendet werden, um die Teilchen zu trennen (Schmelzwärme).
165
KAPITEL 4 Demokrits Erben
Das sogenannte Plasma, ein Gas aus ionisierten mehrere Phasen nebeneinander. Neben makro-
Atomen und Elektronen, wird oft als vierter Ag- skopischen Größen wie Dichte oder Magnetisie-
gregatzustand bezeichnet, da es über besondere rung wird eine Phase natürlich auch durch ihre
4-72
Unterscheidungsgrößen Makroskopische Größe Phasen
bei Phasen. Phasen sind
durch die Wertebereiche Dichte Gas – Flüssigkeit – Festkörper
bestimmter Zustandsgrö-
ßen charakterisiert. Ihre Magnetisierung Paramagnet – Ferromagnet – Antiferromagnet
sprunghafte Änderung
charakterisiert einen Pha- Elektrisches Dipolmoment Paraelektrikum – Ferroelektrikum
senübergang.
Elektrische Leitfähigkeit Isolator – Metall – Supraleiter
166
Erde, Wasser, Luft und Feuer
167
KAPITEL 4 Demokrits Erben
168
Erde, Wasser, Luft und Feuer
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
4-79
Lötzinn. Lötzinn wird in der Elektrotechnik dazu ver-
wendet, Stromleiter zu verbinden. Wichtig hierfür ist ein
niedriger Schmelzpunkt und ein gutes Schmelzverhalten.
Das Material muss bei Erhitzung über den Schmelzpunkt
sehr schnell dünnflüssig werden, um sich leicht über die
Oberflächen der zu verbindenden Teile zu verteilen.
169
KAPITEL 4 Demokrits Erben
bestehen können? Und warum schmilzt Kohlen- das System braucht gewissermaßen einen klei-
dioxid unter Normalruck nicht, sondern geht nen Schubs. Oft läuft der Umwandlungsprozess
sofort in die Gasphase über (Sublimation)? selbstständig weiter, sobald an einer Stelle die
Da es sich bei Phasenübergängen um spon- Aktivierungsenergie zugeführt wird, denn die an
tane Prozesse handelt, muss eine Entropiezu- dieser Stelle frei werdende Energie reicht häufig
nahme damit verbunden sein. Dies ist auch aus, um die Umsetzung weiterer Stoffportionen
anschaulich klar: Schmilzt ein Festkörper, so in ihrer unmittelbaren Umgebung anzustoßen.
steigt offensichtlich seine Unordnung. Sponta- Aktivierungsenergie ist auch für viele chemische
nes Schmelzen bei einer niedrigeren Temperatur Reaktionen notwendig: Obwohl Wasser ther-
als dem tatsächlichen Schmelzpunkt wird dage- modynamisch günstiger ist als eine Mischung
gen durch die Stärke der Bindungskräfte verhin- von Sauerstoff und Wasserstoff, benötigt man
dert. Statt der Entropie kann man auch die Freie für die Umwandlung eine Initialzündung. Aus
Enthalpie (ÅEntropie und Freie Enthalpie, Seite
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
170
Erde, Wasser, Luft und Feuer
4-85
Enthalpie und Phasen. Die
molare freie Enthalpie Gm
eines Stoffes ist phasen-,
druck- und temperatur-
abhängig. Bei gegebenem
Druck und Temperatur
bildet sich stets die Phase
mit der niedrigsten freien
Enthalpie (dicke Linien).
Bei Kohlendioxid (rechts)
ist unter Normaldruck die
Enthalpie der flüssigen
Phase größer als die der
festen Phase, weshalb
tion mit dem Luftsauerstoff bilden beide Stoffe reich lassen sich durch gezieltes Einbringen von Kohlendioxid sublimiert.
metastabile Phasen. Die stabile Phase ist erreicht, Kristallisationskeimen auf kontrollierte Weise
wenn sich der Kohlenstoff aus dem Holz bzw. Kristalle züchten.
dem Benzin mit dem Sauerstoff zu Kohlendioxid
verbunden hat. Klassifikation von Phasenübergängen
Die Aktivierungsenergie bei chemischen Re-
aktion ist anschaulich erklärbar: Es müssen Phasenübergänge unterhalb der kritischen
171
KAPITEL 4 Demokrits Erben
gilt auch in magnetischen Systemen. Hier spielt hungsweise zweiter Ordnung den Sachverhalt
das Magnetfeld B die Rolle der Temperatur. besser beschreiben.
Wird die Feldrichtung umgepolt, so drehen sich
auch die Elementarmagnete (die Spins), d. h. Ordnungsparameter
die sogenannte Magnetisierung m des Materials
springt. Anders sieht es am kritischen Punkt aus: Eine wesentliche Eigenschaft kontinuierlicher
Dort ist der Übergang zwischen zwei Phasen Phasenübergänge ist das Verschwinden be-
nicht schlagartig, beide Phasen scheinen ohne stimmter Kenngrößen oberhalb der kritischen
sichtbare Unterschiede ineinander überzugehen. Temperatur Tk. So verschwindet oberhalb Tk
Hier ändern sich jedoch andere Größen sprung- der Dichteunterschied zwischen flüssiger und
haft: Beim kritischen Punkt von Flüssigkeiten ist gasförmiger Phase (ÅKasten Kritische Punkt
dies ihre spezifische Wärme, bei Ferromagneten Trocknung). Bei einem Ferromagneten ver-
ist es deren Suszeptibilität. schwindet die spontane Magnetisierung und
Das Ehrenfestsche Schema ist für diese so- bei Supraleitern die sogenannte Energielücke im
genannten Phasenübergänge zweiter Ordnung Ein-Elektronenspektrum. Da diese Größen, wie
nicht korrekt: Es sagt Sprünge für Material- wir noch sehen werden, etwas mit der Ordnung
konstanten voraus; in Wirklichkeit steigen diese in einem System zu tun haben, nennt man sie
Größen aber nur sehr stark bis zu hohen Werten Ordnungsparameter.
an, um hernach wieder schnell zu fallen. Auch
liefert das Schema keine Begründung dafür, wa- Kritische Exponenten
rum eine Größe sich so verhält. Trotz dieser
Unzulänglichkeiten hat sich die Unterteilung in K ontinuierliche Phasenüber g än g e sind von
Phasenübergänge erster und zweiter Ordnung b esonderem p h y sikalischem Interesse, weil
bis heute gehalten, wenngleich die neuen Be- s ich hier ganz unterschiedliche Systeme
griffe diskontinuierlicher und kontinuierlicher fast völlig gleich verhalten. So weisen viele
Phasenübergang für die Übergänge erster bezie- Größen um die kritische Temperatur Tk herum
4-88 Diamant Metastabile Phase des Kohlenstoffs. Bei Normalbedingungen ist Graphit die stabile Phase.
Metastabile Phasen. Me-
tastabile Phasen verbergen Handwärmer Das in einem Handwärmer enthaltene Salz Natriumacetat schmilzt bei 58 °C. Beim Abküh-
sich hinter vielen Erschei- len verbleibt es in einem unterkühlten Zustand und gibt seine Schmelzwärme wieder frei,
nungen. wenn es erstarrt. Als „Keim“ dient ein eingelegtes Metallplättchen (ÅKasten von Wärme-
kissen und Kühlschränken, Seite 175).
Siedeverzug Wird ein Glas Wasser in der Mikrowelle erhitzt, kann es leicht zu einem Siedeverzug kom-
men: Das Wasser fängt erst beim Herausnehmen oder Umrühren explosionsartig an zu
kochen. Ein in das Glas gestellter Löffel als Keim verhindert diesen Siedeverzug. Beim Erhit-
zen auf dem Herd verhindert ihn die raue Oberfläche der Töpfe, da sich am heißen Boden
Dampfblasen bilden, die als Keime wirken.
Wolkenbildung In völlig reiner Luft ist unter Normalbedingungen kaum Wolkenbildung möglich. Winzige
Schwebeteilchen aus Staub, Rauch oder Bakterien dienen als Kristallisationskeime.
Moussierpunkt Das im Champagner gelöste Kohlendioxid ist nach dem Öffnen der Flasche in einem über-
sättigten Zustand, da es in der Flasche unter höherem Druck stand. Eine kleine Aufrauung
am Boden eines Sektglases, der sogenannte „Moussierpunkt“, dient als Keimzelle für auf-
steigende Gasperlen.
Thermolumineszenz In Keramiken werden durch radioaktive Strahlung Atome von ihren Gitterplätzen verscho-
ben. Dieser metastabile Zustand bleibt eingefroren, bis die Keramik erhitzt wird. Dabei
kehrt das Atom zurück, und die gespeicherte Energie wird als Licht emittiert. Thermolumi-
neszenz wird zur Altersbestimmung keramischer Objekte verwendet.
Impfkristalle Zur Züchtung von Einkristallen im sogenannten Czochralski-Verfahren verwendet man
in der Halbleiterindustrie Impfkristalle als Keime, die in geschmolzenes Silicium getaucht
werden.
Zinnpest Unterhalb von 13,2 °C bildet sich aus metallischem Zinn eine nicht-metallische Phase, die
Zinnpest. Zinngegenstände verwandeln sich dabei in grauschwarzes Zinnpulver. Diese
Umformung geschieht bei nicht zu tiefen Temperaturen nicht spontan, und das metallische
Zinn bildet einen metastabilen Zustand.
Martensit Martensit ist eine metastabile Phase des Stahls, die durch schnelles Abkühlen aus der
Schmelze entsteht. Es ist sehr hart und spröde.
172
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Kritische-Punkt-Trocknung (KPT)
Die KPT ist ein Verfahren zur Trocknung emp- gleichung der Phasen in ein überkritisches Fluid
findlicher biologischer Präparate für die Elek- über, und die sichtbare Phasengrenze (weißer
tronenmikroskopie, das Phasenübergänge be- Pfeil in Abbildung 4-90) verschwindet.
sonders raffiniert nutzt. Durch eine geschickte
Prozessführung wird vermieden, dass die an-
sonsten beim Verdampfen unvermeidlich auf-
tretenden Oberflächenkräfte feinste Strukturen
zerstören. Im Präparat wird zunächst das Wasser
durch immer höhere Anteile von Aceton ersetzt.
Dieses kann dann in einer Druckkammer durch
flüssiges Kohlendioxid ausgetauscht werden, da
es sich problemlos mit diesem mischt.
Druck und Temperatur werden nun lang-
sam über den kritischen Punkt hinaus erhöht
4-90
die gleiche Temperaturabhängigkeit auf. Es ist einleuchtend, dass sich Phasenübergänge Phasenwechsel am kri-
tischen Punkt. Am kriti-
Ordnungsparameter des Systems verhalten an Oberflächen (Dimensionalität 2) anders ver-r
schen Punk verschwindet
sich proportional zu ( T – T k ) x , während halten als räumliche (Dimensionalität 3). Um zu allmählich der Unterschied
sich Materialkonstanten wie s p ezifische verstehen, warum Stärke und Natur der Wechsel- zwischen Flüssigkeit und
Gas, hier am Beispiel des
Wärme, Kompressibilität und Suszeptibilität wirkungen kaum eine Rolle spielen, hilft uns die
Kohlendioxids. Die Zahl
proportional zu 1/(T – Tk)x verhalten. Die Zahl Paarverteilungsfunktion (ÅAbbildung 4-47, Seite von Gasblasen und Flüs-
unterschiedlicher kritischer Exponenten x ist 151). Sie gibt an, wie stark entfernte Teilchen sigkeitstropfen sind im
endlich, und ihre Werte sind seltsamerweise räumlich aneinander gebunden, d. h. korreliert Mittel gleich und es gibt
sie in allen Größen. Die
praktisch unabhängig von Natur und Stärke sind. Analoge Korrelationsfunktionen kann man Größe ist also skalenin-
der Wechselwirkungen zwischen den Elementen auch für andere Größen aufstellen, zum Beispiel variant, eine Eigenschaft
des Systems. Dabei ist es gleichgültig, ob es sich für magnetische Spins. Die sogenannte Spinkor-r vieler Phasenübergänge
am kritischen Punkt.
um Wechselwirkungen zwischen magnetischen relationsfunktion beschreibt dabei, wie stark
Spins, um elektrische Kräfte in Supraleitern magnetische Spins an entfernten Orten mitein-
oder um Van-der-Waals-Kräfte in Flüssigkeiten ander gekoppelt sind. An einem kontinuierlichen 4-91
und Gasen handelt. Die Exponenten hängen Phasenübergang zeigt sich nun Erstaunliches: Die Kritische Exponenten.
nur ab von der Dimensionalität des Systems, sogenannte Korrelationslänge, ein Maß für die Eine Auswahl kritischer
Exponenten x und der
der Reichweite der Wechselwirkungen und der Reichweite der Korrelation, wächst extrem stark physikalischen Größen, die
Anzahl Freiheitsgrade der Ordnungsparameter an. Während sie in anderen Temperaturberei- in der Nähe der kritischen
(ÅTabelle 4-91). chen nur wenige Atomlängen misst, kann sie im Temperatur Tk proportio-
nal sind zu [(T – Tk) / Tk]x.
Ordnungsparameter sind
zum Beispiel der Dichteun-
Exponent physikalische Größe gemessen (Gas) gemessen (Magnet) Ising-Modell (2d) Ising-Modell (3d) terschied zwischen flüssi-
ger und Gasphase oder die
α Wärmekapazität 0 0 0 0,11
Magnetisierung.
β Ordnungsparameter 0,35 0,34 0,125 0,325 Ising-Modelle basieren auf
der Renormierungsgrup-
Kompressibilität / pentheorie und liefern je
γ 1,37 1,33 1,75 1,24
Suszeptibilität nach Dimensionalität des
ν Korrelationslänge 0,64 0,65 1 0,63 Systems recht gute Vor-
hersagen.
173
KAPITEL 4 Demokrits Erben
174
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Sie kennen wahrscheinlich diese praktischen Handwärmer, ren Kräften, starken Wasserstoffbrücken in Wasser bewirken,
gefüllt mit einer gelartigen Masse aus dem geschmolzenen dass für das Schmelzen von Eis ebensoviel Energie benötigt
Salz Natriumacetat-Trihydrat. Man muss ein darin ein- wird, wie für die Erwärmung der gleichen Menge Wasser von
gebettetes Metallplättchen drücken, und schon erwärmt 0 °C auf 80 °C.
sich das Kissen, während das Gel langsam kristallisiert. Die Verdampfungswärme von Kühlmitteln auf Fluor-
Den Ausgangszustand erhält man wieder, wenn man das Kohlenwasserstoff-Basis (FKW) wird zur Kühlung in Kühl-
Kissen in heißes Wasser legt. Da man einem Handwärmer schränken ausgenutzt. Im Inneren des Kühlschranks ver-
die gespeicherte Wärme nicht anmerkt, spricht man von dampft das Mittel bei niederem Druck und entzieht dem
latenter Wärme (lat. latens, verborgen). Wärmekissen sind Kühlschrank die Verdampfungswärme. In den schwarzen
ein Beispiel dafür, wie man die bei Phasenübergängen ent- Rohren auf der Rückseite wird das Kühlmittel bei höherem
stehende Schmelzwärme nutzen kann. Die im heißen Wasser Druck kondensiert und gibt dabei die Verdampfungswärme
aufgenommene Schmelzwärme bleibt in der flüssigen Phase wieder an die Umgebung ab.
erhalten, und das Gel kann sich weit unter seine Schmelz- Auch durch Entmagnetisierung kann man kühlen, da
temperatur abkühlen, ohne erneut zu erstarren. Da das Salz bei diesem Phasenübergang ebenfalls Energie verbraucht
trotz Unterschreitung der Erstarrungstemperatur von 58 °C wird. Dieser Effekt wird in der Tiefsttemperaturphysik zur
flüssig bleibt, spricht man von einer unterkühlten Schmelze. Kühlung von Proben auf wenige Millionstel Grad über dem
Unterkühlung ist bei Stoffen möglich, die erst bei Vorhan- absoluten Nullpunkt genutzt.
densein eines Kristallisationskeims erstarren können.
Ein Kristallisationskeim kann ein Staubkorn oder eine
raue Oberfläche sein. Sorgt man für einen Kristallisations-
keim, so erstarrt der Stoff, und die gespeicherte Schmelz-
wärme wird wieder frei. Durch das Drücken des im Hand-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
4-95
Eigenschaft Bedeutung Werkstoffeigenschaften.
Einige wichtige Begriffe
Verformbarkeit Art und Stärke der Formänderung eines Körpers bei Krafteinwirkung. aus der Werkstoffkunde.
Die Art der Formänderung kann elastisch, also reversibel, oder plastisch (irreversibel)
sein. Hierzu zählt auch die Duktilität, die starke Verformung bei Überlastung kurz vor
dem Zerbrechen und das sogenannte Kriechen: die langsame Verformung eines Ma-
terials unter konstanter Belastung. Von Festigkeit spricht man in Bezug auf die Grenze
zwischen elastischer und plastischer Verformung. Ein Werkstoff ist besonders fest, wenn
diese Grenze möglichst hoch ist.
Härte Widerstand, den ein Körper dem Eindringen (eines härteren Körpers) entgegenbringt.
Wärmeausdehnung Die temperaturabhängige Ausdehnung der Materialien zählt zwar nicht zu den mecha-
nischen, sondern zu den thermischen Eigenschaften. Sie ist aber mit der Verformbarkeit
verwandt.
175
KAPITEL 4 Demokrits Erben
4-96
Spannungen und ihre Vom Federn, Dehnen, Fließen und
Kenngrößen. Im Bereich Kriechen
linearer Elastizität sind die
Zusammenhänge zwi- Verformt wird ein Körper nur dann, wenn 4-97
schen Verformung und
Kräfte auf ihn wirken. Je nachdem, wo die Spannungs-Dehnungs-Diagramm. Der Zusammenhang
Spannung linear. Die ent-
zwischen Spannung und Dehnung bzw. Stauchung fällt je
sprechenden Kenngrößen Kräfte ansetzen, kommt es dabei zu Dehnun- nach Material sehr unterschiedlich aus. Man kann in den
sind konstant und fast nur gen, Stauchungen oder gar Verzerrungen des meisten Fällen jedoch vier Phasen unterscheiden. Bei gerin-
material- und temperatu-
rabhängig (für anisotrope
Körpers: Ein Balken wird gebogen, wenn man gen Spannungen ist die Dehnung (fast) vollständig reversi-
bel, das Material ist elastisch. Im linear-
r elastischen Bereich
Materialien sind sie auch ihn einseitig belastet, und ein Pappkarton wird
verhält sich das Material wie eine Feder, der Zusammen-
richtungsabhängig). Für schief, wenn man sich nicht mittig auf ihn setzt. hang zwischen Spannung und Dehnung ist linear. Bei
den Zusammenhang zwi-
schen Druck/Zugspannung
Sobald es nicht mehr um starre Körper geht, größeren Spannungen verhält sich das Material plastisch,
muss der Verlauf der Kräfte an jedem Punkt der also bleibt die Verformung nach Wegfall der Spannung
und Dehnung/Stauchung
größtenteils bestehen (gestrichelter Pfeil). Oft beginnt das
gilt das Hookesche Gesetz Oberfläche und innerhalb des Körpers betrach- Material zunächst zu „fließen“, d.h. es dehnt sich weiter
mit dem Elastizitätsmodul
tet werden. Wichtig ist also nicht die Gesamt- aus, ohne dass die Spannung erhöht werden muss. Durch
E als „Federkonstante“.
kraft, sondern die Kraft pro Flächeneinheit, Umlagerungen in der Struktur kommt es oft zu einer Ver- r
Der Schubmodul G ver-
festigung, eine weitere Dehnung erfordert erhöhte Span-
bindet Schubspannung die sogenannte Spannung. Je nachdem, ob die nung. Nach dieser Phase folgt der Bruch.
und Scherwinkel und der
Kraft senkrecht oder parallel zu einer Fläche
Kompressionsmodul K
bestimmt, wie stark die einwirkt, nennt man sie Druck-/Zugspannung zusammen, das Material verhält sich wie eine
Volumenänderung bei bzw. Schub- oder Scherspannung (Å Abbildung Feder (Å Abbildung 4-97). Die Proportionali-
gleichmäßigem Druck ist. 4-96). Zwischen der Spannung und den resul- tätskonstante nennt man den Elastizitätsmodul
Im plastischen Fall sind E,
G und K keine Konstanten tierenden Verformungen des Körpers besteht E. Auch der Zusammenhang zwischen einer
mehr, sondern abhängig im Allgemeinen kein einfacher Zusammen- Schubspannung und dem Verzerrungswinkel
von der Dehnung, Sche- hang. Zum Glück aller Ingenieure gibt es aber ist bei solchen Werkstoffen (näherungsweise)
rung oder dem aktuellen
Volumen. Für Flüssigkeiten bei Metallen und anderen Werkstoffklassen linear, mit dem Schubmodul G als Proportio-
existiert ein Äquivalent Spannungsbereiche, in denen sich diese Mate- nalitätskonstante.
zum Schubmodul, die Vis- rialien weitgehend linear-elastisch verhalten: Wir alle wissen aber aus der Erfahrung mit
kosität.
Spannung und Dehnung hängen hier linear Federn in Kugelschreibern und ähnlichem, dass
4-98
Kenngrößen. Kenngrößen
Werkstoff Elastizitätsmodul E Schubmodul G Kompressionsmodul Poissonzahl ν
[GN/mm2] K [GN/mm2]
einiger Werkstoffe im [GN/mm2]
linear-elastischen Bereich. Stahl 195 – 210 79,3 160 3,3 – 3,7
Aluminium 70 25,5 76 3
Beton 22 – 45 9 –18 k.A. 5
Holz (parallel zur Faser) 7 – 20 k.A. k.A. 3
Glas 50 – 90 26,2 35 – 55 3,3 – 5,6
Kompakter Knochen 18 – 21 k.A. k.A. 2,6
Diamant 1141 k.A. 442 14,3
Aggregierte Diamant- k.A. k.A. 491 k.A.
Nano-Röhrchen (ADNR)
Wasser - - 2,1 -
Luft (isotherm) - - 0,0001 -
176
Erde, Wasser, Luft und Feuer
man sie überdehnen kann: Aus der Feder wird schwindigkeit ist. Auch einige Festkörper haben
ein verbogener Draht. Diese plastische Verfor- oberhalb der sogenannten Erweichungstempe-
177
KAPITEL 4 Demokrits Erben
4-102
Einfach(er) – Elastische Materialien
Zeitabhängigkeit. Ideal-
elastische und duktile
Materialien dehnen sich Elastizität ist ein Idealzustand, der in keinem
nach dem Entfernen der realen Material gegeben ist. Und doch verhalten
mechanischen Spannung
nicht mehr. Bei viskosen sich viele Materialien in einem weiten Bereich
Materialien oder durch elastisch. Dies ist nicht nur für Brückenbauer
Kriechen verändert sich von Vorteil, sondern auch für Physiker, die das
die Dehnung mit der Zeit.
TG ist die sogenannte Verhalten von Materialien nicht nur messen,
Erweichungs- oder Glas- sondern auch verstehen möchten. Schon lange
übergangstemperatur, Tm bevor man wusste, wie Materialien aufgebaut
die Schmelztemperatur.
sind und welche Gesetze ihre kleinsten Teilchen
zusammenhalten, wurden die elementaren Zu-
sammenhänge zwischen mechanischer Span-
nung und Dehnung für elastische und viskose
unter dauernder Last mit der Zeit plastisch Materialien beschrieben. Der gefundene For-
verformen, sie „kriechen“. Kriechen ist tem- malismus ist sehr allgemein und gilt für feste
peraturabhängig. Es tritt ab etwa 40 Prozent und flüssige Stoffe gleichermaßen. In dieser
der Schmelztem p eratur ( g emessen in Kel - sogenannten Kontinuumsmechanik (von lat.
vin) auf, bei Leichtmetallen also schon bei continuus, zusammenhängend) verzichtet man
80 °C – 100 °C. Das Kriechen ist oft sehr lang- auf Hypothesen über den atomaren Aufbau
sam und kommt zum Beispiel bei Beton erst der Körper. Man nimmt an, dass jeder Körper
nach Jahren zum Stillstand. Da Beton durch unendlich teilbar ist, also ein Kontinuum dar-
Kriechen sein Volumen verringert, spannt man stellt. Elastizität bedeutet dann, dass sich jedes
ihn oft mit Hilfe von eingebetteten Stahlseilen noch so kleine Stück eines Körpers wie eine
vor, man spricht von Spannbeton. Kriechen ist Feder verhält. Plastizität kann als Stoßdämp-
eine äußerst unerwünschte Eigenschaft, da sich fer modelliert werden, der wie in Fahrzeugen
nicht nur das Volumen des Materials ändert, die Federschwingungen dämpft. So erfolgreich
sondern auch dessen Form und Festigkeit. Be- die Kontinuumsmechanik für die Beschreibung
sonders hinderlich ist Kriechen bei Bauteilen, mechanischer Prozesse auch ist, es fehlt ihr
die gleichzeitig starker Beanspruchung und ho- die Begründung aus „ersten Prinzipien“, wie
hen Temperaturen ausgesetzt sind, wie Druck- dies Physiker nennen. Größen wie der Elasti-
kessel oder Turbinenschaufeln. In vielen Fällen zitätsmodul müssen letzten Endes immer noch
erzwingt Kriechen eine Betriebstemperatur weit gemessen werden. Die Kontinuumsmechanik
4-103 unterhalb der Schmelztemperatur. kann nicht erklären, warum der Elastizitäts-
Bindungspotenzial. Der
Potenzialverlauf in einem modul von Glas einen anderen Wert besitzt als
Molekül hat ein Minimum von Blei.
U0 bei der Bindungslänge
r0, dem Abstand zwischen
2 Bindungspartnern. Das Elastizität und Bindungsenergie
Minimum ist ein Folge
eines anziehenden und Es ist naheliegend, den Elastizitätsmodul mit
eines abstoßenden Po-
tenzials. In der Nähe des
der Bindungsenergie der Atome oder Moleküle
Minimums entspricht der eines Materials in Verbindung zu bringen. Je
Potenzialverlauf weitge- stärker dessen Atome zusammenhalten, desto
hend dem einer Feder,
mehr Spannung wird aufzuwenden sein, um
dann verhält die Molekül-
bindung sich gegenüber sie auseinander zu ziehen, also den Körper
Zug oder Druck linear- zu dehnen. Der E-Modul sollte demnach mit
elastisch. Der dargestellte der Bindungsenergie steigen. Wie wir gesehen
Potenzialverlauf verläuft
in kristallinen Materialien haben (Å Abbildung 4-16, Seite 131), besteht
analog zwischen allen die potenzielle Energie von Atomen immer aus
Paaren benachbarter Teil- einem Anteil, der die abstoßende und einem
chen, weshalb der Körper
insgesamt auch linear-ela- Anteil, der die anziehende Kraft beschreibt.
stisches Verhalten zeigt. Beide sind abhängig vom Abstand der Atome,
178
Erde, Wasser, Luft und Feuer
4-105
Elastizitätsmodul. Für kri-
stalline Materialien (insbe-
sondere Metalle) stimmen
näherungsweise berech-
nete Werte des E-Moduls
(durchgezogene Linie)
gut mit den Messungen
überein. Dies gilt nicht für
Elastomere wie Gummi.
4-104
Potenzial und Elastizitätsmodul. Aus dem Potenzi-
alverlauf lässt sich der Elastizitätsmodul errechnen. Er
ist nur abhängig von der Bindungsenergie U0 und der
Bindungslänge (quasi-linearer Kraftverlauf F um r0). Nä-
herungsweise kann man die Bindungsenergie durch die
Schmelzenergie kT Tm ersetzen (da sie beim Schmelzen frei
wird) und anstelle der Bindungslänge das mittlere Atom-
volumen nehmen, das sich aus der Dichte berechnen
lässt. Je höher der Schmelzpunkt liegt, desto größer ist Wärmeausdehnung von Festkörpern und
der Elastizitätsmodul.
Bindungspotenzial
und die optimale Bindungslänge ist die, bei Auch der Wärmeausdehnungskoeffizient ist eine
der die Energie ein Minimum erreicht. Wird Folge des Kraftverlaufs bei Stauchung bzw. Deh-
ein Körper gedehnt, so werden offensichtlich nung von Bindungen. Wärme bedeutet ja nichts
die Bindungen gedehnt, die dafür notwendige anders, als dass die Atome um ihre Ruhelagen
Kraft entspricht der erforderlichen Spannung. schwingen. In der Potenzialdarstellung bedeutet
Der Verlauf der potenziellen Energie ist in der dies, dass sie vom tiefsten Punkt aus abwechselnd
Nähe der Bindungslänge nur wenig von dem links und rechts hoch und herunterschaukeln,
einer Feder verschieden, d.h. zwischen Deh- wie eine Kugel in einer Schüssel. Je heißer der
nung und Spannung besteht zumindest auf der Körper ist, desto höher fallen die Schwünge aus.
Ebene einzelner Bindungen wirklich ein linearer 4-106
Zusammenhang (Åࡳ Abbildungen 4-103 und Wärmeausdehnung. Ma-
terialien dehnen sich in
4-104). Berechnet man die Energie, die bei line- der Regel bei steigender
arer Rückstellkraft für eine schwache Dehnung Temperatur aus, weil die
oder Stauchung einer Bindung benötigt wird, Potenzialkurven bezüglich
des Bindungsabstands
so erhält man eine quadratischen Verlauf der asymmetrisch sind. Wird
Potenzialkurve. Man spricht auch von einem die Temperatur erhöht
harmonischen Oszillator. auf T1,2, dann wird die
Wärmeenergie in Schwin-
Bei kristallinen Materialien lässt sich auf-
gungsenergie U(T T1,2) – U0
grund ihrer Regelmäßigkeit die Berechnung der Teilchen umgesetzt.
auf den g esamten Kristall ausdehnen, und Die Schwingungsampli-
tude rmax – rmin ist abhän-
man erhält tatsächlich eine recht gute Über-
gig von der Temperatur,
einstimmung mit dem Experiment (Å Abbil- und aufgrund der Asym-
dung 4-105). Für Gummi, dem Prototyp eines metrie der Potenzialkurve
elastischen Materials, versagt diese einfache steigen die mittleren
Abstände der Atome, das
Rechnung allerdings. Wir kommen noch da- Material dehnt sich aus
rauf zurück. (dicke gestrichelte Kurve).
179
KAPITEL 4 Demokrits Erben
180
Erde, Wasser, Luft und Feuer
4-109
Punktdefekte. In realen Kristallen sorgen Punktdefekte
für eine lokale Deformation des Kristallgitters. (a) Ein
Gitterplatz bleibt vakant, (b) ein Gitterplatz wird durch
ein kleineres bzw. ein größeres (c) Fremdatom eingenom-
men, (d) ein Fremdatom drängt sich dazwischen (intersti-
tielles Atom), (e) ein Atom verlässt einen Gitterplatz und
wird interstitiell (Frenkel-Versetzung), (f) in einem Ionen-
kristall fehlt ein Ionenpaar (Schottky-Defekt).
4-111
Oberfläche bricht die Symmetrie. Sie halten das Stufenversetzung. Bei der
für spitzfindig? Oberflächen spielen jedoch eine Stufenversetzung ist eine
Halbebene in das Gitter
wichtige Rolle. Da Oberflächenatome auf ener- eingefügt. Fährt man
getisch ungünstigeren Positionen sitzen, sind sie in einer geschlossenen
unter anderem bei der Rissbildung zu berücksich- Schleife beginnend bei x
um die Versetzung herum
tigen, denn Risse vergrößern die Oberfläche eines terschiedlichen Stoffen gibt es ein prominentes
(gestrichelte Linie), wobei
Materials, und dazu ist Energie aufzubringen. Beispiel: den Stahl. Viele seiner Eigenschaften man in jeder Richtung die
Aber auch innerhalb eines Kristalls sind Defekte sind auf Größe, Struktur und Zusammensetzung gleiche Anzahl Gitterstel-
len abmisst, so kommt
praktisch unvermeidlich. So können einzelne Git- der Körner zurückzuführen.
man nicht mehr bei x
terpositionen leer bleiben oder durch ein Fremd- Ein perfekter Einkristall ist aus energetischer an, sondern bei y. Der
atom besetzt werden, dessen abweichende Größe Sicht die optimale Konfiguration. Warum entste- Vektor von y nach x wird
das Gitter verzerrt. Auch können eigene oder hen dann überhaupt Gitterfehler? Burgers-Vektor genannt.
Bei Stufenversetzungen
Fremdatome verloren zwischen Gitterpositionen Unter anderem deshalb, weil eine optimale steht er senkrecht zur Ver-
stehen, wie Übriggebliebene bei der Reise nach Konfiguration bei der Kristallbildung aus Zeit- setzungsebene.
Jerusalem (ÅAbbildung 4-109). Ja, sogar ganze gründen nicht erreicht werden kann. Entsteht
Ebenen können verschoben sein oder sich dazwi- der Kristall zum Beispiel aus einer Schmelze, so
schendrängen, man spricht in diesem Fall von müsste diese sehr, sehr langsam abkühlen, um zu
Versetzungen. (ÅAbbildung 4-111 und 4-112). gewährleisten, dass jedes Atom oder Molekül Zeit
Wenn Sie übrigens einmal durch ein Weinbau- genug findet, einen optimalen Platz einzunehmen.
gebiet fahren, können Sie viele der möglichen Aber Zeit allein genügt nicht, weil nicht jedes
Kristalldefekte sozusagen beobachten. Winzer Teilchen die gleiche kinetische Energie trägt. Bei
pflanzen ihre Reben nämlich soweit möglich in gegebener Temperatur sind manche langsamer,
exakt gleichen Abständen – Weinberge sind also manche schneller. Warum dies so ist, werden 4-112
zweidimensionale Kristalle. Um alleinstehende wir in ÅKapitel 9 erfahren. Durch diese Ener- Schraubenversetzung. Bei
der Schraubenversetzung
Bäume herum kommt es zu Kristalldefekten gieunterschiede zwischen den Teilchen kann es ist das Gitter schraubenar-
durch „Fremdatome“. Ebenso sind Versetzungen vorkommen, dass langsame sehr früh an weniger tig verdreht. Der Burgers-
deutlich erkennbar, wenn sich die Rebstöcke über günstigen Stellen gebunden werden und dass Vektor b ist parallel zur
Versetzungsebene.
einen Hügel erstrecken, denn dann lässt sich das dadurch Leerstellen bleiben, manche dagegen
Gitter nicht mit gleichen Abständen durchhalten,
und es kommt zu Stufenversetzungen. 4-110
Kristallebenen auf dem Weinberg. An einem Weinberg kann man viele der auch an
Und letzten Endes handelt es sich bei den Kristallen auftretenden Erscheinungen wie etwa Gitterebenen, Korngrenzen und Kristall-
meisten Festkörpern nicht um Einkristalle aus baufehler beobachten.
einem Guss. Sie sind vielmehr aus vielen Kris-
tallen zusammengesetzt, sogenannten Körnern.
Diese können aus den gleichen Teilchen beste-
hen (mit anderer räumlicher Orientierung des
Gitters), aus einer anderen Phase des gleichen
Stoffs (das heißt mit anderer Kristallstruktur)
oder aus anderen Stoffen (ÅࡳAbbildung 4-113,
Seite 182). Mehrere Winzer haben sich also
nicht abgesprochen, in welche Richtungen sie
ihre Reihen pflanzen, ob diese „auf Lücke“ ste-
hen oder welche Rebsorten sie verwenden. Für
Körner unterschiedlicher Phasen und mit un-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
181
KAPITEL 4 Demokrits Erben
so schnell sind, dass sie am Schluss im Gitter wortlich. Dies wurde deutlich, als der russische
in Zwischenpositionen „hängen bleiben“. Man Physiker JAKOW ILJITSCH FRENKEL (1894 – 1952)
kann es sich vorstellen wie eine Gruppe aufgereg- im Jahre 1926 zeigte, dass plastische Verfor-
ter Schülerinnen und Schüler, die sich möglichst mung bei perfekten Kristallen um den Faktor
schnell in Reih und Glied aufstellen sollen, bis 1000 höhere Festigkeiten erwarten lässt, als man
der Lehrer „Stopp“ ruft. Die unterschiedlichen in Wirklichkeit beobachten konnte.
Energien der Teilchen haben aber auch zur Folge, Versetzungen sind Schwachpunkte einer
dass Leerstellen wandern können. Ein benachbar- r Kristallstruktur, da an ihnen die Bindungsener-
tes Gitteratom kann sich aufgrund einer aktuell gie zwischen den Gitterebenen geringer ist. Bei
höheren Energie „losreißen“ und in die Leerstelle steigender Spannung werden an dieser Stelle
springen, wobei es eine neue Leerstelle hinterlässt. bevorzugt Bindungen brechen, und das Ma -
Leerstellen haben dabei die Tendenz, sich an be- terial beginnt entlang einer Gleitebene in eine
stimmten Stellen zu sammeln, ein Phänomen, bestimmte Richtung zu gleiten (ÅࡳAbbildung
das beim Prozess des Alterns von Materialien 4-114). Besonders gut gelingt dies bei Mate-
eine wichtige Rolle spielt (ÅࡳSchleichende Ver- rialien mit Metallbindung. Ihre Richtungsun-
änderung – Das Altern, Seite 191). Auch Zwi- abhängigkeit erleichtert die Entstehung von
schengitteratome können auf diese Weise durch Gleitebenen. Da aber auch nach einem Gleiten
den Kristall wandern. Da die Häufigkeit dieser die lokale Bindungssituation zwischen unterei-
Wanderungsprozesse mit der Temperatur (also nander gleichen Metallatomrümpfen und dem
der mittleren Energie der Teilchen) zunimmt, „Elektronengas“ dieselbe bleibt, brechen die
spricht man von thermisch aktivierten Prozessen. meisten Metalle nicht, sondern sie sind duk-
Gitterfehler kann man also nicht vermei- til, d. h., sie lassen sich plastisch verformen.
den, aber ihre Zahl ist durchaus beeinflussbar. Materialien mit atomarer Bindung wie Poly-
Schnelles Abkühlen erhöht sie, sie kann aber mere oder Silicium sind dagegen spröde. Ihre
durch Erhitzen wieder verringert werden. Auch Bindungselektronen sind zwischen den beteilig-
andere Verfahren beeinflussen Natur und Anzahl ten Atompaaren lokalisiert. Einmal gebrochen,
4-113 von Defekten, und die Materialforschung macht restaurieren sie sich nicht ohne weiteres. Da
Körnigkeit. Reale Fest- aus der Not eine Tugend: Gitterfehler werden die Ionenbindung wesentlich stärker ist als die
stoffe bestehen nicht gezielt erzeugt, um Materialeigenschaften maßzu- Metallbindung (ÅAbbildung 4-33, Seite 145),
aus einem einheitlichen
Kristallgitter, sondern aus
schneidern. Die gesamte Chipproduktion beruht sind ionische Kristalle wie Salze oder Keramiken
vielen Körnern variabler darauf, Fremdatome in möglichst genau dosierter ebenfalls spröder als Metalle. Hierzu trägt ferner
Größen, in denen Kri- Häufigkeit in Siliciumeinkristallen zu platzieren. bei, dass sich bei Ionenbindungen elektrisch ent-
stallgitter im Raum unter-
schiedlich orientiert sind
gegengesetzt geladene Teilchen in Gitterebenen
(links). Mit polarisiertem Defekte und ihre Folgen gegenüberstehen und anziehen. Verformt sich ein
Licht kann die Orien- solcher Kristall zum Beispiel durch einen Schlag
tierung der Kristallgitter
Für die plastische Verformung von Materialien oder Belastung derart, dass sich die Ebenen um
sichtbar gemacht werden,
da unterschiedliche Inter- mit metallischer Bindung sind fast ausschließlich eine Atomdistanz versetzen, so werden alle Bin-
ferenzfarben auftreten. die oben beschriebenen Versetzungen verant- dungskräfte plötzlich abstoßend, da sich nun
gleiche Ladungen gegenüberstehen. Der Kristall
zerspringt.
Gleitebene und Gleitrichtung bilden zusam-
men das sogenannte Gleitsystem. Bei welcher
mechanischen Spannung ein Material zu gleiten
beginnt, hängt unter anderem von der Dichte
der Teilchen in der Gleitebene und Gleitrich-
tung ab sowie vom Abstand dieser Ebene zur
nächsten. Ist der Abstand groß, setzt Gleiten
schneller ein, da die Bindungsenergie zwischen
den Ebenen geringer ist. Liegen die Teilchen
in der Ebene dicht beisammen, so ist an einer
Versetzung der Burgers-Vektor kürzer, was das
Gleiten ebenfalls erleichtert, da eine geringere
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
18 2
18
Erde, Wasser, Luft und Feuer
4-114
Verformung durch Verset-
zung. Eine Versetzung ist
der ideale Angriffspunkt
für plastische Verformun-
gen. Liegt die Gleitebene
schräg zur Richtung
der Krafteinwirkung, so
entsteht eine Schubspan-
nung, die die Schichten
ober- und unterhalb der
Gleitebene auseinander
gleiten lässt.
Strecke bis zur nächsten stabilen Position zu- aneinander, was das Gleiten erschwert. hcp-
rückzulegen ist (ÅAbbildung 4-115). Kristalle können demnach spröde oder duktil
Teilchendichte und Ebenenabstand in einem sein (ÅAbbildung 4-116).
Kristall sind von dessen Struktur abhängig. Ma-
terialien mit kubisch-flächenzentrierter Kris- 4-115
tallstruktur (face-centered cubic, fcc) verfügen Gleiten und Bindungs-
über dicht gepackte Ebenen, an denen Gleiten energie. Wie leicht ein
Material entlang einer
leicht möglich ist, ihre kritische Gleitspannung Gleitebene zu gleiten be-
ist daher gering. Typische Vertreter dieser ginnt, hängt vor allem von
Klasse sind duktile Metalle wie Kupfer, Sil- deren Teilchendichte und
ihrem Abstand d zur näch-
ber oder Blei und natürlich Gold. Letzteres ist
sten Ebene ab. Je geringer
extrem duktil, man kann es zu nur 100 Atom- der Abstand, desto größer
l agen d ünnen Fo l ien aus h ämmern, d ie a l s die zwischen Ebenen
wirkende (negative) Bin-
Blattgold bezeichnet werden und sogar Licht
dungsenergie und desto
du r c h sc himm e rn l asse n . K ub i sc h-r au mz e n - höher der Widerstand ge-
trierte Kristalle (body-centered cubic, bcc) sind gen Gleiten. Die Teilchen-
weniger dicht gepackt und verfügen daher über abstände auf der Ebene
bestimmen die Länge des
eine höhere kritische Gleitspannung. Dass sie Burgers-Vektors b an ei-
trotzdem nicht spröde sind, liegt daran, dass ner Versetzung. Je kürzer
sie aufgrund ihrer besonderen Symmetrie über dieser ist, desto leichter
kann die Ebene gleiten.
viele nahezu gleich dicht gepackte Gleitsys- Eine hohe Teilchendichte
teme verfügen, die alle unterschiedlich ori- auf einer Gleitebene
entiert sind. Damit liegen im Belastungsfall verringert also die benö-
tigte Gleitspannung. Der
mehr Gleitsysteme parallel zu einer angeleg- Zusammenhang zwischen
ten Spannung, also ist die Spannung entlang Gleitspannung, Burgers-
irgendeines Gleitsystems hoch. Metalle mit Vektor b und Gleitebenen-
abstand d wird durch die
kubisch-raumzentrierter Struktur wie Titan, Peierls-Nabarro-Gleichung
Vanadium, Tantal sind daher zwar fester als ku- beschrieben.
bisch-flächenzentrierte Kristalle, aber trotzdem
plastisch verformbar. Bei Metallen mit hexago-
nal dichtester Kugelpackung (hexagonal close-
packed, hcp) wie Zink oder Magnesium ist die
Lage etwas komplizierter: Die Grundflächen
sind aufgrund ihrer Teilchendichte gute Glei-
tebenen, vergleichbar mit denen bei kubisch-
flächenzentrierten Kristallen. Allerdings sind
4-116
sie alle parallel zueinander orientiert, es ist also Dichteste Gleitebenen. Bei kubisch-raumzentrierten
unwahrscheinlich, dass sie bei einer angelegten Kristallen (bcc) liegen die dichtesten Gleitebenen auf den
Diagonalen (rote Kugeln). Sie sind weniger dicht gepackt
Spannung so liegen, dass eine ausreichende
als die ebenfalls diagonal liegenden Ebenen der kubisch-
Schubspannung entsteht. Auch liegen bei man- flächenzentrierten Kristalle (fcc). Bei hcp-Kristallen sind
chen hcp-Kristallen die Gleitebenen sehr dicht die Grundflächen die am dichtesten gepackten Ebenen.
183
KAPITEL 4 Demokrits Erben
Mehr Festigkeit durch Versetzungsstopper liche Energie zur Verfügung steht (ÅࡳAbbildung
4-117 und 4-118). Zusätzliche Spannung ak-
Fremdatome und Zwischengitteratome behin- tiviert zudem weitere Gleitsysteme mit stärke-
dern im Allgemeinen die Beweglichkeit von ren Bindungen. Das Material verformt sich bei
Versetzungen, da an ihnen das Gitter verzerrt gleichbleibender Spannung so lange, bis alle
ist. Gitterverzerrungen erhöhen die Bindungs- Versetzungen entweder „hängen bleiben“ oder
energie, d.h. es ist mehr Energie notwendig, um aus dem Material herausgewandert sind. Dieser
Atome gegeneinander zu verschieben. Dadurch Mechanismus erklärt, warum oft schon geringe
erhöht sich die Festigkeit des Materials. Das Beimischungen von Legierungsmetallen die me-
Gleiten einer Versetzung beginnt erst wieder, chanischen Eigenschaften eines metallischen
wenn die Spannung so weit steigt, dass zusätz- Werkstoffs deutlich verbessern.
Korngrenzen behindern Versetzungen wir-
4-117 kungsvoll aufgrund der unterschiedlichen Ori-
Versetzungsstopper. entierungen der Gleitebenen in den einzelnen
Gitterfehler können das
Wandern von Versetzun-
Körnern. Da sich mit abnehmender Korngröße
gen stoppen. So wird die die Zahl der Grenzflächen erhöht, steigt auch
linke Versetzung bei einer die Festigkeit. Eine besondere Form von Körnern
Wanderung nach links am
Punktdefekt „hängen“
sind Zusammenballungen von Fremdatomen, die
bleiben, bis die Spannung während des Abkühlungsprozesses entstehen, die
weiter wächst. Durch die sogenannten Ausscheidungen. Sie behindern Ver- r
höhere Teilchendichte
setzungen, da diese sich erst um die Ausscheidung
unterhalb der Versetzung
oben rechts wird das „herumbiegen“ müssen, um weiter zu wandern
Wandern nach rechts (ÅAbbildung 4-119). Auch eutektische Phasen
ebenfalls erschwert. Die von Legierungen sind sehr wirksame Verset-
Versetzung stoppt auch an
der Korngrenze. zungsstopper durch ihre gleichmäßige, feine, oft
lamellenförmige Struktur (ÅࡳAbbildung 4-120).
4-118 Optimal sind Strukturen, in denen eine sehr harte
Stoppen an Gitterfehlern.
Ein Gitterdefekt wie ein
Fremdatom (blau) kann
durch Verformung des
Gitters das Bindungs-
potenzial an dieser Stelle
erhöhen, das Gleiten kann
stoppen, bis durch weitere
Spannungserhöhung diese
zusätzliche Energie auf-
gebracht wird. Auch eine
Korngrenze stellt einen
solchen Potenzialwall dar.
4-119
Versetzungen und Aus-
scheidungen. Diese
elektronenmikroskopische
Aufnahme zeigt, wie
4-120
Versetzungen (weiße Li-
Festigkeit von Blei-Zinn-Legierungen. Blei-Zinnlegie-
nien) an Ausscheidungen
rungen zeigen konzentrationsabhängig unterschiedliche
„hängen“ bleiben. Die
Zugfestigkeiten aufgrund unterschiedlicher Strukturen.
Versetzung baucht sich
Bei geringen Konzentrationen handelt es sich um im
links und rechts aus, los-
Gitter eingebettete Fremdatome, die Versetzungsgleiten
reißen kann sie sich aller-
behindern. Bei höheren Konzentrationen treten Ausschei-
dings erst, wenn sich diese
dungen auf, an deren Oberflächen Versetzungen aufge-
Ausbauchungen jenseits
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
184
Erde, Wasser, Luft und Feuer
185
KAPITEL 4 Demokrits Erben
186
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Brinell-Härte HBW Eindrücken einer Hartmetallkugel in die Oberfläche. Aus dem Durchmesser des verbleiben- Bei weichen bis mittel-
den Abdrucks wird die Brinell-Härte berechnet. harten Materialien. Gut
Benannt nach dem schwedischen Ingenieur JOHAN AUGUST BRINELL (1849 – 1925), der es geeignet bei groben
1900 vorstellte. Oberflächen.
Vickers-Härte HV Eindrücken einer Diamantpyramide in die Oberfläche. Die Kraft ist wesentlich geringer als Bei harten Materialien
bei Brinell. Mit Hilfe eines Mikroskops werden die Diagonalen der Eindrückoberfläche ge- und oberflächengehärte-
messen. Aus der berechneten Oberfläche wird die Vickers-Härte berechnet. ten Werkstoffen.
Benannt nach den englischen Flugzeugwerken Vickers.
Rockwell-Härte HRx Vorbelasten der Oberfläche mit der Prüfspitze, anschließend Druck mit hoher Kraft, dann Häufig verwendetes Ver-
wieder Entlasten auf den Wert der Vorbelastung. Die Eindringtiefe der Vorbelastung dient fahren, da sehr schnelle
als Referenzebene für die Messung. Gemessen wird die Eindringtiefe, nicht die Eindrin- Messung.
goberfläche wie bei BRINELL oder VICKERS. Es werden verschiedene Eindringspitzen und Prüf-
kräfte je nach Werkstoff eingesetzt, was durch die weiteren Kürzel hinter HR gekennzeich-
net wird. So wird bei x = A, C, D und N eine konische Diamantspitze verwendet, bei B, H, K
und T eine Hartmetallkugel.
Shore-Härte Shore-x Eindrücken einer Stahlspitze in das Objekt. Gemessen wird die Eindringtiefe. x kennzeichnet Für Elastomere
unterschiedliche Messspitzen und Parameter je nach Werkstoffart.
Buchholz-Härte BH Gemessen wird die Länge der Eindrücklinie eines doppelkegelförmigen, spitzen Metallrades, Für Lacke
das mit definierter Kraft und für eine definierte Zeit auf die Oberfläche gedrückt wird. Die
Buchholz-Härte ist umgekehrt proportional zur Länge der Eindrücklinie.
187
KAPITEL 4 Demokrits Erben
eine direkte Beziehung wünschenswert. Neben moderne Varianten durchaus sehr gute Bruch-
ihrer Zerstörungsfreiheit haben Härtemessun- festigkeiten von bis zu 1600 MPa erreichen, ist
gen gegenüber Zugversuchen noch weitere Vor- auch bei ihnen die Bruchspannung wesentlich
teile: Sie sind schnell und einfach durchzuführen geringer als der theoretische Wert. Dies liegt vor
und erfordern keinen Ausbau des zu messenden allem daran, dass Keramiken Poren enthalten, die
Bauteils. Und um die Oberflächenhärte eines Quellen von Rissen sind, die sich unter Belastung
Materials oder kleinste Strukturen im Mikro- erweitern (Å Abbildung 5-15, Seite 229).
und Nanometer-Bereich zu messen, sind sie Gläser sind amorphe Materialien, deren Teil-
praktisch die einzige Wahl. chen ebenfalls durch Ionen- und Atombindungen
Es gibt viele verschiedene Härteprüfver- zusammenhalten (ÅWas ist Glas?, Seite 282). Sie
fahren, und jedes hat Vor- und Nachteile und sind daher nur wenig elastisch. Im Gegensatz zu
bevorzugte Anwendungsgebiete. Eine Umrech- Metallen und Keramiken kann bei Gläsern keine
nung der Werte ineinander ist nur eingeschränkt präzise Schmelztemperatur angegeben werden.
möglich, weshalb man sich bei Vergleichen auf Oberhalb der sogenannten Glasübergangstem-
ein Messverfahren einigen muss. peratur TG werden sie weich, der Übergang zur
In den meisten Prüfverfahren wird eine Flüssigkeit ist fließend. Die Existenz der weichen,
speziell geformte Messspitze mit definierter noch nicht flüssigen Phase ermöglicht erst die
Kraft und definiertem zeitlichen Verlauf in die Technik des Glasblasens. Unterhalb von TG bil-
Oberfläche gedrückt und anschließend die Ver- den Gläser eine zwar feste, aber nicht-kristalline
formung der Oberfläche gemessen (Å Tabelle Struktur (also keine Fernordnung). Ihre Sprödig-
4-124, Seite 187). Die Prüfverfahren sind in keit ist eine Folge der fehlenden Versetzungen, die
DIN/ISO-Normen genau festgelegt, um die Ver- sich in der unregelmäßigen Struktur nicht bilden
gleichbarkeit von Messungen zu gewährleisten. können. Gläser enthalten zudem bedingt durch
Ein etwas anderes Verfahren ist die Härteprü- den Abkühlungsprozess innere Spannungen, die
fung durch Ritzung, benannt nach ihrem Erfin- die Bruchfestigkeit ebenfalls ungünstig beeinflus-
der, dem Geologen CARL FRIEDRICH CHRISTIAN sen. Allerdings kann man Glas durch Erwärmung
MOHS (1773 – 1839). Er ordnete Mineralien auf eine Temperatur unterhalb von TG (ca. 450 °C
nach ihrer Fähigkeit, sich gegenseitig zu rit- bei Silikatgläsern) „entspannen“. Die erhöhte
zen. Stoffe wie Talk, die mit dem Fingernagel Temperatur bewirkt, dass Atome besser in ener-
geritzt werden können, haben die Mohs-Härte getisch günstigere Positionen wandern können.
1, während Diamant die (höchste) Mohs-Härte Durch geschicktes Einbringen von Kristal-
10 besitzt. Speziell für sehr harte Mineralien lisationskeimen ist es möglich, einen großen
wird auch die Rosiwal-Schleifhärte angegeben, Teil eines Glases in kristalline Körner zu ver-
ein Maß für den Widerstand gegenüber dem wandeln, man spricht von Glaskeramiken. So
Schleifen. Obwohl Diamant das härteste na- werden Spannungen reduziert und energetisch
türliche Mineral ist, lässt es sich schleifen, da optimalere Konfigurationen erreicht. Das Glas
ein Diamantkristall anisotrop ist. In gewissen bleibt zwar hart, ist aber bruchfester. Sie werden
Kristallebenen ist er weicher als in anderen. beispielsweise für Elektroherde und Teleskop-
spiegel eingesetzt (Å Herdplatten und Teleskop-
Hart, aber spröde – Keramiken und Gläser spiegel, Seite 286).
Keramische Materialien sind Stoffe mit starken Von spröde bis endlos elastisch –
Atom- oder Ionenbindungen und feinkörniger, Die Vielfalt der Polymere
kristalliner Struktur. Die starken Bindungen
führen zu einer geringen Elastizität und gro- Die Materialeigenschaften der Polymere sind
ßen Festigkeit. Leider verhindert die Stärke und durch die Form und Vernetzung der Ketten ge-
Gerichtetheit dieser Bindungen auch, dass Ver- prägt. Generell behindern starke chemische Bin-
setzungen gleiten können. Ein Hauptproblem dungen zwischen den Ketten, aber auch schon
besteht darin, dass kaum Mechanismen vorhan- große Seitengruppen die Beweglichkeit der Ket-
den sind, einen einmal entstandenen Riss wieder ten und erhöhen dadurch die Festigkeit. Starke
zu stoppen. Keramiken sind daher spröde und chemische Bindungen können die Beweglichkeit
brechen bei Überbelastung plötzlich. Obwohl aber so sehr einschränken, dass das Material
188
Erde, Wasser, Luft und Feuer
189
KAPITEL 4 Demokrits Erben
kanisierung (Å Vom Kautschuk zum Gummi, Riss anfängt zu wachsen (und zwar mit bis
Seite 302), da die Vernetzung durch Aufbau zu Schallgeschwindigkeit!), ist trivial: Dies ist
von Schwefelverbindungen zwischen den Ketten energetisch die günstigste Lösung.
erfolgt (Schwefel kommt elementar an Vulkan- Ein Material, das elastisch gedehnt wird,
schloten vor). speichert die dafür aufgebrachte Energie in
den Bindungen, die man sich wie kleine Fe-
Risszähigkeit dern vorstellen kann (ÅEinfach(er) – Elasti-
sche Materialien, Seite 178). Im Riss selbst
Die Frage, warum Materialien bei wesentlich ist nichts vorhanden, was Energie speichern
kleineren Spannungen brechen, als aufgrund kann. Wächst er, so kann sich das Material
der Bindungsenergien zu erwarten ist, haben wir der gespeicherten Energie entledigen, in dem
eigentlich noch nicht beantwortet. Wir haben es sie in Bewegungsenergie umsetzt. Dem ste-
geklärt, warum sich Metalle und andere Stoffe hen allerdings zwei andere Effekte entgegen.
verformen, bevor sie brechen, und dass der Durch eine Vergrößerung des Risses entsteht
Bruch zustande kommt, weil sich das Material eine größere Oberfläche im Material, was wie-
immer weiter einschnürt. Aber warum brechen derum Energie erfordert. Außerdem kommt es
Glas und andere spröde Materialien ebenfalls bei plastischen Materialien an der Rissspitze
früher als erwartet? Und auch Stahl- und Alu- zu starken Spannungen, die die Dehngrenze
miniumbauteile können spontan brechen und überschreiten können. Die dadurch einsetzende
tragische Unfälle verursachen. Vieles hat dabei plastische Verformung verzehrt ebenfalls ein
mit Alterungsprozessen des Materials zu tun, Teil der freiwerdenden elastischen Energie. Ein
die Thema des nächsten Abschnitts sind. Aber Riss wächst also genau dann, wenn die folgende
auch neue Materialien brechen bei zu kleinen Energiebilanz gilt (freiwerdende Energie wird
Spannungen. Warum tun sie das? negativ gerechnet):
Der englische Luftfahrtingenieur A L A N
ARNOLD GRIFFITH (1893 – 1963) stellte sich freiwerdende elastische Energie + Oberflächen-
diese Frage auch und kam zu dem Schluss, energie + Verformungsenergie < 0
dass f ü r Br üc h e Mikr o ri sse ve r a n two r t li c h
sind, die in jedem Material von Anfang an Die elastische Energie ist vom Rissvolumen
vorhanden sind. Die Frage war nun, wann abhängig. Da dieses schneller wächst als die
führen diese Risse zum Bruch und wie hängt Rissoberfläche, wachsen Risse sehr schnell,
die reale Bruchspannung mit Zahl und Länge sobald die Bruchspannung erreicht ist. Dies gilt
der Risse zusammen? Griffith konnte sowohl streng genommen nur für spröde Materialien,
praktisch als auch theoretisch zeigen, dass bei denen die Verformungsenergie gering ist.
die reale Bruchspannung proportional ist zur Es gibt plastische Materialien, bei denen die
Wurzel der Risslän g e des län g sten Risses. Verformung so groß sein kann, dass Risse nicht
Seine Ergebnisse wurden 1957 von GEORGE zum Bruch führen, sondern im Gegenteil die
R AN KI N I RW
R IN (1907 – 1998) für p lastische Festigkeit erhöhen. Man kann dies beim Biegen
Materialien erweitert. Der Grund , warum von Kunststoffen beobachten: Die Biegestelle
ab einer bestimmten Spannung der größte wird meist hell, das Material bricht aber trotz
extremer Verformung kaum. Elastische Ver-
4-127 formungs- und Oberflächenenergie sind beide
Eschede. Am 3. Juni 1998
starben bei einem ICE- von der Risslänge abhängig und aufgrund der
Unglück bei Eschede 101 Eigendynamik des Risswachstums ist klar, dass
Menschen. Grund für das der Bruch beim größten Riss entsteht. Dies
Unglück war der Bruch
eines Radreifen. erklärt auch den seltsamen Effekt, warum die
Teilstücke eines gebrochenen Stabes bei einer
höheren Spannung brechen als der unversehrte
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
190
Erde, Wasser, Luft und Feuer
191
KAPITEL 4 Demokrits Erben
dungsbrüchen von kristallinen Materialien eine Hinter diesem Phänomen steckt das bereits zu
wesentliche Rolle. Anfang dieses Hauptabschnitts erwähnte Krie-
D u r c h Belastung entstehen im Material chen: das langsame plastische Verformen eines
vermehrt Versetzungen entlang der Gleitebe- Materials auch schon unterhalb der Dehngrenze.
an der Oberfläche als Einkerbungen oder Er- liches geschieht beim sogenannten Korngrenzen-
hebungen sichtbar. Man nennt sie persistente kriechen. Hier wandern Leerstellen in einem un-
Gleitbänder, da sie auch nach dem Entfernen ter Spannung stehenden Material bevorzugt in
wiederkehren. Feine Risse entwickeln sich Grenzen ein, die parallel zur Spannungsrichtung
4-130 bevorzugt in den Einkerbungen, da dort die liegen, und aus den senkrecht dazu stehenden he-
Bündel und Gleitbänder. Spannung am größten ist. Leerstellen, die in raus (da hier das Material dichter ist). Die Körner
In dieser Aufnahme er- Gleitbändern bevorzugt entstehen, diffundieren werden dadurch in Zugrichtung länger, das Ma-
kennt man die charakte-
ristischen Gleitbänder in in Richtung Oberfläche und lassen den Riss terial „kriecht“. Wem dieses nahezu intelligente
den mit PSB (persistent slip langsam bis zur Bruchgrenze wachsen. Verhalten von Leerstellen spanisch vorkommt
bands) bezeichneten Be- Nicht nur zyklische Belastungen führen zu (woher wissen Leerstellen, wo das Material dicht
reichen. Dazwischen liegen
Bereiche (V), in denen Ver-
langsamen Veränderungen des Materials. Ha- ist?) sei auf Å Kapitel 9 verwiesen, in dem es auch
setzungsbündel sichtbar ben Sie sich schon einmal gewundert, warum um das Thema Diffusion geht. Gewisse Analogien
sind. Mit eingezeichnet ist Schrauben wie von selbst locker werden? Oder bestehen auch zu Mikroorganismen, die das Licht
die Richtung des Burgers-
Vektors.
warum die Fahrradkette nach einiger Zeit ge- gezielt suchen oder ihm ausweichen können (Pho-
spannt werden muss? totaxis), obwohl sie nur die Lichtstärke, nicht
4-131 4-132
Gleitbänder. An der Oberfläche zyklisch belasteter Materialien bilden Gleitbänder oft Riss an einer Extrusion. Erkennbarer Riss (Pfeil) an einer
charakteristische Erhebungen (Extrusionen, links und Mitte) und Vertiefungen (Intrusio- Extrusion.
nen, rechts), die auch nach Glattpolieren wieder entstehen, weshalb man sie auch persi-
stente Gleitbänder nennt. Links ist die Richtung des Burgers-Vektors eingezeichnet.
192
Erde, Wasser, Luft und Feuer
aber seine Richtung feststellen können. Der Trick Wenn Körper schwingen
ist ganz einfach. Sie schwimmen einfach in eine
völlig zufällige Richtung los, wenn sie zu wenig Wellen und Schwingungen sind uns geläufig. Wir
bzw. zu viel Helligkeit wahrnehmen. Erreichen sprechen von Wasserwellen, Schallwellen, elek-
sie eine Stelle, an denen die Bedingungen besser tromagnetischen Wellen und „La Ola“-Wellen als
passen, stoppen sie die Fortbewegung. Insgesamt Massenphänomen in Stadien. Eine Schaukel
sieht man ein erstaunliches, quasi „intelligentes“ schwingt ebenso wie der Quarz in unserer Uhr
Aussuchen der optimalen Lichtverhältnisse. oder das Metronom auf dem Klavier. Und die
In nicht-kristallinen Materialien wie Kunst- Schwingungen der Klaviersaiten erzeugen Schall-
stoff kommt es unter konstanter Spannung durch wellen, die unser Ohr erreichen. Von Schall
Diffusion zu einem langsamen Entwirren von spricht man, wenn die Teilchen eines Mediums in
Molekülketten oder zur Umlagerung von Was- kleine Schwingungen versetzt werden, gleichgül-
serstoffbrücken. Auch das Zurückkriechen visko- tig, ob es sich um einen Festkörper, eine Flüssig-
elastischer Stoffe nach dem Dehnen ist ein Diffu- keit oder ein Gas handelt. Es ist auch unerheblich,
sionsvorgang, bei dem die Ketten langsam wieder ob diese Schwingungen noch im hörbaren Bereich
ihre alten, verknäuelten Positionen einnehmen (da sind oder nicht (ÅTabelle 4-137, Seite 195). Bei
diese energetisch günstiger sind und eine höhere Schallausbreitung in Festkörpern spricht man in
Entropie besitzen). Beton kriecht, weil Wasser der Akustik meist von Körperschall. Ein Körper
aus dem Zement-Gel herausgepresst wird, was zu kann auch als Ganzes schwingen wie eine Kla-
einer Volumenminderung führt. Dieser Prozess ist viersaite, eine Trommel oder eine Wassermenge.
erst nach Jahren abgeschlossen. Solche Körperschwingungen spielen eine große
Besonders gefährlich wird es, wenn Mikroriss- Rolle bei der Schallübertragung von einem Fest-
bildung und Korrosion zusammentreffen. Bei der körper zur Luft, denn sie erzeugen einen Großteil
sogenannten Spannungsrisskorrosion vergrößern der Schallenergie.
sich Risse weit unterhalb der Bruchgrenze, weil Schwingungen entstehen immer dann, wenn
chemische Substanzen, die in die Risse eindringen, sich ein System zumindest teilweise elastisch
an der Rissspitze mit dem Material reagieren. So verhält: Nach einer Störung versucht es, wieder
sind Chloridionen (Salzwasser!) und Schwefel- in den Ausgangszustand zurückzugelangen. Eine
wasserstoff (Öl- und Gasbohrungen!) gefährliche Feder hat diese Eigenschaft sehr ausgeprägt,
Korrosionsmittel für manche Stähle und Leicht- ein Kaugummi weniger. Inelastische Materialien
metalllegierungen. Äußerlich ist den Materialien dämpfen Schwingungen, weshalb eine schwin-
nichts anzumerken, der Bruch kann nach Minuten gende Feder in Öl schneller wieder zur Ruhe
oder Jahren erfolgen. Wesentlich ist die richtige kommt als in Luft. Elastische Schwingungen
Wahl der Legierungen für diese Anwendungsberei- lassen sich auch mathematisch sehr einfach be-
che. Spannungsrisskorrosion in den Stahldrähten schreiben: durch eine Sinusfunktion (ÅAbbil-
der Spannbetonkonstruktion war die Ursache für dung 4-134). Reine Töne sind Sinusschwingun-
den teilweisen Einsturz der Berliner Kongresshalle gen und Musikinstrumente, Stimmen oder Wind
(„Schwangere Auster“) im Mai 1980. erzeugen ein Gemisch aus Sinusschwingungen.
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
4-133 4-134
Spannungsrisskorrosion. Das Dach der Berliner Sinusschwingung. Linear-elastische Systeme wie eine Feder schwingen sinusförmig. Die
Kongresshalle stürzte am 21.05.1980 durch Spannungs- Frequenz ν wird in Schwingungen pro Sekunde bzw. Hertz [Hz] angegeben. Für physi-
risskorrosion der Spannbeton-Stahldrähte teilweise ein. kalische Darstellungen wird statt der Frequenz ν meist die Kreisfrequenz ω verwendet.
193
KAPITEL 4 Demokrits Erben
194
Erde, Wasser, Luft und Feuer
195
KAPITEL 4 Demokrits Erben
4-139
großen Oberfläche poröser Materialien mehrfach
Schallgeschwindigkeit
im Ozean. Temperatur-, reflektiert und im oberflächennahen Bereich ab-
Schallgeschwindigkeits- sorbiert wird. Aber auch Polstersessel oder Men-
und Druckverlauf im schen eignen sich hervorragend als Absorber, wie
Nordatlantik. Deutlich
erkennbar das Minimum wir bei jedem Umzug feststellen können, wenn
der Schallgeschwindig- wir ein letztes Mal durch die leeren Räume gehen.
4-142
Oberflächenwellen. Bei
Rayleigh-Wellen (oben)
vollziehen die Bodenteil-
chen elliptische Bewe-
gungen, die mit der Tiefe
schwächer werden, ganz
ähnlich wie Wasserwellen.
Da sie sich an der Ober-
fläche fortpflanzen, nimmt
ihre Stärke linear ab statt
quadratisch. Rayleigh-
Wellen erzeugen die stärk-
sten Erschütterungen. Bei
Love-Wellen (unten) voll-
ziehen die Bodenteilchen
horizontale Bewegungen.
4-141
Seismische Wellen. Aufzeichnungen eines Erdbebens am E. H. LOVE (1863 – 1940), der sie 1911 in ei-
3. September 1998 in Chile durch einen Seismografen, nem mathematischen Modell erstmals beschrieb,
der Ost-West, Nord-Süd und vertikale Bewegungen des schwingen horizontal.
Erdbodens misst. Eingezeichnet sind die unterschiedlichen
Wellentypen. Rayleigh-Wellen treten nur in vertikaler
Richtung auf, Love-Wellen nur in seitlicher Richtung. Wärmekapazität
Frauen haben im Bett immer kalte Füße. Sagt
Erdkruste. So lassen sich auf diese Weise auch man(n). Ein Mittel, diesem Zustand abzuhelfen
Hinweise auf Öl- und Gaslagerstätten gewinnen. (es gibt allerdings auch andere), ist die altbe-
Treffen s- oder p-Wellen auf die Oberfläche, kannte Wärmflasche. Gefüllt mit heißem Wasser
so pflanzen sie sich dort als transversale Oberflä- verströmt sie eine wohlige Wärme – zumin-
chenwellen fort. Diese sind etwas langsamer als dest solange das Wasser noch heiß ist. Wasser
s-Wellen und kommen in zwei unterschiedlichen bleibt recht lange heiß, denn es hat eine hohe
Formen vor (ÅAbbildung 4-141 und 4-142): die Wärmekapazität. Die Wärmekapazität ist ein
Rayleigh-Wellen, die von dem englischen Physiker Maß dafür, wie viel Wärmeenergie ein Körper
LORD RAY A LEIGH (1842 – 1919) 1855 theoretisch abgibt, wenn er sich um 1 Grad Celsius abkühlt.
vorgesagt wurden, schwingen in vertikaler Rich- Eine Ein-Liter-Wärmflasche gibt dabei immerhin
tung ähnlich wie Wasserwellen. Da ihre Stärke 4,19 kJ (Kilojoule) oder 1 Kilokalorie an Wärme
nur linear abnimmt, sind sie am stärksten spürbar für ihre Füße ab. Die spezifische Wärmekapazi-
und richten den größten Schaden an. Die Love- tätt ist auf ein Kilogramm bezogen und wird in
Wellen nach dem englischen Mathematiker A. Kilojoule je Kilogramm und Kelvin (kJ/(kg·K))
4-143
Richterskala. Die populärste Maßeinheit für die Stärke
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
eines Erdbebens ist die Richterskala. Sie ist ein Maß für
die maximale Amplitude einer seismischen Welle an der
Bruchzone. Seismologen benutzen heute allerdings be-
vorzugt die Moment-Magnitude, die ein direktes Maß
für die Kraft der Verschiebung an der Bruchzone ist. Sie
basiert auf dem sogenannten seismischen Moment, einer
Größe, die proportional zur Bruchfläche, zum Schubmo-
dul des Gesteins und zur mittleren Verschiebung an der
Störungsstelle ist.
Zur Ermittlung der Richter-Magnitude wird zunächst die
Amplitude der Seismometerschwingung in Millimetern
gemessen. Dann ermittelt man die Zeitdifferenz zwischen
dem Eintreffen der p-Wellen und dem Eintreffen der s-
Wellen. Letzteres ergibt auch direkt die Entfernung zum
Epizentrum. Wenn man nun beide Messwerte auf einer
genormten Zeitdifferenz- bzw. Amplitudenskala einträgt
und die beiden Punkte mit einer Linie verbindet, erhält
man den Wert der Richter-Magnitude auf der dazwi-
schenliegenden Richter-Skala. Diese ist theoretisch „nach
oben offen“, da keine Beschränkung auf eine größtmög-
liche Amplitude existiert.
197
KAPITEL 4 Demokrits Erben
Spezifische Wärmekapazität
Die spezifische Wärmekapazität wird mit dem tantes Volumen). cp ist größer als cv, da durch
Buchstaben c bezeichnet und bezieht sich auf eine Volumenausdehnung Energie abgegeben
ein Kilogramm eines Stoffes. Manchmal ist wird, die dann nicht mehr im Gas gespeichert
es praktischer, die Wärmekapazität nicht auf ist. Näherungsweise gilt bei Gasen: cp = cv + R/M,
die Masse, sondern auf die Anzahl Teilchen darin ist M die Molmasse, und R ist die allge-
zu beziehen. Man verwendet dann die mo- meine Gaskonstante (8,314472 J · mol–1 · K–1).
lare Wärmekapazität oder Molwärme cmol
[J · mol–1 · K–1], da ein Mol eines Stoffes im- Stoff cP[kJ/(kg·K)]
mer die gleiche Anzahl Teilchen enthält. Bei Aluminium 0,896
Dämmstoffen ist weder das Gewicht noch die Beton 0,88
Anzahl Teilchen relevant, hier kommt es auf die Eis 1,377 – 2,1
Kapazität pro Volumen an, man spricht von der Gusseisen 0,46 – 0,54
Wärmespeicherzahl s [J · m–3 · K–1]. Gelegentlich Glas 0,6 – 0,8
wird anstelle der Einheit Joule (J) die ältere Granit 0,79
Einheit Kalorien (cal) benutzt. Es gilt folgende Holz 1,7
Umrechnung: Wachs 2,931
1 J = 0,239 cal Ethanol 2,428
Maschinenöl 1,675
Vor allem bei Gasen hängt die Wärmekapazität
Wasser (20 °C) 4,187
davon ab, ob man Druck oder Volumen bei der
Luft 1,0054
Erwärmung konstant hält; man unterscheidet
Acetylen 1,465
zwischen cp (konstanter Druck) und cv (kons-
ausgedrückt. Wasser ist in punkto Wärmekapa- ist längst nicht so effektiv, er liefert bei gleichem
4-144
zität eine gute Wahl, denn es hat eine spezifische Gewicht wie die Wärmflasche nur 0,84 kJ.
Temperaturabhängigkeit
der spezifischen Wärme- Wärmekapazität von 4,19 kJ / (kg · K). Hätten Sie Aber warum haben Materialien verschiedene
kapazität. Aufgrund quan- ihre Wärmflasche mit reinem Alkohol gefüllt, Wärmekapazitäten?
tenmechanischer Effekte
würden Ihre Füße nur 2,43 kJ an Wärme abbe- Was wir als Wärme fühlen, sind Teilchenbe-
ist die Wärmekapazität
erst bei hohen Tempera- kommen, wenn sich die Flasche um ein Grad wegungen. Je schneller sich die Teilchen bewe-
turen konstant, sie steigt Celsius abkühlt. Auch ein Ziegelstein im Bett gen, desto höher die Temperatur des Körpers.
zunächst mit der dritten Die in einem Körper gespeicherte Wärmeenergie
Potenz der Temperatur.
Oberhalb der sogenann- steckt also in der Bewegungsenergie seiner Teil-
ten Debye-Temperatur chen. Teilchen können sich auf unterschiedliche
(rote und grüne Mar- Weise bewegen: Es gibt drei Raumrichtungen, in
kierung) nähert sie sich
dem konstanten Wert an denen sie sich geradlinig fortbewegen können,
(schwarze Linie). Die rote sie können um eine Achse rotieren, und sofern
Linie zeigt die spezifische mehrere Teilchen miteinander verbunden sind,
Wärmekapazität von
Kupfer, die grüne die von wie dies bei Molekülen oder Kristallen der Fall
Silicium. Keramische Ma- ist, können sie auch Schwingungsbewegungen
terialien haben meist eine ausführen. Man nennt diese Bewegungsmög-
höhere Debye-Temperatur
als Metalle, da diese vom
lichkeiten die Freiheitsgrade eines Teilchens.
Gitterabstand abhängt. Ein ungebundenes Teilchen, das so klein ist,
Bei der Debye-Temperatur dass die Rotationsenergie keine Rolle spielt,
sind alle vorhandenen
hat 3 Freiheitsgrade, da es sich in allen drei
Schwingungsmodi an-
geregt. Aufgrund anhar- Raumrichtungen bewegen kann. Der sogenannte
monischer Anteile in den Gleichverteilungssatz der statistischen Physik
Schwingungen steigt die
besagt, dass sich die Wärmeenergie im Mittel auf
spezifische Wärmekapa-
zität über den konstanten alle Freiheitsgrade gleichmäßig verteilt (ÅKasten
Wert hinaus. Freiheitsgrade, Seite 402).
198
Erde, Wasser, Luft und Feuer
199
KAPITEL 4 Demokrits Erben
200
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Luft sind besonders gute Wärmeleiter: Gäbe Etwas verwickelter ist der Prozess in Fest-
es keine Konvektion, so wäre die Luft wenige körpern. Ihre Atome sind in festen Strukturen
Zentimeter vom Ofen entfernt kalt und Wasser gebunden, Wärmetransport entsteht durch die
würde am Topfboden sehr schnell anfangen zu Ausbreitung von Gitterschwingungen (Phono-
kochen, während die oberen Schichten noch nen) bei kristallinen Körpern oder von Schwin-
kalt wären. Unter Konvektion versteht man gungen entlang von Molekülketten oder -net-
den Transport von Wärmenergie durch Teil- zen bei Polymeren und amorphen Materialien.
chenströme: Die Dichte der erwärmten Luft di- Auf der Basis des Welle-Teilchen-Dualismus
rekt am Heizkörper ist geringer als im übrigen der Quantentheorie kann man in kristallinen
Raum, weshalb sie aufgrund der Schwerkraft Festkörpern Phononen wie Teilchen behandeln
nach oben steigt, ihre Wärme an die umgebende (Å Umbruch: Die Quantentheorie, Seite 103),
Luft abgibt und wieder nach unten sinkt. Kon- die miteinander „kollidieren“ können. Sie ver-
vektionsströme im Kochtopf verteilen die am halten sich also auf ähnliche Weise wie Gasmo-
Boden zugeführte Wärme auf ähnliche Weise, leküle: Die Wärmeleitfähigkeit ist proportional
was man an den Schlieren im heißen Wasser er- zur spezifischen Wärmekapazität und zur mitt-
kennt. Sie entstehen durch Dichteunterschiede leren freien Weglänge der Phononen im Kristall.
des Wassers aufgrund unterschiedlicher Tempe- Aufgrund einer Besonderheit der Phononen im
raturen. Der Brechungsindex des Wassers ist ja Vergleich zu Gasmolekülen haben Kollisionen
von der Dichte abhängig. bei niedrigen Temperaturen kaum Auswirkun-
Fehlende Konvektion sorgt dafür, dass eine gen auf den Wärmetransport; die mittlere freie
Kerze im schwerelosen Raum nach kurzer Zeit Weglänge ist daher nur beschränkt durch die
verlöscht, nämlich dann, wenn der Sauerstoff Abmessungen des Kristalls selbst oder durch
in der Umgebung der Flamme verbraucht ist Gitterfehler, Korngrenzen und Fremdatome.
(dieses Experiment wurde auf der ISS auch In diesem Bereich ist die T3-Abhängigkeit der
durchgeführt). Auf der Erde sorgt die Kon- spezifischen Wärmekapazität maßgebend. Erst
vektion dafür, dass frische Luft seitlich nach- bei höheren Temperaturen spielen Phononen-
strömt, während die heiße Luft nach oben kollisionen eine dominierende Rolle, und die
entweicht. Im schwerelosen Raum sind Flam-
men kugelförmig, da keine Strömung sie nach 4-148
Wärmeleitfähigkeit von
oben zieht. Allerdings: Der geringste Luftzug Kristallen. Reine Einkri-
(zum Beispiel der Atem des Experimentators) stalle aus Lithiumfluorid
lässt die Flamme auch in der Schwerelosigkeit (LiF) zeigen das typische
Verhalten der Wärmeleit-
vergnügt weiterbrennen. fähigkeit nichtleitender
Kristalle: Bei geringen
Temperaturen ist die
Phononen und Elektronen Temperaturabhängigkeit
der spezifischen Wärme-
Jenseits von Infrarotstrahlung und Konvektion kapazität bestimmend. Die
erfolgt der Wärmetransport durch direkte In- mittlere freie Weglänge
der Phononen hängt nur
teraktion der Teilchen untereinander. Bei Ga-
von der Ausdehnung
sen und Flüssigkeiten handelt es sich dabei des Kristalls ab. Ab einer
im Wesentlichen um Stoßprozesse: Bringt man bestimmten Temperatur
ein heißes und ein kälteres Gas zusammen, so spielen Phononenstreuun-
gen innerhalb des Kristalls
können schnelle („heiße“) Gasmoleküle mit die wesentliche Rolle und
langsameren („kalten“) kollidieren, und nach die Wärmeleitfähigkeit
dem Stoß haben beide eine mittlere Geschwin- sinkt.
201
KAPITEL 4 Demokrits Erben
freie Weglänge sinkt, während die spezifische das heißt ihre mittlere freie Weglänge sinkt. Noch
Wärmekapazität relativ konstant bleibt. Folg- genauere Analysen berücksichtigen auch Wech-
lich sinkt die Wärmeleitfähigkeit (Å Abbildung selwirkungen zwischen den Elektronen. Wir
4-148, Seite 201). werden beim Phänomen der Supraleitung sehen,
wie wichtig Phononenstreuung und Elektron-
Metalle sind gute (Wärme-)Leiter Elektron-Wechselwirkungen sein können.
202
Erde, Wasser, Luft und Feuer
203
KAPITEL 4 Demokrits Erben
den Elektronenschalen weitgehend abgeschirmt. Fall ist der Stromfluss mit einem Stofftransport
Beide Effekte zusammen bewirken, dass die Au- verbunden. Die Ionen werden an den Elektroden
ßenelektronen von Metallen nur recht locker durch Aufnahme bzw. Abgabe von Elektronen
an ihre Atomrümpfe gebunden sind. Schon die neutralisiert.
Wärmebewegung bei Raumtemperatur genügt,
um sie loszureißen. Liegen Metallatome wie Energiebänder
in metallischen Festkörpern oder Flüssigkeiten
(wie Quecksilber) eng beieinander, so können In Festkörpern entstehen aufgrund der Bindun-
sich diese äußeren Elektronen sehr leicht von gen zwischen den Atomen aus den einzelnen
ihrem angestammten Platz lösen und im gesam- Energieniveaus der Elektronen in den äußeren
ten Metall herumvagabundieren. Da sie sich Schalen sogenannte Energiebänder, in denen
gegenseitig abstoßen, werden sie sich im Metall die erlaubten Energiezustände sehr dicht bei-
im Mittel gleich verteilen. Allerdings können sie sammen liegen. (ÅAbbildung 4-153). Struktur
den Stoff nicht ohne weiteres verlassen, denn und Zahl der entstehenden Bänder sind je nach
würden einige fehlen, so verbliebe sofort ein Elektronenkonfiguration und Bindungsart der
stark positiv geladener Körper, der sie wieder beteiligten Atome verschieden. So bildet Na-
in den Verbund zurückzieht. Das sieht natür- trium aus den 3s- und 3p-Schalen jeweils ein
lich anders aus, wenn auf der einen Seite eines Band, während bei Kohlenstoff aus den 2s- und
Metallstücks ein Elektronenüberschuss herrscht 2p-Schalen durch die Hybridisierung zwei neue
und auf der anderen Seite ein Mangel. Unter dem Bänder entstehen. Zwischen den unterschiedli-
Einfluss eines elektrischen Feldes können sich chen Bändern bestehen sogenannte Bandlücken,
die negativ geladenen Elektronen ohne weiteres das heißt verbotene Energiebereiche. Damit ein
im Leiter verschieben. Werden von einer elektri- Elektron in das höhere Band wechseln kann,
schen Quelle an einer Stelle des Metalls ständig muss die der Lücke entsprechende Energie zu-
Elektronen zu- und an einer anderen Stelle wie- geführt werden, zum Beispiel durch ein Photon
der abgeführt, so kommt es zu einem kontinu- oder durch Wärmezufuhr. Eine solche Lücke
ierlichen Stromfluss. In schlechten Leitern sind besteht vor allem bei Festkörpern mit Atom-
die Elektronen weniger leicht beweglich. Mit oder Ionenbindung zwischen dem sogenannten
dieser Modellvorstellung kann man auch ver- Valenz- und dem Leitungsband. Im Valenzband
stehen, warum die Leitfähigkeit von Metallen in sind die äußeren, an den Bindungen beteiligten
der Regel bei höheren Temperaturen abnimmt. Elektronen (die Valenzelektronen) lokalisiert,
Höhere Temperatur bedeutet stärkeres Zittern während das direkt darüber liegende Leitungs-
der Atomrümpfe um ihre Ruhepositionen. Die band in der Regel leer ist. Dass zwischen bei-
4-152
Ionenleitfähigkeit. Leitet
Elektronen werden dann einfach häufiger und den eine Lücke existiert, ist leicht zu verstehen,
man elektrischen Strom heftiger angestoßen und aus ihrer Strömungs- wenn man bedenkt, dass eine gewisse Energie
durch eine Salzlösung, so richtung in Richtung des elektrischen Feldes notwendig ist, um die Bindungen zu lösen. Hat
wird er darin durch Ionen
geworfen, und ihre Bewegung unterliegt einem es allerdings ein Elektron geschafft, die Lücke
geleitet. Man kann dies
gut beobachten, wenn zunehmenden Widerstand. zu überspringen und in das Leitungsband zu
man einige Körnchen In Salzlösungen liegen Ionen (von griech. gelangen, kann es sich aufgrund der eng beiei-
Kaliumpermanganat hin-
ion, der Wandernde) vor, die durch Übertragung nander liegenden Energieniveaus praktisch frei
einstreut. Die stark gefärb-
ten Manganat-Anionen von Elektronen zwischen verschiedenen Teilchen bewegen. In Metallen sind die äußeren Elektro-
wandern in Richtung des zustande kommen. Diese negativ oder positiv nen frei beweglich, es gibt daher keine oder nur
positiven Pols. Die entge- geladenen Ionen wandern im elektrischen Feld in eine extrem schmale Lücke zwischen Valenz- und
gengesetzt wandernden
Kalium-Kationen sind nicht entgegengesetzte Richtungen und transportieren Leitungsband. Deshalb sind Metalle gute elek-
sichtbar. dabei Ladung (ÅAbbildung 4-152). In diesem trische Leiter. Anders verhält es sich bei Halblei-
tern wie reinem Silicium und bei Isolatoren wie
Diamant. Halbleiter besitzen eine kleine Bandlü-
cke von maximal 3 eV, in der Regel 0,5 – 1,5 eV.
Bei niedrigen Temperaturen verhalten sich Halb-
leiter wie Isolatoren, doch bei thermischer Anre-
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
4-154
Fermi-Verteilung. Die
Fermi-Verteilung be-
schreibt die Besetzungs-
wahrscheinlichkeiten von
Energiezuständen für
Fermionen, zu denen auch
die Elektronen gehören.
Beim Fermi-Niveau EF be-
trägt die Besetzungswahr-
scheinlichkeit 50 Prozent
bei Temperaturen über
0 Kelvin. Bei 0 Kelvin wä-
ren alle Zustände unter-
4-153
halb von EF besetzt
Bändermodell. Schematische Darstellung der Besetzung
(f(E) = 1), alle darüber
erlaubter Energiebänder durch Elektronen bei einem Iso-
liegenden Zustände sind
lator, Halbleiter und Metall.
unbesetzt (f(E) = 0).
wechseln. Im unteren Band hinterlassen sie ein Stromfluss aufgrund des sinkenden elektrischen
Loch, das von benachbarten Elektronen aufge- Widerstandes, was zu einem weiteren Ansteigen
füllt wird. Isolatoren haben eine Bandlücke von der Temperatur führt, und so fort. Bei Isolatoren
mehr als 3 eV. Die Elektronen liegen gebunden ist die Bandlücke meist so groß, dass auch die
im voll besetzten Valenzband vor. So können sie thermische Energie der schnellsten Elektronen
bestenfalls bei sehr hohem Energieaufwand die nicht ausreicht, sie zu überspringen.
Energielücke überwinden und in das unbesetzte
Leitungsband wechseln. Dotierung –
Wenig Stoff mit großer Wirkung
Fermi-Niveau
Reine Halbleiter sind ziemlich schlechte Leiter.
Auch in Festkörpern mit Energiebändern gilt So ist die Leitfähigkeit von Silicium hundertmil-
das Pauli-Prinzip, das es nicht zulässt, dass sich liardenmal geringer als die des Kupfers. Es gibt
zwei Elektronen den gleichen Zustand teilen. allerdings eine Möglichkeit, die Leitfähigkeit
Deshalb sind auch nahe beim absoluten Tem- durch kleine Zugaben dramatisch zu erhöhen:
peraturnullpunkt (0 Kelvin oder –273,15 °C) Ersetzt man nur etwa jedes fünfhunderttau-
höher liegende Energieniveaus besetzt. Das sendste Siliciumatom durch ein Boratom, so
Fermi-Niveau (EF), benannt nach dem italie- wird die Leitfähigkeit mehr als eine Million mal
nischen Physiker ENRICO FERMI (1901–1954), größer! Wie kann das sein?
ist das Energieniveau, bei dem am Temperatur- Den Vorgang, in einen Halbleiterkristall
nullpunkt alle Energiezustände mit Elektronen Fremdatome einzuschleusen, nennt man Do-
besetzt sind. Alle darüber liegenden Niveaus sind tierung. Es handelt sich um nichts anderes als
leer. Bei höheren Temperaturen sammeln sich die gezielte Erzeugung von Punktdefekten in
auch oberhalb des Fermi-Niveaus Elektronen an, Kristallgittern durch Fremdatome (ÅNichts ist
gleichzeitig entstehen unterhalb EF freie Niveaus. vollkommen – Kristalldefekte, Seite 180). Ent-
Die senkrechte Kante der Energieverteilung flacht scheidend für die Dotierung ist das Einschleusen
ab (ÅࡳAbbildung 4-154). Bei Metallen liegt das von Atomen, die entweder ein Valenzelektron
Fermi-Niveau innerhalb eines Bandes, während mehr oder eines weniger für die Bindung zur
es bei Halbleitern und Isolatoren in der Bandlücke Verfügung stellen können als die Halbleiteratome
zwischen Valenz- und Leitungsband liegt. Ist wie selbst. So stehen in Siliciumkristallen jeweils vier
bei Halbleitern die Lücke klein genug, so treten Elektronen pro Siliciumatom für kovalente Bin-
mit zunehmender Temperatur mehr Elektronen dungen zur Verfügung. Wird eines dieser Atome
in das Leitungsband über, die Leitfähigkeit von durch Phosphor ersetzt, der über fünf Valenzelek-
Halbleitern steigt daher mit steigender Tempera- tronen verfügt, so hängt eines dieser Elektronen
tur. Dies ist der Grund dafür, dass Halbleiterchips sozusagen „in der Luft“. Dies bedeutet, dass es
leicht „durchbrennen“, wenn sie zu heiß wer- r einen Energiezustand dicht unterhalb des Lei-
den: Durch steigende Temperaturen steigt der tungsbandes, aber oberhalb des Valenzbandes
205
KAPITEL 4 Demokrits Erben
4-155
Dotierung. Fremdatome
im Gitter mit einem Elek-
tron zuviel (Phosphor, P)
erzeugen Energieniveaus
(ED) dicht unterhalb des
Leitungsbands. Elektro-
nen auf diesem Niveau
gelangen leicht in das
Leitungsband und tragen
zur Leitfähigkeit bei (n-
Dotierung). Fremdatome
mit einem Elektron zu we-
nig (Bor, B) erzeugen Ni-
veaus (EEA) dicht oberhalb
des Valenzbandes. Diese
können durch Elektronen
aus dem Valenzband be-
einnimmt. Durch thermische Anregung gelangt die wiederum durch ein Valenzelektron besetzt
setzt werden. Die dadurch
im Band entstehenden dieses Elektron leicht in das Leitungsband. Wie werden kann, und so fort. Im Gegensatz zur Be-
„Löcher“ können sich als man nachrechnen kann, genügen bereits wenige wegung von Elektronen im Leitungsband könnte
quasi positive Ladungen Fremdatome, um die Leitfähigkeit markant zu er- man bei dieser Art der Dotierung also meinen,
in entgegengesetzter
Richtung wie Elektronen höhen. Dotiert man hingegen mit Fremdatomen, es bewegten sich „Löcher“. Die Löcher wandern
bewegen und damit zur die weniger als vier Valenzelektronen besitzen, bei einer angelegten Spannung in entgegengesetz-
Leitfähigkeit beitragen (p- wie zum Beispiel Bor, so bleibt gewissermaßen ter Richtung zu der der Elektronen und wirken
Dotierung).
eine Elektronenposition leer. Das Energieniveau wie eine positive Ladung, man spricht daher bei
dieser Leerstelle liegt allerdings aufgrund der Stö- dieser Art von Dotierung von p-Dotierung. Die
rung des Gitters durch das Fremdatom nicht in- Dotierung mit Fremdatomen mit überschüssi-
nerhalb, sondern dicht oberhalb des Valenzban- gen Elektronen nennt man n-Dotierung (n wie
des und kann leicht von einem anderen Elektron negativ). Die entstehenden Halbleiter nennt man
aus dem Valenzband besetzt werden. Dadurch entsprechend p- bzw. n-dotierte Halbleiter.
entsteht im Valenzband eine neue Leerstelle,
Sperrschichten – Der Trick der Chips
4-156
Sperrschicht. Die Kombi-
nation von n- und p-do- Auch dotierte Halbleiter wären wenig spannend,
tierten Halbleitern in einem wenn die Kombination von n- und p-dotierten
sogenannten pn-Übergang Halbleitern nicht einige ganz erstaunliche Ef-
lässt den Strom nur in ei-
ner Richtung fließen. Liegt fekte lieferte. Diese Effekte sind verantwortlich
eine positive Spannung an für den Siegeszug der Halbleiterchips.
der p-Seite (rechts) und Kombiniert man eine p-dotierte mit einer
eine negative Spannung
an der n-Schicht (links) n-dotierten Schicht, so vermag ein elektrischer
an, so wandern Elektronen Strom nur in eine Richtung zu fließen (ÅAbb.
und Löcher aufeinander 4-156) Ist die p-Seite positiv und die n-Seite
zu und neutralisieren sich
(Rekombination), also
negativ, so wandern beide Arten von Ladungs-
kann ein Strom fließen. trägern aufeinander zu und neutralisieren sich
Bei umgepolter Spannung am pn-Übergang. Bei entgegengesetzter Polung
verarmt der Bereich um
den Schichtübergang an
wandern die Ladungsträger in entgegengesetzte
Ladungsträgern, es kann Richtung und der Übergang verarmt an Ladungs-
keine Rekombination trägern, ein Stromfluss ist praktisch nicht mög-
stattfinden, der Halblei-
lich. Eine solche Anordnung bezeichnet man als
ter „sperrt“ den Strom,
weshalb man bei dieser Diode. Miteinander kombinierte Dioden vermö-
Anordnung auch von einer gen einen Wechselstrom in einen Gleichstrom zu
Sperrschicht spricht. verwandeln, weshalb sie vor allem in sogenann-
ten Gleichrichtern zum Einsatz kommen. Eine
Anordnung der Form npn oder pnp bildet einen
Transistor. Die Kombination von zwei Übergän-
gen bewirkt, dass durch einen geringen Strom
206
Erde, Wasser, Luft und Feuer
207
KAPITEL 4 Demokrits Erben
auch wenn hier komplexere Prozesse mitspielen. anziehend auf andere Elektronen und vermittelt
Aber was passiert, wenn man einen Leiter im- so eine schwache Bindungskraft. Durch die im
mer mehr abkühlt? Erwartungsgemäß geht der Vergleich zur Elektronengeschwindigkeit viel
elektrische Widerstand dabei zurück, und zwar langsamere Reaktion des aus vergleichsweise
bei metallischen Leitern um etwa 1/273 pro schweren Atomrümpfen bestehenden Gitters bil-
Kelvin Temperaturunterschied. Er sollte nahe det sich diese Anziehungszone etwa 100 nm hin-
beim absoluten Temperaturnullpunkt einen sehr ter einem Elektron. In diesem Abstand sind aber
geringen Wert erreichen. Trotzdem sollte der die Coulombschen Abstoßungskräfte zwischen
Wert null nicht erreicht werden, da nicht jeder den gleich geladenen Elektronen bereits vernach-
Beitrag verschwindet. lässigbar. Es kommt zur Bindung jeweils zweier
Doch im Jahr 1911 machte der Niederländer Elektronen, den sogenannten Cooper-Paaren.
HEIKE KAMERLINGH ONNES (1853 – 1926) eine Diese Paare sind es, die geleitet werden, nicht
überraschende Entdeckung: Bei Abkühlung von einzelne Elektronen. Fermionen unterliegen dem
Quecksilber auf weniger als 4,19 Kelvin verlor Pauli-Prinzip, wonach keine zwei solcher Teil-
das Metall jeglichen elektrischen Widerstand. chen denselben Quantenzustand einnehmen
Die meisten Metalle (außer Alkali- und Erdal- können. Koppeln sich aber zwei Elektronen mit
kalimetallen sowie Kupfer, Silber und Gold) und halbzahligem Spin zu Paaren, so verhält sich
viele Legierungen zeigen dieses Verhalten unter- diese Kombination wie ein einzelnes neues Teil-
halb einer für den jeweiligen Stoff charakteristi- chen mit ganzahligem Spin (Boson). Bosonen
schen Sprungtemperatur TC. Man sagt, sie seien verhalten sich aber völlig anders als Fermionen.
zu Supraleitern geworden (genau genommen: zu Sie sind geradezu gesellig und können prob-
Supraleitern des Typs 1). Stößt man zum Beispiel lemlos allesamt den gleichen Energiezustand
4-158 in einer ringförmig geschlossenen Drahtschleife einnehmen, natürlich auch gerne den niedrigsten
Meissner-Ochsenfeld- aus einem solchen Material von außen einen und damit stabilsten. So wird insgesamt ein
Effekt. Magnetfelder kön- Strom an, so fließt dieser dauerhaft von selbst Energiegewinn erzielt, und die Cooper-Paare
nen in Supraleiter nicht
eindringen. (B ist die mag- weiter, erkennbar an dem dadurch entstehenden bilden einen den ganzen Kristall umfassenden
netische Feldstärke) Magnetfeld. Energiezustand. In diesem Zustand werden die
Für dieses erstaunliche Verhalten wurde erst Cooper-Paare nicht mehr von lokalen Gitterstö-
im Rahmen der BCS-Theorie (JOHN BARDEEN, rungen beeinflusst, und der elektrische Wider-
LEON N. COOPER und JOHN R. SCHRIEFFER) 1957 stand verschwindet völlig.
eine Erklärung gefunden. Wie schon der Entde- Im Jahr 1986 entdeckten J O HANNE S
cker des Phänomens vermutete, lässt sich der G E O R G B EDN O RZ u n d K ARL A L EX M ÜL LE R
Leitungsmechanismus im Detail nur quanten- am IBM-Forschungszentrum bei Zürich, dass
mechanisch verstehen, denn er beruht auf den auch bestimmte Keramikverbindungen recht
4-159
Cooper-Paar-Kopplung. Eigenschaften der Elektronen, die einen halbzah- komplexer Zusammensetzung (wie das Cuprat
Durch die langsameren ligen Spin tragen und damit zu den Fermionen YBa2Cu3O7) Supraleitung zeigen, und dies sogar
Ausgleichsbewegungen
gehören. Im Kern läuft die Erklärung darauf schon bei viel höheren Sprungtemperaturen.
der schweren Atomrümpfe
entsteht hinter einem hinaus, dass sich Elektronen bei diesen tiefen Man nennt Stoffe mit einer Sprungtemperatur
bewegten Elektron eine Temperaturen über das Kristallgitter indirekt von über 23 Kelvin „Hochtemperatur“ -
positive Ladungsverdich- gegenseitig beeinflussen. Bewegt sich ein Elektron Supraleiter, obwohl dieser Begriff vielleicht
tung im Gitter. Nach der
BCS-Theorie erfolgt der durch einen Kristall mit geringer Störung durch auch bei den höchsten bekannten Werten (wie
Ladungstransport zumin- Wärmebewegung, so erzeugt es hinter sich eine 138 Kelvin bei Hg0.8Tl0.2Ba2Ca2Cu3O8) etwas
dest in Supraleitern erster Verdichtungszone positiver Ladung, denn es zieht gewagt erscheint. Auf der Erde kommen so
Art durch so entstehende
gekoppelte Elektronen- die Atomrümpfe in der Umgebung an. (ÅAbbil- n iedri g e Tem p eraturen nir g ends natürlich
paare, die sich wie Boso- dung 4-159). Diese Verdichtung wirkt wiederum vor. Immerhin benötigt man für die Kühlung
nen verhalten. kein flüssiges Helium mehr, sondern flüssiger
Stickstoff (Siedepunkt ca. 77 Kelvin) reicht
v ölli g aus. Für die technische Anwendun g
ist das angesichts des hohen Preises flüssigen
Heliums ein riesiger Unterschied.
Obwohl die Nutzung dieser Materieeigenschaft
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
ist, und auch die Sprödigkeit der Keramiken für Korngrenzen zurückgeführt. Die Titannitrid-
enorme Probleme bei der Herstellung entspre- Körner bilden untereinander sogenannte Jose-
chender Leiter sorgt, sind Supraleiter essenziell phson-Kontakte aus. Die oben beschriebenen
für viele Anwendungen, vor allem wenn es um die Cooper-Paare aus jeweils zwei eng gekoppelten
Erzeugung sehr starker Magnetfelder geht. Für Elektronen können sich nicht durch die Korn-
besonders beeindruckende Effekte sorgt auch die grenzen bewegen, sondern diese nur mit Hilfe
Beobachtung, dass Supraleiter alle Magnetfeldli- des quantenmechanischen Tunneleffekts über-
nien bis auf eine dünne Oberflächenschicht aus winden (ÅࡳVerbotene Wege – Der Tunneleffekt,
ihrem Inneren verdrängen (ÅAbbildung 4-158 Seite 207). Ein Ladungsträger befindet sich also
und Kasten Spontane Symmetriebrechung in mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit bereits im
Festkörpern, Seite 438). Aus diesem 1933 von benachbarten Korn, was in der Summe zu einem
WALT L HER MEISSNER und ROBERT OCHSENFELD messbaren Strom, dem Tunnelstrom führt. Al-
entdeckten Effekt folgt, dass ein Supraleiter über lerdings funktioniert der Leitungsmechanismus
einem Magnetfeld frei schweben kann. nicht, wenn es bei sehr niedrigen Temperaturen
Theoretisch verstanden sind diese Supraleiter zu einem Resonanzphänomen kommt, bei dem
vom Typ 2 allerdings noch längst nicht. Und man sich alle Kontakte als in Phase schwingende
deshalb gleicht die Suche nach neuen Stoffen Pendel vorstellen kann. Dadurch wird die Über-
mit noch höherer Sprungtemperatur eher einem trittswahrscheinlichkeit extrem gering, und das
Stochern im Nebel. Niemand weiß heute, ob Material wird zum Supraisolator. Was die Sache
jemals Supraleitung bei Raumtemperatur mög- möglicherweise für Quantencomputer interes-
lich sein wird. sant macht: Ähnlich wie die Supraleitfähigkeit
bei großen Magnetfeldern oder hohen Strömen
zusammenbricht, lässt sich die Superisolation
Supraisolation durch Magnetfelder oder hohe Spannungen ab-
schalten. Und gesteuerte Schalter sind die Herz-
Das Pendant zur Supraleitung wäre eine Su- stücke eines jeden Computers.
perisolation, ein unendlich hoher elektrischer
Widerstand.
Fast hundert Jahre hat es gedauert, bis es Magnetismus
im Jahr 2008 einer internationalen Gruppe
von Wissenschaftlern um VALERII VINOKUR am Magnetische Eigenschaften von Materie haben
Argonne National Laboratory in Illinois und uns bereits in Zusammenhang mit Phasenübergän-
A YANA BATURIN
TATY A A am Institut für Halbleiter- gen beschäftigt. Wir hatten dabei angemerkt, dass
physik in Nowosibirsk sowie Mitarbeitern der der Magnetismus von Festkörpern auf der mehr
Universität Regensburg, Deutschland, und der oder weniger einheitlichen Ausrichtung sogenann-
Universität Leuven, Belgien, endlich gelang, auch ter Elementarmagnete und deren Wechselwirkung
diesen Materiezustand nachzuweisen. miteinander erklärt werden kann. Was sind aber
Die Forscher hatten an einem ca. 1 nm dün- nun diese ominösen Elementarmagnete, und wie
nen Film aus Titannitrid gearbeitet, einem gold- lässt sich Magnetismus auf Basis von atomaren
farbenen Material, das häufig zur Beschichtung Teilchen verstehen? Auf welcher Grundkraft ba-
von Hartmetallwerkzeugen eingesetzt wird. Nor- r sieren die beobachteten Effekte, und wie ergeben
malerweise ist Titannitrid unterhalb von 4,86 K sich die magnetischen Materieeigenschaften aus
supraleitend. Herstellungsbedingt besitzen sehr atomaren und subatomaren Strukturen?
dünne Filme allerdings eine körnige Struktur, so Obwohl Magnetismus als Naturkraft seit
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
dass sich die Supraleitfähigkeit auf einzelne Inseln langem wissenschaftlich gut untersucht ist,
beschränkt. Dies erwies sich als Schlüssel für die hat er für viele Menschen bis heute etwas Un-
Superisolation. Unterhalb von 70 mK sank näm- heimliches. Schließlich handelt es sich um eine
lich die Leitfähigkeit dünner Schichten wieder und unsichtbare Kraft, die in solchen Größenord-
erreichte bei einer Temperatur von 20 mK den nungen der Distanz und Stärke wirkt, dass
Wert null, also einen unendlich hohen Widerstand. wir sie ähnlich gut wie die Gravitationskraft 4-160
Magnetit. Natürlich vor-
Dieses erstaunliche Verhalten wird auf quan- beobachten können. Im Gegensatz zu jener kommender Magneteisen-
tenmechanische Effekte der Ladungsträger an aber können Magnetkräfte leicht manipuliert stein (Fe2O3) aus Chile.
209
KAPITEL 4 Demokrits Erben
werden. Ein weiterer Unterschied ist, dass sie modells „Terella“, konnte GILBERT das Verhal-
nicht nur anziehend, sondern auch abstoßend ten von Magnetnadeln bis ins Detail erklären
wirken können. Physikalisch wird die Über- (Å Abbildung 4-161). Experimente mit einer
tragung magnetischer Kräfte heute durch ein absichtlich korrodierten Terella erlaubten ihm
unsichtbares Feld beschrieben, das Magnetfeld, sogar eine Erklärung für Kompassmissweisun-
und als Spezialfall des Elektromagnetismus be- gen im Nordatlantik.
handelt. Magnete üben auch Kräfte auf bewegte
elektrische Ladungen aus, und diese wiederum Magnetfeld
erzeugen stets Magnetfelder. Neben der genann-
ten Gravitation sowie der schwachen und der Der Begriff wurde zur Beschreibung der magne-
4-161 starken Kernkraft gilt der Elektromagnetismus tischen Wirkungen in einem bestimmten Raum-
Gilberts Terella. Modell
des Erdmagnetfelds mit als eine der vier Grundkräfte, die unsere Welt bereich eingeführt. Ein Magnetfeld kann durch
Magnetnadeln (aus „De zusammenhalten. magnetische Materialien, elektrische Ströme oder
Magnete“, 1600) Die Erscheinung des Magnetismus ist in die Änderung eines elektrischen Feldes entstehen.
China mindestens seit der Zeitenwende bekannt Materie mit magnetischen Eigenschaften erfährt
(ÅSeltsame Kräfte: Elektrizität und Magnetis- in einem Magnetfeld eine Kraft. Diese ist stets
mus, Seite 82). Um den Ursprung des Namens so gerichtet, dass ein energieärmerer Zustand
ranken sich zahlreiche Legenden. Eine davon erreicht wird, wenn die Materie der Kraft folgt.
geht auf die griechische Stadt Magnesia zurück,
in deren Umgebung magnetische Erze gefunden Magnetpole
wurden. Mythen und Sagen berichten auch von
riesigen Magnetbergen im Meer, die allen zu Magnetpole beschreiben die Stellen stärkster
nahe kommenden Schiffen die eisernen Nägel Kraftwirkung eines Magneten. Gleichnamige
aus den Planken rissen und sie so ins Verderben Pole stoßen sich ab, ungleichnamige ziehen sich
stürzten. Einem Mann namens Magnes sollen an. Im Gegensatz zu elektrischen Ladungen
4-162 in einer anderen Geschichte auf magnetischem konnten – obwohl von der Theorie nicht ausge-
Magnetpole und Ma- Boden sogar die Nägel aus den Schuhen gezogen schlossen – experimentell bisher keine magne-
gnetfeld. Magnetpole
worden sein. Alle diese Effekte würden aber so tischen Monopole als echte Elementarteilchen
begegnen uns stets im
Doppelpack. Aus didak- gewaltige Magnetfeldstärken erfordern, dass sie nachgewiesen werden. Magnetische Pole be-
tischen Gründen werden getrost als Seemannsgarn gelten dürfen. Mag- zeichnen daher zumeist die Aus- bzw. Eintritts-
magnetische Nordpole in
netismus in dieser Größenordnung kann nicht bereiche besonders dicht gepackter Feldlinien
der Physik stets rot darge-
stellt, Südpole grün. Ma- mit Dauermagneten erzielt werden und kommt an den Enden eines Dauermagneten. Allerdings
gnetische Feldinien sind schon gar nicht natürlich auf der Erde vor. wurden in bestimmten exotischen Keramikmate-
so definiert, dass sie im Der englische Arzt und Physiker WILLIAM rialien wie Dysprosiumtitanat (Dy2Ti2O7) inzwi-
Außenbereich eines Ferro-
magneten vom Nord- zum GILBERT (1544 – 1603) spielte für das wissen- schen Quasiteilchen entdeckt, die sich ähnlich
Südpol verlaufen, im In- schaftliche Verständnis magnetischer Kräfte eine wie magnetische Monopole verhalten. Dabei
nenraum aber vom Süd- ähnlich entscheidende Rolle wie seine Zeitge- handelt es sich jedoch um Wirbelschläuche von
zum Nordpol.
nossen KEPLER und GALILEI für das Verständnis Elementarmagneten, an deren Enden ähnliche
Achtung: In der Nähe des der Gravitation. Er sammelte sämtliche ihm magnetische Eigenschaften auftreten, wie man
geographischen Nordpols zugängliche Literatur über Magnetismus und bei einem echten Monopol erwarten würde.
der Erde liegt der magne-
tische Südpol!
Elektrizität (deren Bezeichnung er prägte), über-
prüfte die Berichte und führte zahlreiche eigene Feldlinien
Experimente durch. Sein Wissen fasste er in
dem im Jahre 1600 erschienenen monumentalen Feldlinien wurden zur Veranschaulichung der
Werk De magnete zusammen. Richtung und Stärke eines Feldes eingeführt.
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
In seinen Versuchen benutzte GILBERT natür- Sie werden häufig zur Beschreibung elektrischer,
liche Magneteisensteine aus „loadstone“, dem magnetischer und gravitativer Felder eingesetzt.
Mineral Magnetit (Fe2O3), aber auch künstlich Magnetnadeln oder Eisenspäne an vielen Punk-
magnetisiertes Eisen. Er kannte den induzierten ten eines Magnetfeldes können den ungefähren
Magnetismus (die zeitweilige Magnetisierung Verlauf der magnetischen Feldlinien anzeigen.
von Eisen unter dem Einfluss eines Magneten). Bei magnetisierten Materialien scheinen die Feld-
Anhand einer magnetischen Kugel, seines Erd- linien an Magnet-Nordpolen zu entstehen und
21
2 1
100
Erde, Wasser, Luft und Feuer
im Außenraum bogenförmig zum Südpol hin zu nium oder Kupfer unterliegen keinen offensicht-
211
KAPITEL 4 Demokrits Erben
Kraft. Diese Kraft ist auch für das Drehen eines Magnetfeld verschwindet. Durch Variation der
Elektromotors verantwortlich. Zusammensetzung und des Herstellungsverfah-
Der Gedanke liegt nahe, dass die Bahnbewe- rens und damit der Kristallstrukturen lassen sich
gungen der Elektronen in Atomen, deren Eigen- hartmagnetische Stoffe erzeugen, die ihre Mag-
rotation und die Rotation des Atomkerns für die netisierung auch nach Entfernung eines äußeren
magnetischen Eigenschaften von Materie ver- Magnetfeldes dauerhaft beibehalten, aber auch
antwortlich sind. Allerdings sind die klassischen weichmagnetische Stoffe, die sie schnell wieder
Begriffe „Bahn“ und „Rotation“ in der Welt verlieren. Hartmagnetische Materialien können
der Atome aufgrund der Heisenbergschen Un- durch Hitzeeinwirkung (über den Curie-Punkt)
schärferelation nicht mehr anwendbar. Trotzdem oder durch schnell wechselnde Magnetfelder
kann man das Modell des Magnetismus durch wieder entmagnetisiert werden. Die Elementar-
Bahnbewegungen der Anschaulichkeit halber in magnete werden dabei quasi durcheinander ge-
vielen Fällen nutzen, da die korrekten quanten- schüttelt, und ihre Felder gleichen sich im Mittel
mechanischen Modelle im Prinzip zu gleichen aus. Die „Elementarmagnete“ sind ein einfaches
Ergebnissen führen (ÅSpin, Seite 130). Modell für das magnetische Verhalten einzelner
Magnetismus von Festkörpern setzt sich aus Atome oder Moleküle, aus denen ein solches
der Summe der magnetischen Eigenschaften magnetisches Material aufgebaut ist.
ihrer kleinsten Teilchen zusammen, den Ele-
mentarmagneten. Dies können Atome, Ionen, Magnetismus steckt in den Atomen
Moleküle oder auch quasi freie Elektronen sein,
wie sie in Metallen vorkommen. Insbesondere Wie oben erwähnt, erzeugen die Elektronen
der sehr starke Ferromagnetismus ist ein koope- der Atomhülle und sogar Kernteilchen Mag-
ratives Phänomen. Es entsteht durch Kopplung netfelder, die allerdings nicht mehr klassisch,
vieler solcher Elementarmagnete. Ferromagneti- sondern nur mithilfe der Quantentheorie zu
sche Materialien verstärken äußere Magnetfel- verstehen sind. Die Bewegung eines Elektrons in
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
der durch Ausrichtung ihrer Elementarmagnete, der Atomhülle ist grundsätzlich verschieden von
und sie bleiben magnetisch, wenn das äußere der Bahnbewegung eines Planeten um die Sonne
4-166
Magnetfeld einer Spule.
Das torusförmige Magnet-
feld einer Spule oder Lei-
terschleife ergibt sich aus
dem Ringfeld um einen
elektrischen Strom.
4-167
Kreisstrom und Magnetfelder. Der Stromfluss I durch einen Leiter erzeugt ein Magnetfeld (links). Ein Kreisstrom er-
zeugt ein Magnetfeld ähnlich dem eines Stabmagneten (Mitte). Magnetfeldlinien verlaufen im Außenbereich eines
Magneten vom Nordpol zum Südpol (rechts).
4-168
Magnetisches Moment. Das magnetische Moment μ eines Magneten
kennzeichnet die Richtung vom Süd- zum Nordpol des Magneten. Das
Drehmoment M, das einen solchen Magneten in einem externen Mag-
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
212
Erde, Wasser, Luft und Feuer
und selbst von der semiklassischen Vorstellung wie stark die Elementarmagnete miteinander
besonderer Bahnen im Bohrschen Atommodell. gekoppelt sind.
Korrekter ist das quantenmechanische Modell
von Orbitalen. Diese bestimmen die Form der Diamagnetismus
Aufenthaltswahrscheinlichkeiten von Elektronen
in der Atomhülle. Auch die quantenmechanische Das Zustandekommen von Diamagnetismus ist
Eigenschaft des Spins kann nur in sehr grober verhältnismäßig einfach oberflächlich zu be-
Näherung als die Rotation eines Teilchens um schreiben: Bringt man eine beliebige Substanz in
seine eigene Achse verstanden werden (Å Spin, ein magnetisches Feld, so induziert dieses in den
213
KAPITEL 4 Demokrits Erben
ckel sind auch viele Legierungen dieser Elemente an ihren Rändern, deren Magnetisierungsrich-
mit anderen Metallen sowie Verbindungen mit tung zufällig etwa mit der Feldrichtung überein-
Nichtmetallen stark magnetisch. Einige andere stimmt. Diese einheitliche Ausrichtung kann bei
Legierungen magnetisierbarer Elemente, zum den oben erwähnten hartmagnetischen Stoffen
Beispiel hochlegierte Edelstähle, zeigen ande- auch nach Entfernen des äußeren Feldes erhalten
rerseits kaum magnetische Eigenschaften. Sie bleiben, es entsteht ein Dauermagnet. Beim Erhit-
können dies leicht mit einem Magneten an Ihrer zen über die ferromagnetische Curie-Temperatur
Spüle ausprobieren. (ÅPhasenübergang, Seite 166) wird die Wärme-
Im Gegensatz zu paramagnetischen Stoffen bewegung so stark, dass sie die Kopplungskräfte
4-171
sind die magnetischen Momente der einzelnen zwischen den Elementarmagneten überwiegt und
Hysterese.Hartmagneti- Teilchen bei ferromagnetischen Stoffen nicht die Magnetisierung wieder aufhebt.
sches Material. unabhängig voneinander. Ihre Magnetfelder be-
einflussen sich und können sich auch spontan Ferrimagnetismus
parallel ausrichten. Die Kopplung und damit
gleiche Ausrichtung der magnetischen Momente Ähnlich wie beim Ferromagnetismus sind die
erstreckt sich dabei aber nicht einheitlich durch magnetischen Momente einzelner Teilchen auch
das ganze Material. Sie bildet einen unregelmä- beim Ferrimagnetismus gekoppelt. Es liegt aber
ßigen Flickenteppich. Diese als Weißsche Bezirke ein komplexerer Bau mit zwei verschiedene Arten
bezeichneten Bereiche gleicher Magnetisierung magnetischer Zentren vor. Die Spinmomente ei-
haben einen typischen Größenbereich von ca. nes bestimmten Typs magnetischer Zentren rich-
10 Nanometern bis hin zu wenigen Mikrome- ten sich dabei parallel aus, die des zweiten Typs
tern. Ihre Ausrichtung ist statistisch verteilt, so hingegen antiparallel dazu. Dieses führt zu einer
4-172 dass der Gesamtkörper ohne äußeres Magnetfeld teilweisen Kompensation der Felder und daher zu
Hysterese.Weichmag- unmagnetisch erscheint. Bei Anlegen eines äu- im Vergleich schwächerem Magnetismus.
netisches Verhalten von ßeren Magnetfeldes wachsen diejenigen Bezirke
Werkzeugstahl.
Für die magnetischen Eigenschaften eines Materials ist vor Elektronen aus, da aufgrund des Pauli-Prinzips gleich viele
allem die Eigenrotation der Elektronen verantwortlich, der Elektronen in „auf“ wie in „ab“- Richtung rotieren. Der
sogenannte Elektronenspin. Die Orientierung der Drehachse resultierende Spin ist 0, es liegt daher ein Singulett-Zustand
im Raum ist gequantelt, es gibt also nur eine eingeschränkte vor. Andere Verhältnisse gelten bei den Übergangsmetallen
Anzahl von Achsenrichtungen. Bei Elektronen sind dies genau wie Eisen oder Nickel, bei diesen liegen nur teilweise gefüllte
zwei, die man als „auf“ und „ab“ bezeichnen kann. Dies gilt Schalen vor, der resultierende Gesamtspin kann daher größer
für alle Teilchen mit einer Spinquantenzahl s = 1/2 (Fermionen). als 0 sein, es liegt ein Dublett, Triplett oder noch höherer Zu-
Zwischen Spinquantenzahl s und Anzahl der Raumrich- stand vor. Dies bedeutet, dass das Atom selbst ein Magnetfeld
tungen gilt der Zusammenhang: Anzahl Richtungen = 2·s+ 1. besitzt, das sich in einem externen Feld wie ein Stabmagnet in
Bosonen (s = 0) können daher nur entlang einer Achse ro- entgegengesetzter Richtung orientiert: Das Atom verhält sich
tieren. Die Anzahl der Raumrichtungen bezeichnet man als paramagnetisch. Allerdings liegen Eisen und Nickel im Allge-
Multiplizität: meinen als Festkörper vor, d. h. die atomaren „Elementarma-
s Multiplizität (2 · s + 1) Bezeichnung gnete“ beeinflussen sich gegenseitig. Dies führt dazu, dass sie
0 1 Singulett sich bevorzugt in dieselbe Richtung orientieren, das Metall ist
1/
2 2 Dublett ferromagnetisch. Je nach Struktur des Kristallgitters richten
1 3 Triplett sich die Elementarmagnete von Übergangsmetallen aber auch
2 4 Quadruplett antiparallel aus, das Metall ist dann antiferromagnetisch.
Auch in Molekülen können unbesetzte Elektronenschalen
Die Multiplizität spielt eine wichtige Rolle bei der Interaktion auftreten, in denen sich die Elektronenspins nicht ausgleichen.
von Molekülen und Atomen mit elektromagnetischen Wellen So ist das 2p-Orbital des Sauerstoffmoleküls (O2) mit zwei
und für das Verhalten im Magnetfeld, da das „rotierende“ Elektronen mit gleichgerichtetem Spin besetzt, das heißt, der
Elektron selbst ein Magnetfeld erzeugt. In einem Atom mit Gesamtspin ist 1, es liegt also ein Triplett-Zustand vor. Sau-
vollbesetzten Schalen gleichen sich die Spins der einzelnen erstoff ist daher paramagnetisch.
214
Erde, Wasser, Luft und Feuer
215
KAPITEL 4 Demokrits Erben
anzuregen. Demgemäß sind viele molekulare eindeutig zur Elektronenhülle dieses Ions. Auch
Stoffe für infrarotes Licht undurchsichtig. Sicht- sie benötigen eine Anregungsenergie, die nicht
bares Licht hingegen hat eine deutlich höhere mit der Energie von Photonen sichtbaren Lichts
Energie. Es ist in der Lage, locker gebundene erreicht wird.
oder weitgehend freie Elektronen anzuregen, Aber für Transparenz ist alles bisher Gesagte
wie sie etwa in Metallen vorkommen. Sie be- natürlich nicht die ganze Wahrheit. Eine wei-
völkern dort das sogenannte Leitungsband und tere Voraussetzung, dass ausgedehnte Körper
sind auch für die elektrische Leitfähigkeit ver- transparent erscheinen, ist ihre weitgehende
antwortlich. Durchsichtige Substanzen besitzen Homogenität, das heißt, dass der Stoff zumin-
keine auf diese Weise anregbaren beweglichen dest in Größenbereichen der Lichtwellenlänge
Elektronen. Bei Glas etwa sind die Elektronen und darüber keine körnige Struktur zeigt. Das
fest in den Sauerstoff- und Siliciumbindungen kann man sich leicht klar machen, wenn man
lokalisiert oder gehören zu den inneren Elektro- sich vorstellt, dass eine Glasscheibe zu Pulver
nenschalen der Atome. Ähnlich liegt der Fall bei zermahlen und als solches wieder in eine ähnli-
transparenten Kunststoffen oder Flüssigkeiten che Form verbacken würde. Die Zusammenset-
wie Wasser oder Alkohol. Auch hier bilden die zung des Stoffs ist noch immer gleich, allerdings
Elektronen Atombindungen (kovalente Bindun- gibt es viele Porenräume und unterschiedlich
gen) zwischen Atomen und sind nicht beweglich. geformte innere Oberflächen. Die Scheibe ist
Entsprechend sind alle diese Stoffe recht gute nun höchstens noch milchig durchscheinend,
elektrische Isolatoren. denn eindringendes Licht wird in alle denkba-
Für UV-Licht mit seiner noch höheren Ener- ren Richtungen reflektiert und gebrochen und
gie sind auch molekulare Stoffe nicht mehr verliert damit fast jegliche Richtungsinforma-
transparent. Seine Photonen enthalten so viel tion. Allerdings ist diese Richtungsinformation
Energie, dass sie sogar fest gebundene Elektro- wohl nicht vollständig verloren. In neuester Zeit
nen in höhere Energiezustände befördern kön- gelang durch Vermessung des durch opake Ma-
nen. Dabei kommt es häufig zum Bindungsbruch terialien tretenden Lichts und der dahinter be-
und damit zu chemischen Veränderungen, wie findlichen Objekte ein mathematisches Modell
wir sie von Plastik kennen, das zu lange in der der dazwischen stattfindenden Streuprozesse in
Sonne gelegen hat. Form einer Transmissionsmatrix herzustellen.
In Ionenkristallen wie zum Beispiel Natri- Verfügt man über eine solche Matrix, lässt sich
umchlorid gibt es keine Molekülbindungen, sogar Licht auf Objekte fokussieren, die hinter
sondern Ionenbindungen. Warum können auch dem streuenden Material liegen, und dahinter
sie transparent sein? Vielleicht können Sie es verborgene Objekte lassen sich wieder sichtbar
schon erraten? Die Elektronen sind hier zwar machen.
bei der Ionenbildung von einem Atom auf ein Wenn wir schon beim Begriff „milchig“
anderes übergegangen, aber sie gehören nun sind: Auch in der Milch tritt derselbe Effekt auf.
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
216
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Das Licht bricht sich an unzähligen winzigen fotografieren, dazu sind sie viel zu klein. Sicht- Farbe entsteht durch die
Wahrnehmung von Licht,
Fettkügelchen, die in der Flüssigkeit dispergiert bares Licht kann nur Objekte abbilden, die dessen Wellenlängen-
sind, und erzeugt so die weiße Farbe. Allerdings mindestens in der Größenordnung seiner Wel- verteilung von der des
besteht in diesem Fall wohl kaum Hoffnung, lenlänge (380 – 780 nm) liegen, also Objekte ab Tageslichts abweicht.
dass sich die Streuprozesse herausrechnen las- ca. 1/1000 mm (10-6 m) Größe. Typische Ein- Solche Abweichungen
sen. zelmoleküle haben Größen von nur wenigen entstehen durch frequenz-
abhängige Emission, Ab-
Nanometern (10-9 m), sie sind also für eine op- sorption oder Transmission
tische Abbildung viel zu klein. Mit raffinierten von Licht aufgrund von:
Struktur und Farbe Methoden wie etwa einem Feldemissionsmikro- Teilcheneigenschaften
skop (FEM) oder einem Rasterkraftmikroskop Flammenfärbungen durch
angeregte Metallionen
Wir haben schon im vorherigen Abschnitt gese- (Atomic Force Microscope, AFM) können heute
(Feuerwerk) oder gefärbte
hen, dass viele optische Eigenschaften nicht di- jedoch einzelne Atome und Moleküle tatsächlich Metallkationen (Atom-
rekt auf die Eigenschaften einzelner Atome oder abgebildet werden, wenn auch etwas indirekter und Ionenspektren)
Ionen zurückgehen, sondern davon abhängen, (Å Abbildung 4-174). Physikalischen Effekten
welche chemischen Bindungen und Strukturen Die auf diese Weise gewonnene Abbildung Interferenzfarben oder
Strukturfarben (bei
ausgebildet werden. Insbesondere gehören viele eines Moleküls zeigt die Ladungsverteilung der
Schmetterlingsflügeln)
Erscheinungsformen der Farbigkeit zu diesen Hüllenelektronen um die Atomrümpfe. Dabei
Chemischen Bindungen
sekundären Qualitäten. Wir wollen deshalb hier überlappen sich die Aufenthaltsbereiche der Farbmittel wie Indigo
einen kleinen Exkurs über die Darstellungsweise Elektronen so stark, dass ein an eine Weintraube (Jeans) oder Carotin
von Molekülen einschieben, da wir diese Kennt- erinnerndes Gebilde entsteht, bei der allerdings
nisse auch in den folgenden stofflichen Kapiteln die einzelnen „Beeren“ fließend ineinander
benötigen werden. übergehen. Werden diese Verhältnisse in einem
Modell maßstäblich dargestellt, spricht man
Strukturformeln – von einem Kalottenmodell (Å Abbildung 4-175).
Die Geheimsprache der Chemiker Es gibt ganze Baukästen, aus denen Chemiker
Moleküle aus Kugelteilen über Druckknöpfe
Je nach dem Zweck der Darstellung wählen Che- zusammenstecken können. Solche Darstellungen
miker mehr oder weniger vereinfachte Zeichnun- eignen sich vor allem dann, wenn es darum geht,
gen bzw. Schreibweisen für Moleküle. Formeln die Form eines Moleküls oder seine Passform
sind eine kompakte Darstellung dessen, was man in Enzymreaktionen zu beurteilen. Für die Be-
über den Aufbau einer Verbindung weiß und trachtung der an einer Verbindung beteiligten
in einem bestimmten Kontext zum Ausdruck Atome und deren Bindungsverhältnissen haben
bringen will. die Chemiker übersichtlichere Darstellungswei-
Ausgangspunkt sind immer die Vorstellun- sen gefunden, welche die realen Verhältnisse
gen über das wirkliche Aussehen der Moleküle. zunehmend abstrahieren. Deshalb gibt es zur
Natürlich kann man Moleküle nicht einfach so Darstellung desselben Moleküls verschiedene
C16H10N2O2
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
Möglichkeiten. Häufig entscheidet der Anwen- der Regel mit vier anderen Atomen verbun-
dungszweck, welche davon zum Einsatz kommt. den ist. Eine zusätzliche Regel besagt, dass die
Es ist einfach nicht sinnvoll, in allen Fällen die Bindungen zwischen Wasserstoffatomen und
volle Information darzustellen. Im Kugelstabmo- Kohlenstoffatomen auch weggelassen werden
dell werden die Elektronenhüllen nicht mehr ge- dürfen; ihre Existenz ergibt sich einfach aus der
zeigt, vielmehr repräsentieren verschieden große geforderten Vierbindigkeit des Kohlenstoffa-
und je nach chemischem Element unterschied- toms. Alle Atome, die weder Wasserstoff noch
lich gefärbte Kugeln die Atome (ÅAbbildung Kohlenstoff sind, müssen durch ihre Symbole
4-176, Seite 216). Chemische Bindungen wer- kenntlich gemacht sein, sie heißen auch He-
den durch Stäbchen dargestellt. Um den inneren teroatome. Kohlenstoffatome und einige He-
Aufbau besser erkennbar zu machen, werden die teroatome können untereinander auch Mehr-
Kugelradien kleiner gewählt, als den Atomradien fachbindungen eingehen, die dann durch zwei
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
entsprechen würde, bzw. die Bindungen werden bzw. drei Striche symbolisiert werden. Treten
überlang dargestellt. bei größeren Molekülen abwechselnd Einfach-
Lässt man die Atome einfach weg, kommt und Doppelbindungen auf, so spricht man
man zum Stabmodell eines Moleküls, das häufig von konjugierten Doppelbindungen, in ring-
in Computergrafiken verwendet wird (Å Abbil- förmigen, meist sechseckigen Strukturen von
dung 4-177, Seite 216). Die Bindungen selbst Aromatizität. Beide Strukturelemente zeigen
4-182
Tomatenfarbstoff „Lyco-
werden hier je nach den beteiligten Atomsorten die Erscheinung der Mesomerie, die Lage der
pin“ (C40H56)). Chemiker jeweils zur Hälfte eingefärbt. Nun ist es nur Doppelbindungen kann dann nicht mehr ein-
können aus der Struktur- r noch ein kleiner Schritt zum Drahtgittermo- deutig festgelegt werden, das Molekül kommt
formel Rückschlüsse auf
die Zusammensetzung
dell. Die Bindungen werden in diesem Fall nur in mehreren sogenannten mesomeren Grenz-
und sogar auf das un- noch als dünne Striche entsprechender Farbe strukturen vor. Betrachtet man die beteiligten
gefähre Verhalten eines angedeutet (Å Abbildung 4-178, Seite 216). Bindungselektronen, so stellt man fest, dass
Stoffes ziehen. Hier be-
Muss eine Formel in der Ebene wiedergegeben ihre Aufenthaltswahrscheinlichkeit über einen
wirkt das Fehlen polarer
(hydrophiler) Gruppen werden, so können die räumlichen Bindungen größeren Bereich des Moleküls verteilt ist, man
z. B. die Unlöslichkeit in natürlich nicht mehr korrekt dargestellt werden. spricht von delokalisierten Elektronen. Insbe-
Wasser und eine sehr gute Man beschränkt sich auf die Verknüpfungs- sondere bei Farbmitteln sind diese sehr wichtig,
Fettlöslichkeit. Die Aufein-
anderfolge von dreizehn struktur zwischen den Atomen und spricht von denn Elektronen in solchen Systemen lassen
abwechselnd einfach/ einer Strukturformel (Å Abbildung 4-179, Seite sich bereits durch sichtbares Licht mit geringer
doppelt gebundenen 217). Die Bindungen werden auch in der Re- Energie anregen. Das dabei absorbierte Licht ist
(konjugierten) Kohlen-
stoffatomen erzeugt eine gel nur noch in einheitlicher Farbe gezeigt. Um die eigentliche Ursache der Farbigkeit.
Absorption im blaugrünes trotzdem die wichtige Information über Atom- Interessiert man sich nur für die wichtigs-
Spektralbereich: Der Stoff sorten zu erhalten, werden die Atome durch ihr ten Zusammenhänge, lassen sich vereinfachte
strahlt orangerotes Licht
zurück. chemisches Symbol identifiziert. Durch einige Strukturformeln weiter zu Halbstrukturformeln
weitere Regeln kann die Darstellung zusätzlich reduzieren. Dabei werden nur noch die Bin-
vereinfacht werden, ohne an Informationsgehalt dungen zwischen den wichtigsten Molekülteilen
zu verlieren, und es ergeben sich die vereinfach- gezeichnet, einzelne Molekülteile werden nur
ten Strukturformeln, wie sie in vielen Büchern noch durch summarische Aufzählung der Atome
auftauchen (Å Abbildung 4-180, Seite 217). erwähnt. In Ausdrücken wie CH3-, -C2H5- oder
Was bedeuten nun aber die auf den ers- C6H5- erkennt der Chemiker leicht typische
ten Blick verwirrenden einfachen und doppel- Strukturelemente wie die Methyl-, Ethyl- bzw.
ten Striche, Sechsecke und Buchstaben in den Benzylgruppe, deren Struktur ihm bekannt ist.
Strukturformeln? Zunächst geht man davon Diese Darstellungsweise bildet den Übergang zur
aus, dass jede Stelle in der Formel, an der Stri- reinen Summenformel. Diese einfachste Formel
che zusammenstoßen oder enden, die Position für chemische Verbindungen ist am stärksten
eines Atoms markiert. Wird ein Atom nicht abstrahiert. Hier werden lediglich die an der Ver-
näher bezeichnet, gilt es als Kohlenstoffatom bindung beteiligten Atome erwähnt. Die Anzahl
oder als Wasserstoffatom. Die Entscheidung mehrfach vorkommender Atome werden über
zwischen diesen beiden Möglichkeiten ergibt kleine tiefgestellte Zahlen hinter den Buchstaben
sich immer klar daraus, dass Wasserstoff nur notiert. Ein typisches Beispiel ist die Summen-
eine Bindung ausbildet, Kohlenstoff aber in formel von Indigo (C16H10N2O2).
218
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Wann sind organische Stoffe farbig? OH-Gruppen, die über Wasserstoffbrücken den
Zucker im trockenen Zustand zusammenhalten
Gewöhnlich existieren in kleineren organischen (Å Wasserstoffbrückenbindung, Seite 149). In
Molekülen mit Einfachbindungen oder wenigen Flüssigkeiten gehen diese OH-Gruppen mit Was-
und isolierten Mehrfachbindungen keine Ener- sermolekülen solche Bindungen ein. Sobald die
gieniveaus, die zur Absorption von Licht im Flüssigkeit verdunstet ist, sorgen die OH-Grup-
sichtbaren Bereich geeignet wären. Diese Sub- pen wieder über Wasserstoffbrücken für den Zu-
stanzen sind daher farblos oder weiß (wenn sie sammenhalt der Zuckermoleküle untereinander.
das Licht durch ihre Oberflächenstruktur oder Diese OH-Gruppen bilden eine klebrige Schicht.
Körnung in verschiedene Richtungen streuen). Die Klebrigkeit kommt dadurch zustande, dass
Sie absorbieren Strahlung hauptsächlich im ener- Wasserstoffbrücken der Zuckermoleküle nicht
giereicheren ultravioletten Spektralbereich (UV). nur untereinander, sondern ebenso zu Molekü-
Mehr Energieniveaus mit geringeren Energie- len der Haut und zum Material des Tassenbo-
unterschieden bilden sich in organischen Mo- dens gebildet werden. Im Tassenboden sitzen
lekülen dann aus, wenn sich Elektronen über Silikate, die an ihrer Oberfläche ebenfalls freie
einen größeren Bereich des Moleküls relativ OH-Gruppen tragen. Steinsalz dagegen (NaCl)
frei bewegen können. Dies ist der Fall, wenn besitzt keine derartigen OH-Gruppen, die beiden
mehrere ebene (aromatische) Sechserringe oder Atome werden im Wasser getrennt und können
abwechselnde (konjugierte) Doppel- und Ein- beim Verschwinden der Flüssigkeit keine Brü-
fachbindungen zusammenkommen (man spricht ckenbindung mit dem Tassenboden eingehen.
dann von einem „delokalisierten ʋ-System“). Am Beispiel des Zuckers lässt sich zeigen,
Für die Bindungselektronen entstehen dadurch das Klebrigkeit im chemischen Sinne einerseits
viele mögliche Energiezustände, die energetisch die innere Kohäsion der Klebstoffpartikel ist,
nur wenig über dem Grundzustand liegen. Die verursacht durch atomare Anziehungskräfte
erforderlichen Anregungsenergien für Übergänge wie Wasserstoffbrücken, andererseits die starke
zwischen solchen niedrig liegenden Niveaus sind Wechselwirkung (Adhäsion) zwischen den zu
relativ gering, und es genügt bereits die Absorp- verklebenden Materialien.
tion des längerwelligen sichtbaren Lichtes.
Die genaue Lage der Absorptionsmaxima Schmiereffekte
bestimmt die Farbe der Stoffe. So kann ein er-
fahrener Chemiker bereits an der Strukturformel Fehlen starke intermolekulare Wechselwirkun-
einer Substanz erkennen, welche Farbe sie haben gen, so gleiten Moleküle leicht übereinander.
könnte. Farbvarianten organischer Stoffe lassen Ein typisches Beispiel ist die Gleitfähigkeit
sich in gewissem Rahmen durch gezielte Ände- nahezu jeden Materials auf mit Teflon (Poly-
rungen in der Molekülstruktur erreichen. tetrafluorethylen) beschichteter Pfannen. Die
leichte Beweglichkeit zwischen Schichten ist
Materialeigenschaft: klebrig umso eingeschränkter, je eher sich zwischen ih-
nen chemische Bindungen ausbilden können. Oft
Als klebrig bezeichnet man in der Alltagsspra- sind dies wiederum Wasserstoffbrücken, denn
che zähe Stoffe wie Honig oder Klebstoffe, die sehr viele Stoffe tragen eine oberflächliche Oxid-
gerne an Stellen haften bleiben, wo sie uner- oder Hydroxidschicht (wie Aluminium). Auch
wünscht sind. Auch Zucker klebt am Boden Stoffe wie Glas tragen solche Gruppen an ihrer
einer Kaffeetasse, Salz aber nicht am Boden Oberfläche,, ebenso
Oberfläche eben viele organische Verbindun-
eines Wasserglases, obwohl beide Substanzen gen (Cellulose, Zucker, Eiweiße). Solche polaren
zunächst makroskopisch unsichtbar in der jewei- S bstanzen bind
Su den zusätzlich an feuchter Luft
ligen Flüssigkeit aufgelöst sind und sich dann stets eine Schicht von Wassermolekülen, die als
absetzen. Das hängt mit der chemischen M ttler für kurzzeitige Bindungen zwischen
Mi
Struktur beider Stoffe zusamme m n. Zucker z ei polaren Materialien fungieren.
zw
gehört zu den Kohlenhydraten, die aus Auch raue Oberflächen erschweren das
Kohlenstoff-, Sauerstoff- und Wasser- G eiten, denn Unebenheiten aller Grö-
Gl
stoffatomen aufgebaut sind. Wasserstoff ßenordnungen können sich physikalisch
und Sauerstoff bilden im Zucker viele iin
neinander verhaken.
219
KAPITEL 4 Demokrits Erben
Beide Effekte bewirken, dass insbesondere der Dieser Schmelzpunkt ist vorteilhafterweise auch
Beginn des Gleitens erschwert ist, denn beste- nicht sehr scharf. Mineral- und Silikonöle zei-
hende Bindungen und Verhakungen müssen gen nämlich eine Mischzusammensetzung aus
zunächst gelöst werden. Man spricht von Haft- kurz- und langkettigen Molekülen mit jeweils
reibung und Gleitreibung, wobei letztere stets unterschiedlichen Schmelzpunkten. Das Ergebnis
leichter zu überwinden ist, weil sich Bindungen ist ein breiter Schmelzbereich, in dem sich die Vis-
4-183
Mineralöle. Im Gegensatz während der Bewegung nicht komplett wieder kosität nur graduell ändert. Durch Variation der
zu den Fetten und fetten bilden können. Zusammensetzung lassen sich diese Schmiermittel
Ölen bestehen reine Mi-
Extrem glatte und saubere Metalloberflä- leicht verschiedenen Einsatztemperaturen (wie
neralöle hauptsächlich aus
Kohlenwasserstoffketten chen können bei Berührung sogar spontan kalt im Sommer- und Winterbetrieb von Fahrzeugen)
(Paraffinen) unterschied- verschweißen, denn wie wir von der ÅMetall- anpassen. Aber nicht nur viskose unpolare Flüssig-
licher Kettenlängen mit bindung (Seite 146) her wissen, handelt es keiten dienen als Schmiermittel. Die Glitschigkeit
und ohne Verzweigun-
gen. sich dabei um ungerichtete Wechselwirkungen von Seifen beruht ebenso auf den geringen Wech-
zwischen Atomrümpfen und Elektronengas. selwirkungen zwischen unpolaren Molekülteilen.
Somit existiert bei engem Kontakt hochreiner Diese Salze langkettiger Fettsäuren besitzen ein
Metalloberflächen an der Grenzfläche überhaupt polares Ende, mit dem sie sich an Oberflächen
kein Unterschied mehr zu einer normalen Kris- heften, aber auch einen großen unpolaren Anteil,
tallebene im Material. der eine Haftung zwischen Oberflächen verhin-
In der Technik ist die Reibung zwischen be- dert (ÅSeifen – Mittler zwischen den Welten,
weglichen Teilen meist unerwünscht, denn sie Seite 338). Auch bestimmte Feststoffe in Pul-
führt zu Abrieb und mit der Zeit zur Zerstö- verform oder als Beimischungen zu Ölen können
rung des Materials. Deshalb werden Substan- die Aufgabe von Schmiermitteln übernehmen,
4-184 zen eingesetzt, um die Reibung zu verringern. allen voran Graphit und Molybdänsulfit. Diesen
Polydimethylsiloxan.
Die stärker polaren Diese Schmiermittel haben mehrere Aufgaben. festen Schmiermitteln ist gemeinsam, dass sich
Sauerstoff-Silicium- Sie müssen: ihre kovalenten Bindungen auf einzelne Schichten
Bindungen sind nach beschränken. Die Schichten sind untereinander
außen hin durch unpolare
Methylgruppen (CH3-) 1 die Oberflächen auf Abstand halten nur schwach gebunden und lassen sich deshalb
abgeschirmt. Maßge- leicht gegeneinander verschieben.
schneiderte synthetische 2 Unebenheiten füllen
Silikonöle verhalten sich
daher ähnlich wie klas-
sische Öle, zeigen aber 3 eine Gleitschicht mit geringer Haftung aus-
eine bessere Langzeitsta- bilden.
bilität.
220
KAPITEL 5
„Erde“ nennen wir Menschen unseren Heimatplaneten, der Index, in dem Wissenschaftler jeden neu synthetisierten Stoff
nach der Planetenklassifikation ein „Gesteinsplanet“ ist. akribisch mit einer eindeutigen Nummer, der CAS-Nummer,
Das klassische „Element“ Erde steht auch als Metapher für kennzeichnen, weist tatsächlich schon über 50 Millionen Ein-
die unerschöpfliche Vielfalt von Festkörpern, denen wir in träge auf. Die Mehrzahl davon sind Feststoffe. Im Folgenden
der Natur begegnen und die wir gelernt haben, für unsere soll die Bezeichnung „synthetisch“ für vom Menschen ver-
Zwecke zu verändern. Deshalb soll uns der Begriff „Erde“ änderte Naturstoffe oder für völlig neue, in der Natur nicht
als Symbol und Synonym für den festen Aggregatzustand vorkommende Stoffe gebraucht werden. Obwohl dieses Buch
schlechthin dienen. Ihre „begreifbaren“ Bausteine verbinden hauptsächlich der Materie als Baustoff der Welt gewidmet ist,
wir am ehesten mit Materie in ihrer festen Erscheinungsform. werden die Grenze zur Materialwissenschaft zu überschrei-
Auch sogenannte „synthetische“ Stoffe können wir in diese ten und die künstlich aufgebauten Formen der Materie zu
Metapher einschließen, denn die Unterscheidung zwischen berücksichtigen sein.
natürlichen und künstlichen Stoffen ist selbst eine sehr künst-
liche Einteilung, da beide selbstverständlich aus den gleichen
natürlichen Atomen bestehen. Fast alle Festkörper, mit denen
wir es zu tun haben, entstammen direkt oder indirekt der
Erdkruste. Unser erster Blick in diesem Kapitel richtet sich
daher nach unten: auf die Welt auf der wir stehen.
Den Menschen unterscheidet von allen anderen Lebewe-
sen auf der Erde, dass er in der Lage ist, aus den „Rohstoffen“
der Erde „Werkstoffe“ zu gewinnen. Aus Ton entstehen so
Keramiken, aus Erz gewinnt der Mensch Metalle und aus
Bitumen und zerkleinertem Gestein wird ein solider Strassen-
belag. Die Anfänge dieser Fertigkeiten liegen weit zurück, und
viele Jahrtausende lang war die Werkstoffkunde vor allem
eine Frage von Versuch und Irrtum. Lange existierte keine
Theorie der Materie, die in der Lage war, vorherzusagen, wie
sich die Eigenschaften der Werkstoffe gezielt in die eine oder
andere Richtung verändern lassen. Und dennoch schritt die
Menscheit voran: von der Steinzeit in die Bronzezeit bis hin
zur Eisenzeit. In dieser befinden wir uns in einem gewissen
Sinn auch heute noch, selbst wenn Historiker im allgemeinen
ab dem Auftreten schriftlicher Zeugnisse keine Werkstoffe
mehr zur Klassifizierung von Perioden der Menschheitsge-
schichte nutzen. Natürlich hat sich seit der Frühgeschichte
der Menschheit manches getan, insbesondere seit dem Auf-
schwung der Naturwissenschaften, die uns eine Fülle völlig
neuer Materialien und Werkstoffe beschert haben: neben
den allgegenwärtigen Kunststoffen auch die Halbleiter, ohne
die die moderne Kommunikations- und Computertechnik
undenkbar wäre.
Die Beschäftigung mit Festkörpern führt daher heutzutage
sehr schnell zu den technischen Materialien und den mehrere
Millionen zählenden festen Stoffen, welche die Chemie bis
dato hervorgebracht hat. Der sogenannte Chemical Abstracts
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Die Welt, auf der wir stehen Marmoraschenbecher zum Beispiel zeigt Eigen-
schaften, die wir am ehesten mit Feststoffen as-
Ein ganz besonderer Planet soziieren: Er ändert seine Form nicht ohne starke
Einwirkung von außen, er fühlt sich schwer
Materie in der Form, die wir „ergreifen“ kön- und kühl an. Wirft man ihn auf den Boden, so
nen, ist meist deutlich komplexer aufgebaut als zerbricht er. Andere Körper haben offensichtlich
in allen ihren anderen Erscheinungsformen, die völlig andere Eigenschaften.
man auch unter dem Begriff Fluide (Flüssigkei- Mehr als alle anderen Materieformen werden
ten und Gase) zusammenfasst. Zwischen den Feststoffe nicht nur von den offensichtlichen
Teilchen dieser „gefrorenen“ Materie herrschen Eigenschaften ihrer atomaren Bestandteile ge-
stärkere Kräfte, sie haften bleibend zusammen. prägt, sondern von den Strukturen, die diese
Und obwohl sich in diesem Aggregatzustand die auf verschiedenen Organisationsebenen bilden.
atomaren Bestandteile der Materie oft beliebig Das gilt bereits für natürliche, kristalline Fest-
gegeneinander verschieben lassen, behält die körper der Erdoberfläche mit ihren vielfältigen,
Materie aufgrund ihrer inneren Struktur ihre oft verblüffenden Eigenschaften. Dieses faszinie-
Gestalt bei. Oft sind es gerade die Unvollkom- rende Wechselspiel zwischen Komponenten und
menheiten und Fehler im Aufbau von Festkör- Struktur zeigt sich schon bei einfachen Modifi-
pern, die für wichtige Eigenschaften wie Härte kationen von chemischen Elementen, bei Legie-
oder Farbe hauptverantwortlich sind. rungen und Kunststoffen. Und damit bestimmen
Was ist überhaupt ein typischer Festkörper? sie durch ihre räumliche Anordnung die man-
Denken wir nur an einen Stein, ein Stück Eisen, nigfaltigen interessanten Eigenschaften, die wir
eine Kunststoffschachtel, ein Blatt Papier oder bei Festkörpern vorfinden. Wir haben uns die
gar an einen Wattebausch – all dies sind Fest- Materie als Materialien nutzbar gemacht, um
körper in verschiedenen Ausbildungsformen. Ein daraus unsere gesamte technische Zivilisation
Die Herkunft des Namens „Erde“ ist umstrit- sachsen und Jüten brachten letzteren Begriff
ten. Sicher ist nur, dass sie der einzige Planet auf die Insel, wo er zum heutigen Wort „earth“
ist, deren Name sich nicht aus der griechi- umgeformt wurde.
schen oder römischen Mythologie herleitet. Auch für die fruchtbare, für Ackerbau
5-1
Vermutlich hängt der Begriff nicht mit dem nutzbare, lockere Auflage auf festem Gesteins- Alchimistisches Symbol.
griechischen Wort „éra“ zusammen, sondern untergrund im Gegensatz zum unfruchtbaren Die Alchimisten verwen-
geht auf die altgermanische Wurzel „eorðƃ“ Wüstensand wurde dieser Begriff verwandt. deten als Symbol für das
„Element“ Erde bzw. als
zurück. Mit „eorðƃ“ wurde das feste Land, Hier klingt die mythologische Bedeutung von Zutat zu ihren Rezepturen
die Landoberfläche, im Gegensatz zur Was- der Erde als eine tragende und gebärende Mut- ein auf der Spitze stehen-
serfläche bzw. die Oberwelt im Unterschied ter an, wie sie in vielen alten Kulturen ver- des Dreieck mit einem ho-
rizontalen Querstrich.
zur Unterwelt und zum Himmel bezeichnet. ehrt wurde. Auch im Brauchtum verwurzelte
Aus diesem Wortstamm entwickelten sich die Fruchtbarkeitsriten, Saat- und Erntebräuche
Worte „erda“ im Altgermanischen bzw. „er- haben solche mythologischen Bezüge. Als
tha“ im Altsächsischen. Zwischen ca. 250 und Name für unseren Planeten taucht „Erde“ erst
450 n. Chr. nach England einwandernde Angel- seit dem 14. Jahrhundert auf.
223
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
Dichte 5,52 g / cm3 aufzubauen. Aber es sind nur wenige Dutzend Bohrungen zugänglich sind, glauben wir heute
Masse 5,97 · 1024 kg Materialien, die für die Kulturgeschichte der Zi- durch geophysikalische Methoden den stoffli-
Mittlerer Radius 6370 km vilisation sowie in unserem täglichen Leben eine chen und strukturellen Aufbau des gesamten Erd-
Polabflachung 20 km bedeutende Rolle spielen. Wir haben gelernt, körpers einigermaßen zu kennen. Die Erdkugel
Bahnradius 149 600 000 km ihre Eigenschaften nach unseren Bedürfnissen wird in die drei Schalen Erdkruste, Erdmantel
Bahnexzentrizität 0,017 gezielt zu variieren und selbst Stoffe mit völlig und Erdkern gegliedert (Å Abbildung 5-3).
5-2 neuen exotischen Eigenschaften zu schaffen. In diesem Buch befassen wir uns nur mit
Die Erde als Planet. Wich- Mehr noch fallen sie aber bei modernen Meta- Feststoffen der Erdoberfläche bzw. mit denjeni-
tige geographische und
astronomische Daten un-
materialien ins Auge, die unglaubliche, geradezu gen, die aus geringer Tiefe gewonnen werden. Zu
seres Planeten. märchenhafte Eigenschaften aufweisen. denjenigen, die man „mit den Händen greifen“
Dieser feste Aggregatzustand der Materie kann, zählen Minerale, Gesteine und Erze. Diese
soll uns daher im ersten stofflichen Kapitel vor festen Bestandteile der Erdkruste nutzen wir
allen anderen beschäftigen. Obwohl Feststoffe, für die Schaffung von alltäglichen Gebrauchs-
bezogen auf das gesamte Universum, bei weitem gegenständen, für den Bau und die Ausstattung
nicht die häufigste Form der Materie sind, bil- unserer Häuser und für die Erzeugung neuer
den sie doch unzweifelhaft die interessantesten Werkstoffe.
Erscheinungsformen und verdienen daher eine Steine dienten bereits in prähistorischer Zeit
besonders breite Darstellung. als Baumaterial, als Werkstoff für Gebrauchs-
und Kunstgegenstände sowie als Schmuck.
Begriffe wie „felsenfest“, „grundsolide“ oder
Schalenbau der Erde „steinhart“ zeugen davon, dass die Erde und ihre
Bestandteile von uns als unveränderlich und „für
Obwohl nur die obersten Kilometer des gesamten die Ewigkeit gemacht“ wahrgenommen werden.
Erdkörpers für direkte Untersuchungen durch Dass diese Sichtweise bei genauerer Betrachtung
durchaus relativiert werden muss, werden wir
im Laufe dieses Kapitels noch erfahren. Gesteine
sind keineswegs so unveränderlich, Kristalle
nicht immer so komplett lupenrein, wie in unse-
rer idealisierten Vorstellung.
224
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Diese Platten bedecken unseren Planeten voll- Sie setzt sich aus drei Sphären zusammen: Die
ständig und bilden die feste, auf Kontinenten oberste, gasförmige ist die Atmosphäre, dar-
bis 70 km, in den Ozeanen bis 10 km mächtige, auf folgt die Hydrosphäre, die alle Gewässer
oberste Schale der Erde. Der Geophysiker und wie Meere, Flüsse und Grundwasser umfasst.
Meteorologe ALFRED WEGENER (1880 – 1930) Auf einer Ebene oder darunter liegt die Litho-
stellte 1912 die Theorie auf, dass alle Landmas- sphäre mit Mineralen und Gesteinen. In deren
sen ursprünglich einen einzigen Superkontinent alleroberster, maximal wenige Meter mächtigen
bildeten, der vor ca. 200 Millionen Jahren in Auflage, der Bodenschicht, durchdringen sich
seine heutigen Einzelkontinente zerbrach. Diese alle drei Sphären.
Einzelteile drifteten auf einer plastisch-duktilen
Schicht, der Asthenosphäre, westwärts auseinan- Zusammensetzung der Erdkruste
der. Diese Theorie der Kontinentalverschiebung
wurde seit den 1960er Jahren zur Plattentekto- Nur die Kruste der Erde ist uns durch Bohrun-
nik-Theorie fortentwickelt. gen und Materialproben direkt zugänglich. Die
Geologen fassen unter dem Begriff Litho- bisher tiefste Bohrung erfolgte 1989 auf der rus-
sphäre die äußere, feste Schale, also die Kruste sischen Halbinsel Kola bis in 12,262 km Tiefe.
sowie den obersten Bereich des Erdmantels (li- Bis zu einer Tiefe von etwa 16 km wird die
thosphärischer Mantel) zusammen, ihre Un- Erdkruste hauptsächlich aus den in ÅTabelle 5-5
tergrenze wird durch eine temperaturbedingte (Seite 226) genannten Elementen aufgebaut.
Änderung der Festigkeit definiert. Ihre Mäch- Die meisten Angaben zur Zusammensetzung
tigkeit schwankt von wenigen Kilometern unter der Erdkruste beziehen sich auf diese durch-
Ozeanen bis zu 450 km unter alten Schilden. schnittliche Krustendicke. Vorherrschend sind
Der Bereich, in dem die Menschen mit den hier die Elemente Sauerstoff und Silicium, die in
verschiedensten Ausbildungen der Materie in Form diverser Silikate ca. 75 Prozent der Masse
Kontakt kommen, wird auch Erdhülle genannt. ausmachen. Die meisten Elemente kommen in
5-4
Lithosphärenplatten. Die starren Platten der Erdkruste (Lithosphäre) bestehen aus der basaltreichen und relativ dünnen
(5 – 10 km) ozeanischen Kruste bzw. aus der granitreichen dickeren (durchschnittlich ca. 35 km) kontinentalen Kruste.
Diese bilden die oberste Schicht des Erdmantels. Sie schwimmen auf der zähflüssigen, als Asthenosphäre bezeichneten
Mantelschicht und werden von Konvektionsströmungen im Erdmantel wie Eisschollen umhergetrieben. Ähnlich wie
hoch aufragende Schiffe einen großen Tiefgang besitzen, ist auch die kontinentale Kruste unter Gebirgsregionen am
dicksten. Sie erreicht dort eine Mächtigkeit von über 65 km.
225
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
Massen- Stoff- Mineralien und Gesteinen als Oxide vor (ÅTa- Bergbauhalden und auf Tausch- bzw. Verkaufs-
anteil mengen- belle 5-6). Alle übrigen Elemente sind nur in börsen nachgehen. Naturwissenschaftliche Mu-
anteil Spuren vorhanden, darunter auch so begehrte seen bieten interessante Einblicke in die bunte
Sauerstoff 49,4 55,1
Metalle wie Kupfer, Silber oder Gold oder das Welt der Minerale.
Silicium 25,8 16,3
biologisch immens wichtige Element Kohlenstoff. Der Begriff selbst geht auf die mittellateini-
Aluminium 7,57 5,0
Eisen 4,7 1,5
schen Worte mina(ra), Schacht, oder lat. minera-
Calcium 3,39 1,5 lis, Erzgestein, zurück und wurde im 16.Jahrhun-
Natrium 2,6 2,0 Bausteine der Erdoberfläche dert in den Sprachgebrauch eingeführt. Minerale
Kalium 2,4 1,1 sind natürlich vorkommende, meist chemisch
Magnesium 1,94 1,4 Alle natürlichen Feststoffe entstammen in der und physikalisch homogene, im Allgemeinen
Titan 0,63 0,4 Regel den obersten Schichten der Erdkruste bis anorganische, kristalline Festkörper, die durch
Wasserstoff 0,88 15,4 maximal 5 km Tiefe. Ihnen entnehmen wir alle einheitliche geologisch-mineralogische Prozesse
insgesamt 99,31 98,9 Erze, Minerale und Rohstoffe, die wir zu den uns gebildet werden. Sie sind die Bestandteile der
5-5 alltäglich umgebenden Materialien umbilden und Gesteine. Minerale, die direkt bei der Gesteins-
Die zehn häufigsten Ele- bearbeiten. Kristalline Festkörper wie Gesteine bildung entstehen, wie Amphibole oder Glimmer
mente der Erdkruste. Die
gehören neben pflanzlichen Rohstoffen zu den werden als Primärminerale bezeichnet; solche,
Angaben beziehen sich
auf eine durchschnittlich ältesten von Menschen verwendeten Werk- und die aus der Verwitterung oder der chemischen
16 km mächtige Erdkruste. Baustoffen. Gestein ist der geologische Begriff für Umwandlung vorhandener Minerale entstehen,
Die prozentualen Massen- typische Mineralmischungen, aus denen größere werden Sekundärminerale genannt. Die wichtigs-
und Stoffmengenanteile
unterscheiden sich wegen Teile der Erdkruste bestehen. Man unterscheidet ten Sekundärminerale sind Tonminerale.
der unterschiedlichen Magmatite, die aus Magma erstarrt sind, von Se- Nach ihren chemischen Hauptbestandteilen
Atommasse der Elemente dimentgesteinen, die sich aus Ablagerungen, auch werden die Minerale in zehn Mineralklassen
teilweise deutlich.
organischer Art, gebildet haben. Gesteine, die in unterteilt, welche durch römische Buchstaben
geologischen Prozessen einer starken druck- und gekennzeichnet sind. Die Klassifikation der Mi-
temperaturbedingten Umwandlung im Erdinne- nerale nach der Systematik von H. STRUNZ kom-
ren unterworfen waren, werden als metamor- r biniert zwei Prinzipien: Die Art der Anionen
Oxid Kontinen- Ozeanische phe Gesteine oder Metamorphite bezeichnet. In und den inneren Aufbau. Daraus ergeben sich
tale Kruste Kruste
diesem Kapitel wollen wir uns mit natürlichen nach der neuesten Einteilung 10 Mineralklassen
SiO2 57,3 49,5
Gesteinen, ihren wichtigsten Bausteinen, den (ÅKasten Mineralklassen). Die Mehrzahl sind
TiO2 0,9 1,5
Kristallen und Mineralen, ihrer chemischen Zu- anorganische Verbindungen; bis auf Vertreter der
Al2O3 15,9 16,0
FeO 9,1 10,5
sammensetzung sowie ihrer Nutzung und ihrer I. Mineralklasse (Elemente) sowie der X. Klasse
MgO 5,3 7,7 Umformung in höherwertigere Werkstoffe mit (Organische Minerale) handelt es sich um Salze.
CaO 7,4 11,3 veränderten Eigenschaften befassen. Über Kris- Gediegene Metalle wie Gold gehören zu den
Na2O 3,1 2,8 talle haben wir schon in Kapitel 4 gesprochen Mineralen der I. Klasse. Chemisch erzeugte Sub-
K 2O 1,1 0,15 und wir werden in diesem Kapitel weitere kristal- stanzen gelten nicht als Minerale; synthetische
line Substanzen kennenlernen. Doch was versteht Substanzen, die mit natürlichen Mineralen iden-
5-6
Krustentypen. Ungefähre man unter einem Mineral? tisch sind, heißen „synthetische Äquivalente“.
prozentuale Zusammen-
setzung ozeanischer und
kontinentaler Kruste. Die Eine bunte Vielfalt Tonminerale – klebrige Gesellen
Elementanteile sind auf
ihre Oxide umgerechnet. Am Wegrand, auf Bergbauhalden usw. ziehen Spaziergänge durch Feld und Flur sind beliebte
verschiedenfarbige, glitzernde, körnige Bestand- Freizeitaktivitäten. Selbst bei anhaltender Tro-
teile in Gesteinen die Aufmerksamkeit auf sich. ckenheit stößt man auf Wegen und abseits davon
Bei diesen „Körnern“ handelt es sich um Mi- auf Wasserlachen, die sich hartnäckig halten.
nerale (Plural auch „Mineralien"), die Kom- Nach Niederschlägen verwandeln sich besonders
Ionenaustausch ponenten von Gesteinen sind. Nach heutigem steile Wegabschnitte in unangenehme Rutsch-
Austausch schwach
Kenntnisstand gibt es ca. 4000 Minerale, doch bahnen, an Hosenbeinen und Schuhen breiten
gebundener geladener
Teilchen an zugänglichen nur 30 – 50 davon sind gesteinsbildend, und sich dünne Schmutzkrusten aus. Letztere lassen
Oberflächen von Fest- etwa 150 gelten als häufige Minerale. Die große sich im feuchten Zustand nur schwer entfernen,
körpern bei Kontakt mit Anzahl seltener, verschieden gestalteter und far- im trockenen Zustand kann man sie abbürsten.
Flüssigkeiten, die gleich-
sinnig geladene Ionen im biger Minerale bietet Mineraliensammlern ein Verursacht werden diese Phänomene durch Ton-
Überschuß enthalten. spannendes Hobby, dem sie mit Hammer auf minerale (Tone) im Boden und ihre Eigenschaften.
226
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Kernit
VII Etwa 300 Minerale sind Salze der Schwefelsäure mit dem Anionenkomplex
Sulfate
SO42–. Der bekannteste Vertreter diese Gruppe sind Anhydrit (CaSO4) bzw.
Gips (CaSO4 · 2 H2O). Gips
VIII Etwa 400 Minerale sind Sauerstoffsalze der Phosphorsäure (H3PO4), der
Phosphate,
Arsenate, Arsensäure (H3AsO4) und der Vanadiumsäure (H3VO4). Bekannte Minerale
Vanadate dieser Klasse sind Apatit, Türkis und Monazit.
Türkis
IX Silikate bilden mit heute 1085 bekannten Mineralen die mit Abstand größte
Silikate
und wichtigste Mineralgruppe in der Erdkruste und im Erdmantel. Grund-
baustein ist der SiO4-Tetraeder, bei dem ein Siliciumatom von vier Sauerstoff-
atomen umgeben ist. Im Erdmantel ist Olivin ein sehr häufiges Mineral. Die
wichtigsten gesteinsbildenden Minerale wie Glimmer, Amphibole, Pyroxene
und Feldspäte gehören zu den Silikaten. Letztere besitzen volumenmäßig einen
Anteil von 50–60 Prozent an der Erdkruste. Feldspäte und Glimmer bilden die
wichtigsten Ausgangsstoffe für die Verwitterungsbildung von Tonmineralen.
Synthetisch hergestellte Silikate liefern wichtige industrielle Werkstoffe, wie
Gläser oder Asbest, gelten aber nicht als Minerale. Kaolinit
X Eine kleine Anzahl von Substanzen, die durch biologische Prozesse erzeugt
Organische
Minerale wurden, werden zu den Mineralen gerechnet. So sind die Salze einiger orga-
nischer Säuren wie die der Oxalsäure Minerale, z. B. Whewellit oder Kleesalz
(Kaliumoxalat). Dagegen gelten alle Kohlen, Asbest und fossile Harze, wie
Bernstein, nicht als Minerale.
Abelsonit
227
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
Amphibol
Verbreitete Gruppe dop-
pelkettiger Silikate mit der
allgemeinen Formel
A0-1B2C5T8O22(OH)2
Glimmer
Verbreitete Gruppe von
Schichtsilikaten der allge-
Die Buchstaben I, M, T, A
stehen für:
I: K+, Na+, Ca2+, Ba2+,
Rb+, Cs+, NH4+
M: Li+, Mg2+, Fe2+, Mn2+,
Zn2+, Al3+, Fe3+, Cr3+, 5-8 5-9
V3+, Ti4+ Tetraederschicht. Grundeinheit ist ein Siliciumion mit vier Oktaederschicht. Grundeinheit ist ein Magnesium- oder
T: Si4+, Al3+, Fe3+, B3+, tetraedrisch angeordneten Sauerstoffionen. Die Einheiten Aluminiumion, das oktaedrisch von sechs Hydroxidgrup-
Be2+ sind untereinander über gemeinsame Sauerstoffatome an pen umgeben ist. Die Einheiten sind untereinander über
A: OH–, F–, Cl–, O2–, S2– Ecken verbunden. gemeinsame Sauerstoffatome an Flächen verbunden.
Kaolinit (ÅKaolin: Vom Ton zum weißen Gold, Tonminerale unterschieden. Daneben gibt es
Seite 232) bildet den Grundstoff für Keramik. Mischformen zwischen den einzelnen Typen,
Tonsedimente selbst bilden den Rohstoff für die sogenannten Wechsellagerungsminerale.
Ziegelsteine. Jedes Tonmineral p lättchen setzt sich dabei
Die Atome sind bei allen Tonmineralen in aus mehreren Abfolgen von T-O oder T-O-
zwei Elementarschichten angeordnet, nämlich T-Schichten zusammen, die durch Zwischen-
5-7
Tonminerale. Reine Tone
in der Tetraeder- (T) und in der Oktaederschicht schichten getrennt sind. Leere Zwischenschich-
aus Schichtsilikaten sind (O). Die negativ geladene Tetraederschicht be- ten werden als polar bezeichnet, mit Wasser
weiß. Die häufig anzutref- steht aus SiO4-Tetraedern, die untereinander und Kationen besetzte als unpolar. Unpolare
fenden intensiv gelben,
über gemeinsame Sauerstoffatome an Tetra- Zwischenschichten sind durch Kationenaus-
braunen und roten Fär-
bungen vieler tonhaltiger ederecken verknüpft sind. Mit ihren Spitzen tausch aufweitbar (ÅAbbildung 5-15). Infolge
Böden sind auf die Beimi- zeigen die Tetraeder zur Oktaederschicht hin. von Wasseraufnahme quellen einige Tonmine-
schungen von Eisen oder Di e O k taede r sc hi c h te n se l bst s in d aus rale auf und bilden unter anderem an Hosen-
Mangan zurückzuführen.
[Al(OH)6]- oder aus [Mg(OH)6]-Oktaedern beinen den eingangs erwähnten schmierigen
au f ge b aut. Da b ei ist ein A l uminium- o d er „Dreckfilm“. Bei Wasserentzug schrumpfen sie
Magnesiumatom von sechs Sauerstoffatomen wieder auf Staubkorngröße und lassen sich so
umgeben. Das zentrale Al3+- bzw. Mg2+-Ion leicht abbürsten.
Erde, Wasser, Luft und Feuer
230
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Baukeramiken 5-18
Tonkeramische Produkte.
Tonkeramische Produkte
begegnen uns im täglichen
Leben aller Kulturen von der
Ziegelsteine
folgenden Jahrhunderten sehr unterschiedlich werden. Diese Masse wird bei Temperaturen von
aus. Erst die Einführung des Ringofens im Jahr 900 – 1200 °C gebrannt. Gebrannte Ziegel bilden
1859 durch FRIEDRICH EDUARD HOFFMANN ein sehr widerstandfähiges, verwitterungsbestän-
(1818 – 1900) ermöglichte die Massenerzeugung diges Baumaterial. Bei normalem oxidierendem
von gleich hochwertigen Ziegeln. Damit war die Brennen führt ein hoher Aluminiumoxidgehalt
Voraussetzung geschaffen, den Bedarf an Milli- [Al2O3] zu braunen, ein hoher Kalkgehalt zu gel- 5-21
Klinkerpflaster.
arden genormter Ziegel für die Industrie- und ben und ein hoher Eisen-II-Oxid-Gehalt [Fe2O3]
Wohnbauten in den Wachstumszentren seit dem zu rötlichen Farbtönen. Durch den Brand wird
letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu decken. das Wasser ausgetrieben, der Ton verliert seine
Bis ins frühe 20. Jahrhundert waren Ziegel- Plastizität, und es bilden sich amorphe Glas-
steine ein wichtiges Baumaterial für den Haus- phasen, die dem Ziegel-Korngerüst eine große
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
231
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
der beim Brennvorgang mit Temperaturen von ältesten Keramik- und Kunsterzeugnissen der
800 – 1200 °C rückstandslos verbrennt. Der ge- Menschheit.
brannte Ziegelstein ist dann von zahllosen, luft- Steingut besteht zu 50 Prozent aus plasti-
gefüllten Poren durchsetzt (Porosierung), welche schem Ton, zu 45 Prozent aus Quarz und zu
eine gute Wärmespeicherung und Luftzirkula- 5 Prozent aus Feldspatpulver. Durch Brennen
tion ermöglichen. Unter dem Label „Poroton- entsteht ein nicht wasserdichter, heller und po-
ziegel“ werden derartige Bausteine vertrieben. röser, undurchsichtiger Scherben, der erst durch
Infolge dieser Herstellungsprozesse und An- Glasurauftrag dicht wird. Das Steingut wird zu
forderungen hat sich das Erscheinungsbild des Gebrauchsgütern des Alltags wie Waschbecken,
traditionellen „Klein- oder Vollziegels“ zum heu- Kloschüssel oder Alltagsgeschirr, u.a. Kaffeebe-
tigen Lochziegel gewandelt. Lochziegel werden cher, verarbeitet. Als Massenprodukt für Tafel-
inzwischen als umweltfreundliche, energiespa- geschirr trat das Steingut 1760 von England aus
rende Bausteine hauptsächlich zur Aufmauerung seinen Siegeszug an. Damals eröffnete JOSIAH
von Innenwänden genutzt. WEDGWOOD, ein Großvater von CHARLES DAR-
Der Klinker ist ein spezieller Ziegelstein: Bei WIN, seine bis heute bestehende Manufaktur.
Brenntemperaturen bis zu 1500 °C verschmilzt
die Rohmasse aus Schamotte, Feldspäten und Tonzeug
Tonen so stark, dass hochfeste, teilweise glasar-
tige, fast porenlose Bausteine entstehen. Klinker Unter dem Begriff Tonzeug werden Tonkerami-
sind frostbeständig, extrem druckfest und resis- ken zusammengefasst, die aufgrund der hohen
tent gegen Säuren und Laugen. Sie werden u.a. Brenntemperatur von über 1000 °C wasserdicht
als Fassadenverkleidung, im Ofenbau, bei der sind und deshalb nicht mehr glasiert werden
Auskleidung von Kanalschächten und als Pflas- müssen. Steinzeug und Porzellan bilden seine
tersteine von Wegen und Plätzen genutzt. beiden Hauptproduktgruppen, die nach Farbig-
Heute häufig sichtbare weiße Kalksandziegel keit unterschieden werden.
sind trotz ihres Namens keine echten Tonke-
ramiken. Denn sie werden aus quarzreichen Steinzeug
Sanden gemischt mit Kalkmilch aus Fett- oder
Magerkalken hergestellt. Diese ziegelartigen Bei der Herstellung von Steinzeug werden haupt-
Bausteine werden in speziellen Druckkesseln bei sächlich illitische Tone (ÅKasten Schichtung
circa 200 °C durch Dampfbehandlung erzeugt der Tonminerale, Seite 229) verwendet. Das
und gehärtet. Bei diesem Verfahren werden die porzellanähnliche, aber nicht durchscheinende
Oberflächen von Sandkörnern aufgeschlossen Brennprodukt ist hell bis braun und besteht
und die Kieselsäure kann mit dem Kalkhydrat durchschnittlich aus 25 – 55 Prozent Scherben-
reagieren. Neu gebildete Calciumhydrosilikate glas, 25 – 50 Prozent Quarz und Cristoballit
verkitten die Körnchen. Verwendet werden diese (eine Quarzvarietät) sowie aus 15 – 35 Prozent
dampfgehärteten Bausteine bei Innen- und Au- Mullit (ein Silikatmineral). Seit ca. 1350 wird
ßenwänden u.a. zum Schallschutz (ÅPorenbe- in Europa Steinzeug für Gebrauchsgegenstände
ton, Seite 248). gebrannt; bekanntes Beispiel ist Siegburger Stein-
zeug, überzogen mit einer harten, chemisch re-
sistenten Salzglasur (ein Natrium-Aluminium-
Gebrauchskeramiken Silikat [Na2Al2Si4O12]). Hauptprodukte bildeten
Steinzeugkrüge, die noch lange bei Bierfesten
im Umlauf waren. Heute wird Steinzeug haupt-
Irdengut sächlich für Boden- und Wandfliesen sowie für
Sanitärwaren genutzt.
Das farbige Irdengut wie Töpferwaren, Blu-
mentöp f e o d er Ge b rauc h stonge f ä ß e er h ä l t Kaolin: Vom Ton zum „weißen Gold“
seine rötliche Tönung durch Beimengung von
Eisenoxid. Sein Scherben ist porös, wasser- Tagtäglich kommt man im Alltagsleben direkt
durchlässig und weicher als der des Steinguts. oder indirekt mit Produkten aus Tonmineralen in
Töpferwaren und Terrakotta gehören zu den Kontakt, z.B. mit Trink- oder Essgeschirr; sonn-
232
Erde, Wasser, Luft und Feuer
tags oft mit Porzellangeschirr, dessen Rohstoff gen Seltenheit und seiner äußeren Eleganz wurde
Kaolin ist. Kaolin, auch Porzellanerde genannt, Porzellan im barocken Prachtstreben fast dem
ist ein weißes Tongestein, das neben Glimmer Gold gleichgesetzt. Der eigentliche Erfinder des
und Quarz hauptsächlich aus dem Zweischicht- europäischen Porzellans war der Chemiker und
Tonmineral Kaolinit besteht. Sein im 18. Jahr- Mineraloge EHRENFRIED WALTER VON TSCHIRN-
hundert eingeführter Name leitet sich von einem HAUS (1651 – 1708), dessen Arbeiten JOHANN
Vorkommen am Berg Gaoling in der chinesischen FRIEDRICH BÖTTCHER (1682 – 1719) nur vollen-
Provinz Jiangxi ab. Kaolin ist das Endprodukt dete. Der König erkannte rasch den Wert der
aus der Verwitterung feldspatreicher Gesteine Tschirnhaus-Böttcherschen Erfindung und ließ
wie Granit (ÅMagmatite und Metamorphite, 1710 in Meißen die erste europäische Porzellan-
Seite 244) in humiden Klimazonen. Chemisch manufaktur errichten.
ist reiner Kaolin ein natürliches Aluminiumsi- Rohstoffe für das Porzellan sind das Ton-
likathydrat [Al4(OH)8Si4O10] mit einer hohen gestein Kaolin (4 0 – 70 Prozent), Quarz
Schmelztemperatur von 1780 °C. Fügt man zu (15 – 35 Prozent) und Feldspat (10 – 30 Prozent).
Kaolin Wasser hinzu, so bildet er eine plastische wobei letzterer als Flussmittel dient.
Masse, die beliebig verformbar ist; nach der Wär- Je nach der Zusammensetzung unterschei-
mebehandlung bleibt die Form erhalten. Beim det man Weichporzellan mit den Anteilen
Sintervorgang wird oberhalb von 400 °C das re- 40/30/30 und Hartporzellan mit den Anteilen
lativ fest gebundene Kristallwasser ausgetrieben. 50/25/25. Durch das Brennen werden die mit
Neben seiner Hauptverwendung als Porzel- Quarz und Feldspat gemischten Tonminerale in
lanrohmasse dient Kaolin in der Papierherstel- harte, unlösliche Aluminiumsilikate wie Mullit
lung (Å Papier, Seite 289) als Füllstoff sowie als [(Al2O3)3 · (SiO2)2] und Sillimanit (Al2SiO5) um-
Aufheller, in der Kosmetikindustrie als Rohstoff gewandelt, die beide auch natürlich vorkommen.
zur Pudererzeugung. In einem letzten Arbeitsgang wird dann eine
Veredlung des Porzellans mittels Einbrennen
Porzellan von Glasur vorgenommen. Das so erzeugte Por- r
zellan besitzt große Härte und ist basen- und
Das wertvollste und am weitesten verbreitete säureresistent, lediglich Flusssäure (HF) kann
Tonzeug ist Porzellan. Die Herkunft der Na- Porzellan angreifen. Porzellan ist ein elektrischer
mens ist umstritten: Einige Quellen leiten ihn Nichtleiter, weshalb WERNER VON SIEMENS 1849
vom lateinischen Wort porcella, Schweinchen, Porzellanisolatoren beim Bau einer Telegrafen-
ab, in Anspielung auf den italienischen Namen leitung von Frankfurt/Main nach Berlin nutzen
„porcellana“ der Kaurischnecken (Cypraeidae); konnte. Außerdem zeigt sich dieser Werkstoff
andere leiten ihn von einem gleichnamigen por- hitze- und formbeständig, wie man bei heißem
tugiesischen Konsul ab, der das chinesische Por- Kaffee oder Tee in einer Tasse aus Meißner Por-
zellan erstmals nach Europa brachte. In China zellan feststellen kann.
wurde dieses tonkeramische Produkt um 620
n. Chr. erstmals erzeugt und der Herstellungs- Hochleistungskeramiken
prozess über Jahrhunderte geheim gehalten.
Erst die Gier europäischer Fürsten, insbe- Unter dem Begriff Hochleistungskeramiken
sondere das grenzenlose Verlangen des Königs (auch: technische Keramiken oder Sonderkera-
Friedrich August I. von Sachsen, brachte das miken) werden keramische Massen zusammen-
Wissen um die Porzellanerzeugung im 18. Jahr- gefasst, in deren Rohmasse der Tongehalt unter
hundert nach Europa. Aufgrund seiner damali- 20 Prozent liegt. Sie basieren auf synthetisch er-
5-23
Porzellan. Ausstellung des
Porzellan-Museums Mei-
ßen, Sachsen.
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
233
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
zeugten, plastischen Ausgangsstoffen, die durch Silikaten ist gering. Die wichtigsten Metalloxide
Brennen verdichtet und gehärtet werden, und sie sind Aluminiumoxid (Al2O3) mit 85 Prozent
erreichen sehr große Härten. Ihrer Korngröße Anteil, Magnesiumoxid (MgO), Titandioxid
nach gehören sie zu den Feinkeramiken, ihrer (TiO2) und Zirkoniumdioxid (ZrO2), selten
mineralogisch-chemischen Zusammensetzung kommen mehrkomponentige Mischoxide wie
entsprechend werden sie in Feldspat-, Oxid- und FeCr2O4 vor. Bei diesen Keramiken überwiegen
Nichtoxidkeramiken unterteilt. Derartige Kera- ionische Me-O-Bindungen (Å Ionenbindung,
miken bestehen aus kristallinen Phasen sowie Seite 145), ihre Kristalle werden aus dichten
einem hohen Anteil an Glasphase aus Silicium- Packungen von Sauerstoffionen aufgebaut, in
dioxid. In der Regel handelt es sich um neue, im deren Lücken Metallkationen eingelagert sind.
20. Jahrhundert entwickelte Keramikwerkstoffe Der Scherben besitzt nur eine geringe oder gar
wie Oxide, Nitride, Carbide, Boride, Silicide keine Glasphase. Aus diesem Kristallaufbau
und Titanate. ergeben sich hohe Verschleiß- und Hochtem-
peraturfestigkeit und Härte, hohe Zähigkeit,
Feldspatkeramiken gutes Isolationsvermögen und hohe Wärmeleit-
fähigkeit, aber auch Sprödigkeit und geringere
Heutige Dentalkeramiken werden in drei Grup- Toleranz gegenüber Temperaturschocks.
pen eingeteilt, in Feldspatkeramiken, in Oxidke- Die Anwendungsbereiche von Oxidkerami-
ramiken (ÅOxidkeramik) sowie in Glaskerami- ken sind vielfältig und hochwertig: Im Maschi-
ken. Diese Keramikmassen unterscheiden sich nenbau, in der Elektronik, in der Verfahrens-,
in ihrer stofflichen Zusammensetzung und in Hochtemperatur-, Elektro- und Medizintechnik
ihren Eigenschaften erheblich von den traditio- werden daraus unterschiedliche Beschichtungen
nellen Keramiken. Bei Feldspatkeramiken steigt und Bauteile hergestellt. Im medizinischen Be-
der Anteil von Feldspäten in der Rohmasse auf reich werden daraus Gelenk- oder Schulterpro-
über 60 Prozent, bei speziellen Dentalkeramiken thesen sowie insbesondere aus Zirkoniumdi-
sogar auf 70 – 80 Prozent. Weitere Bestandteile oxid Zahnersatzteile sowie Implantate erzeugt.
dieses Dreiststoffsystems sind Ton bzw. Kaolin Eine bedeutende Untergruppe derartiger Me-
(0 – 5 Prozent) sowie Quarz (15 – 25 Prozent). talloxidkeramiken sind die Piezokeramiken, zu
Mit geringen Mengen an Farbstoffen werden denen Blei-Zirkonat-Titanat (PZT, Pb(Zr,Ti)O3)
Zahnfarben möglichst naturgetreu nachgeahmt.
Unter Zugabe von Tonerde (Al2O3) oder
Zirkon (ZrSiO4) werden daraus spezielle mehr-
phasige Keramikwerkstoffe, die weitere Anfor-
derungen erfüllen. Im Fertigprodukt verleiht
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
Oxidkeramiken
234
Erde, Wasser, Luft und Feuer
gehört. PZT wird aufgrund seiner Eigenschaft, gewinnen wir einen schwachen Eindruck von
auf Veränderungen der elektrischen Feldstärke der großen Vielfalt der Gesteine auf der Erde.
mit Erwärmung oder Abkühlung zu reagie-
ren (elektrokalorischer Effekt) verstärkt in der Steine oder Gestein?
Kühltechnik eingesetzt.
Geowissenschaftler gebrauchen den Begriff
Nichtoxidkeramiken „Gestein“ für einen zusammenhängenden, ein-
heitlichen, harten, kartierbaren Schichtkörper,
Diese modernen Keramikstoffe entstehen zwar der ein Ergebnis geologischer Prozesse ist. Ab-
wie Tonkeramiken aus plastischen Rohmas- grenzbare Gesteinskörper weisen eine einheitli-
sen, die gebrannt werden. Sie bestehen jedoch che mineralische Zusammensetzung sowie glei-
aus synthetisch hergestellten Verbindungen wie che chemische und physikalische Eigenschaften
5-26
Carbiden, Nitriden oder Boriden. Dazu gehören auf. Für Petrographen (Gesteinskundler) sind Bunte Steine. Kies an der
unter anderem Siliciumcarbid (SiC), Siliciumni- Gesteine in der Regel natürliche, vielkörnige Südküste von England.
trid (Si3N4), Borcarbid (B4C), Bornitrid (BN), und heterogene Gemische von fest miteinander
Titancarbid (TiC) und Titanborid (Ti3B4). verbundenen Mineralaggregaten. Es gibt auch
Bei diesen keramischen Werkstoffen über- Einmineral-Gesteine, z. B. bestimmte Kalke.
wiegen kovalente Bindungen mit starken Ein Stein dagegen bezeichnet – oft umgangs-
Bindungsenergien und mit locker gepackten sprachlich – ein einzelnes, nicht mehr mit dem
Netzwerkstrukturen im Kristallgitter. Daraus Untergrund verbundenes, unterschiedlich gro-
ergeben sich als hervorstechende Eigenschaf- ß es Bruchstück von Gesteinen. Geowissen-
ten hohe Festigkeit und Härte, hohe chemi- schaftlich charakterisiert die Nachsilbe „...
sche Stabilität und Korrosionsresistenz sowie stein“ einen bestimmten mineralogisch-chemi-
Hitzbeständi g keit g e g enüber Tem p eraturen schen Gesteinstyp, z. B. Kalk- oder Sandstein.
zwischen 1800 und 3500 °C. Siliciumnitrid ist Gesteine bzw. Steine werden anhand der
beispielsweise bei Belastungen bis 800 MPa sta- Anordnung, der Verbindungen und der Art ihrer
bil. Diesen Eigenschaften stehen hohe Herstel- kleinsten Bausteine, der Kristalle und Minerale
lungskosten gegenüber, so dass diese Werkstoffe untergliedert; Petrologen (Steinkundler) bezeich-
nur für Bauteile eingesetzt werden, die hohen nen das als Gefüge. Nach ihrem Gefüge und
elektrischen, thermischen oder mechanischen ihrer geologisch-tektonischen Herkunft bzw.
Belastungen ausgesetzt sind, wie stark bean- Genese werden die Gesteine in drei große Klas-
spruchte Teile von Maschinen in der Industrie, sen eingeteilt (ÅAbbildung 5-28, Seite 236).
Spitzen von Schneidegeräten, temperaturbelas-
tete Teile von Autos, Schutzwesten für das flie- Bildung und Zerstörung von Gesteinen
gende und das Bodenpersonal in der Luftfahrt,
Bauteile für Hubschrauber und Ventile in der Bei einem Vulkanausbruch ist jeder Beobachter
Öl- und Gasindustrie. unmittelbar Zeuge einer Gesteinsneubildung.
Nimmt er Gesteine bzw. Steine in die Hand,
so gewinnt er aufgrund ihrer häufigen Härte
Gesteine – komplexe natürliche und Schwere den Eindruck, dass es sich um
feste, scheinbar für „die Ewigkeit“ geschaffene
Festkörper
Gebilde handelt. Doch der Eindruck täuscht:
Spätestens wenige Meter unter unseren Füßen Da unsere Erde ein „lebender Planet“ mit auf
beginnt das unbekannte Reich der Gesteine, Gesteine einwirkenden Kräften sowie aktivem
jener ausgedehnten kristallinen Festkörper, aus Magmatismus und Vulkanismus ist, unterliegen
denen unsere Erdoberfläche aufgebaut ist. Häu- diese einer ständigen, wiederholten Zerstörung,
fig sind die Gesteine unter einer mehr oder weni- Umwandlung und Neubildung. Doch in der
ger mächtigen Verwitterungsschicht oder unter kurzen menschlichen Lebensspanne ist dieser
einer Vegetationsdecke verborgen. Anhand von Umwandlungsprozess der Gesteine kaum zu
interessanten Steinen, die Kinder als „ungeheuer erkennen, weil sich der „Kreislauf der Gesteine“
wertvolle“ Schätze nach Hause tragen, oder (ÅAbbildung 5-27, Seite 236) über Hundert-
anhand von Steinen an Fluss- oder Meeresufern tausende bis Millionen von Jahren erstreckt.
235
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
Verwitterung
Tagtäglich, praktisch auf Schritt und Tritt, be-
gegnen wir Produkten der Verwitterung, dem
Verwitterungsschutt, der mit großer Mächtig-
keit die Erdoberfläche überzieht. Ein Spazier-
gänger geht über Sand, Lehm oder Kieselsteine,
an Berghängen entdeckt er verstreut größere
Gesteinsbrocken. Die Grundlage für den An-
bau von Feldfrüchten bildet der Ackerboden,
ein spezielles Verwitterungsprodukt, das sich
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
236
Erde, Wasser, Luft und Feuer
237
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
Geologische Zeitskala
5-31
Mineralzusammensetzung der Sedimentgesteine. Quarz
(Sand) bildet den Löwenanteil der Sedimentite. Weitere
Komponenten sind Glimmer und Feldspäte sowie die bei
Verwitterungsprozessen z. T. aus ihnen entstehenden Tonmi-
nerale. Carbonate sind größtenteils biogene Sedimente aus
Kalkschalen mariner Lebewesen wie Muscheln. Viele dieser
Minerale sind farblos. Enthaltene Anteile von Eisenoxiden
(Rost) oder Manganoxid (Braunstein) sind in der Regel für
starke gelbe, braune, schwarze oder rote Färbungen verant-
wortlich.
238
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Sandsteine
Lehm
Geologisch ist Lehm eine kalkarme Mischung durch Verwitterung älterer Gesteine. Es ist das
aus Feinsanden (Korngröße 0,2 – 0,063 Milli- älteste Baumaterial des Menschen und wird
meter), Schluff (Korngröße 0,063 – 0,002 Mil- seit rund 9000 Jahren genutzt. In trockenen
l imeter) und Ton (Korngröße kleiner als Regionen halten sich Lehmhäuser über Jahr-
0,002 Millimeter). Bei einem Tongehalt kleiner hunderte, in humiden Regionen muss Lehm
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
als 35 Prozent spricht man von Magerlehm, bei vor Witterungseinflüssen geschützt werden. So
einem höheren von Fettlehm. Lehm entsteht wird er meist als Verputz genutzt. Seit wenigen
Jahrzehnten gewinnt Lehm als Baumaterial
5-34
wieder an Bedeutung, weil er die Wärme spei-
Lehm als Baumaterial. Rekonstruktion eines steinzeit-
lichen Dorfes unter Verwendung von Holz/Stroh/Lehm- chert und die Luftfeuchtigkeit reguliert.
Materialien (Unteruhldingen/Bodensee).
239
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
Diese weichen Sedimentgesteine sind das Pro- bei der gelöste Salze aus einer verdampfenden,
dukt stärkster physikalischer und chemischer wässrigen Lösung in trockenheißen Regionen
Zerstörung älterer Gesteine. Die Produkte haben ausgeschieden werden, vor allem aus Meer-
Korngrößen von weniger als 0,02 Millimeter wasser. Erreicht salzhaltiges Meerwasser einen
(Schluffsteine) beziehungsweise 0,002 Millimeter Sättigungsgrad von circa 70 Prozent, so fallen
(Tonsteine). Sie bestehen vorwiegend aus was- zunächst Carbonate, dann Sulfate und schließ-
5-36 serhaltigen, oft gelblich bis grau gefärbten Alu- lich Halite aus. Heute findet dieser Prozess zum
Tropfstein. Bärenhöhle, miniumsilikaten. Stärkere Beimengungen von Beispiel am Persischen Golf oder am Ostrand
Schwäbische Alb.
Metallverbindungen (oft Eisen und Mangan) des Kaspischen Meeres statt. Im oberen Perm,
führen zu rötlichen, violetten, grünlichen oder im Zechstein (ÅKasten Geologische Zeitskala,
schwarzen Farbtönen. Tonsteine sind mit einem Seite 238) wurden in Mitteleuropa mächtige,
Halite
Salze der Halogene (z. B. Anteil von 45 bis 55 Prozent die häufigsten Se- heute zum Teil wirtschaftlich genutzte Salz-
Fluoride und Chloride) dimentite. (ÅZiegelstein, Seite 231). schichten abgelagert.
Von den durch Verdunstung entstehenden
sogenannten Evaporiten wird Gips (CaSO 4)
bei Ausbesserungsarbeiten im Haus oder als
Schutzhülle für empfindliche Fossilfundstücke
genutzt. Unsere Speisen würzen wir mit Stein-
salz, viel wichtiger ist es jedoch als Rohstoff für
die chemische Industrie. Ohne Düngermittel aus
Kalisalzen hätte die landwirtschaftliche Pflan-
zenproduktion niemals das heutige Ertragsni-
veau erreicht.
Kalkstein
240
Erde, Wasser, Luft und Feuer
bischen und fränkischen Alb, und am Nordrand gleichzeitiger starker Wärmeentwicklung Cal-
der Alpen steigen die bizarr schroffen Berge der ciumhydroxid, technisch auch Kalkhydrat ge-
Kalkalpen empor. nannt (CaO + H2O → Ca(OH)2). Diesen Vorgang
Kalksteine bestehen teilweise aus dem Mi- nennt man „Kalklöschen“. Der gelöschte Kalk
neral Aragonit (Å Kasten Aragonit, Seite 242), wird zum Beispiel als Beimischung zum Mörtel
Küche, in Spülen oder Waschbecken hinterlas- überwiegend aus winzigen, kalkigen Schalenres-
sen weiße Kalkflecken (warum diese stets einen ten von Kalkalgen der Ordnung Coccolithopho-
Rand bilden, werden wir in ÅKapitel 6 anspre- rida. Heute wird sie meist aus Gips hergestellt.
chen). Beim Erhitzen von kalkhaltigem Wasser
über 50 – 60 °C setzt sich am Boden von Wasser- Versteinerte Pflanzenreste
kochern oder in Kaffeemaschinen Kalk ab. Da-
bei handelt es sich Calciumcarbonat (CaCO3), Viele haben schon ein glänzendes, schwar-
das sich nach dem Entweichen des gasförmigen zes, entzündbares Gesteinsbruchstück in der
Kohlendioxids (CO2) aus dem wasserlöslichen Hand gehabt, ein Stück Kohle. Kohlen wer-
Calciumhydrogencarbonat [Ca(HCO3)2] bildet. den manchmal als in Gesteinen eingefangene
Das wasserunlösliche Carbonat bildet an Kris- und gespeicherte Sonnenenergie beschrieben,
tallisationskeimen auf dem Topfboden in Heiz- sind sie doch aus unter Druck und Temperatur
kesseln und Kaffeemaschinen den gefürchteten umgewandeltem, zersetztem Pflanzenmaterial
Kesselstein. Kristallographisch besteht dieser aus entstanden. Dieser Prozess wird als Inkohlung
dem Mineral Aragonit. bezeichnet. Kohlen bilden eine wirtschaftlich
Kalkstein wird wirtschaftlich sehr vielseitig wichtige Gruppe biogener Sedimentite. Ohne
genutzt. Früher wurden verschiedene Ausbil- ihre Energie wäre der industrielle Aufbau und
dungen als Baustein genutzt, so z. B. Travertin, Fortschritt im 19. und 20. Jahrhundert kaum
wovon Gebäude und Kirchen auf der Alb und möglich gewesen, das vorhandene Holz hätte
am Albrand zeugen. Heute dient er vorwiegend als Energielieferant nicht ausgereicht. 5-39
zur dekorativen Verkleidung von Gebäuden. Petrologisch sind Kohlen braune, braun- Sedimentgesteine. Die
Wird natürlicher Kalkstein auf Temperatu- schwarze bis schwarze, organische Sediment- berühmten weißen Kreide-
felsen von Dover bestehen
ren zwischen 900 und 1200 °C erhitzt, so wird gesteine. Chemisch gesehen bestehen sie aus aus ca. 65 bis über 100
Kohlendioxid abgespalten und es bildet sich schwerflüchtigen, unlöslichen, nicht kristallinen Millionen Jahre alten bio-
Calciumoxid, das als sogenannter Branntkalk Mischungen organischer Moleküle unterschied- genen Sedimentgesteinen
(nur ca. 0,01 mm durch-
eingesetzt wird (CaCO3 → CaO + CO2). Versetzt licher Größe und Struktur mit Beimengungen messende Kalkschalen von
man Branntkalk mit Wasser, so entsteht unter verschiedener Minerale. Coccolithophorida).
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
241
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
Kalkminerale
Kalke sind hauptsächlich aus den zwei Mo- aus, die Carbonat-Ionen sind jeweils auf zwei
difikationen des Minerals Calciumcarbonat Ebenen in entgegengesetzter Richtung angeord-
(CaCO3) aufgebaut, Aragonit und Calcit. Diese net. Dagegen kristallisiert Calcit im trigonalen
haben zwar die gleiche Summenformel, unter- Kristallsystem (ÅKristallsysteme und die 14
scheiden sich aber in ihrer Kristallstruktur und Bravais-Gitter, Seite 155) aus, es kann körnig,
damit in ihren Symmetrien und Kristallformen faserig oder massiv ausgebildet sein.
sowie in ihrer Dichte. Aragonit, benannt nach Beide Modifikationen gehören zur Klasse
einem reichen Vorkommen dieses Minerals in der wasserfreien Carbonate ohne Fremdanio-
Aragonien (Nordost-Spanien), hat eine Dichte nen und sind Salze der Kohlensäure. Im Un-
von 2,93 g/cm3; Calcit, abgeleitet von dem terschied zum Aragonit kann Calcit wenige
griechischen Wort „chal“ und/oder dem la- Prozent Magnesiumcarbonat (MgCO3) führen.
teinischen „calx“ (beides bedeutet Kalk), hat Beide kommen sowohl als chemische Ausschei-
nur eine Dichte von 2,71 g/cm3. Aragonit kris- dungsgesteine (Evaporite) als auch als biogene
tallisiert im orthorhombischen Kristallsystem Sedimente vor.
Aragonit Calcit
Aragonit wird teilweise in warmen, flachma- Calcit (Kalkspat) ist dagegen eine thermisch
rinen Schelfbereichen und auf subtropischen stabile und druckresistente, häufige Modifi-
Kalkplattformen sowie in Salztonebenen se- kation des Calciumcarbonats. Dieses Mine-
miarider bis arider Klimaregionen gebildet. ral wird auch in Tropfsteinhöhlen abgesetzt,
Diese metastabile Modifikation geht bei hauptsächlich jedoch in warmen, marinen
Temperaturen über 400 °C und bei einem Flachwasserbereichen gebildet. Calcit zeigt
Druck von weniger als einer Atmosphäre in mit ca. 300 Kristallformen und zahlreichen,
Calcit über; deshalb findet man Aragonit nur durch Verunreinigungen hervorgerufenen
in jungen Sedimenten oder als Kesselstein Farbvarianten den größten Formenreichtum
in Töpfen und Rohrleitungen. Er ist auch aller Minerale. Er ist ein wichtiges, gesteins-
ein wesentlicher Bestandteil von Perlmutt bildendes Mineral. Seine geringe Härte von
(ÅAbbildung 5-45, Seite 244). Heute wird drei Mohs'schen Härtegraden sowie seine
dieses Mineral nur noch als Schmuckstein Verwitterungsanfälligkeit wird durch optische
und zum Anfertigen von Kunstgegenstän- Eigenschaften wie hohe Doppelbrechung, Flu-
den geschätzt, wirtschaftlich besitzt es keine oreszenz, Phosphoreszenz und Thermolumi-
große Bedeutung mehr. neszenz kompensiert. Ferner ist Calcit ein
unersetzbarer industrieller Rohstoff bei der
Dünger-, Glas- und Pigmentfarbenherstellung
sowie in der Metallurgie.
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
5-40 5-41
Aragonit. links: Natürlich vorkommendes Mineral Calcit. Das thermodynamisch stabilste Calciumcarbonat-
(Spanien); rechts: Abscheidung von Aragonit in einem Mineral.
Wasserrohr.
242
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Nach der Herkunft ihrer pflanzlichen Ausgangs- die Perlen. Der Begriff ist vom althochdeutschen
stoffe unterscheidet man zwei Kohlengruppen. Wort „perala“, die Helle, das Glänzende abge-
Aus Wasserpflanzen und Algen bildet sich am leitet. Die ohne weitere Bearbeitung offerierte
Grund von terrestrischen Gewässern entweder Schönheit und ihre Seltenheit machen diesen
Gyttja oder Sapropel (beides Faulschlammtypen), „biogenen Edelstein“ zu einem geschätzten Ge-
die im Laufe der Inkohlung zu wasserreichen schenk. Perlen werden weltweit als Symbol des
Sapropelkohlen wie Boghead- und Kännelkohle Glücks und der Liebe hoch geachtet.
werden. An den weltweiten Kohlevorräten haben Perlen sind trotz ihrer geringen Mohshärte
sie einen Anteil von weniger als 20 Prozent. Da- von 2,5 bis 4,5 harte, kugelige Gebilde mit ei-
gegen sind die wirtschaftlich wichtigen Humus- ner kristallinen Struktur, die zu 80 – 92 Prozent
kohlen aus Landpflanzen hervorgegangen. Hier aus Aragonit bestehen. Ferner sind etwas Calcit
bilden Lignin und Zellulose (ÅHolz, Seite 287) und Wasser eingelagert. Die plättchenartigen,
die pflanzlichen Ausgangsmaterialien. Daraus schichtweise angeordneten Aragonitkristalle
wurden wasserarme, kohlenstoffreiche Kohlen, werden durch eine Mischung aus Proteinen und
Graphit 98 – 100
243
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
ca. 0,6 Millimeter pro Jahr. Von der Färbung ren sie aus zu Tage tretenden Laven, nennt man
des dominierenden Aragonits hängt es ab, ob sie Ergussgesteine oder Vulkanite (Å Abbildung
eine Perle weißlich, gelblich, rosa oder grau 5-47). Eine besondere Gruppe bilden vulka-
glänzt. Seltene und hoch begehrte schwarze nische Gläser, deren wichtigster Vertreter der
Perlen wachsen vor allem in der Schwarzen Obsidian ist (ÅAbbildung 5-48).
Flügelauster (Pteria penguin). Bei Zuchtperlen Metamorphite (Å Abbildung 5-46) sind se-
kann man bereits zu Beginn des Wachstums die kundäre Gesteinsneubildungen, die durch ver-
Farbe bestimmen. Der Glanz der Perlen, auch schiedene Umwandlungsprozesse, oft unter Be-
Lüster genannt, geht auf unterschiedliche Licht- teiligung von zirkulierenden Lösungen, aus älte-
brechung und Reflexion an den Kristallgrenzen ren Gesteinen aller drei Hauptklassen entstehen.
des Aragonits zurück. Je feiner und zahlreicher Beide Klassen bilden eine kaum überschaubare
die Perlmutthüllen sind, desto stärker ist die Vielfalt von Gesteinen unterschiedlicher Färbung
Interferenz. und Körnung.
Da Perlen zu über 90 Prozent aus Calcium- In der Kultur- und Technikgeschichte der
carbonat bestehen, sind sie empfindlich gegen Menschheit spielten und spielen diese festen
Säure, Kosmetika und gegen die im Hautschweiß Naturprodukte eine wichtige Rolle. In der
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
vorhandenen anorganischen Salze und organi- ältesten Kulturepoche, der Steinzeit, dienten
schen Substanzen. Säuren greifen den Aragonit magmatische und metamorphe Gesteine als
an, Kosmetika und Schweiß zerstören die Ober- r Werkstoffe für die Herstellung von Geräten
fläche. Dagegen schützt Hautfett die Perlen und und Werkzeugen. Bald nutzten die Menschen
trägt zum Erhalt ihres Lüsters bei. diese auch als Mauersteine zur Errichtung
von Mauern und Gebäuden. Während sie als
5-44 Mauersteine immer stärker durch synthetische
Perlen. Aufbau von Na-
tur- und Zuchtperlen. Echte Magmatite und Metamorphite – Bausteine ersetzt wurden, werden die zahlrei-
chen Magmatite und Metamorphite aufgrund
Perlen bestehen vollständig
aus weitgehend glatten
Produkte des Erdinneren
ihres äußeren Erscheinungsbildes und ihrer Ei-
Perlmutt-Kugelschalen
(oben). Im Meer erzeugte
Oft versteht man unter Gesteinen oder Steinen genschaften weiterhin vielfältig wirtschaftlich
Zuchtperlen besitzen einen kristalline Naturgebilde mit makroskopisch genutzt: Im Straßenbau sowie im Bahnbau die-
Fremdkörper als Kern. In erkennbaren Einzelpartikeln, wie man sie ge- nen sie als Schotter und als Pflaster, an und in
Flußmuscheln werden auch
häuft an Flussufern und Meeresgestaden oder Gebäuden und im Gartenbau als Begrenzungs-
kernlose Zuchtperlen er-
zeugt. Sie haben allerdings an Wegesrändern findet. Diesen Vorstellungen und Schmuckelemente. Selbst in den modernen
typischerweise eine viel un- entsprechen auch Kopfsteinpflaster, aus oben Werkstoffen Beton und Asphalt bilden stark
regelmäßigere Oberfläche.
abgerundeten, festen Natursteinen gräulicher, zerkleinerte Gesteine (Splitt) beider Klassen die
graurötlicher oder dunkler Färbung und die Grundmasse.
länglichen Begrenzungssteine von Bürgerstei-
gen. In einigen Regionen Deutschlands be-
wundern wir kleine, mittelalterliche Feldstein-
Kirchen, deren Wände aus oft grob behau-
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
244
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Glasfaserverstärkte
Graphit
Blei Kunststoffe (GFK)
Aluminium Asbest Holz PVC
Baustahl Grauguß Kupfer Carbonfaserverstärkte
Magnesium Glas Leder Plexiglas
Zink Kunststoffe (CFK)
Beton
Stahlbeton
Möbel
Motorblöcke „Blei“stifte Gebäudebau Leichtbau
Wasserrohre Bleche Rohre
Träger Stützen Wärmeisolation Innenausbau Bootsbau
Elektrokabel Folien Schüsseln
Bleche Geländer Fenster Masten Fahrzeugrahmen
Bleche Flugzeugbau Flugzeugfenster
Brücken Flaschen Zäune Hochbau
Gebäude Bezüge
245
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
246
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Puzzolane
Dekoration mit Mörtel - das Sgraffito
Puzzolane (Puzzolanerde) sind natürliche oder Eine besonders dekorative Verputzung von Außenwänden ist das
künstliche Stoffe, die lösliche Kieselsäure (SiO2) Sgraffito oder Scrafitto. Der Name leitet sich vom italienischen Wort
und/oder reaktionsfähiges Aluminiumoxid (Ton- „sgraffiare“, zerkratzen, ab. Dabei werden auf einer rauen Putzun-
erde, Al2O3) führen. Benannt sind sie nach reich- terlage nass in nass zwei oder drei verschiedenfarbige, etwa 0,5 cm
haltigen Vorkommen vulkanischer Aschen am starke Kalkputzschichten aufgetragen. Anschließend werden noch
Fuße des Vesuvs (bei Puzzuoli), die in römischer feucht Muster aus den Putzschichten herausgekratzt. So entstehen
Zeit zur Herstellung des „opus caementitiums“ reliefartige Verzierungen oder Bilder, die allerdings vor Feuchtigkeit
abgebaut wurden. Natürliche Puzzolane sind geschützt werden müssen. Heute noch wird Sgraffito in Bayern an-
vulkanische Aschen und Tuff sowie einige mag- gewandt, in der Renaissance war diese Putztechnik in Italien beliebt
matische und sedimentäre Gesteine, künstliches und breitete sich von dort nach Böhmen, Schlesien und Sachsen aus.
Ziegelmehl, basisch granulierte Hochofenschla- Reichen Sgraffitoschmuck weisen die Arkadenwand im Schloss zu
cke sowie Flugaschen bzw. Filterstäube aus Koh- Neuburg/Donau, das Rathaus von Mies (Stribro) und das Schloss von
lekraft- und Aluminiumwerken. Puzzolane sind Litomysl (Böhmen) auf.
nicht hydraulisch, sie erhärten nicht von selbst.
Aber sie reagieren mit Calciumhydroxid, bau- drähten einen eisenbewehrten Beton, damals Mo-
technisch Weißkalkhydrat, in Gegenwart von nierplatten genannt. Seit 1870 werden Schmuck-
Wasser. Durch diese Reaktion bilden sich Cal- teile für Fassaden, Ornamente, Säulen, Baluster
ciumsilikathydrate (CSH-Phasen) sowie Calci- und Statuen aus Beton hergestellt. Verbesserte
247
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
24 Stunden hin. Gesteinskörnung wie Sand und planen Architekten Hochhäuser, wie sie bisher
Kies, Splitt und Schlacke sind Materialien, die nur in Stahlgerüst-Konstruktion möglich wa-
nicht chemisch reagieren, sondern nur zur Kon- ren, oder weitgespannte selbsttragende Brücken
sistenz und zum Volumen des Betons beitragen. aus diesem Baustoff. Im Labor wurde mit Glas
Ihr Volumenanteil schwankt je nach Betonart verschalter UHFB mit spiegelnder Oberfläche
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
um 70 Prozent, die Korngröße der Partikel getestet, so dass Designer hoffen, in naher Zu-
liegt heute entweder bei 16 Millimeter oder bei kunft Waschbecken und andere Gebrauchsgüter
32 Millimeter. Normaler Beton wiegt zwischen daraus herstellen zu können. Bisher wurden zwei
2000 und 2600 kg·m–3. Seine höchste Festigkeit Fußgängerbrücken aus diesem neuen Baustoff
5-53 liegt bei 60 N·mm–2. Der Zement hat einen An- errichtet (ÅAbbildung 5-53).
Gärtnerbrücke in Kassel teil von bis zu 30 Volumenprozenten.
(2005/6). Eine der ersten
Mit seinen unterschiedlichen Oberflächen- Er kann auch leicht sein
Brücken aus ultrahoch-
festem Beton (UHFB) in strukturen kann Beton in jede Form und Größe
Deutschland. gebracht werden. Er kann für Spezialzwecke Andere, moderne Betonarten sind Leichtbe-
eingesetzt werden, etwa zur Schalldämmung, tone, die nach DIN-Normen eine Rohdichte bis
zur Wärme- und Kältespeicherung und zum 2000 kg·m–3 aufweisen dürfen. Wie der traditio-
Feuerschutz. Beton ist wasserundurchlässig und nelle Beton bestehen sie aus einem Gemisch von
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
resistent gegen Schimmelpilze und Tierfraß. Er Gesteinskörnung, Zement und Wasser mit zuge-
ist zwar sehr druckfest, wird aber erst durch setzten Leichtzuschlägen wie Blähton, Ziegel-
Einzug von Stahl zugfest (Stahlbeton). schrot, Holz, Polystyrol oder Luft. Die dadurch
Chemisch ist der traditionelle Beton jedoch erzielten Hohlräume machen diesen Baustoff
ein instabiler, ziemlich spröder Baustoff, der wesentlich leichter als traditionellen Beton. Nach
5-54
Gefügedichter Leichtbe- durch Säuren, konzentrierte Salzlösungen, sul- ihrer inneren Struktur werden ein gefügedichter
ton. Geschlossenes Gefüge. fathaltige Wässer (Sulfattreiben) oder Alkali- und der haufwerkporige Leichtbeton unterschie-
Als Zuschlagsstoffe werden Kieselsäure-Reaktion angegriffen und zerstört den (ÅAbbildung 5-54 und 5-55).
Blähton oder Blähgas ver-
wendet. Die Oberfläche ist wird und deshalb durch chemisch resistente
dicht, innere Hohlräume Überzüge geschützt werden muss. Ein Lego für Erwachsene
sind mit Zementleim ver-
füllt, was eine Rohdichte
von 600 – 2000 kg / m3 er- Härter und leichter als Stahl Unter dem Markennamen „Ytong“ ist ein spe-
gibt. Trotz geringen Eigen- zieller, künstlicher Baustein bekannt, der sich
gewichts besitzt dieser Be- Auf der Suche nach einem haltbareren und mit Feilen, Raspeln und Sägen bearbeiten lässt
ton ausreichende Festigkeit
für weitgespannte Brücken
druckfesteren zementgebundenen Werkstoff (Å Abbildung 5-56). Da selbst ein geschickter
oder Hochhäuser. wurde Ende des letzten Jahrhunderts einen Be- Nichtfachmann ihn passgenau vermauern kann,
ton namens „Ultrahochfester Beton“ (UHFB) wird er manchmal als „Lego für Erwachsene“
entwickelt. Den üblichen Komponenten Ze- bezeichnet. Dieser Baustein heißt zwar „Po-
ment, Gesteinskörnung und Wasser werden renbeton“ und wird zum Leichtbeton gerech-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
als Zusatzstoffe millimetergroße Stahl- oder net, ist aber kein Beton im traditionellen Sinne.
Kunststoffspäne sowie Silicastaub zugefügt. Die Ihm fehlt die Gesteinskörnung, also Sand und/
Korngröße der Gesteinskörnung ist auf 0,5 Mil- oder Kies. Stattdessen wird er aus Branntkalk
limeter beschränkt, der Wassergehalt reduziert. (ÅKalkstein), Zement, fein gemahlenem Quarz-
5-55
Die Zugabe des extrem feinen Silicastaubs be- sand und etwas Aluminiumpulver hergestellt.
Haufwerkporiger Leicht- wirkt eine deutliche Festigkeitssteigerung des Die beiden ersten Bestandteile dienen als mi-
beton. Offenes Gefüge mit Hochleistungsbetons auf Werte zwischen 150 neralisches Bindemittel, das Aluminium dient
zahlreichen Hohlräumen
und 250 N·mm–2. Silicastaub verändert die als Treibmittel. Bei seiner Reaktion mit der
und rauer Oberfläche. Die
Körner berühren sich nur Mikrostrukturen im Kontaktbereich zwischen alkalischen Mörtelmasse und Wasser bildet sich
an wenigen Stellen und dem Zementstein und dem Zuschlag, weil zu- zunächst Wasserstoffgas, welches das Material
sind aufgrund reduzierter
sätzlich festigkeitsverstärkende und bindende aufbläht. Es entstehen zahllose mit Wasserstoff-
Zugabe von Zementleim
oder Feinmörtel nur punk- Calciumsilikathydrate (CSH-Phasen) ausgebil- gas gefüllte Blasen. Dieses leicht flüchtige Gas
tuell verkittet. Deshalb det werden. Die hohe Gefügedichte von UHFB wird rasch durch Luft ersetzt. Damit sich das
besitzt diese Betonart eine verringert das Eindringen von schädlichen Chlo- Bindemittel Tobermorit (5 CaO · 6SiO2·5 H2O)
Rohdichte von nur ca.
400 kg / m3. Verwendet wird ridionen aus dem Tauwasser in den Baustoff. bildet, ein auch natürlich vorkommendes Mi-
er z. B. für Trennwände. Da er fast so fest ist wie Stahl, aber leichter, neral, muss die erhärtende Masse mit gesät-
248
Erde, Wasser, Luft und Feuer
tigtem Wasserdampf bei Temperaturen von Die Nutzung dieses Stoffes lässt sich bis in die
180 – 200 °C und einem Druck von 10 – 12 bar Antike zurückverfolgen. Im alten Mesopotamien
behandelt werden. Am Ende erhält man einen wurde Naturasphalt als Abdichtung für
Baustein, der zu 80 Volumenprozent aus Luft Flüssigkeitsbehälter genutzt, die alten Ägypter
und zu 20 Volumenprozent aus kristallinem balsamierten mit dem im Asphalt enthaltenen
Bindemittelgerüst besteht. Trotz dieser luftigen Bitumen (ÅKasten Bitumen, Seite 251) ihre
Struktur handelt es sich um einen tragfesten Toten ein; die Bezeichnung Mumien leitet
5-56
Ytong. Beispiel eines künstlichen Mauersteins.
249
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
sind nur Asphaltseen wie im Irak, in Venezuela, 19. Jahrhundert entwickelt, als die wachsende
auf Trinidad, in der Schweiz oder sogar in Nachfrage nicht mehr aus natürlichen Quellen
5-59 Deutschland. Naturasphalte werden wegen gedeckt werden konnte. Die zähe Asphaltmasse
Asphaltsee in Trinidad. ihrer großen Härte heute hauptsächlich als passt sich leicht Bodenunebenheiten an, besitzt
Der 40 Hektar große Pitch-
Korrosionsschutz von Oberflächen verwendet, ein aus g ezeichnetes Haftvermö g en, nimmt
Lake auf Trinidad ist die
weltweit größte Lagerstätte Asphaltite zur Herstellung von Farben und hohe Belastungen auf und verteilt sie auf die
natürlichen Asphalts. Man Lacken. Technischer Asphalt (Petroleumasphalt) U nterla g e. Auf g rund dieser Ei g enschaften
vermutet, dass der See auf besteht aus einer Mischung von Bitumen mit eignen sich technische Asphalte hervorragend
einer Plattenspalte liegt,
durch die Öl an die Oberflä- verschieden Gesteinskörnungen und nach Bedarf als Deckschichten für Landebahnen, Wege und
che dringt. mit ausgewählten Zusatzmitteln. Er wurde im Straßen. Zur Kennzeichnung verschiedener
2 WELSC
2012
©2 ELS
EL CH & PARTNER
ELSCH ARTN C N IC
SCIENTIF
ARTNER SSCIEN
CIEN C MULTI
MU A
MULT MEDIA
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Bitumen
Natürlicher Bitumen findet sich in Asphalt und Temperaturen zwischen 150 und 200°C schließ-
Asphaltgesteinen und als schwerster Bestandteil lich dünnflüssig. In diesem Zustand umhüllt es
in Erdöl. Heute fällt Bitumen überwiegend als die Mineralkörner und bildet bei Abkühlung ein
Restfraktion nach dem Cracken und der Des- fest haftendes Bindemittel, das dem Asphalt die
tillation von Erdöl an. Bitumen ist ein dunkles, erforderliche Festigkeit verleiht.
schwerflüchtiges Gemisch aus höheren Koh- Bitumen altert unter dem Einfluss von
lenwasserstoffen und heterozyklischen Verbin- Sauerstoff, Licht und Wärme. Durch Wärme
dungen. Neben den beiden Hauptelementen verdunsten immer mehr Ölanteile (Verduns- 5-61
Kohlenstoff und Wasserstoff enthält Bitumen tungsalterung), Luftsauerstoff reagiert mit Bitumen. Kolloidsystem aus
noch geringe Mengen an Schwefel, Sauerstoff Kohlenwasserstoffen (oxidative Alterung) und Asphaltkügelchen in Malte-
nen, die mit einer löslichen
und Stickstoff. Destilliertes Bitumen besteht zu durch Agglomeration werden die Asphaltene
Schicht aus Asphaltharzen
45 – 65 Prozent aus Ölen, zu 20 – 40 Prozent aus u nd Harze ver g rößert (Strukturalterun g ). umgeben sind. Beide zu-
Harzen (lösliche Maltene) und zu 15 – 25 Pro- Diese Prozesse bewirken, dass das Bitumen sammen bilden die so ge-
nannten Micellen.
zent aus unlöslichen Asphaltenen. Das Gemisch seine Haftfähigkeit verliert, verhärtet und der
wird als resolubles Kolloidsystem bezeichnet, Asphalt rissig wird.
in dem die an Asphaltenmicellen angelagerten In Mesopotamien wurde Bitumen als Mör-
Harze beliebig gelöst und wieder abgeschieden tel, später im Nahen Osten und in Indien als
werden können. Bitumen ist nicht wasserlöslich Dichtungsmittel und im antiken Rom schon im
und praktisch wasserundurchlässig. Es verhält Straßenbau verwendet. Von den jährlich etwa
sich wie eine Flüssigkeit mit temperaturabhängi- 3,5 Millionen Tonnen verbrauchtem Bitumen
ger Viskosität: Bei Raumtemperatur ist Bitumen in Deutschland gehen 75 – 80 Prozent in den
hart bis zähplastisch, mit zunehmender Erwär- Straßenbau, der Rest entfällt auf Abdichtungen
mung wird es immer weniger zähflüssig und bei im Hoch-, Wasser- und Deponiebau.
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
251
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
Heute können schon Kinder Metalle wie Eisen, Kationen, d.h. sie geben die äußeren
Kupfer, Gold, Silber, Nickel und Aluminium Elektronen vollständig an die Nichtmetall-
benennen. Atome ab. Mit Basen wie Ammoniak und
Halogeniden können sie Komplexverbindungen
Vorkommen und Eigenschaften eingehen. Die meisten Metalle kristallisieren
in dem kubisch-flächenzentrierten oder im
Betrachtet man das Periodens y stem der kubisch-raumzentrierten Kristallsystem
5-62 Elemente, so stellt man fest, dass um die 80 (ÅKristallsysteme, Seite 154).
Erzgewinnung durch Elemente zu den Metallen gehören. Sie wurden
Feuer. Früher wurde zur
entweder durch Kernfusion in Sternen (bis Eisen) Einteilung der Metalle
Erzgewinnung oft Feuer
genutzt. Das Gestein wurde oder sonstige kosmische Prozesse gebildet (ÅWie
erhitzt und mit Wasser ab- die Atome in die Welt kamen, Seite 469). In der A ls Werkstoffe werden Metalle anhand
gelöscht. Das Gestein erhielt Erdkruste dominieren Nichtmetalle, Aluminium mehrerer Kriterien unterteilt. Nach Elementen
Risse und das Erz konnte
leichter herausgebrochen steht als erstes metallisches Element mit einem in Eisen- und Nichteisenmetalle, nach ihrer
werden. Masseanteil von nur 7,57 Prozent an dritter R eaktivität in Edelmetalle wie Gold oder
Ste ll e ( Å Zusammensetzung d er Er dk ruste, Platin, die kaum unter Umweltbedingungen
Seite 225). Anders der Erdkern, er besteht oxidieren oder korrodieren, und in unedle
Einteilungen der Metalle überwiegend aus Eisen, dem kernphysikalisch Metalle wie Eisen oder Nickel, nach ihrer
Eisenmetall – stabilsten Element. Unter den Bedingungen, Dichte in Schwermetalle (5,1 – 19,32 g / cm 3)
Nichteisenmetall
Edelmetall – die auf der Erdoberfläche und in der Erdkruste wie Chrom, Blei, Kupfer oder Gold und in
unedles Metall herrschen, kommen die meisten Metalle nur in Leichtmetalle (bis 5,0 g / cm3) wie Aluminium,
Schwermetall – Form von chemischen Verbindungen vor. Nur Magnesium und Titan. Eisen gehört zu den
Leichtmetall
Metall – Halbmetall wenige Edelmetalle findet man gediegen, die unedlen Metallen und ist ein Schwermetall,
Metall – Hartmetall meisten Metalle müssen aus Oxiden, Sulfiden Aluminium ist ein Leichtmetall sowie ein unedles
oder Carbonaten extrahiert werden. Metall. Außerhalb dieser Einteilungen stehen
Diese Aufbereitung vom Rohstoff Erz zum Halbmetalle wie Arsen, die sowohl metallische
Werkstoff Metall erfolgt generell in den drei als auch nichtmetallische Eigenschaften zeigen.
Bearbeitungsschritten Aufarbeitung, Reduktion Und als Hartmetalle werden besonders harte,
(Verhüttung) und Raffination, wobei die einzel- metallische Verbundstoffe bezeichnet.
nen Verfahren für die jeweiligen Metalle unter-
schiedlich sein können. Metallurgie
Bis auf Quecksilber bilden alle Metalle un-
ter Standardbedingungen (25 °C, 1 atm Druck) Metallurgie im ursprünglichen Sinn ist eine
Festkörper. Sie zeichnen sich durch einen spe- Bezeichnung für die Wissenschaft, die sich
ziellen Gitterbau sowie einen speziellen Bin- mit allen Metallen und ihrer wirtschaftlichen
dungstyp, die Metallbindung (ÅBindungsarten, Nutzung befasst: Sie beschäftigt sich mit der
Seite 145) aus. Bei Metallen sind die äußeren Suche, dem Auffinden und dem Ausbeuten
Elektronen (Valenzelektronen) frei beweglich von Erzlagerstätten, mit der Nutzbarmachung
über das gesamte Kristallgitter verteilt und kön- von Erzen sowie mit der Gewinnung und
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
nen mit geringer Ionisierungsenergie (weniger Verarbeitung von Metallen. Der Begriff selbst
als 10 eV) abgespalten werden. Die große Be- ist griechisch-lateinischen Ursprungs: Er leitet
weglichkeit der Valenzelektronen ist die Ursache sich von den griechischen Worten metallón,
für charakteristische Metalleigenschaften (ÅDas Bergwerk, Mine und ourgos, Arbeiter ab und
Einmaleins der Werkstoffeigenschaften, Seite ist über das neulateinische Wort metallurgia ins
5-63
GEORGIUS AGRICOLA 174): Spiegelglanz, Undurchsichtigkeit, gute Deutsche übernommen worden.
(1484 – 1555). Er gilt als elektrische und thermische Leitfähigkeit und ihre Früher wurden die Begriffe Metallurgie und
der Begründer der Minera-
Verformbarkeit (Duktilität). Verhüttung synonym gebraucht, heute bezieht
logie. Sein posthum 1556
veröffentlichtes Hauptwerk Eine Wärme b e h an dl ung f ü h rt b ei d en sich letzterer nur auf das kommerziell betriebene
über Metallkunde, Bergbau meisten Metallen zu einer Änderung ihrer Ausschmelzen von Metallen aus Erzen. Erste An-
und Hüttenwesen (De re Eigenschaften sowie zu einer Veränderung sätze einer Metallurgie lassen sich bereits im al-
metallica) galt über zwei
Jahrhunderte lang als Klassi- ihrer Mikrostruktur. In Verbindungen mit ten Mesopotamien nachweisen. Griechische und
ker zu diesem Thema. Nichtmetallen b il d en d ie meisten Metalle römische Metallurgen und Handwerker entwi-
252
Erde, Wasser, Luft und Feuer
253
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
Gefüge bestimmt (Å Phasen und Phasenüber- abgeschöpft werden können. Man nennt dieses
gang, Seite 166). Diese Stoffgemische zeigen Verfahren Flotation (engl. float, schwimmen).
stets eine niedrigere Leitfähigkeit sowie einen Bei chemischen Trennverfahren wie bei der
niedrigeren Schmelzpunkt als die beteiligten Gewinnung von Aluminiumoxid (Al2O3) werden
Reinmetalle; viele Legierungen haben keinen die unterschiedlichen chemischen Eigenschaften
fixen Schmelzpunkt, sondern einen Schmelz- eines Erzes genutzt.
bereich. Die metallischen Eigenschaften wie Während der Reduktion wird das Metall bei
Spiegelglanz, Wärmeleitfähigkeit, elektrische hohen Temperaturen zum oft noch verunreinigten
Leitfähigkeit bleiben allerdings erhalten. Bei in- Element reduziert. Da sich Oxide am leichtesten
termetallischen Verbindungen handelt es sich reduzieren lassen, müssen Sulfide und Carbonate
entweder um eine Mischung winziger Kristalle unter Luftzufuhr in Oxide überführt werden.
der beteiligten Metalle oder um Mischkristalle. Bei Sulfiden heißt das Verfahren Rösten, bei
Die Atome eines Metallgitters lassen sich näm- Carbonaten Calcinieren oder Rösten. Wichtige
lich relativ leicht durch Atome eines Fremdme- Reduktionsmittel sind Kohlenstoff, eingesetzt bei
talls ersetzen, wenn diese annähernd gleich groß der Eisengewinnung, Wasserstoff bei Titan und
sind. Sind letztere erheblich größer, so bildet Wolfram um eine Carbidbildung zu vermeiden.
sich ein verzerrtes Gitter. Kleinere Fremdatome Auch unedle Metalle wie Eisen werden
können dagegen in Zwischenräume des Gitters verwendet, zum Beispiel bei der Reduktion von
eingelagert werden. Kupfer. Metalle, bei denen diese Verfahren nicht
zu raffinierfähigen Rohmetallen führen, werden
Aufarbeitung und Verhüttung mittels Elektrolyse reduziert (z. B. Zink).
W ähren d d er R affination wer d en d ie
Die meisten Metalle kommen als mineralisch- R o h meta ll e von Beimisc h ungen gereinigt
chemische Mehrkomponentenverbindungen in und hoch (oft bis zu 99,9 Prozent Reinheit),
Gesteinen gemeinsam mit nicht metallführenden angereichert. Gegebenenfalls werden gleichzeitig
Bestandteilen vor. Derartige Gesteine nennt man bestimmte Zusätze (Legierungselemente)
Erze (ÅKasten Erz: Mythologie und Bedeutung, hinzugefügt, um dem Metall die geforderten
Seite 255), wirtschaftlich interessante Kon- Eigenschaften zu verleihen.
zentrationen und räumlich ausgedehnte Vor-
kommen metallführender Gesteine heißen
Erzlagerstätten. Die Abbauwürdigkeit solcher Vom Eisen zum Stahl
Lagerstätten wird von den jeweiligen technischen
Möglichkeiten und der Nachfrage gesteuert. Mit Fug und Recht kann man dem Metall
Bei Eisen ist eine Lagerstätte mit mindestens E i se n e in e e n tsc h e i de n de R o ll e be i de r
30 Prozent Eisengehalt abbauwürdig, bei poststeinzeitlichen Entwicklung von Technik
Kupfer schon mit 1 Prozent Kupfergehalt. Vom und Zivilisation zusprechen, eine mehr als 3500
Rohstoff Erz zum Reinmetall sind mehrere Jahre lange Kulturepoche ist nach ihm benannt.
Verfahrensschritte erforderlich, die von Metall Erste Hinweise auf eine Eisenverhüttung finden
zu Metall verschieden sein können. sich in der Türkei, im Bereich des ehemaligen
Während der Aufarbeitung werden durch Hethiter-Reiches zwischen 1600 und 1200 v. Chr.
physikalische oder chemische Verfahren oft Doch die Eisenzeit setzte um 1000 bis 900 v. Chr.
noch am Gewinnungsort unerwünschte oder im antiken Mesopotamien ein, als dort Eisen
wertlose Be g leitstoffe ab g etrennt und die Kupfer zunehmend als Material für Geräte
gewünschte Metallkomponente angereichert. und Waffen verdrängte. Über Anatolien und
Eventuell wird das metallhaltige Mineral in Ägypten verbreitete sich die Eisennutzung
eine für die weitere Verarbeitung günstige Form ü ber den g esamten Mittelmeerraum. Im
gebracht. Bei Kupfer-, Zink- und Bleierzen t ransalpinen Europa wird der Beginn der
wird das Erz fein gemahlen und in Wasser Ei se nz e i t z w i sc h e n 800 u n d 700 v. C hr.
aufgeschwemmt, wobei ständig Luft eingerührt angesetzt. Um 800 v. Chr. entdeckten Kelten in
wird. Die entstehenden Gasblasen haften an den den österreichischen Ostalpen das erste große
hydrophoben (wasserabweisenden) Partikeln Eisenerzvorkommen Europas. Ihre Bergleute,
und verleihen diesen Auftrieb, so dass sie Schmiede und Handwerker perfektionierten die
254
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Die Herkunft des Wortes „Erz“ ist umstrit- was, das aus der Erde erschmolzen wurde, dann
ten. Viele Sprachwissenschaftler führen es auf „mineralhaltiges Eisen“. In der allgemeinen
das sumerische urudu, (rotes) Kupfer, zurück. geowissenschaftlichen Definition von „Erz“ als
Es wurde als arut((i)a ins Indogermanische ein mit einer Gangart (wertlose Nebenkompo-
übermittelt. Im Althochdeutschen taucht der nenten) verwachsenes metallhaltiges Mineral
Begriff als aruz(zi) auf. Über erize und eriz oder Mineralgemenge klingen diese Inhalte
eisernen Waffen waren ebenso gefürchtet wie Brennstoffversorgung. Die wachsende Menge
gefragt. Um diese Zeit begann sich auch in Japan a n Eisenerz erforderte ständi g wachsende
und China die Eisenverhüttung zu entwickeln. Mengen an Holzkohle, was wiederum zur immer 5-66
Bis auf seltenes, meteoritisches Eisen kommt intensiveren Abholzung der Wälder im Umland Rennofen. Historische
das Metall in der Erdkruste nicht gediegen vor. von Eisenhütten führte. Schließlich trat bis zum Rennöfen sind oben offene,
meist aus Lehm errichtete,
Vielmehr ist es in mineralischen Verbindungen Ende des 17. Jahrhunderts zunehmend eine
60 – 150 cm aufragende
als Erz oberflächennah häufig zu finden. Schnell Verknappung und durch weitere Transportwege Schachtöfen mit einem gru-
entstanden Vorrichtungen zur Gewinnung von eine Verteuerung der Holzkohle ein. Mit der benförmigen Auslass, über
Schmiedeeisen, zuerst sogenannte Rennöfen Einführung von Koks als Brennstoff im Jahr den die flüssige Schlacke
herausrinnen sollte, daher
(ÅAbbildung 5-66). Aufgrund der aufwändigen 1709 in Coalbrookdale (England) wurde der die Bezeichnung Rennofen.
Gewinnung wurde Eisen anfänglich zu Schmuck, entscheidende Schritt zu modernen Hochöfen Beschickt wurde der Ofen
später vorwiegend zu Waffen wie Schwerter, und zur Massenproduktion von Roheisen und mit Lagen aus Holzkohle
und Eisenerz. Rennöfen
Schilde und Rüstungen verarbeitet. Mit Stahl vollzogen. erreichten Temperaturen
wachsender Nachfrage konnten Rennöfen E in moderner Hochofen (Å Abbildun g um 1200 – 1400 °C. Das
nicht mehr genug Roheisen liefern. Deshalb 5-68) läuft durchschnittlich 10 Jahre ohne Eisenerz wurde durch das
entstehende Kohlenmon-
w urde ab dem 13 . J ahrhundert ein neues, Unterbrechung und liefert täglich zwischen oxid zu Eisen reduziert, da
leistungsfähigeres Verhüttungsverfahren mit 7000 und mehr als 10 000 Tonnen Roheisen. die Schmelztemperatur des
größeren Verhüttungsöfen, Floßöfen genannt Für 1000 kg Roheisen müssen 1600 kg Erz, Eisens aber bei 1535 °C
liegt, bildete sich kein flüs-
(ÅRandspalte Floßofen, Seite 256), eingeführt, siges Roheisen, sondern ein
die im Tal an Wasserläufen angesiedelt wurden. halbfester Eisenschwamm,
Mit der Einführung neuer Schmelzöfen die sogenannte Luppe, die
zu etwa 60 Prozent aus
und verbesserter Verhüttungsverfahren mit
Schlacke und zu 40 Prozent
nachgeordneter oxidativer Reduzierung des aus Roheisen bestand. Um
Kohlenstoffgehalts im Roheisen (das Frischen) die Luppe zu entnehmen,
musste der Ofen aufgebro-
konnten regional bis zu 400 Jahrestonnen
chen werden. Aus ihr wurde
hochwertiges Gusseisen sowie schmiedbarer die Schlacke mühsam durch
Stahl erzeugt werden. Weitere Verbesserung der Hämmern ausgetrieben, um
Verhüttungsverfahren und Vergrößerung der Öfen verarbeitbares Schmiede-
eisen zu erhalten. Die Me-
in Richtung moderner Hochöfen ermöglichte tallausbeute belief sich auf
eine zunehmende Produktionssteigerung. Als maximal 50 Prozent.
255
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
Floßöfen 100 kg Zuschläge, 400 kg Koks, 10 000 kg Stahl wird durch Schmelz- und Reduktions-
Mittelalterliche Frühfor-
Kühlwasser und 1500 m3 Frischluft eingesetzt prozesse aus verschieden Erzen wie Roteisen-
men des modernen Hoch-
ofens. Die mit Holzkohle werden. Außer der genannte Menge Roheisen stein, Brauneisenstein oder Magneteisenstein
befeuerten Öfen waren fallen 350 kg Schlacke, 2600 kg Gichtgas sowie gewonnen. Einfache Gewinnungsverfahren um
bis zu fünf Meter hoch 30 kg Gichtstaub an. stahlähnliche Schmelzprodukte zu erzeugen,
und wurden an Wasser-
läufen angelegt. Ihre Höhe Was umgangssprachlich als Eisen bezeich- beherrschten schon antike Schmiede. Da sie in
und die wassergetriebenen net wird, ist eigentlich eine Eisen-Kohlenstoff- ihren Schmelzöfen jedoch nicht die Schmelztem-
Blasebälge ermöglichten Legierung, die zu etwa 90 Prozent aus Eisen, zu peratur des Eisens erreichen konnten, erhielten
Temperaturen über dem
Schmelzpunkt des Eisens. 4 – 5 Prozent aus Kohlenstoff, zu 3 Prozent aus sie mit Schlacke und zu hohem Kohlenstoff-
Das flüssige Roheisen floss Silicium, bis zu 6 Prozent aus Mangan sowie gehalt verunreinigte Produkte, die arbeitsauf-
aus dem Ofen in eine aus geringen Beimengungen Schwefel, Phosphor, wändig in schmiedbare Form überführt werden
besondere Sandwanne,
wo es erstarrte, daher die Chrom, Vanadium und Aluminium besteht. Auf- mussten. Mit der Verwendung von Koks als
Bezeichnung „Floßofen“. grund seines hohen Gehalts an Kohlenstoff ist Energieträger setzte ab Mitte des 19. Jahrhun-
Es führte jedoch drei bis das Hochofenprodukt im kalten Zustand spröde derts der Siegeszug von Stahl als einer der wich-
vier Prozent Kohlenstoff,
so dass es nicht schmied-
und nicht schmiedbar. Erst nach dem Frischen tigsten Werkstoffe ein. Dazu trugen ab 1855
bar war. Deshalb wurde es bildet es das Ausgangsmaterial für Stahl und verbesserte Schmelzverfahren wie das Bessemer-
anfänglich als Dreck- oder Gusseisen, die sich beide im Kohlenstoffgehalt Verfahren bei, mit dem erzeugten Stahl konn-
Schweineeisen bezeichnet.
unterscheiden. Führt das Roheisen Nebenkom- ten endlich auch explosionssichere Kanonen
Zur weiteren Verarbeitung
musste es „aufgefrischt“ ponenten wie Chrom, Vanadium und vor allem produziert werden. Mit dem Thomasverfahren
werden, wobei durch Re- Mangan, so erhält man weißes Roheisen mit ließ sich ab 1879 schmied- und haltbarer Stahl
duktion Begleitelemente
weißen Bruchflächen, bei Silicium und Alumi- in Massenproduktion erzeugen. Eine weitere
und vor allem Kohlenstoff
heraus gebrannt wurden. nium dagegen graues Roheisen. Ersteres wird zu Steigerung der Stahlproduktion ermöglichte das
Stahl, letzteres zu Gusseisen verarbeitet. Wirt- 1864 entwickelte Siemens-Martinverfahren, alle
schaftlich nutzbare Fe-C-Legierungen enthalten Verfahren ließen die weltweite Stahlproduktion
maximal 6,67 Prozent Kohlenstoff. von 1 Million Tonnen im Jahre 1880 auf 9 Milli-
onen Tonnen um 1900 hochschnellen. Die Mas-
Von Waffen zu Wolkenkratzern: Stahl senproduktion von gleichmäßig hochwertigem
Stahl schuf die Grundlage für die industrielle
Der Begriff Stahl leitet sich vom althochdeutschen Revolution im 19. Jahrhundert.
Wort stahal, der Harte, der Feste ab. In der H eute werden vorwiegend zwei Stahl -
Metallurgie werden alle Legierungen als Stahl erzeugungsverfahren genutzt, nämlich das
bezeichnet, deren Hauptbestandteil Eisen Sauerstoffblas- und das Elektrolichtbogen-
ist, und die durch Schmieden oder Walzen Verfahren. Bei dem ersten Verfahren wird
plastisch formbar sind. Bis heute wurden über flüssiges Roheisen in einem birnenförmigen,
2000 verschiedene Stahlsorten für spezielle feuerfest aus g ekleideten Konverterofen in
5-67 Anforderungen entwickelt. Stofflich ist Stahl Stahl umgewandelt. In den Ofen wird etwa
Eisenmetalle. Einteilung
der Eisenmetalle nach ih- eine Eisen-Kohlenstoff-Legierung mit einem 20 Minuten lang reiner Sauerstoff mit einem
rem Kohlenstoffgehalt. maximalen Kohlenstoffgehalt von 2,06 Prozent. Druck von 10 bar eingeblasen. Das führt zu
einer stark exotherm ablaufenden Oxidation des
Kohlenstoffs bei Temperaturen bis über 1600 °C.
Zusätzlich hinzugefügter Branntkalk (CaO)
bindet unerwünschte Begleitstoffe, es entsteht
Schlacke. Durch Zugabe von Schrott kann
die Heftigkeit der Reaktion geregelt werden.
Besonders bei phosphorarmen Roheisen wird
dieses Verfahren genutzt und liefert weltweit
den meisten Stahl.
D as Elektrolichtbo g enverfahren wird
eingesetzt, um Eisen- und Stahlschrott zu
recyceln. Bei Temperaturen von 3000 – 3500 °C
können auch schwer schmelzbare Legierungs-
elemente gelöst und entfernt werden. Der im
256
Erde, Wasser, Luft und Feuer
257
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
der Stähle erhöhen, Nickel und Vanadium Besteck oder Kochtöpfe. Ferritische Stähle sind
verbessern deren Zähigkeit, Molybdän steigert ebenfalls rostfreie Sorten, die magnetisierbar
die Warmfestigkeit und Wolfram die Härte. und schweiß g eei g net sind. Marte n sitisc h e
Ständig wird an der Entwicklung verbesserter Stä h le (Å R andspalte, Seite 260) besitzen
und neuer Stahlsorten gearbeitet. So ist es einem die höchste Festigkeit und größte Härte. Sie
Max-Planck-Institut gelungen, neue Leichtstähle sind magnetisierbar, aber schlecht schweißbar.
mit erstaunlichen Eigenschaften zu entwickeln. Daraus werden Messer und Schneidewerkzeuge
Es handelt sich um Fünf-Komponenten- für die Lebensmittelindustrie erzeugt.
Legierungen aus Eisen, Kohlenstoff, Aluminium,
Silicium und Mangan in zwei Varianten. Die Gusseisen – des Stahls spröder Bruder
erste führt 15 Prozent Mangan sowie jeweils
3 Prozent Aluminium und Silicium. Dieser Ein weiteres Verarbeitungsprodukt des Roheisens
Stahl ist sehr fest, hält Spannungen bis ist das im Alltag häufige Gusseisen. Gusseiserne
1100 Megapascal stand und lässt sich auf Bratpfannen, Töpfe oder traditionelle Herdplatten
50 Prozent dehnen. In der zweiten Variante ist bestehen daraus, ebenso Kanaldeckel, Gullyroste,
der Mangananteil auf 25 Prozent erhöht, sie ist Hydranten, zahlreiche Werkzeuge, Maschinen-
weniger fest, kann aber dafür bis zu 90 Prozent und Werkzeugteile. Ende des 19. Jahrhunderts
gedehnt werden, ohne zu zerreißen (das sehr wur d en d araus o f t f i l igrane Brüc k en,
duktile Gold hält maximal eine 60-prozentige Wandelhallen oder Säulen in Gebäuden errichtet.
Dehnung aus!) Diese Wirkung wird durch Seinen Namen verdankt dieser Eisenwerkstoff
interstitiell ein g efü g te, leichtere Man g an-, der Tatsache, dass er in seine endgültige Form
Silicium- und Aluminiumatome im Eisengitter gegossen werden muss. Denn erkaltet ist Gusseisen
erzielt. Dadurch kippt das Kristallgitter aus der aufgrund seines höheren Kohlenstoffgehalts ein
kubisch-flächenzentrierten Austenitstruktur in harter, spröder, nicht schmiedbarer Werkstoff, der
die kubisch-raumzentrierte Martensitstruktur. nur noch mechanisch bearbeitet werden kann.
Die kollektive Scherung der Kristallgitterebenen Für das spröde Verhalten dieses Werkstoffes
ermöglicht diese ungewöhnliche Dehnung. sind sein grobkörnigeres Gefüge und der
Stahlsorten werden anhand verschiedener höhere Anteil von eingelagerten Fremdatomen,
Kriterien wie Verwendung oder Zusammen- insbesondere Kohlenstoff und Phosphor (P) im
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
setzung eingeteilt, die sich zum Teil Gitter verantwortlich. Inzwischen sind weniger
überschneiden. Ein Hauptkriterium ist die spröde Gusseisensorten entwickelt worden, die
stoffliche Zusammensetzung, nämlich die Stoßbeanspruchung vertragen. In der Metallurgie
Einteilung in unlegierte und in legierte Stähle. werden alle Eisen-Kohlstoff-Silicium-Legierungen
Aus unlegierten Stählen mit unterschiedlichem (Fe-C-Si) mit einem C-Gehalt über 2,06 Prozent,
K o hl e n sto f f gehalt werden Werkzeuge, einem Si-Gehalt größer 1,5 Prozent sowie
Baustähle und Eisenbahnschienen hergestellt, mit geringen Anteilen an Chrom, Mangan
5-70 aber auch Konservendosen, Autokarosserien, oder Nickel als Gusseisen bezeichnet. Dessen
Konverterofen. Stahl-
erzeugung durch das Stahlfedern oder Messer. Etwa zwei Drittel Schmelzpunkt liegt bei 1150 °C. Gusseisen ist
Linz-Donawitz-Verfahren der Stahlproduktion entfällt auf diese Gruppe. sehr druckbeständig, aber anfällig gegen Zug-
im Konverterofen. Dem Legierte Stähle zeichnen sich durch den Zusatz und Biegespannungen. Es verfügt über gute
kohlenstoffreichen, flüssi-
gen Roheisen (1) wird Me- eines oder mehrerer Fremdmetalle aus. Sie werden Wärmeaufnahme und speichert Wärme lange,
tallschrott und Aluminium oft auch Edelstähle genannt, da sie nicht rosten. was man in der Küche oft schmerzhaft an Töpfen
beigefügt (2), zugegebe- Aus niedrig- und hochlegierten Stahlsorten auf längst abgestellten Herdplatten zu spüren
ner Kalk (3) bindet Be-
gleitstoffe. Sauerstoff wird
werden haltbare, harte Gebrauchsgegenstände bekommt.
unter hohem Druck über wie Möbel, Sanitäreinrichtungen, Rohrleitungen, N ach der Zusammensetzun g und der
eine wassergekühlte Lanze Grills, Küchengeräte und Messer hergestellt. E i nl agerungswe i se vo n K o hl e n sto ff in das
in die Schmelze geblasen,
Eine andere Einteilun g orientiert sich an Metallgitter unterscheidet man mehrere
das sogenannte „Frischen“
(4). Der Sauerstoff oxi- den von den Legierungselementen bedingten Gruppen von Gusseisen mit unterschiedlichen
diert die Begleitstoffe des Gefügeformen im Stahl. Zu den austenitischen Eigenschaften. Ist der Kohlenstoff in Form
Eisens. Die oben schwim-
Stählen gehören die meisten rostfreien Stähle. Sie von Zementit (Eisencarbid, Fe3C) gebunden,
mende Schlacke (5) und
der kohlenstoffarme Stahl sind nicht magnetisch und gut umformbar, weich so spricht man von weißem Gusseisen; tritt er
(6) werden abgegossen. und schweißgeeignet. Im Alltag nutzt man sie als als freie Phase (Graphit) auf, so liegt graues
258
Erde, Wasser, Luft und Feuer
5-71
Eisen-Eisencarbid-Dia-
gramm. Das Kristallgefüge
von Eisenwerkstoffen ist
abhängig von Kohlen-
stoffgehalt und Tempe-
ratur. Man stellt diese
Abhängigkeit im Eisen-
Eisencarbid-Diagramm
dar, wobei man sich auf
den technisch relevanten
Bereich bis 6,67 Prozent
Kohlenstoffgehalt be-
schränkt. Die Liquidusli-
nie markiert die Grenze
zur flüssigen Phase, die
Soliduslinie die Grenze
zum festen Zustand. Je
nach Kohlenstoffgehalt
bildet sich dort entweder
der Eisen-Kohlenstoff-
Mischkristall Austenit oder
ein Phasengemisch aus Ei-
sencarbid (Zementit, Fe3C)
und Austenit. Unterhalb
Gusseisen (Grauguss) vor. Ersteres entsteht bei Namen nach diesem Metall erhalten, erinnert 723 °C entsteht je nach
Kohlenstoffgehalt Perlit,
schneller Abkühlung. Normalerweise bildet sich seine rotbraune Unterseite doch an Rost. eingebettet in Ferrit oder
Graphit lamellenförmig aus; durch spezielle Auf unserem Planeten steht Eisen mit einem in Zementit. Letzteres
Behandlung der Schmelze unmittelbar vor dem Anteil von 4,7 Gewichtsprozent bis 10 km Tiefe macht das Material hart
und spröde (Gusseisen!).
Gießen, wie Entschwefelung oder Legierung mit in der Erdkruste sowie 8 Prozent in der gesamten
Perlit verfügt über eine
Mangan werden andere Graphitausbildungen Lithosphäre an vierter Stelle, im Weltall an lamellenartige Struktur aus
erzeugt. Wird die abgekühlte Schmelze nochmals neunter Stelle. Der Erdkern besteht vermutlich reinem Ferrit und Zementit
einer Glühbehandlung (Tempern) unterzogen, zu 80 Prozent aus Eisen. Dort dominiert Eisen, oder Graphit. Das Ferrit-
Perlit-Gefüge ist daher
so entsteht entweder schwarzer oder weißer weil es kernphysikalisch das stabilste Element elastisch (Stahl!).
Temperguss. ist. An der Erdoberfläche kommt dieses Metall
sehr selten rein als meteoritisches Eisen vor;
5-72
häufig sind dagegen eisenhaltige Minerale,
Gusseisen. Eigenschaf-
Eisen, Cobalt, Nickel – Mineralogen kennen über 400. Wirtschaftlich ten der verschiedenen
wichtig sind: Magnetit (Fe 3O 4) , Goethit Gusseisensorten.
das magnetische Dreigespann
Die drei Metalle Eisen, Cobalt und Nickel Name Eigenschaften Verwendung (Auswahl)
werden nicht wegen ihrer Nachbarschaft
im Periodens y stem, sondern we g en ihrer magnetisch, hohe Festigkeit Armaturen im Rohrleitungs-
auffälligen magnetischen Eigenschaften oft schwarzer Temperguss und Zähigkeit, gute Gießbar- bau, Kolben, Zahnräder,
keit Triebwerksteile
in einem Atemzu g g enannt. We g en ihrer
chemischen Ähnlichkeit nennt man sie auch weißer Temperguss
große Festigkeit, stahlartig Rohre, Bauteile der Elektro-
Eisenmetalle. zäh, schweißbar industrie, Schließanlagen
259
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
Austenitische Stähle (α-FeO(OH)), Hämatit (Fe2O3), Brauneisenstein weder mit den damaligen Methoden verhütten,
Nichtrostende, gut form-
bare, nicht ferromagneti- (Fe2O3 · n H2O), Siderit (FeCO3), Magnetkies noch lieferten sie Silber, verströmten aber beim
sche Stahllegierungen mit (FeS) sowie Pyrit (FeS2). Das wirtschaftlich Rösten infolge eines geringen Arsengehalts einen
einem kubisch-flächenzen- wichtigste Eisenerz ist Magnetit mit etwa 40 knoblauchartigen Geruch. Daran konnte nur
trierten Kristallsystem.
Prozent Eisengehalt. ein böser Berggeist, ein Kobold schuld sein!
Martensitische Stähle Nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch Obwohl ihnen Cobalt als Metall unbekannt war,
Ferromagnetisches, meta- in der Biologie nimmt Eisen eine überragende nutzen antike Ägypter, Griechen und Römer
stabiles Kristallgefüge von Stellung ein. Für tierische Lebewesen ist es ein seine Oxide zur Blaufärbung von Gläsern.
Stahl, das durch Abschre-
ckung aus dem Austenit- essenzielles Spurenelement. Im Körper eines Auch Chinesen kannten die färbende Wirkung
gefüge entsteht. Dabei 70 kg schweren Menschen sind etwa vier bis fünf von Cobaltverbindungen. Und im Mittelalter
verzerrt sich das kubisch- Gramm Eisen gebunden, davon etwa 70 Prozent bezeichnete man Erze, mit denen sich Gläser
raumzentrierte Gitter, der
resultierende Werkstoff ist im Hämoglobin, 3,5 Prozent im Myoglobin blau färben ließen, als Cobalt. Als Metall
hart und spröde. sowie 25 Prozent in eisenhaltigen Proteinen. In wurde Cobalt erst 1735 vom schwedischen
Hämoglobin und Myoglobin bildet Eisen ein Mineralogen und Chemiker GEORG BRANDT
mehrfach gebundenes Zentralatom; sie dienen (1694 – 1768) erkannt und 1780 als Reinmetall
dem Sauerstofftransport zu den beziehungsweise isoliert. Doch bis Anfang des 20. Jahrhunderts
innerhalb der Zellen. Der tägliche Eisenbedarf besaß es außer als Rohstoff zur Herstellung
eines Menschen beträgt etwa 5 – 40 mg. von blauen Farbpigmenten wie Smalte kaum
wirtschaftliche Bedeutung. Erst seit den 1930er
Eigenschaften des Eisens Jahren begann sein Aufstieg zu einem wichtigen
technischen Gebrauchsmaterial.
Eisen (Fe) Eisen gehört zu den Übergangsmetallen und ist Außer in Meteoriten kommt Cobalt irdisch
ein unedles Schwermetall. Es ist in Reinform nicht gediegen vor, sondern in mineralischen
Dichte 7,87 g/ cm3 bläulich-weiß glänzend, relativ weich und zäh Verbindungen mit Schwefel und Arsen. Wichtige
und zeigt an Bruchflächen eine dunkelgraue Cobaltminerale sind Carrollit (CuS · Co2S3),
Normalpotenzial –0,44 V (Fe2+)
bis schwarze Farbe. Eisen hat eine relativ hohe Skutterdit [(Co, Ni)As3-x], Cobaltit (CoAsS)
Schmelzpunkt 1536 °C elektrische Leitfähigkeit, aber die geringste und Linneit [(Co2, Co3)2S4]. Außerdem ist es
Wärmeleitfähigkeit aller Eisenmetalle. Unterhalb ein Begleitmetall von Nickel- und Kupfererzen,
Mohs-Härte 4
der Schmelztemperatur kommt es in mehreren aus denen es als Nebenprodukt gewonnen wird.
Elektronen- Kristallmodifikationen vor (Å A bbildun g Cobalt ist ein ferromagnetisches, unedles, silbrig
[Ar]3d64s2
konfiguration
5-71, Seite 259), nur das sogenannte glänzendes Schwermetall. Dank Passivierung ist
Elektr. Leit-
fähigkeit
10 · 106 S/ m α-Eisen ist unterhalb der Curietem p eratur es bei Raumtemperatur korrosionsbeständig, sehr
Wärmeleit- (766 °C) ferromagnetisch, alle anderen sind hart, zäh und kaum formbar. Bei Erhitzung bildet
80 W·m–1 · K–1
fähigkeit paramagnetisch. das Metall ein schwarzes Oxid (Co ·Co2O3). Von
Gegen oxidierende Säuren wie konzentrierte oxidierenden Säuren wie konzentrierter Schwefel-
Schwefel- und Salpetersäure sowie gegen oder Salpetersäure wird Cobalt zersetzt.
Alkalilaugen ist metallisches Eisen resistent, Neben der traditionellen Nutzung zur Glasfär-
Cobalt (Co) aber von nicht oxidierenden Säuren wie bung und zur Herstellung von Farbpigmenten
Platz in der
29 Salzsäure wird Eisen gelöst. Eisen korrodiert in wird Cobalt heute vorwiegend als Legierungs-
Häufigkeitsskala
feuchter Luft oder Sauerstoff-haltigem Wasser element zur Herstellung von warmfesten und
Dichte 8,9 g/ cm3 leicht, es „rostet“ (ÅKorrosion, Opferanoden verschleißbeständi g en Stählen für Masch i -
und Rost, Seite 262). Deshalb sind kleine nenbauteile gebraucht. Mit Cobalt lassen sich
Normalpotenzial –0,28 V (Co2+)
Eisengegenstände aus älteren Kulturabschnitten Molybdän, Platin, Wolfram und Chrom leicht
Schmelzpunkt 1495 °C in feuchten Böden kaum zu finden. legieren. In Wolframcarbid bildet Cobalt das
Bindemittel eines extrem harten Sinterproduktes
Mohs-Härte 5
Bunt färbend: Cobalt
Elektronen-
[Ar]3d74s2
konfiguration
Seinen Namen verdankt Cobalt mittelalterlichen
Elektr. Leit-
16 · 106 S/ m Bergleuten, die dieses Metall für verhext hielten.
fähigkeit
Wärmeleit- Cobalthaltige Erze ähnelten aufgrund ihres
100 W·m–1 · K–1
fähigkeit Glanzes dem gesuchten Silber, ließen sich aber
5-73
Einsatzbereiche von Cobalt. Verwendungsbereiche der
260 2010 verfügbaren 76 363 Tonnen Cobalt (Cobalt Deve-
lopment Institute, 2011).
Erde, Wasser, Luft und Feuer
(ÅHartes zerschneiden – kein Problem, Seite 275) Tiefe in sulfidischen Erzen eingelagert. Erstere
für Schneidewerkzeuge. In den leistungsfähigen beinhalten ca. 78 P rozent der weltweit
Lithium-Ionen-Akkus für Mobiltelefone und bekannten Nickelvorräte. Hauptlieferanten
Laptops steckt ebenfalls Cobalt. für Rein-Nickel sind momentan sulfidische
Schließlich ist Cobalt ein lebenswichtiges Erze. Manganknollen auf den Tiefseeböden
Spurenelement. Cobalt bildet das Zentralatom we r de n mi t ca. 1 Pr o z e n t Ni c k e l a l s
des Vitamins B12 (Cobalamin), das u. a. bei p otenzielle Nickelreserven ein g estuft. Aus
der Blutbildung eine Rolle spielt. Der Mensch sulfidischen Erzen wird das reine Metall mittels 5-74
benötigt täglich 3 mg davon. pyrometallurgischer Verfahren wie Rösten und Nickel-Kobold. Dar-
Reduktion gewonnen. stellung des mit Nickel-
Das metallische Element Nickel gehört kugeln jonglierenden
Berggeist und Allergien: Nickel Nickel-Kobolds auf
zur Eisengruppe und ist ein Übergangsmetall. einer Gedenkmünze der
Auch der Name dieses Metalls geht auf einen Reines Nickel ist ein silberweißes, zähes, stark Mond Nickel Company.
den „Bergleuten übel wollenden“ Geist zurück. glänzendes Schwermetall. Es kristallisiert im Deren Gründer, der
Chemiker LUDWIG MOND
Erzgebirgische Bergleute versuchten, aus kubisch-flächenzentrierten Gittersystem. Reines (1839 – 1909), nutzte als
dem kupferähnlich roten Rotnickelkies-Erz Metall ist gegenüber Meer- und Süßwasser erster zur Gewinnung von
(Nickelarsenid, NiAs), Kupfer zu gewinnen, was sowie Luft bei Raumtemperatur beständig Reinnickel ein Verfahren,
bei dem Nickel zuerst in
natürlich nicht möglich war. Der Arsengehalt weil es rasch passiviert, ebenso gegenüber
gasförmiges Nickelcarbo-
bewirkte beim Rösten einen knoblauchartigen alkalischen Lösungen und gegen die meisten nyl umgesetzt wird, aus
Geruch. also hatte der böse „Nick“ auch dieses organischen Säuren. Stärkere Säuren – außer dem dann bei höheren
Temperaturen hochreines
Erz verhext. Salpetersäure – greifen das Metall an. Nickel ist
Nickel gewonnen werden
Nickel gehört wie Cobalt zu den Metallen, sehr empfindlich gegenüber schwefelhaltigen kann.
die schon in der Antike in Legierungen genutzt Gasen, mit denen es Nickelsulfid bildet, das
wurden, ohne dass man Nickel als elementa- bei höheren Temperaturen zerstört wird. Seine
res Metall erkannte. Früh tauchten erste ni- enorme wirtschaftliche Bedeutung verdankt
ckelhaltige Gegenstände und Münzen auf: In das Reinmetall der Tatsache, dass es sich gut
China fanden Archäologen ca. 3000 Jahre alte schmieden, schweißen, walzen und ausziehen
Gebrauchsgegenstände mit einem Nickelgehalt lässt und sich außerdem leicht legieren lässt.
bis zu 20 Prozent, aus dem damals griechisch- Nachdem MICHAEL FARRADAY ein Verfahren
indischen Baktrien stammen zwischen 200 und zur galvanischen Vernickelung entwickelt
165 v. Chr. geprägte Kupfer-Nickel-Münzen. hatte, setzte der Aufstieg von Nickel zum 5-75
Nickel gehört zu den ersten nach der Antike technischen Gebrauchsmetall ein, zunächst 1-Euro Münze. Sie enthält
entdeckten Metallen. Dem schwedischen Mi- als Münzmetall. Eine belgische Legierung aus im dunkleren Rand 5, im
Inneren 25 Prozent Nickel.
neralogen CRONSTEDT (1722 – 1765) gelang es 75 Prozent Kupfer und 25 Prozent Nickel erwies
1751 erstmals, das Metall rein darzustellen und sich als brauchbarstes Münzmetall. Ab 1865
er nannte es in Anlehnung an den Begriff „kop- wurde in den USA eine 5-Cent-Münze mit
parnickel“ Nickel. dieser Legierung geprägt, die im Volksmund Nickel (Ni)
Außer in Eisenmeteoriten mit 8 – 9 Prozent auch heute noch „(The) Nickel“ heißt. Reine
Anteil an der
kommt Nickel nirgends gediegen vor, sondern Nickelmünzen wurden erstmals 1881 in der 0,015 Gew.%
Erdkruste
nur zusammen mit Schwefel , Kieselsäure , Schweiz geprägt, in Deutschland gab es von Platz in der
22
Arsen oder Antimon oder in Erzen mit Kupfer, 1927 bis 1939 eine ebensolche 50-Pfennig- Häufigkeitsskala
Gold und anderen Metallen. Aufgrund des Münze. Heuti g e Euromünzen enthalten Dichte 8,9 g / cm3
N ickelgehaltes in Eisenmeteoriten nehmen unterschiedliche Anteile von Nickel, die Ein-
Normalpotenzial –0,25 V (Ni2+)
Geophysiker und Geologen an, dass der Erdkern Euromünze im dunkleren Rand 5 Prozent, im
zu 10 Prozent aus Nickel besteht. Wichtige Innern 25 Prozent. Die starke Korrosion an der Schmelzpunkt 1455 °C
nickelhalti g e Minerale sind Nickelblende Nahtstelle der beiden Nickellegierungen bewirkt
(Millerit, NiS), Nikelin (Rotnickel-Kies, NiAs) nach schweizer Untersuchungen eine 240 bis Mohs-Härte 4
mit einem Ni-Gehalt von 43 , 61 Prozent , 320fach höhere Freisetzung von Nickelionen Elektronen-
[Ar]3d84s2
konfiguration
Népouit (Garnierit, [(Ni,Mg)6(OH)8[Si4O10]]) beim Kontakt mit menschlichem Schweiß als
Elektr. Leit-
mit Nickelgehalten von 10 bis 20 Prozent. zugelassen. Etwa 6 Prozent der männlichen 14 · 106 S/ m
fähigkeit
Diese Minerale sind oberflächennah in stark und 11 Prozent der weiblichen Bundesbürger Wärmeleit-
90 W·m–1 · K–1
verwitterten Gesteinen (Laterit) und in größerer leiden an einer Nickelallergie, ausgelöst durch fähigkeit
261
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
Elektrochemische Span-
nungsreihe Korrosion, Opferanoden und Rost
In der elektrochemischen
Spannungsreihe werden
Metalle nach der Leichtig- Unter Korrosion versteht man eine Reaktion
keit geordnet, Elektronen
abzugeben, also oxidiert eines Werkstoffs mit der Umgebung, die zu einer
zu werden. Der Redoxre- Veränderung des Werkstoffs führt und dessen
Men+ + n e–
Wasser kaum, da sich eingebracht und elektrisch mit dem Kessel ver-
ein Gleichgewicht bildet bunden, so korrodiert das Magnesium anstelle
zwischen den gelösten po-
sitiven Eisenionen und den
des Boilermetalls. Bei der sogenannten Säure-
überschüssigen Elektronen oder Wasserstoffkorrosion übernehmen die als
im Metall. H3O+ - Ionen vorliegenden Protonen die Rolle
des Sauerstoffs. Auch wässrige Salzlösungen
Im Wasser gelöster Sauerstoff kann jedoch Elek- unterschiedlicher Konzentration, die auf ein
tronen aufnehmen (Reduktion) und mit dem Metallstück wirken, korrodieren das Metall.
Wasser Hydroxidionen (OH–) bilden. Diese Rost ist ein basisches Gemisch aus Eisen-
reagieren mit den gelösten Metallionen zu Me- oxid-hydroxid mit Wasser. Es bildet eine pulv-
tallhydroxiden und -oxiden, bei Eisen spricht rige, poröse Auflage von einigen Millimetern
man von Rost. Dadurch wird der Stromkreis Dicke. Rost bildet keine Schutzschicht, viel-
5-77 aus Elektronen und positiv geladenen Ionen mehr bewirken Sauerstoffzutritt durch die po-
Eisen und Sauerstoff. geschlossen, ein Gleichgewicht stellt sich nicht röse Deckschicht und elektrische Leitfähigkeit
Sauerstoff vermag die ein, es werden vielmehr immer mehr Ionen aus des feuchten Rostes eine anhaltende Korrosion
überschüssigen Elektronen
aufzunehmen; es entste-
dem Metall gelöst, es korrodiert. eisenhaltiger, unlegierter Metalle. Die Rostbil-
hen Hydroxidionen (OH–), dung geht mit einer Volumenzunahme einher;
die mit den gelösten Ei- gleichzeitig platzen trockene Rostflocken ab.
senionen Rost bilden, der
sich auf dem Metall ab-
Hält die Rostbildung an, so wird der betrof-
fene Gegenstand letztendlich völlig aufgelöst.
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
262
Erde, Wasser, Luft und Feuer
nickelhalti g en Schmuck, Brillenbü g el und 2004 gelang es auch, geringe Mengen amorphen
Münzen wie das Ein- und Zwei-Euro-Stück. Stahls mit glasartiger Struktur zu erzeugen.
Trotz seiner allergieauslösenden Wirkung Vorangegangen waren Computermodelle
benötigt der menschliche Körper etwa 50 μg binärer Stahlgemische. Auf dieser Grundlage
Nickel pro Kilogramm Körpergewicht. Mit wurden mit Legierungselementen wie Zirkon,
der Nahrung, insbesondere Brot und Gemüse, Yttrium oder den Metallen der Seltenen Erden
werden täglich zwischen 0,3 und 0,5 mg Nickel Stähle mit glasartiger Struktur und metallischen
aufgenommen. Andererseits gelten Nickelstäube Eigenschaften erzeugt. Legierungselemente
als kanzerogen, Nickelsalze sind in der Regel wie die großen Yttrium-Fremdatome stören
giftig, Nickeltetracarbonyl Ni(CO)4 ist hoch- die Ausbildung eines üblichen Metallgitters.
toxisch. Anfangs nahm man eine völlig ungeordnete,
Nicht nur für Münzen bildet Nickel ein zufällige Verteilung der Atome wie bei Glas im
wichtiges Legierungselement, sondern auch Metallkörper an, daher auch die Bezeichnung
für viele technisch genutzte Geräte. Mit Nickel „metallisches Glas“. Doch vor wenigen Jahren
lassen sich leicht Eisen, Mangan, Chrom oder gelang es, die innere Struktur derartiger
Kupfer legieren, schon geringe Anteile von Stahlkörper aufzudecken. Danach ordnen sich
Nickel in diesen Metallen verändern deren die Atome in energetisch besonders günstigen
Eigenschaften stark. So färben 15 Prozent dreidimensionalen, polyedrischen Strukturen
Nickelanteil das rötliche Kupfer silbrig- mit 7 bis 15 Atomen um ein Zentralatom an
weiß. Dank rascher Passivierung bildet (Å Abbildung 5-79). Aus diesen Strukturen
Nickel einen Korrosionsschutz auf ros t- bilden sich wiederum größere Cluster. Die
anfälligen Metalloberflächen von Stahl und Atome innerhalb eines solchen Metallkörpers
Gusseisen (Vernickelung). Heute wird Nickel sind kovalent gebunden ( Å B indungsarten
hauptsächlich zur Stahlveredelung eingesetzt. und Bindungsstärken, Seite 145). Die innere
263
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
264
Erde, Wasser, Luft und Feuer
zu Konglomeraten verfestigt sind. Am einfachs- „Tafelsilber“ veräußern, dann heißt das, sie
ten ist die Gewinnung von Waschgold; dazu verkaufen wertvollen Staatsbesitz. Selbst ein
müssen Sande und Kiese nur ausgeschwemmt Land ist nach diesem Metall benannt worden,
werden. Mit Hilfe chemischer Verfahren unter nämlich Argentinien, nach der lateinischen Be-
Einsatz giftiger und umweltschädigender Stoffe zeichnung „argentum“ für Silber.
wie Quecksilber oder Cyaniden kann das Gold
von Begleitstoffen getrennt und mit metallur- Vorkommen und Gewinnung von Silber
gischen Verfahren wie Raffination aufbereitet
werden. Silber (Ag) kommt selten gediegen in Form von
Körnern und Dendriten in Gängen vor, meistens
Eigenschaften und Verwendung jedoch in sulfidischen, silberhaltigen Mineralen
wie Argentit (Silberglanz, Ag2S), Strohmeye-
Gold verdankt seine Wertschätzung und viel- rit (Kupfersilberglanz, AgCuS) und Proustit
seitige Verwendung einigen außergewöhnlichen (Ag3AsS3). Heute wird jedoch das meiste Silber
Eigenschaften. Es ist gegen die meisten Säuren als Nebenprodukt aus silberhaltigen Zink-,
resistent, auflösen lässt es sich nur mit Chlor, Kupfer und Bleierzen gewonnen. Reinsilber
Cyaniden, Quecksilber und Königswasser. wird mit hydrometallurgischen Verfahren, mit
Als „edelstes“ Edelmetall korrodiert es nicht, Rösten und Reduzieren sowie mit Raffination
behält also seinen Glanz und seine goldgelbe aus den Erzen gewonnen. (ÅAufarbeitung und
Farbe über einen langen Zeitraum bei. Reingold Verhüttung, Seite 254). Mittels dieser Aufar-
ist ein weiches Metall, das sich leicht verformen beitungsverfahren erhält man Feinsilber mit
lässt. Aus einem Gramm Gold lässt sich eine einem Gehalt von 99.9 Prozent.
Folie mit einer Stärke von 0,00125 mm zu einer
Fläche von einem Quadratmeter aushämmern Eigenschaften und Verwendung
(Blattgold!). Es ist das dehnbarste aller Metalle:
Aus einem Gramm kann man einen 0,006 mm Silber kristallisiert im kubisch-flächenzentrier-
Silber (Ag)
starken Faden auf 3 km Länge ausziehen. Weiter ten Kristallsystem. Als ziemlich reaktionsträ-
ist seine gute thermische und elektrische Leitfä- ges Edelmetall reagiert es kaum mit Wasser Anteil an der
7,9·10–6 Gew.%
Erdkruste
higkeit zu nennen. Jahrhundertelang war Gold und auch bei höheren Temperaturen nicht mit
Platz in der
das wichtigste Währungsmetall; seine Stellung Luftsauerstoff. Das ärgerliche Anlaufen wird 66
Häufigkeitsskala
als Währungsreserve hat es im 20. Jahrhundert durch in der Luft vorhandenen Schwefelwas- Dichte 10,5 g/ cm3
weitgehend verloren, doch etwa 30 Prozent der serstoff (H2S) verursacht, mit dem es sich zu
jährlichen Golderzeugung werden in Tresoren Silbersulfid (Ag2S) verbindet. Silber ist unlös- Normalpotenzial 0,8 V (Ag+)
in Form von Goldmünzen und Barren gehortet. lich in nichtoxidierenden Säuren wie Salzsäure,
Schmelzpunkt 962 °C
Als technischer Werkstoff besitzt Gold nur ge- löst sich aber in konzentrierter Salpeter- und
ringe Bedeutung, es wird vor allem in der Elek- Schwefelsäure. Reinsilber ist ein weiches, sehr Mohs-Härte 2,5
trotechnik und in der Elektronik, ferner in der duktiles Metall. Es lässt sich zu Folien von Elektronen-
Dentaltechnik verwendet. Etwa 60 Prozent des 0,003 mm Stärke auswalzen und zu bis zu [Kr]4d105s1
konfiguration
Goldes werden für Ausschmückung (Blattgold) 2 km langen Filigranfäden mit einem Gewicht Elektr. Leit-
63·106 S/ m
und Schmuckherstellung verbraucht. Es eignet von 0,1 – 1 Gramm dehnen. Silber besitzt die fähigkeit
Wärmeleit-
sich als Legierungselement und wird wegen höchste thermische und elektrische Leitfähig- 429 W·m–1 · K–1
fähigkeit
seiner geringen Härte oft mit Silber, Kupfer und keit aller Metalle. Innerhalb der Kupfergruppe
Platin gemischt. zeigt allein Silber nicht das farbige Aussehen,
denn bei diesem Metall führt die relativistische
Silber – Des Goldes kleiner Bruder Anhebung des 4d-Orbitals und die Absenkung
des 5s-Orbitals zu einer Energiedifferenz von
Wie Gold gilt auch Silber als recht sichere Wert- 3,9 eV. Aufgrund dieser Lücke kann Silber nur
anlage. Sportler freuen sich über eine Silberme- im UV-Spektralbereich zu Interbandübergängen
daille, man legt nur zu besonderen Anlässen von Elektronen aus dem obersten besetzten
Silberbesteck auf und wer „mit einem silbernen d-Band in das Leitungsband angeregt werden,
Löffel im Mund geboren“ wurde, der gehört nur ultraviolette Lichtquanten werden daher
zu den sehr Wohlhabenden. Wenn Politiker absorbiert. Silber reflektiert 99,5 Prozent des
265
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
266
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Aufgrund seiner relativ niedrigen Schmelz- aes brundisium abstammt. Das antike, römische Buntmetall (Werkstoff-
temperatur gelang es schon Menschen im Alten Brundisium (Brindisi) war ein wichtiger Erzeu- kunde)
Orient vor etwa 6500 Jahren Rohkupfer aus car- gungs- und Handelsort für dieses Metall. Die Gebrauchsschwermetalle,
die aufgrund des Kupfer-
bonatischen und oxidischen Erzen zu erschmel- Bronze ist eine der ältesten gezielt hergestellten gehalts farbig sind, wie
zen, seit circa 4500 Jahren auch aus sulfidischen Legierungen der Menschheit. Dieses Metall löste Bronze oder Messing.
267
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
endgültig Stein und auch Kupfer als Werkstoff zeugt. Bronzen auf der Kupfer-Zinn-Basis werden
ab. Für die technisch-zivilisatorische Entwick- je nach Zinngehalt in Knetlegierung bis 7,5 Pro-
lung war dieses Metall so entscheidend, dass zent Zinn, Gusslegierung (9 – 12 Prozent) sowie
eine Kulturepoche nach ihm benannt wurde, die Glockenbronze (20 – 25 Prozent ) unterteilt.
Bronzezeit. Diese dauerte je nach Region von ca.
3200 bis 700v. Chr. Die im Vergleich zum Kupfer Eigenschaften und Verwendung
wesentlich härtere Bronze wurde erstmals vor
etwa 5500 Jahren für die Herstellung von Gerä- Bronze ist eine nicht magnetische Kupferlegie-
ten und Waffen genutzt. Obwohl in der Antike rung mit einer Dichte von 8,8 g / cm3; bei der
weder für Kupfer noch für Zinn die erforderliche gebräuchlichsten Mischung aus 10 Prozent Zinn
Schmelztemperatur zu erreichen war, konnten und 90 Prozent Kupfer liegt der Schmelzpunkt
antike Handwerker dank der eutektischen Ei- bei 1000 °C, er sinkt jedoch mit zunehmendem
genschaften der Mischung (Å Mischungen, Seite Zinnanteil. Ihre Mohs-Härte liegt bei 4 bis 5.
167) beide Metalle zu Bronze vereinen. Außer Mit steigender Zinnführung über 10 Prozent sin-
Gebrauchsgegenständen und Waffen prägte man ken die elektrische und thermische Leitfähigkeit
daraus Münzen und schuf Kultgegenstände. Die und das Metall versprödet, dafür nehmen Fes-
berühmte Himmelsscheibe von Nebra besteht tigkeit und Härte zu. Bronze zeichnet sich auch
aus Bronze mit einem Zinnanteil von 2 Prozent. durch hervorragende Dauerschwingfestigkeit
In Europa dienten Bronzen mit einem Zinnge- sowie hohe Korrosionsbeständigkeit aus. Anfäl-
halt von 20 Prozent vom Mittelalter bis in die lig ist Bronze jedoch für Schwefelverbindungen
Neuzeit zum Gießen von Glocken, mit 10 Pro- in der Luft. Je nach Zinngehalt ändert sich die
zent Zinn zur Herstellung von Geschützen und Farbe von lachsrot über grünlich-gelb bis hin zu
Kanonen. Im 19. Jahrhundert wurden daraus einem weichen Goldton. Letzterer macht Bronze
Statuen, Denkmäler und sakrale Kunstgegen- weiterhin für Schmuckzwecke attraktiv. Heute
stände gefertigt, zum Beispiel riesige figurenge- wird das Metall hauptsächlich in technischen
schmückte Leuchter in Wallfahrtskirchen. Heute Bereichen verwendet: für Getriebe und Pumpen,
wird Bronze als Sammelbegriff für Legierungen für Bauteile in der Mess- und Regeltechnik, in
verwendet, deren Hauptbestandteil Kupfer ist, der Daten- und Nachrichtenübertragung, in der
meistens handelt es sich um Mehrstoffgemische; Unterhaltungs- und Haushaltstechnik.
eine häufige Legierung ist Aluminiumbronze mit
5 bis 12 Prozent Aluminium und 3,5 bis 7 Pro- Es ist nicht alles Gold, was glänzt
5-82
zent Eisen. Weitere Zulegierungen sind Zink,
Kupferlegierungen. Zu-
sammensetzung von Kup- Blei, Nickel oder Phosphor. Derartige Legierun- Eine heute wirtschaftlich bedeutendere Kupfer-
ferlegierungen. gen werden gezielt für spezielle Einsatzzwecke er- legierung als Bronze kennt jeder noch aus den
Zeiten der D-Mark, als prägefrische Fünf- oder
Zehnpfennig-Münzen im Portemonnaie glänz-
ten. Ihre Farbe verdankten sie wie viele gold-
farbene Leuchter, dekorative Möbelbeschläge,
Türgriffe oder Badezimmerarmaturen dem Mes-
sing. Auch Spitzen von Kugelschreiberminen
bestehen daraus.
Messing ist ein Metallgemisch aus Kupfer
und Zink. Beide Metalle lassen sich zwar in
jedem Verhältnis zueinander mischen, aber mit
einem Zinkgehalt höher als 50 Prozent wird jede
Legierung technisch unbrauchbar. Gemische mit
einem Zinkgehalt unter 18 Prozent werden als
Tombak bezeichnet, mit mehr als 18 Prozent
als Messing. Das Metall gehört zu den ältesten,
gezielt von Menschen erzeugten Legierungen, es
soll in China sowie im indisch-persischen Kul-
turraum erfunden worden sein. Von der Antike
268
Erde, Wasser, Luft und Feuer
269
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
Halbzeug ten und am häufigsten genutzten Kupferlegie- 80 000 – 150 000 Ampere verbraucht. Deshalb
Als Halbzeug werden vor-
rung. Als Halbzeug wird Messing in Form von werden Aluminiumhütten stets in der Nachbar-
gefertigte Rohmaterialfor-
men wie Bleche, Stangen Bändern, Blechen, Rohren, Stangen und Drähten schaft von leistungsstarken Kraftwerken errich-
oder Rohre bezeichnet, die angeboten, verarbeitet wird es zu Türgriffen, tet. Aluminium mit einem Reinheitsgrad von
den Ausgangspunkt für Beschlägen, Handläufen, Schlössern, zu Blechen, 99,99 Prozent wurde erstmals 1920 erzeugt.
die Weiterverarbeitung zu
Endprodukten bilden. Blechblasinstrumenten, Sanitärarmaturen, Lam-
penfassungen, Kerzenhaltern usw. Eigenschaften und Verwendung
270
Erde, Wasser, Luft und Feuer
nen Verbindungen isolieren lässt, wurde erst- mit Wasser oder Luft sofort mit einer dünnen
Titan (Ti)
mals 1910 Reintitan erzeugt. Erst als der Lu- Oxidschicht, die darunter liegende Metallschich-
xemburger Chemiker WILLIAM JUSTIN KROLL ten vor weiterer Korrosion schützt. Titan lässt Anteil an der
0,6 Gew.%
Erdkruste
(1889 – 1973) 1938 ein technisch praktikables, sich außerdem gut mit Aluminium, Molybdän, Platz in der
aber weiterhin teures Verfahren für die Gewin- Mangan, Chrom, Eisen usw. legieren. 9
Häufigkeitsskala
nung von Reintitan entwickelte, begann 1946 Schon diese Eigenschaften machen Titan Dichte 4,5 g/ cm3
mit der kommerziellen Gewinnung der Aufstieg zu einem gefragten Werkstoff mit einer breiten
von Titan zu einem wichtigen Gebrauchsmetall Verwendungspalette: Neben Brillengestellen, Normalpotenzial –1,77 V (Ti2+)
mit einer breiten Anwendungspalette. Schmuckgegenstücken und sehr leichten Golf-
Schmelzpunkt 1668 °C
schlägern wird das Metall vor allem in der Welt-
Vorkommen und Gewinnung von Titan raumtechnik, im Autobau und aufgrund seiner Mohs-Härte 6
hohen Resistenzen in der Ölindustrie, in Ent- Elektronen-
[Ar]4s23d2
Titan (Ti) ist ein metallisches Element, das auch salzungsanlagen sowie beim Bau von Behältern konfiguration
im Weltraum recht häufig ist. Es ist weit verbrei- für chemische Verbindungen und Lösungen ver- Elektr. Leit-
2,6 · 106 S/ m
fähigkeit
tet, aber selten angereichert, dafür in zahlreichen braucht. Seine antiallergische Eigenschaft sowie
Wärmeleit-
Gesteinen und Mineralen, oft vergesellschaftet seine absolute Biokompatibilität heben dieses 22 W·m–1 · K–1
fähigkeit
mit Eisenerz. Es verbindet sich leicht mit vielen Metall weit über andere Werkstoffe hinaus: Ti-
anderen Elementen und kommt deshalb niemals tan eignet sich hervorragend für Zahnimplantate
271
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
Industrie auf, war Blei doch das damals einzig unlöslich, weil sich schnell dünne Salzüberzüge
Blei (Pb)
bekannte Metall, das Schwefelsäuredämpfen wi- beim Kontakt mit diesen Säuren bilden (mecha-
Anteil an der 0,0018 derstand. In den 1920ern war Blei das wichtigste nische Passivierung). Im sauerstofffreien Wasser
Erdkruste Gew.%
Platz in der Nicht-Eisen-Gebrauchsmetall. Dann sank seine ist das Metall ebenfalls unlöslich. Dagegen löst
37
Häufigkeitsskala Bedeutung vorübergehend, aber inzwischen ist Salpetersäure das Metall, es entsteht Bleinitrit.
Dichte 11,34 g/ cm3 es wieder ein wichtiges, technisch-industrielles Bei Kontakt mit Wasser und Luftsauerstoff bil-
Gebrauchsmetall. Bis weit ins 20. Jahrhundert det sich langsam Bleihydroxid (Pb(OH)2) das
Normalpotenzial –0,13 V hinein wurden viele Leitungsrohre für Wasser die mattgraue Färbung der Metalloberfläche be-
aus Blei gefertigt, doch heute ist es weitgehend wirkt. In Anwesenheit von Kohlensäure werden
Schmelzpunkt 327 °C
aus Wasserleitungen und Gebrauchsgegenstän- Wasserrohre von einer dünnen Auflage aus Blei-
Mohs-Härte 1,5 den verbannt. Da man mit Blei graue Striche hydroxid/Blei-II-carbonat (Pb(OH)2 · 2 PbCO3)
Elektronen- [Xe]4f145d10 auf Papier erzeugen kann, kam der Bleistift zu ausgekleidet, die angeblich den Eintritt von ge-
konfiguration 6s26p2 seinem Namen. Doch seit Jahrhunderten besteht löstem Blei ins Wasser verhindert. Gelöstes Blei
Elektr. Leit- die Bleistiftmine aus Graphit, das man im Mit- und alle seine Verbindungen sind starke Gifte.
4,7 · 106 S/ m
fähigkeit
telalter für ein Bleierz hielt. Im menschlichen Körper hemmt Blei das Enzym,
Wärmeleit-
35 W·m–1 · K–1 das für die Einbindung des Eisenatoms in den
fähigkeit
Vorkommen und Gewinnung roten Blutfarbstoff zuständig ist und stört damit
die Zellatmung. Als Umweltgift wirkt es unter
Blei (Pb) ist ein metallisches Element, das selten anderem hemmend auf die Chlorophyllsynthese
gediegen, sondern meistens in mineralogisch- von Pflanzen. Wegen ihrer Toxizität sind Bleibe-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
chemischen Verbindungen vorkommt. Bekannte hälter für Lebensmittel verboten, auch werden
bleihaltige Minerale sind Cerussit (PbCO3), An- Farbmittel auf Bleibasis kaum noch vermalt, und
glesit (PbSO4) sowie Galenit (Bleisulfid, PbS). seit den 70er Jahren werden keine Bleirohre für
Letzteres bildet das Erz, aus dem heute neues die Wasserversorgung mehr verlegt. Auch das
Blei gewonnen wird. Bleierze sind häufig ver- Antiklopfmittel Bleitetraethyl (Pb(C2H5)4) ist
5-85 gesellschaftet mit anderen Metallen wie Zink, im Benzin europaweit nicht mehr zugelassen.
Galenit. Bleisulfid-Kristalle, Antimon, Kupfer und Silber; für die Silberge- Trotz seiner Giftigkeit wird Blei wegen seiner
Galenit oder Bleiglanz, aus
Missouri, U.S.A.
winnung stellen diese Erze sogar eine wichtige Korrosionsbeständigkeit und einfachen Verar-
Quelle dar. Für die Gewinnung metallischen beitungsmöglichkeit weiter als Metall und Le-
Bleis wird heute meistens das umweltschonende gierungselement genutzt, z. B. in Form von Blech
Direktschmelzverfahren angewendet. Hier er- oder Folien, zur Innenbeschichtung von Rohren
folgt Rösten und anschließende Reduktion in und Tanks und zur Verkleidung von Kabeln.
einem Reaktor, in den reiner Sauerstoff eingebla- Etwa 60 Prozent des Bleis dient der Herstel-
sen wird. Das erhaltene sogenanntes Werkblei ist lung von Akkumulatoren. Wegen seiner hohen
noch bis zu 5 Prozent mit Kupfer, Silber, Gold, Dichte wird es im Strahlenschutz eingesetzt –
Antimon oder Bismut verunreinigt. Mittels Elek- wohl jeder kennt die schweren Bleischürzen, die
trolyse werden die Begleitstoffe entfernt. Eine man bei Röntgenuntersuchungen tragen muss.
wichtige Quelle zur Gewinnung von Reinblei ist
das Recyceln von Bleigegenständen.
Buntes Allerlei – Chrom
Eigenschaften und Verwendung
Alltagsgegenstände wie Reifenfelgen, Schrau-
Blei kristallisiert im kubisch-flächenzentrierten benschlüssel, Wasserhähne oder grüne Weinfla-
System, was ihm wie Kupfer, Gold und Silber schen enthalten als Bestandteil das Metall Chrom.
hohe Verformbarkeit verleiht. Es gehört zu den Auch Edelsteine wie Smaragde verdanken ihm
Schwermetallen und ist ein unedles, diamagne- ihre grüne Färbung. Dieses wichtige Schwermetall
tisches Metall (ÅDiamagnetismus, Seite 213). wird nur als Legierungselement verarbeitet.
Durch seine Verformbarkeit und geringe Härte 1761 fand der deutsche Mineraloge JO-
lassen sich aus Blei leicht Drähte und Bleche her- HANN GOTTLIEB LEHMANN (1719 – 1767) im
stellen. Seine elektrische und Wärmeleitfähigkeit Ural ein neues Mineral, das aufgrund seiner
ist im Vergleich zu Metallen wie Kupfer gering. Färbung Krokoit benannt wurde. 1797 gelang
Blei ist in Schwefel-, Phosphor- und Flusssäure es dem französischen Chemiker LOUIS-NICOLAS
272
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Post (Postgelb, heute Ginstergelb), der Maler nicht oxidierende Säuren schützt. Metallisches Elektronen-
[Ar]3d54s1
VINCENT VAV N GOGH (1853 – 1890) benutzte sie Chrom und Chrom(III)-Verbindungen sind un- konfiguration
Elektr. Leit-
in seinem berühmten Sonnenblumenbild. Erst giftig, Chrom(VI)-Verbindungen dagegen sind 80 · 106 S/ m
fähigkeit
mit dem Thermitverfahren für hochschmelzende hochgiftig und kanzerogen. Sie verätzen die Wärmeleit-
Metalle, das der deutsche Chemiker JOHANNES Schleimhäute und führen zu nicht abheilenden 94 W·m–1 · K–1
fähigkeit
WILHELM GOLDSCHMIDT (1861 – 1923) erfand, Geschwüren; es treten schwere Erkrankungen
stand eine preiswerte, effektive, bis heute ange- von Magen und Darm, sowie Leber und Nieren-
wendete Gewinnungsmethode für reines Chrom schäden ein. Umstritten ist die Rolle von Cr(III)
im großindustriellen Maßstab zur Verfügung. im menschlichen Körper. Nach einigen Quellen
Doch erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts wird bilden Chrom(III)-Ionen ein wichtiges Spuren-
das Metall verstärkt für korrosions- und hitze- element für die Insulinsynthese und damit für
beständige Legierungen genutzt. die Regulierung des Blutzuckerspiegels.
Aufgrund seiner Eigenschaften findet Chrom
Vorkommen und Gewinnung vielfältige Verwendung, hauptsächlich als Legie-
rungselement. Etwa 60 Prozent des neu gewon-
Chrom (Cr), abgeleitet von griechischen Wort nenen Chroms wird in Form von Ferrochrom
chroma, Farbe, kommt auf der Erde nicht gedie- als Legierungselement für Stahl verarbeitet und
gen, sondern nur in Verbindungen vor. Die beiden verleiht diesem eine hohe mechanische Bean-
wichtigsten Chromerze sind Krokoit (Rotbleierz, spruchbarkeit. Dem Korrosionsschutz dient die
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
PbCrO4) und Chromit (FeCr2O4). Nur letzteres Hartverchromung vieler Metalle mittels einer
wird zur Chromgewinnung ausgebeutet. Nach bis zu 1 mm starken Chromschicht. Auch Me-
der Flotation der Erze und der Herauslösung tallgebrauchsgegenstände werden zur Verschö-
von Chrommineralen mittels Schwefelsäure kann nerung mit einer bis zu 0,3 mm starken Chrom-
reines Chrom durch elektrolytische Abscheidung schicht überzogen. Außerdem werden Chromat-
von Cr3+ -Ionen aus der schwefeligen Lösung (CrO42–) und Dichromatverbindungen (Cr2O72–) 5-86
gewonnen werden. Nach dem Goldschmidtschen als starke Oxidationsmittel verwendet, und die Chrom. Hochreine, künst-
lich hergestellte Chromkri-
Thermitverfahren wird unter Zusatz von Alumi- farbigen Komplexe der Chromverbindungen lie-
stalle und ein Chromwür-
niumpulver und Silicium Chromoxid zu reinem fern Pigmente für Farbmittel und Lacke. fel mit 1 cm Kantenlänge.
Chrom reduziert. Am häufigsten wird jedoch
unreines Ferrochrom durch Direktreduktion von
Chromit in einem Lichtbogen-Ofen bei 2800 °C Ein Schwergewicht – Uran
erzeugt. Ferrochrom enthält zwischen 52 und
75 Prozent Chrom, 0,1 bis 10 Prozent Kohlen- Uran gehört zu den spät entdeckten Elemen-
stoff sowie 0,02 bis 12 Prozent Silicium. ten, seine Verbindungen wurden jedoch – wie
jüngste Analysen beweisen – schon in der
Eigenschaften und Verwendung Antike zum Färben von Gläsern verwendet.
1789 gelang es dem Apotheker und Chemiker
Reines Chrom ist ein bläulich-weiß glänzen- MARTIN HEINRICH KLAPROTH, aus dem Mineral
des, unedles, gut schmiedbares und formbares Pechblende (Uraninit, UO2) ein schwarzes Pul-
Schwermetall. Es kristallisiert in zwei Modifi- ver zu isolieren, das er nach dem ein Jahr zuvor
273
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
MARIE CURIE, sie prägte das Wort „radioak- eine für Metalle geringe thermische und elek-
tiv“ für die von Uranverbindungen ausgehenden trische Leitfähigkeit. Natürliches Uran besteht
Strahlungen. In den ersten 150 Jahren nach seiner aus einer Mischung von drei instabilen Isotopen,
Entdeckung führte Uran in der Nutzung und in 238U (99,27 %) mit einer Halbwertzeit von rund
5-87
der Wissenschaft ein Schattendasein. Im 19. Jahr- 4,5 Milliarden Jahren, 235U (0,72 %) mit einer
Uran. Eine Scheibe hoch-
hundert wurden etwa zwei Drittel der Uranpro- Halbwertzeit von rund 704 Millionen Jahren
angereichertes Uran. duktion zur Färbung von Glas und Keramik und 234U (0,0055 %) mit einer Halbwertzeit
verwendet. Metallisches Uranpulver entzündet von 245 000 Jahren. Zur Altersbestimmung von
sich selbst sehr leicht (pyrophore Eigenschaft), Meteoriten nutzen Astrophysiker unter ande-
deshalb wurde es für Gasanzünder, Feuerzeuge rem das Verhältnis der Radionuklide 235U zu
und sogar für Kinderspielzeug mit Funkenflug 238U. Uran ist ein natürlicher Alphastrahler und
genutzt. Nach der Entdeckung der Kernspal- die einzige natürliche Substanz, die zu einer
tung 1938 durch OTTO HAHN (1879 – 1968) nuklearen Kettenreaktion fähig ist. Uran und
und FRITZ STRASSMANN (1902 – 1980) änderte seine Zerfallsprodukte erzeugen laufend einige
sich die Wertschätzung des Metalls radikal, denn kurzlebige, teils gasförmige Tochternuklide wie
nach Berechnungen sollten bei der Spaltung von das hoch radioaktive Gas Radon. An der Luft
Uran durch Kettenreaktionen unvorstellbare überzieht sich das Metall rasch mit einer Oxi-
Energiemengen freigesetzt werden. Das energe- dationschicht, von Säuren wird es langsam an-
tische Potenzial des Urans wurde zunächst nur gegriffen, in Alkalien ist es stabil.
für militärische, erst nach fast 20 Jahren auch Uran ist als Schwermetall in größeren Do-
für zivile Zwecke genutzt. sen wie alle Schwermetalle giftig. Aufgrund
seiner langen Halbwertzeiten ist Uran selbst
Vorkommen und Gewinnung nur schwach radiotoxisch; hoch radiotoxisch
sind jedoch seine Tochternuklide Thorium,
Uran ist ein metallisches Element und abgesehen Radium, Polonium und das Edelgas Radon.
Uran (U)
von winzigen, 1971 entdeckten Spuren natür- Ebenso gesundheitsgefährdend sind seine Ver-
Anteil an der 0,0004 lichen Plutoniums, das schwerste, in größeren bindungen, insbesondere die wasserlöslichen
Erdkruste Gew.%
Mengen natürlich vorkommende Element. Die Uran-VI-Komplexe.
Platz in der Häu-
figkeitsskala
54 obere Erdkruste enthält 2,4 – 4,0 g / t Uran; nach Uran wird fast ausschließlich als Brennstoff
Schätzungen beträgt die Uranmenge in den obers- für Atomkraftwerke und für Nuklearwaffen
Dichte 19,1 g/ cm3
ten 33 cm Boden pro Quadratkilometer etwa 1,5 verbraucht. Da nur Uranisotope mit ungerader
Normalpotenzial –1,66 V (U3+)
Tonnen. Mineralogen kennen über 200 uranhal- Neutronenzahl durch thermische Neutronen
tige Minerale; als Uranlieferanten nutzbar sind relativ leicht spaltbar sind, muss 235U (92 Pro-
Schmelzpunkt 1133 °C nur Coffinit (USiO4) und Uraninit (Pechblende, tonen plus 143 Neutronen) angereichert wer-
UO2). In Sandsteinen liegen mit 33 Prozent die den. Für Kernkraftwerke genügt eine schwache
Mohs-Härte 2,5 – 3 meisten Uranvererzungen, gefolgt von Pegmati- Anreicherung auf 2 – 4 Prozent, für Kernwaffen
Elektronen- ten (grobkörnigem magmatischen Gestein) mit wird auf mehr als 80 Prozent angereichert.
[Rn]5ff36d147s2
konfiguration 20 sowie von hydrothermalen Gangvorkommen Nach der Anreicherung bleibt sogenanntes
Elektr. Leit- und intramagmatischen Vererzungen mit jeweils abgereichertes Uran übrig, dessen Konzentra-
3,5 S / m
fähigkeit
15 Prozent. Weltweit werden die abbauwürdigen tion an spaltbarem 235U geringer als im natürli-
Wärmeleit-
28 W·m–1 · K–1 Uranvorräte auf rund 5,5 Millionen Tonnen bezif- f chen Uran ist. Abgereichertes Uran dient in der
fähigkeit
fert, der jährliche Uranverbrauch beträgt 69 100 Atomindustrie zur Abschirmung und militärisch
Tonnen, die momentane Jahresförderung 43 000 zur Herstellung von panzerbrechender Muni-
Tonnen. Abgebaut werden zur Zeit Uranvorkom- tion. 238U kann auch in Schnellen Brütern zur
men mit einem Urangehalt von 0,1 – 0,5 Prozent. Plutoniumerzeugung gebraucht werden.
274
Erde, Wasser, Luft und Feuer
275
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
unter dem Handelsnamen Widia (Wie Diamant) um bis zu 25 Volumenprozent, je kleiner die
auf den Markt bringen, der die Anforderungen Korngröße, desto stärker.
erfüllte. Seither wurden nicht nur die Eigenschaf- Neben dem traditionellen Wolframcarbid-
ten dieses Stoffs erheblich verbessert, sondern Cobalt-Hartmetall, das zu 90 – 94 Prozent aus
auch weitere Sorten dieser metallischen Ver- WC und 6 – 10 Prozent aus Cobalt besteht, wer-
bundwerkstoffe mit sehr vielfältigen Eigenschaf- den inzwischen weitere Sorten erzeugt, deren
ten unter der Gruppenbezeichnung Hartmetalle Eigenschaften sich aufgrund ihrer Zusammenset-
entwickelt. Die Geräte eines Zahnarztes, die zung und ihrer Gefügestruktur erheblich von den
harten Zahnschmelz abschleifen müssen, die traditionellen unterscheiden. Auch Mehrkom-
großen Bohrgeräte von Tunnelbauern und die ponenten-Sorten wie WC-Ni-Cr-Hartmetalle
kreischenden Trennschneider für Beton bestehen werden angeboten. Eine spezielle Untergruppe
häufig aus diesem Material. sind die 1931 entwickelten Wolframcarbid-
freien Cermets (engl. ceramic + metal), bei denen
Herstellung und Eigenschaften hauptsächlich Titancarbid (TiC) oder Titannitrid
(TiN), seltener Tantalcarbid den Hartstoff und
Hartmetalle sind Werkstoffe aus einem metal- bis zu 20 Prozent Niob, Nickel oder Molybdän
lischen Hartstoff wie Titancarbid (TiC), WC, die metallische Bindungsphase bilden (ÅHoch-
Titannitrit (TiN) und einem zähen Metall. Bei leistungskeramiken, Seite 233).
den Hartstoffen handelt es sich um sogenannte Hartmetalle vereinen die Härte und Ver-
Einlagerungsmischkristalle. Die kleineren Koh- schleißfestigkeit von Hartstoffen mit der Zähig-
lenstoff- oder Stickstoffatome lagern sich in keit von weichen Bindemetallen wie Cobalt. Je
die Zwischenräume des Metallgitters ein. Weil kleiner die Korngröße der Hartstoffe ist, desto
Hartmetalle aus zwei oder mehr Komponenten härter, aber auch spröder werden die Werk-
bestehen, werden sie zu den Verbundstoffen stoffe. Momentan werden WC-Co-Hartme-
gezählt. Diese Werkstoffe werden durch Sin- talle mit Korngrößen-Mischungen des Carbids
tern hergestellt. Im ersten Schritt werden die zwischen 0,05 und etwa 2 μm angeboten. Für
Ausgangsmaterialien fein gemahlen und das besondere Anforderungen an die Zähigkeit,
entstehende Pulver annähernd in die zukünf- wie sie beispielsweise an Meisel für den Erz-
tige Form gepresst, den sogenannten Grünling. abbau gestellt werden, sind auch Korngrößen
Gegebenenfalls erfolgt noch eine mechani- bis 20 μm üblich. Manche Sorten, wie WC-Ni-
sche Nachbearbeitung. Anschließend wird der Cr-Hartmetalle, sind chemisch beständig, alle
Grünling unter sehr hohem Druck langsam bis sind hoch warmfest und ertragen Schneidetem-
maximal 1600 °C erhitzt, so dass das Metall, peraturen von 1100 – 1200 °C. Aufgrund ihrer
aber nicht der Hartstoff schmilzt. Das flüssige Eigenschaften werden sie vor allem dort einge-
Metall benetzt die entstehenden Wolframcarbid- setzt, wo harte Stoffe bearbeitet werden müssen,
Kristallite und füllt die Poren zwischen ihnen also zum Schneiden und Bohren von Fliesen,
vollständig aus; über Diffusion dringen Metal- Glas, Beton, sowie als Schleifmittel für Stähle,
latome auch in die Kristallite ein. Diese soge- als Schneidewerkzeuge in Gesteinsmühlen, in
nannte Sinterung verbäckt die Hartstoffteilchen der Stanz- und Umformtechnik, im Berg- und
über das Metall fest miteinander. Durch das Tagebau. Künstliche Diamanten können nur mit
5-90 praktisch völlige Verschwinden der Poren (im Hilfe von Hartmetall-Stempeln gepresst werden.
Hartstoffe. Eigenschaften Gegensatz zu Keramiken) schrumpft die Masse In der Medizintechnik werden biokompatible
wichtiger Hartstoffe und Cermets für Implantate genutzt. Viele Hartme-
ihrer Metalle
tallwerkzeuge werden heutzutage mit Hartstof-
Hartstoff
Schmelzpunkt Schmelzpunkt Härte Härte fen beschichtet, um ihre Oberfläche noch ver-
in °C Metall in °C (Vickers) (Mohs) schleißfester und härter zu machen. Dabei kann
Titancarbid (TiC) 3140 1725 3200 9 – 9,5 man durch Verwendung unterschiedlicher Lagen
von Beschichtungen die Werkstoffeigenschaften
Tantalcarbid (TaC) 3880 2990 2600 9 – 10
optimieren. Auch die Abscheidung von Diamant
Titannitrid (TiN) 2950 1725 2450 8–9 (Kohlenstoff) als Beschichtung ist möglich. Die
Beschichtung erfolgt meist durch Aufdampfen
Wolframcarbid (WC) 2870 3370 2400 9
des gasförmigen Beschichtungsmaterials.
276
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Grenzgänger: Halbmetalle
Unter der Sammelbezeichnung Halbmetalle wer-
den Elemente zusammengefasst, die sich che-
misch und physikalisch teils wie Metalle, teils
wie Nichtmetalle verhalten. Wurden sie früher
nach ihrer Stellung im Periodensystem definiert,
werden sie heute als kristalline Feststoffe mit
einer bestimmten Bandstruktur charakterisiert
(ÅAbbildung 5-91). Zu diesen Grenzgängern
gehören Bor, Silicium, Germanium, Arsen, An-
timon, Tellur, Polonium, Selen und Astat. Nach
heutiger Auffassung sind Bor, Silicium, Arsen
und Tellur typische Halbmetalle, während Ger- 5-91
manium, Antimon und Polonium eher Metalle, Volumenminderung ein. Die meisten Halbme- Bändermodell. Die Band-
Selen und Astat eher Nichtmetalle sind. talle und ihre Oxide verhalten sich amphoter, sie lücke zwischen Valenz-
und Leitungsband ist bei
lösen sich sowohl in Säuren als auch in Basen. Halbleitern kleiner als 3 eV,
Eigenschaften von Halbmetallen Ihre Oxide bilden mit Wasser im Unterschied weshalb bei höheren Tem-
zu den meist wasserunlöslichen Metalloxiden peraturen (steigender Fer-
mienergie EF) Elektronen
Halbmetalle teilen einige Eigenschaften, die sie Säuren. Ihre äußere Elektronenschale ist mit aus dem Valenz- in das
von echten Metallen unterscheiden. Unter Nor- 3 – 6 Elektronen besetzt, deshalb können sie bei Leitungsband wechseln
malbedingungen bilden viele Angehörige dieser chemischen Reaktionen entweder Elektronen können.
Gruppe eine Modifikation mit metallischen und aufnehmen oder abgeben.
eine mit nichtmetallischen Eigenschaften aus, so
Antimon, Arsen und Tellur. Dies gilt allerdings Wirtschaftliche Nutzung
auch für Metalle wie Zinn oder Nichtmetalle
wie Phosphor. Allen Halbmetallen gemeinsam Halbmetalle sind unsichtbar in zahlreichen Ge-
ist bei Zimmertemperatur eine geringe ther- genständen verborgen. Als Legierungselemente
mische und elektrische Leitfähigkeit. Letztere dienen oft Tellur und Antimon, aber auch Sili-
steigt jedoch – im Gegensatz zu Metallen – mit cium und Arsen. Zur Herstellung von chemi-
wachsender Temperatur, so nimmt sie bei Bor bei schen und kosmetischen Produkten dienen Bor
einer Temperaturerhöhung von 20 °C auf 600 °C und Arsen, als Halbleiter in der Elektronik und
um das Hundertfache zu. Auch durch gezielte zur Herstellung elektronischer Chips Bor, vor
Einbringung von Fremdatomen aus anderen allem aber Silicium und Germanium, in der
Hauptgruppen (Dotieren) kann die elektrische Nuklearmedizin Astat. Im Folgenden wollen wir
Leitfähigkeit deutlich erhöht werden, weshalb zwei bekannte Halbmetalle, nämlich Silicium
die meisten Halbmetalle zu den Halbleitern ge- und Arsen, vorstellen.
hören (ÅEnergiebänder, Seite 204). Typisches
Merkmal von Halbleitern sind Bandabstände Kein Surfen ohne Silicium
zwischen Valenz- und Leitungsband kleiner als
3 eV. Die thermische Energie der Valenzelek- Silicium (auch: Silizium, Si, engl. silicon) umgibt
tronen erlaubt es gerade, diese Lücke zu über- uns „verborgen“ in zahllosen Alltagsgegenstän-
winden und ins Leitungsband zu wechseln. Da den, doch nur wenige kommen mit elementa-
diese Energie mit steigender Temperatur wächst, rem Silicium in Kontakt. Bekannte Gesteine,
steigt auch die Leitfähigkeit der Halbleiter mit viele Baustoffe und Tonkeramiken enthalten
der Temperatur. Die Halbmetalle Bor, Tellur, Silicium. Traditionelle Gläser enthalten als
Silicium und Germanium sind typische Halb- wichtigen Grundstoff dieses Element. Compu-
leiter, umgekehrt sind nicht alle Halbleiter auch ter- und Elektronikbauteile enthalten es, aus si-
Halbmetalle. liciumhaltigen Verbindungen werden polymere
Halbmetalle lassen sich generell nicht Kunststoffe erzeugt. Als Element wurde Silicium
schmieden oder kalt hämmern, beim Schmelzen relativ spät entdeckt. Unabhängig voneinander
tritt – im Gegensatz zu echten Metallen - eine stellten 1787 ANTOINE LAURENT DE LAVOI A SIER
277
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
und wenige Jahre später der Engländer HUMPHRY SiO2. Freies SiO2 kommt natürlich am häufigs-
Silicium (Si)
DAVY
A das Element dar, hielten es jedoch für eine ten als Quarz, der thermodynamisch stabilsten
Anteil an der
ca. 27 Gew.% Verbindung. Den beiden französischen Chemi- Form vor.
Erdkruste
kern JOSEPH LOUIS GAYA -LUSSAC (1778– 1850) und Einige Organismen verwenden Kieselsäure
Platz in der Häu-
figkeitsskala
2 LOUIS JACQUES THÉNARD (1777 – 1857) gelang es (ÅRandspalte) als Baustoff für ihre Schalen oder
1811 erstmals unreines, amorphes Silicium zu Stützskelette. Tierische Mikroorganismen wie
Dichte 2,336 g/ cm3
gewinnen, 1824 glückte es dem schwedischen Radiolarien (Strahlentierchen), Diatomeen (Kie-
Schmelzpunkt 1410 °C
Chemiker JÖNS JAKOB BERZELIUS reines, amor- selalgen) oder Kieselschwämme erzeugen kiese-
phes Silicium zu isolieren. BERZELIUS erkannte als lige Exoskelette. Ebenso schaffen sich Schach-
Mohs-Härte 6,5 Erster den elementaren Charakter dieses Stoffs. telhalme, Bambuspflanzen oder Hirse mit Hilfe
Elektronen-
Das gesamte 19. Jahrhundert hindurch, als sich von SiO2 eine feste Stütze. Im menschlichen
[Ne]3s23p2 die großindustrielle Produktion von Stahl, Ze- Körper ist nur ca. 1,4 g Silicium als essenzielles
konfiguration
Elektr. Leit- ment und Glas entwickelte, diente Silicium als Spurenelement vorhanden. Besonders für schnell
< 10–3 S/ m
fähigkeit wichtiges Legierungselement und Hilfsprodukt wachsende Zellen wie Haare, Nägel und Haut
Wärmeleit- in anderen Industriezweigen. Im 20. Jahrhundert ist SiO2 essenziell. In den Hautzellen unterstützt
149W·m–1 · K–1
fähigkeit
entdeckte man die Halbleiter-Eigenschaft dieses Silicium die Bindung von Feuchtigkeit und den
Elements. Damit stieg Silicium zu einem Schlüs- Hautstoffwechsel. Auch für die Knochenbildung
selrohstoff für die Elektronikindustrie und die ist dieses Element unentbehrlich.
Photovoltaik auf. Für industrielle Nutzungen wird aus natürli-
chem SiO2, meistens aus quarzhaltigen Rohstof-
Vorkommen und Gewinnung von Silicium fen, elementares Silicium gewonnen. Als Legie-
rungselement wird Rohsilicium mit einer Reinheit
Kieselsäure Silicium ist ein halbmetallisches Element, als Si- von 98 Prozent mittels Reduktion von Silicium-
Kieselsäuren sind Sauer-
liciumdioxid (SiO2) nimmt dieses Element in der dioxid mit Kohle, Magnesium oder Aluminium
stoffsäuren des Siliciums.
Die einfachste ist die Or- kontinentalen Kruste in Form von Silikaten oder erzeugt. Doch für die Herstellung von Solarzel-
thokieselsäure (H4SiO4), Quarz mit 57,3 Prozent und in der ozeanischen len oder Halbleitern genügt dieser Reinheitsgrad
eine schwache Säure, die Kruste mit 49,5 Prozent Anteil die erste Stelle nicht, dafür ist sogenanntes Reinstsilicium erfor-
rasch zu Dikieselsäure
(H6Si2O7) kondensiert. Ein gesteinsbildender Verbindungen ein. Geophysi- derlich. Dabei wird durch einen mehrstufigen
weiterer Vertreter ist die ker nehmen an, dass im Erdmantel silikatische chemisch-thermischen Prozess aus Rohsilicium
Metakieselsäure (H2SiO3). Minerale wie Olivin [(Mg,Fe)SiO4] und Mag- zunächst das hochentzündliche, flüssige Trichlor- r
Kieselgele sind hoch-
kondensierte, amorphe nesium-Perowskit [(Mg,Fe)SiO3] weit verbreitet silan (SiHCl3) erzeugt, das dann nach mehreren
Polykieselsäuren. Natür- sind. Silicium kommt stets gebunden, meist als Destillationsschritten bei hohen Temperaturen
liche Kieselsäure kommt Oxid in zahllosen Modifikationen vor, seltener gecracked wird, wobei polykristallines, sogenann-
in einigen Pflanzen wie
Schachtelhalmen und in
als gasförmiges Siliciumtetrafluorid (SiF4) oder tes Solarsilicium, mit einem Reinheitsgrad von
Wasser gelöst vor. sehr selten als natürliches Siliciumcarbid (Mois- 99,99 Prozent abgeschieden wird. Durch erneutes
sanit, SiC). Als Oxid ist es ein Baustein vieler Aufschmelzen und langsames Kristallwachstum
Minerale wie Feldspäte oder Glimmer, Silikate aus der Schmelze erhält man schließlich höchstrei-
bilden die umfangreichste Mineralklasse mit nes, monokristallines Halbleiter-Silicium, das eine
5-92
mehr als 1000 Vertretern (ÅKasten Mineralklas- Verunreinigung von weniger als 1 ppb aufweisen
Silicium. Verwendungsfel- sen, Seite 227). Auch Halbedelsteine wie Achat, darf, also weniger als ein Fremdatom auf eine
der von Silicium heute. Jaspis oder Opal bestehen hauptsächlich aus Milliarde Siliciumatome.
278
Erde, Wasser, Luft und Feuer
die für seine große Härte verantwortlich ist. Sili- sind heute mit zwanzig bis vierzig Nanometern
cium kann in hochreiner Form mit monokristal- extrem fein. Moderne Grafikchips enthalten
liner, polykristalliner (c-Silicium) und amorpher auf einer etwa 2,5 x 2,5 cm großen Fläche drei
Struktur (a-Silicium) erzeugt werden. In Verbin- Milliarden Schalteinheiten (Transistoren). Zum
dungen tritt Silicium selten 5- oder 6-wertig auf, Vergleich: ENIAC, einer der ersten Elektronen-
am häufigsten 4-wertig. Denn wie Kohlenstoff rechner (1946), verfügte über 17 468 Schaltein-
besitzt ein Siliciumatom eine mit vier Elektronen heiten (Elektronenröhren) auf einer Fläche von
nur halbgefüllte äußere Schale (ÅVon Schalen 10 m x 17 m.
und Orbitalen, Seite 135), die jeweils mit einem
Elektron der vier Nachbaratome ein Paar bilden Mordgift und Halbleiter: Arsen
können. Im Gegensatz zum Kohlenstoff geht es
aber kaum Doppelbindungen ein. Die Einfach- Dank seiner toxischen Eigenschaften genießt
bindungen mit Sauerstoff sind sehr stabil, da die dieses Element bis heute einen denkbar schlech-
äußeren Elektronen des Sauerstoffs die leeren ten Ruf als Mordgift. In vielen Kriminalfilmen
d-Orbitale des Siliciums „mitnutzen“ können und -romanen, z. B. von AGAT A HA C HRIST IE
(starke kovalente Bindung). Im Gegensatz zum (1890 –1976), wird es zu Mordtaten genutzt.
Kohlendioxid (CO2) aus der gleichen Gruppe ist Auch in der Realität war Arsen seit der Antike
Siliciumdioxid ein dreidimensionaler Festkörper, ein beliebtes Gift. Zahlreiche Fürsten, Kardinäle
bei dem sich zwei SiO2-Moleküle zu SiO4-Tetra- und Päpste fielen ihm zum Opfer. Zu einer beson-
eder verbinden (ÅAbbildung 5-8, Seite 228). deren Meisterschaft, unliebsame Personen damit
Diese tetraedrische Anordnung der Atome ist zu beseitigen, brachte es das spanisch-vatikani-
elektrisch nicht neutral, weshalb sich die Tetra- sche Adelsgeschlecht der Borgias (Alexander VI.).
eder an den Ecken zu den zahlreichen, ketten-, Bis etwa 1840 wurden 90 bis 95 Prozent aller
ring- oder schichtförmigen Silikaten verbinden. Giftmorde mit Arsenik, auch „Erbschaftspulver“
Damit haben die positiv geladenen Siliciumkerne genannt, verübt. Seit Einführung der Marshschen
den maximalen Abstand voneinander. SiO4-Te- Nachweismethode verlor das Gift an Bedeutung, 5-93
traeder bilden den Ausgangsstoff für wichtige können damit doch auch nach dem Tod des Op- Chipherstellung. Um feine
Strukturen auf einem Sili-
Kunststoffe. In Wasser ist elementares Silicium fers noch kleinste Mengen nachgewiesen werden. cium-Wafer aufzubauen,
unlöslich, mit Ausnahme von Flusssäure wird Im ersten Weltkrieg wurden aus arsenhaltigen werden fotolithografische
es von Säuren nicht angegriffen. Mit erhitzten Verbindungen tödliche chemische Kampfstoffe Verfahren genutzt. Der
aufgetragene Fotolack
Laugen reagiert es und setzt Wasserstoffgas frei. wie Grün- oder Blaukreuz entwickelt.
wird mit einer Fotomaske
Metallurgisches Silicium dient als Rohstoff Schon in der Antike wurden die beiden gelben, abgedeckt, die die Struk-
zur Herstellung von Dichtungen, Ölen, Silikon sulfidischen Arsenminerale Auripigment (Orpi- turen der aufzubauenden
Schicht enthält. Nach der
und Silikonharzen. In Silikonen sind SiO4-Tetra- ment, As2S3) und Realgar (As4S4) genutzt, um
Belichtung (oben), wird
eder durch organische Reste modifiziert. Als Silber golden und Kupfer weiß zu färben; der der unbelichtete (oder
Legierungselement wird es für Weißblech, Stähle griechische Arzt DIOSKORIDES (um 50 n. Chr.) belichtete, je nach Verfah-
(Siliciumstahl 2,5 – 4,0 Prozent Si), Kupfer- und verordnete Realgar als Asthmamittel. Im antiken ren) Lack chemisch ent-
fernt. Das Substrat kann
Aluminiumlegierungen genutzt. Die Bedeutung Rom verwendete man Arsensulfide als Maler- an den freiliegenden Stel-
des Siliciums spiegelt sich in der Namensgebung farbe und zum Enthaaren. PARACELSUS führte len durch Ionenbeschuß
Silicon Valley für eine Hochtechnologie-Region arsenhaltige Mittel wieder in die Medizin ein. Als (Mitte, links) dotiert bzw.
durch Aufdampfen oder
in Kalifornien wieder. Polykristallines Solarsili- eigentlicher Entdecker gilt ALBERTUS MAGNUS, der andere Beschichtungsver-
cium wird hauptsächlich in ÅSolarzellen (Kasten um 1250 die Herstellung von unreinem Arsen aus fahren (Mitte, rechts) be-
Seite 280) verarbeitet. Das höchstreine, mono- Auripigment beschrieb, doch erst dem deutschen schichtet werden. Dieser
Prozess kann Schicht für
kristalline Silicium ist ein wichtiger Rohstoff für Mediziner JOHANN SCHRÖDER (1600 – 1664) und Schicht wiederholt wer-
die Herstellung von Mikrochips. Dazu wird der dem französischen Chemiker NICOLAS LEMERY den, wobei in den ober-
als runder Block vorliegende Silicium-Einkristall (1645 – 1715) gelang es durch Erhitzen von sten Schichten die metal-
lischen Leitungsbahnen
in etwa 1 Millimeter dünne Scheiben zersägt, Arsen(III)-oxid mit Holzkohle reines, metallisches aufgetragen werden.
die sogenannten Wafer. Auf diesen werden in Arsen zu erzeugen. LAVOIA SIER erkannte, dass es
einem mehrstufigen, komplizierten Prozess die sich bei Arsen um ein Element handelt. Seinen
filigranen Schaltkreise aufgebaut, wobei man heutigen Namen, abgeleitet von der griechischen
von fotolithografischen Verfahren Gebrauch Bezeichnung arsenikon für das Mineral Auripig-
macht (ÅAbbildung 5-93). Die Detailstrukturen ment, erhielt es erst im 19. Jahrhundert.
279
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
Solarzellen
Etwa 95 Prozent der weltweit erzeugten Solar- herstellbar. Dabei verwendet man oft amorphes
zellen basieren auf dem Halbleiter Silicium. Sie Silicium, dessen Wirkungsgrad im kommerzi-
funktionieren nach dem sogenannten inneren ellen Bereich zwar noch unter dem polykris-
photoelektrischen Effekt. Halbleiter leiten den talliner Zellen liegt, aber im Labor werden
Strom recht gut, wenn genug Elektronen die bereits Werte um 20 Prozent erzielt. Aufgrund
Bandlücke zwischen Valenz- und Leitungsband des Bedarfs an erneuerbaren Energien entstehen
überwinden können. Die dafür benötigte Ener- derzeit nicht nur eine Vielzahl neuer, kosten-
gie kann auch von Photonen geliefert werden. günstiger Verfahren zur Produktion von Silici-
Bei photoelektrischen Widerständen verringert umzellen, es werden auch zunehmend andere
sich auf diese Weise der Widerstand in Abhän- Materialien, unter anderem auf organischer
gigkeit vom Lichteinfall. Die bei der Absorp- Basis, geprüft und eingesetzt. Bezüglich Kosten
5-94
tion entstehenden Elektron-Loch-Paare werden und Energieeffizienz ist daher eine ähnliche
Raumladungszone. durch die angelegte Spannung getrennt bevor sie Entwicklung zu erwarten wie seinerzeit bei
Wichtig für den photo- wieder rekombinieren können. Sie fließen als Mikroprozessoren und Speicherbausteinen.
elektrischen Effekt von
elektrischer Strom in entgegengesetzter Rich-
Halbleitersolarzellen ist die
Existenz eines geladenen tung durch den Widerstand. Für die Strom-
Bereichs um die Sperr- erzeugung (photovoltaischer Effekt) oder die
schicht, die sogenannte Strahlungsmessung (Photodiode) werden diese
Raumladungszone. Sie
entsteht, weil Löcher (rot) Paare nicht durch eine von außen angelegte
aus dem p-Bereich in den Spannung voneinander getrennt, sondern durch
n-Bereich diffundieren, das elektrische Feld der sogenannten Raumla-
während Elektronen (blau)
die andere Richtung dungszone eines p-n-Übergangs (ÅAbbildung
nehmen. Die Diffusion er- 5-94). Dadurch fließt bei Lichteinfall selbstän-
zeugt ein elektrisches Feld dig ein elektrischer Strom durch eine Solarzelle.
senkrecht zur Sperrschicht,
das die Ladungsträger Den maximalen Wirkungsgrad (über 20
wieder zurückdriften läßt. Prozenz) erzielt man mit hochreinem monokris-
Das Gleichgewicht zwi- tallinen Silicium, wie es bei der Chipherstellung
schen beiden Bewegungen
ist bei der sogenannten
verwendet wird. Das Verfahren ist allerdings
5-96
Diffusionsspannung er- teuer und energieintensiv, was sich ungüns- Solarzelle. Eine Siliciumsolarzelle besteht aus einer
reicht; bei Silicium beträgt tig auf die Gesamtenergiebilanz auswirkt. Die sehr dünnen, stark n-dotierten Schicht, einer schwach
sie 0,6 bis 0,7 V. p-dotierten Zwischenschicht und einer stark dotierten
meisten in Solarpanelen verwendeten Solar-
p-Schicht. Die Raumladungszone dehnt sich über den
zellen sind daher polykristallin, was zwar den schwach dotierten Bereich aus. Einfallende Photonen ka-
Wirkungsgrad auf etwa 16 Prozent sinken lässt, tapultieren darin Elektronen (blau) aus dem Valenzband
aber die Energiebilanz und die Kosten deutlich V in das Leitungsband L (unten). Dank des elektrischen
Feldes in der Raumladungszone driften Elektronen zur n-
verbessert. Auch extrem dünne, sehr leichte und die entstandenen Löcher zur p-Seite (rechts), wo sie
und sogar biegsame Solarzellenelemente sind über Kontaktelektroden abgegriffen werden.
Vorkommen und Gewinnung von Arsen und einige Getreide. Da wir aus unserer Umwelt
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
280
Erde, Wasser, Luft und Feuer
oder Golderzen gewonnen, die alle Schmelz- die mit der Zeit die drei- bis vierfache Menge
Arsen (As)
punkte über 1000 °C haben. Graues Arsen su- der tödlichen Dosis konsumieren konnten. Dann
blimiert schon bei 613 °C. Mittels Rösten von bewirkt Arsenik ein wohliges Wärmegefühl und Anteil an der
0,0002 Gew.%
Erdkruste
arsenhaltigen Erzen in sogenannten Gifthütten eine Leistungsteigerung.
Platz in der
bildet sich zunächst flüchtiger Hüttenrauch, gas- Jährlich werden etwa 50 000 Tonnen Arsenik Häufigkeitsskala
52
förmiges Arsentrioxid (Arsenik, As2O3). Durch weltweit produziert. Etwa 70 Prozent dienen
Dichte
Abkühlung und Verdichtung in langen Tonröhren zur Holzbehandlung, 22 Prozent zu Erzeugung
graues As 5,72 g / cm3
erhält man dann verunreinigtes, pulverförmiges von landwirtschaftlichen Chemikalien und der gelbes As 1,97 g / cm3
Arsenik, das berüchtigte Mordgift, das, durch Rest zur Glasherstellung. Metallisches, graues schwarzes As 4,7 – 5,1 g / cm3
weitere Sublimation über Holzkohle von Verun- Arsen wird hauptsächlich Blei und Kupfer zur
graues As subli-
reinigungen befreit, zu metallischem Arsen wird. Erhöhung der Festigkeit als Legierungselement Schmelzpunkt
miert bei 613 °C
Für den Einsatz in der Halbleitertechnik be- zugefügt. Und hochreines Arsen bildet einen
nötigt man hochreines Arsen mit einem Rein- wichtigen Verbindungshalbleiter in der Elektro- Mohs-Härte 3,5 (graues As)
heitsgrad von mindestens 99,99999 Prozent, nik und in der Photovoltaik als Gallium-Arsenid
Elektronen-
dass durch Reduktion von mehrfach destillier- (GaAs) oder Indium-Arsenid (InAs). konfiguration
[Ar]3d104s24p3
tem Arsen(III)-chlorid (AsCl3) im Wasserstoff-
Elektr. Leit- 3,45 · 10–3 S / m
strom hergestellt werden kann. Anorganische Werkstoffe fähigkeit (graues As)
281
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
gewöhnliche Fensterglas wurde im 12. Jahrhun- können. Während reine Metalle aufgrund ihrer
dert ertsmals hergestellt und vor allem in Fenster beweglichen Metallbindungen extrem schnelle
repräsentativer Gebäude eingebaut. Die heutige Abkühlungsraten zur Verglasung benötigen,
(Wein-)Flasche wurde 1615 in England einge- sind aus Mischungen von Siliciumdioxid und
führt, ihre Herstellung aus lokalen Rohstoffen Alkalioxiden leicht Gläser herzustellen. Die Sau-
wie Quarzsanden verbreitete sich bald über ganz erstoffatome der SiO4-Tetraeder verbinden sich
Europa. Abgesehen von Fensterscheiben diente miteinander und formen netzartige Strukturen.
Glas über Jahrhunderte nur als Werkstoff für Im Gegensatz zu Metallen, deren metallische
die Erzeugung von Gefäßen und Schmuck. Das Bindungen richtungsunabhängig sind, sind
änderte sich erst Ende des 19. Jahrhunderts mit diese Netze wesentlich sperriger. Kühlt also
der Einführung maschinell erzeugter Glassorten. eine Schmelze aus Siliciumoxid ab, so behin-
Seit dem letzten Drittel des 20.Jahrhunderts wird dern die entstehenden Teilnetze die Beweglich-
Glas in vielen Bereichen zunehmend durch spe- keit der noch freien Moleküle zunehmend. Bei
zielle Kunststoffe mit ähnlichen Eigenschaften Kristallen tritt die Erstarrung bei Erreichen der
verdrängt. Schmelztemperatur sehr abrupt ein, bei Gläsern
erfolgt der Übergang in den erstarrten Zustand
5-97 dagegen allmählich. Zwischen der sogenannten
Netzwerkwandler. Was ist Glas?
Die atomaren Disiloxan- Erweichungs- oder Glasübergangstemperatur
bindungen (Si-O-Si) in Der Begriff leitet sich vom germanischen Wort TG, unterhalb der Glas nicht mehr fließen kann,
einem Quarz brechen glasa, das zunächst Bernstein, dann etwas Glän- und der Temperatur Tm, ab der das Glas als
durch Natriumoxid auf,
da zu viele Sauerstoff- zendes bezeichnet. Wissenschaftlich handelt es flüssig bezeichnet wird, können weit mehr als
atome vorhanden sind. sich um einen Sammelbegriff für eine große hundert Grad Celsius liegen. Man definiert diese
Natriumionen lagern sich Anzahl anorganische Stoffe, die sich in einem Temperaturen auf der Basis der Viskosität des
zwischen die Tetraeder
und bilden Ionenbindun- speziellen amorphen Zustand befinden (ÅEine Glases. Bei TG beträgt diese etwa 1012 Pa·s, bei
gen mit den freiliegenden andere Klassifikation von Materie, Seite 115), Tm 10 Pa·s, was der Viskosität von flüssiger
Sauerstoffatomen. Die eben dem Glaszustand. Im Gegensatz zu Kris- Sahne entspricht. Dieser breite Übergangsbe-
Netzwerkbildung wird
dadurch erschwert, die
tallen verfügen Gläser wie alle amorphen Fest- reich zwischen Flüssigkeit und Festkörper er-
Glasübergangstemperatur körper über keine Fernordnung, sondern bilden möglicht die flexible Verarbeitung von Glas. Bei
sinkt. Mit zunehmendem unregelmäßig geformte Netzwerke oder – bei der sogenannten Formgebungstemperatur (103
Anteil an Natriumoxid
Kunststoffgläsern – unregelmäßig angeordnete bis 105 Pa·s) lässt sich Glas optimal bearbeiten
bildet sich überhaupt kein
Glas mehr. und miteinander verbundene Ketten. Im Gegen- und plastisch verformen.
satz zu anderen amorphen Festkörpern gehen Glas besteht in der Regel aus drei Kom-
Gläser bei Erwärmung nicht in einen kristalli- ponenten, dem Netzwerkbildner (Glasbildner),
nen, sondern in den flüssigen Zustand über. In dem Netwerkwandler (Glaswandler) und Sta-
einem gewissen Sinn wirken Gläser wie einge- bilisatoren. Der Netzwerkbildner formt das
frorene Flüssigkeiten, denen bei der Erstarrung Grundgerüst des Glases, meist handelt es sich
keine Zeit blieb, kristalline Strukturen zu bilden. um Quarzsand (SiO2), es eignen sich aber auch
Wie aber entstehen Gläser? Leider ist der andere Substanzen wie Bortrioxid (B2O3). Netz-
Mechanismus des Übergangs von einer Schmelze werkwandler wie Natriumoxid (Na2O) oder
in den Glaszustand auch heute noch nicht voll Kaliumoxid (K2O) stören das SiO2-Netzwerk
verstanden. Klar ist, dass die Abkühlungsge- und verändern so die chemisch-physikalischen
schwindigkeit eine wesentliche Rolle spielt. Ist Eigenschaften, zum Beispiel in dem sie die Glas-
sie sehr hoch, so finden die Atome oder Mole- übergangstemperatur verringern. (ÅAbbildung
küle nicht genügend Zeit, den energieärmsten, 4-50, Seite 152, Abbildung 5-97). Stabilisato-
in der Regel kristallinen Zustand einzuneh- ren wie Kalk, Aluminiumoxid (Al2O3), Titandi-
men, bevor Bindungskräfte ihre thermische Be- oxid (TiO2), Eisen-(II)-oxid (FeO) und andere
wegungsenergie überwinden. Die Flüssigkeit bewirken, dass Glas nach dem Abkühlen hart
„friert“ gewissermaßen in einem energetisch wird.
ungünstigen Zustand ein. Wie schnell dafür Normales Glas wird aus einer fein gemah-
abgekühlt werden muss, hängt von der Struk- lenen, gut vermischten Grundmasse aus reinem
tur der beteiligten Moleküle und der Stärke Quarzsand, Soda (Natriumcarbonat, Na2CO3)
der Bindungen ab, mit denen sie sich vernetzen oder Pottasche (Kaliumcarbonat, K2CO3), Kalk-
282
Erde, Wasser, Luft und Feuer
stein oder Kreidekalke erzeugt. Heute werden tes Glas für ein breites Lichtband durchlässig
je nach Anforderungen für spezielle Glassorten (ÅTransparenz und Absorption, Seite 215), Färbesubstanz Farbe
Oxide von bis zu 45 weiteren Elementen zuge- es lässt zwischen 75 und 90 Prozent des ein-
Eisen(II)oxid und Grün – —
fügt. Dieses Gemisch wird in Schmelzöfen bei fallenden Lichtes durch. Jede Glassorte besitzt Chrom(III)oxid Blaugrün
Temperaturen bis 1000 °C geschmolzen, ab etwa eine andere Durchlässigkeit. Ultraviolettes Licht
Eisen(II)oxid und
800 und 900 °C beginnen die Einzelbestandteile besitzt dagegen ausreichend Energie, um Elek- Mangan(IV)oxid
Braun
des Gemisches zu schmelzen und zu verbacken. tronen anzuregen. Deshalb wirkt mit UV-Licht
Bei Temperaturen von 1450 – 1550 °C wird die bestrahltes Fensterglas trüb. Mangan(IV)oxid Violett
Schmelze geläutert, das heißt Gaseinschlüsse
und Fehler werden beseitigt, schließlich bil- Farbiges Glas Cobalt(II,III)oxid Blau
det sich eine dünnflüssige, klare, blasenfreie
Schmelze. Glasfärbungen entstehen durch Zusatzstoffe
Kupfer(II)oxid Blau
im Glas, insbesondere durch Oxide von Über-
Eigenschaften gangsmetallen wie Eisen, Chrom oder Cobalt. Kupfer(I)oxid, Rot
Bei dieser sogenannten Ionenfärbung des Gla- Kupfer (Kupferrubin)
Aus der amorphen Struktur von Glas leiten sich ses spalten sich die d-Orbitale der Metallionen Rosa
Selen
viele seiner Eigenschaften wie Sprödigkeit und (Å Von Schalen und Orbitalen, Seite 135) durch (Rosalin)
Zerbrechlichkeit, Durchsichtigkeit und Resistenz Wechselwirkung mit den umliegenden Ionen in
Selen und Cad- Rot (Sonnen-
gegen Chemikalien ab. Übliches Flaschen- oder höher- und niederenergetische Orbitale auf. Da miumsulfid brillen)
Fensterglas besitzt eine Dichte von 2,5 g / cm3 die d-Orbitale der Übergangsmetalle nur zum
Gelb (Son-
sowie eine geringe elektrische und thermische Teil gefüllt sind, können Elektronen durch Ab- Cadmiumsulfid
nenbrillen)
Leitfähigkeit. Alle diese Eigenschaften variieren sorption von Photonen vom tieferliegenden zum
jedoch stark je nach Glassorte (ÅTabelle Glas- höherliegenden Orbital wechseln. Die Energiedif- Gelbgrün flu-
Uran (früher)
oreszierend
sorten, Seite 284). Glas ist ein spröder und ferenz zwischen den Orbitalen entspricht wegen
ziemlich harter Werkstoff mit einer Mohs-Härte E = hν der Frequenz ν der absorbierten Photo- Gold
Rubinrot
(Goldpurpur)
von 5 – 7. Es ist empfindlich gegen Zugspan- nen und bestimmt damit die Farbe des Glases
nungen und hat bei niedrigen Temperaturen (ÅAbbildung 5-98). Umgekehrt kann man durch Orange bis
Silbersalze,
gelb
eine niedrige Elastizitätsgrenze (ÅVom Federn, Beigabe eines Oxids, das die Komplementärfarbe Silber
(Silbergelb)
Dehnen, Fließen und Kriechen, Seite 176), bei erzeugt, ein Glas entfärben. In diesem Fall wird
5-98
deren Überschreitung es sofort bricht. Generell sozusagen die Absorptionsbilanz wieder ausge-
Glasfarben.
hängt die Bruchfestigkeit von der Oberfläche glichen und das Glas erscheint farblos. Da die Eine Auswahl an Zu-
und der Glassorte ab. Oxidationsstufe des verwendeten Metalls einen satzstoffen, die Gläsern
Bei Zimmertemperatur ist Glas gegen nahezu großen Einfluss auf die Farbe besitzt, kann man charakteristische Färbun-
gen verleihen. Stoffe wie
alle Chemikalien beständig, lediglich Flusssäure auch entfärben, in dem man das Metall in der metallisches Gold, Silber,
(HF) kann es angreifen, indem sie das Silicium- Schmelze in eine farblose Oxidationsstufe über- Kupfer oder Selen färben
dioxid in Hexafluorokieselsäure (H2SiF6) um- führt. Entfärbemittel wurden früher „Glasma- Glas als feinverteilte Na-
nopartikel bzw. Kolloide.
wandelt. Gegenüber Wasser ist Glas nicht völlig cherseifen“ genannt. Zusätzliche Substanzen
resistent. Wasser vermag Metallionen aus dem Eine andere Form der Färbung ist die An- wie Schwefel oder Mi-
Glas herauszulösen und so das Glas an der Ober- lauffärbung. Löst man geringe Mengen von Na- schungen der Färbestoffe
können die Färbungen
fläche aufzurauen (Säure-Basereaktion, Proto- nopartikeln aus Gold, Kupfer oder Silber in der noch intensivieren oder
lyse). Deshalb wird billiges Glas nach mehrma- Glasschmelze und erwärmt das Glas nach dem modifizieren. Auch die
ligem, heißem Waschen mit Reinigungsmitteln in Erstarren wieder langsam für etwa 30 Minuten nichtfärbenden Zusatz-
stoffe des Glases spielen
Geschirrspülern trüb. Auch längeres Erwärmen auf 400 – 500 °C, so bilden sich mikrokristalline eine große Rolle für die
unterhalb der Glasübergangstemperatur führt Partikelinseln, sogenannte Kolloide, die die Wel- Farbgebung.
zur Teilkristallisation und damit Trübung des lenlängen des einfallenden Lichtes unterschied-
Glases. Seine optische Durchsichtigkeit ist dar- lich absorbieren, brechen oder reflektieren.
auf zurückzuführen, dass keine freien Elektro- Dichroitisches Glas (von griech. dichroos,
nen im Glas existieren; sie sind vielmehr fest an zweifarbig) wechselt seine Farbe je nach Blick-
Silicium- oder Sauerstoffatome gebunden. Das winkel beziehungsweise Beleuchtungsrichtung.
normale, sichtbare Licht besitzt nicht genügend Die Farbwirkung entsteht durch dünne Beschich-
Energie, um diese Elektronen durch Photonen- tungen des Glases mit Metalloxiden. Die an
absorption anzuregen. Deshalb ist ungefärb- den Schichtgrenzen entstehenden Reflexionen
283
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
erzeugen wellenlägen- und winkelabhängige In- das Ziehen auf. Trinkgläser werden durch Ziehen
terferenzen, was zu Auslöschungen bestimmter erzeugt. Heute werden circa 95 Prozent des Flach-
Wellenlängen führt. glases mittels des 1960 industriell eingeführten
Floatverfahrens erzeugt. Dabei wird die Glas-
Flach oder hohl schmelze fortlaufend über ein Bad aus flüssigem
Zinn geleitet. Glas schwimmt auf Zinn wie ein
Als Hohlglas wird Glas bezeichnet, das für Ölfilm, was zu sehr glatten Glasoberflächen führt.
Verpackungszwecke hergestellt wird und ver- Das Glas wird am kühleren Ende herausgezogen.
schließbar ist. Erzeugte man Hohlgläser bis ins Nachdem es in einem Kühlofen spannungsfrei
19. Jahrhundert mundgeblasen, erfolgt ihre Her- heruntergekühlt ist, wird es geschnitten.
stellung seit 1903 durch maschinelle Blasverfah-
5-99 ren. Neuere Verfahren sind das Pressen in einer
Glassorten.
Übersicht über die wich-
vorgefertigten Form mittels eines Stempels und Glasfasern
tigsten Glassorten. Etwa das Schleuderverfahren, bei dem sich in einer
90 Prozent der gegenwär- rotierenden Flüssigkeit ein Hohlraum (Schleu- Zieht man geschmolzenes Glas zu langen Fäden
tig produzierten Gläser
derparabel) bildet. In Deutschland entfällt etwa aus, offenbart dieses an sich spröde Material
sind Kalknatrongläser.
Die angegebenen Werte 75 Prozent der Glasproduktion auf Hohlglas. ungewohnte mechanische und optische Eigen-
für die Glasübergangs- Unter Flachglas versteht man Glas, das zu schaften. In Kunststoffen und Baustoffen wirken
temperatur TG, die Form-
Scheiben geformt ist; bekanntester Vertreter ist diese Glasfasern materialversteifend; so befinden
gebungstemperatur TF
und die Bestandteile sind das Fensterglas. Ein traditionelles Herstellungs- sich makroskopisch nicht sichtbar Glasfasern
Durchschnittswerte. verfahren ist das Walzen, im 20.Jahrhundert kam in zahlreichen Bauteilen und Gebrauchsgegen-
Bestandteile TG und TF
Name Eigenschaften Verwendung
in Gew.% in °C
58 SiO2
Luxusglaswaren,
9 K 2O
Bleiglas TF: 400 – 500 farblos, weich, Ziergegenstände,
24 PbO
(Bleikristall) TG: 470 glänzend, stark lichtbrechend Edelsteinimitate,
4 Na2O
Strahlenschutz
2 B2O3
72,8 SiO2
Fensterscheiben,
13,8 Na2O
TF: 1015 – 1045 Glasgefäße,
Kalk-Natron- 8,6 CaO gut lichtdurchlässig, empfindlich gegenüber Tem-
TG: 710 – 735 Flaschen, Spiegel,
Glas (Normalglas) 3,6 MgO peratursprüngen
Temperglas,
1,2 K 2O
beschichtete Gläser
1,2 Fe2O3
Siedekolben,
89 SiO2
Bechergläser,
Erdalkali-Borosilikatglas 7 B2O3 TF: 700 – 900 hart, chemische Resistenz, beständig gegenüber
Thermometer,
(Jenaer Glas) 4 MgO TG: 650 Temperatursprüngen
Glühlampen,
4 CaO
Backformen
80,6 SiO2
12,6 B2O3 Laborgläser,
hart, farblos, hohe chemische Resistenz, hohe
4,2 Na2O TG: 815 – 1260 Mikrowellen,
Borosilikat (Duran) thermische Belastbarkeit, beständig gegenüber
2,2 Al2O3 TF: 820 Leuchtröhren,
Temperatursprüngen
0,1 CaO (Halogenlampen)
0,1 Cl
66 SiO2
1 Na 2 O
niedrige Wärmeausdehnung, hohe chemische und
Alumosilikatglas 9 MgO TF: 950 – 1235 Hochtemperaturglühlampen
Temperaturbeständigkeit, Festigkeit
20 Al2O3
4 B2O3
284
Erde, Wasser, Luft und Feuer
ständen, von Teilen der Autokarosserie bis zu plasten wie Polyamid oder Polystyrol und aus
Tennisschlägern. Glasfasern fungieren auch als Duroplasten (ÅVon Plasten und Elasten, Seite
hervorragende Medien für die Datenübertra- 294) wie Epoxid- und Phenolharze entstehen
gung, ohne sie wären die modernen Hochleis- mit Glasfasern sogenannte Faserverbundwerk-
tungs-Kommunikationstechniken nicht möglich. stoffe. Glasfaserverstärkte Kunststoffe weisen
Obwohl ihre Nutzung erst in den letzten verbesserte Biege-, Zug- und Schlagfestigkeit
Jahrzehnten explosionsartig zunahm, wurden sowie höhere Beständigkeit gegen Chemikalien
Glasfasern schon in der Antike hergestellt. Im al- auf. Sie werden für Golf- und Tennisschläger,
ten Ägypten und im römischen Reich verwendete für Karosserieteile von Autos, für Rotorblät-
man grobe Glasfasern, um Gefäße und Vasen ter von Hubschraubern und Windrädern, für
damit zu verzieren. Diese Kunst wurde in der Re- Rohrleitungen und Behälter in Kraftwerken und
publik Venedig vom 16. bis zum 18. Jahrhundert der chemischen Industrie und sogar für Fuß-
stetig verbessert. Doch die modernen Glasfasern gängerbrücken genutzt. In Beton eingebrachte
gehen auf Glasbläser im Thüringer Wald zurück, Glasfasern dienen der Bewehrung, indem sie die
die zu Dekorationszwecken im 18. Jahrhundert Rissbildung vermindern. Da Glasfasern nicht
sogenanntes Feen- oder Engelshaar erzeugten. rosten, ermöglichen sie dünne Betonschichten
Die Nutzung von Glasfasern als optisches Über- und filigrane Gestaltungen. Auch technische
tragungsmedium ist dagegen sehr jung. Zwar Gewebe, vor allem Vliesstoffe, werden aus Glas-
wurde schon 1934 das Patent für ein optisches fasern hergestellt, wobei die Fasern ungeordnet
Telefonsystem erteilt, doch erst Laser lieferten durcheinander liegen. Diese werden unter ande-
eine geeignete Lichtquelle und erst ab 1962 wa- rem als medizinische Textilien, als Innenfutter
ren Photodioden als geeignete Empfangselemente von Schuhen oder Einlegesohlen, als Staub- und
verfügbar. Seit den 1970er Jahren werden Glas- Flüssigkeitsfilter in der Industrie und als Boden-
fasern zur Datenübetragung effektiv genutzt; belag verwendet.
allein in Deutschland sind inzwischen mehrere
Millionen Kilometer zu diesem Zweck verlegt. Wirkung als Lichtwellenleiter
285
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
bieten strukturierte Glasfasern, die wie Bienenwa- Glaskeramik. Im Unterschied zur Tonkeramik
ben mit einem hohlen Kern im Innern aufgebaut finden sich zwischen den Kristallen keine Poren,
sind. In dem luftgefüllten Kern können wesentlich sondern es entsteht ein Gefüge mit regellos in der
intensivere Lichtpulse übertragen werden, aber es Glasphase verteilten Kristallen. Glaskeramiken
tritt eine Verzerrung der Lichtimpulse durch in- besitzen einen gegen Null tendierenden Wärme-
5-101 elastische Streuung der Photonen an den Luftmo- ausdehnungskoeffizient (10–7 K–1), da die Glas-
Ceran-Kochfeld. lekülen (Raman-Streuung) auf. Photonen werden phase einen positiven, die Keramikphase einen
286
Erde, Wasser, Luft und Feuer
BILDRECHTE
Nutzung
Geringe Wärmeausdehnung, hohe Wärme- sierend auf Holz als Brennmaterial. Ötzi, der 5-102
durchlässigkeit und mechanische Festigkeit er- berühmte Mann aus dem Eis der Alpen, führte Holzaufbau. Die Rinde be-
möglichen Einsatzbereiche, in denen hohe Tem- hölzerne Geräte auf seinem letzten Weg mit sich. steht aus Borke und Bast,
das darunter liegende
peraturbeanspruchungen auftreten. Unter dem Bereits im alten Ägypten, im antiken Griechen- Kambium enthält die tei-
Markennamen „Zerodur“ wird Glaskeramik als land und im römischen Reich wurden große lungsfähigen Zellen des
Spiegelträger für Teleskope, für Sichtfenster von Mengen an Holz in Gebäude und Schiffe ver- Stammes, von denen das
Wachstum ausgeht. Das
Raumfahrzeugen, als Rahmen und Träger für baut. Diese Doppelnutzung von Holz als Brenn- innen liegende Splintholz
Lithographiemaschinen sowie in Messgeräten und Baustoff dauerte das gesamte Mittelalter speichert Nährstoffe und
verarbeitet. Als „Ceran“ wird Glaskeramik für und die Neuzeit hindurch bis ins 19. Jahrhundert leitet diese und Wasser
in Richtung Baumkrone.
Koch- und Backgeschirr, vor allem aber für Herd- an. Auch die beginnende, auf Eisenverhüttung
Das Kernholz besteht aus
platten verwendet. Transparente Sorten werden und -verarbeitung fußende Industrialisierung abgestorbenen Zellen. Der
für Sichtfenster in Feuerungsanlagen genutzt. Für nutzte Holz als Brennstoff. Für unsere Großel- Teil innerhalb des Kambi-
ums wird auch als Xylem,
medizinische Anwendungen sind biokompatible tern waren hölzerne Alltagsgegenstände noch
der außenliegende als
Glaskeramiksorten entwickelt worden, bei denen gang und gäbe. Erst im 19. Jahrhundert kamen Phloem bezeichnet.
Apatit, Apatit-Wollasonit oder Apatit-Glimmer die Nutzung als Rohstoff für Papier, für die
die Hauptkristallisationsphasen bilden. Unter chemische Industrie sowie für die frühe Kunst-
dem Markennamen Ceravital, Cerabone und stofferzeugung hinzu.
Bioverit werden sie in der Dentaltechnik oder als
Zwischenstücke zur Knochenstabilisierung nach Was ist Holz?
Brüchen eingesetzt.
Das deutsche Wort Holz leitet sich vom germa-
Organische Materialien nischen holta, Abgehauenes, ab. Wissenschaftler
verstehen darunter das vom Kambium nach
Von Hölzern, Fasern und Beuteln innen abgeschiedene tote Pflanzengewebe (se-
kundäres Xylem). Ein Schnitt durch einen Baum-
Neben Steinen und einzelnen Metallen gehört stamm offenbart dessen Aufbau. Von außen
Holz zu den Rohstoffen, die die Menschheit von nach innen lassen sich Borke, Bast, Kambium,
Anbeginn begleitet und ihre zivilisatorische Ent- Splint- und Kernholz unterscheiden (ÅAbbil-
wicklung maßgeblich beeinflusst haben. Wäh- dung 5-102).
rend Steine, Bronze oder unlegierte Metalle weit- Die Borke besteht aus äußeren abgestorbenen
gehend aus unserem Alltag verdrängt worden Zellen, bei vielen Baumarten erkennbar an ihrer
sind, erfreut sich Holz wachsender Beliebtheit. Rissigkeit; daran schließen sich lebende Zellen
Das liegt daran, dass Holz ein nachwachsender, an, die vom Kambium nach außen gebildet und
leicht zu gewinnender und zu verarbeitender in ihrer Gesamtheit als Bast bezeichnet werden.
Rohstoff ist. Fast 400 000 Jahre alte, hölzerne Borke und Bast werden als Phloem zusammen-
Wurfspeere zeugen von einer frühen Nutzung gefasst. Der eigentliche Wachstumsbereich eines
des Holzes durch Menschen. Ein bedeutender Baumes ist der schmale Kambium-Ring. Dabei
Entwicklungsschritt der Menschheit wurde handelt es sich um teilungsfähige Zellen, die das
durch die Nutzung von Feuer eingeleitet, ba- Dickenwachstum eines Baumes bewirken. Diese
287
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
Zellen leiten Wasser und Nährstoffe von den fester Baustoff. Unter Hygroskopizität versteht
Wurzeln bis in die Blätter. Zum Stammesinneren man die Neigung des Holzes dank seiner großen
folgt der mehr oder minder breite Splintholz- inneren Oberfläche, Feuchtigkeit aus seiner Um-
Ring. In diesen Zellen werden Stärke, Eiweiße gebung aufzunehmen und auch wieder abzuge-
und Spurenelemente angereichert. Manche Bau- ben. Ein Feuchtigkeitsgefälle zwischen Holz und
marten wie Ahorn, Birke oder Erle bestehen Umgebung wird durch Feuchtigkeitsaufnahme
nur aus Splintholz. Bei anderen, wie bei der oder -abgabe ausgeglichen; bestimmend ist dabei
Eiche bildet das sogenannte Kernholz den in- ein von der Holzart abhängiger Fasersättigungs-
neren Stamm. Dieser Bereich besteht aus abge- punkt. Mit der Feuchtigkeitszunahme geht eine
storbenen Zellen, er fungiert als Stützgewebe Volumenzunahme, das Quellen, einher, mit der
eines Baumes. Der innerste Ring heißt Mark. Abgabe ein Volumenschrumpfen, das Schwin-
Hier werden vor allem Öle, Harze, Gerb- und den. Umgangssprachlich sagt man, das Holz
Farbstoffe eingelagert, phenolische Substanzen arbeitet. Das Quellen und Schwinden vollzieht
verleihen diesem Stammbereich oft eine dunkle sich jedoch nicht gleichmäßig, sondern infolge
Färbung. Splint- und Kernholz bilden das Xylem. der Anisotropie abhängig von der Zell- und
Dieser Aufbau unterscheidet sich von Baumart Faserausrichtung in unterschiedlichem Umfang:
zu Baumart. In tangentialer Richtung (senkrecht, parallel
Nadelholz Laubholz
Nach seinen chemischen Bestandteilen setzt zu den Jahresringen) führt das Schwinden zu
sich Holz aus den Gerüstsubstanzen Cellulose einem Schrumpfen von etwa 10 Prozent, in
Cellulose 42 – 49 % 42 – 51 %
(ÅKasten Cellulose, Seite 290) und Hemicel- radialer Richtung (horizontal, parallel zu den
Hemi-
24 – 30 % 27 – 40 % lulose, der Füllsubstanz Lignin und der Kittsub- Holzstrahlen) von etwa 5 Prozent und in axialer
cellulose
stanz Pektin zusammen, die einen Anteil von Richtung (quer zu Wuchsrichtung der Faser) von
Lignin 25 – 30 % 18 – 24 %
95 Prozent ausmachen. Die restlich 5 Prozent 0,1 – 0,5 Prozent.
5-103 entfallen auf Extraktstoffe, anorganische und Die Anisotropie von Holz spürt man auch
Holzbestandteile. organische Inhaltsstoffe wie Fette, Harze, Ei- beim Spalten von Holzklötzen oder Baumstäm-
Zusammensetzung mit-
weiße, Stärke, Zucker, Farbstoffe, Gerbstoffe, men: beide lassen sich sehr leicht in tangentialer,
teleuropäischer Hölzer.
Zusätzlich enthalten die Mineralstoffe usw. Letztere beeinflussen oft die aber schwer in axialer Richtung spalten. Auch
Hölzer bis zu 10 % Ex- chemischen, biologischen und physikalischen das akustische Verhalten von Holz hängt von
traktstoffe und Asche.
Eigenschaften des Holzes. Cellulose, ein lang- der Anisotropie ab. Die Schallgeschwindigkeit
kettiges Makromolekül, und Hemicellulose, ein beträgt faserparallel 4000 – 6000 m / s, quer zu
kurzkettiges, verzweigtes Makromolekül, bauen den Fasern nur 400 – 2000 m / s.
die Zellwände auf. Lignin, ein dreidimensiona- Eine weitere, wirtschaftlich interessante
les Makromolekül bewirkt im Cellulosegerüst Eigenschaft ist das thermische Verhalten von
der Zellwände die Verholzung, Pektin, ein wei- Holz. Aufgrund seiner Porosität ist Holz mit
teres dreidimensionales Makromolekül, hält die 0,13 – 0,22 W · m · K–1 ein schlechter Wärmeleiter.
Zellen im Gewebeverband zusammen. Cellulose Die stark feuchtigkeitsabhängige Wärmekapazi-
und Lignin sind die wirtschaftlich interessanten tät schwankt zwischen 1,4 kJ · kg–1 · K–1 (Fichte)
Substanzen von Holz (ÅTabelle 5-103). und 2,4 kJ · kg–1 · K–1 (Eiche). So speichern in
Aus seiner Struktur und Zusammensetzung winterkalten Regionen der Erde (Holz)-Block-
leiten sich drei grundlegende Eigenschaften von häuser genügend Wärme für ihre Bewohner an
Rohdichte und Porosität.
Die Rohdichte eines Stof-
Holz ab, nämlich seine Porosität oder Roh- eisigen Frosttagen. Holz besitzt nur eine geringe
fes ist seine Masse pro Vo- dichte (ÅRandspalte), seine Hygroskopizität elektrische Leitfähigkeit von etwa 3 Ohm (Was-
lumeneinheit, unabhängig sowie seine Anisotropie. Die Rohdichte wechselt ser 81 Ohm).
davon, wie porös der Stoff
von Baumart zu Baumart und wird vom Was- Holz ist zwar abhängig vom Porenvolumen
ist. Je größer die Porosität,
desto geringer die Roh- sergehalt des Holzes beeinflusst: Je höher der bei Temperaturen zwischen 300 – 450 °C ent-
dichte. Die Porosität wird Wassergehalt, desto höher die Rohdichte. Frisch flammbar, vorteilhaft ist jedoch seine geringe Ab-
als das Verhältnis zwischen
eingeschlagenes Nadelholz enthält 55 – 70 Pro- brandgeschwindigkeit von 0,5 – 0,65 mm / min.
Hohlraumvolumen und
Gesamtvolumen eines zent Wasser, Laubholz 40 – 80 Prozent. Mit ei- So kann sich auf seiner Oberfläche eine iso-
Stoffes definiert. Die dich- ner Rohdichte von circa 460 kg / m3 (Tanne und lierende Kohleschicht bilden, die eine Abgabe
teste Kugelpackung hat Fichte) bis 710 kg / m3 (Buche und Eiche) ist von Gasen nach außen verhindert und damit
eine Porosität von 0,26,
aufgeschütteter Sand bis Holz im Vergleich zu Beton (2300 kg / m3) oder ein Fortschreiten des Verbrennungsprozesses
zu 0,4. Eisen (7870 kg / m3) ein leichter, aber dennoch nach innen stark abbremst. Bei großen Holz-
288
Erde, Wasser, Luft und Feuer
querschnitten erreicht die Temperatur im In- ersetzt worden. Chemisch aufbereitete Inhalts-
nern maximal 100 °C, deshalb behält Holz im stoffe wie Cellulose werden zur Herstellung von
Brandfall sehr lange seine tragende Funktion. Zellstoff und vor allem zur Herstellung von
Eine thermische Zersetzung des Holzes setzt bei Papier verarbeitet. Untersucht wird auch eine
Temperaturen ab 105 °C ein und erreicht ihren wirtschaftliche Gewinnung von Methanol und
Höhepunkt bei 275 °C. Ethanol aus Holz.
Holz ist sehr anfällig gegenüber Schädlingen
wie Insekten, Pilzen oder Bakterien. Zahlreiche
Pilzgruppen (außer Schimmelpilzen) bauen das Papier – Ein unentbehrliches
Holzgewebe enzymatisch ab. Holzzerstörende
Kommunikationsmittel
Insekten benötigen eine Holzfeuchte von min-
destens 10 Prozent. Sie befallen besonders das Selbst im Zeitalter von eBooks und Smartpho-
nahrhafte Splintholz. Bei hoher Feuchtigkeit, nes gehört Papier noch zu den Stoffen, die wir
wie sie oft auf dem Waldboden vorhanden ist, täglich häufig in den Händen halten. In Deutsch-
können auch Bakterien Holz angreifen. Cellulose land werden jährlich circa 22 Millionen Ton-
und Hemicellulose werden bei Holzfeuchten von nen Papier für den Druck von Tageszeitungen
20 – 40 Prozent und Temperaturen von 0 – 40 °C verbraucht, pro Woche 210 tonnenschwere Pa-
zersetzt (Braunfäule). Schon der geringste Mas- pierrollen. Als Beobachter steht man staunend
senverlust von Holz durch die Einwirkung von vor den riesigen, modernen Zeitungsdruckma-
Holzschädlingen verringert dessen Festigkeit. schinen, die vorne Papierrolle auf Papierrolle
verschlucken und dafür Zeitung um Zeitung
Nutzung ausspucken. In Zeitungs- oder Buchläden lockt
eine „Flut“ von Zeitungen, Zeitschriften und
Holz ist seit alters her ein wichtiger Brennstoff, Büchern Käufer. Doch nicht nur in Form be-
bis zu Verwendung von Steinkohle oder Koks druckten Materials werden wir mit Papier kon-
war Holz der einzige Energielieferant für die frontiert: Papiertaschentücher haben die tradi-
Verhüttung und Verarbeitung von Metallen. Der tionellen Stofftaschentücher abgelöst, papierne
mittlere Heizwert europäischer Hölzer liegt bei Wischtücher werden angepriesen, auch als Ver-
13 – 20 MJ / kg, der von Steinkohle bei 30 MJ / kg. packungsmaterial ist Papier heute noch überall
Holz ist ein umweltfreundlicher Brennstoff. Es anzutreffen und umgewandelte Textillumpen
enthält keinen Schwefel und bei seiner Verbren- schätzen wir in Form von Banknoten sehr.
nung wird nur die Menge an CO2 freigesetzt, Als Beschreibmaterial hat sich Papier gegen-
die beim Wachstum aufgenommen wurde. Einer über allen früheren Vertretern wie Tontafeln im
Tonne Holz entsprechen ungefähr 1,87 t CO2. alten Orient, Wachstafeln im alten Rom oder
Noch heute wird etwa 50 Prozent des weltweiten Pergament im mittelalterlichen Europa durchge-
Holzeinschlages vorwiegend in weniger entwi- setzt und die Zivilisation maßgeblich beeinflusst.
ckelten Ländern für diesen Zweck verbraucht. Sein Name leitet sich von der griechischen Be-
Seit alters her wird Holz auch als Bau-, Kon- zeichnung Papyros für eine Schilfart am Nil her,
struktions- und Werkstoff verwendet. Lange Zeit aus deren Fasern die alten Ägypter ein Beschreib-
wurden Häuser und Schiffe aus Holz gebaut, material erzeugten. Das heutige Papier soll ein
5-104
ganze Wälder verschwanden als Stützanlagen chinesischer Agrarminister 105 n. Chr. erfunden
Holzvielfalt. Die Struk-
in Bergwerken, Gebäude und ganze Städte wie haben, indem er es aus dem Faserbrei von Maul-
tur- und Farbvielfalt von
Venedig wurden auf Holzpfählen gegründet. Im beerbaumrinde und Ramiegras herstellte. Im Hölzern macht einen Teil
Tief- und Hochbau erfüllt Holz weiterhin seine 5. Jahrhundert nutzte der chinesische Kaiserhof seines Reizes aus.
1 Eiche
Rolle als stützendes Hilfsmaterial. Bis heute schon Toilettenpapier, im 7. Jahrhundert kam
2 Mahagoni
dient Holz als Werkstoff für die Möbelherstel- erstmals Papiergeld in China in Umlauf, das 3 Walnuss
lung, für die Erzeugung vieler Musikinstrumente wegen starken Wertverlustes aber 1425 wieder 4 Rosenholz
und Kunstobjekte. Dagegen ist Holz bei alltägli- abgeschafft wurde. Mit Spezialpapier versuchte 5 Schwedische Birke
6 Rotbuche
chen Gebrauchgegenständen in industrialisierten man Fälschern von Banknoten schon damals ihr 7 Vogelaugenahorn
Ländern weitgehend durch andere Werkstoffe Handwerk zu erschweren. Banknoten wurden 8 Ebenholz
WEIS,
HWEIS, 9
WEIS S. 529
28
2 89
ILDRECH
BILDRECH A HW
NAC
BILDNAC
TE SIEHEE BILDNA
ECHTE
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
im 14. Jahrhundert in Japan, Persien, Indien und FRIEDRICH GOTTLOB KELLER (1816 – 1895) mit
Vietnam ausgegeben. dem sogenannten Holzschliff einen reichlich
Jahrhunderte lang hüteten die Chinesen das verfügbaren Ersatzstoff nutzbar zu machen.
Geheimnis der Papierherstellung, doch ab Mitte Die Einführung verbesserter Aufschließungs-
des 8. Jahrhunderts kannten Araber die Papier- methoden von Papierrohstoffen und maschinel-
herstellung, verbesserten sie und führten bis ler Herstellungsverfahren ermöglichte seit Ende
heute verwendete Papiermaße ein. So geht das des 19. Jahrhunderts eine bis dahin unerreichte
Ries (500 Blatt Papier) auf das arabische Wort Papiermenge in zahlreichen Sorten zu erzeugen.
rizma, Bündel von 500 Bogen, zurück. In Bag-
dad erschien 870 das erste auf Papier gedruckte Herstellung und Eigenschaften
Buch. Über die Araber gelangte die Kenntnis
der Papierherstellung im 12. Jahrhundert nach Doch was ist Papier? Es besteht aus mecha-
Europa, zunächst in das damals arabische Va- nisch oder chemisch aufgeschlossenen Pflan-
lencia, in dessen Umgebung Flachs einen her- r zenfasern und hat bei seiner Herstellung stets
vorragenden Rohstoff für Papier lieferte. Mit der einen Entwässerungsprozess zu durchlaufen. Als
rapiden Zunahme von Urkunden und Akten im Entwässerungsprodukt entsteht ein Faserfilz, der
14. Jahrhundert verdrängte das billigere, in grö- anschließend getrocknet, verdichtet und geformt
ßeren Mengen erzeugbare Papier das bis dahin wird. Für einen Chemiker stellt sich Papier in
gebräuchliche Pergament aus Tierhäuten; die Ein- erster Linie als komplexes Kohlenhydrat dar,
führung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern denn Cellulose, der Grundstoff aller Papiersor-
im 15. Jahrhundert durch JOHANNES GUTENBERG ten, ist ein Polysaccharid (ÅKasten Cellulose).
(1400 – 1468) steigerte die Nachfrage weiter. Früher waren Lumpen der einzige Lieferant
Bis ins 19. Jahrhundert waren Hadern (Lum- für Papierfasern. Diese Leinentextilreste wurden
pen, Hadern ist abgeleitet vom althochdeutschen in Papiermühlen zerschnitten, gewaschen, einem
hadera, Schafspelz) der alleinige Rohstoff für 5 bis 30 Tage dauernden Faulungsprozess aus-
Papier. Obwohl schon im 18. Jahrhundert ein gesetzt, dann gekocht und schließlich in einem
Mangel an Hadern bestand, gelang es erst 1843 Stampfwerk zerfasert. Damit erhielt man prak-
tisch reine Cellulosefasern. Dieser Zerfaserungs-
Cellulose prozess wurde im Laufe der Jahrhunderte im-
mer mehr mechanisiert. Im letzten Arbeitsgang
Cellulose (C6H10O5) ist ein Polysaccha- wurden die entstandenen Fasern gereinigt und
rid
d (Vielfachzucker), bei dem 6000 – 12 000 im 19. Jahrhundert mit Chlor gebleicht. Heute
β-Glucose-Moleküle lange, unverzweigte Ket- werden Hadern nur noch für besonders wert-
ten bilden. Die Glucosebausteine sind jeweils volle, stark beanspruchte Papiere wie Urkunden
um 180° gedreht miteinander verknüpft, was oder Banknoten verwendet, etwa 95 Prozent des
5-105
zu einer geraden Kette führt. Die Molekül- Papiers entsteht aus Holz als Primärrohstoff.
Cellulose. Cellulose ist ein ketten werden zusätzlich versteift, da sich Papierhersteller nutzen drei Verfahren, um
Polymer, dessen Monomer zwischen den Glucosebausteinen Wasserstoff- Fasern für die Papierherstellung zu gewinnen.
Cellubiose aus zwei um
180° gegeneinander ver-
brücken ausbilden. Auch die Molekülketten Das älteste ist das Holzschliffverfahren, bei dem
drehten Glucosemolekülen sind miteinander durch Wasserstoffbrücken das Holz mechanisch zerfasert wird; es findet
besteht, die über ein Sau- verbunden und lagern sich zu stäbchenförmi- keine Abtrennung von Lignin und Hemicellulose
erstoffatom kovalent mit-
gen Mikrokristallen zusammen. Auf diesen statt. Die daraus hergestellten Papiere werden
einander verbunden sind
(glycosidische Bindung). Brücken beruht die Stabilität der natürlichen als holzhaltige (ligninhaltige) Papiere angeboten.
Cellulosefasern. Mehrere Molekülketten über- Weißer Holzschliff wird aus geschälten Holz-
einander bilden Molekülbündel, die Fibrillen stämmen gewonnen, die mit viel Wasser fein
aufbauen. Zahlreiche Fibrillen bilden dann zerkleinert werden. Die feine, stark verdünnte
sichtbare Cellulosefasern. Derartige Molekül- Fasermasse enthält chemisch unverändert noch
bündel setzen sich aus amorphen Bereichen alle Bestandteile des Holzes wie Cellulose, Li-
zusammen, die die Flexibilität und Elastizi- gnin, Harze, Kork usw. Zur Gewinnung von
tät, sowie aus kristallinen Bereichen, die die braunem Holzschliff werden ungeschliffene
Festigkeit und Steifheit von Papier bewirken. Stammteile erst in Kesseln gedämpft und dann
geschliffen. Die gewonnenen Fasern sind weicher
290
Erde, Wasser, Luft und Feuer
und geschmeidiger. Holzschliff wird bevorzugt Aus dem Leben der Beuteltiere
aus Nadelhölzern gewonnen, da sie längere Fa-
sern mit besserer Verfilzbarkeit als Laubhölzer Wenn man diese Überschrift eines Zeitungs-
liefern. Werden die Fasern bei der Mahlung zer- artikels liest, erwartet man einen Bericht über
schnitten (rösche Mahlung), entstehen weiche, die australische Tierwelt. Doch weit gefehlt: Es
samtige und saugfähige Papiere, durch schmie- geht um den Verbrauch von Plastiktüten. Einst
rige Mahlung zerquetschte Fasern liefern feste, als Fortschritt gepriesen, werden sie heute in
harte Papiere mit geringer Saugfähigkeit. Zeitungsartikeln verteufelt. Im genannten Bei-
Beim Zellstoffverfahren wird Cellulose direkt trag verspottet und kritisiert der Verfasser den
aus dem Holz gewonnen, indem die störenden jährlichen Verbrauch von ca. 13 Milliarden Plas-
Holzbestandteile wie Hemicellulose und Lignin tiktüten in Großbritannien. Spiegel-Online vom
mittels Chemikalien gelöst und abgeführt wer- 13.10.2007 beklagt unter der Überschrift „Ein
den. Das erzeugte Fasermaterial wurde früher Beutel erstickt die Welt“ die Folgen des übermä-
mit organischen Chlorverbindungen gebleicht, ßigen Plastiktütenabfalls. Inzwischen umkreist
heute nimmt man Wasserstoffperoxid (H2O2), sogar eine Plastiktüte die Erde. Die Wissen-
Sauerstoff oder Ozon. Erst nach der Bleiche schaftsrubrik der Berliner Zeitung g (07.02.2008)
erhalten die Fasern den gewünschten Weißgrad hat der Plastiktüte unter der Überschrift „Sieges- Bisphenol A –
ein endokriner Disruptor
und die gewünschte Saugfähigkeit. Nach dem zug der Polyethylene“ eine ganze Seite gewidmet. So bezeichnet man Stoffe,
Zellstoffverfahren erzeugte Papiere werden als In Deutschland werden laut der Abendzeitung die den Hormonhaushalt
holzfreie Produkte angeboten. München (23.02.2010) pro Kopf und Jahr 65 von Tieren und Menschen
stören. Sie sind sehr
In den letzten Jahren hat das Altpapierstoff- Plastiktüten verbraucht. Auf derselben Seite wird gefährlich, da sie auch
verfahren erheblich an Bedeutung gewonnen. unter der Unterschrift „So giftig ist Plastik“ in winzigsten Mengen
Wie der Name besagt, ist hier gebrauchtes Alt- vor gesundheitsgefährdenden Inhaltsstoffen wie wirksam sind und zum
Beispiel zu Fehlbildungen
papier der Faserlieferant, mit gegenwärtig bis Bisphenol A (C15H16O2, ÅRandspalte) gewarnt.
der Geschlechtsorgane
zu 65 Prozent Rohstoffanteil. Bei ausreichender Vor allem das geringe Gewicht, das Fehlen während der embryona-
Wässerung lässt sich das Papier leicht zerfasern, von Korrosion, das Entfallen von Oberflächen- len Entwicklung führen
der Energieaufwand ist also geringer als bei den schutz, ihre Beständigkeit sowie die unendlichen können. Man hat die in
Kunststoffen (wie Ausklei-
anderen Verfahren. Ein Problem stellt jedoch die Formungs- und Einsatzmöglichkeiten haben die dungen von Konservendo-
Entfernung von Druckfarben und -tinten dar. explosionsartige Verbreitung dieser Stoffe be- sen) enthaltene Substanz
Im sogenannten Deinking-Verfahren werden die wirkt. Sie sind längst aus der Rolle eines be- Bisphenol A im Verdacht,
die männliche Samenpro-
Farben mit Chemikalien gelöst und durch Flo- staunten Ersatzstoffes in die eines der wichtig- duktion zu stören, auch
tation entfernt, was aber nur bis zu maximal 70 sten Werkstoffe hineingewachsen. Die enorme ein Zusammenhang mit
Prozent gelingt. Deshalb zeigt Recyclingpapier weltweite Verbreitung von Kunststoffen hat Fettleibigkeit und anderen
Zivilisationskrankheiten
stets einen grauen Schimmer. dazu geführt, dass einige Zeithistoriker schon wird vermutet. Die Subs-
Heutige Papiere bestehen aus einer Grund- vom Plastikzeitalter sprechen. Die massenhafte tanz bindet an eine Viel-
matrix verfilzter Cellulosefasern und enthalten Verbreitung von Kunststoffen hat gravierende zahl von Hormonrezepto-
ren in Zelle und Zellkern
zusätzlich Füllstoffe wie Silikone (Kaolin, Tal- Folgen für die Umwelt nach sich gezogen. Fast und blockiert dadurch die
kum), Carbonate (Magnesiumcarbonat, Calci- alle Vertreter sind biologisch nicht abbaubar und Funktion des natürlichen
umcarbonat), Oxide (Titandioxid) oder Sulfate sehr lange haltbar. Hormons.
(Schwerspat), die die winzigen Faserzwischen-
räume füllen. Durch sie erhalten Papiere eine Geschichte
glattere Oberfläche und werden kompakter und
undurchsichtiger. Ihr Anteil kann je nach Pa- Plastik ist der umgangssprachliche, vom Engli-
piersorte bis 30 Prozent betragen. Leimstoffe schen plastics entlehnte Begriff für Kunststoffe.
wie natürliche oder künstliche Harze machen Diesen Begriff prägte 1910 der Münchner Che-
die Papiere beschreib- oder bedruckbar, weil sie miker ERNST RICHARD ESCALES (1863 – 1924)
deren Saugfähigkeit herabsetzen. Weiter verlei- für eine Gruppe neuer synthetischer Werkstoffe.
hen Leimstoffe ihnen eine höhere Reißfestigkeit. Doch erste Vorstufen, nämlich synthetisch
Weißpigmente wie Calciumsilikate oder Zinksul- verbesserte Naturstoffe, datieren um das Jahr
fite dienen der optischen Aufhellung der Papier-
r 1530, als der Augsburger Benediktinerpater
sorten, und mit wasserlöslichen Farbmitteln oder WOLFGANG SEIDEL auf der Basis von denatu-
sonstigen Pigmenten werden Papiere eingefärbt. riertem Milcheiweiß (Casein) einen Stoff hart
291
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
292
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Ringen mit neuer Verbindung der „Enden“ ist (PVC), Polymethylmethacrylat (PMMA), Poly-
eine häufig anzutreffende Verknüpfungsweise. styrol (PS) und Polytetrafluorethylen (PTFE). Zu
Der Basisstrang eines Polymers besteht meist den durch Polyaddition aus unterschiedlichen
aus langen Kohlenwasserstoffketten, an denen Monomeren entstehenden Polymeren zählen
seitlich Molekülgruppen angeordnet sind. Die Polyurethane und Epoxidharze, bekannteste
Größe und Bindungsfähigkeit dieser Seitenmo- Vertreter der Polykondensate sind Polyamide
leküle bestimmen zu einem guten Teil die phy- (Nylon, Perlon) und Polyester. Der älteste voll-
sikalischen und chemischen Eigenschaften des synthetische Kunststoff Bakelit ist ebenfalls ein
Polymers. Große Seitengruppen behindern die Polykondensat. Polykondensation ist eine Stu-
Beweglichkeit der Ketten und führen zu härte- fenwachstumsreaktion. Zunächst wachsen aus
ren Kunststoffen. Sind die Gruppen elektrisch Dimeren, dann aus Oligomeren immer längere
polarisiert oder sehr reaktionsfreudig, so bilden Ketten, solange noch reaktionsfähige Gruppen
sich anstelle von langen Fasern Netzwerke, die vorhanden sind. Da die Abtrennung niedermo-
die Festigkeit ebenfalls erhöhen. lekularer Spaltprodukte wie Wasser, Ammo-
Man unterscheidet Polymerisationsreakti-
onen nach der Art des Kettenwachstums und Art Name 5-108
danach, ob am Ende nur das Polymer oder noch
Vinylgruppe. So wird der
weitere Stoffe entstehen. Wächst eine Kette nur Natürliche Polymere an ein Molekül gebundene
an einem Ende durch Anhängen eines Mono- Ethen-Rest bezeichnet.
mers, so spricht man von Kettenwachstumsre- Polysaccharide Stärke, Cellulose Aufgrund der reaktionsfä-
higen Doppelbindung und
aktionen. Sie benötigen einen Starter, der das der Möglichkeit, lange
reaktive, verknüpfungsfähige Zentrum in Mono- Proteine Wolle, Tierhorn, Schnäbel Kohlenwasserstoffketten
meren erzeugt, zum Beispiel durch Aufbrechen zu bilden, sind solche
Thermoplaste Naturkautschuk Moleküle gut geeignet zur
einer Doppelbindung (ÅAbbildung 5-110). Um
Polymerisation. Vinylchlo-
die dann einsetzende Kettenbildung zu stoppen, Chemisch modifizierte natürliche, organische rid ist das Monomer des
benötigt man eine Abbruchreaktion, da man Polymere Polyvinylchlorids (PVC),
aus Styrol entsteht Poly-
oft Ketten ganz bestimmter durchschnittlicher Regenerierte Cellulose Reyon, Kunstseide styrol.
Längen erzeugen will. Bei der Stufenwachstums-
reaktion bestehen die „Arme“ der Moleküle aus Cellulosederivate Celluloid, Cellophan
unterschiedlichen, reaktionsfähigen Gruppen,
Proteinderivate
die sich ohne Starter miteinander verbinden Galalith
(Casein)
können. Dabei wachsen die Ketten nicht Mo-
lekül für Molekül, sondern es bilden sich aus Stärkederivate Klebstoffe
den Monomeren schnell Dimere, und weitere Vulkanisierter Kaut-
Oligomere (griech. oligoi, wenige), die sich auch Gummi
schuk
miteinander verknüpfen. Es ist klar, dass Stu-
Anorganische Polymere
fenwachstumsreaktionen im Allgemeinen zwi-
schen zwei unterschiedlichen Grundbausteinen Polysiloxane Silikone
entstehen (Co-Polymerisation), die man zuerst
zusammenbringen muss. Synthetische Polymere
Entstehen während der Polymerisation neben
dem Polymer noch weitere niedermolekulare Polyvinylchlorid (PVC),
Polyethylen (PE),
Reaktionsprodukte, spricht man von Polykon-
Polystyrol (PS),
densation, andernfalls von Polyaddition. Zu- Polymerisate Polytetraflourethylen
mindest im deutschsprachigen Raum hat es sich (PTFE, Teflon®, Gore-Tex®),
Polymethylmetacrylat
allerdings eingebürgert, von Polyaddition nur zu
(PMMA, Plexiglas®)
sprechen, wenn es sich um Stufenwachstumsre-
aktionen handelt. Bei Polyaddition von gleich- Polyurethan (PUR)
Polyaddukte
Epoxidharze
artigen Monomeren, die kettenförmig wachsen,
5-109
spricht man im engeren Sinn von Polymerisa- Polyethylenterephthalat
Polykondensate (PET), Polyamid (PA), Polymerklassen. Eintei-
tion. Zu dieser Klasse von Polymeren gehören lung der Polymere nach
Polycarbonate (PC)
Polyethylen (PE), Polypropylen, Polyvinylchlorid ihrer Herkunft.
293
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
5-110
Polymerisation. Die Po-
lymerisation von Ethylen
zu Polyethylen startet mit
einem zuvor erzeugten
Phenyl-Radikal, das ein
freies Elektron (Punkt)
besitzt. Das Radikal geht
eine Bindung mit einem
Ethylenmolekül ein, wobei
dessen Doppelbindung
gelöst wird. Damit ent-
steht am anderen Ende
ein freies Elektron an das
sich ein weiteres Ethylen-
molekül anlagern kann.
Die Kette wächst auf diese
Weise an einem Ende.
Polyaddition
Polyurethan-Polymere
entstehen durch Polyad-
dition eines Dialkohols,
erkenntlich an zwei Hy-
294
Erde, Wasser, Luft und Feuer
wieder aufgeschmolzen und neu geformt wer- sie aus ungeordneten, stark verknäulten Mo-
den. Sie sind recyclingfähig, jedoch muss beim lekülketten aufgebaut, die selbst nur schwach
Recyceln auf möglichst große Sortenreinheit aneinander gebunden sind. Andererseits sind
geachtet werden. Gebräuchliche Thermoplaste sie durch weitmaschige Vernetzungsbrücken
sind Polyamide, Polystyrole und Polyethylene. miteinander kovalent verknüpft. Ihre Vernet-
Einzelne wie Polyethylen (Polyethen), Polystyrol, zung kann nur durch Zerstörung des Materi-
Polypropylen (Polypropen) können als Brenn- als gelöst werden. Einzelne Kettenabschnitte
stoff mit ähnlich hohem Heizwert wie Heizöl sind leicht bewegbar, die Makromoleküle selbst
genutzt werden. Inzwischen geben eine wach- kaum. Daraus ergibt sich ihre wesentliche Ei-
sende Zahl von Ländern Polymergeldscheine genschaft, ihr elastisches Verhalten wie wir es
heraus. Den Anfang machte Australien 1988 mit vom Gummiband kennen. Werden Elastomere
Geldscheinen aus dreischichtigen Kunststofffo- Druck oder Zug ausgesetzt, so strecken sich die 5-111
lien, bestehend aus Polyethylen, Polypropylen beweglichen, verknäulten Molekülketten und Thermoplaste. Sie beste-
und Polyethylen. Mit einem nicht kopierbaren bilden ein festes Material. Im kalten Zustand hen aus unverzweigten
(oben) oder verzweigten
Sichtfenster versehen, sind diese Banknoten er- können sie auf mehr als die doppelte Länge (unten) Ketten, die nicht
heblich fälschungssicherer als herkömmliches gedehnt werden. Sobald die Belastung endet, miteinander verbunden
Papiergeld. Seitdem haben Länder wie Israel, kehren sie in den ursprünglichen Zustand zu- sind.
China und Mexiko entweder einzelne Bankno- rück. Elastomere sind weicher als Duroplaste
ten aus Kunststoffen oder komplette Serien wie und wie diese hitzebeständig. Sie können nicht
Rumänien herausgegeben. erneut aufgeschmolzen werden und zersetzen
Wichtige Vertreter der Duroplaste werden sich je nach Sorte bei Temperaturen zwischen
durch Polyaddition oder Polykondensation aus 100 und 250 °C, bei Temperaturen unter -50 °C
zwei Ausgangsmonomeren erzeugt. Es entste- werden sie glashart. Bei Erwärmung schrump-
hen räumlich vernetzte, kovalent gebundene fen sie, erweichen aber nicht. Elastomere sind
Makromoleküle bzw. Molekülketten. Diese wetter- und quellbeständig sowie resistent ge-
Atombindungen können bei Erwärmung kaum gen Öle, Treibstoffe, verdünnte Säuren, Basen,
gebrochen werden, die Moleküle lassen sich Salzlösungen, Gase und viele Lösungsmittel. Die
nicht gegeneinander verschieben. Duroplaste gebräuchlichsten Elastomere sind alle unter-
sind daher nach dem Erhärten nicht erneut er- schiedlich vernetzten Kautschuksorten (ÅVom
weich- oder schmelzbar, sie müssen im initialen Kautschuk zum Gummi, Seite 302).
plastischen Zustand in die gewünschte Form Seit Anfang der 1980er Jahre sind soge-
gebracht werden. Erkaltet sind sie hart und steif nannte thermoplastische Elastomere (TPE) auf
und können nur noch mechanisch formverän- dem Markt. Sie vereinen Eigenschaften von 5-112
Duroplaste. Duroplaste
dert oder verklebt werden. Einige Duroplaste Elastomeren mit Thermoplasten, d. h. im kal- bestehen aus vernetzten,
sind sehr witterungsbeständig, alle besitzen ten Zustand lassen sie sich wie erstere dehnen. kovalent verbunden Ket-
ein gutes Isolationsvermögen. Sie haben eine Gleichzeitig können sie unter Wärmezufuhr ten, die teils verzweigt
sind. Sie sind kaum ge-
hohe Oberflächenhärte, neigen nur sehr wenig wie letztere wiederholt aufgeschmolzen und geneinander beweglich,
zum Kriechen und zeichnen sich durch extreme dann plastisch verformt werden, ohne dass sie der Kunststoff ist unelas-
Temperatur- und Chemikalienbeständigkeit aus sich dabei zersetzen. Entweder wird eine ther- tisch.
(hitzebeständig je nach Sorte zwischen 130 und moplastische Matrix mit teilvernetztem oder
280 °C). Duroplaste können beim Recyceln nur unvernetztem Kautschuk versetzt (Blenden),
granuliert und dann als Füllstoffe verwendet oder es erfolgt eine Co-Polymerisation von har-
werden. Der älteste, vollsynthetische Kunststoff ten und weichen Blöcken. Die harten Segmente Denaturierung
Strukturelle Veränderung
Bakelit ist ein Duroplast. Heute zählen Phe- (Hartphase) bilden sogenannte Domänen, die von kettenartigen Biomo-
nol- und Epoxidharze zu den gebräuchlichen als physikalische Vernetzungsstellen fungieren. lekülen durch Wärme oder
Duroplasten. Zu bekannten Verwendungen Diese Vernetzungspunkte werden als Kristallite chemische Substanzen wie
Säuren. Bekanntestes Bei-
von Duroplasten gehört der Trabant („Trabbi, bezeichnet; sie lösen sich bei Erwärmung auf, spiel ist die Umwandlung
Rennpappe“), dessen Karosserie vollständig aus ohne dass sich die Makromoleküle auflösen. des zähflüssigen Eiweißes
einem Duroplast gefertigt wurde. Thermoplastischen Elastomere ersetzen nicht eines Hühnereis. Beim
Kochen ordnen sich die
Elastoplaste werden durch Polymerisation das traditionelle Gummi, sondern bieten zu-
Moleküle unumkehrbar
erzeugt, strukturell stehen sie zwischen den sätzliche Werkstoffe mit vielfältigen Verwen- räumlich anders an und
Thermo- und den Duroplasten. Einerseits sind dungsmöglichkeiten. das Eiweiß wird fest.
295
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
Kunstfaser – Die neue Wolle rasch den Markt eroberte. Zu dieser zweiten
Generation der Kunstfasern gehören auch Perlon
Kunstfaser ist ein Sammelbegriff für mehrere (1938) und vor allem Polyester, bis heute die
Klassen künstlich erzeugter Fasern. Dazu gehö- wichtigste Kunstfaser. Sie wurden vorwiegend
ren auch anorganische Fasern wie Keramikfa- für technische und militärische Zwecke verar-
5-113
sern, Nanotubenfasern (Kohlenstoffnanoröhr- beitet. Ab etwa 1950 erlebte die Kunstfaserpro-
Polypropylen. Kohlenwas-
serstoffketten mit seitlichen
chen) und silikatische Fasern (Glaswolle, Glas- duktion einen enormen Aufschwung, weil die
Methylgruppen. seide). In diesem Abschnitt geht es um die große gesteigerte Nachfrage nach Textilfasern wegen
und weit verbreitete Klasse der organischen Che- begrenzter Weideflächen (Wolle) oder Anbau-
miefasern, zu denen Fasern aus natürlichen und flächen (Flachs, Baumwolle) nicht mehr mit
synthetischen Polymeren gehören. natürlichen Fasern abgedeckt werden konnte.
Beim Kauf von Kleidungstücken oder Wohn- In dieser Zeit wurden Kunstfasern der drit-
textilien verraten Etiketten, dass die meisten ten Generation entwickelt. Es handelte sich
Gewebe größtenteils aus Kunstfasern bestehen. zum Teil um schon länger vorhandene Sorten
Über Jahrtausende jedoch dienten Fasern tie- wie Polyurethan oder Polyacryl, deren chemi-
5-114
rischer Herkunft wie Wolle oder pflanzlichen sche und physikalische Eigenschaften verän-
Polyvinylchlorid (PVC).
Kohlenwasserstoffketten Ursprungs wie Flachsfasern und im 19.Jahrhun- dert wurden, um bekleidungsphysiologischen
mit Chlor als Seitengruppe. dert Baumwolle zur Herstellung von Geweben Anforderungen wie Wärmerückhaltevermögen,
unterschiedlichster Art. Doch schon im 17. Jahr- Feuchtigkeitsaufnahme oder Hautverträglich-
hundert gab es erste Bemühungen, künstliche Fa- keit zu entsprechen. Verbessert werden sollten
sern zu erzeugen. Der Engländer ROBERT HOOKE auch Glanz, Lichtbeständigkeit, Waschbarkeit
(1635 – 1703) versuchte aus einer gelatineartigen und Wetterbeständigkeit. 1959 wurde auf der
Masse Fäden zu ziehen. Von Erfolg gekrönt Basis von Polyurethan eine neue Faser mit elas-
waren Versuche, Kunstfasern herzustellen, erst tischen Eigenschaften unter dem Markennamen
im 19. Jahrhundert dank der Entwicklung der Elastan auf den Markt gebracht. Diese Fasern
Kohlen- und Cellulosechemie. zeigen eine hohe Elastizität und Dehnbarkeit
5-115
bis 700 Prozent und werden unter anderem für
Polystyrol. Kohlenwasser-
Fasergenerationen Unterwäsche und Strümpfe verwendet. 1961
stoffketten mit seitlichen
Phenylgruppen. folgte die Polypropylenfaser, die die größte
Die erste Generation von Kunstfasern, entwi- Oberflächenspannung aller synthetischen Fa-
ckelt ab etwa 1880, beruhte auf der chemi - sern besitzt. Sie ist daher wasserabweisend, zeigt
schen Umwandlung von Cellulose. 1883 führte hohes elektrisches Isoliervermögen und verrottet
der englische Chemiker JOSEPH WILSON SWAN nicht. Sie wird vor allem bei Sportwäsche und
(1838 – 1914) das Nitroverfahren ein, bei dem Outdoorkleidung verarbeitet.
die Nitro-Kunstseide entstand. 1892 entstand Die jüngste Generation bilden die ab 1986
Kupfer-Kunstseide mittels des Kupferkunst- eingeführten Mikrofasern. Sie bestehen aus be-
5-116 seide-Verfahrens (Aufbereitung von Cellulose reits zuvor bekannten Faserstoffen, nämlich Po-
Polyethylenterephthalat durch Kupferammoniak), das MAX FREMERY lyamid, Polyacryl oder Polyester. Sie weisen aber
(PET). Kohlenwasserstoff-
(1859 – 1932) und JOHANN URBAN (1863 – 1940) nur eine Stärke von 0,2 – 0,9 dtex (ÅRandspalte)
ketten mit eingebetteten
Phenyl- und Estergruppen entwickelten. 1891 schufen die englischen Che- auf. Damit sind sie halb so stark wie Seidenfäden
(CO-O). miker CHARLES FREDERIC CROSS (1855 – 1935), und viel feiner als menschliches Haar. Gewebe
E DWA RD J OHN B EVA V N ( 1856 – 1 921 ) und oder Stoffe aus Mikrofasern sind sehr weich,
CLAYTON
A BEADLE (1868 – 1917) das Viskose- wind- und wasserabweisend und dennoch at-
Seide-Verfahren (Viskose-Kunstseide). 1913 ent- mungsaktiv und enorm formbeständig. So findet
stand mittels des Celluloseacetat-Verfahrens die man sie als kuschelige Bettwäsche, in Kleidungs-
Acetat-Kunstseide. Viskose war die erste halbsyn- stücken oder in der Polsterung. Als Reinigungs-
thetische Kunstfaser, die seit 1917 in Deutschland tücher nehmen sie im trockenen Zustand Staub
industriell erzeugt wird. oder Feuchtigkeit auf. Nicht die Fasern selbst
5-117 1935 gelang einem amerikanischen Team saugen die Flüssigkeit auf, sondern ihre hohe
Polycarbonat. Esterverbin- unter Leitung des Chemikers WALLACE HUME Dichte schafft winzige Poren und Luftkammern.
dung zwischen zweiwerti-
gen Alkoholen (hier Bisphe- CAROTHERS (1896 – 1937) die Entwicklung von Diese füllen sich beim Aufwischen durch ihre
nol A) und Kohlensäure. Nylon, der ersten vollsynthetischen Faser, die Kapillarwirkung.
296
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Heute dominieren Fasern auf Viskose- oder Erd- Faden wird zu einem Faserband gestreckt und dtex
ölbasis. 2006 wurden insgesamt 41,2 Millionen schließlich zu einem Vorgarn verzogen. Meist dtex ist ein Maß für die
längenbezogene Masse
Tonnen Chemiefasern erzeugt, davon entfielen werden zunächst Endlosfäden, sogenannte Fila- von Fasern.
auf cellulosische Fasern 3,5 Millionen, auf voll- mente, erzeugt. Durch das parallele Anordnen 1 dtex = 1 g Fasergewicht
synthetische 37,7 Millionen. von Molekülketten bilden sich in den meisten bei 10 km Länge.
Fadensorten kristalline Teilbereiche, die die Fes-
Herstellung tigkeit der Fäden erhöhen; Polypropylenfäden
sind reine Kristalle. Bei den meisten Chemiefasern
Für die Erzeugung vollsynthetischer Fasern eig- werden die Molekülketten über Wasserstoffbrü-
nen sich nur Kunststoffe, deren Molekülketten cken oder Van-der-Waals-Kräfte verknüpft.
gestreckt und parallel zueinander gelagert wer-
den können. Aus einer geschmolzenen Masse
werden Fasern mittels dreier Verfahren gezogen. Ausgewählte Kunststoffe
Beim Trockenspinnverfahren werden die Fäden
aus einer Lösung durch eine Düse gepresst und
die verdunstenden Lösungsmittel abgesaugt. Mit Von Billardbällen und brennenden Filmen
diesem Verfahren werden Acryl- und Elastanfa-
sern erzeugt. Beim Nassspinnverfahren werden Der erste halbsynthetische Kunststoff auf Cel-
die Spinnfäden durch eine Fällreaktion in einem lulosebasis verdankt seine Entdeckung einem
Koagulationsbad fadenförmig ausgeschieden. amerikanischen Billardspieler, der sich über un-
Die Lösungsmittel werden durch Chemikalien gerade laufende Billardbälle aus teurem Elfenbein
neutralisiert und die Fäden verfestigen sich. Da- ärgerte. Zufällig beschäftigten sich damals die
mit werden Viskose und Cupro erzeugt. Beim Gebrüder JOHN WESLEY HYA YATT (1837 – 1920)
Schmelzspinnverfahren werden geschmolzene Po- und ISAIAH SMITH HYA YATT mit der 1848 entdeck-
lymere durch eine Spinndüse gepresst, erstarren ten Schießbaumwolle (Nitrocellulose). Aus Ni-
dahinter und bilden Fäden. Dieses Verfahren wird trocellulose lässt sich ein klarer, durchsichtiger,
bei thermoplastischen Kunststoffen wie Polyami- sehr spröder und explosiver Film erzeugen. Sie
5-118
den und Polyestern angewandt. Von der Form der „zähmten“ nach einem vom britischen Chemiker Chemiefasern. Einteilung
Spinndüse hängt der Faserquerschnitt ab, rund, ALEXANDER PARKES (1813 – 1890) entwickelten organischer Chemiefasern
drei- oder vieleckig oder flach. Der austretende Verfahren den gefährlichen Stoff, indem sie ihm und einige Handelsnamen.
297
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
den Weichmacher Campher zusetzten. Dieser löst pen aus Celluloid gefertigt. Doch Celluloid blieb
die Nitrocellulose und bildet beim Abkühlen eine weiterhin feuergefährlich. Außerdem neigt dieser
neue Struktur. Damit erhielten sie einen glaskla- Stoff ungeschützt zur Zersetzung, da Campher
ren Stoff, der leicht einfärbbar und bei niedrigen leicht flüchtig ist. Deshalb wurde Celluloid rasch
Temperaturen plastisch verformbar war. Unter durch weniger gefährliche und haltbarere Stoffe
dem Namen „Celluloid“ ließen sich die Brüder ersetzt; 1951 wurde die Produktion von Cellu-
HYA
YATT diesen ersten Thermoplast patentieren. loidfilmen eingestellt. Heute werden aus diesem
So konnten auch Billardbälle aus diesem Ersatz- Material vorwiegend Tischtennisbälle erzeugt.
material produziert werden. Celluloid besteht zu
70 – 80 Prozent aus Nitrocellulose, bis zu 30 Pro- Endlich ein vielversprechender Ersatzstoff
zent aus Campher, zu 0 – 14 Prozent aus dem
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
Gleitmittel Ethanol und zu 0 – 15 Prozent aus LEO HENRIK BAEKELAND experimentierte 1905
Farbmitteln. Ein weiterer Zufall wollte es, dass mit Phenol und Formaldehyd und stellte fest,
der Reverend HANNIBAL GOODWIN N (1822 – 1900) dass sich beide mit dem Katalysator Salzsäure
für das Zeigen von Bibeltexten ausgerechnet ei- zu einem Kunstharz polykondensieren lassen.
5-119 nen aus diesem Material erzeugten Film wählte Da alle Bestandteile in großen Mengen herge-
Celluloid-Puppe. Eine und GEORGE EASTMAN N (1854 – 1932) unter seinen stellt werden konnten, ließ sich dieser Stoff billig
Puppe aus Celluloid um Zuhörern weilte. EASTMAN entwickelte auf der erzeugen. Unter dem Produktnamen Bakelit ließ
1950. Basis von Celluloid einen Roll-Kleinfilm (Kodak). sich BAEKELAND seine Erfindung patentieren.
Um 1910 wurde in Deutschland die industrielle
5-120 Großproduktion von Bakelit aufgenommen.
Bakelit. Bakelit entsteht Zwischen 1920 und 1940 erlebte dieses Phe-
durch Polykondensation nolharz bei Telefon- und Radiogehäusen, bei
von Phenol und Formal-
dehyd mit Salzsäure als
Griffen für Haushaltsgeräte, bei Lichtschaltern
Katalysator. Es entsteht ein und Steckdosen, Schmuck- und Ziergegenstän-
Dimer und Wasser (oben). den seinen Anwendungshöhepunkt. Heute wird
Dimere können sich zu Oli-
gomeren weiter verbinden.
der Stoff meist versteckt in Maschinenbauteilen,
Aufgrund der Symmetrie Zahnrädern, Leiterplatten in der Elektroindus-
des Benzolrings entsteht trie oder als flammenhemmendes Bindemittel
eine räumlich vernetzte
in Hartfaserplatten und Schaumstoffen genutzt.
Struktur anstelle linearer
Ketten, die Bakelit eine Bakelit war der erste Kunststoff aus rein syn-
große Härte verleiht (rot). thetischen Bestandteilen. Als Duroplast ist er nur
Die Volksempfänger im
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
buchsen enthalten Nylongewebe. kohlenwasserstoffe (FCKW), heute oft CO2 – di- Styropor. Extrudiertes Po-
lystyrol (EPS) als Verpak-
1940 entwickelte der deutsche Chemiker rekt eingeblasen, so bildet sich ein kleinporiger, kungsmaterial.
PAUL SCHLACK (1897 – 1987) ein ähnliches Ma- geschlossenzelliger, eingefärbter Schaumstoff, in
terial unter dem Markennamen Perlon. Auch dessen Poren das Treibgas eingeschlossen bleibt.
Perlon ist ein Polyamid, das jedoch nicht mittels Dieser Schaumstoff heißt Styrodur (XPS, extru-
Polykondensation, sondern mittels ringöffnen- diertes Polystyrol). Beiden thermoplastischen,
der Polymerisation aus nur einem Monomer teilkristallinen Hartschaumstoffen gemeinsam
(e-Caprolactam, C6H11NO) hergestellt wird. ist eine relativ hohe Festigkeit; zudem sind sie 5-124
Perlon hat sehr ähnliche Eigenschaften wie Ny- dank der geschlossenen Poren nicht hygrosko- Nylon und Perlon. Perlon
besteht aus nur einem
lon, aber mit 215 °C einen niedrigeren Schmelz- pisch. Vor allem bilden beide dank ihrer gasge- Monomer, einer Amino-
punkt. Es ist fester als Nylon, etwas unelasti- füllten Poren ein hervorragendes Isoliermaterial carbonsäure mit sechs
scher, rauer und kratziger und beult leicht aus, mit sehr geringer Wärmeleitfähigkeit. Auf Bau- Kohlenstoffatomen, wes-
halb man es kurz als PA 6
weil sich zwischen den Kettenfäden weniger stellen lassen sich beide problemlos mechanisch (Polyamid 6) bezeichnet.
Wasserstoffbrücken bilden. Deshalb eroberten bearbeiten. Nylon ist ein Co-Polymer
Perlonstrümpfe erst allmählich die deutsche Da- Styropor ist biologisch nicht abbaubar; es ist aus einer Dicarbonsäure
und einem Diamin mit
menwelt. Auch Perlon weist eine hohe Knick- leicht, porös, zäh und fest und gegen wässrige jeweils sechs Kohlenstoff-
bruch-, Reiß- und Scheuerfestigkeit auf und ist Laugen und Mineralsäuren resistent, wird aber atomen, daher PA 6.6.
resistent gegen Verrottung und Motten. Wie
Nylon wird es für zahlreiche Textilien genutzt,
ferner für Taue, Seile, Borsten und Zahnbürsten.
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
von unpolaren Lösungsmitteln wie Benzin oder auch Milchbehälter und Bierflaschen aus diesem
langkettigen Aldehyden angegriffen. Es ist schwer Material auf dem Markt zu etablieren.
entflammbar, aber nur bis 70 – 85 °C temperatur- PET ist ein thermoplastischer Kunststoff aus
sicher. Da es gegen UV-Licht empfindlich ist, kann der Gruppe der Polyesterwerkstoffe, das aus
Styropor nicht bei Außenisolationen verwendet den Monomeren Terephthalsäure (C8H6O8, eine
werden. Deshalb wird dieser Schaumstoff haupt- Dicarbonsäure) und Ethylenglykol (C2H6O2, ein
sächlich als Isoliermaterial für Kühl- und Wärme- Dialkohol) mittels Polykondensation erzeugt
anlagen, für Kindersitze, Sturzhelme oder Trink- wird (ÅAbbildung 5-125). Das Produkt die-
becher und als Verpackungsschutz verwendet. Die ser Reaktion ist ein linear gesättigter Polyes-
chemische Resistenz des Styrodur-Schaumstoffes ter, dessen Moleküle Dipole sind, denn seine
ist die gleiche wie bei Styropor. Styrodur ist hoch Sauerstoffatome sind negativ, die benachbarten
druckfest, elastisch, wasserabweisend, gut wär- Kohlenstoffatome positiv polarisiert. Zwischen
medämmend, schwer entflammbar, frostresistent, den einzelnen Molekülen wirken daher starke
resistent gegen Insekten und Pilzbefall, aber nicht zwischenmolekulare Kräfte. PET wird in zwei
sicher vor Spechten und Halsbandsittichen. Sty- Varianten hergestellt, in einer amorphen und
rodur ist das wichtigste Isoliermaterial für Au- in einer teilkristallinen mit einem Kristallisati-
ßendämmung von Hausfassaden im Bauwesen. onsgrad bis zu 70 Prozent. Nur letztere eignet
sich zur Herstellung von synthetischen Fasern.
Vom Faden zur Flasche – PET Auch Flaschen werden aus der teilkristallinen
Variante erzeugt, 1 – 500 μm dicke Folien aus der
Den Kunststoff PET (Polyethylenterephthalat) amorphen. Die teilkristalline Variante zeichnet
bringen die meisten von uns mit Getränkefla- sich durch hohe Festigkeit und Steifigkeit, harte,
schen in Verbindung, die die traditionelle Glas- polierfähige Oberfläche, günstiges Gleit- und
flasche verdrängt haben. PET wurde 1941 in Verschleißverhalten sowie hohe chemische Be-
England als Ersatz für japanische Seide entwi- ständigkeit aus. Bei der amorphen Variante sind
ckelt und ab 1946 großindustriell erzeugt. Bis hohe Zähigkeit, hohe Transparenz, Beständigkeit
in die 1960er Jahre diente es fast nur zur Her- gegen Spannungsrissbildung, günstiges Gleit- und
stellung von Polyesterfasern wie Trevira, Diolen Verschleißverhalten und Lebensmittelechtheit zu
oder Dralon. Diese Fasern waren (und sind) sehr nennen. Aufgrund seiner vielfältigen Einsatzmög-
beliebt, weil sie knitterfrei, reißfest, form- und lichkeiten gehört PET mit weltweiten Produk-
witterungsbeständig und kaum hygroskopisch tionsmengen von 40 Millionen Tonnen (2007)
sind. Seit Mitte der 1950er Jahre erzeugt man zu den sechs wichtigsten Massenkunststoffen.
daraus Klarsichtfolien; wegen der schwierigen Neben der Verarbeitung zu Flaschen und Folien
Verarbeitbarkeit konnte man PET aber erst ab wird PET in Textilien, bei technischen Bauteilen
Mitte 1970 als Konstruktionswerkstoff nutzten. wie Zahnrädern sowie als Trägermaterial für
Die ersten PET-Flaschen tauchten 1984 in der Tonbänder und Filme eingesetzt.
Schweiz auf, seit 1990 erobern im Streckblas-
verfahren (ÅVon spröde bis endlos elastisch – Von der Atombombe zur Bratpfanne –
Die Vielfalt der Polymere, Seite 115) erzeugte Teflon
Flaschen für kohlensäurehaltige Getränke zu-
nehmend den Markt. Momentan versucht man, Heute gehören teflonbeschichtete Pfannen und
5-125 Töpfe zur Standardausrüstung vieler Küchen. Im
PET. Polyethylentere- Volksmund werden Politiker, die mehrere Affä-
phthalat entsteht durch ren ohne Schaden für ihr Amt überstehen, als
Polykondensation aus dem Teflon-Politiker verspottet. Auch das als Wun-
zweifachen Alkohol (Diol)
Glykol und der Dicarbon-
derkunststoff gepriesene Teflon® verdankt seine
säure Terephthalsäure; es Entdeckung einem Zufall und seine Anwen-
handelt sich also um einen dung im Küchenbereich angeblich einer franzö-
Polyester. Ester sind Ver-
bindungen aus Säuren und
sischen Hausfrau; es ist kein Abfallprodukt der
Alkoholen. Raumfahrt. Bei der Suche nach einem weniger
gefährlichen Kühlmittel für Eisschränke experi-
mentierte der amerikanische Chemieingenieur
300
Erde, Wasser, Luft und Feuer
ROY PLUNKETT (1910 – 1994) mit Tetrafluor- Eine spezielle Anwendung findet Polytetra-
ethylen (C2F4), einem Gas, das er bei – 80 °C fluorethylen als hauchdünne Membranen in so-
aufbewahrte. Zu seinem Erstaunen enthielt sein genannten Funktionstextilien mit dem Marken-
Behälter 1938 anstelle des Gases ein weißes, namen Gore-Tex®. Angeblich soll der Sohn eines
pulvriges Material, das auf nichts reagierte ehemaligen Mitarbeiters eines großen amerikani-
und für das man zunächst keinen technischen schen Chemiekonzerns, ROBERT W. GORE, mehr-
Verwendungszweck fand. Erst als Mitarbeiter fach versucht haben, einen erhitzten Teflonstab
des „Manhattan-Projektes“ verzweifelt einen vorsichtig zu dehnen. Doch jedes Mal zerbrach
Behälter für das extrem korrosive Uranhexa- der Stab. Schließlich riss er einen glühend heißen
fluorid (UF6) suchten, entsann man sich dieser Stab wütend gewaltsam auseinander und ent-
merkwürdigen Substanz, die sich auch bewährte. deckte dabei, dass sich Teflon sehr weit zu einer
Angeblich soll die Gattin des französischen Che- dichten, haltbaren Folie dehnen lässt. In solchen
mikers MARC GREGOIRE 1954 vorgeschlagen Teflonfolien sind die Molekülfasern teilweise
haben, eine Pfanne mit der klebrigen Masse zu fadenartig gestreckt und bilden eine durchläs-
überall für Beschichtungen oder als Ausklei- den Handelsnamen Acrylglas bzw. Plexiglas®.
dungswerkstoff eingesetzt, wo es Oberflächen Plexiglas wird aus den gesundheitsschädli-
vor Temperatur- und Witterungseinflüssen, vor chen Ausgangssubstanzen Aceton, Blausäure,
mechanischen Beschädigungen oder vor aggres- Schwefelsäure und Methanol hergestellt. Das
siven Chemikalien zu schützen gilt. So findet wichtigste Herstellungsverfahren ist die Poly-
man es als Kratzschutz auf Brillengläsern, auf merisation eines Monomers namens Methacryl- 5-127
Glasfasergewebe, bei Auskleidungen von Rohren säuremethylester (C5H8O2), das erzeugte Poly- Gore-Tex. In Gore- Tex - Fo-
und Behältern in Chemieanlagen, bei röhrenarti- merisat Plexiglas ist völlig ungiftig. lien sind die Teflonfasern
zum Teil fadenartig ge-
gen Implantaten in der Medizin, in der Elektro- Plexiglas ist ein thermoplastischer, polarer, streckt und bilden eine
und Raumfahrtindustrie und auf Bratpfannen. amorpher Kunststoff aus der Gruppe der Poly- durchlässige Membran.
301
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
302
Erde, Wasser, Luft und Feuer
im tropischen Gürtel bis etwa zum 30. Breiten- auf Erdölbasis erzeugte Isopren. Man hofft, die
grad beidseits des Äquators angebaut. Isoprenerzeugung in einigen Jahren industriell
Bald konnten auch Plantagen die ständig nutzen zu können und so vom teurer werdenden
steigende Nachfrage nach Rohkautschuk nicht Erdöl unabhängig zu werden.
mehr decken. Außerdem waren aufsteigende
Industrieländer wie Deutschland nicht mehr ge- Kautschuk ist nicht nur Pflanzensaft
willt, sich dem Preismonopol der Briten und Nie-
derländer zu beugen. Dem deutschen Chemiker Kautschuk ist eine Sammelbezeichnung für
FRITZ HOFMANN (1866 – 1956) gelang es 1909, mehrere makromolekulare, elastische Polymere.
einen synthetischen Kautschuk für die Gummi- Dazu zählen der Naturkautschuk, also Milch-
herstellung auf Basis von Butadien (CH2=CH– säfte verschiedener Pflanzen, sowie Kautschuk
CH=CH2) zu entwickeln. Ab 1915 wurde dieser mit einem Anteil von 18 Prozent Füllstoffen,
Synthesekautschuk, genannt BUNA, in Lever- durch Schwefelzusatz vernetzter Kautschuk
kusen industriell erzeugt. 1929 entwickelte der (Gummi) und schließlich die aus Erdöl- und Emulsionspolymerisation
Die Monomere werden als
Chemiker WALTER BOCK die Emulsionspolyme- Erdgasderivaten künstlich erzeugten Kautschuk- Emulsion in Wasser gelöst;
risation (ÅRandspalte) aus Butadien und Styrol sorten. Sein Name leitet sich von der Bezeich- der Starter ist wasser-
und schuf damit den ersten wirtschaftlich nutz- nung peruanischer Indianer für ein baumartiges löslich. Das entstehende
Polymer ist kolloidal im
baren Synthesekautschuk, den bis heute wichti- Wolfsmilchgewächs ab, den sie Cao (Baum) Wasser gelöst.
gen Styrol-Butadien-Kautschuk (SBR); ein Jahr und ochu (Träne) also tränenden Baum nann-
später erfanden ERICH KONRAD und EDUARD ten. Dieser Parakautschukbaum (Hevea brasi-
TSCHUNKUR den öl- und benzinresistenten Buta- liensis) ist mit 90 Prozent Anteil der wichtigste
dien-Acrylnitril-Kautschuk (NBR). In den 1930er Lieferant von Naturkautschuk. Der aus der
Jahren nahmen die USA die Produktion von angeschnittenen Rinde austretende Milchsaft
synthetischem Kautschuk auf und entwickelten heißt Latex, eine Emulsion aus Polyisopren,
in den nächsten Jahrzehnten für spezielle Anwen- 55 – 70 Prozent Wasser, und etwas Harz, Eiweiß
dungszwecke weitere Sorten. Im Zweiten Welt- und Zucker. Das langkettige Polyisopren liegt
krieg förderte Deutschland den Aufbau weiterer als kolloidale Dispersion in der milchigen Flüs-
BUNA-Produktionsstätten. Gegenwärtig beträgt sigkeit vor. Die Polyisopren-Tröpfchen haben
der Anteil des synthetischen Kautschuks an der einen Durchmesser von 0,15 – 0,3 mm. Auch
Gesamterzeugung etwa 70 Prozent. Wurde spezielle Löwenzahnarten in Mittelasien, der in
Gummi anfangs hauptsächlich aus der Vernet- Mexiko beheimatete Guayule-Strauch sowie der
zung von Kautschuk mit Schwefel erzeugt, so aus Mittelamerika stammende Breiapfelbaum
werden momentan etwa 25 verschiedene Stoffe liefern Latexsäfte, die inzwischen zur Gummi-
zugesetzt, um Gummis für ausgewählte Anwen- herstellung genutzt werden.
dungsbereiche zu erhalten. Zugesetzt werden Naturkautschuk ist viskoelastisch und besitzt
5-129
Lösungsmittel, Vulkanisierungsbeschleuniger, eine hohe Zug- und Weiterreißfestigkeit. Seine
Polyisopren. Polyisopren
Füll- und Farbstoffe sowie Antioxidanzien. Elastizität ist eine Folge der räumlichen Anord-
kommt in der cis- und der
Da die weltweite Nachfrage nach Naturkaut- nung der Methylgruppen in den Polyisopren-Ket- trans-Form vor. In der cis-
schuk rapide steigt, wollen ein amerikanischer ten (ÅAbbildung 5-129). Bei 3– 4°C ist es spröde, Form sorgt die enge Nach-
barschaft der Methylgruppe
Reifenhersteller und eine Biotech-Firma mit bei 20 °C elastisch, aber schon ab 30 °C plastisch
und des Wasserstoffatoms
Hilfe des Bakteriums Escherichia coli (E.coli) und klebrig. Aufgrund der eingeschränkten Elasti- an der C=C-Doppelbindung
Bioisopren erzeugen. Bei E.coli fällt in geringen zität, der schlechten Witterungsbeständigkeit und dafür, dass sich die Kette
Mengen Isopren als Stoffwechselprodukt an. Unbeständigkeit gegen oxidierende Chemikalien nicht gerade ausrichten
kann (farbig hinterlegt).
Durch Hinzufügung eines Pflanzengenoms, das und Kohlenwasserstoffe ist Latex nur bedingt trans-Polyisopren kann
ein Enzym für die Synthese von Isopren besitzt, als Werkstoff geeignet. Es existiert allerdings ein hingegen gerade Ketten
ist es gelungen, die Menge von Isopren im Labor Verfahren, das die Werkstoffeigenschaften ent- bilden, die sich kristallartig
parallel ausrichten und über
deutlich zu erhöhen. Das bei Zimmertemperatur scheidend verbessert, die Vulkanisation, die Latex van-der-Waals-Kräfte an-
entweichende Gas ist wesentlich reiner als das in Gummi verwandelt. einander haften.
303
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
weich, klebrig hart, wenig klebrig Der älteste und gegenwärtig mengenmäßig wich-
tigste Synthesekautschuk ist ein Co-Polymerisat
geringe Zugfestigkeit,
hohe Zugfestigkeit, fest aus Styrol und 1,3-Butadien. Erzeugt wird SBR
nicht fest
entweder durch kalte Emulsionspolymerisation
geringe Elastizität hohe Elastizität
bei 5 °C oder mit warmer bei 45 – 55 °C. Daraus
beständig von 10–60 °C
einsetzbar zwischen -40° erzeugte technische Gummiartikel sind bestän-
und +100°C diger gegen Witterungseinflüsse als solche aus
5-131
geringe Abriebfestigkeit hohe Abriebfestigkeit Naturgummi sowie resistent gegen schwache
Styrol-Butadien-
Säuren und Basen. Aber sie quellen in Mineral-
Kautschuk. Durch Co- kann viel Wasser aufneh-
Polymerisation von Styrol men
wasserabweisend ölen, Schmierfetten und Benzin stark auf. Die
und 1,3-Butadien entsteht
löslich in Lösungsmitteln nicht löslich in üblichen
Anwendungstemperatur liegt zwischen –40 °C
zunächst das Co-Polymer,
wie Terpentin Lösungsmitteln und +70 °C. SBR-Gummi wird zu Dichtungen,
das mit Schwefel vulkani-
siert werden kann zu Styrol- Transportbändern und vor allem zu Laufflächen
schmelzbar nicht schmelzbar
Butadien-Kautschuk. von Reifen verarbeitet.
304
Erde, Wasser, Luft und Feuer
305
KAPITEL 5 Erde und Feststoffe
306
KAPITEL 6
Wasser
... und der flüssige Aggregatzustand
„Wasser“ ist dieses Kapitel über Flüssigkeiten überschrieben. nämlich mit einigen anderen, etwa Glas, zu den sogenannten
Wohl zu Recht, und nicht nur als Hommage an die vier klas- amorphen Stoffen zusammenfassen. Wegen ihrer fehlenden
sischen Elemente. Ohne jeden Zweifel ist Wasser genau das, inneren Fernordnung stellt man sie der kristallinen Materie
was jedem von uns zunächst in den Sinn kommt, wenn es um gegenüber. Doch bleiben wir fürs Erste beim intuitiveren
Flüssigkeiten geht. Im Vergleich zu allen anderen flüssigen Begriff der Flüssigkeit.
Stoffen nimmt es in unserem Denken und Fühlen einen so Ist nun also Wasser „der“ Prototyp einer Flüssigkeit? Ja
prominenten Platz ein, dass alles andere als unbedeutende und nein. Unzweifelhaft ist seine Bedeutung für das Leben
Ausnahme daher kommt. Nach kurzem Nachdenken fällt uns auf der Erde so überwältigend, dass ihm ganz besonderer
weiteres ein: Flüssigkeiten wie Blut und Milch oder andere Raum in einem Kapitel über Flüssigkeiten gebührt. Aber ein
Getränke – Tee, Kaffee, Limonaden, Säfte, Bier oder Wein. Bei guter Prototyp ist Wasser keinesfalls. Gerade das Wasser un-
fast allem aber handelt es sich doch vorwiegend um Wasser, terscheidet sich nämlich bei genauerer Untersuchung in fast
dem einige gelöste Substanzen oder fein verteilte Beimengun- allen wichtigen Aspekten ganz und gar vom Gros der sons-
gen einen spezifischen Charakter verleihen. Wasser, wohin tigen Flüssigkeiten. Das macht es zu einem allgegenwärtigen
man auf der Erde auch schaut. Selbst Nebel und Wolken, die Exoten. Dieses scheinbar so einfache, harmlose „Element“
zu jeder Zeit mehr als die Hälfte der Erdoberfläche bedecken: wird seit Jahrhunderten intensiv untersucht und doch hat die
kondensierte Tröpfchen von Wasser. Wissenschaft es bis heute noch nicht annähernd vollständig
Aber was gibt es noch, außer Wasser und den vielen kom- verstanden. Damit ist reichlich Stoff vorhanden für Spekula-
plexen Flüssigkeiten, die zu einem wesentlichen Teil daraus tionen, die im Wasser besondere Gedächtnisfähigkeiten und
bestehen? Erst wirklich hochprozentiges wie Rum bringt uns mystische Eigenschaften verorten und die uns z. B. in Form
weiter. Da ist eine andere Flüssigkeit tonangebend und für den von Homöopathie und Bach-Blütenlehre begegnen. Aber
unmäßigen Konsumenten bald auch verhaltensbestimmend! auch für ernsthafte Wissenschaftler sind die ganz besonderen
Neben Alkohol (Ethanol) gibt es auch flüssige Lösungsmittel Strukturen des Wassers im Glas vor uns stets für eine Über-
wie Aceton, Pflanzenöl, Erdöl oder dessen Derivat Benzin. raschung gut. Zwischen den gut verstandenen Eigenschaften
Und sogar einige wenige „echte“ chemische Elemente, gibt es, des einzelnen Wassermoleküls und den resultierenden Ei-
die bei Zimmertemperatur in der flüssigen Phase vorliegen – genschaften des „Lebenselements“ Wasser liegen noch viele
Quecksilber und Brom. offene wissenschaftliche Fragen.
Grenzbereiche des flüssigen Zustands begegnen uns oft, In diesem Kapitel werden wir uns mit einigen dieser Zu-
ohne dass wir sie bemerken. So etwa extrem zähflüssige Stoffe sammenhänge beschäftigen. Darüber werden wir natürlich
oder solche mit Besonderheiten, wie sie bei sogenannten nicht die anderen flüssigen Stoffe vergessen und die Eigen-
Nicht-newtonschen Flüssigkeiten auftreten. Erweitern wir schaften, die feste und gasförmige Materie in den Grenzbe-
den Horizont über unseren angestammten Temperaturbereich reichen zum flüssigen Aggregatzustand zeigt.
hinaus zu ganz niedrigen und ganz hohen Temperaturen, so
treten zu diesen noch viele andere Exoten, die einen tieferen
Blick auf den flüssigen Materiezustand zu einer spannenden
Entdeckungsreise machen.
Bei entsprechender Abkühlung können gasförmige Ele-
mente wie Helium flüssig, ja sogar „superflüssig“ werden.
Nach Erhitzung gehen fast alle festen Stoffe, wie etwa Me-
talle, in Flüssigkeiten über. Selbst die zähen Magmen in der
Erde und die Lava, die wir an Vulkanen schließlich zu Gesicht
bekommen, haben manche Eigenschaften von Flüssigkeiten.
So viele Flüssigkeiten: Und doch, eigentlich gibt es diesen
Begriff offiziell schon gar nicht mehr. Wie wir noch sehen
werden, kann man die uns als flüssig geläufigen Substanzen
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Wasser
309
KAPITEL 6 Wasser
Weil nur sehr wenig Platz vorhanden ist, voll- fest flüssig gasf.
ziehen sich der Stofftransport und die Durchmi- Beweglichkeit nein ja ja
schung mit gelösten Bestandteilen (Å Diffusion Dichte hoch hoch niedrig
als Irrfahrt, Seite 404) im Vergleich zu Gasen Volumenkonstanz ja ja nein
relativ langsam. Wärmeleitfähigkeit hoch hoch niedrig
schen Gleichgewicht zustrebt, nimmt die Flüs- (ÅAbbildungen 9-10 und 9-11, Seite 401). Aus der
sigkeit Wärmeenergie aus der Umgebung auf. Form dieser Verteilung, die sich der waagerechten Achse
nur asymptotisch nähert, wird klar, dass stets einige der
Die Energiezufuhr beschleunigt wiederum einige Teilchen schnell genug sind, um die Flüssigkeit zu verlas-
Teilchen, und es wiederholt sich der obige Vor- sen, wenn sie sich gerade an der Oberfläche befinden.
gang so lange, bis alle Flüssigkeit verdunstet ist.
Die Bewegungsgeschwindigkeit von Teilchen
in Flüssigkeiten ist temperaturabhängig. Mit
steigender Temperatur bewegen sie sich schnel-
ler und benötigen dann etwas mehr Raum, die
Flüssigkeit dehnt sich aus.
Bei einem sommerlichen Spaziergang kann
man auf Wasserlachen oder auf Tümpeln kleine,
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
310
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Oberflächenspannung
Die Oberflächenspannung, auch Grenzflä- Wirkung entspricht einer elastischen Haut, die
chenspannung genannt, ist eine Eigenschaft sich desto stärker einer Kugelform annähert,
der Phasengrenze zwischen Festkörpern oder je stärker die Grenzflächenspannung wirkt. In
Flüssigkeiten hin zur umgebenden Gas- bzw. engen Gefäßen führt dies zur Ausbildung eines
Dampfphase. Besonders augenfällig wird sie Meniskus, also zu einer gewölbten Oberfläche
bei Flüssigkeiten, da diese als Fluide allen auf- auf einer Flüssigkeit. Die Oberflächenspannung
6-7
tretenden Kräften leicht nachgeben. Oberflä- wird als Kraft pro Längeneinheit definiert und Kräftediagramm zur
chenspannung wird durch zwischenmolekulare in der Einheit mN/m (10–3 Newton/Meter) Oberflächenspannung.
Anziehungskräfte (Kohäsionskräfte) verur- angegeben. Kohäsionskräfte auf ein
Molekül im Inneren einer
sacht. Im Inneren ist jedes Flüssigkeitsmolekül Wie stark die Oberflächenspannung ist, Flüssigkeit gleichen sich
rundum von anderen umgeben, deren Anzie- lässt sich an südamerikanischen Blattschnei- im zeitlichen Mittel aus.
hungskräfte sich im zeitlichen Mittel aufheben. derameisen zeigen: Diese gelten als Herkulesse Oberflächenmoleküle
jedoch unterliegen Wech-
An der Oberfläche hingegen grenzt ein Molekül unter den Ameisen, können sie doch ein Mehr- selwirkungen, die eine
nur seitlich und zum Flüssigkeitsinneren hin faches ihres Körpergewichts tragen. Wird ein resultierende Kraft ins
an Nachbarn – die anziehenden Kräfte sind solches Insekt von einem Regentropfen getrof- Flüssigkeitsvolumen hinein
ergeben (rot).
nicht ausgeglichen. Es verbleibt eine starke fen, der es einschließt, so bedeutet das seinen
Kraft, die versucht, das Molekül ins Innere sicheren Tod. Trotz ihrer Kräfte vermag die
zu ziehen (Å Abbildung 6-7). Den Zustand Blattschneiderameise wegen der starken Ober-
minimaler Energie erreicht eine Flüssigkeit, flächenspannung nicht die Haut des Tropfens
wenn sie diese Kräfte minimiert, ihre Oberflä- zu durchstoßen und sich aus dem Gefängnis
che also so weit wie möglich verkleinert. Die zu befreien.
Bei fließfähigen Stoffen unterscheidet man New- Newtonsche Flüssigkeiten sind solche mit ge-
tonsche und Nicht-newtonsche Flüssigkeiten. ringer Viskosität, die dem von ISAAC NEWTON
Ihr Fließverhalten (rheologisches Verhalten, von formulierten Gesetz folgen, nach dem zwischen
griechisch rhei, fließen) hängt von den Wech- Schergeschwindigkeit und Schubspannung ein
selwirkungskräften zwischen ihren Teilchen ab linearer Zusammenhang besteht. Die dynamische
(Å Das Einmaleins der Werkstoffeigenschaften, Viskosität η ist dabei konstant. Daraus ergibt sich
Seite 174). Diese prägen die innere Reibung ein parabolisches Geschwindigkeitsprofil bei Strö-
der Flüssigkeit und damit deren Zähigkeit oder mungen durch Röhren. Solche Flüssigkeiten be-
Viskosität. Die sogenannte dynamische Viskosität sitzen keine Fließgrenze. Sobald sie einer äußeren
η bestimmt, wie das Geschwindigkeitsprofil in ei- Kraft ausgesetzt werden, beginnen sie zu fließen,
ner Flüssigkeit verläuft, wenn an ihrer Oberfläche oft schon infolge ihrer eigenen Gewichtskraft.
eine Schubspannung wirkt, also eine Kraft längs Sie erleiden einen linearen Druckabfall in Fließ-
der Oberfläche (ÅAbbildung 6-8, Seite 312). richtung. Wichtige Newtonsche Fluide sind Gase,
Auf Wasser gehen.
Die Änderung der Geschwindigkeit in Abhän- Öle, Alkohole, Benzin, Quecksilber und Wasser. Mischt man in einem fla-
gigkeit vom Abstand zur Oberfläche wird als chen Behälter Maisstärke
mit Wasser, so verwandelt
Schergeschwindigkeit oder Schergefälle bezeich- Nicht-newtonsche Flüssigkeiten sich dieses in eine Nicht-
net. Sie ist gleichzeitig ein Maß für das Ausmaß newtonsche Flüssigkeit
der Deformation der Flüssigkeit längs des Quer- r Nicht-newtonsche Flüssigkeiten zeichnen sich mit dilatantem Fließ-
schnitts. Die Viskosität wird meist in der Einheit durch eine mittlere bis hohe, nichtlineare und verhalten.Nun kann ein
Mensch schnell darüber
Millipascalsekunde (mPa·s = 1000 · N · s · m–2) an- zeitabhängige Viskosität aus. Diese ist nicht kon- laufen, ohne einzusinken,
gegeben. Auch die Einheit Poise (P = 0,1 Pa · s) stant, sondern abhängig von der Scherspannung weil sich die Flüssigkeit
ist gebräuchlich. Die sogenannte kinematische und von Deformationen. Deshalb zeigen sie ein unter Druck kurzzeitig
verfestigt. Bleibt er stehen,
Viskosität ist das Verhältnis von dynamischer nicht-parabolisches Geschwindigkeitsprofil. Flüs- sinkt er aufgrund seines
Viskosität zur Dichte der Flüssigkeit. sigkeiten dieser Gruppe besitzen eine unscharfe Gewichts ein.
3 11
KAPITEL 6 Wasser
6-8
Viskosität. Ein zwischen einer bewegten und einer unbe-
wegten Platte liegendes Fluid erfährt durch Reibung an
der bewegten Platte eine Schubspannung τ0 . Durch die
innere Reibung in der Flüssigkeit entsteht auch zwischen
Flüssigkeitsschichten eine Schubspannung, die tieferlie-
gende Bereiche der Flüssigkeit in Bewegung versetzt. Die
Fließgeschwindigkeit v sinkt jedoch mit dem Abstand zur
bewegten Platte und wird null an der ruhenden. Ihre Än-
derung in Abhängigkeit vom Abstand wird Scherge-
schwindigkeit oder Schergefälle genannt. In Newton-
schen Flüssigkeiten ist die Schubspannung τ proportional
zum Schergefälle, die Proportionalitätskonstante ist die
dynamische Viskosität η. Dies führt zu einem paraboli-
schen Verlauf des Geschwindigkeitsprofils in der Flüssig-
keit. Bei Nicht-newtonschen Fluiden ist η nicht konstant,
sondern hängt nichtlinear von der Fließgeschwindigkeit
und der Deformation der Flüssigkeitsschichten ab.
oder gar keine Fließgrenze und zeigen ein stark proportionalen Zunahme der Viskosität. Bei
temperaturabhängiges Fließverhalten. Nach ih- der Scherung tritt eine Volumenzunahme, also
rem Fließverhalten lassen sich Nicht-newtonsche eine Dilatation ein. Typische Vertreter dilatan-
Flüssigkeiten in vier Untergruppen einteilen ter Flüssigkeiten sind Farben, Druckerschwärze
(ÅAbbildung 6-9). oder Blut. Vermischt man unter Umrühren Mais-
Bei Flüssigkeiten mit strukturviskosem oder stärke mit etwas Wasser, so entsteht daraus ein
pseudoplastischem Fließverhalten) nimmt mit zäher Brei. Unter Druck verfestigt sich die Masse
steigender Schergeschwindigkeit die Viskosität wieder. Technisch zählen dazu neue Werkstoffe
ab, weil innere Strukturen zusammenbrechen wie bestimmte Polymerdispersionen (ÅAus dem
und die Flüssigkeitsmoleküle sich zur Strömung Leben der Beuteltiere, Seite 291).
einregeln. Dadurch werden die Stoffe fließfähi- Viskoelastisches Fließverhalten zeigen Sub-
6-9
ger, weil einzelne Fließschichten leichter aneinan- stanzen, die rheologisch zwischen Feststoffen
Klassifikation von Flüssig- der vorbeigleiten können. Typische strukturvis- und Flüssigkeiten stehen und sich sowohl wie
keiten. Flüssigkeiten lassen kose Stoffe sind Polymerschmelzen, Mayonnaise elastische Feststoffe als auch wie viskose Flüssig-
sich anhand des Verhält-
nisses von Scherspannung
oder Klebstoffe. keiten verhalten. Unter Scherbeanspruchung wer-
zu Schergeschwindigkeit (Visko)plastisches Fließverhalten zeigen Flüs- den sie Flüssigkeiten und beginnen zu kriechen.
klassifizieren: sigkeiten, die sich unterhalb einer bestimmten Sobald der Schervorgang beendet ist, nimmt die
Schubspannung wie Feststoffe verhalten, beim Spannung ab, und die Stoffe kehren nach einer
1: dilatantes Fließverhalten
Überschreiten dieser sogenannten Fließgrenze gewissen Zeit in den Grundzustand zurück. (Re-
2: pseudoplastisches Fließ- aber wie eine Flüssigkeit. Verhalten sie sich laxation). Besonders pharmazeutische und kos-
verhalten oberhalb der Fließgrenze wie eine Newtonsche metische Gele zeigen Kriechen und Relaxation.
3: viskoelastisches Fließ- Flüssigkeit, nennt man sie Bingham-Fluide. Dazu Dieser erste Überblick lässt die ganze Spann-
verhalten gehören Zahnpasta oder Ketchup. Erstere wird breite des Verhaltens von Flüssigkeiten erahnen.
flüssig, wenn man genügend Druck auf die Tube Doch beschäftigen wir uns zunächst mit dem
4: Bingham-Fluide
ausübt. Sinkt die Viskosität mit steigender Scher- Nächstliegenden, dem Wasser.
5: Casson-plastisches Fluid geschwindigkeit, spricht man auch von Casson- Antike Philosophen stuften Wasser als eines
(z. B. Schokolade) plastischen Fluiden (z. B. Schokolade). der vier Elemente ein, für THALES von Milet war
Dilatantes Fließverhalten findet man insbe- es der Urstoff schlechthin (Å Wasser und Luft –
sondere bei Suspensionen mit hohem Feststoff- Thales und Anaximenes, Seite 31). Aufgrund
anteil, d. h. eng gepackten, dispersen Substanzen. des alltäglichen Umgangs glaubt man eine ganz
Steigende Schubspannung, also wachsende tan- einfache Flüssigkeit vor sich zu haben. Dem ist
gentiale Krafteinwirkung, führt zu einer über- aber bei Weitem nicht so!
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
6-10
Silly Putty. Eine typische Nicht-newtonsche Flüssigkeit.
Bei kurzer, stoßartiger Belastung reagiert das Material
völlig elastisch und prallt bei einem Wurf wie ein Gum-
miball zurück. Auf Zeitskalen von Minuten und Stunden
verhält es sich dagegen wie eine Flüssigkeit und läuft
auf einer Unterlage auseinander (Bilder: Abstände von
jeweils 10 Minuten).
312
Erde,, Wa
Wasssser, Luft und Feuer
Polareis, Meereis,
27 820 000 2,01
Gletscher
Grundwasser,
8 062 000 0,58
Bodenfeuchte
unserem Planeten. Es ist in allen Teilsphären der physiologischen Prozesse im wässrigen Milieu
Geosphäre, in großen Speichern sowie in allen ablaufen.
Lebewesen vorhanden. Etwa 70 Prozent der Nach den bisherigen Kenntnissen ist das Vor-
r
Erdoberfläche sind wasserbedeckt. Wasser hat handensein von flüssigem Wasser die ausschlag-
sich in riesigen Speicherbecken, den Ozeanen, gebende Voraussetzung für das Leben auf Erden.
angesammelt, die auch als „Endlager“ für gelö- Der Frage, wie und woher die Wassermengen
ste Mineralstoffe dienen. Kleinere, aber für die auf die Erde kamen, werden wir in ÅKapitel 11
6-11 menschliche Wasserversorgung bedeutendere nachgehen.
Die Wasserhalbkugel. Reservoire sind die zahllosen Flüsse und Seen
Aus einem bestimmten auf dem Festland.
Blickwinkel erscheint die
Matrix des Lebens
Erde als nahezu vollstän-
Doch Wasser ist ebenso in teils unsichtbaren
dig mit Wasser bedeckt. Reservoiren angereichert. In der Atmosphäre Wasser ist quasi die Matrix des Lebens. Alle
sind in Wolken und Nebel, die zu jeder Zeit physiologischen Prozesse auf der Erde laufen im
mehr als die Hälfte den Himmel bedecken, kon- wässrigen Milieu ab. Fast alle Zellen der höhe-
densierte Wassertröpfchen verborgen. Noch grö- ren Lebewesen bestehen zu 70 – 90 Prozent aus
Täglicher Wasserbe- 2,5 – 3,0 ßer ist die unsichtbare Wassermenge unter der Wasser. Der menschliche Körper enthält je nach
darf des Menschen Liter
Erdoberfläche, d. h. in der Lithosphäre und im Alter 55 – 78 Gewichtsprozent Wasser; der Was-
Aufnahme Erdmantel (Å Schalenbau der Erde, Seite 224). sergehalt reicht von 5 Prozent in den Zähnen bis
Grundwasserströme fließen im Boden und in 93,3 Prozent in Blut und Lymphe.
Nahrung 1,0 Liter tieferen Sedimentschichten. Wasser ist auch an Auch Pflanzen sind großenteils „Wasserge-
Boden- bzw. Sedimentpartikel gebunden, sowie bilde“. Vergleicht man frische Wiesenpflanzen,
Getränke 1,2 Liter
an Minerale und Gesteine. So enthalten z. B. im die zu 70 – 80 Gewichtsprozent aus Wasser be-
Oxidationsprodukt
0,3 Liter Meer gebildete Magmatite ca. 3 Gewichtspro- stehen, mit bis zwei Tage altem Heu, so erkennt
des Stoffwechsels
zent Wasser. Selbst im tieferen Erdmantel wird man rasch an den verdorrten und zusammenge-
Abgabe Wasser mit einem Anteil von ca. 0,2 Gewichts- schrumpelten Pflanzenresten die Rolle des Was-
prozent vermutet, was aufgrund der enormen sers. Weitere Beispiele sind Wassermelonen mit
Harn 1,5 Liter Masse des Mantels die zweifache Wassermenge einem Wassergehalt von 93 Gewichtsprozent,
aller Ozeane bedeuten würde. Kürbisse, Rhabarber oder Kopfsalat von 95 Ge-
Schweiß 0,6 Liter
Das Oberflächenwasser auf dem Festland ist wichtsprozent und Gurken von 96 Gewichtspro-
Atemluft 0,3 Liter ungleichmäßig verteilt: Ausgedehnten wasser- zent. Angesichts des geringen Massenanteils von
armen Wüstenregionen stehen Landstriche mit nur 0,88 Prozent des Wasserstoffs am Aufbau der
Kot 0,1 Liter einem Wasserüberangebot gegenüber. Der Welt- Erde ist diese Verbreitung eigentlich erstaunlich,
gesundheitsorganisation zufolge gelten 1000 m3 zieht man jedoch den Stoffanteil von Wasserstoff
(1 Million Liter) Wasser pro Kopf und Jahr als (15,4 %) und Sauerstoff (55,1 %) an der Erdkru-
Minimum für eine ausreichende Versorgung. ste in Betracht (ÅTabelle 5-5, Seite 226), so
In Deutschland besteht ein Bedarf von ca. 150 l wird die Bedeutung des Wassers klar.
Trinkwasser pro Kopf und Tag.
Dass sich die Süßwassermenge auf dem Fest-
land trotz des Wasserverbrauchs von 3000 km3 Das Wassermolekül
pro Tag kaum vermindert, liegt am Wasser-
kreislauf: Jährlich verdunsten ca. 430 000 km3 Das Wassermolekül zählt zu den n am
reines Wasser über den Ozeanen (das Salz bleibt beste n u n te r suc h te n M o l e k ü
üle n
zurück) sowie 70 000 km3 über dem Festland, überhaupt. Aber zwischen den Ei- E
also insgesamt 500 000 km3. Als Niederschlag genschaften des einzelnen Wasser--
fallen ca. 390 000 km3 über den Meeren und moleküls und den Eigenschaf-
110 000 km3 über dem Festland. ten des Molekülnetzes Wasser
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
„lokaler“ Wasserkreislauf statt: Ein Erwach- zunächst das Wassermolekül genauer. er.
sener benötigt ca. 2,5 – 3,0 l Wasser pro Tag. Seine S ummenformel lautet
Bereits bei einem Wasserverlust von 0,5 Prozent H2O, es setzt sich also aus zwei
des Körpergewichts stellt sich ein Durstgefühl Wasserstoffatomen und einem
ein. Der Körper bedarf des Wassers, da alle Sauerstoffatom zusammen. Es
314
Erde, Wasser, Luft und Feuer
„Water is composed of two gins, oxygin and hydrogin. Oxygin is pure gin. Hydrogin is gin
ist das häufigste Molekül auf der Erde mit ei- von 0 – 100 °C flüssig ist. Da jedes Sauerstoff-
ner festgelegten Geometrie in Form eines weit atom an der Spitze eines tetraedrischen Netz-
geöffneten V. Aufgrund seiner hohen Bildungs- werks von Bindungen sitzt, ist Wasser wesentli-
enthalpie von 286 kJ · mol–1 ist es sehr stabil. Für cher stärker strukturiert als die meisten anderen
eine thermische Wasserspaltung ist eine Tempe- Flüssigkeiten.
ratur von mehr 2500 °C nötig. Mit elektrischem 6-13
Strom gelingt die Spaltung von Wasser wesent- Elektrolyse. Sauerstoff
Wasser – keine normale Flüssigkeit und Wasserstoff entstehen
lich leichter. Erhöht man die Leitfähigkeit durch im Volumenverhältnis 1:2.
geringen Zusatz eines Salzes oder einer Säure, so Begleiten Sie uns nun anhand von Beispielen
genügt eine Spannung von wenigen Volt, um es aus dem Alltagsleben und -erleben durch die
in seine Bestandteile zu zerlegen (Elektrolyse). geheimnisvolle Welt des Wassers.
Zwischen den Wasserstoffatomen und dem Reinstes Wasser ist eine geschmack- und
Sauerstoffatom besteht jeweils eine kovalente
valente geruchlo
geruchlose Flüssigkeit, die Licht verstärkt
Bindung mit einem Bindungswinkel von ca. im roteen und im infraroten Bereich absor-
104,45° (ÅTeilchen finden zusammen, biert. Deshalb erscheint es bei dicke-
Seite 144). Die hohe Elektronegativi- rren Schichten blau schimmernd und
tät des Sauerstoffatoms (3,44) gegen- wird dementsprechend auf Karten
über der des Wasserstoffatoms (2,2) sstets in blauen Farbtönen wiederge-
bewirkt, dass die Elektronen der Wasserstoff- geben. Doch in der Natur kommt Reinstwasser
3 15
KAPITEL 6 Wasser
Einige Anomalien des Vom Nebel zum Eis Auch die aus unserer Sicht „günstige“ Lage
Wassers.
Man kennt heute über
des Tripelpunkts von Wasser ist eine Folge der
sechzig Anomalien des Wasser ist die einzige Flüssigkeit, die in der Wasserstoffbrücken. Am Tripelpunkt befinden
Wassers gegegüber dem Natur gleichzeitig in nennenswerten Mengen sich alle drei Zustände des Wassers im Gleich-
Verhalten von Stoffen ver-
in allen drei Aggregatzuständen vorkommt. Ein gewicht. Dieses wird durch gleichzeitige Bil-
gleichbarer Molekülgröße.
Sie sind vor allem eine Wanderer kann in den Bergen an regnerischen, dung von Wasserdampf mittels Sublimation und
Folge der polaren Natur wolkenverhangenen Tagen an Gletschertoren Verdunstung, durch Kondensation von Wasser-
und der Struktur der Was- alle drei Zustandsformen des Wassers beobach- dampf zu Wasser und durch Gefrieren von Was-
sermoleküle.
ten: Aus einer torähnlichen Öffnung ergießt sich ser zu Eis aufrechterhalten. Ändern sich Druck
Dichteanomalie klares, kaltes Wasser in einen schnell fließenden oder Temperatur, so erhöht sich der Anteil einer
Eis bei 0 °C ist weniger Bach. Darüber türmt sich „festes Wasser“ in Phase auf Kosten der beiden anderen, ohne dass
dicht als Wasser bei 4 °C.
Form des Gletschereises auf; in der Luft und in diese bei den Druck- und Temperaturverhältnis-
Hoher Schmelz- und Sie- den Wolken darüber ist auch der gasförmige Zu- sen auf der Erde völlig verschwinden. Deshalb ist
depunkt stand des Wassers vorhanden. Generell hängt der Wasser stets in allen drei Zuständen in größeren
Wasser hat für seine Mol-
masse einen sehr hohen Aggregatzustand von der Temperatur und dem Mengen vorhanden.
Schmelz- bzw. Siede- Druck ab. Dieser Zusammenhang wird in Form
punkt; ein Glück für das eines Phasendiagramms dargestellt. Auch einige
Leben auf der Erde.
Verdampfen
der besonderen Eigenschaften des Wassers lassen
Feste Modifikationen sich anhand seines Phasendiagramms erklären. Wasserdampf gehört zu den Alltagserfahrungen.
Wasser hat mehr feste Das Phasendiagramm des Wassers (ÅPha- Umgangssprachlich werden damit die sichtbaren
Modifikationen (Eis) als
sen und Phasenübergang, Seite 166) weicht Dampfschwaden des schon wieder kondensierten
jeder andere bekannte
Stoff. deutlich von dem anderer Flüssigkeiten ab. Die Wasserdampfs über einem Teekessel bezeichnet,
Schmelzdruckkurve, also die Grenze zwischen Naturwissenschaftler verstehen darunter aber
Druckaufschmelzung
Eis und Wasser, verläuft nach links oben und den unsichtbaren Anteil von gasförmigem Was-
Aufgrund der Struktur des
Phasendiagramms sinkt nicht nach rechts oben, sie weist also eine ne- ser in der Atmosphäre (ÅKapitel 7, Seite 359).
bei Druckerhöhung der gative Steigung auf (ÅAbbildung 6-16). Daher Im Sommer stöhnen wir über die schweißtrei-
Schmelzpunkt des Was- bleibt Wasser oberhalb des Tripelpunkts auch benden, Wasserdampf gesättigten Luftmassen
sers, weshalb Gletscher
auf einem Wasserfilm glei- bei hohem Druck flüssig. Die negative Steigung aus dem Süden, die auf ihrem Weg zu uns den
ten können. der Kurve ist eine Folge der Tatsache, dass Eis Atlantik oder das Mittelmeer überquert haben.
eine geringere Dichte besitzt als Wasser. Wasser Feuchte Luft führt bis zu vier Volumenprozent
Wärmekapazität
Wasser hat eine unge- erreicht seine maximale Dichte (und damit das Wasserdampf, abhängig von der Temperatur.
wöhnlich hohe spezifische kleinste Volumen) bei einer Temperatur von Wie viele Wassermoleküle sich in der Luft über
Wärmekapazität. Sie ist im 3,98 °C, darunter beginnt die Dichte wieder einer Wasseroberfläche befinden, hängt von der
flüssigen Zustand zudem
doppelt so hoch wie im
zu sinken. Eisberge schwimmen aufgrund der jeweiligen Verdunstungs- und Kondensations-
festen oder gasförmigen. geringeren Dichte des Eises, und Gletscher „flie- rate ab. Solange sich an Druck und Temperatur
ßen“, weil sich an ihrer Unterseite durch den nichts ändert, befindet sich das System Wasser-
Oberflächenspannung
Wasser hat eine unge-
hohen Druck das Eis verflüssigt. Für die Fische Luft in einem Gleichgewichtszustand (ÅKasten
wöhnlich hohe Oberflä- in Seen ist dieses atypische Verhalten im Winter Dampfdruck und Luftfeuchtigkeit).
chenspannung. lebensrettend. Da kaltes Wasser nach oben steigt Eine alltägliche Form der Verdampfung kann
und gefriert, bleibt meist am Grund des Sees das man beim Aufbereiten von Heißgetränken beob-
Viskosität
Wasser hat im Vergleich Wasser flüssig (ÅAbbildung 6-22, Seite 322). achten. Dabei wird Wasser mittels Wärmezufuhr
zu anderen niedermole- Diese sogenannte Dichteanomalie des Was- zum Kochen gebracht, damit sich die im Tee
kularen Flüssigkeiten wie sers ist vor allem eine Folge der polaren Natur oder Kaffee enthaltenen Stoffe besser lösen kön-
Alkohol eine sehr hohe
Viskosität. des Wassermoleküls und dessen Fähigkeit, Was- nen. Reines Wasser kocht, sobald der Dampf-
serstoffbrücken zu bilden. Im festen Zustand druck größer oder gleich dem Umgebungsdruck
Schallgeschwindigkeit verhindert die polare Ladungsverteilung der ist, also immer entlang der Dampfdruckkurve
Die Schallgeschwindigkeit
in Wasser steigt mit der Wassermoleküle ein dichtes Zusammenrücken im Phasendiagramm. Unter Normalverhältnis-
Temperatur. innerhalb eines festen Kristallgitters, im flüssigen sen (1,013 bar) wird dieser Druck bei 100 °C
Zustand können sie sich aufgrund der größeren erreicht. Um flüssiges Wasser zu erwärmen,
Beweglichkeit dichter anordnen, Wasserstoff- muss sehr viel Energie zugeführt werden, denn
brücken neutralisieren dabei teilweise die polare Wasser besitzt – abgesehen von Helium – die
Wirkung der Einzelmoleküle. höchste spezifische Wärmekapazität aller Stoffe.
316
Erde, Wasser, Luft und Feuer
3 17
KAPITEL 6 Wasser
318
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Sekret ernähren, produzieren durch den Abbau Regenpfützen und an der Bildung von Trocken-
langkettiger Fettsäuren unter anderem die übel rissen im Boden erkennen.
riechende Buttersäure oder die Ameisensäure als
Stoffwechselprodukt. Wasser am Himmel
Wasserkreislauf
3 19
KAPITEL 6 Wasser
Wolkenbildung ihre geringere Dichte aufsteigen und sich da- Oberflächennahe, warme Luftmassen kühlen um
Wolken entstehen durch bei abkühlen. Wenn sich feuchtigkeitsgesättigte 1 °C je 100 m Aufstieg ab (trockenadiabatische
Abkühlung der Luft unter
den Taupunkt oder durch Luft über den Taupunkt hinaus abkühlt, lagern Abkühlung). Wenn der Wasserdampf in den
Übersättigung der Luft sich die Wassermoleküle an Luftverunreinigun- Wolken selbst durch Aufwinde und Konvektion
mit Wasserdampf. gen an und bilden Tröpfchen. Das so genannte weiter aufsteigt, so erfolgt eine weitere Abküh-
Kondensationsniveau liegt, abhängig von der lung um 0,5 ° C je 100 m (feuchtdiabatische Ab-
Temperatur der aufsteigenden Luftmassen, in kühlung), und es können sich Eiskristalle bilden.
einer bestimmten Höhe über der Erdoberfläche. Eine Übersättigung der Luft mit Wasserdampf
Aerosol bedeutet „in Gas suspendierte Par- Schwefeldioxid (SO2), die unter der Einwirkung
tikel“. Mit diesem Begriff wird ein Zwei- des Sonnenlichts in der Atmosphäre entstehen
phasensystem aus Luftgasen und da - (sogenannte Photooxidantien). Diese Schwefel-
rin fein verteilten festen oder flüssigen und Stickstoffverbindungen stammen dabei zu
Schwebstoffen charakterisiert, deren Par- 70 Prozent aus anthropogenen Quellen, Koh-
tikel einen Durchmesser zwischen 10–2 μm lenwasserstoffe zu 40 Prozent, der Rest kommt
und 102 μm aufweisen. Aerosole werden in le- vor allem aus Wäldern.
6-19 bende Aerosole (Bioaerosole) wie Pollen, Algen, Alle Aerosole fungieren als Kondensations-
Aerosole. Manche Aero- Pilzsporen, Bakterien oder Viren und in nicht- keime und binden Wasser. Damit spielen sie
sole entstehen erst durch
chemische Reaktionen
lebende unterteilt. Letztere bestehen aus anor- bei der Tröpfchenbildung und der Bildung von
und Keimbildung aus ganischen Verbindungen wie Ruß, Meersalz, Eiskristallen in Wolken eine wichtige Rolle.
Gasen in der Atmosphäre vulkanischem Staub oder aus organischen wie Ab einer relativen Luftfeuchte von 103 Pro-
(sekundäre Aerosole). An-
von Pflanzen stammenden Terpenen, aber auch zent werden Aerosole zu Tröpfchenträgern. Als
dere wie Sand, Meersalz
oder Pilzsporen werden aus Reifenabrieb und Verbrennungsprodukten. Keime für Wolkentröpfchen müssen Aerosole
durch Winde in die Atmo- Sogenannte primäre nichtlebende Aerosole sind entweder hydrophil, wie z. B. Meersalzpartikel
sphäre getragen (primäre
natürlichen Ursprungs wie Meersalz, Mineral- sein, oder groß genug, so dass ihre Oberfläche
Aerosole). Feinere Aero-
sole gelangen erst durch teilchen, Saharasand. Sekundäre Aerosole bil- von Wasser benetzt werden kann. Nach neu-
Niederschläge zurück auf den sich erst in der Atmosphäre aus Reaktio- eren Untersuchungen hängt ihre Wirkung in
die Erde (nasse Disposi- nen, beispielsweise von Schwefelsäure (H2SO4) erster Linie von der Gesamtzahl der darin ent-
tion), gröbere sinken mit
der Zeit hinab (trockene oder Salpetersäure (HNO3) mit Oxidationsmit- haltenen löslichen Moleküle ab. Je kleiner ihr
Disposition). teln wie Ozon (O3), Stickoxiden (NOx) oder Durchmesser ist, desto mehr verhalten sich Ae-
rosole wie Gaspartikel. In erdnahen Schichten
schweben ca. 10 000 Partikel / cm3 in der Luft,
in der Troposphäre nimmt die Konzentration
bis auf ein Zehntel dieses Wertes ab.
Aerosole werden in der Atmosphäre nicht
abgebaut. Sie verweilen unterschiedlich lange
dort, in der unteren Troposphäre (bis 5 km)
wenige Tage, in der oberen Troposphäre
(5 – 18 km) bis vier Wochen und in der Strato-
sphäre (über 18 km) ein bis drei Jahre. Sie wer-
den durch Niederschläge aus der Atmosphäre
entfernt. Da Aerosole Lichtstrahlen beugen,
streuen und brechen, beeinflussen sie auch den
Strahlungshaushalt der Erde. Sekundäre Nitrat-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
320
Erde, Wasser, Luft und Feuer
entsteht durch Zufuhr feuchter Luftmassen, treffen die Niederschläge als Schnee oder Hagel
wodurch die maximale Luftfeuchtigkeit von auf die Erdoberfläche auf. Ideale Bedingungen
100 Prozent überschritten wird. Die überschüs- für die Bildung von Eiskristallen und unterkühl-
sige Luftfeuchte kondensiert. ten Wassermolekülen bilden Mischwolken mit
Abkühlung und Feuchtigkeitsüberschuss al- Temperaturen von –10 bis –35 °C. Gefrieren
lein bewirken allerdings nicht die Entstehung Eiskristalle zusammen oder verhaken sich, so
feinster Wassertröpfchen. Dazu sind noch so entstehen Schneeflocken oder Graupelkörner.
genannte Kondensationskeime erforderlich, die Durch mehrfaches Auf- und Abwandern in ei-
Aerosole (Å Kasten Feste und flüssige Luftin- ner Wolke von Eiskeimen lagern sich mehrere
haltsstoffe). Erst dann bilden sich die Ansamm- Schichten von Graupeln zusammen, und es ent-
lungen von Wassertröpfchen, die wir als Wolke stehen letztendlich Hagelkörner von 0,5 mm und
wahrnehmen. mehr Durchmesser.
Nieselregen bildet sich durch das direkte
Aus den Wolken zum Regen Zusammenschmelzen von kleineren Wo l-
kentröpfchen bis auf einen Durchmesser von
3 21
KAPITEL 6 Wasser
sind mit Gletschern, manche Meere mit Packeis druck entsteht in einem Zeitraum von 10 bis
bedeckt. All dies sind Ausbildungsformen des 20 Jahren aus Neuschnee über Firnschnee das
irdischen, natürlichen Eises. Das Speiseeis wird Gletschereis. Bei diesen Metamorphoseprozes-
als sommerliche Erfrischung hoch geschätzt, sen wird der ursprünglich Luftgehalt von etwa
Eisporthallen mit Kunsteisflächen sind beliebte 90 Prozent auf weniger als 20 Prozent reduziert.
Sportstätten. Wasser kristallisiert beim Gefrieren unter
Doch Eis wurde auch an anderen Stellen in normalen Bedingungen im hexagonalen Kris-
unserem Sonnensystem nachgewiesen. Zahlrei- tallsystem (Modifikation Ih), und es existieren
che Kometen, die sogenannten „Schmutzigen bei anderen Druck und Temperaturverhältnis-
Schneebälle“, bestehen großenteils aus Wasser- sen weitere Modifikationen, wie man in einem
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
eis. Gasplaneten werden von Eismonden um- detaillierten Phasendiagramm erkennen kann
kreist, so der Saturn von deren vier. Eisfunde in (Å Abbildung 6-23). Insgesamt kennt man drei-
den Polarregionen des Mars sind Hinweise auf zehn kristalline und fünf amorphe („gläserne“)
frühere Wasservorkommen auf diesem Planeten. Modifikationen von Eis; mehr besitzt kein an-
6-21 Im Gegensatz zum flüssigen Wasser als Ma- derer Feststoff. „Eis, kubisch“ (Ic) mit einem
Struktur von Eis. Wasser- trix des Lebens ist seine feste, kristalline Form kubischen Kristallgitter ist eine künstlich mit
moleküle ordnen sich in eher lebensfeindlich. Im gefrorenen Wasser sind Wasserdampf erzeugte Modifikation. Ebenso
gewöhnlichem Eis durch
Wasserstoffbrücken zu
zuvor gelöste Substanzen ausgetrieben und die Nummern II – XII, bei denen es sich um
einem lockeren hexago- scharfkantige Eispartikel zerreißen organisches künstlich erzeugte Hochdruck-Modifikationen
nalen Kristallgitter mit Material. Dagegen gilt kosmisches, interstellares mit Drücken ab 2 Kilobar bei meist sehr tiefen
relativ großen Bindungs-
abständen an. Die Dichte
Eis als möglicher Entstehungsort von Molekülen Temperaturen handelt.
ist daher geringer als die wie Aminosäuren, die für die Entstehung von
flüssigen Wassers bei 4 °C. Leben wichtig sind.
Die grauen Verbindungen
Rückkehr zur Flüssigkeit
stellen Wasserstoffbrücken
dar, Wasserstoffatome Die Kristallisation von Wasser Bei Normaldruck (1013,25 Hektopascal bzw.
sind hell, Sauerstoffatome 1,01325 bar) beginnt das Eis ab 0 °C zu schmel-
rot dargestellt.
Im Gegensatz zum flüssigen Wasser bildet Eis zen. Am Schmelzpunkt des Eises ist per Definition
Bis zum Jahr 2012 war
nicht genau bekannt, wie ein sehr „luftiges“ Kristallgitter aus. Jedes Sauer- der Nullpunkt der Celsius-Skala festgelegt. Um
der Übergang des Was- stoffatom ist von vier weiteren umgeben, und die Eis mit einer Temperatur von 0 °C in Wasser mit
sers vom flüssigen in den Wasserstoffatome liegen auf einer Verbindungs- der gleichen Temperatur zu überführen, wird eine
gefrorenen Zustand vor
sich geht. Durch Messung linie zwischen Sauerstoffatomen. Doch trotz Schmelzwärme von 333,7 J / kg benötigt. Die nö-
der der Infrarot-Frequenz dieses lockeren Aufbaus sind die Dipolkräfte in tige Wärmeenergie wird der Umgebung entzogen,
einer bestimmten Streck- der Summe sehr stark und verleihen dem Eis eine oder gezielt zugeführt. Beim Schmelzen des Eises
schwingung, die sich
zwischen dem ungeord- große Festigkeit. Dies ist der Grund dafür, dass brechen bis zu 15 Prozent der Wasserstoffbrü-
neten amorphen und dem Wasserleitungsrohre im Winter platzen können, cken zusammen und damit wird das Kristallgitter
kristallinen Zustand etwas wenn Wasser darin gefriert. Den starken Kräf- zunehmend zerstört. Die Wassermoleküle bilden
unterscheidet und theore-
tischen Modellen konnten
ten, die bei der Volumenvergrößerung des Eises wieder das für Wasser typische fluktuierende
Christopher Pradzynsky nach außen wirken, hat das Metall der Rohre Netzwerk aus ständig aufbrechenden und sich
und seine Kollegen von wenig entgegenzusetzen. neu bildenden Wasserstoffbrücken zwischen den
der Universität Göttin-
gen inzwischen genau
Die kleinste Form des gefrorenen Wassers
6-22
rekonstruieren, wie die ist die Schneeflocke, von der 2450 verschiedene Temperaturprofil eines Sees. Das Dichtemaximum flüs-
Kristallbildung abläuft. Kristallformen fotografisch dokumentiert sind. sigen Wassers bei 4 °C ist für das Leben in Seen und
Danach startet der Prozess Flüssen gemäßigter Klimazonen entscheidend. Es führt
Die zahlreichen Lufteinschlüsse im Neuschnee
mit einem Sechsring aus dazu, dass Gewässer in kalten Wintern zuerst oben eine
Wassermolekülen. Ab ca. bewirken eine vielfache Lichtbrechung, so dass isolierende Eisschicht ausbilden und am Grund stets 4 °C
275 Wassermolekülen frischer Schnee weiß erscheint. Durch Auflast- warm sind. Nur so können Fische überleben.
verändert sich die Schwin-
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
322
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Gespanntes Wasser
Die zwischen den Molekülen einer Flüssigkeit
herrschenden Kräfte sind an der Grenzfläche Anziehungskräfte, unter den Flüssigkeiten hat 6-23
zur Luft nicht in allen Richtungen ausgeglichen, Wasser eine sehr hohe Oberflächenspannung. Sie Phasendiagramm von Eis.
Abhängig von Druck und
sondern wirken stärker ins Innere der Flüssigkeit, wird nur von der des Quecksilbers übertroffen, Temperatur sind unter-
was zur Oberflächenspannung führt (Å Abbil- liegt aber weit über der von organischen Flüssig- schiedliche Strukturen von
dung 6-7, Seite 311). Flüssigkeiten sind daher an keiten wie Ethanol oder Ölen. Eis thermodynamisch sta-
bil. Der blaue Punkt stellt
der Luft bestrebt, eine möglichst kleine Oberflä- die Normalbedingungen
che einzunehmen, denn für deren Vergrößerung Benetzung an der Erdoberfläche dar.
muss Energie aufgewendet werden, vergleich- Die amorphen Modifika-
tionen sind nicht darge-
bar mit dem „Spannen“ eines Gummibandes. An Grenzflächen des Wassers zu Festkörpern
stellt, sie entstehen unter
Wenn keine weiteren Kräfte wie Reibung oder sehen die Verhältnisse jedoch anders aus, da besonderen Bedingungen,
Gravitation wirken, nehmen Tropfen deshalb den Kohäsionskräften, die zwischen den Flüs- z. B. durch extrem schnel-
les Abkühlen von Wasser.
Kugelform an. Aufgrund der polaren Natur der sigkeitsmolekülen wirken, die Adhäsionskräfte
Wassermoleküle wirken zwischen diesen starke (von lat. adhaerere, anhaften) zwischen Fest-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
3 23
KAPITEL 6 Wasser
Der Schmelzpunkt eines Stoffes wird durch kungen gegeben sind. Die Dampfdruckkurve des
Lösen eines anderen Stoffes darin im allgemei- Lösungsmittels verschiebt sich im Phasendia-
nen erniedrigt, während gleichzeitig der Siede- gramm also nach unten, was die Schmelzpunkt-
punkt erhöht wird. Wir nutzen diesen Effekt erniedrigung und die Siedepunkterhöhung er-
im Alltag, wenn wir durch das Streuen von klärt. Diese kolligative Eigenschaft ist eine Folge
Salz Glatteis zum Tauen bringen. Die Gründe der durch die Lösung gestiegenen Entropie des
für diesen Effekt sind vielfältig. So lagern sich Gesamtsystems Lösungsmittel – gelöster Stoff.
beim Lösen von Kochsalz (Natriumchlorid, Anschaulich gesprochen, erhöht sich durch die
NaCl) Wassermoleküle an die dissoziierten Lösung die Unordnung des Gesamtsystems, die
Natrium- und Chlorionen an, was die Bildung Entropie der Flüssigkeit ist daher derjenigen des
eines Eiskristallgitters erschwert (ÅLösungen, Dampfes näher, die mittlere Zahl an Molekülen,
Seite 326). In stark verdünnten Lösungen oder die in die Dampfphase übertreten, ist geringer,
wenn kaum Kräfte zwischen Lösungsmittel und und der Sättigungsdampfdruck erniedrigt sich
6-24 gelöstem Stoff wirken (wie bei der Mischung entsprechend (ÅEntropie, Seite 405).
Raoultsches Gesetz. Nach
zweier Gase), spielt die Natur der beteiligten Nicht nur Salz, sondern auch Zucker setzt
RAOULT ist der Dampfdruck
des Lösungsmittels pro- Substanzen keine Rolle, sondern nur die Zahl den Schmelzpunkt von Eis herab. 30 g Zucker
portional zu dessen Anteil der Teilchen des gelösten Stoffes. Man spricht auf 100 g Eis bewirken eine Senkung um 1,6 °C,
in der Lösung. Die Dampf-
daher von einer kolligativen Eigenschaft (lat. 30 g Salz eine Senkung auf –18 °C. Die unter-
druckkurve verschiebt
sich daher nach unten colligere, sammeln). Der französische Chemi- schiedliche Wirksamkeit der gleichen Menge
(rote Linie), was zu einer ker FRANCOIS RAOULT erkannte als erster, dass Zucker und Salz ist darauf zurückzuführen, dass
Schmelzpunkterniedrigung der Sättigungsdampfdruck eines Lösungsmittels 30 g Salz viel mehr Teilchen enthalten als 30 g
und einer Siedepunkterhö-
hung gegenüber dem rei- proportional zu dessen Stoffmengenanteil ist, Zucker, da das Gewicht eines Natrium- und ei-
nen Lösungsmittel führt. zumindest wenn die beschriebenen Einschrän- nes Chlorions wesentlich geringer ist als das Ge-
wicht eines Zuckermoleküls. Die Schmelzpunkt-
erniedrigung ist aber nur von der Teilchenzahl
abhängig. Man verwendet daher statt der Masse
des gelösten Stoffes dessen Molalität. Sie gibt
an, wie viele Teilchen des Stoffes in einem Ki-
logramm Lösungsmittel enthalten sind. Die
Teilchenzahl wird dabei in Mol ausgedrückt.
1 Mol eines Stoffes enthält 6,022 · 1023 Teilchen
(Å Mol – Ein Maß für die Stoffmenge, Seite
163). Da Salze wie Natriumchlorid in Wasser
in ihre Ionen zerfallen, ergibt sich die doppelte
Teilchenzahl. Die Erhöhung des Siedepunkts
fällt bei Wasser relativ gering aus. 1 Mol irgend-
eines in 1kg Wasser gelösten Stoffes erhöht
dessen Siedepunkt um 0,51 °C. Bei der üblichen
Menge Kochsalz im Nudelwasser siedet dieses
bei 100,17 °C statt bei 100 °C.
körper und Flüssigkeit entgegen wirken. Diese steigen die Adhäsionskräfte die Kohäsionskräfte,
Adhäsionskräfte können unterschiedlicher Natur so fließt der Tropfen auseinander und bildet
sein. Es kann sich um die von polaren Gruppen einen dünnen Film auf der Körperoberfläche.
handeln, wie sie zum Beispiel an Glasoberflächen Man spricht von „vollkommener Benetzung“.
auftreten, oder um Van-der-Waals-Kräfte. Dem- Die Tropfenform hängt davon ab, welche Größe
entsprechend ändert sich auch die Form, die ein der Benetzungsfläche bei gegebener Oberflä-
Tropfen Flüssigkeit an der Grenzfläche zu einem chenspannung der Flüssigkeit und Oberflächen-
Festkörper einnimmt (Å Abbildung 6-25). Über- energie des Festkörpers energetisch optimal ist.
324
Erde, Wasser, Luft und Feuer
3 25
KAPITEL 6 Wasser
überraschenden Phänomenen. So haben Forscher verteilten Anteile eines Stoffgemischs auch als
an der Technischen Universität Graz im Jahr Kolloide bezeichnet. Liegen alle Bestandteile ei-
2007 den Effekt genauer untersucht, dass Was- nes Gemischs in fester Form wie bei Gesteinen
ser unter dem Einfluß eines starken elektrischen vor, so heißen sie Gemenge, bei Metallen spricht
Feldes von 25 000 V/m in zwei nebeneinander man von Legierungen.
stehenden Gefäßen aufsteigt und spontan bis zu Wenn wir einen Bereich eines Stoffes als ho-
2,5cm lange freischwebende Verbindungstunnel mogen oder als heterogen bezeichnen, müssen
ausbildet (ÅAbbildung 6-28, Seite 325). wir allerdings beachten, dass wir die wahre Na-
tur der Materie wieder einmal idealisieren. Ob
Stoffgemische „homogen“ oder „heterogen“, kann durchaus
von der betrachteten Größenskala abhängen.
Ein schönes Durcheinander Zudem werden auch Bereiche mit schwachen
Gradienten der Eigenschaften oder geringen
dispers Weder Wasser noch andere Flüssigkeiten kom- Verunreinigungen meist noch als „homogen“
lat. dispergere, ausbreiten,
zerstreuen
men in der Natur absolut rein vor. Meist enthal- bezeichnet.
ten sie mehr oder weniger fein verteilte Anteile
von Fremdstoffen, sie sind Stoffgemische. Das
Kolloid gilt auch für die meisten von Menschen erzeug- Lösungen
(griech. kolla, Leim). In
einer festen, flüssigen
ten Flüssigkeiten. Nach Art der Verteilung von
oder gasförmigen Phase flüssigen oder festen Stoffen sowie nach Parti- Lösungen sind homogene Gemische aus einem
dispergierter Stoff mit ei- kelgröße unterscheidet man drei Arten, näm- oder mehreren gelösten Stoffen in einem Lö-
nem Teilchen- oder Tröpf-
lich Lösungen, Emulsionen und Suspensionen. sungsmittell (in der Fachsprache auch Lösemit-
chendurchmesser von ca.
1 nm – 10 μm. Die ersteren bilden ein homogenes Gemisch, tel), welches die Hauptkomponente des Mehr-
also eine einheitliche Phase. Die beiden anderen stoffsystems darstellt und seinen physikalischen
sind heterogene Gemische, an denen in aller Charakter bestimmt. Die gelösten Stoffe können
Regel Wasser maßgeblich beteiligt ist. Sowohl als Reinstoffe ursprünglich selbst Flüssigkeiten,
Emulsionen als auch Suspensionen bestehen aus aber auch Gase oder Feststoffe sein. In der Lö-
zwei nicht mischbaren Phasen: diejenige, die sung treten sie als Moleküle, Molekülgruppen
den größeren Anteil hat, heißt äußere Phase; oder Ionen auf, also als Partikel im Nanometer-
polar – unpolar
diejenige, die darin in Tröpfchen (Emulsion) oder maßstab, die mit normalen Mikroskopen nicht
Besteht in einem Teilchen
eine ungleichmäßige Körnchen (Suspension) schwebt, nennt man die erkennbar sind. Lösungsmittel sind in der Regel
Verteilung elektrischer innere Phase. Bei heterogenen Stoffgemischen Flüssigkeiten. Anhand der Größe gelöster Par-
Ladungen spricht man
sind die Bestandteile mit dem bloßen Auge oder tikel unterscheidet man manchmal heterogene
von einem polaren Teil-
chen. Dabei können die unter dem Mikroskop zu erkennen und die Mi- und homogene (Lösungs-)systeme. Bei ersteren,
Ladungen völlig getrennt schungen erscheinen trüb, wenn die Tröpfchen selteneren Vertretern sind größere Partikel unter
sein wie bei Ionen, oder bzw. Körnchen der innere Phase einen größeren einem Lichtmikrokop sichtbar. Bei den üblichen,
nur zwischen den Atomen
eines Moleküls mehr oder Durchmesser besitzen, als der Wellenlänge sicht- homogenen Lösungen haben die gelösten Parti-
weniger stark verschoben. baren Lichts (bis ca. 800 nm) entspricht und die kel eine Größe von ca. 3 nm und jeder Bereich
Teilchen mit gleichmäßiger Brechzahlen beider Phasen nicht genau gleich weist dieselbe Zusammensetzung auf, also jede
Ladungsverteilung werden
als unpolar bezeichnet. sind. Generell werden die dispersen, äußerst fein kleine Teilmenge hat dieselbe wie die gesamte
Die Bezeichnungen polar Lösung. Das bedeutet, im Gegensatz zu Emul-
bzw. unpolar werden sionen bestehen sie nur aus einer einheitlichen
nicht nur für die Teilchen
selbst, sondern auch für
Phase. Deshalb fallen aus Lösungen auch bei län-
Stoffe verwendet, die aus geren Standzeiten keine der gelösten Stoffe aus,
entsprechenden Teilchen und diese können auch nicht mit physikalischen
bestehen (z. B. ist Wasser
stark polar, Öl dagegen
Mitteln wie mit normalen Filtern aus der Lö-
6-29 sung entfernt werden, wohl aber mit speziellen
sehr unpolar).
Lösung, Emulsion, Suspension im Mikrometer-Maßstab.
Während Lösungen auf dieser Größenskala homogen Molekülfiltern („Molsieben“). Die Zugabe von
(einphasig) sind, finden sich in Emulsionen winzige Flüs- löslichen Stoffen beeinflusst den Siede- oder den
sigkeitströpfchen und in Suspensionen winzige Körnchen Gefrierpunkt sowie den Dampfdruck der jeweili-
von Feststoffen (blau: äußere Phase, beige: innere,
disperse Phase). Normalerweise liegen in der Praxis Mi- gen Lösung (ÅKasten Schmelzpunkterniedrigung
schungen dieser drei Idealtypen vor. und Siedepunkterhöhung, Seite 324).
326
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Lösungen können entweder physikalisch durch und andere Mineralstoffe. Insgesamt enthält eine
einfaches Verrühren erzeugt werden oder mit- Tasse mit 100 ml Tee ca. 100 mg gelöste Stoffe,
tels Wärme wie z. B. beim Kaffee- oder Tee- also nur etwa 1 Promille gelöste Anteile. Diese
Aufbrühen. Die durch Umrühren oder durch verleihen dem Getränk seine Farbe und je nach
Wärmezufuhr verursachte schnellere Bewegung Art und Anteil den typischen Geschmack.
der Wassermoleküle schafft zwischen ihnen win- Zu den leicht in Wasser löslichen Gasen
zigste Freiräume, in die wasserfremde Moleküle gehört Kohlendioxid, welches in Quell- oder
eingelagert werden können. Mineralwasser vorkommt und in Erfrischungs-
Bei der Bildung von Lösungen wird entwe- getränken künstlich angereichert wird. Austre-
der Wärme freigesetzt oder sie muss zugeführt tendes Gas ist gut an den Bläschen erkennbar,
3 27
KA
KAP
PIITE
TEL 6 Wa
Wasser
mit entsprechend hoher elektrischer Feldstärke Sulfat (SO4–) oder Phosphat (PO4–) bis hin zu
an ihrer Oberfläche bilden besonders stabile Ionen organischer Säuren, etwa der Essigsäure
Hydrathüllen aus. im Natriumacetat (CH3COO–). Auch Kationen
Die kleinsten denkbaren positiven Ionen, können komplex zusammengesetzt sein.
die H+-Wasserstoffionen, existieren in wässriger Um in Wasser gut löslich zu sein, müssen
6-32 Lösung überhaupt nicht. Das winzige, von allen die entsprechenden Stoffe aber nicht unbedingt
Lösen von Ionenkristallen. Elektronen befreite Teilchen (Proton) nistet sich ionisch vorliegen. Als polare Flüssigkeit löst
Wassermoleküle können
sich unter Energiegewinn
sofort in der Elektronenhülle eines einzelnen Wasser auch andere polare Stoffe wie etwa Glu-
mit ihrer negativ gela- Wassermoleküls ein und bildet mit ihm zusam- cose oder Harnstoff aufgrund von Dipol-Dipol-
denen Seite an Kationen men ein sogenanntes Hydronium-Ion (H3O+), Wechselwirkungen sehr leicht. Diese Stoffe be-
bzw. mit ihrer positiven
Seite an Anionen anlagern 6-33 sitzen am Molekülgerüst polare Atomgruppen
und deren Ladung so zum Hydrathüllen. Kleinere Ionen bilden festere Hydrathüllen. wie – OH, – NH2 oder – NO2. Sie zerfallen im
Teil kompensieren. Diese Sie bestehen aus schwach gebundenen Wassermolekülen, Wasser nicht in einzelne Ionen. Ein für die Auf-
Anlagerung (Hydratation) die aufgrund der Wärmebewegung immer wieder aus-
getauscht werden (die dadurch vergrößerten effektiven lösung ausreichender Energiegewinn kommt
führt zur Auflösung des
Ionengitters. Ionenradien sind hier symbolisch bläulich dargestellt). aber bereits dadurch zustande, dass sich Was-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
328
Erde, Wasser, Luft und Feuer
sermoleküle an Bereiche der Moleküloberfläche lieben Wasser und Fette, Seite 331). Sie bilden
anlagern, die eine höhere oder niedrigere Elek- Bindungen mit beiden Komponenten und stabi-
tronendichte (eine negative oder positive Parti- lisieren so die Emulsion.
alladung) aufweisen. Auch Gase können sich je Diejenige Flüssigkeit, in der die zweite dis-
nach Druck und Temperatur in Wasser lösen. pergiert ist, wird als äußere oder kontinuierliche
Phase bezeichnet. Sie bildet meist die Haupt-
Milch (O
O/W
/W) Butt
But
Bu tter
tte
er (W/
W/O
O))
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
3 29
KAPITEL 6 Wasser
ralfarben letztlich zu Weiß. Mikroemulsionen zent aus Wasser in Form fein verteilter, mikro-
hingegen erscheinen klar und gehen im Grenzfall skopischer Kügelchen. Die restlichen, fettfreien
molekular kleiner Tröpfchen in Lösungen über. Anteile der Trockenmasse bestehen aus Eiweiß,
Eine Besonderheit ist die Verwendung fester Lactose, Mineralstoffen und Vitaminen. Weitere
Emulgatoren, was z. B. seit fast hundert Jahren wichtige Vertreter dieses Typs sind Margarine,
mit Senfpulver für Mayonnaise praktiziert wird. kosmetische und medizinische Salben, Sauce
Sie ergeben besonders langzeitstabile Emulsionen. Hollandaise, Leberwurst und bestimmte Typen
von Magma Å(Fließende Gesteine, Seite 356).
Wasser-in-Öl-(W/O)-Emulsionen
330
Erde, Wasser, Luft und Feuer
6-36 Wort tensio, (An)Spannung zurück und wird Ein- und Zweiphasensys-
Blutsenkung. Die Sedi- teme
mentationsgeschwindig-
bei Nichtlebensmitteln sowie industriellen Pro-
keit von Blut, das durch duktionsprozessen verwendet. Eines der ältes-
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
einen Natriumcitrat-Zu- ten bekannten Tenside ist die gewöhnliche Seife 1 Phase
satz am Gerinnen gehin-
(Å Verseifung, Seite 339). Bis Anfang des 20. Lösung Feststoff /
dert wurde, gibt Hinweise
auf entzündliche Prozesse Jahrhunderts war sie auch das wichtigste Tensid. Flüssigkeit
und andere Krankheiten. Inzwischen sind andere, modernere Tenside ent- Lösung Flüssigkeit /
Flüssigkeit
wickelt worden. Bei der Fotoentwicklung werden
Lösung Gas /
sie als Netzmittel und bei der Herstellung von Flüssigkeit
länger dauert dieser Prozess. Im Labor kann die Lacken als Dispergiermittel bezeichnet. Letztere 2 Phasen
Flüssigkeit nach Abschluss des Trennvorgangs sollen Pigmentteilchen im flüssigem Lack in der Gemenge Feststoff /
abgegossen werden (Dekantieren). Dieser Vor- Schwebe halten. Feststoff
gang spielt z. B. bei Blutsenkungen (ÅAbbildung In der Lebensmittelindustrie wird anstelle von Suspension Feststoff /
Flüssigkeit
6-36) eine wichtige Rolle. In der Polymerchemie Tensid der Begriff „Emulgator“ verwendet. Er lei-
Suspension Feststoff /
werden Sedimentationsprozesse zur Erzeugung tet sich von „Emulsion“ ab, letzterer geht auf das Gas
von Kunststoffen wie Polyacrylaten (Å Seite neulateinische emulsum zurück, was – bezogen Emulsion Flüssigkeit /
301) genutzt. auf das trübe milchige Aussehen von Emulsionen Flüssigkeit
Den Suspensionen begegnen wir außerdem – Abgemolkenes bedeutet. Nebel Flüssigkeit /
Gas
bei so unterschiedlichen Stoffen wie Wand- und Tenside werden gegenwärtig jeweils etwa zur
Schaum Gas /
Deckfarben, Weizen- und Zoiglbieren, Orangen- Hälfte aus petrochemischen und oleochemischen Flüssigkeit
saft, Kakao, Treibsand sowie staubreicher Luft. Grundstoffen erzeugt. Letztere sind nachwach- Schwamm Flüssigkeit /
Die nicht-newtonsche Flüssigkeit (Å Seite sende Rohstoffe wie Kokos- oder Palmkernöl, Feststoff
311) Blut ist eine typische Suspension. Blut aber auch Stärke aus Mais oder Kartoffeln. Ten- Schwamm Gas /
Feststoff
besteht zu 44 Prozent aus zellulären Bestandtei- side auf oleochemischer Basis sind sanfter, haut-
len, dem Hämatokrit, sowie zu 56 Prozent ent aus
aus verträglicher
verträgl und biologisch besser abbaubar.
dem Blutplasma, einer wässrigen Lösung Tenside und Emulgatoren sind Stoffe,
mit einem Wassergehalt von 90 Pro- die ein polares, d. h. wasserfreundli-
zent. Aufgrund der enthaltenen roten ches und ein unpolares, fettfreundliches
Blutkörperchen (Erythrozyten) zeigt Blut Ende besitzen (Å Abbildung 6-37). Der-
eine höhere Viskosität als das Plasma. Die artige Hilfsstoffe werden in verschiedenen
Viskosität des Bluts bei 37 °C ist mit einem Wer- Bereichen eingesetzt: Als Textilhilfsmittel, als
tebereich von 4 – 25 · 10–3 N · m–2 variabel. Sie Zusatzstoffe, die eine statische Aufladung ver-
hängt von den Strömungsverhältnissen ab, die hindern sollen (Antistatika) und als Flotations-
wiederum vom Durchmesser der Blutgefäße und chemikalien (Å Aufarbeitung und Verhüttung,
der jeweiligen Menge der suspendierten Zellen Seite 254). Die Flotation ist ein Trennver-
beeinflusst werden. Sie ist erheblich höher als fahren für feinkörnige Feststoffe nach ihrer
die des Wassers mit 0,891 · 10–3 N·m–2 bei 25°C, Polarität. In der Lebensmittelindustrie dienen
folglich ist Blut wirklich „dicker als Wasser“! Emulgatoren zur Herstellung von Emulsionen;
in Wasch- und Reinigungsmitteln bilden Ten-
side die wichtigsten waschaktiven Wirkstoff-
Tenside – gruppen.
sie lieben Wasser und Fette Tenside bzw. Emulgatoren reduzieren stets
die Grenzflächen- bzw. Oberflächenspannung
Sie haben sie heute sicher schon verwendet: Ohne von Wasser und in Emulsionen der einzelnen
Seifen und andere Wasch- und Reinigungsmittel Tröpfchen. Sie sorgen dafür, dass neu ent-
wäre moderne Hygiene undenkbar. Dabei han- standene Tröpfchen der inneren Phase einen
delt es sich um grenzflächenaktive Substanzen Abstand voneinander halten und nicht wie-
mit unterschiedlichen Einsatzbereichen, die nicht der zusammenfließen. So wird erreicht, dass
nur im Haushalt gebraucht werden, sondern all- diese sich fein und gleichmäßig in der äußeren
6-37
gemein als chemische Hilfsstoffe bei vielen Mi- Phase verteilen. Aus eigentlich nicht misch-
Lecithine. Natürliche Ten-
schungsvorgängen. Der von E. GÖTTE eingeführte baren Ölen/Fetten auf der einen und Wasser side und Bestandteile von
Sammelbegriff Tenside geht auf das lateinische auf der anderen Seite entstehen dadurch mehr Zellmembranen.
331
KAPITEL 6 Wasser
332
Erde, Wasser, Luft und Feuer
333
KAPITEL 6 Wasser
Oleum läuft ab. Man nennt eine solche Behandlung von sein Haus heizen. Obwohl es dafür natürlich
Achtung: In der Chemie
wird wegen ihrer hohen Oberflächen hydrophobieren. zu schade ist.
Viskosität auch rauchende Das Olivenöl (von lat. oleum bzw. altgriech.
Schwefelsäure als Oleum elaion) ist der Prototyp und Namensgeber vieler
bezeichnet, obwohl diese Warum bilden eingetrocknete Lösungen
sich sehr wohl mit Wasser eigentlich immer ringförmige Ränder? Flüssigkeiten, die unpolar sind, also mit Wasser
mischt und daher nicht zu nicht mischbar. Im vorigen Abschnitt sahen wir,
den Ölen gehört. Mit dieser Frage brachte uns das damals acht- dass die Ursache für dieses wasserscheue Verhal-
jährige Kind eines der Autoren in Verlegenheit. ten der Öle weniger in ihnen selbst zu suchen
Denkt man über die Lösungsmittelkonzentration ist, als darin, dass Wassermoleküle es vorziehen,
Öle in der Luft über einem eintrocknenden Fleck untereinander energetisch sehr günstige Wasser-
Fette Öle nach, ist dies auf den ersten Blick seltsam. Na- stoffbrücken zu bilden, ein Spiel, von dem die
Mineralöle
Ätherische Öle
türlich müsste die Luft am Rand eines Wasser- unpolaren Ölmoleküle ausgeschlossen sind. Sie
Silikonöle flecks weniger feucht sein und deshalb schneller müssen sich deshalb mit den viel schwächeren
verdunsten als in der Mitte. Gelöste Stoffe sollten Bindungen zwischen ihresgleichen begnügen.
sich demnach in der Mitte eines Flecks ansam-
meln. Das Rätsel wurde erst Ende der 1990er Öl ist nicht gleich Öl
Jahre an der Universität von Chicago mit Hilfe
Energiegehalt von Fetten einer Computersimulation gelöst. Dahinter steckt Man kann provokant behaupten, ohne Öle
und fetten Ölen: der Kapillareffekt des flachen Keils am Rande würde unser modernes Leben nicht funktio-
38,9 kJ (9,3 kcal) pro
eines eintrocknenden Flecks. Das Lösungsmittel nieren, so sehr sind sie als Helfer in vielen all-
Gramm
und mit ihm die gelösten Substanzen werden beim täglichen Lebensbereichen vertreten, von der
Eintrocknen in den Spalt zwischen Flüssigkeits- Nahrungsaufnahme bis zur Mobilität. Es sind
rand und Grundfläche gezogen. bei genauerer Betrachtung chemisch recht un-
terschiedliche unpolare Flüssigkeiten, die unter
anderem wegen ihrer oft zähflüssigen Konsistenz
als Öle bezeichnet werden (ÅRandspalte). Meist
sind sie auch keine Reinsubstanzen, sondern
6-44
Trocknungsränder. Ob- komplexe Gemische aus vielen Komponenten.
wohl der Partialdampf- Öle werden nach ihrer Herkunft, nach ihrer
druck in der Luft über der chemischen Zusammensetzung und nach ihrer
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
Flüssigkeit am Fleckenrand
( 1) niedriger sein muss
(p Verwendung in vier Klassen eingeteilt:
als in der Mitte ((p2), In unserer Küche benutzen wir Speiseöle zur
trocknet der Rand zuletzt Zubereitung und zur Verfeinerung. Dies sind
ein. Grund ist der Kapillar-
effekt. Durch ihn strömt
sogenannte fette Öle, flüssige Fette meist pflanz-
Flüssigkeit aus der Flecken- lichen Ursprungs. Von Fetten spricht man, wenn
mitte zum Rand nach. das fette Öl bei Raumtemperatur fest ist.
Viele Gewürze enthalten als charakteristische
Öle, Fette und ihre Abkömmlinge Komponenten sogenannte ätherische Öle, die
mit den fetten Ölen chemisch wenig gemein ha-
Ohne sie würde das Leben anders ben. Um zu Einladungen, zu Festen oder zu Ren-
verlaufen dezvous zu gehen, benutzen Damen betörend
duftende Parfüms und Herren herb riechende
Italienisches Essen ohne Olivenöl? Undenkbar. Rasierwässer. Auch hier sind diverse ätherische
Wer einmal in Italien oder Griechenland frisch Öle die wichtigsten Bestandteile.
aus der Presse rinnendes Olivenöl auf Weißbrot In unserer Zeit und Welt sind Autos als
probiert hat, der weiß es zu schätzen – ein Ge- Fortbewegungsmittel nicht wegzudenken. Sie
nuss! Aber nicht nur in der Küche wird es ver- werden von Derivaten des Erdöls angetrieben,
wendet. Olivenöl ist ein wahres Allzweckwun- die als Mineralöle bezeichnet werden. Dies gilt
der. Es eignet sich zum Schmieren knarrender auch, wenn sie zähflüssig sind wie das Dieselöl,
Türen, fürs Abschminken, als Schuhputzmittel das unter der Bezeichnung Heizöl in der kalten
und sogar als Waffenöl für Mafiosi. Zur Not Jahreszeit auch einen Großteil der Heizanlagen
kann man im Dieselmotor damit fahren und befeuert. Fast alle unsere Maschinen und Geräte
334
Erde, Wasser, Luft und Feuer
benötigen zudem Schmieröle, um zu funktionie- ist ihre Neigung, beim längeren Stehen an der
ren. Die allermeisten davon sind ebenfalls Mi- Luft, aber auch bei zu viel Wärme und Licht, zu
neralölderivate und unterscheiden sich chemisch verharzen. Dieser Vorgang wird als „Trocknen“
wiederum von den vorgenannten Gruppen. bezeichnet. Durch chemische Reaktionen wie
Oft begegnet uns an Tankstellen auch Wer- Oxidation und Polymerisation (ÅPolymere, Seite
bung für synthetische Öle, Öle auf Silikonbasis, 292) an den Doppelbindungen ungesättigter
deren besonders gute Laufeigenschaften ange- Fettsäuren werden diese in thermisch stabilere,
priesen werden. Sie bilden die vierte Gruppe. vernetzte Substanzen überführt.
Außer den Silikonölen werden wir im Fol- Jede Pflanze liefert ein bestimmtes arteigenes
genden diese Flüssigkeiten näher kennenlernen. Spektrum an Ölen, die durch unterschiedliche
Mischung von gesättigten und ungesättigten
Speiseöle – Fettsäuren gekennzeichnet sind. Bei den wich-
zur Ernährung und für den Geschmack tigsten Ölpflanzen handelt es sich um sieben
verschiedene Fettsäuren.
Menschen nutzen Speiseöle pflanzlicher und tie-
rischer Herkunft seit Jahrtausenden zur Zuberei- Herstellung von Speiseölen 6-45
tung oder zur Verfeinerung von Speisen. Öle be- Alkohole. Alkohole sind
sitzen einen sehr hohen Nährwert (ÅRandspalte Die Herstellung von Pflanzenölen mittels Pres- durch Hydroxygruppen
links), die meisten Sorten lassen sich monate- sung der zerkleinerten Früchte ist schon seit charakterisiert. Der Stamm
vieler Alkohole sind Koh-
oder sogar jahrelang lagern. Für unsere Vor- Urzeiten bekannt. Heutzutage werden dazu so- lenwasserstoffketten, die
fahren waren Öle und Fette außerdem wichtige genannte Spindelpressen verwendet. Die stark sogenannten Alkylgrup-
Energielieferanten für Feuer und Licht. Speiseöle ölhaltigen Oliven eignen sich besonders für diese pen. Es gibt auch Alkohole
mit mehr als einer Hydro-
und Speisefette werden aus diversen ölhaltigen Herstellungsweise. Entscheidend für die Qualität xygruppe, zum Beispiel das
Früchten oder Samen von Ölpflanzen gewonnen des Öls ist die Temperatur beim Pressen. Von zweiwertige Glycol.
und aus Tierprodukten wie Fischölen oder Wal- Kaltpressung darf nur geredet werden, wenn
tran erzeugt. Etwa 50 Pflanzenarten liefern für keine Wärme von außen zugeführt wird. Ge-
die menschliche Ernährung geeignete Fette und nerell sollte die Temperatur 45 °C nicht über-
Öle. Die bis zu einer Temperatur von 20 °C fes- schreiten. Kaltgepresstes natives Olivenöl darf
ten Pflanzenprodukte nennt man Pflanzenfette; anschließend nur gefiltert werden, um Pflan-
sind sie bei dieser Temperatur flüssig, so heißen zenreste u. Ä. zu entfernen. Den Zusatz „extra“
sie Pflanzenöle. Ihre wichtigsten Lieferanten sind darf das native („vergine“) Öl nur erhalten,
Ölpalmen, Sojabohnen, Sonnenblumen, Flachs,
Oliven, Raps, Erd- und Kokosnüsse. Zu den
Fruchtfleischölen gehören Palm- und Olivenöl, Funktionelle Gruppen
zu den Samenölen Sonnenblumen- und Sojaöl.
Viele Ölpflanzen werden in verschiedenen Kli- Funktionelle Gruppen sind in der Chemie
mazonen angebaut. Atomgruppen bzw. Molekülteile, welche die
Fette und fette Öle sind sogenannte Ester des Stoffeigenschaften und das Reaktionsverhal-
dreiwertigen Alkohols Glycerin mit drei langket- ten wesentlich bestimmen. Meist wird der
tigen Carbonsäuren, die als Fettsäuren bezeich- zugehörige Stoffname zusammengesetzt aus
net werden (ÅKasten Funktionelle Gruppen und dem Namen einer Stammverbindung und ei- 6-46
Å Kasten Fettsäuren, Seite 336). Chemiker nen- nem Präfix oder Suffix, das die funktionelle Carbonsäuren. Car-
nen Fette daher auch Fettsäuretriglyceride, die Gruppe kennzeichnet. Beispiele funktioneller bonsäuren sind durch
Carboxygruppen cha-
offizielle Bezeichnung lautet Triacylglyceride. Gruppen sind die Hydroxygruppe (–OH) der
rakterisiert. Der Stamm
Sowohl Alkohole als auch Carbonsäuren sind Alkohole mit dem Suffix -ol (Å Abbildung vieler Säuren sind dabei
Kohlenwasserstoffverbindungen mit geringen 6-45), die Carboxygruppe (–COOH) mit dem Kohlenwasserstoffketten.
Carbonsäuren mit zwei
Anteilen an Sauerstoff. Die wenigen Sauerstoffa- Suffix -carbonsäure (Å Abbildung 6-46), die
Carboxygruppen nennt
tome spielen jedoch durch ihre Tendenz, Elektro- Ketogruppe –CO– mit dem Suffix -on, deren man Dicarbonsäuren. Ana-
nen stärker als Kohlenstoff oder Wasserstoff an bekanntester Vertreter das Aceton ist. Eine log gibt es Tricarbonsäuren
sich zu binden, eine wichtige Rolle für das mo- im Zusammenhang mit Fetten wichtige funk- usw. „Ungesättigt“ nennt
man Carbonsäuren, deren
lekültypische Verhalten der jeweiligen Fette oder tionelle Gruppe bilden die Carbonsäureester C-Kette Doppelbindungen
Öle. Eine wichtige Eigenschaft pflanzlicher Öle (–COO–) mit dem Suffix -oat. enthält.
335
KAPITEL 6 Wasser
Fettsäuren
Fettsäuren sind in Form der Triglyceride we- krankheiten, weshalb die Deutsche Gesellschaft
sentliche Bausteine von Nahrungsfetten, den für Ernährung (DGE) empfiehlt, den Gehalt
aufgrund ihrer hohen Energiedichte wichtigs- an gesättigten Fettsäuren auf 10 Prozent aller
ten Energieträgern für die menschliche Ernäh- aufgenommenen Fette zu beschränken.
rung. Triglyceride setzen sich aus Glycerin, Ungesättigte Fettsäuren findet man vorwie-
einem dreiwertigen Alkohol (Å Abbildung gend in pflanzlichen Samenölen und in fettem
6-47) sowie drei (tri) mittels Veresterung an- Fisch, insbesondere Öle haben einen hohen Ge-
gelagerten Fettsäuren zusammen. Fettsäuren halt daran. Sie unterscheiden sich von den gesät-
selbst sind Monocarbonsäuren (Å Abbildung tigten durch eine oder mehrere C=C-Doppelbin-
6-46, Seite 335). Die Summenformel für ge- dungen in ihren Ketten, wie die in allen natürli-
sättigte Fettsäuren lautet: CnH2n+1 – COOH, chen Fetten vorkommende einfach ungesättigte
für ungesättigte C n H 2 n- 1 , 3 , 5 – COO H. Ölsäure (Omega-9-Fettsäure, C17H33COOH)
Nach Anzahl der C-Atome spricht man von oder die zweifach ungesättigte Linolsäure
niederen (bis 7 C-Atome), mittleren (8 – 12 (Omega-6-Fettsäure, C17H31COOH). Letztere
C-Atome) und höheren Fettsäuren; je lang- ist in Sonnenblumen- und Distelöl in großer
kettiger sie sind, desto schwerer sind sie beim Menge enthalten und ist wichtiger Bestand-
6-47 Verdauungsvorgang aufzuspalten und damit teil der Haut. Einige mehrfach ungesättigte
Glycerin und Fette. Gly-
cerin (oben) ist ein drei-
zu verbrennen. Fettsäuren wie die Linolsäure gehören zu den
wertiger Alkohol mit drei Fettsäuren werden in gesättigte und (mehr- lebenswichtigen („essenziellen“) Fettsäuren,
Hydroxygruppen (–OH). fach) ungesättigte unterteilt (Å Abbildung die nicht im Körper synthetisiert werden kön-
In Fetten sind alle drei
6-48). Gesättigte Fettsäuren haben keine nen, sondern mit der Nahrung aufgenommen
funktionellen Gruppen mit
langkettigen Carbonsäu- C=C-Doppelbindung und kommen vorwie- werden müssen. Die Bezeichnung „Omega-n“
ren verestert, die hier die gend in tierischen Fetten wie Fleisch, Schmalz, kenzeichnet die Position der Doppelbindung.
Kohlenwasserstoffketten unbehandelter Milch und Butter vor. Die ein- Je mehr Doppelbindungen sie aufweisen, desto
R1, R2 und R3 beitragen
(unten). Durch Ersatz einer fachste gesättigte Fettsäure ist die Buttersäure reaktionsfreudiger sind diese Fettsäuren. Sie
der Carbonsäureketten (C3H7COOH), deren Ester in Milchfett und sind leichter verdaulich und werden bevorzugt
durch einen Phosphor- Schweiß vorkommt; weitere Vertreter sind die zum Aufbau von Zellmembranen verbraucht.
säureester erhält man die
oben genannten Lecithine Palmitinsäure (C15H31COOH) sowie die Ste- Aus Linolsäure synthetisiert der Körper eine
(ÅAbbildung 6-37). arinsäure (C17H35COOH), deren Ester beide wichtige Klasse von Gewebehormonen, die so-
in Tieren als auch in Pflanzen vorkommen. genannten Prostaglandine, die unter anderem
Cholesterin Gesättigte Fettsäuren sind sehr reaktionsträge, bei Entzündungsprozessen eine Rolle spielen.
Cholesterin wird zwar
ebenfalls zu den Nah-
geruchlos und bei Zimmertemperatur fest. Ins- Außerdem dienen Nahrungsfette im Körper als
rungsfetten gezählt, ist besondere die langkettigen Fettsäuren werden Organschutz z. B. an den Nieren. Fettlösliche
aber ein polyzyklischer bei zu großer Aufnahmemenge mit der Nah- Vitamine wie die Vitamine A, D, E und K oder
Alkohol.
rung in Fettreserven gespeichert. Diese De- lipophile Aroma- und Geschmacksstoffe kön-
potbildung führt zur Fettleibigkeit und Folge- nen nur mit ihrer Hilfe aufgenommen werden.
6-48
Fettsäuren. Moleküle mit Kohlenwasserstoffketten, zu denen auch die Fettsäuren gehören, werden oft als Zickzacklinie ohne C- und H-Atome darge-
stellt („Skelettformel“) da die Bindungen zwischen den Kohlenstoffatomen gewinkelt sind. Gesättigte Fettsäuren wie die Stearinsäure enthalten keine
Doppelbindungen, im Gegensatz zur zweifach ungesättigten Linolsäure mit zwei Doppelbindungen. Die Position der ersten Doppelbindung wird bei
Fettsäuren vom der Carboxygruppe entgegengesetzten Ende der Kette aus gezählt. Dieses Ende wird nach dem letzten Buchstaben des griechischen Al-
phabets mit Omega (ω) bezeichnet. Linolsäure ist daher eine Omega-6-Fettsäure. Da an den Doppelketten in der so genannten cis-Konformation die
Kette meist abgeknickt ist (hier nicht dargestellt), sind die Moleküle ungesättigter Fettsäuren im Allgemeinen nicht geradlinig und können sich nicht
gut parallel zueinander ausrichten. Sie üben daher geringere Van-der-Waals-Kräfte aufeinander aus als ungesättigte Fettsäuren; ihr Schmelzpunkt ist
deshalb geringer. Die Erhöhung des Schmelzpunkts von Fetten durch Auflösung der Doppelbindungen wird als „Härten“ bezeichnet.
336
Erde, Wasser, Luft und Feuer
337
KAPITEL 6 Wasser
Zimmertemperatur läuft ein Umsetzungsprozess stellten schon eine seifenartige Substanz aus
ab, bei dem im Öl das Glycerin durch Metha- pflanzlichen Ölen und Pottasche (Kaliumcar-
nol ausgetauscht wird. In Deutschland und im bonat, K2CO3) her. Sie sahen diese pastöse Sub-
übrigen Europa wird hauptsächlich Rapsöl um- stanz eher als Heilmittel denn als Reinigungs-
geestert, aber auch Sonnenblumenöl und andere mittel an. Sie erkannten aber nicht, dass Seife
Öle können genutzt werden. Raps enthält ca. Schmutz, Drüsentalg und Keime von der Haut
40 – 45 Prozent Öl, die Ölmoleküle bestehen zu entfernte und so eine Heilung einleitete. Auch
95 Prozent aus 18-C-atomigen Kohlenwasser- die alten Ägypter stellten seifenähnliche Subs-
stoffketten. In den USA wird meistens Sojaöl zur tanzen eher zu Heilzwecken her, benutzten sie
Erzeugung von Biodiesel verwendet. Hauptzweck aber schon zur Reinigung von Textilien. Ähnlich
der Umesterung ist es, die für Seriendieselmoto- nutzten auch die alten Griechen die Vorläufer
ren ungeeigneten Pflanzenöle zu einem brauch- der heutigen Seife. Die römischen Frauen säu-
baren Kraftstoff zu verbessern. Vor allem wird berten ihre Wäsche und salbten ihre Körper
die Viskosität von 60 auf 4 mPa·s herabgesetzt. mit Pflanzenölen. Seife lernten die Römer bei
Und man erhält einen Kraftstoff mit einer Dichte Germanen als pastenartige Kaliseife und bei Gal-
von 0,88 g·cm–3, guten Fließ- und Schmiereigen- liern als feste Natronseife zum Rotfärben von
schaften, mit höherem Energiegehalt als Ben- Haaren kennen. Erst der aus Kleinasien stam-
zin und – infolge eines Sauerstoffgehalts von mende Arzt CLAUDIUS GALENUS (Galen, ÅKasten
11 Prozent – mit geringerer Rußbildung als Die Ordnung der Vier, Seite 33) entdeckte die
bei mineralischem Dieselöl. Außerdem besitzt Waschwirkung dieser Substanz.
Biodiesel eine hohe Zündwilligkeit (Cetanzahl Seife in der heute bekannten Zusammenset-
54 – 58, Å Kasten Oktanzahl und Cetanzahl, zung geht auf arabische Seifensieder zurück, die
Seite 348). Der Kraftstoff führt keinen Schwefel, im 7. Jahrhundert n. Chr. erstmals gebrannten
kein Benzol und keine Aromate, ist daher nicht Kalk mit Olivenöl kochten. Durch Araber ver-
giftig und biologisch gut abbaubar. mittelt, gelangten Kenntnisse des Seifensiedens
In den letzten Jahren ist es ruhiger um Bio- nach Spanien und von dort nach Frankreich, wo
diesel geworden, weil sich einige Nachteile sich in den folgenden Jahrhunderten Zentren
herausgestellt haben. Die Kohlendioxid- und der Seifenherstellung entwickelten. War das Wa-
Energiebilanz ist nicht so vorteilhaft gegenüber schen mit Seife in mittelalterlichen Badehäusern
traditionellen Kraftstoffen, wenn man den Anbau und bei Adligen zunächst noch sehr beliebt, so
des Rapses einbezieht. Inzwischen hat man fest- änderte sich das mit dem Ausbruch von Pest
gestellt, dass bei der Verbrennung von Biodiesel und Cholera im 14. Jahrhundert schlagartig.
krebserregende Stoffe wie Formaldehyd oder Nun befürchteten damalige Menschen, dass mit
Acetaldehyd freigesetzt werden können. Ein gro- dem Wasser krankmachende Substanzen durch
ßes Problem ist die Konkurrenz um Ackerflächen Hautporen in den Körper eindringen könnten.
für Nahrungspflanzen und die zu geringe Zahl Ärzte und Mediziner warnten vor dem Gebrauch
von Anbauflächen für Biodiesel-Pflanzen. von Wasser und Seifen zur Körperreinigung, letz-
tere wurde lediglich zum Bleichen von Wäsche
Seifen – genutzt. In England wurden Frauen, die Parfüm
Mittler zwischen den Welten und Seife benutzten, zu Hexen erklärt:
Jeden Tag säubern wir uns die Hände, duschen Jede Frau, die einen Untertan Ihrer Majestät mit
oder waschen uns oder geben Waschpulver in Hilfe von Duftwässern, Schminke oder parfü-
die Waschmaschine. Für alle diese Tätigkeiten mierter Seife verführt oder ihre Ehre auf diese
Weise verrät ...,wird gemäß dem Gesetz gegen
benutzen wir das Reinigungshilfsmittel Seife. Hexenkraft bestraft ... und die Ehe wird für
Ohne Zusatz dieser Substanz zum Wasser ver- ungültig erklärt“.
mögen wir weder die Hände noch die Wäsche
sauber zu bekommen. Es war der französische König Ludwig XIV.,
Der heutige Begriff Seife geht vermutlich auf der der Seife zu einer Renaissance verhalf. Er
das althochdeutsche Wort seif(f)a, (tröpfelndes) erließ 1688 ein bis heute gültiges Reinheitsge-
Harz zurück, doch seifenartige Substanzen wa- bot, nach dem hochwertige Seife aus mindestens
ren bereits in der Antike bekannt. Die Sumerer 72 Prozent reinem Öl bestehen musste. Auf-
338
Erde, Wasser, Luft und Feuer
grund der kostspieligen Rohstoffe und Her- bestehenden Katalysators bei 10bar Druck. Nach
stellung war Seife bis Mitte des 19. Jahrhun- dem Abkühlen werden die wasserunlöslichen
derts ein Luxusgut. Erst mit der Herstellung Fettsäuren (Oberphase) vom wasserlöslichen Gly-
von künstlichem Soda durch den Franzosen cerin (Unterphase) getrennt. In einem zweiten
NICOLAS LEBLANC (1742 – 1806) und nach der Reaktionsschritt werden dann die Fettsäuren mit
Einführung eines verbesserten Herstellungs- Natronlauge neutralisiert, d. h. in Seife umgewan-
verfahrens durch den belgischen Chemiker delt. Neben diesem sogenannten Heißverfahren
ERNEST SOLVAY (1838 – 1922) konnten ausrei- wird auch noch das Kaltverfahren angewandt,
chende Mengen dieses Reinigungsmittels erzeugt das fast völlig ohne Wärmezufuhr auskommt.
werden. Gleichzeitig wuchs mit einem neuen Das Gemisch aus Fetten bzw. Ölen und Laugen
Hygieneverständnis in Europa das Bedürfnis, wird auf maximal 50 – 60 °C erwärmt und benö-
sich und die Kleidungsstücke häufiger und besser tigt nach der Abkühlung etwa 4 – 6 Wochen zur
zu waschen. Die damals produzierte Seife war vollen Seifenentwicklung. Das anfallende Glyce-
das erste industriell erzeugte Tensid. rin wird nicht abgeführt, sondern bleibt in dem
Gemisch und macht damit die Seife milder und
Verseifung hautschonender.
Seifen sind Verbindungen aus Alkalimetallionen Woher Seife weiß, was Schmutz ist
mit Fettsäureresten, also Natrium- oder Kalium-
salze langkettiger Fettsäuren mit mindestens 12 Seifen disoziieren in Wasser in negativ geladene
C-Atomen (Å Kasten Fettsäuren, Seite 336). Ihre Fettsäureionen und positive geladene Alkaliio-
Rohstoffe sind tierische Fette wie Talg, Fett oder nen. Fettsäureionen sind anionische ÅTenside
Abfallfette und pflanzliche Produkte wie Kokos- (Seite 331), weshalb sie Schaum bilden können
fett, Palm- oder Olivenöl. Diese Ausgangsstoffe (ÅAbbildung 6-40, Seite 332). Auch ihre Reini- 6-50
Natriumlaurat. Das Nat-
werden mittels Kochen in einer Lauge in ihre gungswirkung ist auf die Kombination von lipo- riumsalz der Laurinsäure
Bestandteile Glycerin und Fettsäure aufgespalten. philem und hydrophilem Ende der Fettmoleküle (C11H23COOH). Diese
Diese chemische Reaktion einer hydrolytischen zurück zu führen. Da sich Seifenmoleküle mit Carbonsäure ist in Palm-
kernöl und Kokosfett in
Spaltung von Fettsäureestern heißt Verseifung. dem lipophilen Ende nach außen dicht auf der hohen Anteilen vorhan-
Als Zwischenprodukt erhält man eine zähflüssige Wasseroberfläche anordnen, lockern sie die fes- den.
Emulsion (Å Emulsionen, Seite 329), Seifen- ten Wasserstoffbrückenbindungen zwischen den
leim genannt. Dieser Seifenleim wird in Salz- Wassermolekülen und setzen so die Oberflächen-
wasser gekocht. Da Seife in Salzlake unlöslich spannung herab. Im Inneren der Waschflüssigkeit
ist, schwimmt sie oben auf dem Sud (Oberlauge) schließen sie sich zu kugelartigen Gebilden aus
und kann abgeschöpft werden. Die überschüssige 50-1000 Seifenanionen, den Micellen zusammen
Lauge, Glycerin und gelöstes Kochsalz werden als (ÅAbbildung 6-38, Seite 332).
sogenannte Unterlauge abgeführt. Ein erneutes Da Seife eine geringere Oberflächenspan-
Kochen in Salzlake (Aussalzen) ergibt letztlich nung als Wasser hat, kann sie sich als dünner
Kernseife. Diese wird getrocknet und mit äthe- Film zwischen Schmutz und Faser oder Haut
rischen Ölen und Farbstoffen versetzt. Die Fes- schieben. Sie erniedrigt damit die Grenzflächen-
tigkeit der Seife hängt von der Kettenlänge der spannung an den Phasengrenzen Öl-Wasser,
jeweiligen Fettsäuren ab. Wasser-Faser und Schmutz-Faser und ermög-
Benutzte man beim traditionellen Verkochen licht es damit dem Wasser im ersten Schritt,
von Triglyceriden Natronlauge (in Wasser gelös- Faser bzw. Hautoberfläche völlig zu benetzen.
tes Natriumhydroxid, NaOH) und Kochsalz, so Aufgrund ihrer Doppelnatur lagern sich Seifen-
erhielt man feste Kernseife, bei Kalilauge (Ka- moleküle bevorzugt an den Grenzflächen Was-
liumhydroxid, KOH) und Kalisalzen dagegen ser-Faser oder Wasser-Öl an. Die Seifenanionen
pastöse bis flüssige Seifen. Bei der heutigen Sei- bilden auf einer Seite eine hydrophile, negativ
fenherstellung im großindustriellen Maßstab be- geladene Schicht. Dadurch werden die Schmutz-
nutzt man anstelle von Laugen ca. 180 °C heißen partikel von den ebenfalls negativ geladenen Fa-
Wasserdampf zur Spaltung von Fetten und Ölen sern abgestoßen, und auch Öltröpfchen werden
in selbstdichtenden Druckbehältern (Autoklaven) gelöst. An die abgelösten Schmutzpartikel oder
unter Anwesenheit eines meist aus Metalloxid Öltröpfchen lagern sich die Seifenanionen mit
339
KAPITEL 6 Wasser
340
Erde, Wasser, Luft und Feuer
341
34
KAPITEL 6 Wasser
1 kg ätherisches Öl erhält man aus wasserstoffe, meist als Alkohole, Aldehyde, Ke- werden. Nur einige Öle, die gegen heißes Was-
7000 kg Melissenkraut tone, Säuren, Ester oder Ether vorliegen. Auch ser oder Dampf empfindlich sind, wie Jasminöl
3000 – 5000 kg Rosenblättern aromatische Verbindungen wie Phenole, Phe- oder manche Blütenöle, werden mittels flüssiger
200 kg Zitronenschalen nylpropanoide und Cumarine sind vorhanden. Extraktion mit Hexan und in einem zweiten
120 kg Lavendelblüten Terpene enthalten keine Fette, sind aber fett- Schritt mit Alkohol gewonnen. Zitrusöle werden
50 kg Eukalyptusblättern löslich, in Ethanol zu 96 Prozent löslich, dage- durch kaltes Auspressen der Schalen gewonnen.
6-52 gen kaum in Wasser. Fast alle sind farblos bis Da die Öle nur in winzigen Mengen in einer
Nicht ergiebig. Man be- hellgelb und haben ein geringeres spezifisches Pflanze vorkommen, müssen große Mengen an
nötigt große Mengen an Gewicht als Wasser. Bei Raumtemperatur sind jeweiligem Pflanzenmaterial verarbeitet werden,
Pflanzenmaterial für die
Gewinnung ätherischer sie flüssig, verdampfen aber bei Erwärmung um ein Kilogramm ätherischen Öls daraus zu
Öle. leicht und rückstandsfrei. erhalten (Å Tabelle 6-52).
Obwohl die ätherischen Öle ebenfalls aus Hauptsächlich werden diese Öle als Duft-
Pflanzen gewonnen werden, unterscheiden sie spender in Sprays, in Raumbelüftern, Duftlam-
sich in wichtigen Bestandteilen und Eigenschaften pen, Toilettenduftsteinen, Seifen sowie in den ca.
deutlich von den pflanzlichen „fetten Ölen“ (Å Ta- 2500 Parfümsorten oder als Geschmacksverstär-
belle 6-51). Für die Aufnahme in den Organismus ker in Gewürzen verwendet.
bei medizinischer Anwendung ist ihre sehr kleine
Molekularstruktur günstig, die es ihnen erlaubt,
mühelos Zellmembrane zu durchdringen. So kön-
nen sie über Atemwege und Haut in den Körper Terpene
gelangen. In reiner, unverdünnter Form wirken
die meisten ätherische Öle haut- und schleimhaut- Terpene bilden eine umfangreiche, heterogene
reizend, viele sind unverträglich oder sogar giftig Stoffgruppe, zu der neben reinen Kohlen-
wie Arnika, Eukalyptus, Campher, Salbei, Fenchel, wasserstoffen auch sauerstoffhaltige Verbin-
Thymian u. a. Phototoxisch auf der Haut wirken dungen wie Alkohole, Aldehyde und Ketone
Ingwer-, Orange- oder Zitronenöl. gehören. Ihr Sammelname leitet sich von
„Terpentin“ ab, einer zähflüssigen Masse,
Gewinnung und Anwendung die aus der verletzten Rinde einiger Nadel-
bäume fließt. Terpene bilden einen wichtigen
Die meisten ätherischen Öle werden mittels Bestandteil ätherischer Öle; außer in Pflanzen
Wasserdampf aus den Pflanzen destilliert. Nach kommen sie auch in einigen Tieren und in
der Abkühlung schwimmt das destillierte Öl Mikroorganismen vor. Bis heute kennt man
auf dem Wasser und kann leicht abgeschöpft ca. 8000 Vertreter dieser Naturstoffe. Grund-
baustein aller Angehörigen dieser Gruppe ist
6-53 Ätherisches Öl Wirkung die Verbindung Isopren (C5H8). Nach der
Wirkung. Wichtige ätheri- Anisöl antimikrobiell, d. h. abtötend auf Bak-
sche Öle und ihre biologi-
Anzahl dieses Grundbausteins werden die Ter- r
Lavendelöl terien und Pilze
schen Wirkungen. Nelkenöl
pene in Monoterpene mit 2 Isopreneinheiten
Thymianöl (C10) Sesquiterpene (C15), Diterpene (C20),
Eukalyptusöl Triterpene (C30) usw. eingeteilt. Es existieren
Ingweröl reizend auf Haut und Schleimhaut, ca. 3000 Sesquiterpene, 2700 Diterpene, dar-
Korianderöl appetitanregend und geschmacksver-
Kümmelöl bessernd unter das wichtige Vitamin A, sowie ca. 1700
Anisöl durchblutungsfördernd, sekretfluss- Triterpene.
Kamillenöl anregend in den Atemwegen Terpene sind flüchtige Verbindungen und
Fenchelöl
bewirken in den ätherischen Ölen die ange-
Eukalyptusöl
Thymianöl krampflösend
nehmen, oft betörenden Düfte und sind für
Rosmarinöl deren pharmakologische Effekte verantwort-
Pfefferminzöl lich. Unverdünnte, reine Terpene wirken in
Kümmelöl
Salbeiöl
Wohnbereichen gesundheitsschädigend, da
Duftöle stimmungsmodulierend, anregend sie beim Einatmen oder Verschlucken Reizun-
oder beruhigend gen der Atemwege und des Verdauungstrakts
Lavendelöl insektenvertreibend hervorrufen.
Citronellöl
342
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Ein Stoff mit vielen Namen ein Verfahren zur Herstellung eines Stoffes na-
mens Kerosin aus Kohle und Bitumen. Nach der
Oberirdisch austretendes Erdöl war schon in an- Entdeckung eines Erdölfeldes 1858 im südwest-
tiken Kulturen bekannt. Der in einigen Sprachen lichen Teil von Ontario durch den Unternehmer
übliche Begriff „Naphtha“ soll auf das babylo- JAMES MILLER WILLIAMS (1818 – 1890) wurde
nische Wort naptu, das Leuchtende zurückgehen Kerosin (Petroleum) bald aus Erdöl destilliert und
und wurde über das Persische und das Griechi- es entstanden die ersten Erdölraffinerien. Einen
sche übermittelt. Die alten Römer prägten den weiteren bedeutenden Schritt zur Erdölnutzung
Begriff oleum petrae, Petroleum und bezogen ermöglichte die Erfindung des Ottomotors durch
ihn auf eine ölige, aus Felsen austretende Flüs- NICOLAUS AUGUST OTTO (1832 –1891), der seine
sigkeit, welche sie am heutigen Golf von Suez Erfindung 1876 auf den Markt brachte. Nun
entdeckt hatten. In der deutschen Fachsprache konnte ein Abfallprodukt aus der Petroleumher- r
wird Naphtha heute für Leichtbenzin, Petroleum stellung, das leicht verdampfende Benzin (Å Vom
dagegen für ein Mitteldestillat (Å Abbildung Rohöl zum Benzin, Seite 346) nutzbringend und
6-59, Seite 346) verwendet. Der heute übliche in großen Mengen verwendet werden. Doch erst
Begriff „Erdöl“ geht auf den österreichischen in den letzten Jahrzehnten stieg Erdöl zum unent-
Montangeologen HANS HÖFER VON HEIMHALT behrlichen Energieträger und industriellen Che-
(1843 – 1929) zurück. Er führte ihn 1913 in mierohstoff auf. Ohne Erdöl gäbe es die heutige
einem Buch als Bezeichnung für organische, flüs- fast uneingeschränkte Mobilität zu Wasser, zu Luft
sige und brennbare Naturstoffe ein, die aus dem und zu Lande nicht, basiert sie doch zu 90 Prozent
Erdinneren stammen. Weil diese Flüssigkeiten auf Erdöl bzw. auf Erdölderivaten. Aus Erdölderi-
wie andere Minerale aus Sedimenten gewonnen vaten werden unzählige Produkte in den Bereichen
werden, bezeichnet man Erdölprodukte in Ab- Kunststoffe, Farbstoffe, Medikamente, Kosmetika,
grenzung zu tierischen oder pflanzlichen Ölen Düngemittel oder Waschmittel erzeugt.
auch als Mineralöle.
Rohstoff Erdöl
Vom Lampenöl zum Treibstoff
Als Erdöl wird ein zähflüssiges Gemisch aus
In antiken. mesopotamischen Kulturen wurde Kohlenwasserstoffen bezeichnet, welches in der
Erdöl als Brennstoff für Lampen und Fackeln Erdkruste oft gemeinsam mit Erdgas (Å Me-
sowie vermischt mit Sand und Schilf als Dichtungs- than aus dem Erdinneren – Erdgas, Seite 380)
material für Boote genutzt. Auch die alten Römer vorkommt. Die unmittelbar aus der Quelle ge-
verwendeten Erdöl als Lampenöl und vielleicht förderte, unraffinierte, in Wasser nicht lösliche
auch als Schmiermittel für die Achsen ihrer Kriegs- Flüssigkeit nennt man Rohöl. Je nach Ausgangs-
wagen. Im 15. Jahrhundert vertrieben Mönche aus material, Bildungsvorgang und Gewinnungsort
3 43
KAPITEL 6 Wasser
Element Anteil in % unterscheiden sich die Rohöle deutlich; heute teine, Fette und Kohlenhydrate. Wird es im
kennt man ca. 250 verschiedene Rohölsorten. Laufe der Entwicklung weiter abgesenkt und
Kohlenstoff (C) 83,5
Rohöl ist eine oft übel riechende, ölige, brenn- mit mächtigen Sedimentschichten überdeckt,
Wasserstoff (H) 11,5 bare Flüssigkeit mit einer Dichte von 0,8 bis so entsteht ein sogenanntes Erdölmuttergestein.
0,94 g / cm3. Seine Konsistenz schwankt zwi- Dann erfolgt die weitere Umwandlung der or-
Sauerstoff (O) 1,5
schen hellgelb dünnflüssig und schwarzbraun ganischen Reste unter wachsendem Druck und
Stickstoff (N) 1,0 zähflüssig. Förderprodukte mit hohem Schwe- steigender Temperatur zu Kerogenen. Dieses
Schwefel (S) 2,5
felgehalt werden als saure, solche mit geringem wasserunlösliche, bituminöse organische Zwi-
als süße Rohöle bezeichnet. schenprodukt enthält Kohlenstoff (C), Was-
Metalle < 1000 ppm
(Fe, Al, Cu, Ni) Unraffiniertes Rohöl ist ein hochkomplexes serstoff (H), Sauerstoff (O), Stickstoff (N) und
Stoffgemisch, das aus mindestens 500, nach an- Schwefel (S), also alle für die Bildung von Koh-
6-54
deren Angaben aus mehr als 17 000 organischen lenwasserstoffketten notwendigen Bausteine.
Elemente im Erdöl. Durch-
schnittlicher Anteil an Ele- Bestandteilen besteht. Den weit überwiegenden Entsprechend ihren Atomzahlverhältnissen
menten in Erdöl. Anteil bilden gesättigte und ungesättigte Koh- H / C und O / C werden die Kerogene dann in
lenwasserstoffe. Von paraffinischem Öl spricht kurzkettige, gasförmige (Methan, also Erdgas)
man, wenn langkettige, gesättigte Kohlenwas- und in mittelkettige (ca. 14 – 17 C-Atome) flüs-
serstoffe (Alkane) vorherrschen. Überwiegen sige Kohlenwasserstoffe (Erdöl) aufgespalten.
cyclische, nicht aromatische Kohlenwasserstoffe Dieser Prozess findet im in Tiefen zwischen
(Cycloalkane, früher: Naphthene) spricht man 1400 und 4000 m statt. Dort können durch den
von naphthenischem Erdöl (Å Abbildung 6-58). enormen Auflastdruck der Sedimentschichten
die erforderlichen hohen Drücke und Tempe-
Typ Verbindungen raturen von 50 – 120 °C erreicht werden; diesen
ungesättigte Kohlen- Ethen, Propen, Buten Temperaturbereich nennt man „Erdölfenster“.
wasserstoffe (Alkene)
Ist die Temperatur höher, zerbrechen die Ketten
gesättigte Kohlenwas- Methan, Ethan, Propan, Butan,
serstoffe (Alkane) Paraffinöle und -wachse und es entsteht Methan. Das Öl besteht aus
Aromaten Benzol, Toluol feinsten Tröpfchen, den sogenannten Mikro-
Element Kohlenstoff (Ruß) naphtas. Die Bildungsdauer von Erdöl liegt
zwischen mehreren Hunderttausend und mehr
6-56
Erdöl-Bestandteile. Erdöl besteht vor allem aus Kohlen- als einer Million Jahren. Im Laufe der Erdge-
wasserstoffverbindungen. schichte gab es Perioden mit besonders ho-
her, mariner Bioproduktivität, und zwar im
Bildung von Erdöl und Lagerstätten Erdaltertum (Paläozoikum), im Erdmittelalter
(Mesozoikum) sowie in der Erdneuzeit (Käno-
Nach dem biogenen (biotischen) Modell, das zoikum), in denen ausreichend große Mengen
von den meisten Erdölgeologen vertreten wird, organischen Ausgangsmaterials für die Erdöl-
sind Erdöl und Erdgas aus Kohlenwasserstoffen und Erdgasbildung anfielen (Å Abbildung 6-55
entstanden, die der Umwandlung von fossilen, und Abbildung 5-30, Seite 327). Die ältesten
marinen, organischen Resten entstammen, die Erdölvorkommen sind ca. 500 Millionen Jahre
zum Meeresboden sanken und dort angehäuft alt, die meisten stammen aus dem Jura und der
wurden. Abbauprodukte von Biomolekülen wie Kreidezeit, nur wenige aus dem Tertiär. Selbst
6-55
Chlorophyll oder Hämoglobin werden als Be- in heutigen Meeren werden in Zoo- und Phy-
Erdölentstehung.Heute
bekannte Vorkommen weis für diese Modelle angeführt. Wenn solche toplankton oder Krill unvorstellbare Mengen
entstanden aus Ablage- am Meeresboden angehäuften, kohlenstoffrei- von Kohlendioxid gespeichert, die irgendwann
rungen im Erdaltertum chen Reste rasch von undurchlässigen Sedimen- als Stoffverbindungen oder als tote Körper am
von 360 bis 250 Millionen
Jahren aus organischem ten überdeckt werden, dann verwesen sie infolge Meeresboden angehäuft werden.
Ausgangsmaterial sowie Sauerstoffabschlusses nicht, sondern werden Das Erdöl verharrte nicht an seinem Bil-
im Erdmittelalter und in unter der Einwirkung anaerober Mikroorga- dungsort, sondern wanderte während der Pri-
der Erdneuzeit von 190
bis ca. 20 Millionen Jahren nismen in Faulschlamm (Sapropel, Å Biogene märmigration vom Muttergestein in porösere
aus planktonischen Resten Sedimentite, Seite 241) umgewandelt. Dieses Erölspeichergesteine. Das können zerklüftete
(graue Bereiche). Zwischenprodukt enthält 23 – 25 Prozent Pro- und verkarstete Kalksteine (Å Chemische Sedi-
Erde, Wasser, Luft und Feuer
6-57
Anhänger der Theorie der abiotischen Ent- Die Gewinnung von Erdöl Erdölfallen. Erdöl und
stehung des Erdöls, die ab 1951 in der Sow- Erdgas reichert sich in
jetunion entwickelt wurde, bestreiten dessen In Ausbeutung befindliche Erdölvorkommen sind durchlässigen wassergesät-
tigten Speicherschichten
biogene Herkunft. Sie gehen stattdessen von an Land anhand von Pumpen, im Meer anhand unter darüberliegenden
nicht-biologischen Ausgangsstoffen und Bil- von Bohrplattformen von weitem erkennbar. Die undurchlässigen Schichten
dungsprozessen im Erdmantel aus. großtechnische Ausbeutung von unterirdischen an. Je nach geologischen
Bedingungen sind Ölfallen
Ihrer Meinung nach hätten die Mengen ab- Erdölvorkommen setzte im 19. Jahrhundert ein: unterschiedlich ausgebil-
gestorbener Organismen niemals ausgereicht, Bei Bóbrka (bei Krossen, heute Krosno/Polen) det. So kann sich das Öl
um als Ausgangsmaterial für die Bildung der wurden ab 1854 erdölhaltige Sande untertage in und Gas im Scheitel von
Sattelstrukturen sam-
Erdölmengen zu dienen, die bisher weltweit einer „Erdölmine“ abgebaut, ab 1934 wurde die meln, Verwerfungen oder
gefördert wurden. Sie postulieren deshalb eine erste saudiarabische Lagestätte erschlossen. Die überhängende Flanken
abiotische Bildung von Kohlenwasserstoffen unterschiedlichsten Ausformungen von Erdölfallen von Salzstöcken können
poröse Schichten zur Seite
und stützen ihr Modell u. a. auf riesige Men- und die oft feinst disperse Verteilung des Öls im abgrenzen. Oder durch-
gen kosmischer Kohlenwasserstoffe, die bei Gestein erschweren und begrenzen die Förderung lässige Gesteine können
der Ausbildung unserer Erde im Erdmantel des Öls und bedingen verschiedene Fördermetho- zwischen undurchlässigen
Schichten auskeilen (links
eingelagert worden sein sollen. Bisher ist es den. Die am häufigsten angewendete Förderme-
unten).
allerdings nicht gelungen, Erdöllagerstätten thode ist die Pumpförderung von Erdöl aus bis zu
auf Basis der Aussagen der abiotischen Entste- 2000 m Tiefe in drei Phasen:
hungstheorie zu finden, weshalb die Theorie In der ersten Phase erfolgt die Förderung auf-
f
heute wenig Anhänger hat. grund des natürlichen Drucks, der auf das Öl
wirkt. Infolge eingeschlossenen Erdgases steht
6-58
Kohlenwasserstoffe des Erdöls. Neben gesättigten, unverzweigten n-Alkanen kommen im Erdöl auch verzweigte Kohlenwasserstoffe, sogenannte i-Al-
kane und ungesättigte Kohlenwasserstoffe, sogenannte Alkene, vor. Zu beiden Stoffgruppen gehören jeweils Verbindungen mit gleicher Summenformel,
aber unterschiedlicher Struktur (Isomerie). Daher werden die Kohlenstoffatome durchnummeriert und der Ort von Doppelbindungen oder Verzweigun-
gen durch Angabe der Nummer im Namen kenntlich gemacht. Auch zyklische Kohlenwasserstoffe wie Cyclohexan kommen im Erdöl vor, ebenso soge-
nannte Aromaten, also Verbindungen auf Basis des Benzols. Von den gewöhnlichen zyklischen Kohlenwasserstoffen unterscheidet Benzol die besondere
Form der Bindung entlang des Rings, bei der sich ein Teil der an den Bindungen beteiligten Elektronen über den gesamten Ring verteilt, meist dargestellt
durch einen Kreis im Inneren des Benzolrings. Alternativ wird Benzol dargestellt mit alternierenden Folgen von Doppel- und Einfachbindungen.
KAPITEL 6 Wasser
6-59
Atmosphärische Destillation von Rohöl. Die Trennung
der Rohölfraktionen in schwer- und leichtflüchtige Be-
standteile geschieht über Destillationskolonnen, in denen
die verdampften Fraktionen durch Öffnungen in soge-
nannten Böden strömen, auf denen sich die Fraktionen als
Flüssigkeit absetzen, deren Taupunkt der dort herrschen-
den Temperatur entspricht. Sie werden seitlich abgeleitet.
Da die Gase die Flüssigkeit durchsprudeln, kommt es zu
einem intensiven Kontakt zwischen beiden Phasen, was
die Trennungsleistung erheblich verbessert. Die konden-
sierten Fraktionen fließen nach unten, diejenigen mit dem
höchsten Siedepunkt sammeln sich am Boden und bilden
den sogenannten Sumpf. Dieser Sumpf wird erhitzt, und
die entstehenden Gase werden in die Kolonne zurück-
geleitet. Sie sorgen für die Erwärmung und Destillation
der leichteren Fraktionen. Das kondensierte Leichtbenzin
wird teilweise wieder zurückgeleitet, um die Ausbeute
an leichtflüchtigen Fraktionen zu erhöhen. Diese Art
der Rückleitung kann auch auf tiefer liegenden Böden
angewendet werden. Die angegebenen Kohlenstoffket-
tenlängen der Fraktionen sind ungefähre Werte. „At-
mosphärisch“ nennt man diese Destillation, da sie unter
Normaldruck stattfindet.
Erde, Wasser, Luft und Feuer
bieller Verfahren werden unerwünschte Inhalts- Kraftstoffe – die wichtigsten Erdölderivate 6-60
stoffe wie Harze und vor allem Schwefel ent- Cracken und Verede-
lungsverfahren. Das Wort
fernt. Der Schwefel wird durch das sogenannte Wichtigste Aufarbeitungsprodukte einer Raffi- „cracken“ kommt aus
Claus-Verfahren wieder zurückgewonnen. Beim nerie sind Kraftstoffe: 2009 wurden in Deutsch- dem Englischen und be-
nachfolgenden Cracken (Å Tabelle 6-62) werden land 14 Prozent des Rohöls als Grundstoffe für deutet "spalten". Dabei
werden insbesondere die
die langkettigen Produkte der Vakuumdestilla- die chemische Industrie, 27 Prozent zur Wär-
schweren, langkettigen
tion bei Temperaturen über 450 °C und Drü- meerzeugung und 59 Prozent als Kraftstoffe Destillationsprodukte
cken zwischen 30 und 60 bar in kürzere Stücke verbraucht. Als Kraftstoffe werden Brennstoffe durch Wärme oder mittels
aufgespalten. Nach dem Cracken werden die bezeichnet, deren gespeicherte chemische Ener- katalytischer Verfahren
gespalten. Am leichtesten
einzelnen Fraktionen erneut mittels Destillation gie bei der Verbrennung in Antriebskraft umge- lassen sich Alkane, etwas
getrennt. Hauptzweck dieser Verfahren ist es, wandelt wird. Im Straßenverkehr spricht man schwerer Cycloalkane
den Anteil leichter Fraktionen, insbesondere an meist von Kraftstoffen, im Luftverkehr und in (Naphthene), am aufwän-
digsten Aromaten cracken.
Benzin, zu erhöhen. der Schifffahrt eher von Treibstoffen. Die beiden Ziel des Crackens ist es,
Um die Ausbeute an Fahrbenzin mit einer Hauptvertreter sind Benzin und Dieselöl. Gase, Benzine und Mit-
Oktanzahl über 90 zu erreichen, wie es heutige teldestillate zu gewinnen.
Alkene wie z. B. Ethen die-
Ottomotoren erfordern, schließt sich ein weite- Benzin nen als Ausgangsstoff für
rer chemisch-katalytischer Prozess an, das Refor- Kunststoffe.
mieren (lat. reformare, umwandeln). Mit diesem Benzin (Ottokraftstoff) ist eine Sammelbezeich-
Verfahren wird die Oktanzahl des Rohbenzins nung für eine Reihe von leicht verdampf- und
von 40 – 70 auf 95 – 100 angehoben. Dabei wer- entzündbaren dünnflüssigen Rohölderivaten, die
den Alkane isomerisiert (d. h. in ein Molekül dem Antrieb von Straßenfahrzeugen dienen. Ety-
mit gleicher Summenformel umgewandelt) und mologisch soll der Name von einer arabischen
Cycloalkane aromatisiert. Benennung für „Weihrauch aus Java“ abstam-
Um fein abgestimmte Produkte wie Kraft- men, den heutigen Begriff führte der deutsche Mi-
stoffe oder Heizöle zu erhalten, werden in einem neraloge und Chemiker EILHARD MITSCHERLICH
letzten Schritt Fraktionen verschiedener Destil- (1794 – 1863) allerdings für das heutige Benzol
lations- und Crackverfahren unterschiedlicher ein. Der heutigen Substanz Benzin ordnete erst
Rohölsorten gemischt, beim sogenannten Blen- der Chemiker JUSTUS VON LIEBIG die richtige
dingg (engl. Mischen, Vermengen). Benennung zu.
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
6-61
Ölraffinerie. Moderne Öl-
raffinieren können 15 Mil-
lionen und mehr Tonnen
Rohöl pro Jahr verarbeiten.
3 47
KAPITEL 6 Wasser
Flammpunkt Benzin ist ein Gemisch aus mehr als 100 ver-
Niedrigste Temperatur,
schiedenen, meist leichten, unverzweigten Oktanzahl und Cetanzahl
bei der das Stoff-Luft-
Gemisch an der Ober- Kohlenwasserstoffen. Nach der europäischen
fläche eines Stoffes noch Norm darf dieser Kraftstoff hauptsächlich aus Das Zündverhalten von Kraftstoffen wird
zündfähig ist. Ist das
Alkanen, bis 42 Volumenprozent Aromaten, bis mit der Oktanzahl für Ottokraftstoffe und
Stoff-Luft-Volumen groß
genug, kann oberhalb die- 18 – 21 Volumenprozent Alkenen, bis 1 Volu- der Cetanzahl für Dieselkraftstoffe angege-
ses Punktes eine Explosion menprozent Benzol sowie bis 10 mg / kg Schwefel ben. Die Oktanzahl ist eine 1927 eingeführte
erfolgen.
und etwas Sauerstoff bestehen. Ferner kommen Maßzahl für die Klopffestigkeit des Benzins
noch Additive wie höhere Alkohole, Phenole, in Ottomotoren. Der Referenzwert gibt in
Komplexbildner und Amine hinzu. Volumenprozent den theoretischen Wert der
Brennwert
Der Brennwert ist ein Maß Da Benzin einen niedrigen Flammpunkt Mischung vom schwer entzündlichen Iso-
für die thermische Energie (ca. –20 °C) besitzt, ist es leicht entzündlich und octan (2,2,4-Trimethylpentan, C8H18) zum
einer definierten Menge wird als Stoff in die Gefahrenklasse A I einge- leicht entzündlichen n-Heptan (C7H16) an.
eines Brennstoffs. Zum
Brennwert wird auch die stuft. Bei unruhiger Lagerung kann sich Benzin Isooctan ist ein verzweigter, zu den Alkanen
Wärmemenge hinzuge- statisch aufladen und selbst entzünden. Als un- zählender Kohlenwasserstoff, Heptan ein un-
zählt, die bei der Kon- polare Flüssigkeit bildet es ein gutes Lösungs- verzweigter, bei Verdichtung leicht entzünd-
densation des während
der Verbrennung entste- mittel für Öle, Fette oder Harze, was bei der barer Kohlenwasserstoff. Eine Oktanzahl von
henden Wasserdampfes Fleckenreinigung durch Waschbenzin genutzt 95 bedeutet also eine theoretische Mischung
entsteht. wird. Für die Verwendung als Kraftstoff sind von 95 Volumenprozent Isooctan mit 5 Vo-
Physiologischer Brenn- sein hoher Brennwert von 47 MJ / kg günstig. lumenprozenten n-Heptan. Als Klopfen wird
wert Das Zündverhalten der verschiedenen Benzin- das Geräusch einer unkontrollierten, für den
Der physiologische Brenn- sorten wird als Oktanzahl (Å Kasten Oktanzahl Motor sehr schädlichen Frühzündung des n-
wert ist ein Maß für die
vom Körper nutzbare
und Cetanzahl) angegeben. Heptans im Benzin-Luftgemisch verstanden.
Energie eines Stoffes. In europäischen Tankstellen werden für Otto-
Dieselöl kraftstoffe die sogenannte, in einem speziellen
Prüfverfahren ermittelte Research-Oktanzahl
Dieselöl (Dieselkraftstoff) ist der zweite, tradi- (ROZ) sowie die stets etwas niedrigere Moto-
tionelle Kraftstoff, geeignet für Fahrzeuge und ren-Oktanzahl (MOZ) angegeben. Moderne
Antriebsaggregate mit Dieselmotoren. Er ist be- Ottomotoren benötigen Kraftstoffe mit einem
nannt nach RUDOLF DIESEL (1858 – 1913), dem ROZ-Wert von mindestens 91.
Erfinder des bis heute vielseitig angewandten Die Bezeichnung Cetanzahl für Diesel-
Dieselmotors. Gewonnen aus schwereren Mit- kraftstoffe leitet sich von einer älteren Benen-
6-62 teldestillaten (Å Vom Rohöl zum Benzin, Seite nung für Hexadecan (C16H34), einem lang-
Benzin und Diesel. Die 346) weist es erhebliche Unterschiede zum Ben- kettigen, höheren Alkan ab, das in diesem
unterschiedlichen Eigen- zin (ÅTabelle 6-62) auf, ist aber dem leichten Kraftstoff vorkommt. Die Cetanzahl gibt das
schaften beider Kraftstoffe
sind vor allem eine Folge Heizöl sehr ähnlich. Volumenverhältnis von Cetan zu 1-Methyl-
der verschiedenen Ketten- Dieselöl ist ein schwer entflammbares Ge- naphthalin an. Je höher der Cetananteil ist,
längen der enthaltenen misch aus flüssigen Kohlenwasserstoffen; es desto zündwilliger ist die Mischung. Bei nied-
Kohlenwasserstoffe.
rigem Cetanwert kann es infolge von Zünd-
verzug zu einer schlag- und explosionsartigen
Benzin Diesel
Verbrennung des Kraftstoffes kommen (Na-
Flammpunkt in °C ca. – 20 ca. 55 geln). Heutige Dieselöle haben Cetanwerte
von 51 – 55.
Zündtemperatur in °C 220 – 460 220 –350
348
Erde, Wasser, Luft und Feuer
ximal 10 mg / kg Schwefel führen. Bei Tempe- bekannt. In Flüssigkeiten, denen wir täglich
raturen unter –22 °C wird Dieselöl zähflüssig. begegnen, wie etwa Reinigungsmitteln, sind al-
Dann kristallisieren Paraffinpartikel aus, bilden lerdings auch viele andere Alkohole zu finden.
wachsartige Zusammenballungen und verstop- Alkohole sind organische Verbindungen, die sich
fen Leitungen sowie Filter; deshalb werden dem von Kohlenwasserstoffen ableiten, in deren Mo- 6-63
al-kuhl. Das arabische
sogenannten Winterdiesel einige Kälteschutz- lekülen mindestens ein Wasserstoffatom durch Wort für Alkohol.
Additive zugegeben, die eine Kristallausfällung die charakteristische Hydroxygruppe (– OH)
unterbinden. ersetzt worden ist (Å Abbildung 6-64 und 6-45,
Seite 335). Es handelt sich um Hydroxylderi-
Alkohole vate vor allem von Alkanen und Alkenen; des-
halb wird nach der IUPAC-Nomenklatur an
Mehr als ein Genussmittel deren Stammname die Silbe –ol angefügt, z. B.
Ethan Ο Ethanol. Ein Alkoholmolekül besteht
Mit Alkohol assoziiert man zunächst natürlich aus einer Kohlenwasserkette und mindestens
die Essenz, den wirksamen Bestandteil, aller einer Hydroxygruppe als funktioneller Gruppe
alkoholischen Getränke. Die Bezeichnung Al- (Å Kasten Funktionelle Gruppen, Seite 335).
kohol leitet sich ursprünglich von dem arabi- Erstere ist unpolar und lipophil, letztere polar
schen Wort al-kuhl für das Antimonmineral und hydrophil, vergleichbar mit den entspre-
Stibnit (Antimonsulfid, Sb2S3) ab. Zu sehr fei- chenden Gliedern von Seifenmolekülen. Sind
nem Pulver zermahlen und mit Fett vermischt Hydroxygruppen an Kohlenstoffatome eines
diente es wegen seiner schwarzen Farbe als Benzolrings gebunden, spricht man nicht von
kosmetisches Pigment. Später wurde dieser Be- Alkoholen, sondern von Phenolen. Phenole sind
griff als allgemeine Bezeichnung für feinstoffli- im Gegensatz zu Alkoholen schwache Säuren,
che Substanzen gebraucht, man brachte ihn da der Benzolring die Bindung des Wasserstoff-
auch mit der Quintessenz in Verbindung, dem atoms an das Sauerstoffatom schwächt.
fünften Element, das nur im astralen Bereich Mittels Biosynthese wird allein Ethylalkohol
auftreten sollte. Näher an der uns gebräuchli- durch alkoholische Gärung aus Glucose (Trau-
chen Schreibweise taucht das Wort im mittel- benzucker, C6H12O6) oder Fructose (Fruchtzucker,
alterlichen Spanisch als „alcohol“ auf, mit der C6H12O6) erzeugt. Diese Alkoholbildung findet
Bedeutung feines, trockenes Puder. Der be- auch beim Gären von heruntergefallenen Baum-
rühmte Arzt und Chemiker PARACELSUS über- früchten statt, an denen sich manche Tiere laben.
trug diese Bezeichnung auf die leichtflüchtige Genutzt wird der Gärungsprozess beim Bierbrauen
Substanz, die bei der Erzeugung von Brannt- oder der Weinherstellung, wo mit Hilfe von He-
wein anfällt. Branntwein spielte in der damali- fepilzen aus Malz oder aus Weintrauben, also
gen Heilkunde eine wichtige Rolle. Auch noch aus zuckerhaltigen Substanzen, Ethylalkohol und
heute wird Alkohol als Lösemittel in einigen Kohlendioxid erzeugt wird. Der Hefepilz gewinnt
flüssigen Medikamententinkturen verwendet. aus diesem Prozess Energie. Großtechnisch wird
In der Umgangssprache ist mit Alkohol stets Ethylalkohol durch katalytische oder indirekte 6-64
dieser genießbare und in geringen Mengen un- Hydratisierung (ÅWasser, das ideale Lösungsmit- Alkohole. Bei primären
giftige Trinkalkohol gemeint. Chemiker be- tel, Seite 328) von Ethylen gewonnen, weitere Alkoholen wie Ethanol ist
das C-Atom, das die Hy-
zeichnen ihn als Ethylalkohol oder einfacher als primäre und sekundäre Alkohole werden mittels droxygruppe trägt, nur mit
Ethanol (früher Äthanol). In reinster Form, als Reduktion aus Aldehyden bzw. Ketonen erzeugt einem Kohlenstoffatom
sogenannter „absoluter Alkohol“, ist Ethanol (Å Abbildung 6-67, Seite 351). verbunden, bei sekun-
dären Alkoholen wie dem
eine leichtbewe g liche, an g enehm riechende Propan-2-ol sind es zwei,
Flüssigkeit, die bei 78,4 °C siedet und beim Chemische Reaktionen von Alkoholen bei tertiären Alkoholen
Entzünden mit bläulicher, kaum sichtbarer drei Kohlenstoffatome.
Die Nummern in den Al-
Flamme verbrennt. Alkoholmoleküle ähneln in ihrem winkligen Auf-
koholnamen beziehen sich
Allerdings ist Ethanol nur ein einzelner Ver- bau den Wassermolekülen, bei denen ein H-Atom nicht auf primär, sekundär
treter einer sehr großen Verbindungsklasse. Ein durch einen Alkylrest ersetzt worden ist. Deshalb bzw. tertiär, sondern auf
anderes Beispiel ist Methylalkohol (Methanol) – können Alkoholmoleküle ebenso wie Wassermo- die jeweilige Position der
Hydroxygruppe oder der
der Allgemeinheit eher wegen seiner sehr gesund- leküle Protonen austauschen und als Säure oder Seitengruppen innerhalb
heitsschädigenden oder sogar letalen Wirkung Base reagieren, jedoch schwächer als Wasser. Mit der Kohlenstoffkette.
3 49
KAPITEL 6 Wasser
350
Erde, Wasser, Luft und Feuer
werden, bei höherem Alkoholgehalt stirbt der septikum verwendet, und er bildet den Ausgangs-
Hefepilz ab. Hochprozentiger Alkohol kann stoff für Brennspiritus. Mit einem Brennwert
nur mittels Destillation hergestellt werden; als von 29 MJ / kg (Holz 19 MJ / kg, Steinkohle ca.
chemisches Massenprodukt wird Ethanol durch 30 MJ / kg) liefert Ethanol einen hochwertigen
Hydratisierung aus dem Gas Ethen (CH2=CH2) Brennstoff, weshalb Bioethanol, gewonnen
unter Einsatz des Katalysators Phosphorsäure aus zuckerhaltigen Pflanzen wie Mais oder aus
(H3PO4) gewonnen. cellulosehaltigen Ausgangsstoffen wie Holzab-
Reines Ethanol ist eine farblose, brennend fällen, immer stärker ins Blickfeld rückt. Der
schmeckende Flüssigkeit. Sie ist leicht entzünd- Energiegehalt von Bioethanol beträgt jedoch
lich (Flammpunkt 12 °C) und stark hygrosko- nur zwei Drittel desjenigen von Benzin, ebenso
pisch; ihr Schmelzpunkt liegt bei –114,14 °C, problematisch ist die erforderliche Anbauflä-
ihr Siedepunkt bei 78.3 °C, ihre Dichte beträgt che von „Treibstoffpflanzen“ in Konkurrenz zu
0,79 g / cm3. Dieser Alkohol ist in jedem Verhält- „Nahrungsmittelpflanzen“.
nis mit Wasser mischbar, doch bei der Mischung
tritt eine Volumenkontraktion ein: 50 Volumen- Der Giftige – Methanol
einheiten Ethanol und 50 Volumeneinheiten Was-
ser ergeben nicht 100, sondern nur 96,3 Volu- Bisweilen erschrecken Meldungen wie „Drei
meneinheiten. Schüler sterben nach dem Genuss von gepansch-
Ethanolmoleküle sind schwache Dipole, die tem Alkohol“. Als Ursache wird stets Methanol
kurze Kohlenwasserstoffkette verhält sich unpo- (Methylalkohol) angeführt.
lar, die Hydroxygruppe polar. Daher ist dieser Methanol, oft auch Fuselalkohol genannt, ist
Alkohol sowohl gut wasser- als auch fettlöslich. mit nur einem Kohlenstoffatom der einfachste
Wie viele einwertige Alkohole kann Ethanol einwertige Alkohol (CH3OH). In der Natur
verestert oder oxidiert werden. Die Oxidation kommt er in einigen Früchten, in Baumwoll- 6-67
Aldehyde und der Kater.
dieses Alkohols zu Essigsäure bewirkt z. B., dass pflanzen, in Gräsern und ätherischen Ölen vor. Aldehyde entstehen durch
Wein versäuert, der länger offen steht. Ethanol Er fällt als Nebenprodukt bei der alkoholischen Oxidation primärer und
ist weltweit die wichtigste Droge und ein für Gärung oder bei unvollständigem Brennen von sekundärer Alkohole wie
Ethanol oder Methanol.
den gesamten Organismus gefährliches Nerven- Spirituosen an. Bis in die 1920er Jahre wurde
Anstelle der Endung -ol
und Zellgift. Schon im Mundraum beginnt seine Methanol ausschließlich mittels der Trockenver- erhalten Aldehyde die En-
Aufnahme, im Magen werden ca. 20 Prozent, im gasung von Holz gewonnen (Holzgeist), heute dung -al. Aldehyde lassen
Dünndarm der Rest des Alkohols resorbiert. Da wird er großindustriell aus Erdgas, aus vergaster sich weiter oxidieren zu
Carbonsäuren (aus Ethanal
seine Moleküle sehr klein und gut wasser- bzw. Braunkohle oder Steinkohle, weiterhin aus Holz wird Essigsäure). Ethanol
fettlöslich sind, werden sie rasch im ganzen Kör- und Biomasse hergestellt. Die Synthesegase Koh- wird auch im Körper zu
per verteilt. Physiologisch wirkt die Aufnahme lenmonoxid bzw. Kohlendioxid werden mittels Ethanal abgebaut. Neben
der Dehydrierung des
zunächst eher dämpfend. Weil durch den Alkohol Wasserstoff unter Einsatz von Katalysatoren zu Körpers aufgrund von
die äußeren Blutgefäße erweitert werden und der Methanol synthetisiert: CO + 2 H2 → CH3OH Alkoholgenuss ist dieser
Blutfluss durch die Kapillaren unter der Haut bzw. CO2 + 3 H2 → CH3OH. Stoff für den Kater mit
verantwortlich.
zunimmt, stellt sich bei seinem Genuss, so beim Wie Ethanol bildet Methanol eine klare, Formaldehyd, das Oxidati-
winterlichen Glühwein, ein wohliges Wärmege- farblose, jedoch brennend schmeckende Flüs- onsprodukt des Methanols
fühl ein. Der Abbau des Alkohols erfolgt durch sigkeit. Deren Schmelzpunkt liegt bei –98 °C, ist wichtiger Grundstoff
der chemischen Industrie.
das Enzym „Alkoholdehydrogenase“. Ein sehr der Siedepunkt bei –64,5 °C, ihre Dichte bei
Sein Name ist dem latei-
giftiges Zwischenprodukt des Abbaus, nämlich 0,79 g / cm3. Dieser Alkohol ist gut wasserlös- nischen Wort für Ameise
Acetaldehyd (Ethanal, CH3CHO) verursacht lich; er ist, was ihn so gefährlich macht, auch (formica) entlehnt, da er
die unangenehmen Folgen des Alkoholgenusses: in Ethanol löslich. Heute wird er ausschließlich weiter zu Ameisensäure
oxdiert werden kann.
Kopfschmerzen, Übelkeit und Erbrechen (Å Ab- als Grundstoff in der chemischen Industrie ver-
bildung 6-67). wendet, z. B. zur Herstellung von Formaldehyd
Ethanol wird aber auch als wichtiger che- oder Kühlmitteln. Früher wurde Methanol als
mischer Grundstoff und zunehmend auch als Lösungsmittel in Farben und Kunststoffen ein-
Treib- und Brennstoff genutzt. Er ist wichtiges gesetzt. In den1990er Jahren galt dieser Alkohol
Lösungsmittel in Arzneimitteln, Farben, Lacken als potenziell alternativer Treibstoff zu Benzin,
und Duftstoffen. In Reinigungsmitteln dient er hat er doch eine Oktanzahl von 125 und ver-
zur Desinfektion, in der Medizin wird er als Anti- brennt fast rußlos. Die Euphorie hat sich jedoch
351
KAPITEL 6 Wasser
gelegt, da er fast alle Metalle rasch korrosiv Zwecken und in Arzneien genutzt. Schließlich
angreift und nur 68 Prozent des Brennwertes lässt sich aus Glycerin durch Veresterung mit
von Benzin besitzt. Salpetersäure ein hochexplosiver Sprengstoff
Methanol selbst ist nur mäßig giftig, extrem namens Nitroglycerin, genauer Glycerintrinit-
toxisch sind seine Abbauprodukte im Körper, rat (C3H5(ONO2)3), herstellen.
nämlich Formaldehyd (H2CO) und Ameisen-
säure (HCOOH). Diese verursachen schwere Aromastoffe und Fette – Ester
Schäden an Nerven, Nieren, Leber und Augen
(Erblindung). Unbehandelt führt Ameisensäure Die Stoffbezeichnung Ester leitet sich von der
zu einer tödlich verlaufenden Blutversauerung. veralteten Benennung „Essigäther“ für Ethyl-
acetat ab, eingeführt vom deutschen Chemiker
Der Süße – Glycerin LEOPOLD GMELIN (1788 – 1853). Ester sind eine
in der Natur weit verbreitete Stoffgruppe: Viele
Warum können einige Insekten wie Hornissen, Früchte locken mit angenehmem Duft, verursacht
viele Käferarten und Puppen von Schmetterlingen von esterhaltigen Aromen; auch tierische und
Temperaturen von bis zu – 30 °C überstehen? pflanzliche Fette bestehen aus einer Mischung
Dazu verhilft ihnen ein Alkohol, das körpereigene von Estern. Ester sind meist organische Reak-
Glycerin. Auch der Kanadische Graue Laubfrosch tionsprodukte einer Säure mit einem Alkohol
(Hyla versicolor) überlebt damit kalte Winter. (ÅAbbildung 6-68). Ringförmige Ester, bei denen
Glycerin (Glycerol, 1,2,3-Propantriol) ist eine Hydroxygruppe mit einer Carboxygruppe
der einfachste dreiwertige Alkohol (Å Abbil- innerhalb desselben Moleküls reagiert, heißen
dung 6-47, Seite 336) mit der Summenformel Lactone (innere Ester). Viele Ester werden syn-
C3H5(OH)3. Er ist weit verbreitet in allen pflanz- thetisch hergestellt, auch unter Verwendung an-
lichen und tierischen Fetten in Form der Trigly- organischer Säuren wie Schwefelsäure (H2SO4),
ceride (Å Kasten Fettsäuren, Seite 336) und er Phosphorsäure (H3PO4) oder Borsäure (H3BO3).
6-68
Ester. Ester entstehen aus entsteht auch bei alkoholischer Gärung. War er Ester unterscheiden sich nach Molekülgröße
einer sogenannten Kon- früher ein Nebenprodukt der Seifenherstellung, der reagierenden (Carbon-)Säuren und Alkohole
densationsreaktion zwi- so wird er heute aus dem ungesättigten Kohlen- erheblich in ihren Eigenschaften. Kurzkettige,
schen sauerstoffhaltigen
Säuren und Alkoholen, bei
wasserstoff Propen (C3H6) synthetisiert. niedermolekulare Ester sind flüssig, mit wach-
der Wasser abgespalten Bei 2 0 °C bildet Glycerin eine farblose, sender Molekülgröße sind sie immer viskoser
wird. Starke anorganische klare, ölige, geruchlose Flüssigkeit. Sie ist stark und öliger, um schließlich in Wachse und kris-
Säuren wie Schwefelsäure
hygroskopisch, ziemlich viskos (6,05 mPa·s) tallartige Verbindungen überzugehen. Niedermo-
bilden mit langen Carbon-
säuren Ester mit einem und schmeckt süßlich (griech. glycis, süß). lekulare Ester sind farblose, neutrale, angenehm
polaren, hydrophilen Ende Glycerin hat einen Schmelzpunkt von 18,2 °C riechende und leicht brennbare Flüssigkeiten. Ihre
und einem unpolaren, und einen Siedepunkt von 290 °C, seine Dichte Schmelztemperaturen liegen zwischen –100,15 °C
lipophilen Ende (hier R2),
sogenannte Tenside. Fette beträgt 1,26 g / cm3. Es ist in allen Mischungs- und –12,65 °C, ihre Siedetemperaturen zwischen
und Wachse sind Ester des verhältnissen in Wasser oder Alkoholen löslich, 31,85 °C und 212,85 °C. Daher sind diese Ester
Glycerins mit langkettigen aber unlöslich in unpolaren Substanzen wie rasch flüchtig, so die Geschmackskomponen-
Carbonsäuren. Zweiwer-
tige Alkohole wie Glykol Ether, Benzin oder Chloroform. Mit Säuren ten bei der Bier- und Weinvergärung. Sie sind
können an beiden Hydro- bildet Glycerin zahlreiche Ester bzw. Fette. im Wasser kaum löslich oder unlöslich und hy-
xygruppen Ester bilden. Aufgrund dieser Eigenschaften ist Glycerin ein drophob. Aufgrund fehlender Hydroxygruppen
Dadurch können lange
Ketten entstehen, also
vielseitig verwendbarer chemischer Rohstoff: können viele Estermoleküle untereinander keine
Polymere wie Polyethylen- Bei der Herstellung von Kunststoffen, Mikro- Wasserstoffbrücken ausbilden, wohl aber mit
terephthalat, das bekannte chips, Farbstoffen und Zahnpasten dient es als Wassermolekülen solche eingehen, wobei sie nur
PET, aus Terephthalsäure
Ausgangsstoff. In Cremes und Kosmetika wird als Akzeptoren von Wasserstoff fungieren, denn
und Glykol.
Glycerin als Feuchtigkeitsspender, in Lebens- ihre Sauerstoffatome besitzen die erforderlichen
mitteln unter der Bezeichnung E 422 als Feucht- freien Elektronenpaare. Ester sind jedoch gut
haltemittel verwendet. Ferner wird es als Frost- löslich in unpolaren Flüssigkeiten wie Benzin.
schutz- und Schmiermittel, als Weichmacher Aufgrund dieser Eigenschaften sind Ester
und Süßungsmittel sowie neuerdings als Fut- vielseitig nutzbar und finden sich in vielen All-
termittel für Rinder und Schweine eingesetzt. tagsstoffen: in Nahrungsfetten, als Lösungsmit-
Häufig wird Glycerin auch zu medizinischen tel in Klebstoffen und Lacken, als Insektizide,
352
Erde, Wasser, Luft und Feuer
als Duftstoffe in Kosmetika, als Süßungsmittel Quecksilber gehörte neben Salz und Schwefel zu
in Lebensmitteln. Gegen Kopfschmerzen nehmen den drei alchemistischen Grundelementen (Å Von
viele Menschen Aspirin (C9H8O4), einen Ester der Alchemie zur Chemie, Seite 59). Man
der Salicylsäure. Ester sind Ausgangstoffe für ordnete dieses Metall in der Antike dem Planeten
häufig anzutreffende Kunststoffe wie Polyester, und flinken römischen Handelsgott Merkur zu;
darunter PET (Polyethylenterephthalat, Å Poly- sein heutiger Name in vielen Sprachen (z. B. engl.
mere, Seite 292), ein Ester der Terephthalsäure. mercury) geht darauf zurück.
Viele Ester der Phosporsäure sind sehr giftige Das metallische Element Quecksilber (Hg)
Substanzen, wie die chemischen Kampfstoffe ist recht selten. Gediegen kommt es kaum vor,
Sarin, Soman und Tabun. Sie blockieren das En- sondern meist als Quecksilbersalz in Mineralen
6 -69
6-69
zym Acetylcholinesterase, das für den Abbau des oder als organische Quecksilberverbindung. Aus Gefährliche Ester. Nitro-
Neurotransmitters Acetylcholin an den Synapsen natürlichen Quellen wie Vulkanismus und Ver- glycerin ist ein hochexplo-
sorgt. Es kommt daher zur Dauererregung von witterung werden jährlich zwischen 25 000 und siver dreifacher Ester des
Glycerins mit Salpetersäure
Nervenzellen und zu Muskelkrämpfen, was zum 15 500 Tonnen Quecksilber in die Hydro- und (Trisalpetersäureglycerines-
Tod führen kann. Andererseits sind bestimmte die Atmosphäre eingetragen, aus menschlichen ter). Das Nervengift Sarin
Phosporsäureester wichtige Stoffwechselteilneh- Quellen stammen 8000 bis 38 000 Tonnen. Das ist ein Phosphorsäureester
des Isopropanols, mit einer
mer. So ist der Energieträger der Zellen, das Ade- wirtschaftlich wichtigste Quecksilbermineral ist zusätzlichen Methylgruppe
nosintriphosphat, ein Ester der Phosphorsäure der rötlich gefärbte Zinnober (Quecksilber(II)- am Phosphoratom (Me-
(Å Abbildung 12-16, Seite 510). sulfid, HgS). Aus ihm wird mittels Erhitzung und thylfluorphosphorsäureiso-
propylester).
Sauerstoffzufuhr reines Quecksilber gewonnen
Exotische Flüssigkeiten (HgS + O2 → Hg + SO2).
Das Metall kommt in 34 Isotopen (175Hg bis
Das fließende Silber – Quecksilber 208Hg), davon in sieben natürlichen, vor. Aus
353
KAPITEL 6 Wasser
Quecksilbervergiftungen. bindungen sind wasserlöslich. Mit anderen Me- von dem deutschen Chemiker PAUL WALDEN
Ein trauriges Beispiel
tallen lässt es sich leicht zu Amalgamen legieren. (1863 –1957) mit Ethylammoniumnitrat die erste
lieferte die sogenannte
Minamata-Katastrophe Gediegenes Quecksilber wirkt aufgrund ionische Flüssigkeit mit einem Schmelzpunkt von
in den 1950er Jahren in seiner Reaktionsträgheit im Verdauungstrakt 12 – 14 °C beschrieben, aber diese Entdeckung
Japan, bei der viele Tau-
schwach giftig, aber seine Dämpfe sind stark blieb jahrzehntelang unbeachtet. Erst ab 1982
send Tote und Verletzte
zu beklagen waren. Eine gesundheitsschädigend. Anorganische Queck- befassten sich Chemiker mit Chloroaluminat-
Kunststofffabrik hatte dort silberverbindungen sind mit zunehmender Lös- Schmelzen als polarem, nicht wässrigen Lösungs-
jahrlang quecksilberhaltige lichkeit giftiger und organische Quecksilber(II)- mittel für Übergangsmetallkomplexe. Als Anfang
Abwässer in eine Bucht
geleitet. Im Abwasser verbindungen wie Methylquecksilber (CH3Hg) der 1990er Jahre erste gegenüber Wasser stabile
enthaltenes Methylqueck- sind hochtoxisch (Å Randspalte), da sie leicht ILs synthetisiert werden konnten, erkannte man
silber reicherte sich in Fi- resorbiert werden und das Quecksilber schwe- die speziellen Eigenschaften und die daraus resul-
schen und Meeresfrüchten
an, welche von den Men- felhaltige Proteine im Körper angreift. Da sie nur tierenden, vielfachen Einsatzmöglichkeiten dieser
schen verzehrt wurden. langsam abgebaut oder ausgeschieden werden, Substanzen bei chemischen Prozessen.
Bei deren Verzehren ver- reichern sie sich im Körper an und führen so zu Ionische Flüssigkeiten bestehen, wie ihr
gifteten sich die Esser.
schleichenden Vergiftungen. Bis ins 20. Jahr- Name besagt, aus geladenen Teilchen: aus (or-
hundert wurden allerdings quecksilberhaltige ganischen) Kationen sowie aus (meist anorga-
Medikamente in der Medizin verschrieben, u. a. nischen) Anionen. Diese bilden salzartige, stets
gegen die Geschlechtskrankheit Syphilis. Heute flüssige Substanzen und werden deshalb auch
ist die Nutzung dieses Elements wegen seiner als flüssige Salze bezeichnet. Die Kombinati-
potenziellen Toxizität stark eingeschränkt. Seit onsmöglichkeiten von derartigen Kationen mit
April 2009 ist dieses Metall in Messgeräten für Anionen sind enorm zahlreich: Theoretisch wä-
den privaten Gebrauch, also Fieberthermome- ren zwischen 1012 bis 1018 ionische Flüssigkei-
tern, Blutdruckmessern usw. verboten. ten herstellbar, tatsächlich genutzt werden rund
Früher wurden Gold- und Silbererze mittels 300 ILs. Gängige Vertreter dieser Substanzen
eines Quecksilberamalgamverfahrens (Å Alltäg- sind imidazolium-, pyridinium-, ammonium-
liche Metalle – Legierungen, Seite 253) aufbe- u nd phosphoniumstämmige Verbindungen
reitet. Mit Silber- und Goldpartikeln werden (Å Abbildung 6-70).
dabei Amalgamkügelchen gebildet. Durch Wär- Allen gemeinsam sind der Aufbau aus be-
mebehandlung kann das Quecksilber daraus weglichen Ionen und ein Schmelzpunkt unter
entfernt werden. Heute werden diese Gewin- 100 °C (dagegen Steinsalz: 803 °C). Den flüs-
nungsprozesse wegen großer Umweltschädigung sigen Aggregatszustand haben ionische Flüs-
und Gesundheitsgefährdung industriell kaum sigkeiten der Größe und Form der organischen
mehr angewandt. Auch Desinfektions- und Ionen zu verdanken. Sie verhindern die Bildung
Beizmittel enthalten heute kaum noch Queck- fester kristalliner Gitterstrukturen, wie sie sonst
silber. Ebenso ersetzt man in der Dentaltechnik für Substanzen bei diesen Temperaturen üblich
die früher üblichen Amalgamplomben durch sind. Unterhalb ihrer thermischen Zersetzungs-
Kunststoffplomben. Quecksilber kommt noch temperatur zwischen 350 °C und 400 °C lässt
in Gasentladungslampen mit blaugrünem Licht, sich aufgrund einer starken Anziehung zwischen
in Energiesparlampen sowie in Batterien und den Kationen und den Anionen kein messbarer
bestimmten Schaltern vor. In der Elektrotech- Dampfdruck feststellen. Sie sind weder brenn-
nik nutzt man Quecksilber zur Herstellung von bar noch flüchtig. Weitere physikalisch-che -
Flachbildschirmen, in der Chlor-Alkali-Industrie mische Eigenschaften wie Lösungsverhalten,
zur Erzeugung von Natronlauge und Chlor. In- Viskosität, elektrische Leitfähigkeit, spezifische
dustriell wird Quecksilber weiterhin u.a. in Flüs- Wärmekapazität sowie thermische und chemi-
sigkeits- und Kontaktthermometern eingesetzt. sche Stabilität, sind, abhängig von den kombi-
nierten Kationen und Anionen, sehr variabel.
6-70
Ionische Flüssigkeiten Viele ionische Flüssigkeiten zeigen ungewöhnli-
Eine ionische Flüssigkeit.
Anion und Kation einer che Lösungseigenschaften. Heute sind Chemiker
ionischen Flüssigkeit. Die In den letzten beiden Jahrzehnten hat eine neue in der Lage, spezielle ionische Flüssigkeiten für
Größe und Form der Anio- Klasse synthetischer Stoffe enorm an Bedeutung jeden Anwendungszweck zu synthetisieren.
nen und Kationen verhin-
dern die Kristallbildung bei gewonnen, die sogenannten ionischen Flüssigkei- Aufgrund ihrer außergewöhnlichen Eigenschaf-
Raumtemperatur. ten (ILs, Ionic liquids). Zwar wurde schon 1914 ten haben die ionischen Flüssigkeiten inzwischen
354
Erde, Wasser, Luft und Feuer
eine weite Anwendung in der Biotechnologie siert Helium-II zumindest teilweise als sogenann-
sowie in der chemischen und pharmazeutischen tes Bose-Einstein-Kondensat, bei dem die Teilchen
Industrie erreicht. Sie eignen sich als hervorra- der Flüssigkeit den gleichen Quantenzustand ein-
gende Elektrolyten in Batterien und Kondensa- nehmen, sie verfügen also über eine gemeinsame
toren und ermöglichen als Elektrolytmaterial in ÅWellenfunktionen (Seite 431). Dagegen folgen
Farbstoffsolarzellen auch bei geringer Lichtin- Fermionen wie das 3He-Ion nicht den Regeln des
tensität eine Stromerzeugung. Sie bilden effi- Bose-Einstein-Kondensats, vielmehr lässt sich sein
ziente Reaktionsmedien und Katalysatoren bei Übergang analog zur Supraleitfähigkeit (Å Vom
chemisch-organischen Synthesen. Als umwelt- Leiter zum Supraleiter, Seite 207) beschreiben.
freundliche, verlustarme, sogenannte „grüne“ Wenn sich 3He-Atome zu sogenannten Cooper-
Lösungsmittel bieten sich die ILs an und erset- Paaren vereinen, reagieren diese wie Bosonen
zen giftige wie Tetrachlormethan (CCl4) oder und können eine Superflüssigkeit bilden, jedoch
Chloroform (CHCl3). Mit ihrer Hilfe können bei deutlich niedrigerem Lambdapunkt (0,002 K,
sonst schwer lösliche organische, anorganische –273,148°C).
sowie organometallische Substanzen getrennt Noch tiefer liegt der Lambda-Punkt beim 6Li-
werden. Auch Cellulose lässt sich hervorragend Fermion, nämlich bei 50nK (Nanokelvin). Konn-
in ionischen Flüssigkeiten lösen und für synthe- ten 4He-Bosonen schon 1908 verflüssigt werden,
tische Umwandlungen, z. B. zu Cellulosefasern so gelang das beim 3He-Fermion erst 1973 und
oder zu Kunststoffen, aufarbeiten. Dadurch wird beim 6Li-Fermion erst 2005. Theoretisch sollte
nicht nur die Ausbeute des Naturstoffs Cellulose flüssiger, metallischer Wasserstoff bei extrem ho-
gesteigert, sondern auch die bei bisherigen Lö- hen Drücken von mehreren Milliarden Hekto-
sungsverfahren anfallende schädliche Abwasser- pascal auch in eine Superflüssigkeit übergehen.
menge erheblich reduziert. Japanische Forscher Der gemeinsame, makrokopische Quantenzu- 6-71
Superflüssigkeit. Bosonen,
haben Möglichkeiten aufgezeigt, Kunststoffe stand der Bosonen einer Superflüssigkeit ist für Teilchen mit ganzzahligem
wie Nylon oder Kevlar mithilfe von ILs in ihre deren praktisch fehlende Viskosität und unendlich Spin, können alle den
elementaren Monomerbausteine aufzulösen und hohe Wärmeleitfähigkeit verantwortlich. Wär- gleichen Energiezustand
einnehmen, im Gegen-
damit neue Wege zum Kunststoffrecycling unter meleitung erfolgt nicht durch Diffusion, sondern
satz zu Fermionen, also
Vermeidung des giftigen Schwefelwasserstoffs durch Phononendichtewellen, die nur quantenme- Teilchen mit halbzahligem
geöffnet. chanisch erklärbar sind. Allerdings verschwindet Spin. Hier sind pro Zustand
bei Helium-II die Reibung nicht vollständig, was maximal zwei Teilchen
möglich (Pauli-Prinzip). Bei
Superflüssigkeiten man darauf zurückführt, dass sich ein Mischzu- Temperaturen am abso-
stand aus kondensierten und nicht kondensierten luten Nullpunkt sammeln
Die Vorsilbe „super“ bezieht sich auf eine ganz Heliumatomen einstellt. Superflüssigkeiten kön- sich Bosonen auf dem
niedrigsten Energieniveau,
spezielle, von derjenigen normaler Flüssigkeiten nen nicht wie gewöhnliche Flüssigkeiten mit ei- aber Fermionen nur dann,
abweichende Eigenschaft dieser Flüssigkeiten: eine nem großem Wirbel rotieren, vielmehr entstehen wenn aufgrund schwacher
praktisch verschwindende Viskosität. Beschrieben bei schneller Rotation kleine isolierte, quantisierte Kopplungskräfte Cooper-
paare entstehen können,
wurde sie 1937 vom russischen Physiker PIOTR Wirbel (Vortices), die ein regelmäßiges hexagona- die selbst Bosonen sind.
LEONIDOVIC KAPITSA (1894 –1984), dem kanadi- les Gitter bilden können. Dank fehlender innerer Bosonen auf dem gleichen
schen Physiker JOHN FRANK ALLEN N (1908 – 2001) Reibung dringen Superflüssigkeiten durch engste Energieniveau verhalten
sich wie ein einziges Teil-
und dessen Mitarbeiter DON MISENER. Als Super- r Schlitze und Kapillaren. Aufgrund der schwa-
chen, da sie durch eine
flüssigkeit (Supraflüssigkeit, Superfluidität) wird chen Kräfte zwischen den Teilchen bilden sich einzige Wellenfunktion be-
in der Physik ein Phasenzustand bezeichnet, den auf den Oberflächen Flüssigkeitsfilme mit etwa schrieben werden. Die für
Elemente wie Helium und Lithium nahe am ab- 100 Atomen Dicke, sogenannte Rollin-Filme, Bosonen geltende Ener-
gieverteilung nennt man
soluten Temperaturnullpunkt annehmen können. Bose-Einstein-Verteilung,
Das in Helium bei weitem vorherrschende Isotop daher der Name Bose-
4He wird unterhalb von 4,2 K (–268,95°C) flüs- Einstein-Kondensate für
Superflüssigkeiten.
sig, es bildet sich Helium-I (Å Abbildung 6-72).
Bei weiterer Abkühlung vollzieht sich bei Nor- r
maldruck unterhalb von 2,1768K (–270,98°C), 6-72
dem sogenannten Lambda-Punkt, ein abrupter Superflüssiges Helium.
Unterhalb der Lambda-
Übergang zum superflüssigen Helium-II. Da 4He- Linie wird 4He zu einer
Atome einen ganzzahligen Spin besitzen, konden- Superflüssigkeit.
355
KAPITEL 6 Wasser
die infolge wesentlich stärkerer Adhäsionskräfte halt. Je höher der Gehalt an festen Partikeln
zwischen Superflüssigkeit und Oberfläche auch (Kristallen) und an Siliciumdioxid (SiO2) ist,
höher liegende Hindernisse überfließen können. desto höher ist die Viskosität. SiO2-reiche
Dieser sogenannte Onnes-Effekt, benannt nach Schmelzen werden als saure Schmelzen be-
seinem Entdecker, dem niederländischen Physiker zeichnet. SiO2-Tetraeder (Å Kasten Mineral-
HEIKE KAMERLINGH ONNES (1853 – 1926) lässt klassen, Seite 227) neigen dazu, größere, ket-
sich am Beispiel eines mit Helium-II gefüllten ten- bzw. bänderförmige Einheiten zu bilden,
Bechers zeigen. Die Adhäsionskräfte vermögen sogenannte Polymere, die die Fließfähigkeit
die Gravitation zu überwinden, und Helium-II herabsetzen. Beim Aufstieg des sauren Magmas
fließt über den Becherrand aus. kommt es zur Druckentlastung und zur Bildung
Superflüssigkeiten werden heute in verschie- von Gasblasen. Aus dem hochviskosen austre-
denen Bereichen in der Physik und der Chemie tenden Magma kann das Gas jedoch nicht ent-
genutzt: Für das Studium von Gasen bei Tiefst- weichen, es bleibt unter hohem Druck. Weitere
temperaturen, in der Spektroskopie als Quanten- Druckentlastung kann dann zu eruptiven bzw.
lösungsmittel und in der Hydraulik als Schmier- explosiven, lavaarmen Vulkanausbrüchen wie
mittel mit Niedrigstviskosität sowie als rasch z. B. beim Mont Pelé 1902 (Karibik) oder beim
rotierende Kreisel (Gyroskope) für Navigations- Pinatubo 1991 (Philippinen) führen. Liegt der
und Lageregelungsinstrumente. Ebenfalls genutzt Gehalt an festen Partikeln über 60 Volumen-
werden sie in der Luft- und Raumfahrt sowie in prozent, so verhält sich Magma eher wie ein
Geräten zur Messung der Erdrotation. Festkörper. Sind schließlich alle festen Partikel
miteinander im Kontakt, so zeigt das Gemisch
Fließende Gesteine kein viskoses, sondern ein elastisches Fließver-
halten. Je höher die Temperatur und der Wasser-
Einerseits bilden rotglühende Gesteinsströme, gehalt der Schmelzen sind, desto dünnflüssiger
die sich die Flanken von Vulkanen herabwälzen, und weniger viskos verhält sich das Magma.
besonders nachts spektakuläre Schauspiele. An- Eine solche SiO2-ärmere Schmelze nennt man
dererseits bedrohen solche heißen Gesteinsmas- basisch. Seine Lava fließt mehr oder minder
sen Menschen und Umwelt mit enormen Zer- turbulent aus Kratern oder Spalten an Vulkan-
störungen. Derartige fließende Gesteinsströme flanken aus, so z. B. beim Ätna (Sizilien) oder
nennen Vulkanologen Lava. Dabei handelt es beim Mauna Loa (Hawaii).
sich um zutage tretende, weitgehend entgaste Einen wichtigen Einfluss auf die Viskosität
Gesteinsschmelzen, die Magma genannt werden, übt auch der Gehalt an Gasen, wie Kohlendi-
solange sie sich noch im Erdinnern befinden. oxid (CO2), Schwefeldioxid (SO2), Schwefel-
Magmen sind Gesteine, die im Erdmantel wasserstoff (H2S), Chlorwasserstoff (HCl) sowie
und in der Erdkruste (Å Schalenbau der Erde, Wasserdampf, aus. Bilden diese Gase aufgrund
Seite 224) bei Temperaturen zwischen 800 und weniger Kapillaren sphärische Blasen, so ist die
6-73 1300 °C bei Drücken bis zu 20 kbar und mehr Gesteinsschmelze ziemlich viskos.
Pahoehoe-Lava. Diese geschmolzen, also fließfähig sind. Meist sind es Doch Rheologie und Viskosität ändern sich
Art von Lava ist etwa
1100 – 1200 °C heiß,
keine reinen Zwei-Phasen-Gemische aus völlig ständig durch wechselndes Zusammenwirken
dünnflüssig und gasarm. verflüssigten Gesteinen (Schmelze) und darin dieser Parameter und bestimmen Segregation
Das Foto zeigt eine Lava- gelösten Gasen, sondern mindestens Drei-Pha- und Fragmentation, Transport sowie die Art
fontäne auf Hawaii.
sen-Suspensionen (Å Suspension, Seite 330), der Einlagerung von Magma in die Erdkruste.
denn als dritte Komponente gesellen sich in der Aufgrund ihres Mineralbestandes bilden
Regel zahllose, in der Schmelze schwimmende abgekühlte, verwitterte Lavaströme oft frucht-
Kristalle hinzu. bare Böden. Magmatische Gesteine wie Granite
Die Viskosität ist abhängig von der herr- oder Basalte wurden und werden noch heute als
schenden Temperatur, der chemischen Pflastersteine und Baumaterialien hoch geschätzt
Z usammensetzung des Gestei ns- (Å Produkte des Erdinneren – Magmatite und
breis sowie von dessen Gasge- Metamorphite, Seite 244).
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
35 6
35
© 2012 WEELSCH
LSCH
LSCH
CH & PA
PARTN
PART
ARTN
RT
RTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
Luft
KAPITEL 7
Luftige Stoffe
Flüchtige Berührung
Das Element der Freiheit
Zum siebten Kapitel
Wir neigen dazu, Dinge wie Gase, die wir nicht wie Körper
oder Flüssigkeiten direkt sehen oder fühlen können, weniger
wichtig zu nehmen. Trotz ihrer Allgegenwart sind viele Gase
unsichtbar, geruchlos und nicht ertastbar. Das gilt insbeson-
dere für die Luft, die uns vollständig umgibt und uns in Form
der Erdhülle, der „Atmosphäre“, nicht nur mit dem lebens-
notwendigen Atemgas versorgt, sondern auch vor schädlichen
Strahlen aus dem Kosmos schützt. Ohne feste und flüssige
Stoffe aus Nahrungsmitteln können Menschen einen oder
mehrere Tage auskommen, aber nur wenige Minuten ohne
den für unsere Körperfunktionen lebenswichtigen Bestandteil
der Atemluft. Deshalb stehen die Luft und ihre Hauptbestand-
teile Stickstoff und Sauerstoff im Fokus dieses Kapitels. Ferner
werden exemplarisch auch andere gasförmige Substanzen
angesprochen, mit denen wir häufig in Berührung kommen
oder die für uns besonders wichtig sind. Hierzu gehören etwa
der Wasserstoff, die Edelgase, Erdgas (Methan) und Kohlen-
dioxid bis hin zu in der Luft vorhandenen Schadstoffen und
Duftmolekülen. Grenzfälle wie die Aerosole haben wir bereits
im Kapitel über das Wasser angesprochen.
Aus theoretischer Sicht gelten Gase als die am einfachsten
zu beschreibenden Stoffe: Das Gesetz der idealen Gase und
die kinetische Gastheorie werden deshalb in Lehrbüchern der
physikalischen Chemie meistens nach der Einführung in den
atomaren Aufbau der Materie abgehandelt. Die Bezeichnung
„Gas“ wurde im Niederländischen in Anlehnung an das
ähnlich klingende Wort „Chaos“ geprägt, was im Hinblick
auf die Teilchenbewegungen, wie wir noch sehen werden,
gar nicht falsch ist!
Bis ins 17. Jahrhundert wurden Gase wegen ihrer schein-
baren Gewichtslosigkeit und wegen ihrer Fähigkeit, sich
überall in einem Raum zu verteilen, sogar oft nicht als Ma-
terie angesehen. Erst dem Politiker und Naturwissenschaftler
OTTO VON GUERICKE gelang es mit seinen Versuchen nach-
zuweisen, dass Luft ein Gewicht besitzt und damit Druck
ausübt (Luftdruck). Und der französische Chemiker ANTOINE
LAURENT DE LAV A OISIER erkannte aufgrund seiner Experimente,
dass Gase wirklich Stoffe sind.
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Luft
359
KAPITEL 7 Luft
Luftdruck
oberfläche in Quadratzentimetern mit der aus (was etwa dem Gewicht einer Kiste Bier ent-
Luftmasse über dieser Fläche multipliziert. spricht). Die Kraft bewegter Luft rührt von ihrer
Sie beträgt rund 5 · 1018 kg, was etwa einem Masse her. Diese Masse unterliegt auch der Erd-
Millionstel der Erdmasse entspricht anziehung und äußert sich in einem nicht unwe-
sentlichen Gewicht der Luft. Der mittlere Druck
7-2 der Luft entspricht dem Gewicht der über einer
7-3
Abhängigkeit des Luftdrucks von bestimmten Fläche lagernden Luftsäule bis in den
Luftdruck. Denkt man sich
der Höhe. Bezogen auf den Luft- Weltraum. Wir nehmen diesen Druck allerdings
wenig befüllte Luftkissen
druck in Meereshöhe nimmt der
Luftdruck bereits in der untersten
aufeinander gestapelt, so kaum wahr, denn er wirkt von allen Seiten. Er
ergibt sich ein ungefähres beträgt unter Normalbedingungen an der Meeres-
Schicht, der Troposphäre, stark
Bild der exponentiellen
ab. Auf dem höchsten Gipfel der oberfläche 1 Atmosphäre (1 atm = 1013,25 Hek-
Druckverteilung in der
Erde, dem ca. 8848 Meter hohen
Atmosphäre. Diese wird topascal = 1013,25 Millibar, ÅKasten Luftdruck)
Mount Everest in Nepal beträgt
durch die barometrische Den gleichen Druck könnte man erzeugen, wenn
er nur noch ca. 33 Prozent
Höhenformel beschrieben.
seines Wertes in Meereshöhe. man auf einer 1 Quadratzentimeter großen Fläche
Verkehrsflugzeuge nutzen den eine Last von 1,013 Kilogramm einwirken ließe.
sehr geringen Luftwiderstand in
Höhen von ca. 12 000 Metern Auch eine 10 Meter hohe Wassersäule könnte
zur Treibstoffersparnis. diesen Druck aufbringen.
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Lufthülle. Übrigens:Wegen
der Beugung an den im-
mer dichteren Schichten
der Atmosphäre sehen wir
einen Himmelskörper auch
dann, wenn er sich knapp
unter dem geometrischen
Horizont befindet.
361
KAPITEL 7 Luft
gungen angeregt werden können, deren Energien eher wie winzige Billardkugeln. Man benötigt
denjenigen sichtbarer Lichtteilchen entsprechen. die Annahme von Stößen für eine realistische
Weiterhin tritt bei Gasen Lichtbrechung auf, Simulation, denn sonst würde jedes Teilchen
wenngleich entsprechend ihrer geringeren Dichte für sich einfach seine Ursprungsgeschwindigkeit
7-6
Modell des idealen Gases. in viel schwächerem Maße als etwa bei Glas oder beibehalten und könnte keinen Impuls mit den
Massenpunkte (m, x, y, z, Wasser. Wir beobachten sie etwa im Flimmer anderen austauschen. Damit Zusammenstöße
vx, vy, vz). heißer Luft über sommerlichen Straßen oder im erfolgen, muss man einen gewissen Wirkungs-
Flackern der Sterne (Å Wunderteleskope auf der querschnitt annehmen.
Erde, Seite 448). Auf der Basis dieses Modells lassen sich über
Im weiteren Sinne wird der Ausdruck Gas die kinetische Gastheorie einige unabhängig
auch für Dämpfe flüssiger Stoffe benutzt, also gefundene experimentelle Zusammenhänge ma-
für Stoffe, die bei erhöhter Temperatur oder nied- kroskopischer Größen herleiten, die Gesetze von
rigem Druck verdampft sind, obwohl sie unter Boyle und Mariotte, Gay-Lussac und Amonton
Standardbedingungen flüssig oder fest wären. (Å Abbildungen 7-7 bis 7-9). Die Gasgesetze
für ideale und für „reale“ Gase beschreiben die
7-7
Gesetz von Boyle-Mari- Ideal oder real? Beziehungen zwischen den Variablen Druck, Vo-
otte. Beschreibt das Ver- lumen, Temperatur und Stoffmenge bzw. Masse
halten eines idealen Gases Viele der Eigenschaften von Gasen lassen sich und Teilchenzahl. Die ideale Gasgleichung be-
bei konstanter Temperatur.
bereits über die stark abstrahierte Modellvor- inhaltet alle drei historisch aufgestellten Zu-
stellung eines „idealen Gases“ verstehen und nä- sammenhänge (Å Abbildung 7-10). Sie besagt,
herungsweise berechnen. Experimentell weichen dass das Produkt aus dem Druck p und dem
Gase hiervon insbesondere bei hohen Drücken Volumen V geteilt durch die Temperatur T bei
und niedrigen Temperaturen mehr oder weniger idealen Gasen eine Konstante ist, die sich aus
stark ab. Sie werden dann genauer durch das der Stoffmenge n und der sogenannten univer-
detailliertere Modell des sogenannten „realen sellen Gaskonstanten R ergibt.
Gases“ beschrieben. Man sollte sich natürlich Einige gemessene Eigenschaften von Gasen
7-8 stets vor Augen führen, dass auch das Letztere lassen sich so theoretisch begründen und nähe-
Gesetz von Gay-Lussac. trotz der Bezeichnung nur ein genaueres ma- rungsweise berechnen. Unter Normbedingungen
Beschreibt das Verhalten
eines idealen Gases bei
thematisches Modell ist, keinesfalls aber die (T = 0 °C und p = 1,013 bar) nimmt ein Mol eines
konstantem Druck. Realität selbst. idealen Gases einen Raum von 22,4 Litern ein.
Die aus der idealen Gasgleichung erhaltenen
Ideales Gas Ergebnisse stimmen für Gase aus relativ kleinen
Teilchen mit geringen Wechselwirkungen wie
Dieses Modell betrachtet Gasmoleküle bzw. Helium (He) oder Wasserstoff (H2) recht gut mit
-atome als Punkte mit einer bestimmten Masse der Realität überein. Auch in der Luft vorkom-
m, aber ohne jede Ausdehnung (ÅAbbildung mende Gase wie Stickstoff (N2), Sauerstoff (O2)
7-6). Letztere Annahme ist notwendig, damit und Argon (Ar) lassen sich bei nicht allzu hohen
man sich ein Gas beliebig stark zusammenge- Drücken hiermit ausreichend genau beschreiben.
7-9
drückt vorstellen kann, ohne dass sich dessen
Gesetz von Amonton.
Beschreibt das Verhalten Verhalten ändert. Diese Massepunkte sollen zwi- Reale Gase
eines idealen Gases bei schen Zusammenstößen keinerlei äußeren Kräf-
konstantem Volumen.
ten unterliegen, man nimmt also an, dass keine Es sind hauptsächlich zwei Effekte, die bei grö-
merkliche Gravitationskraft wirkt und keine ßeren und chemisch weniger inerten Teilchen
elektrischen Ladungen im Spiel sind. Jeder so sowie bei hohen Drücken für signifikante Ab-
definierte Massenpunkt hat eine bestimmte Ge- weichungen der „idealen“ Theorie vom Expe-
schwindigkeit v und damit einen Impuls (p = m·v). riment sorgen. Zum einen ist das Volumen der
7-10 Stoßen die Teilchen mit den Wänden zusammen, Gasmoleküle selbst gegenüber dem betrachteten
Gasgleichung ideales Gas.
p = Druck [Pa]; so prallen sie elastisch zurück. Dieses Modell ist Gefäßvolumen nicht mehr völlig vernachlässig-
n = Stoffmenge [mol]; natürlich stark abstrahiert. Im Grunde wider- r bar. Man spricht vom Kovolumen. Zum anderen
T = Temperatur [K]; sinnig ist auch eine andere Annahme: Obwohl kommt es unter diesen Umständen zu häufigen,
R = Gaskonstante
(8,31 J·mol–1·K–1) ohne Ausdehnung, können die Massenpunkte nicht vernachlässigbaren Wechselwirkungen
V = Volumen [m3]; doch zusammenstoßen und verhalten sich damit zwischen den Teilchen (Kohäsionsdruck). Das
362
Erde, Wasser, Luft und Feuer
363
KAPITEL 7 Luft
Türschleier
364
Erde, Wasser, Luft und Feuer
beschriebene Zusammensetzung bezieht sich auf wird die Stratosphäre durch die Stratopause
die unteren Schichten und ändert sich bereits begrenzt. Die meisten düsengetriebenen Flug-
oberhalb von 20 km deutlich. So findet sich dort zeuge fliegen in der dünnen Luft der unteren
kaum noch Wasserdampf. Ab ungefähr 500 km Stratosphäre. Spezielle Höhenforschungsbal-
ändern sich die chemischen und physikalischen lons können bis in die Stratospause aufsteigen.
365
KAPITEL 7 Luft
366
Erde, Wasser, Luft und Feuer
tralen Zustand vor, sind also nicht ionisiert. Erde ist allerdings der häufig vergessene Was- Rauch
serdampf (H2O) in der Troposphäre: Er trägt Rauch (Brandgas) entsteht
vorwiegend aus der Ver-
2 Ionosphäre (oberhalb der Ozonschicht ca. 60 Prozent zum natürlichen Treibhauseffekt brennung von Feststoffen.
i n 80 – 500 k m Hö h e). Die Gasmoleküle bei. Das ist auch gut so, denn hätten wir diesen Es handelt sich um ein
sind überwiegend aufgespalten in geladene natürlichen Treibhauseffekt nicht, so hätte die heterogenes Stoffgemisch,
das aus Rauchgasen wie
Atome, Molekülionen sowie in Elektr o - Erdoberfläche eine Durchschnittstemperatur von Stickoxiden, Wasser-
nen; nach Ionisierungsgrad weitere Untertei- –18 °C. Zum Vergleich: In einer Eiszeit sinkt dampf, Kohlenmonoxid,
lung in D-Schicht (80 – 100 km), E-Schicht die Durchschnittstemperatur normalerweise um Kohlendioxid, Schwefel-
wasserstoff und Chlor-
(100 – 150 km) sowie F-Schicht (150 – 500 km). weniger als zehn Grad ab! Ca. 20 Prozent des wasserstoff besteht. In der
Aufgrund der geladenen Teilchen hat die Io- Treibhauseffekts entfallen auf Kohlendioxid, der Gasphase sind winzige
nosphäre große Bedeutung für den Funkver- Rest auf N2O, Methan, Ozon usw. Das erst Staub- und Rußpartikel
verteilt. Einen Sonderfall
kehr und die Kurzwellenfrequenzen beim Ra- in den letzten Jahren auch in der Atmosphäre bildet Tabakrauch: Er ent-
dio. Je nach Frequenz werden Radiowellen gefundene NF3, welches als Ersatz für die ozon- hält bis zu 4800 chemische
hier durchgelassen, gestreut oder reflektiert. schädigenden FCKWs eingeführt wurde, hat sich Stoffe, darunter ca. 250
als giftig oder krebserre-
als Supertreibhausgas entpuppt. Indirekte Treib- gend eingestufte. Auch
Schädlich oder nützlich? – Treibhausgase hausgase wie Kohlenmonoxid (CO), Wasserstoff die Brandgase organischer
(H2), Stickoxide (NOX) usw. lösen zwar selbst Stoffe enthalten gesund-
heitsschädliche oder toxi-
Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht in den keinen Treibhauseffekt aus, beeinflussen aber die
sche Inhaltsstoffe.
Medien über die Klimaerwärmung und ihre Fol- chemischen Reaktionen echter Treibhausgase. Bis
gen für die Erde berichtet wird. Schuld daran auf Kohlendioxid (CO2) und Wasserdampf (H2O) Abgase
Abgase nennt man gas-
sind nach Meinung der Mehrheit der Fachleute werden Treibhausgase chemisch entweder durch förmige Abfallprodukte,
sogenannte Treibhausgase, die als Spurengase troposphärisches Ozon (O3) oder durch das in die beim Verbrennen von
in der Luft vorhanden sind. Treibhausgase sind extrem geringen Mengen vorhandene, aber hoch- Treibstoffen in Motoren
entstehen.Sie setzen sich
durchaus nützlich, da sie – zumindest bei be- reaktive Hydroxyradikal ·OH aus der Atmosphäre
aus Kohlenmonoxid und
stimmten Konzentrationen – die Temperaturen entfernt. Auch diese Gase sind für uns weder di- -dioxid, aus Stickoxiden,
auf der Erde erträglich gestalten. Allerdings füh- rekt sichtbar noch fühlbar. Trotzdem haben sie Schwefeldioxid usw. zu-
ren die verstärkte Verbrennung fossiler Brenn- potenziell unangenehme Auswirkungen. sammen, die zur Bildung
von Treibhausgasen bei-
stoffe, Abholzung und intensive Viehwirtschaft tragen. Auch die darin
zu einer Zunahme der Konzentration klimaschä- Große Wirkung – der Treibhauseffekt enthaltenen feinsten Ruß-
digender Treibhausgase. Momentan entlässt der und Schwermetallpartikel
werden als gesundheits-
Mensch weltweit jährlich ca. 30 Milliarden Ton- Das Grundprinzip des Treibhauseffekts ist recht schädigend eingestuft,
nen Treibhausgase in die Atmosphäre. einfach zu verstehen. Nach dem Planckschen was zur Feinstaubverord-
Strahlungsgesetz (ÅStrahlungsgesetze von Ste- nung geführt hat.
Wenige und doch sehr wirksam fan bis Planck, Seite 96) sendet jeder Kör- Rauch und Abgase wer-
per mit einer Temperatur über dem absoluten den zu den Aerosolen
Was also sind Treibhausgase? Bei allen handelt Nullpunkt Energie in Form elektromagnetischer gerechnet (Å Kasten Feste
und flüssige Luftinhalts-
es sich um Spurengase überwiegend in der Tro- Wellen aus. Die genaue Zusammensetzung aus stoffe Aerosole, Seite
posphäre. Das wichtigste Treibhausgas für die kürzeren bzw. längeren Wellen, also das Emis- 320).
367
KAPITEL 7 Luft
368
Erde, Wasser, Luft und Feuer
breitet werden und beim Empfänger bestimmte von Riechstoffmolekülen mit komplementären
Empfindungen auslösen – den Geruch. Alle auf Passformen von Osmorezeptoren zu korrelieren,
dem Land lebenden Organismen sondern über um so die Gerüche nach dem Prinzip „Schlüs-
winzige Duftdrüsen Moleküle ab, die dufttra- sel und Schloss“ zu klassifizieren (Å Abbildung
gende (osmosphore) Gruppen besitzen. Die 7-19). Eine bis heute teilweise anerkannte ste-
relativ kleinen Riechstoffmoleküle sind stets reochemische Geruchstheorie, nach der die äu-
leicht flüchtige (leicht verdunstende) Verbin- ßere Form von Riechmolekülen mit bestimmten
dungen. Sie besitzen einen stark hydrophoben primären Geruchsempfindungen des Menschen
(wassermeidenden) und einen schwach polaren korreliert ist, veröffentlichte 1970 der britische
Teil. Die polaren, funktionellen Teile bilden os- Biochemiker JOHN EARNEST AMOORE (1930 –
369
KAPITEL 7 Luft
Billion Luftmoleküle kann ein Molekül dieses stoffe als auch ca. 3000 synthetische Kreati-
Riechstoffs im Sumpfgas gerochen werden. onen werden in vielen alltäglichen Produkten
Wie alle landlebenden Wirbeltiere besitzt gezielt eingesetzt. Was gut duftet, wird gerne
der Mensch spezielle Riechorgane, die in der genommen. Vielen Duftstoffen wird auch eine
Nase angesiedelt sind. Wirbellose Tiere haben physiologische Wirkung zugeschrieben, und sie
Geruchsorgane z. B. an Antennen oder an Füh- werden deshalb in der sogenannten Aromathe-
lern. Der menschliche Geruchssinn ist eng mit rapie genutzt.
dem Geschmackssinn verknüpft und zählt den Nach jüngsten Untersuchungsergebnissen
„chemischen Sinnen“ (Å Riechen und Schme- können verschiedene Menschen ein und den-
Aroma cken, Seite 24). Er beruht auf einer Dipol- selben Geruch als angenehm riechend oder als
Als Aroma wird eine Kom-
bination aus Geschmack Dipol-Wechselwirkung zwischen chemischen abstoßend stinkend empfinden, je nachdem,
und Geruch bezeichnet. Geruchsmolekülen und den Rezeptoren in der ob geringe Unterschiede im genetischen Code
Riechschleimhaut. Dort findet man ca. 390 eines bestimmten Geruchsrezeptors auftreten.
verschiedene gencodierte Typen von Riechzel- Der Austausch von lediglich zwei Aminosäu-
len, von denen der Mensch zwischen 10 und ren bei ihm genügt, um eine Substanz gut oder
30 Millionen in speziellen etwa zwei-cent-gro- übel riechen zu lassen.
ßen Bereichen der Nasenschleimhaut besitzt, ein Oft wehren sich Gemeinden erbittert gegen
Hund dagegen zwischen 250 und 300 Millio- die Ansiedlung von großen Schweinemastbetrie-
nen. Über eine Kombination dieser Typen kön- ben, weil sie den von Fäkalien ausgehenden Ge-
nen alle Geruchsmischung erfasst werden. Diese stank fürchten. Neben solchem Fäkaliengeruch
Riechzellen sind mit Millionen feinster Härchen empfinden wir auch Mundgeruch oder Aroma-
bestückt, die Tausende von flüchtigen chemi- stoffe wie von Knoblauch und manchen Käse-
schen Signalen osmophorer Gruppen auffangen sorten als unangenehm. Geradezu abstoßend
können. Allein in unseren Lebensmitteln sind ca. und ekelerregend wirken der Geruch von ver-
8000 flüchtige Duftstoffe bekannt, davon 5 Pro- wesendem Fleisch oder verrottendem Obst oder
zent Schlüsselgeruchsstoffe. In den Riechzellen Gemüse; gefürchtet sind die Abwehrgerüche von
werden die chemischen Impulse in elektrische Stinktieren oder der Gestank von chemischen
umgewandelt und über Nerven an das limbische Verbindungen wie Buttersäure in Stinkbomben.
System (Teil des zentralen Nervensystems, das Einige Pilze und Pflanzen wie die Titanwurz (mit
für Gefühle zuständig ist) weitergeleitet. Von der größten Blüte der Welt) locken mit Aasgeruch
dort werden die Geruchsreize an das Riechzen- Bestäuber oder Beute an, die offenbar ein völlig
trum der Großhirnrinde übergeben, wo eine anderes Geruchsempfinden als Menschen haben.
Einstufung der Geruchsempfindung stattfindet. Derartige faulige, fäkalienartige, beißend rie-
Die Bewertung eines Geruchs muss zumindest chende Gerüche werden meist durch Abbau- und
zum Teil erlernt werden. Diese im Gehirn ge- Fäulnisprozesse organischen Materials hervor-
speicherten Erinnerungen entscheidet dann mit, gerufen. Die meisten Stinkstoffmoleküle sind
ob Düfte positiv oder negativ wahrgenommen Abbauprodukte schwefelhaltiger Aminosäuren.
werden und bestimmte Gefühle hervorrufen. Geruchstragende Molekülteile sind hier kakos-
mophore Gruppen wie Thioaldehyde (–CHS),
Verlockung oder Gestank? Mercaptane (–SH), Thioether bzw. Sulfide (–S–
und –S) und Isocyanide (–NC). Für Menschen
Wohlgerüche wie der Duft von Rosen oder signalisieren ungenehm stinkende, beißende Ge-
Flieder erfreuen uns und rufen positive Ge- rüche „Vorsicht, ungenießbar!“ wie bei verdor-
7-21 fühle hervor. Pflanzliche Duftstoffe sind in benen Lebensmitteln oder „Vorsicht Gift!“ wie
Synthetische Duftstoffe. leicht flüchtigen ätherischen Ölen (Å Ätheri- im Falle von Schwefelwasserstoff.
Verwendung der produ- sche Öle, Seite 341) in Blüten, Früchten oder
zierten Stoffe.
Wurzeln enthalten. Sie dienen vorwiegend zur Verhaltenauslösende Duftstoffe –
Anlockung von Bestäubern (wie auch einige Pheromone
Stinkstoffe).
Stinksto Tiere erzeugen dagegen Duftstoffe
wie Ambra (Wale) oder Moschus Eine Gruppe von Duftstoffen, als Pheromone
(Moschustiere) in speziellen Duft- bezeichnet, lösen beim Empfänger bestimmte
drüsen. Sowohl natürliche Duft- Verhaltensreaktionen aus. Der Begriff Phero-
Erde, Wasser, Luft und Feuer
mon wurde 1959 vom deutschen Chemiker oder ungesättigte Alkanole, ferner deren Ester,
PETER KARLSON (1918 – 2001) gemeinsam mit Alkanale (ÅAlkohole, Seite 349), Säuren und
dem Schweizer Zoologen MARTIN LÜSCHER in deren Ester sowie Kohlenwasserstoffe.
Anlehnung an „Hormon“ geprägt. Sie bezeich- Nach ihrer Wirkung werden Pheromone zwei
neten damit flüchtige chemische Substanzen, die Gruppen zugeordnet. Sogenannte Primerphero-
außerhalb von Körpern wie Hormone wirken, mone erzeugen physiologische Veränderungen
also physiologische Reaktionen beim Empfänger beim Adressaten, indem sie über Signalketten in
hervorrufen. Pheromone, abgeleitet vom Grie- dessen Stoffwechsel eingreifen oder Proteine ak-
chischen „Träger der Erregung“ sind chemische tivieren: Mit solchen Pheromonen unterbinden
Signal- oder Reizstoffe (Semiochemikalien), die Bienen- oder Ameisenköniginnen das Wachstum
vom Empfänger schon in äußerst geringer Kon- von Eierstöcken anderer weiblicher Stock- bzw.
zentration, oft unterhalb der eigentlichen Wahr- Baumitbewohner, so dass sie allein Eier produ-
nehmungsgrenze, gedeutet werden können. Für zieren können. Sogenannte Releaserpheromone
die artspezifische Kommunikation spielen sie bei dagegen lösen eine unmittelbare Verhaltensreak-
einigen Wirbeltierarten sowie insbesondere bei tion beim Empfänger aus; nach Art der auslö-
Insekten eine überragende Rolle. Besonders gut senden Reaktion werden sie in Sexualpheromone
lässt sich die Funktion von Pheromonen bei In- (bei Wirbeltieren und bei Insekten), in Aggrega-
sekten wie Ameisen beobachten: Scheinbar ziel- tionspheromone (bei Borkenkäfern, Feuerwan-
los in der Umgebung herumlaufende Individuen zen), in Spur- und Markierungspheromone (bei
folgen tatsächlich Pheromonspuren ihrer Volkes Insekten und Säugetieren), in Alarmpheromone
zu Futterquellen oder zum Bau zurück. Bis heute (bei Insekten) sowie in Aphrodisiakapheromone
umstritten ist, ob der Mensch auch Pheromone (bei Schmetterlingen) unterteilt. Bettwanzen -
absondert, die ihm bei der Partnersuche helfen. larven schützen ihren verletzungsanfälligen Kör-
r
Einige Forscher behaupten, ein typisches männ- per vor paarungswütigen Bettwanzenmännchen
liches Pheromon entdeckt zu haben, dass in mittels eines Alarmpheromons. Die meisten Phe-
den Achselhöhlen abgesondert wird, sowie ein romone wirken nur zwischen Individuen einer
entsprechendes weibliches in der Vagina. Andere Art, nur wenige können auch von anderen Arten
wiederum bestreiten, dass der Mensch spezielle wahrgenommen werden. Künstlich erzeugte Phe-
chemische Substanzen absondert oder nutzt, die romone, vor allem Sexualpheromone, werden
zweifelsfrei als Pheromone identifiziert werden erfolgreich zur Bekämpfung von Schadinsekten
können. Zweifler verweisen darauf, dass der wie Borkenkäfern in Land- und Forstwirtschaft
Mensch kein spezielles Empfängerorgan wie das eingesetzt.
Vomeronal-Organ bei Nagetieren, einigen Huf-
tieren oder Katzen besitzen. Hirsche oder Katzen Luftige Stoffe
zeigen das Flehmen, bei dem die Oberlippe ge-
kräuselt und die Kiefer auseinander geschoben Nicht nur Sauerstoff
werden, um pheromonhaltige Luft einzusaugen.
Insekten nutzen für die Wahrnehmung von Phe- Die wesentlichen Bestandteile der Luft, Sauerstoff
romonen Empfänger in Fühlern bzw. Antennen. und Stickstoff, sind gasförmige Elemente. Wir ha-
Pheromone sind wie alle Riechstoffe gas- ben sie bereits in Kapitel 4 kennen gelernt, wollen
förmig, und ihre Moleküle leicht genug, um ihre Besonderheiten aber an dieser Stelle etwas
über größere Entfernungen verteilt werden zu näher betrachten.
können. Je nach Transportmedium müssen sie Eukaryoten
(auch: Eukaryonten)
entweder wasser- oder luftresistent sein, fer- So nennt man Organis-
ner über einen bestimmten Zeitraum chemisch Lebenselixier und Gift – men, deren Zellen einen
stabil. Am besten erfüllen diese Eigenschaften Zellkern besitzen.
der Sauerstoff
organische Kohlenstoffverbindungen: An de -
Prokaryoten
ren Kohlenstoffatome sind dufttragende Atom- Alle höheren Lebensformen auf der Erde (Eukary- (auch: Prokaryonten)
gruppen gebunden. Chemisch bilden nicht- oten wie alle Tiere, Pflanzen, Pilze und Protisten) So bezeichnet man zel-
luläre Organismen, die
isoprenoide oder isoprenoide Verbindungen benötigen Sauerstoff für ihre Zellatmung. Und so-
keinen Zellkern besitzen.
Pheromone (ÅࡳKasten Ter p ene, Seite 342). gar viele Prokaryoten sind auf das Gas angewiesen Dazu gehören alle Bak-
Wichtige Vertreter sind acyclische, gesättigte oder können es zumindest nutzen. Die lateinische terien.
371
KAPITEL 7 Luft
Bezeichnung oxygenium, Säurebildner, geht auf dioxid (CO2) durch UV-Strahlung in die Ele-
die irrtümliche Annahme des französischen Che- mente aufgespalten. In der Mesosphäre werden
mikers ANTOINEE LAURENT DEE LAV A OISIER zurück, Wassermoleküle (H2O) durch UV-Strahlung in
dass dieses Element für die saure Reaktion von zwei Wasserstoffatome und ein Sauerstoffatom
Säuren verantwortlich sei. Wie man inzwischen zerlegt, wobei der leichte Wasserstoff in den
weiß, spielen in Wirklichkeit H+-Ionen (Protonen) Weltraum entweicht und der Sauerstoff letztlich
diese Rolle. O2-Moleküle bildet. Der Beitrag dieser Prozesse
Auf der Erde ist Sauerstoff (O) mit einem zur Sauerstoffanreicherung in der Atmosphäre
Massenteil von 49,4 Prozent (ÅZusammenset- ist jedoch gering.
zung der Erdkruste, Seite 225) das häufigste Vor ca. 2,7 Milliarden Jahren entstanden die
Element: In Mineralen und Gesteinen der Litho- ersten Photosynthese betreibenden Mikroor-
sphäre hat es einen Massenanteil von recht genau ganismen (Cyanobakterien), die Sauerstoff als
50 Prozent und liegt in ÅMineralen (Seite 227) Abfallprodukt ins Meer freisetzen; vor etwa 2,4
gebunden vor, meist als Oxid, Carbonat, Sulfat Milliarden Jahren war schließlich die Sättigung
oder Silikat. Im Wasser der Hydrosphäre (Meer, des Ozeans erreicht, und Sauerstoff gelangte
Seen, Flüsse, Grundwasser) hat das Element einen auch in nennenswerten Mengen in die Atmo-
Anteil von 88 Massenprozent. Die Luft enthält sphäre. Waren es zunächst im Wasser lebende
21 Volumenprozent des freien Elements in mo- Organismen, die Sauerstoff lieferten, so sind
lekularer Form (O2). Der menschliche Körper es seit dem Silur (vor ca. 444 Millionen Jah-
7-22 besteht zu 66 Prozent seiner Masse aus Sauerstoff, ren) zusätzlich Pflanzen, die nach und nach das
O2-Molekül. Die un- das meiste davon als Wasser. Die beiden wichtig- feste Land besiedelten. Mit Hilfe des Chloro-
tere Grafik zeigt grob
die äußere Form eines sten binären Sauerstoffverbindungen sind H2O phylls wandeln sie elektromagnetische Energie
O2-Moleküls, dargestellt (Wasser) und SiO2 (Siliciumdioxid, Quarzsand). des Lichts in chemische Energie um, indem sie
in der Farbe Rot, die in Da Sauerstoffmoleküle unter den Bedingungen aus Kohlendioxid und Wasser Glukose (Trau-
Moleküldarstellungen
meist für Sauerstoff der oberen Atmosphäre mit Geschwindigkeiten benzucker) erzeugen (ÅRandspalte links). Als
verwendet wird. Genau um ca. 1 Kilometer pro Sekunde unterwegs sind, Abfallprodukt dieser photosynthetischen Was-
genommen ergibt sich die erreicht nur ein vernachlässigbar kleiner Anteil serspaltung fällt Sauerstoff an. Die Ausbildung
„Form“ aus der Summe
der Quadrate aller mit die mit 11,4 Kilometer pro Sekunde viel höhere verschiedener Enzymsysteme ermöglichte Orga-
Elektronen besetzten Entweichgeschwindigkeit, und nur wenig des in nismen in der Evolution immer besser, den gifti-
Orbital-Wellenfunktionen. der Erdgeschichte gebildeten Sauerstoffs ging ins gen Sauerstoff zu tolerieren. Die Entstehung der
Die Punkte in der oben
stehenden Strichformel
Weltall verloren. Im Universum steht Sauerstoff Zellatmung erlaubte es einigen von ihnen in der
deuten an, dass im Grund- an dritter Stelle der Häufigkeit hinter Wasserstoff Folge sogar, viel effizienter Energie zu gewinnen,
zustand das Sauerstoffmo- und Helium. als das mit der evolutionär älteren anaeroben
lekül eine Doppelbindung
Gärung möglich war. Zellatmung erlaubte nicht
mit zwei ungepaarten
Elektronen besitzt, es Herkunft des Sauerstoffs Photosynthese betreibenden Organismen, von
handelt sich um ein so ge- Pflanzen aufgebaute Kohlenhydrate wie Glucose
nanntes ein Biradikal.
Sauerstoff gehört zu jenen Elementen, die im kalt zu „verbrennen“ und dabei unter Sauer-
Weltraum ziemlich häufig sind. Doch in der ir- stoffverbrauch chemische Energie zu gewinnen.
dischen Uratmosphäre (Primordialatmosphäre) Für die Zellatmung nutzten höher organisierte
war freier Sauerstoff nicht zu finden. Sie enthielt eukaryotische Organismen eigene Organellen,
stattdessen neben dem wenig reaktiven Stickstoff die Mitochondrien. Vor ca. 400 Millionen Jah-
nur reduzierende Gase wie Methan (CH4), Am- ren erreichte der durchschnittliche Sauerstoff-
moniak (NH3) und Schwefelwasserstoff (H2S). gehalt der Erdatmosphäre um die 21 Volumen-
Photosynthese Der hochreaktive Sauerstoff war zunächst noch prozent. Mit der Entstehung von Hämoglobin,
In der hier angegebenen Sum-
menformel erscheint der Prozess in Wasser, Kohlendioxid und Mineralen ge- dem Farbstoff der roten Blutkörperchen mit
der Photosynthese sehr einfach. bunden. Für die ersten irdischen Lebensformen einem zentralen Eisenion (Fe2+), und eines Kreis-
Im Detail sind allerdings zahlrei- stellte er sogar ein starkes Gift dar. laufsystems gelang es einigen Vielzellern sogar,
che komplexe Reaktionsschritte
daran beteiligt. Erst allmählich reicherte sich Sauerstoff das ehemalige Gift Sauerstoff gezielt zu Kör-
zunächst durch zwei Prozesse in den oberen perzellen zu transportieren. Verbrennungs- und
6 CO2 + 6 H2O Schichten der Atmosphäre an: Atmungsprozesse sind sauerstoffzehrend. Doch
C6H12O6 + 6 O2
In der Thermosphäre (ÅSchichtung der momentan liefern Cyanobakterien, Algen und
Er d atmosp h äre, Seite 364) wir d Ko hl en - Pflanzen genügend Sauerstoff nach. Allein die
372
Erde, Wasser, Luft und Feuer
grünen Pflanzen setzen jährlich ca. 300 Milli- (ÅAbbildung 7-23 und Kasten Singulett- und
arden Tonnen Sauerstoff frei, so dass der einge- Triplettzustände, Seite 214). Durch die beiden Allotrope
spielte Gleichgewichtszustand erhalten bleibt. ungepaarten Elektronen sind zwei antibindende
Selbst ein leichter Anstieg des Sauerstoffgehalts *-Orbitale (ÅAtombindung, Seite 148) nur Der Begriff Allotrope (gr.,
auf 25 Volumenprozent würde häufig zu katas- halbbesetzt, das Molekül ist ein Biradikal. Daraus andere Gestalt) bezeichnet
trophalen Bränden führen. Die Austauschdauer resultieren einige charakteristische Eigenschaften. Elemente, die im gleichen
des atmosphärischen Sauerstoffs mit dem von So ist Triplett-Sauerstoff wegen des nicht ver- r Aggregatzustand in ver-
Pflanzen freigesetzten liegt bei 2000 Jahren. schwindenden Gesamtelektronenspins parama- schiedenen Molekül- oder
gnetisch (Å Paramagnetismus, Seite 213) und Kristallstrukturen vorkom-
Sauerstoff als Element wird deshalb als einziges gebräuchliches Gas von men. Allotrope eines Ele-
einem Magnetfeld angezogen. In diesem Zustand ments unterscheiden sich
Im Periodensystem steht Sauerstoff in der sechs- ist Sauerstoff gegenüber organischen Verbindun- in ihrer chemischen Reak-
ten Hauptgruppe, der Gruppe der Chalkogene gen relativ reaktionsträge, wenn man von Reak- tionsfähigkeit und in phy-
(gr. Erzbildner). Er besitzt drei natürlich vor- tionen mit anderen Radikalen absieht. sikalischen Eigenschaften.
kommende Isotope, nämlich 16O (99,976 Pro- Wird dem Sauerstoff im Triplett-Zustand Man findet sie bei sehr
zent), 17O (0,04 Prozent) und 18O (0,02 Prozent). Energie zugeführt, so geht er in eine von zwei vielen Elementen, u. a. bei
Außerdem sind noch sechs synthetische Radio- möglichen angeregten Singulett-Formen über. Kohlenstoff, Phosphor,
nuklide bekannt. Elementar kommt Sauerstoff In diesen Zuständen können Sauerstoffmoleküle Selen, Schwefel und Eisen.
in verschiedenen Strukturen (Allotropen) vor: auch leicht mit organischen Molekülen reagie- Disauerstoff und Ozon
In der Erdatmosphäre findet man ihn molekular ren. Ein Beispiel hierfür ist das Ranzigwerden sind Allotrope
p des Sauer-
zweiatomig als O2 (Disauerstoff) oder dreiato- von Fetten unter Einfluss von Licht. Die insta- stofffs.
mig als O3 (Ozon). Einzelne Sauerstoffatome bilen Singulett-Zustände sind im Vergleich zum
sind nur in extremem Vakuum oder bei sehr Grundzustand energetisch deutlich ungünstiger.
hohen Temperaturen wie etwa in Sternatmo- Die Spins der beiden Elektronen sind hier entge-
sphären beständig, sie treten aber als kurzlebige gen den Hundschen Regeln (ÅDas Auffüllen von
Zwischenprodukte in Reaktionen auf, so in der Orbitalen, Seite 135) antiparallel ausgerichtet.
oberen Ionosphäre (ÅSchichtung der Erdatmo- Aufgrund seiner Stellung im Periodensystem
sphäre, Seite 364). 2001 gelang in einem itali- ist Sauerstoff stark elektrophil, folglich er kann
enischen Labor sogar der Nachweis kurzlebiger mit fast allen chemischen Elementen reagieren.
Tetrasauerstoff-Moleküle. Die Reaktionen sind dabei in der Regel Redox-
Reaktionen, also die Aufnahme von Elektronen
Eigenschaften und molekulare Zustände und die Bildung von Oxiden. Sie können durch
Freisetzung von Bindungs- und Gitterenergie zu
Unter Normalbedingungen ist Sauerstoff wie hoher Wärmeabgabe führen. Verbrennungen mit
alle Grundbestandteile der Luft ein geruchs-, Feuererscheinungen (ÅKapitel 8) sind nichts
geschmacks- und farbloses Gas. Die Mole- Anderes als rasch ablaufende Oxidationen.
külmasse des zweiatomigen Gases beträgt
2 · 15,999 u = 31,998 u, seine Gasdichte bei 20 °C Biologische Rolle
ist 1,42908 Gramm pro Liter. Unterhalb von
–183 °C verflüssigt sich das Gas bei Normal- Sauerstoff bildet zusammen mit Kohlenstoff
druck, unterhalb von –218 °C bildet es bläuliche (C), Stickstoff (N) und Wasserstoff (H) Grund-
Kristalle. bausteine aller organischen Substanzen, also
Im stabilen Grundzustand liegt moleku- auch vieler biologischer Moleküle. Bei allen
larer Sauerstoff (O2) im Triplett-Zustand vor wichtigen biochemischen Reaktionen spielt
7-23
Sauerstoffmolekül (O2). Die 2p-Orbitale zweier Sau-
erstoffatome bilden im O2-Molekül ein vollbesetztes
σp-Molekülorbital, sowie zwei vollbesetzte, bindende
π-Molekülorbitale und zwei einfach besetzte, sogenannte
antibindende Orbitale π*. Bindende Molekülorbitale
sind energetisch günstiger als antibindende, ihre Ener-
gieniveaus liegen auch unterhalb der Atomorbitale, aus
denen sie hervorgehen (gestrichtelte Linien), weshalb der
gebundene Zustand energetisch günstiger ist als der ato-
mare. O2 enthält im stabilsten Zustand zwei ungepaarte
π*-Elektronen (links), der Gesamtelektronenspin ist daher
1, diesen Zustand nennt man Triplett-Zustand. Die eben-
falls möglichen zwei Singulett-Zustände des Sauerstoff-
moleküls mit Gesamtspin 0 (ganz rechts) sind energetisch
ungünstiger, weshalb sie nur kurzzeitig existieren.
KAPITEL 7 Luft
Sauerstoff eine überragende Rolle. Er ist wich- rer Reaktionsfreudigkeit biologische Moleküle
tig für die Atmung und für die Verbrennungs- zerstören können. Drei körpereigene Enzyme
prozesse beim Stoffwechsel (Metabolismus) von (Superoxiddismutase, Catalase und Glutathion-
Tieren und Menschen. peroxidase) und Antioxidantien entschärfen die
Mit der Atemluft gelangen ca. 0,2 – 0,3 l/ min Radikale und die sehr aggressiven Sauerstoffab-
Luftsauerstoff, bei starker Aktivität mehr als kömmlinge Hyperoxidanionen, Wasserstoffper-
2,0 l / min in die menschliche Lunge und diffun- oxid und Hydroxyradikale. Wenn diese Ab-
dieren von dort ins Blut. Dort verbindet er sich wehrmechanismen nicht funktionieren, werden
mit dem Hämoglobin und wird in den Zellen Zellmembrane durch diese Abkömmlinge zer-
als Oxidationsmittel zur Verbrennung von en- stört, die Zellen sterben ab, und der betroffene
ergiereichen organischen Stoffen, besonders Organismus kann eine tödliche Sauerstoffver-
von Fetten und Kohlenhydraten, genutzt. Ein giftung erleiden. Noch wesentlich aggressiver
Teil der freigesetzten Energie wird auf chemisch wirkt der dreiatomige Sauerstoff, das Ozon
energiereiche Biomoleküle übertragen. Als End- (Trisauerstoff).
produkt des Atmungsprozesses werden Wasser
7-24 (H2O) und Kohlendioxid (CO2) wieder ausge- Unten Feind, oben Freund – das Ozon
Ozonschicht. Die höchste schieden. Ein Mensch setzt jährlich ungefähr
Ozonkonzentration be-
findet sich in der Strato- 300 kg Sauerstoff bei der Atmung um. Ozon ist die dreiatomige Modifikation des Ele-
sphäre zwischen 15 und Ein wichtige Voraussetzung für eine pro- ments Sauerstoff. Es wurde zwar schon anhand
35 km Höhe. Der Anstieg blemfreie Atmung ist der Sauerstoffpartial- seines stechenden Geruchs 1840 vom deut-
in Bodennähe ist nicht nur
eine Folge menschlicher druck, der bei 21 Volumenprozent O2 auf der schen Chemiker CHRISTIAN FRIEDRICH SCHÖN-
Aktivitäten, sondern auch Erdoberfläche bei 150 mmHg (0,2 bar) liegt. BEIN (1799 – 1868) entdeckt und nach dieser
pflanzlichen Ursprungs. In einer Höhe von 5000 m bleibt der relative Eigenschaft in Anlehnung an das griechische
Die Ozonmenge wird
meist in Dobson Units Sauerstoffgehalt zwar gleich, aber der Partial- Wort ozein (riechen) von ihm Ozon benannt.
(DU) gemessen. Es ist die druck hat sich auf 75 mmHg (0,1 bar) verrin- Doch seine chemische Struktur blieb ihm verbor-
Länge einer Säule reinen gert, was zur Atemnot führt. Und ein Sauer- gen. Sie zu entschlüsseln gelang dem Chemiker
Ozons unter Normbedin-
gungen, die dem jewei-
stoffgehalt unter 7 Volumenprozent führt zu ALBERT-LEVY ( 1907) nach 1877. Bis zur Ent-
ligen Ozongehalt einer einem qualvollen Erstickungstod. deckung des Ozonlochs in der Antarktis 1985
Luftsäule entsprechen Für viele Einzeller ist reiner Sauerstoff auf- fand dieses Spurengas bei Wissenschaftlern und
würde. 100 DU = 1 mm.
Der mittlere Ozongehalt in
rund seiner starken Oxidationswirkung immer in den Medien kaum Beachtung. Seitdem zieht es
einer Luftsäule bis hinauf noch ein tödliches Zellgift. Auch für den Men- als gefährliches Umweltgift in den Medien und
zur Mesosphäre liegt bei schen ist eine zu hohe Konzentration von Sau- in der Öffenlichtkeit immer wieder die Aufmerk-
400 DU, das entspricht
erstoff gefährlich, sie kann zu Lungenschäden samkeit auf sich.
also der Höhe einer Ozon-
säule unter Normbedin- führen. Schon beim üblichen Stoffwechsel im
gungen von 4 mm. Körper entstehen freie Radikale, die dank ih- Ozon als Substanz
374
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Das Gas setzt sich aus instabilen, gewinkelten sie würde das instabile Ozon sofort wieder
Molekülen zusammen. Diese Moleküle sind di- zerfallen. UV-Licht mit einer Wellenlänge unter
polar und sehr reaktionsfreudig. Deshalb bildet 320 nm vermag das Ozon-Molekül wieder zu
Ozon vor allem mit Wasser gefährliche Radikale. spalten. Auch durch Wechselwirkung mit ande-
Seine Reaktionsfreudigkeit ist auf die vorhande- ren Gasen wie Stickstoffmonoxid und vor allem
nen ungebundenen Elektronenpaare zurückzu- mit Chlorverbindungen wird das instabile Ozon
führen. Diese Elektronen können sich bei gerin- wieder zerstört. Besonders zerstörerisch wirken
ger Energiezufuhr vom Molekül lösen. Durch Chloratome und Chlormonoxid (ClO). Sie ent-
die Abstoßung der geladenen Ionen spaltet sich stehen durch Aufspaltung mittels UV-Strahlung
das Molekül. Wird die Energie durch Photonen aus antropogen eingebrachten Gasen, beson-
(Licht) zugeführt, spricht man von Photodisso- ders aus den seit 1978 verbotenen FCKWs.
ziation (lat. dissociare, trennen). Durch einen katalytischen Prozess kann ein
einziges Chlorradikal (Cl, ClO, ClOOCl) meh-
Kreisläufe des Ozons rere 100000 Ozonmoleküle zerstören, in dem es
mit dem Ozon reagiert und selbst unbeschadet
Es existieren zwei Ozonkreisläufe, die auf unter- aus dem Prozess hervorgeht. Diese Zerstörung 7-25
Ozon-Sauerstoff-Zyklus.
schiedlichen Mechanismen basieren, und deren führt zur Ausdünnung der Ozonschicht oder In der Stratosphäre
Auswirkungen auf Lebenwesen verschieden sind: zur Bildung von Ozonlöchern auch außerhalb entsteht Ozon primär
der Polgebiete, so über Europa, wo Ende der durch Photodissoziation
(Aufspaltung) von O2
1 Der Ozon-Sauerstoff-Zyklus in der höheren 1990er Jahre eine Abnahme der Ozonwerte um
mittels energiereicher
Atmosphäre (Å Abbildung 7-25) 37 Prozent in der Stratosphäre gemessen wurde. UV-Strahlung (Wellenlän-
Für die Bildung von Ozonlöchern über den gen unter 240 nm). Die
2 Die Bildung bodennahen Ozons Polgebieten sind andere Prozesse verantwortlich entstehenden Sauerstoff-
atome verbinden sich mit
(Å Kasten Polare Ozonlöcher). O2-Molekülen zu Ozon.
In der höheren Atmosphäre werden zweiato- Bei der Absorption der gefährlichen UV- Diese Reaktion steht im
mige Sauerstoffmoleküle durch kurzwellige ul- Strahlung wirken der zweiatomige Sauerstoff Gleichgewicht mit der
Umkehrreaktion, bei der
traviolette Strahlung mit Wellenlängen kleiner auch in den Schichten oberhalb der Strato- durch langwelligere UV-
als 240 nm in sehr reaktive Sauerstoffatome (O) sphäre und das Ozon der Ozonschicht zusam- Strahlung (unter 320 nm)
zerlegt. Unter Mithilfe beliebiger Moleküle als men. Während molekularer Sauerstoff vor al- Ozon wieder zu O2 und
O zerfällt. Die katalytische
Stoßpartner reagieren diese Atome mit weiteren lem UV-Strahlen mit Wellenlängen kleiner als Wirkung freier Radikale
O2-Molekülen zu Ozon. Die Stoßpartner neh- 240 nm absorbiert, tut dies Ozon vor allem im entzieht dem Prozess
men einen Teil der Reaktionsenergie auf. Ohne Bereich von 220 – 320 nm. Ozon. Zu den freien Ra-
dikalen zählen Chlor bzw.
Chloroxid als Zerfallspro-
dukte der Fluorchlorkoh-
Polare Ozonlöcher lenwasserstoffe (FCKW),
Stickstoffmonoxid (NO),
Brom bzw. Bromoxid und
Die Chlorchemie über den Polargebieten wird (ClONO2) gebunden ist, sorgen chemische andere Verbindungen.
durch die dort herrschenden klimatischen Reaktionen an den Kristallen der PSWs dafür,
Verhältnisse beeinflusst, in erster Linie durch dass Chlormoleküle (Cl2) freigesetzt werden.
die extrem niedrigen Temperaturen in der Nach Ende der Polarnacht spaltet das Son-
Stratosphäre. Durch das Absinken der sehr nenlicht diese Moleküle und die Chloratome
kalten Luft bilden sich im Winter das Polar- setzen ihr zerstörerisches Werk in der Ozon-
gebiet umkreisende Wirbel, die den Austausch schicht verstärkt fort, weshalb das Ozonloch Himmelsblau
Während die Bläue des
mit wärmerer Luft aus niedereren Breiten im Frühjahr besonders groß ist. Ferner sin- Himmels tagsüber eine
verhindern. Bei Temperaturen unter –78 °C ken im Winter größere PSW-Partikel ab und Folge der Rayleigh-
bilden sich in 20 – 30 km Höhe sogenannte entfernen dabei Salpetersäure (HNO3) fast Streuung ist, ist die inten-
sive Blaufärbung in der
polare Stratosphärenwolken (PSW), die große vollständig aus der Stratosphäre. Deshalb
Dämmerung eine Folge
Mengen von Stickstoff- und Schwefelverbin- werden weniger Chlorradikale als Chlornitrat des Absorptionsverhaltens
dungen und Eiskristalle enthalten. Während gebunden. Erst wenn die PSW allmählich des Ozonmoleküls. Ohne
in wärmeren Regionen und Zeiten ein großer verdampfen, entsteht aus Salptersäure wieder Ozon in der Stratosphäre
wäre der Himmel im Zenit
Teil des Chlors in der Stratosphäre durch ausreichend Stickstoffdioxid, um Chloratome zu dieser Stunde grau bis
Reaktion mit Stickstoffdioxid als Chlornitrat zu binden. schwarz.
375
KAPITEL 7 Luft
Biologische Wirkung des Bodennahes Ozon entsteht aus Vorläuferstoffen, lischen Chemiker HENRY CAVENDIS
A H entdeckt,
Ozons.
die im Verkehr, beim Heizen und in industriellen doch erst vom französischen Chemiker ANTOINE
Noch zu Beginn des
20. Jahrhunderts warben Prozessen anfallen. Aber auch Pflanzen bilden LAURENT DE LAV
A OISIER als Element erkannt.
Kurorte mit ozonreicher ozonproduzierende Substanzen. Zu den Vorläu-
Luft, ehe man die Gesund- ferstoffen zählen Kohlenmonoxid (CO), leicht
heitsrisiken durch das Gas Stickstoff als Element
erkannte. Mit einem Re- flüchtige organische Substanzen, und vor allem
doxpotenzial von 2,07 eV Stickoxide (NOx), die durch Großfeuerungs- Stickstoff ist ein gasförmiges Element aus der 15.
wirkt Ozon stark oxidie- anlagen und den Straßenverkehr in die Luft Gruppe (nach IUPAC). Molekularer Stickstoff
rend: Es greift die Atem-
wege an und schädigt die eingebracht werden. Wälder und Grünflächen (N2) bildet mit 78,08 Volumenprozent den Haupt-
Zellmembranen. Nützlich setzen im Sommer erhöhte Mengen an flüch- bestandteil der Luft. Dieses farb-, geruchs- und ge-
ist Ozon für die Desinfek- tigen organischen Verbindungen in Form von schmackslose Gas umgibt uns unsichtbar und un-
tion, u.a. von chirurgischen
Instrumenten. Auf Einzeller Terpenen und Isoprenen frei. Natürlich kann fühlbar. Natürlicher Stickstoff besitzt zwei Isotope:
sich Ozon auch durch Blitzentladungen bilden. 14N (99,634 Prozent) und 15N (0,366 Prozent).
wie Bakterien wirkt es mu-
tagen oder tödlich. Neuer-r Stickstoffdioxid wird durch Sonnenlicht Gasförmig kommt Stickstoff auch gebunden
dings erkannte man auch,
dass Ozon bei der Halt-
aufgespalten: NO2 + Licht → NO + O. Wäh- in Form von Stickoxiden (NOx) in der Luft vor.
barmachung von frischem rend das Sauerstoffatom mit einem Sauerstoff- Diese Stickoxide (auch nitrose Gase genannt)
Obst und Gemüse gegen molekül Ozon bilden kann, baut Stickstoff- sind ausnahmslos endotherme Verbindungen,
Schimmelpilze wirkt.
monoxid (NO) gleichzeitig Ozon wieder ab: denn sie bilden sich nur unter bedeutender Ener- r
O3 + NO → NO2 + O2. Ozon bildet den wichtig- giezufuhr. Bei der Bildung des sommerlichen
sten Bestandteil des Sommersmogs (Fotosmog). bodennahen Fotosmogs spielen diese Gase eine
Abhängig vom Sonnenschein stellt sich tagsüber wesentliche Rolle.
ein Gleichgewicht zwischen O3, NO und NO2 Während Stickstoff in der Luft den weitaus
in Städten ein. Nach Sonnenuntergang wird das größten Anteil hat, beträgt sein Anteil in der
Ozon in Städten durch NO, welches Autos und Erdhülle (Ozeane, Erdkruste bis 16 km Tiefe)
Industrie abgeben, rasch wieder abgebaut. nur 0,03 Prozent. Doch oberflächennah ist Stick-
stoff in großen Mengen gespeichert, nämlich
zu 95 Prozent in organisch gebundener Form
Stickstoff – in Pflanzen, in abgestorbener Pflanzenmasse,
Hauptbestandteil der Luft im Humus sowie in bodenlebenden Mikroor-
ganismen und zu 5 Prozent anorganisch als
Die deutsche Bezeichnung weist auf die ersti- Ammonium, Nitrat und Nitrit im Boden. In
ckende Wirkung reinen Stickstoffs für Flammen Organismen ist er ein essenzieller Baustein von
und atmende Lebewesen hin. Das Elementsymbol Aminosäuren und Proteinen sowie von Chlo-
„N“ leitet sich vom Lateinischen nitrogenium, rophyll. Dagegen existieren nur sehr wenige
Salpeterbildner, ab. Der Stoff wurde fast gleich- stickstoffhaltige Minerale. Zwischen den „Spei-
zeitig vom schottischen Chemiker und Botaniker chern“ Luft und Boden findet ein beachtlicher
DANIEL RUTHERFORD (1749–1819) und vom eng- Austausch von Stickstoff statt, der als Stickstoff-
kreislauf bezeichnet wird (Å Abbildung 7-26).
7-26
Stickstoff-Kreislauf. Die Fixierung des molekularen Stick-
stoffs als Ammoniak (NH3) oder Ammonium-Ion (NH4+)
geschieht im Boden durch Bodenbakterien oder Bakte-
rien, die in Symbiose mit Pflanzenwurzeln leben. Letztere
versorgen die Bakterien mit wichtigen Nährstoffen,
während die Bakterien als Stickstofflieferanten für die
Pflanzen dienen. Ammoniak bzw. Ammonium werden
durch nitrifizierende Bakterien in Nitrit (NO2–) und Nitrat
(NO3–) umgewandelt. Letzteres kann durch Pflanzen
aufgenommen werden (Assimilation). Über die Nah-
rungskette gelangt Stickstoff zu Tieren und Menschen.
Denitrifizierende Bakterien vermögen Nitrat oder Nitrit
wieder in molekularen Stickstoff zurück zu verwandeln.
Durch die sogenannte Ammonifikation gelangen Exkre-
mente und verwesende Organismen als Ammoniak bzw.
Ammonium wieder zurück in den Kreislauf.
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
376
37
Erde, Wasser, Luft und Feuer
377
KAPITEL 7 Luft
schmacksloses, leicht brennbares Gas. Natürlicher also mehr als jeder andere chemische Brenn-
Wasserstoff hat drei Isotope, nämlich Protium stoff, aber seine Erzeugung ist sehr energie-
(1H, 99,98 Prozent Anteil), Deuterium (schwe- aufwändig und teuer, günstige Speichermedien
rer Wasserstoff, 2H, 0,015Prozent Anteil) sowie noch nicht vorhanden. Eventuell lohnt sich eine
Tritium (3H, in winzigen Spuren), die sich in der biologische Erzeugung durch spezielle Algen.
Anzahl ihrer Neutronen im Kern unterscheiden.
Während die ersten beiden Isotope stabil sind,
ist Tritium instabil und damit radioaktiv. Reaktionsträge Sonderlinge
Normaler Wasserstoff ist das leichteste Ele-
ment mit einer Dichte von 0,0899 g / l. Diese Am Ende jeder Periode des Periodensystems steht
Eigenschaft verleihen ihm eine hohe Auftriebs- eines der gasförmigen Elemente der 18. Gruppe,
kraft, welche in der frühen Luftschifffahrt ge- die nach ihrem chemisch ähnlichen Verhalten
nutzt wurde. Flug- und transportfähige Reisebal- als Edelgase bezeichnet werden. Sie alle sind Be-
lons im 19. Jahrhundert waren mit Wasserstoff standteile der Luft, jedoch in winzigen Mengen.
gefüllt, ebenso die Zeppeline des 20. Jahrhun- Zusammen haben Helium (He), Neon (Ne), Ar-
derts bis zur Brandkatastrophe von Lakehurst gon (Ar), Krypton (Kr), Xenon (Xe) und Radon
bei New York im Mai 1937. Damals fing ein (Rn) nur einen Anteil von 0,935 Volumenpro-
großer, mit ca. 200 000 m3 Wasserstoff gefüllter zent, davon entfallen 0,9337 Volumenprozent
Zeppelin beim Landeanflug Feuer und brannte auf Argon. Alle anderen zählen zu den Spuren-
innerhalb weniger Minuten völlig aus. elementen. Im Weltraum dagegen ist Helium das
Wasserstoff wird bei – 252,9°C flüssig und hat zweithäufigste Element nach dem Wasserstoff.
einen niedrigen Schmelzpunkt von – 258,95 °C; Da frühere Chemiker zuvor unbekannte Ele-
er ist in Wasser kaum löslich, 100 g Wasser lösen mente mit Hilfe von Reaktionen nachgewiesen
bei 20 °C nur 2 ml H2. Wasserstoff ist bei dieser haben, wurden bis auf Helium alle Edelgase auf
Temperatur ziemlich inert, bei hohen Tempe- der Erde recht spät zwischen 1894 und 1900
raturen aber sehr reaktionsfreudig. Er reagiert vom schottischen Chemiker WILLIAM RAMSAY A
nicht nur mit freiem Sauerstoff, sondern entzieht (1852 – 1916) und Mitarbeitern identifiziert; der
Sauerstoff auch Verbindungen. Wasserstoff bildet Entdecker des Radons war der deutsche Physiker
ein starkes Reduktionsmittel, er verbindet sich FRIEDRICH ERNST DORN (1848–1916).
mit den Elementen der 4. bis 7. Hauptgruppe zu
7-27 flüchtigen bzw. gasförmigen Stoffen und reagiert Eigenschaften der Edelgase
Edelgase. Edelgase sind mit Metallen und Nichtmetallen zu Hydriden.
aufgrund ihrer gefüllten
äußeren Schalen sehr re-
Industriell interessante Eigenschaften sind sein Die hervorragendste Gruppeneigenschaft aller
aktionsträge, was sich be- hohes Diffusions- und Effusionsvermögen sowie Edelgase ist ihre Reaktionsträgheit. Weil bei
sonders bei den leichteren mit 0,18 W / (m · K) die höchste Wärmeleitfähig- ihnen die jeweils äußerste Schale voll besetzt ist
Edelgasen in einer hohen
keit von Gasen. Aufgrund ihrer geringen Größe (Å Das Auffüllen von Orbitalen, Seite 135),
Ionisierungsenergie äußert
(Wasserstoff hat eine Ioni- diffundieren Wasserstoffmoleküle durch Metalle reagieren sie nur mit stark elektronegativen
sierungsenergie 13,6 eV). wie Eisen oder Platin. Elementen wie Fluor, Chlor oder Sauerstoff
Die in der Tabelle aufge- Wasserstoff wird zur Kraftstoffveredelung, zu echten chemischen Verbindungen. Bis 1962
führten Ionisierungsener-
gien beziehen sich auf zum Hydrocracken von Rohöl (Å Abbildung kannten die Chemiker keine einzige Verbindung
das erste Elektron in der 6-60, Seite 347), zum Schmelzen von Metallen mit Edelgasen. Inzwischen sind einige stabile
äußersten Schale. Auch oder zur katalytischen Hydrierung von ungesät- Fluoridverbindungen mit den Edelgasen Xe-
die niedrigen Schmelz-
und Siedepunkte sind tigten Pflanzenfetten (ÅKasten Fettsäuren, Seite non und Krypton bekannt. Die Verbindungen
auf die energetisch sehr 336) genutzt. Etwa 75 Prozent des industriell werden dadurch erreicht, dass ein oder mehrere
günstige Elektronenkonfi- erzeugten Wasserstoffs werden beim Haber- Elektronen aus dem p-Orbital in das nicht be-
guration zurückzuführen.
Helium hat den geringsten Bosch-Verfahren zur Synthese von Ammoniak setzte d-Orbital angehoben werden.
Schmelzpunkt aller Stoffe (N2 + 3 H2 → 2 NH3) verbraucht. Sehr umstrit- Alle Edelgase sind ungiftig, geruchs- und ge-
und kann nur unter einem ten ist die Nutzung molekularen Wasserstoffs schmacklos sowie unbrennbar. Im Gegensatz zu
Druck von fast 30 bar in
den festen Zustand über-
als Energielieferant in Brennstoffzellen. Zwar allen anderen Gasen liegen Edelgase einatomig
führt werden. enthält er 33,3 Wattstunden pro Kilogramm, vor. Ihre Atome werden durch die schwachen
Helium (He) Neon (Ne) Argon (Ar) Krypton (Kr) Xenon (Xe) Radon (Rn)
Ordnungszahl 2 10 18 36 54 86
Elektronenkonfiguration 1s2 [He] 2s2 2p6 [Ne] 3s2 3p6 [Ar] 3d10 4s2 4p6 [Kr] 4d10 5s2 5p6 [Xe] 4f14 5d10 6s2 6p6
Ionisierungsenergie (eV) 24,6 21,6 15,8 14,0 12,1 10,7
0,319 K
Schmelzpunkt (bei 1 atm) 24,57 K 84,0 K 116,2 K 161,4 K ca. 202 K
(3HE, 29,315 bar)
Siedepunkt (bei 1 atm) 3,1905 K 27,09 K 87,295 K 119,79 K 165,03 K 211,9 K
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Van-der-Waals-Kräfte (Å Bindungsarten und silber als Leuchtmittel. Argon wird als Schutzgas
Bindungsstärken, Seite 145) zusammengehal- beim Lichtbogenschweißen verwendet, Helium
ten, daraus resultieren niedrige Schmelz- und mit einer Dichte von 14 Prozent gegenüber der-
Siedepunkte (Å Tabelle 7-27). Alle Edelgase jenigen der Luft als Füllung für Luftballons oder
haben aufgrund der stabilen Elektronenkonfi- als Zusatz zu Tauchgasen. Flüssiges Helium wird
guration die höchste Ionisierungsenergie ihrer als Kühlmittel in der Tiefsttemperatur-Technik
Periode, die aber zu Radon hin abnimmt. genutzt (ÅSuperflüssigkeiten, Seite 355).
Bei ihnen liegt die Menge meist weit unter einer Methangas und Wasser bei niedrigen Tempera-
Tonne pro Jahr. Edelgase dienen als Füllungen turen und hohen Drücken Methanhydrat bildet.
für Gasentladungslampen, wo sie in unterschied- Auf dem Festland wird Methan ständig in der
7-29
lichen Farben leuchten. Dem Tageslicht am Erdkruste und beim Verfaulen pflanzlichen Ma-
Clathrate. Wassermole-
nächsten kommt Xenon, weshalb es für Schein- terials oder durch tierische Verdauung neu gebil- küle können im Eis über
werfer („Xenonlicht“) und für Kinoprojektoren det und freigesetzt, pro Jahr ca. 600 Millionen Wasserstoffbrücken (links
genutzt wird. Herkömmliche „Neon“röhren ent- Tonnen. Methan ist ein wichtiger Energieträger, oben) Käfige bilden, die
sich zu Kristallen zusam-
halten allerdings kein Edelgas, sondern Queck- der in zweierlei Ausbildung verfügbar ist: physi- menlagern. Der kleinste
kalisch eingelagert in Hohlräumen, sogenannten Käfig ist der Pentagondo-
Käfigstrukturen (Clathraten) als Methanhydrat dekaeder (Zwölfflächner
aus Fünfecken, 512), der
Gashydrate und als freier Hauptbestandteil eines Gasgemi- kleine Moleküle wie Me-
sches im Erdgas. than gut aufnehmen kann
Gashydrate nennt man eisähnliche, kristal- (links unten). Die darge-
stellte Struktur ist die ein-
line Festkörper, bei denen Gasmoleküle in Brennendes Eis – fachste Clathrat-Struktur,
einem Gerüst aus gefrorenen Wassermolekü- Energiequelle der Zukunft? die neben 2 Dodekaedern
len eingeschlossen sind. Die Gerüstmoleküle 6 Käfige aus jeweils 12
Pentagonen und 2 Hexa-
sind über Wasserstoffbrücken verbunden und Eigentlich klingt es widersinnig, dass Eis brennt: gonen (51262) pro Elemen-
umschließen ein Gasmolekül käfigartig. Sie Abbildung 7-28 zeigt jedoch, wie eine Flamme tarzelle besitzt.
gehören zu den Clathraten (lat. clatratus, ein-
gesperrt, ÅAbbildung 7-29). Auf natürliche
Weise bilden sich Gashydrate bei Tempera-
turen nahe 0 °C und Drücken ab ca. 20 Bar.
Zentrale Gasmoleküle können Schwefelwas-
serstoff (H2S), Kohlendioxid (CO2) oder
Stickstoff (N2) sein, mehr als 90 Prozent sind
aber Methanmoleküle (CH4). Aufgrund der
erforderlichen hohen Drücke und tiefen Tem-
peraturen sind Gashydrate im Meer in Tiefen
ab 190 Metern unter dem Meeresspiegel und
in festländischen Permafrostgebieten ab ca.
100 Metern stabil.
KAPITEL 7 Luft
aus einem Eisklumpen züngelt, doch das Eis selbst Butan (C4H10), Ethen (C2H4), ferner Schwefel-
brennt nicht, sondern ausströmendes Methan. In wasserstoff (H2S), Stickstoff (N2) sowie bei eini-
diesem Falle ist das Methan in Eiskristallen als gen Sorten bis zu 9 Prozent Kohlendioxid (CO2).
zentrales Molekül eingeschlossen, und bildet soge- Von allen fossilen Energieträgern hat Erdgas
nanntes Methanhydrat (ÅKasten Gashydrate). den geringsten Kohlenstoff-, aber dank Methan
Die ersten Methanhydratvorkommen wurden 1971 (CH4) den höchsten Wasserstoffgehalt.
im Schwarzen Meer entdeckt, inzwischen sind an Erdgas ist ein ungiftiges, farb- und geruch-
den Ozeanrändern aktiver Subduktionszonen loses, brennbares Gas, dem jedoch oft ein Duft-
(ÅWir leben auf einer „Eierschale“, Seite 224), stoff zum Erkennen beigegeben wird. Seine
in den Kontinentalhängen kalter Zonen, in den Zündtemperatur liegt bei 600 °C. Es ist leichter
subpolaren Permafrostgebieten sowie unter dem als Luft (ca. 0,81 kg / m3). Bei – 162 °C wird es
Eis der Antarktis reiche Vorkommen entdeckt wor- r flüssig und nimmt dann nur noch ein Sechshun-
den. Der Brennwert von Methan (bei 25 °C) liegt derstel seines ursprünglichen Volumens ein.
bei 55,5 MJ / kg und ist damit höher als der von Erdgas wurde in geologisch älteren Zeit-
Erdöl. Methanhydrate werden als die Energiequelle abschnitten aus biologischen Reststoffen auf
der Zukunft eingestuft, sollen doch darin nach zweierlei Weise gebildet. Bei der terrestrischen
Schätzungen ca. 10 000 Gigatonnen Kohlenstoff Bildung g fand in ausgereiften Kohlenlagerstätten
gespeichert sein, ein Mehrfaches aller festländlichen (ÅVersteinerte Pflanzenreste, Seite 241) nach
Kohlenstoff-Energieträger zusammen. deren tektonischer Absenkung in Tiefen zwi-
Doch die Nutzung dieses Energiereservoirs schen 4000 und 6000 m bei hohem Druck und
wird auch als gefährlich angesehen. Zum einen hoher Temperatur eine Nachinkohlung statt.
fungieren die Gashydrate in den Lockersedimen- Dabei werden Sauerstoff und Methan verdrängt
ten der Kontinentalhänge als stabilisierender und durch Kohlenstoff ersetzt. Obgleich diese
Zement (ÅSedimentgesteine, Seite 237). Viele Erdgasbildung vom Devon bis ins Tertiär (ÅKas-
Geologen befürchten, dass eine Entnahme der ten Geologische Zeitskala, Abbildung 5-30, Seite
Gashydrate zur Hanginstabilität, zum Abgang 238) anhielt, lag der Schwerpunkt vom Karbon
von riesigen Hangrutschungen und letztlich zum bis in die Trias.
Entstehen gewaltiger Tsunamis führen kann. Bei der marinen Bildung wurde Erdgas
Zum anderen ist Methan ein 30-mal wirksame- ebenso wie Erdöl unter Luftabschluss aus Plank-
res Treibhausgas als das oft angeführte Kohlen- tonresten als Folge der Aktivität von Bakterien
dioxid. Bei einer Ausbeutung der Gashydrate gebildet (ÅBildung von Erdöl und Lagerstätten,
besteht die Gefahr, dass größere Mengen von Seite 344). Bakterielle Zersetzungsprodukte
Methan in die Atmosphäre entweichen kön- wurden über Kerogene unter entsprechenden
nen. In einem Liter Methanhydrateis sind bis Druck- und Temperaturverhältnissen in gasför-
zu 163 Liter Methan gebunden, die bei dessen mige Kohlenwasserstoffe umgewandelt. Dieser
Schmelzen freigesetzt werden. Infolge der zu er- Bildungsprozess läuft ab, seit Leben im Meer
wartenden atmosphärischen Erwärmung würde existiert, die Hauptbildungphase lag in den war-
sich auch das Meer erwärmen; dadurch würden men, planktonreichen Meeren der Jura- und
wiederum die Methanhydrate am Meeresboden Kreidezeit.
instabil und weiteres Methan erweichen. A ufgrund beider Bildungsprozesse sind
reichhaltige Erdgaslager weltweit zu finden.
Methan aus dem Erdinneren – Erdgas Erdgasvorkommen können im Gegensatz zu
Erdöllagerstätten zu fast 100 Prozent ausge-
Ein weiteres, heute als Energieträger und Brenn- beutet werden, weil das leichte Gas so lange
stoff genutztes, umfangreiches Methanreservoir aufsteigt, bis die Gasblase völlig entleert ist. Und
ist das Erdgas. Dabei handelt es sich um ein der Transport zu den Verbrauchern wird durch
fossiles Gasgemisch. Je nach Sorte besteht dieses starke Volumenabnahme bei der Verflüssigung
Gasgemisch zu 65 – 99 Prozent aus Methan; je selbst aus entlegenen Regionen erleichtert. Mit
höher der Methangehalt ist, desto höher ist der schwindenden Erdölreserven avanciert Erdgas
Brennwert von Erdgas. Mit wechselnden Antei- immer mehr zu einem wichtigen privaten Brenn-
len enthält Erdgas andere gasförmige Kohlen- stoff, industriellen Energieträger und Rohstoff
wasserstoffe wie Ethan (C2H6), Propan (C3H8), sowie Treibstoff.
380
KAPITEL 8
Feuer
Geschichte und Mythologie
Feuer und Flamme
Plasma
Das Feuer brachte wohl den Unterschied. Es trennt den diejenige, die uns in Form der Sonne nicht lebensfeindlich
Menschen vom Tier. Seine Beherrschung ist wie kein anderes entgegen tritt, sondern ohne die wahrscheinlich überhaupt
Ereignis in der Vorgeschichte ein Symbol – das Symbol für kein Leben möglich wäre.
die Zähmung der Natur durch den Menschen und für den
Beginn der menschlichen Zivilisation überhaupt. Noch heute
spüren wir die Macht dieses „Elements“. Wie kaum etwas
anderes, vermag uns die Begegnung mit allen Erscheinungs-
formen des Feuers in besondere Stimmungen zu versetzen.
Der Schein einer einfachen Kerze, das Lodern und Knacken
des Lagerfeuers, ein behaglicher offener Kamin im Winter,
das Zucken von Blitzen oder das Glutmeer eines Sonnen-
untergangs – niemand kann sich der Faszination dieses
aktivsten der antiken „Elemente“ entziehen.
Und doch: Feuer war und ist immer auch unheimlich. Es
ist auf einer bestimmten Ebene dem Leben ähnlich und doch
das lebensfeindliche Element schlechthin, stets verbunden
mit der Gefahr von Verletzung und Vernichtung. Die sagen-
haften feuerspeienden Drachen gab es nie, denn Leben und
Feuer vertragen sich schlecht bei zu engem Kontakt. Kein
Tier auf der Erde, außer dem Menschen, hat gelernt, das
Feuer zu zügeln. Das nur mühsam beherrschbare Wilde und
Furiose, das ihm in fast allen seinen Erscheinungsformen zu
eigen ist, rührt von der hohen Energie her, die die „Feuer-
materie“ kennzeichnet.
Als Kind haben wir uns vielleicht mehrfach gefragt, was
das denn sein mag, das so ungreifbar – unbegreifbar – in
den Flammen wohnt. Diese Frage fand Antworten – es ist
lange kein Geheimnis mehr. Der „Stoff der Flammen“ ist
natürlich kein Element im chemischen Sinne, sondern „nur“
eine besondere Erscheinungsform der ganz gewöhnlichen
chemischen Elemente. Ein Aggregatzustand, wenn auch der
am wenigsten bekannte, Plasma genannt. Doch das Verste-
hen und Benennen mancher Aspekte des Feuers hat nichts
von der ursprünglichen Faszination und der Magie dieser
Erscheinung weg genommen, sondern im Gegenteil viele
unvermutete Zusammenhänge hervorgezaubert.
Obwohl uns Menschen der „Stoff, aus dem die Flammen
sind“ von allen antiken Elementen am fernsten liegt, ist das
Plasma, ein ganz besonderes „Feuer“, tatsächlich der im
Universum am weitesten verbreitete Zustand gewöhnlicher
Materie. Schätzungsweise mehr als 99 Prozent liegen in die-
sem Aggregatzustand vor. Plasma ist somit die natürlichste
Erscheinungsform der Materie überhaupt, diejenige, mit der
alles Materielle in unserer Welt begann. Und nicht zuletzt
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Feuer
383
KAPITEL 8 Feuer
Feuerpflug mit einer linearen statt drehenden dass es früher kein einheitliches Gerät, sondern
Bewegung. Sorgt man im richtigen Augenblick eine Ansammlung der nötigen Utensilien war.
für leicht entzündliche Stoffe an den heißen Später wurde der Flint durch speziellen kohlen-
Stäuben (wie Mehl) kann dieser Effekt sogar zu wie weißen Phosphor und konnten sich leicht
gewaltigen Explosionen führen. durch Reibung selbst entzünden. Die seit 1850
Über einen brennenden Span oder Papier- gebräuchlichen Sicherheitszündhölzer vermei-
streifen, den heute kaum noch geläufigen „Fi- den diese Gefahren weitgehend. Ihr Zündkopf
dibus“, wird ein entstandenes Feuer auf nicht besteht aus Schwefel oder Antimon-(V)-sulfid
so leicht entzündliche Brennstoffe übertragen. in Mischung mit dem starken Oxidationsmittel
8-3 Dass die Methoden, Feuer durch Reibung zu Kaliumchlorat (KClO3) sowie Farb- und Binde-
Fidibus. Heute kaum noch erzeugen, bei genügendem handwerklichem mitteln. Solche Gemische lassen sich nur schwer
geläufige Bezeichnung für
Geschick zum Erfolg führt, liegt einfach daran, durch Reibung entflammen. Allerdings ändert
einen Anzünder.
dass Wärme nichts anderes ist als Bewegung der sich dies krass, wenn auch nur kleinste Mengen
Atome, die durch Reibung angestoßen werden von Phosphor hinzu kommen. Die unberechen-
kann. Bei genügend hoher Temperatur wird bare Brisanz vieler Mischungen von Phosphor
die Aktivierungsenergie erreicht, und die Ver- und Kaliumchlorat ist angehenden Chemikern
brennungsreaktion setzt ein. Danach wird das wohlbekannt und hat schon manchem jugend-
Feuer durch die frei werdende Reaktionsenergie lichen Experimentator ganze Finger oder mehr
BILDNACHWEIS, S. 529
LDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS
8-4) und Pyrit (ÅAbbildung 8-5). Pyrit lieferte Reibung (Å Abbildung 8-8). Nur an der Berüh-
8-4 den Funken beim Aneinanderschlagen der Steine. rungsfläche kann es durch Abrieb zur Mischung
Flint. Die weit verbreitete
Das Wort Feuer„zeug“ deutet noch darauf hin, kommen, so dass das Streichholz zündet.
Quarzvarietät wird seit der
Urzeit für Werkzeuge und
als Feuerstein eingesetzt. Piezoelektrischer Effekt
Kristallen wie Quarz und auch einige andere Effekt (griech. piezo, ich drücke). Umgekehrt
Stoffe wie Å Keramiken (Seite 188) bilden un- führt das Anlegen einer Spannung an solche
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
welches das Glycerin bereits bei Zimmertempe- des Prozesses sind also genau dieselben wie bei
ratur in einer exothermen Reaktion oxidiert und der erwähnten langsamen und nahezu kalten
bis über die Zündtemperatur erhitzt. „Verbrennung“ von Nahrungsmitteln in unserem
Körper (ÅRandspalte).
8-7
Zur Entstehung eines wirklichen Feuers mit
Spontane Entzündung. einer Flamme ist eine bestimmte Anfangstempe-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
8-11
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
ihr Verhalten beschreibt, ist die Magnetohydro- ihrer Masse in Energie umgewandelt. Dies ist die
dynamik. Allgemein ist die theoretische Beschrei- Energiequelle, die der Sonne ein nach menschli-
bung und die experimentelle Beherrschung des chen Maßstäben „unendlich“ langes Leben von
Plasmazustands sehr viel komplexer als die von mehr als 9 Milliarden Jahren schenkt.
Gasen, denn wegen der langreichweitigen elek- Die weiche Röntgenstrahlung aus der Kern-
tromagnetischen Wechselwirkungen kommt es zu zone unterliegt im umgebenden Plasma starker
8-15
zahlreichen kooperativen Phänomenen. Hierbei Compton-Streuung an den geladenen Teilchen. Konvektion. In den äuße-
spielt insbesondere das große Massenverhältnis Zum Durchdringen dieser Strahlungsschicht be- ren 20 Prozent des Son-
nenradius wird die Ener-
positiv geladener Ionen zu Elektronen (mindes- nötigt ein Photon statistisch gesehen mehrere
gie hauptsächlich durch
tens 1860 : 1 wie bei Wasserstoffplasmen) eine zehntausend Jahre. Im äußeren Fünftel der Sonne Konvektionsströmungen
Rolle. wird die Energie transportiert.
8-12
Temperatur von Plasmen. Normalerweise stehen die Komponenten eines Plasmas
untereinander und mit ihrer Umgebung nicht im thermodynamischen Gleichgewicht. 387
Ionen und Elektronen haben meist unterschiedliche Temperaturen.
KAPITEL 8 Feuer
hauptsächlich durch Konvektionsströmungen im nem ständigen Abstrom von Plasma nach außen.
unseres Zentralgestirns vollständig abdeckt. Unsere Sonne verliert durch den Sonnenwind
Während die Chromosphäre noch eine mode- pro Sekunde etwa eine Million Tonnen ihrer
rate Temperatur von bis zu 10 000 K aufweist, Masse. Sie hat auf diese Weise seit ihrer Geburt
steigt diese beim Übergang zur sehr dünnen Ko- ungefähr 87 Erdmassen eingebüßt. Angesichts
rona schnell auf über eine Million Grad an. Wie ihrer 333 000-mal größeren Masse bietet dieser
8-17
Sonneneruption. Die kann sich diese über der vergleichsweise kühlen Wert allerdings keinen Grund zur Sorge.
Wechselwirkungen des Photosphäre lagernde Schicht derartig aufheizen? Man kann im Sonnenwind zwei Komponen-
elektrisch leitfähigen Gegenwärtig geht man davon aus, dass Spikes ten mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten un-
Plasmas der Sonnenatmo-
sphäre mit Magnetfeldern sehr heißer Gase lokal durch die Photosphäre terscheiden: Die Geschwindigkeit des langsamen
führen in aktiven Phasen in die Korona gelangen. Zudem können starke Sonnenwinds beträgt ungefähr 400 Kilometer
der Sonne zu bizarren Ströme von Elektronen im Plasma der unteren pro Sekunde. Der schnelle Sonnenwind, der an
Ausbrüchen.
Sonnenatmosphäre die Korona aufheizen. Sie den koronalen Löchern austritt, erreicht sogar
erzeugen selbst wieder schlauchartige Magnet- 800–900 Kilometer pro Sekunde (dies entspricht
felder, die sich bei Sonnereruptionen nach außen etwa drei Millionen Kilometer pro Stunde). In
wölben und verdrehen können. Der Effekt ist Erdnähe hat der Sonnenwind eine Dichte von
vergleichbar mit einem Induktionsherd, bei dem etwa 5· 106 Teilchen pro Kubikmeter. Er erstreckt
die Platte kalt bleibt, während sich der Topf sich bis jenseits der Planetenbahnen, wo er in
erwärmt. Bei Schleifenbildung kann es sogar zu einer Stoßfront auf das interstellare Plasma trifft.
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
sogenannten Rekonnexionen kommen, einer Art Wie eingangs erwähnt, ist der auf der Erde als
Kurzschlüsse von Magnetfeldlinien, bei denen exotisch geltende Plasmazustand im Kosmos
große Energiemengen frei werden. insgesamt der Normalfall (ÅDeep Space, Seite
482).
Sonneneruptionen
8-18
Sonnenkorona. Nur bei einer tota- Magnetosphäre und Strahlungsgürtel
len Sonnenfinsternis wird das ca. Insbesondere Sonneneruptionen (Flares) und
1 Million Grad heiße dünne Plasma damit manchmal verbundene starke solare Mas- Um den Äquator der Erde existiert in etwa
der Sonnenatmosphäre als Korona senauswürfe, aber auch schon die ganz normale 600 –25 000 km Höhe eine ringförmige Zone
sichtbar.
Grundaktivität eines jeden Sterns führen zu ei- verstärkter Teilchenstrahlung. Sie ist nach dem
8-19 amerikanischen Astrophysiker JAMES ALFRED VAN
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
Koronaler Massenauswurf der Sonne. Gewaltige Plasma- ALLEN (1914 – 2006) als Van-Allen-Gürtel be-
wolken können zu elektromagnetischen Stürmen in der nannt, der ihre schon früher vermutete Existenz
irdischen Magnetosphäre führen, wenn sie wie zuletzt im
Jahre 1859 die Erde treffen. Dabei kann es zu Zerstörun- im Rahmen der Explorer-Satellitenmissionen
gen an Satelliten oder zum Ausfall empfindlicher Technik
auf der Erde kommen. (SOHO, Credit: JPL, NASA, ESA).
388
rde
de, Wa
Wass
sser
er,, Lu
er Luft
uft
ft un
ndd Feu
eu
uer
er
er
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
8-21
Sonnenwind – Strahlungs-
1958 bestätigen konnte. Die Zone entsteht eine Art Kugelkondensator und ist gegenüber der gürtel – Polarlichter. Beim
durch das Erdmagnetfeld, das Teilchen des Erdoberfläche stark positiv aufgeladen (ÅAbbil- Auftreffen des Sonnen-
Sonnenwinds und der kosmischen Strahlung dung 8-20). winds auf das Erdmag-
netfeld werden elektrisch
(ÅKosmische Strahlung, Seite 451) einfängt geladene Teilchen abge-
und akkumuliert. Dabei oszillieren diese Teil- Polarlichter lenkt. In Äquatornähe
chen mit Frequenzen von 0,1 – 0,3 Sekunden entstehen dabei zwei Gür-
tel verstärkter Strahlung
zwischen den Polen hin und her. Insbesondere Kommt es aufgrund hoher Sonnenaktivität zu ei-
(Van-Allen-Gürtel, hier
wenn man die energiereichsten Teilchen betrach- ner Überladung des Van-Allen-Gürtels, so dringen violett und hellblau). Das
tet, lassen sich klar ein innerer und ein äußerer Teilchen des Sonnenwinds bei ihren Oszillationen Erdfeldmagnetfeld kann
Gürtel unterscheiden. Im inneren Gürtel mit zwischen den Polen besonders in höheren Breiten durch den Sonnenwind
insbesondere bei Strah-
einem Intensitätsmaximum bei 1000 – 6000 km auch in die obere Atmosphäre ein und regen dabei lungsausbrüchen stark
Höhe sind mehrheitlich Protonen mit Energien Luftmoleküle zu Fluoreszenz an. Die Sonne zeigt verformt werden. An den
größer als 30 MeV anzutreffen. Hauptsächlich etwa alle elf Jahre besonders viele Sonnenflecken, Polen dringen geladene
Teilchen bis in die Erdat-
Elektronen mit Energien größer als 1,6 MeV bil- Eruptionen und Sonnenstürme, in deren Folge mosphäre ein und erzeu-
den hingegen den hochenergetischen Anteil des auch Polarlichter verstärkt auftreten. gen die Polarlichter. Aus
äußeren Rings mit einem Maximum zwischen den Maxwell-Gleichungen
ergibt sich, dass Teilchen
15 000 und 25 000 km Höhe. Die viel häufigeren Plasmaschutzschirme für Raumschiffe? umso eher auch niedrige
Protonen und Elektronen mit niedrigeren Ener- Breiten erreichen, je ener-
gien finden sich meist in größeren Abständen zur Im interplanetaren Raum werden Raumschiffe giereicher sie sind.
Erde und zeigen keine klare Trennung in inneren insbesondere während Sonnenstürmen starker
und äußeren Ring. Für die bemannte Raumfahrt Teilchenstrahlung ausgesetzt. Infolge deren Wech-
stellt insbesondere der innere Strahlungsgürtel selwirkungen mit dem Material des Raumschiffs
zu Zeiten erhöhter Sonnenaktivität eine Gefahr können Instrumente und Besatzungen auch sehr
dar. Astronauten können hier noch hinter 3 mm hohen Dosen harter Röntgenstrahlung ausge-
Aluminiumabschirmung Strahlungshöchstwer- setzt sein. Gegenwärtig wird eine Möglichkeit
ten von 200 mSv / h ausgesetzt sein, was dem untersucht, um hier Abhilfe zu schaffen. Magne-
Millionenfachen der Belastung auf Meereshöhe tische Felder, die durch Ströme in einem künst-
entspricht. Allerdings sind die durchschnittlichen lich erzeugten Plasmamantel um das Raumschiff
Belastungen mit ca. 0,7 – 1,5 mSv / Tag wesentlich induziert werden, könnten eine Art künstlicher
geringer, auch wird der Gürtel z. B. bei Mond- Magnetosphäre und damit einen wirksamen
missionen in kurzer Zeit durchquert. Schutzschirm gegen geladene Teilchen bilden.
Wie wir im Kapitel 7 gesehen haben, enthält die Wenn warme und feuchte Luftmassen in Gewit-
Erdatmosphäre elektrisch leitfähige Schichten, die terzellen schnell aufsteigen, kommt es regelmäßig
unter der Bezeichnung Ionosphäre zusammenge- zu statischen Aufladungen ähnlich wie bei einem
fasst werden. In ca. 70 Kilometern Höhe über der elektrostatischen Van-de-Graaf-Generator. Ihre 8-22
Erdoberfläche führt der schwankende, aber nie Ursache ist nach heutigem Stand der Untersu- Aurora Borealis. Treffen
ganz aussetzende Strom einfallender Strahlung chungen oft, dass sich in den oberen Bereichen die Partikel des Sonnen-
winds in höheren Breiten
dazu, dass aus neutralen Luftmolekülen ein die der Wolken größere Graupel-Eisteilchen bilden,
auf die Ionosphäre und
ganze Erde umfassender Plasmamantel entsteht. die entgegen den Aufwinden nach unten fallen. auf neutrale Moleküle der
Für manche Radiowellen wirkt diese leitende Begegnen sie noch kleinen mitgerissenen Eisteil- Erdatmosphäre, so erzeu-
gen sie die als Polarlichter
Schicht wie ein Spiegel und reflektiert sie zur chen, so können diese Elektronen an sie abge-
(Aurora Borealis) bekann-
Erde zurück. Sie bildet mit der Erde außerdem ben. Somit wird ein Teil der Bewegungsenergie ten Plasmaphänomene.
Gelegentlich können die
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
Leistung in elektrische Energie umgesetzt. Die nach oben gesetzt. Diese beiden Kohlestifte werden zum
= Spannung · Stromstärke
gerissenen kleineren positiv geladenen Eisteilchen Zünden der Lampe kurzgeschlossen, wobei ein
P = U·I und die in den unteren Bereich der Wolke ge- hoher Strom das Gas in der nächsten Umge-
langenden größeren negativen Graupeln bilden bung erhitzt und teilweise ionisiert. Der typische,
z. T. beträchtliche Raumladungszonen aus. Der gleißend bläuliche Lichtbogen entsteht beim
Energie
= Leistung · Zeit Erdboden selbst kann sich wiederum gegenüber Auseinanderziehen der Kohlestifte. Er besteht
der Wolkenunterseite wie bei einem Kondensator aus ionisiertem Gas, dem elektrisch leitenden
E = P·t
durch elektrische Influenz positiv aufladen. Über- r Plasma, das für einen andauernden Stromfluss
schreiten die Spannungen zwischen Wolken oder zwischen den beiden Elektroden sorgt und grell
zum Erdboden einige 10 Millionen Volt, so kann leuchtet. Auch die Kohleelektroden senden ein
es zum Ladungsausgleich durch Blitze kommen. intensiv weißes Licht aus, wobei die positive
Dies geschieht meist noch weit unter der Grenze, Elektrode deutlich heißer wird als die negative.
bei der ein Durchschlag durch ein neutrales Gas Die positive Elektrode erreicht Temperaturen
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
zu erwarten wäre. Man vermutet daher, dass dem von über 4000 °C und brennt zu einem Krater
eigentlichen Blitz vorausgehende Ionisierungspro- aus, die negative Elektrode erreicht Tempera-
zesse eine Rolle spielen. Ein durchschnittlicher Blitz turen über 3500 °C und brennt spitz ab. So
hat ein Spannungsgefälle von etwa 20 Millionen werden beide Elektroden langsam verbraucht
Volt. Er besteht aus ca. 5 Hauptentladungen von und müssen nach einiger Zeit ersetzt werden.
jeweils ungefähr 0,005 Sekunden Dauer und ei- Bei Hochdrucklampen kann die positive Kohle-
8-23 ner Stromstärke um 20000 Ampere. Kurzzeitig elektrode sogar Temperaturen von über 6000 °C
Prinzip des Lichtbogens. hat ein Blitz also eine elektrische Leistung von erreichen. Bogenlampen senden ein gemischtes
Bei einer niedrigen Span- ca. 400 Milliarden Watt. Die dabei umgesetzte Spektrum aus thermischer Strahlung und Emis-
nung von einigen Volt
werden zwei Kohleelektro- elektrische Energie von ca. 2800kWh würde ca. sionslinien aus den Gasatomen im Lichtbogen
den kurzzeitig verbunden. 700 Euro kosten. aus. Die hohe Temperatur wird übrigens auch
Zieht man die Elektroden beim Elektroschweißen genutzt. Hierbei bil-
danach auseinander,
so bildet sich bei genü- det das Werkstück selbst eine der Elektroden.
gender Stromdichte ein Plasmen in Technik, Forschung Die zweite Elektrode ist der Schweißdraht, der
Lichtbogen von mehreren schmilzt und schließlich mit dem Werkstück
Millimetern Länge. Als
und Medizin
Stromquelle ist z. B. eine
die Schweißnaht bildet. Zur Vermeidung von
Autobatterie geeignet. Oxidation wird dabei die Schweißstelle häufig
Achtung: Es treten sehr mit einem Inertgas wie Argon umspült.
hohe Temperaturen auf,
Bogenlampen und elektrisches Schweißen
Bei modernen Xenonbogenlampen sind zwei
und direktes Betrach-
ten des gleißend hellen Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts gingen Elektroden in 5 mm Abstand in einer Glasperle
Lichtbogens schädigt die in vielen Großstädten der Welt die elektrischen mit Xenonfüllung eingeschmolzen. Das Anlegen
Augen.
Lichter an – und schon damals spielten Plasmen der Zündspannung von 20 000 Volt genügt zur
eine entscheidende Rolle. Die ersten elektrischen Überbrückung des Elektrodenabstands, sodass
Straßenbeleuchtungen waren nämlich nicht etwa für die Zündung keine mechanische Bewegung
Glühbirnen, sondern Bogenlampen. Verglichen der Elektroden mehr notwendig ist. Während des
Lumen mit den bis dahin verbreiteten Gaslichtern – un- Betriebs steigt der Druck von 20 Bar auf 100 Bar
Ein Maß für den von einer vergesslich durch zahlreiche Kriminalromane aus an. Infolge des hohen Drucks werden die Emissi-
Lichtquelle abgestrahlten
Lichtstrom. Es berücksich-
viktorianischer Zeit – erschienen sie sonnenhell. onslinien des Xenons im sichtbaren Spektrum so
tigt auch die wellenlän- Seit der Ur-Bogenlampe des Engländers HUMPHRY weit verbreitert, dass ein nahezu kontinuierliches
genabhängige Empfind- DAVY (1778 –1829) aus dem Jahre 1808 beruhen Spektrum ausgesendet wird. Xenonbogenlampen
lichkeit des menschlichen
sie auf einem sogenannten Lichtbogen, einem sehr können ungefähr 3000 Stunden lang brennen.
Auges. Lichtquellen glei-
cher Lumen-Zahl werden heißen Plasma zwischen zwei Elektroden. Sie erreichen eine Lichtausbeute von 90 Lumen
als gleich hell wahrgenom- Die ersten Bogenlampen bestanden noch pro Watt, im Gegensatz zu Glühlampen mit
men.
aus zwei gegenüber liegenden Holzkohlestäb- 12 – 15 Lumen pro Watt (ÅRandspalte). Neben
1 Lumen (lm) entspricht chen, die mittels einer Batterie entgegengesetzt ihrer Anwendung in (lästig grellen) Autoschein-
dem Lichtstrom einer aufgeladen wurden. Alle weiterentwickelten werfern werden sie in Blitzlichtern von Kameras
verlustfreien Lichtquelle Kohle-Bogenlampen funktionieren nach dem sowie in Kino-Filmprojektoren verwendet.
mit 555 nm Wellenlänge
und einer Leistung von gleichen Prinzip: In einem gasgefüllten Glas- Für normale Beleuchtungszwecke setzte sich
1,464 mW. körper sind isolierte Elektroden aus Kohle ein- trotz ihres schlechten Wirkungsgrads zunächst
8-24
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
Moderne Hochdruck-Xenonbogenlampe.
390
Erde, Wasser, Luft und Feuer
die klassische Glühbirne durch, deren Funktions- dem Edelgas Neon gefüllt. An beiden Enden des
weise nicht auf einem Plasma basiert. Sie hatte Glasrohres sind Elektroden eingebaut. Wird eine
entscheidende Vorteile bei der Handhabung. Hochspannung von mehreren tausend Volt ange-
Daneben gab es aber schon früh Versuche, Licht legt, so fließt ein Elektronenstrom von der Anode
auch ohne hohe Temperaturen direkt zu erzeu- zur Kathode, und das Neon wird ionisiert. Des-
gen (nicht-thermische Lichtquellen). Auch dabei sen Plasma leuchtet intensiv rot. Farbvariationen
spielte wieder Plasma eine entscheidende Rolle. lassen sich durch unterschiedliche Gasfüllungen
8-30
Spektren. Wellenlängenverteilung der Lichtintensität
bei drei ausgewählten elektrischen Lichtquellen: Laser
392 (orange), Gasentladungsröhre (blau) und Glühbirne (rot).
Deutlich erkennbar sind der hohe Anteil an Wärmestrah-
lung (λ > 780 nm) bei Glühbirnen und die einfarbige (mo-
nochromatische) Strahlung des Lasers.
Erde, Wasser, Luft und Feuer
ionisiert, was zu einer sehr genau messbaren sich ein Kühlmittel erhitzen, welches dann zur 8-32
Erhöhung der elektrischen Leitfähigkeit der Stromerzeugung durch Turbinen geleitet wird. Deuterium-Tritium-Pro-
Flamme führt. FIDs sind so empfindlich, dass Ein Gramm Brennstoff setzt dabei so viel Ener- zess. Der einzige Fusions-
pozess, der heute tech-
es theoretisch möglich ist, eine Substanz noch gie frei wie acht Tonnen Erdöl oder elf Tonnen nisch möglich erscheint,
nachzuweisen, wenn man ein Weinglas davon Kohle, nämlich 90 000 Kilowattstunden. Das ist die Verschmelzung
irgendwo auf der Erde in den Ozean gießt und genügt, um mehr als 30 Einfamilienhäuser ein der Wasserstoffisotope
Deuterium (2H) und Tri-
nach vollständiger Vermischung an völlig ande- Jahr lang mit Heizung und Warmwasser zu tium (3H), bei der unter
rer Stelle eine Probe entnimmt. versorgen. Als 1991 im JET-Laboratorium in Energiegewinn Helium-4
England erstmals Energie aus kontrollierter (4He) und ein Neutron n0
entstehen.
Fusionskraftwerke Kernfusion gewonnen wurde, belief sich die
Energieausbeute auf etwa 1,7 Millionen Watt.
Die Sonne macht es uns täglich vor: Es geht! Man Allerdings benötigte der Reaktor für das Errei-
könnte schon ins Zweifeln geraten, wenn man be- chen und Erhalten der Fusion noch weit mehr
denkt, dass viele Physiker und Techniker weltweit Energie, als er lieferte. Das ist bis heute das
seit über 50 Jahren mit immensen Forschungs- Problem. Der internationale Testreaktor ITER,
budgets versuchen, es Prometheus gleich zu tun der im südfranzösischen Cadarache steht, soll
393
KAPITEL 8 Feuer
frühestens im Jahre 2023 erstmals eine posi- liert ist. Das mathematische Produkt, das aus
tive Energiebilanz aufweisen. Läuft alles nach diesen drei Faktoren errechnet wird, erreicht
Plan, könnte 2035 ein erstes Demonstrations- heute noch nicht den Wert, bei dem sich eine
kraftwerk Fusionsstrom ins Netz einspeisen. Fusion energetisch lohnen würde. Ein Vorteil
Mit kommerziellen Kraftwerken rechnen die der Kernfusion ist der, dass der nötige Brenn-
Forscher nicht vor 2050. stoff fast unbegrenzt überall vorhanden ist. Er
Will man kommerziell sinnvolle Kernfusion muss nicht unter gefährlichen Bedingungen
auf der Erde ermöglichen, so muss man sogar abgebaut werden. Treibhausgase werden vor
deutlich höhere Temperaturen erzeugen und allem beim Reaktorbau verursacht. Dennoch
für eine gewisse Zeit aufrecht erhalten, als im fällt die CO2-Bilanz nach einer Studie von
Sonneninneren herrschen, denn man wird kaum 2001 ähnlich aus wie für Windkraft. Tritium
ähnliche Drücke realisieren können. Bei dem ist jedoch – ein großer Nachteil – radioaktiv.
im Zentrum der Sonne herrschenden Druck Es muss also sichergestellt sein, dass es nicht
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
reichen die herrschenden 15 Millionen Kel- aus der Anlage entweichen kann. Außerdem
vin aus, damit sich Wasserstoff-Atomkerne aktivieren die freigesetzten Neutronen Reaktor-
bei direkten Kollisionen so nahe kommen, bestandteile. Das Reaktorgebäude strahlt also,
dass sie ihre gegenseitige elektrische Absto- sodass es nach Betriebsende sicher entsorgt
ßung überwinden. Auf der Erde muss man das werden müsste. Zurzeit werden Baustoffe ent-
Gasgemisch auf Temperaturen von 100 bis wickelt, die gewährleisten, dass das Gebäude
200 Mio. K (!) bringen. Denn bei hohen Tempe- „nur“ einige hundert Jahre lang radioaktiv
raturen besitzen die Kerne höhere Bewegungs- bleibt. (Aktuelle Kernkraftwerke strahlen viele
energien und damit höhere Geschwindigkei- tausend Jahre lang.) Ein GAU, wie die Explo-
ten. Mit Magnetfeldern lässt sich das Plasma sion des Kernkraftwerks Tschernobyl oder die
einschließen, ohne dass es mit den Wänden Kernschmelze in Fukushima, droht bei einem
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
des Reaktors in Berührung kommt. Dies erfor- Fusionskraftwerk nicht, denn eine Kernfusion
dert großen technischen Aufwand. Er ist aber läuft nicht selbsttätig ab. Sobald der nötige
unumgänglich, denn keine materielle Wand Druck oder die hohe Temperatur nicht mehr
würde diesen hohen Temperaturen auch nur aufrechterhalten werden, endet die Reaktion.
kurzzeitig standhalten. Für den magnetischen
Einschluss werden zwei alternative Konzepte Plasmakristalle
8-33 verfolgt: Erstens der Tokamak, bei dem eine
Plasmakristalle. Die
Verwendung geladener an einen Donut erinnernde torusförmige Plas- In den letzten Jahren gelang es am Institut für
Staubteilchen als Mo- makammer und ein im Plasma selbst indu- Plasmaphysik der Universität Kiel, sehr unge-
dellsystem statt atomarer zierter Strom verwendet werden (ITER). Ein wöhnliche Plasmen herzustellen und für die Er-
Ionen (Größenverhältnisse
nicht maßstabsgetreu) zweiter Ansatz ist der Stellator mit komplex forschung von Phasenübergängen einzusetzen.
ermöglicht insbesondere gewundenen Magnetspulen (Versuchsreaktor Die Bezeichnung Plasmakristalle ist eigentlich
unter Schwerelosigkeit Wendelstein 7-X des Max-Planck-Instituts für schon ein Widerspruch in sich, vielleicht sollte
Untersuchungen des Ver-
haltens von Plasmen in Plasmaphysik in Greifswald). Um das Plasma man sie eher als plasmagesteuerte Metakristalle
„atomaren“ Details. Mit auf die nötige Temperatur zu erhitzen, strahlt bezeichnen. Man meint damit künstliche Sys-
Hilfe eines gefächerten man hochfrequente Radio- oder Mikrowellen teme, bei denen staubfeine, ca. 10 Mikrometer
Lasers kann man eine
einzelne Gitterebene be-
ein oder beschießt es mit Teilchenstrahlen. Ob große Plastikkügelchen die Rolle von Atomen
leuchten und die Teilchen- das Plasma „brennt“ und dann durch Fusion übernehmen, mit dem Vorteil, dass sie sich
bewegung exakt beob- schließlich mehr Energie erzeugt, als zum Auf- ohne weiteres individuell beobachten lassen.
achten. Die Staubpartikel
heizen verbraucht wird, hängt aber nicht allein In einer Plasmakammer einer Hochfrequenz-
führen Zitterbewegungen
(„thermische Bewegung“) von der Temperatur ab. Wichtig sind noch zwei entladung ausgesetzt, laden sich diese „Atome“
um ihre Gitterplätze aus, weitere Faktoren: Für die Kernfusion ist eine stark negativ auf und werden im Plasma durch
die durch das vorhandene
ausreichende Dichte des Plasmas nötig. Sie wird ein elektrisches Raumladungsfeld an dessen
Gas gedämpft werden.
Durch Verringerung des durch hohen Druck erreicht. Mit steigender Rand eingefangen. Das Gewicht der Teilchen
Drucks lässt sich die Dichte nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass kann durch ein elektrisches Feld neutralisiert
Dämpfung verringern sich zwei Kerne treffen. Außerdem spielt die werden. Unter dem Einfluss der gegenseitigen
und so der Übergang zur
flüssigen Phase simulieren „Energieeinschlusszeit“ eine Rolle. Sie gibt an, elektrischen Abstoßung bilden sie bei Raum-
(oben links im Bild). wie gut das Plasma gegen Wärmeverluste iso- temperatur ein hexagonales Gitter.
394
KAPITEL 9
Komplexe Strukturen
Zum neunten Kapitel
Die antiken griechischen Philosophen nahmen an, dass man Universums offenbar so viel kleiner als heute und nicht schon
zwischen der Form eines Objekts und der Materie, aus der von Anfang an maximal? Antworten auf Fragen dieser Art
es besteht, unterscheiden sollte: Ein Stück Bronze sei nicht sind Inhalt des zweiten Teils.
dasselbe wie eine Bronzestatue. Aber ist die Form der Dinge Zufall allein produziert weder Struktur noch Form, denn
nur Folge ihrer materiellen Zusammensetzung, oder sind es bedarf der gestalterischen Kraft von Naturgesetzen, damit
Formen das Wesentliche und Materie lediglich der Baustoff? Formen und Strukturen entstehen. Für uns zielorientierte
Falls Letzteres zutrifft, woraus besteht dann Form? Oder: Menschen mag es überraschend sein, was aus dem ziello-
Woher weiß eine Eichel, dass sie ein Baum werden soll und sen Wirken der Naturgesetze alles „von selbst“ entstehen
kein Stuhl? kann, aber viele Phänomene unserer Welt sind auf diese
Fragen dieser Art beschäftigten die Philosophen der An- Weise tatsächlich erklärbar. Trotz der frühen Anwendung
tike und des Mittelalters. Uns mögen sie antiquiert erscheinen, naturwissenschaftlicher Methoden in Medizin und Biologie
wissen wir doch einigermaßen Bescheid über die Wachstums- blieben aber für lange Zeit Aspekte der Entstehung und der
prozesse von Eichen und über den Aufbau der Materie. Wir Funktion von Lebewesen bei wissenschaftlichen Erklärungen
könnten heute diesen Philosophen antworten, dass Materie außen vor. Man war der Ansicht, dass für das Leben eine be-
aus Atomen bestehe und dass die Formen der Dinge letzten sondere Lebenskraft verantwortlich sei. Diese vis vitalis war
Endes durch Kräfte zustande kommen, die zwischen Atomen etwas anderes als die mechanischen Kräfte, die das Verhalten
wirken. Einen Philosophen wie ARISTOTELES würden wir da- unbelebter Körper bestimmen. Man unterschied zwischen
mit jedoch nicht überzeugen, schließlich behaupten wir damit organischer und anorganischer Materie – eine Trennung,
kaum mehr als dessen Vorgänger DEMOKRIT (ÅLeukipp und die sich noch heute in der chemischen Einteilung der Stoffe
Demokrit – die frühen Atomisten, Seite 34): So wie wir in organisch und anorganisch widerspiegelt. Während es im
heute von Kräften reden, sprach dieser von Haken und Ösen, Zeitalter von Molekularbiologie und Gentechnik schwer fällt,
mit denen Atome zusammenhalten; Körpereigenschaften an eine vis vitalis als Motor des Lebens zu glauben, ist im
waren bei DEMOKRIT Folge der verschiedenen Formen der Bereich der Bewusstseinsforschung noch eine Diskussion über
Atome. Wir müssen schon ausführlicher darlegen, warum die Anwendbarkeit materialistischer Erklärungen im Gange.
aus einer Eichel ein Baum wird und kein Stuhl. Die zentrale Von Manchem wird hier die Kluft zwischen bewusstem
Frage dieses Kapitels lautet daher: Wenn Atome und Kräfte Erleben und neurologischen Erklärungen für das Phänomen
nichts von der Form der Dinge wissen, wie entsteht sie dann? Bewußtsein noch als zu groß empfunden. So spannend und
Der Molekularbiologe und Medizin-Nobelpreisträger aktuell dieses Thema ist, wir können es im Rahmen dieses
JACQUES MONOD (1910 – 1976) prägte den Ausdruck Zufall Buches nur streifen. In Kapitel 12 greifen wir aber die Frage
und Notwendigkeitt für den evolutionären Prozess der Entste- wieder auf, wie das Wechselspiel aus unbelebter Materie und
hung von Lebensformen. Wie aber soll der Zufall eine Rolle Kräften in der Lage ist, hochkomplexe, bewusste Lebewesen
spielen, wenn doch Naturgesetze die Welt beherrschen? Wel- wie uns zu erschaffen.
che Rolle der Zufall in der Natur spielt, ist daher das Thema Mit Hilfe neuer Methoden zur Analyse und Simulation
des ersten Teils dieses Kapitels. komplexer Systeme in vielen Bereichen konnte in den letzten
Auch das oft zitierte Streben der Welt in Richtung Unord- Jahrzehnten ein tieferer Einblick in deren Funktionsweise
nung (das Streben zum Entropiemaximum) entpuppt sich bei gewonnen werden, was sich vor allem in Begriffen wie Selbst-
genauem Hinsehen als alltägliches Phänomen: So wie Chaos organisation und Nichtlinearitätt manifestiert, die heute die
der wahrscheinlichste Zustand eines Kinderzimmers ist, ist Diskussion über solche Systeme prägen. Formbildung als
Unordnung in den allermeisten Fällen der wahrscheinlichste Selbstorganisation nichtlinearer Systeme ist daher Thema
Endzustand eines Systems aus Materie. Entropie ist aber des dritten Abschnitts.
nicht leicht zu verstehen: Wie verträgt sich der mit dem Stre-
ben nach Unordnung einher gehende Unterschied zwischen
Vergangenheit und Zukunft mit der zeitlichen Symmetrie
der Naturgesetze? Warum war die Entropie zu Beginn des
Erde, Wasser, Luft und Feuer
397
KAPITEL 9 Form und Materie
ist. Es ist also keinesfalls sicher, ob eine „Theorie erkennen kann. Wie wir noch sehen werden, ist
für Alles“ überhaupt deterministisch sein kann. die Nichtlinearität von Systemen verantwortlich
Und natürlich ist nicht gesagt, dass es eine solche für chaotisches Verhalten, aber gleichzeitig auch
Theorie überhaupt gibt und wir wissen nicht, der Grund dafür, dass relativ stabile Strukturen
ob die Natur von ewig und überall geltenden wie Wirbelstürme, Tigerstreifen und Zellen ent-
Gesetzen regiert wird. Die Frage also, ob Zufall stehen können. Man spricht vom deterministi-
lediglich unsere Unwissenheit ausdrückt oder ob schen Chaos, womit man ausdrücken möchte,
die Welt tatsächlich zufällige Elemente enthält, dass dieses Verhalten aus deterministischen Ge-
muss vorerst offen bleiben. setzen heraus erfolgt. Nichtlineare Systeme sind
meist sehr empfindlich gegenüber Änderungen
Deterministisches Chaos der Anfangsbedingungen. Geringste Unterschiede
können zu einem vollkommen anderen System-
Regelmäßig wiederkehrende Erscheinungen stel- verhalten führen. Der Meteorologe und Mathe-
len natürlich ein gutes Indiz für gesetzmäßiges matiker EDWARD N. LORENZ (1917 – 2008) prägte
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
Verhalten dar. Die Erfahrung zeigt uns, dass es dafür den Ausdruck „Schmetterlingseffekt“: Der
in der Welt unterschiedliche Grade von Regel- Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien
mäßigkeit gibt. Die Bewegungen der Planeten kann demnach einen Tornado in Arizona auslö-
bleiben über Jahrmillionen hinweg praktisch un- sen. Unabhängig davon, ob solche Systeme „im
verändert, wogegen die Ziehung der Lottozahlen Grunde“ deterministisch sind oder nicht, ist ihr
9-2 ein völlig zufälliger Prozess ist. Zwischen diesen Verhalten unvorhersagbar. Weder kennen wir die
Pierre Simon de La-
place. Gemälde aus dem
Extremen spannt sich ein riesiges Feld von Er- Anfangsbedingungen genau genug, noch können
19. Jahrhundert. scheinungen, die in unterschiedlichen Ausmaßen wir jede noch so kleine Störung von außen nach-
Zufall und Regelmäßigkeit verkörpern. Das Wet- vollziehen. Zu unserem Glück neigen nicht alle
ter zeigt jahreszeitliche Perioden und scheint auch Systeme zu solch komplexem Verhalten. Es wäre
im großen Maßstab quasiperiodischen Trends unpraktisch, wenn Luft Muster unterschiedlicher
zu unterliegen. Im Kleinen jedoch bleibt die Konzentrationen in einem Raum bilden oder
Vorhersage schwierig. Mithilfe entsprechender sich Tee im Wasser streifenförmig lösen würde.
Untersuchungsmethoden kann man den Bruch Ärgerlich wäre auch, wenn die Suppe auf dem
eines Werkstücks gut vorhersagen, wenngleich Tisch plötzlich anfinge zu kochen, anstatt sich
Stochastik der genaue Zeitpunkt des Bruchs unsicher ist. abzukühlen. Um zu verstehen, was Luft, Tee
Wissenschaft der Wahr- Und obwohl die uns umgebende Luft aus einem oder Suppe von Wirbelstürmen, Tigerstreifen
scheinlichkeit und der
Statistik chaotischen Gewusel vieler Moleküle besteht, und lebenden Zellen unterscheidet, benötigen
ist deren Gesamtverhalten über sehr einfache wir etwas Statistik.
Gesetze determiniert.
Welche Eigenschaften der Systeme sind für Das Gesetz der großen Zahl
diese Unterschiede verantwortlich? Größe oder
Anzahl ihrer Bestandteile scheinen keine Rolle zu Selbst wenn wir Ereignisse nicht vorhersehen
spielen, wie man anhand der gegebenen Beispiele können, ist es oft möglich, die Wahrscheinlichkeit
ihres Eintretens zu bestimmen. Meist wird im
9-3 Alltag unter der Wahrscheinlichkeit eines Ereig-
Zufälliger Zerfall. Bei ei-
nisses dessen relative Häufigkeitt unter der Menge
nem radioaktiven Element
zerfallen in einer be- der möglichen Ereignisse verstanden. Gibt es wie
stimmten Zeiteinheit, der beim Münzwurf zwei mögliche Ereignisse, näm-
Halbwertszeit, jeweils die lich Kopff oder Zahl, und tritt jedes etwa gleich
Hälfte der noch verbliebe-
nen Atomkerne. Welche häufig auf, dann ist deren relative Häufigkeit 1/2.
dies sind, ist vom Zufall Nach dem Gesetz der großen Zahl kommt die
abhängig. Caesium-137 ist gezählte Häufigkeit eines Ereignisses nach vielen
übrigens das Isotop, das
für einen Großteil mittel- Versuchen diesem theoretischen Wert immer nä-
fristiger Verseuchung bei her (ÅAbbildung 9-4). Sind die Ereignisse gleich
Atomunfällen wie Tscher- wahrscheinlich, spricht man von einer Gleich-
nobyl oder Fukushima
verantwortlich ist. N0 ist verteilung, es gibt aber natürlich auch Ereignisse
die anfängliche Anzahl der mit unterschiedlicher Häufigkeit in einer Menge.
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
betroffenen Atome.
398
Erde, Wasser, Luft und Feuer
399
KAPITEL 9 Form und Materie
400
Erde, Wasser, Luft und Feuer
9-9
Irrfahrt. Links zwei eindi-
mensionale Irrfahrten mit
n = 500 Schritten entlang
einer Achse mit einer
Schrittweite von ± 0,5.
Die y-Achse zeigt, wie
weit sich der „Irrfahrer“
nach n Schritten vom Aus-
gangspunkt entfernt hat.
Die grüne Kurve zeigt den
mittleren quadratischen
Abstand vieler Irrfahrten
vom Ausgangspunkt
in Abhängigkeit von n.
Rechts eine zweidimen-
sionale Irrfahrt von 200
Schritten mit einer Schritt-
sammen? JAMES CLERK MAXWELL (1831 – 1879) nimmt mit dem Quadrat der Geschwindigkeit
weite zwischen 0 und
und LUDWIG BOLTZMANN (1844 – 1906) fan- zu. Da ihre mittlere Energie mit der Temperatur ± 0,5 in beide Richtungen.
den dafür die entscheidende Antwort, die als zunimmt, sind bei gleicher Temperatur leichtere
Gleichverteilungssatz oder Äquipartitionsthe- Moleküle im Mittel schneller.
orem bekannt ist. Demnach verteilt sich die
Energie des Gases im Mittel gleichmäßig auf Schlüssel zu vielen Prozessen –
alle Freiheitsgrade der Moleküle. Jeder Freiheits- die Boltzmann-Statistik
grad erhält im Mittel die gleiche Energieportion,
nämlich 1/2 kT. Darin ist k die sogenannte Boltz- Die von BOLTZMANN aufgestellte Boltzmann-
mannkonstante und T die absolute Temperatur Verteilung (meist Boltzmann-Statistik genannt)
(ÅKasten Freiheitsgrade, Seite 402). MAXWELL ist wesentlich allgemeiner und beschreibt, wie
stellte eine statistische Verteilungsfunktion für sich im Gleichgewicht die Gesamtenergie eines
die Geschwindigkeiten der Gasmoleküle auf, die Systems auf dessen verfügbare Zustände statis-
von BOLTZMANN wenig später theoretisch be- tisch verteilt:
gründet und verallgemeinert wurde. Man nennt p(z) ~ e-E(z)/kT
sie daher Maxwell-Boltzmann-Verteilung (Å Ab-
bildung 9-10 und 9-11). Sie ist der Form nach Die Wahrscheinlichkeit p(z) eines Zustands z ist
eine Normalverteilung, wie wir sie im vorherigen also abhängig von der Temperatur T und der
Abschnitt kennen gelernt haben. Man erkennt, Energie E(z) in diesem Zustand. Bei Systemen
dass die Molekülgeschwindigkeiten einen brei- freier Teilchen wie einem Gas ohne nennenswerte
ten Bereich abdecken, dass aber der Anteil der Wechselwirkungen zwischen den Molekülen ist
schnelleren Moleküle mit steigender Temperatur ein Systemzustand charakterisiert durch die ki-
zunimmt. Die Bewegungsenergie eines Moleküls netische Energie aller Teilchen, und die Boltz-
9-10 9-11
Maxwell-Boltzmann-Verteilung (1). Die Geschwindigkei- Maxwell-Boltzmann-Verteilung (2). Vergleich der Ge-
ten von Stickstoffmolekülen (N2) in Abhängigkeit von der schwindigkeit der Moleküle verschiedener Gase bei Zim-
Temperatur. 300 K entsprechen Zimmertemperatur. Eben- mertemperatur. Je schwerer die Gasmoleküle sind, desto
falls eingetragen sind die mittleren Geschwindigkeiten vm. langsamer sind sie.
401
KAPITEL 9 Form und Materie
Freiheitsgrade
Jede Bewegung einer punktförmigen Masse kann aus drei mit endlichem Volumen hat daher sechs Freiheitsgrade und
Bewegungen längs der drei Achsen des Koordinatensystems deshalb eine mittlere Energie von 6 · 1/2 kT = 3 kT. Eine nur
zusammengesetzt werden. Man sagt daher, sie hat drei Frei- hypothetisch denkbare Punktmasse hätte drei Freiheitsgrade,
heitsgrade (der Bewegung). Besitzt sie ein endliches Volumen, mithin eine mittlere Energie von 3/2 kT.
kommen nochmals drei Freiheitsgrade für die Rotationskom- Zwei weitere Freiheitsgrade kommen hinzu, wenn zwei
ponenten um die x-, y- und z-Achse hinzu. Ein freies Teilchen Teilchen durch Anziehungskräfte miteinander verbunden
sind. Die Anziehungskräfte kann man sich wie Federn vor-
9-12
Freiheitsgrade. Jede Bewegungs- stellen, die die Körper verbinden und durch die diese in
richtung im Raum (Vektor) kann Schwingungen geraten können. Demnach hätte ein zwei-
zusammengesetzt werden aus atomiges Molekül wie Wasserstoff (H2) acht Freiheitsgrade,
drei Vektoren, die in Richtung der
drei Koordinatenachsen weisen.
also eine mittlere Energie von 4 kT.
Daher besitzt eine Bewegung im Überraschenderweise entspricht das Verhalten realer
Raum drei Freiheitsgrade. Analog Moleküle nicht diesem Schema (ÅAbbildung 9-13). Was-
kann man jede Rotation in drei
Rotationsrichtungen zerlegen,
serstoffmoleküle verhalten sich bei niedrigen Temperaturen
eine Rotation besitzt ebenfalls wie Punktmassen mit einer mittleren Energie von 3/2 kT. Bei
drei Freiheitsgrade. höheren Temperaturen steigt diese Energie auf 5/2 kT T an, um
bei noch höheren Temperaturen den Wert 7/2 kT T zu erreichen.
Eine Erklärung dafür liefert die Quantentheorie. Die Freiheits-
grade eines Moleküls können nämlich im Allgemeinen nicht
beliebige Energiewerte annehmen, sondern nur exakt defi-
nierte Portionen (Quanten). Ein Molekül kann nur zu einer
Rotation angeregt werden, wenn mindestens die dafür nötige
Energieportion zugeführt wird. Ein Wasserstoffmolekül wird
daher erst zu rotieren beginnen, wenn die entsprechende kriti-
sche Temperatur erreicht ist. Dabei stehen aus quantenmecha-
nischen Gründen nur zwei Rotationsachsen zur Verfügung.
Die Energie erhöht sich nur auf 5/2 kT
T statt auf 6/2 kT. Um die
beiden Atome des Moleküls gegeneinander in Schwingungen
9-13 zu versetzen, ist sogar eine noch höhere Energie notwendig.
Wasserstoffmolekül. Verlauf der mittleren Energie pro Wasserstoffmo- Anfangs stehen also nur drei Freiheitsgrade zur Verfügung
lekül (H2) in Abhängigkeit von der Temperatur T. Die Energie ist ausge-
drückt als die spezifische Wärme CV/N·k pro Molekül (bei N Molekülen, auf die sich die Energie verteilen kann, die mittlere Energie
k ist die Boltzmann-Konstante). des Moleküls beträgt also nur 3/2 kT.
mann-Statistik ist dann nichts anderes als die Verteilung der Energie auf Gitterschwingungen
Maxwell-Boltzmann-Verteilung. Bei Gasen mit und Elektronen (ÅSpezifische Wärmekapazität,
Wechselwirkungen zwischen den Molekülen hat Seite 198). Eine Einschränkung ihres Geltungs-
die Boltzmann-Statistik grundsätzlich die gleiche bereichs erfährt die Boltzmann-Statistik in der
Form, aber ein Zustand ist dabei nicht nur durch Quantenwelt durch die Diskretheit der mög-
die kinetische Energie bestimmt, sondern auch lichen Zustände und durch das Pauli-Prinzip.
durch die räumliche Konfiguration der Teilchen, Es besagt, dass sich Teilchen mit halbzahligem
da diese die potenzielle Energie festlegt. Spin (Fermionen, zu denen auch das Elektron
Die Boltzmann-Statistik gilt für eine Viel- gehört) nicht im gleichen quantenmechanischen
zahl von Systemen, von Gasen über komplexe Zustand aufhalten können. Für sie gilt deshalb
Moleküle bis hin zu Festkörpern. Bei ersteren die sogenannte Fermi-Dirac-Statistik (ÅAbbil-
beschreibt sie, wie sich die Gesamtenergie auf dung 9-14). Sie ist für viele physikalische Effekte
die Bewegungszustände der Teilchen verteilt, verantwortlich, die ansonsten nicht erklärbar
bei Molekülen beschreibt sie unter anderem die wären. Teilchen mit ganzzahligem Spin (Bosonen)
Verteilung der Energie auf die möglichen Win- unterliegen nicht dem Pauli-Prinzip, für sie gilt
kelpositionen der Atome, bei Festkörpern die die Bose-Einstein-Statistik. Da Photonen Bosonen
402
Erde, Wasser, Luft und Feuer
sind, gilt sie auch für das Strahlungsfeld eines einer Ablaufrichtung (Irreversibilität, Unum-
sogenannten schwarzen Körpers. Das Plancksche kehrbarkeit) vieler physikalischer Prozesse be-
Strahlungsgesetz, das wesentlich zur Entstehung stimmt auch unser Zeitempfinden.
der Quantentheorie beitrug, ist ein Spezialfall Nur: Durch welche „Magie“ entsteht aus
dieser Statistik (ÅStrahlungsgesetze von Stefan deterministischen Bewegungsgesetzen eine zeit-
bis Planck, Seite 96). Beide Statistiken gehen liche Vorzugsrichtung? Die Bewegungsgesetze
bei hohen Energien in die Boltzmann-Statistik implizieren ja, dass ein System exakt zu einem
über, da mit zunehmender Energie die Zustände ursprünglichen Zustand zurückkehrt, wenn man
so dicht liegen, dass ihre Diskretheit praktisch den Zeitablauf umkehrt, oder – was das Glei-
keine Rolle mehr spielt. che ist – wenn man die Bewegungsrichtungen 9-14
Die Ablaufgeschwindigkeit vieler chemischer aller Teilchen umkehrt (man denke an einen Statistiken. Die mittlere
Besetzungszahl von Zu-
Reaktionen ist temperaturabhängig. Chemische rückwärtslaufenden Film). Dieser sogenannte ständen eines Systems
Reaktionen erfordern oft eine Mindestenergie, Umkehreinwand gegen BOLTZ L MANNs Theorie ist hängt davon ab, ob es
die sogenannte Aktivierungsenergie. Hätten alle tatsächlich berechtigt. Man kann durch Com- sich um Fermionen, Bo-
sonen oder klassische
Teilchen eines Systems die gleiche Energie, könnte putersimulationen zeigen, dass in diesem Fall Teilchen handelt. Bei
ein solcher Prozess erst anlaufen, wenn die Akti- die Entropie sinkt, solange das System absolut Fermionen kann maximal
vierungsenergie bei allen Teilchen überschritten ungestört bleibt. BOLTZ
L MANNs Argumentation ist ein Teilchen einen Zustand
besetzen, weshalb die
wird. Gemäß der Boltzmann-Statistik existieren dennoch korrekt, da in einem maximal chaoti- Fermi-Dirac-Statistik bei
aber bei eigentlich zu niedrigen Temperaturen schen System, wie es ein Gas darstellt, winzigste niedrigen Energien (bzw.
stets auch Teilchen mit Energien oberhalb der Störungen die Bewegung eines Teilchens so be- Temperaturen) gegen 1
konvergiert. Für große
Aktivierungsenergie. Der Prozess läuft dann be- einflussen, dass dessen Ort und Geschwindig-
Energien gehen Fermi-
reits an, wenngleich mit geringer Geschwindig- keit nach kürzester Zeit nicht mehr mit seiner Dirac- und Bose-Einstein-
keit, da die Zahl solcher Teilchen klein ist. Je Vorgeschichte korreliert sind. Eine Umkehrung Statistik in die klassische
höher die Temperatur steigt, desto mehr Teilchen kann nur dann tatsächlich zum Ausgangszustand Boltzmann-Statistik über.
Die Energie ist bezogen
überschreiten die notwendige Energie und die zurückführen, wenn man auch alle seither auf- auf das chemische Poten-
Reaktion wird heftiger. getretenen Störungen umkehrt und verhindert, tial μ, bei Fermionen ist
dass im Zuge der Rückwärtsbewegung neue Stö- dies gleich der Fermiener-
gie EF. Bei E = EF (hier der
Reversibel oder irreversibel? rungen auftreten, ausgelöst zum Beispiel durch Nullpunkt) ist die Hälfte
den spontanen radioaktiven Zerfall eines Atoms aller Zustände besetzt,
Natürlich konnte auch BOLTZ L MANN nicht die in der Nähe oder winzigste seismische Zitter- d.h. n = ½.
Bewegungen von Teilchen und die Folgen bewegungen des Gasbehälters, wodurch an der
ihrer Zusammenstöße direkt ausrechnen. Er Gefäßwand reflektierte Teilchen andere Impulse
betrachtete vielmehr ein kleines Gebiet im erhalten als zuvor. Die beobachtete Irreversibi-
sogenannten Phasenraum (ÅKasten Phasenraum, lität natürlicher Prozesse ist also eine Folge der
Seite 404) eines Vielteilchensystems und be- Komplexität natürlicher Systeme.
rechnete auf Basis plausibler Annahmen, wie Der geniale Mathematiker HENRI POINCARÉ
viele Teilchen im Mittel pro Zeiteinheit dieses (1854 – 1912) bewies 1890, dass ein System
Gebiet durch Zusammenstöße verlassen oder in von Teilchen jedem vormals eingenommenen
es eintreten. Ohne äußere Störungen sollte im Zustand nach endlicher Zeit wieder beliebig
Gleichgewichtszustand die Zahl der eintretenden nahe kommen sollte. Das Gas müsste sich dem-
und austretenden Teilchen im Mittel gleich groß nach irgendwann wieder in das ursprüngliche
sein. BOLTZ
L MANN zeigte, dass diese Annahme Teilvolumen zurückziehen, eine offensichtlich
impliziert, dass jede Verteilung von Impulsen unglaubwürdige Vorstellung. Es zeigte sich aber,
und Orten der Boltzmann-Statistik zustrebt, dass dieser sogenannte Wiederkehreinwand kein
unabhängig von ihrer ursprünglichen Form. grundsätzliches Problem darstellt. Nach den
Ist also ein Gas anfangs in einem Teilvolumen Gesetzen der statistischen Mechanik ist es zwar
eines Behälters konzentriert, so wird es sich tatsächlich nicht ausgeschlossen, dass das Gas
mit der Zeit gleichmäßig im Volumen verteilen, seine ursprüngliche Form wieder annimmt, je-
unabhängig davon, wie groß das Teilvolumen doch ist die mittlere Zeitspanne, bis so etwas
war oder welche Form es hatte. Umgekehrt wird passiert, extrem lang: sie übersteigt das Alter des
sich das Gas nicht wieder im ursprünglichen Universums (ca. 13 Milliarden Jahre) um viele
Bereich konzentrieren. Diese Bevorzugung Größenordnungen.
403
KAPITEL 9 Form und Materie
Phasenraum
Der sogenannte Phasenraum ist ein wichtiges Darstellungs- jedes Teilchen des Systems periodisch die gleichen Impuls- und
mittel der Physik. Im Phasenraum wird das zeitliche Verhalten Ortskoordinaten, so spricht man von einem periodischen
eines Vielteilchensystems als Bewegung eines Punktes in einem Orbit. Orbits, in die Systeme nach einer Störung wieder zu-
hochdimensionalen Raum dargestellt. Der Punkt repräsentiert rückkehren, nennt man Attraktoren. Nichtlineare Systeme
den aktuellen Zustand des Systems in Form der jeweils drei sind oft dadurch gekennzeichnet, dass ihre Bewegungen im
Impuls- und drei Ortskoordinaten aller Teilchen. Die Zahl eingeschwungenen Zustand zwar nicht völlig willkürlich
der Raumdimensionen entspricht den Freiheitsgraden des Sys- erscheinen, aber auch nicht periodisch. Sie bewegen sich auf
tems. Die Bewegung eines freien Teilchens wird also in einem Bahnen im Phasenraum, die sehr dicht beieinander liegen,
sechsdimensionalen Raum dargestellt, die Bewegungen von aber nicht ineinander übergehen (sonst wären sie periodisch).
N freien Teilchen in einem 6N-dimensionalen Raum. Die Be- Die Figur dieser Bahnen im Phasenraum bildet ein fraktales
wegung des Systems in diesem Raum entspricht der zeitlichen Muster, man nennt sie daher einen seltsamen Attraktor. Sys-
Veränderung aller Impulse und Orte, und die zurückgelegte teme, die mit der Zeit zur Ruhe kommen, haben als Attraktor
Bahn nennt man Trajektorie (Å Abbildung 9-15). Durchläuft einen Fixpunkt im Phasenraum.
404
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Teilchen. Konzentrationsgefälle werden dadurch Wassergefäß verbunden, die zwar Wasser-, aber
ausgeglichen, dass in einen Bereich geringer keine Zuckermoleküle durchlässt, so strömen
Stoffkonzentration mehr dieser Teilchen hinein- so lange Wassermoleküle in das Rohr, bis die
wandern als heraus. Dies geschieht so lange, bis Diffusionsraten in beiden Richtungen gleich sind.
der Konzentrationsunterschied ausgeglichen ist. Unterschiedlich sind sie anfangs deshalb, weil
Man kann das Diffusionsgesetz auch mithilfe die Beweglichkeit der Wassermoleküle im Rohr
des Konzentrationsgefälles ausdrücken, im so- durch Zusammenstöße mit den großen Zucker-
genannten Ersten Fickschen Gesetz, das die Teil- molekülen eingeschränkt ist, so dass weniger
chenstromdichte als Funktion der Konzentration vom Rohr ins Gefäß diffundieren als umgekehrt.
9-17
an einem Ort ausdrückt. Dadurch sinkt aber die Konzentration an Zucker- r Osmotischer Druck.
Die Irrfahrten der Moleküle in einer Flüs- molekülen im Rohr, und die Diffusionsraten der Durch eine Membran,
sigkeit sind auch für die sogenannte Brown- Wassermoleküle gleichen sich an. Das Einströ- die nur Wasser-, aber
keine Zuckermoleküle
sche Molekularbewegung verantwortlich. 1827 men von Wasser führt zum Anstieg des Drucks im durchlässt, werden durch
beobachtete der schottische Botaniker ROBERT Rohr, man spricht vom osmotischen Druck. Dieser Diffusion anfangs mehr
BROWN (ÅZitternde Pollen, Seite 98), dass Druck dient bei Pflanzen zur Stabilisierung ihrer Wassermoleküle in die
Zuckerlösung strömen als
schwimmende Pollen unter dem Mikroskop Stängel, weshalb sie bei Wassermangel schlaff anders herum. Der Druck
Zitterbewegungen vollführten. EINSTEIN und werden. Das Konzentrationsgefälle an gelösten im Rohr steigt so lange
PERRIN konnten nachweisen, dass die zufälligen Stoffen zwischen dem Saft in den Pflanzenwur- an, bis die Diffusionsge-
schwindigkeiten ausgegli-
Zusammenstöße der Flüssigkeitsmoleküle mit zeln und dem Wasser im Boden erhöht den Druck
chen sind. Der osmotische
solchen Partikeln für deren Zitterbewegungen im Inneren der Wurzeln, was den Saft gegen die Druck hält dem Gewicht
verantwortlich sind. Schwerkraft nach oben steigen lässt. Der Druck der Flüssigkeitssäule im
Rohr gerade die Waage.
reicht aus, um auch die Wipfel von hundert Me-
Diffusion als Strukturbildner ter hohen Bäumen mit Pflanzensaft zu versorgen.
Im Zuge der Evolution entstanden in den Zell-
Da unsere Welt sich nicht im Gleichgewicht be- wänden komplizierte Membransysteme, die über
findet, sondern von Konzentrationsgefällen wim- hochselektive Kanäle Stoffe ein- bzw. ausströmen
405
KAPITEL 9 Form und Materie
Einheit der Entropie Während uns der Energiebegriff inzwischen sehr chen gleichen den Irrfahrten, die wir bei der
J / K (Joule/Kelvin) geläufig ist, ist die Entropie wenig anschaulich. Erklärung der Diffusion herangezogen haben.
Der zweite Hauptsatz drückt mit ihrer Hilfe den Die ständigen Verwirbelungen führen am Ende
Sachverhalt aus, dass es nicht möglich ist, Wärme dazu, dass der Staub gleichmäßig verteilt ist.
vollständig in andere Energieformen umzuwan- Eine gleichmäßige Staubverteilung ist schlicht
deln. Zudem laufen alle Prozesse, die zu einem viel wahrscheinlicher als die Bildung eines ein-
Anstieg der Entropie führen, spontan ab und sind zelnen Häufchens, womöglich noch direkt ne-
irreversibel. Die Irreversibilität spontan ablau- ben dem Mülleimer. Das Verhalten von Staub
fender Prozesse macht den Zusammenhang des erinnert an Entropie: Diese strebt immer ei-
zweiten Hauptsatzes mit dem Ablauf der Zeit nem Maximalwert zu, so wie Staub sich immer
deutlich. Gälte er nicht, würde z. B. eine Tasse gleichmäßig verteilt, unabhängig vom jeweiligen
Kaffee statt abzukühlen einfach heiß bleiben. Auf Ausgangszustand. BOLTZ L MANN formulierte den
einer Filmaufnahme der Tasse mit darin befind- Zusammenhang zwischen Entropie und Sys-
lichem Thermometer könnten wir nicht entschei- temzustand so: Die Entropie S eines Systems ist
den, ob der Film vorwärts oder rückwärts läuft. proportional zum Logarithmus der Zahl W der
Beide Hauptsätze gelten streng genommen nur für Zustände, in denen es sich befinden kann:
das Universum als ganzes, denn zwischen dessen
S = k · ln W
Teilen findet normalerweise ein reger Energie-
und Stoffaustausch statt. Um ihre Gültigkeit im Die Zustände eines Systems sind alle denkbaren
Kleinen nachzuweisen, muss dieser Austausch im Kombinationen von Zuständen seiner Teilchen,
Experiment minimiert werden, so dass er über die mit den herrschenden Randbedingungen ver-
den Messzeitraum hinweg keine Rolle spielt. Man einbar sind. Die Zustände von Staubkörnern
sagt, das betroffene System muss abgeschlossen wären dann ihre Positionen im Zimmer. Eine
sein. Bringt man zwei vormals abgeschlossene Randbedingung wäre, dass der Staub das Zim-
9-19
Entropiebilanz der Erde.
Systeme zusammen, die beide bereits ihren Ma- mer nicht verlassen kann. Zustände von Gasmo-
Der zweite Hauptsatz wird ximalwert an Entropie „enthalten“, so setzt ein lekülen sind deren Positionen und Geschwindig-
oft als Argument gegen spontaner Prozess ein, der erst endet, wenn der keiten. Die Randbedingungen wären, dass die
die spontane Bildung von
maximale Entropiewert des Gesamtsystems er- r Teilchen den Behälter nicht verlassen können
Leben angeführt. Die
Entropie der Biosphäre reicht ist. Und dieser ist mindestens gleich, meist und die Gesamtenergie des Gases konstant ist.
ist aber deshalb relativ größer, aber niemals kleiner als die Summe der Die Entropie entpuppt sich als universelles
gering, weil Lebewesen
beiden Einzelwerte. Konzept. Schließlich kann der Begriff „System-
überschüssige Entropie in
Form von Wärme „expor- zustand“ sehr allgemein gefasst werden. Er
tieren“, zum Beispiel, in Entropie und Unordnung trifft auf Staub ebenso zu wie auf Luftmoleküle
dem sie Wasser verduns- oder Elementarteilchen. Er ist nicht vom ma-
ten lassen. Dies trifft auch
für die Erde insgesamt Die Entropie versteht man leichter, wenn man teriellen Substrat abhängig, sondern von der
zu. Sie empfängt von der den heißen Kaffee beiseite lässt und eine an- Zahl der Freiheitsgrade des Systems (Å Kasten
Sonne Photonen, deren dere Frage stellt: Warum verteilt sich Staub Freiheitsgrade, Seite 402). Der Zustand eines
Energie der Oberflächen-
temperatur der Sonne immer gleichmäßig auf allen Möbeln, anstatt Gases in einem Gefäß ist charakterisiert durch
(5700 K) entspricht, und sich hübsch als Häufchen in einer Ecke anzu- die Menge der Orte und Geschwindigkeiten al-
gibt niederenergetische ordnen? Im Gegensatz zu den Möbeln selbst, ler Gasmoleküle. Und die Anzahl der Möglich-
Photonen entsprechend
ihrer Oberflächentempera- die ja dort stehen bleiben, wo wir sie hingestellt keiten, sie gleichmäßig im Gefäß zu verteilen,
tur (ca. 300 K) ab. Da die haben, wird Staub durch den geringsten Luftzug ist um ein Vielfaches größer als die Anzahl der
Energiebilanz ausgeglichen aufgewirbelt. Die Bewegungen der Staubteil- Möglichkeiten, sie in einem kleineren Teilgebiet
sein muss und ein irdisches
Photon 19-mal weniger
zu konzentrieren (Å Kasten Die Anzahl von
Energie transportiert als Zuständen). Obwohl sich also Positionen und
ein Sonnenphoton, wer- Geschwindigkeiten der Gasmoleküle laufend
den entsprechend mehr
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
406
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Ein einfaches Modell für die möglichen Zustände eines Felder verteilt werden. Am meisten Möglichkeiten liefert
Gases ist ein Schachbrett (als Gasbehälter) mit vier Fel- die gleichförmige Verteilung (4,4,4,4). Denkt man sich die
dern, auf die sechzehn Kugeln (als Gasmoleküle) verteilt Kugeln wie Gasmoleküle in ständiger Bewegung, so ist
werden können. Es gibt also vier mögliche Positionen offensichtlich, dass man viel häufiger eine Gleichverteilung
für jede Kugel. Den Zustand, bei dem alle Kugeln sich der Kugeln vorfindet als eine Verteilung, in der alle Kugeln
im rechten unteren Feld befinden, bezeichnen wir mit in einem Feld konzentriert sind. Der Unterschied zwischen
(0,0,0,16). Es gibt trivialerweise nur eine Möglichkeit, gleich- und ungleich verteilten Konfigurationen wird umso
alle Kugeln in dieses Feld zu legen. Anders sieht es bei der größer, je mehr Positionen und Kugeln vorhanden sind. Da
Verteilung (2,3,3,8) aus: Man kann entweder die ersten wenige Liter eines Gases etwa 1023 Moleküle enthalten,
beiden Kugeln in Feld eins legen oder Nummer drei und ist eine Ungleichverteilung praktisch auszuschließen, und
vier und so weiter. Insgesamt gibt es über sieben Millionen jede anfängliche Ungleichverteilung verschwindet schnell.
Möglichkeiten, die sechzehn Kugeln auf diese Weise zu ver- Da die Entropie mit der Anzahl der Zustände wächst, wird
teilen. Wie das Diagramm unten zeigt, gibt es umso mehr sie ebenfalls schnell bis zu einem Maximalwert steigen, der
Verteilungsoptionen, je gleichmäßiger die Kugeln auf die demjeningen der Gleichverteilung entspricht.
9-20
Anzahl von Anordnungen und Entropie. Die Anzahl der möglichen Anordnungen von 16 Kugeln in vier Feldern wächst mit der Gleichförmigkeit
der Verteilung und ist maximal bei der Gleichverteilung (4,4,4,4). Die Entropie ist proportional zu ln W, dem natürlichen Logarithmus der Anzahl
möglicher Anordnungen (ganz rechts).
im ganzen Gefäß ausbreiten. Da die Anzahl der Signale am Empfangsort wieder rekonstruiert
Zustände im Teilgebiet kleiner ist als im ganzen werden können und benötigte dazu eine Defini-
Gefäß, ist auch die Entropie des eingesperrten tion der Informationsmenge, die in einem Signal
Gases geringer. Durch Entfernung der Sperre ist steckt. Er definierte den Informationsgehalt I
der verfügbare Raum größer und damit auch eines Signals als Funktion der Auftrittswahr-
die Anzahl der zugänglichen Zustände. Das scheinlichkeiten pi aller m möglichen Inhalte
Gas wird sich durch Diffusion so lange aus- des Signals:
m
dehnen, bis es den Raum gleichmäßig ausfüllt I = −∑ pi log2 pi
und den maximalen Entropiewert erreicht hat. i =1
Damit haben wir auch die Verbindung zwischen Da es um digitale Signale ging, die nur die Zu-
Diffusionsprozessen und Entropie gefunden: stände 0 („aus“) oder 1 („an“) annehmen konn-
Diffusionsprozesse erhöhen die Entropie eines ten, lag es nahe, den Logarithmus zur Basis 2 zu
Systems, sie laufen daher spontan ab. verwenden (ÅKasten Logarithmus, Seite 408).
Der Informationsgehalt einer Signallampe, die
Entropie und Information mit gleicher Wahrscheinlichkeit an oder aus sein
kann ist dann:
D e r a m e rik a ni sc h e M at h e m at ik e r C L A U DE
SHANNON (1916 – 2001) verband die beiden Be- 2 1 1
I Lampe = −∑ log2 = log2 2 = 1
griffe Entropie und Information miteinander. Er i =1 2 2
untersuchte, wie bei einer Übertragung gestörte
407
KAPITEL 9 Form und Materie
Das ist die kleinste mögliche Informationsein- sich am Ereignishorizont bemerkbar machen,
Logarithmus heit, und sie entspricht der Antwort auf eine sind äußeren Beobachtern zugänglich. JACOB
einzige Ja/Nein-Frage: „Ist die Lampe an?“. D. BEKENSTEIN (*1947) und STEPHEN HAWKING
Der Logarithmus ist die Um- SHANNON bezeichnete diese Informationseinheit (*1942) gelang es dennoch aus sehr allgemei-
kehrung der Exponential- als 1 Bit. Hat man zwei Lampen, gibt es bereits nen Überlegungen heraus, eine Beziehung für
funktion y=ax. Er liefert den 22 = 4 Zustände, und der Informationsgehalt be- die Entropie eines schwarzen Lochs abzuleiten.
Wert von x, wenn y bekannt trägt 2 Bit, denn es sind zwei Ja/Nein-Fragen nö- Demnach ist sie direkt proportional zur Fläche
ist: x = loga(y). Der Logarith- tig, um den Zustand zu bestimmen: „Ist Lampe des Ereignishorizonts und sonst nur noch von
mus hängt von der "Basis" 1 an?“ und „Ist Lampe 2 an?“. Generell ist der Naturkonstanten abhängig. Da jedes umschlos-
a der Exponentialfunktion Informationsgehalt eines binären Signals der sene Volumen nicht mehr „Zustände“ enthalten
ab. Meist wird die Zahl e als Länge n gleich n Bit. kann als ein schwarzes Loch mit gleich großem
Basis verwendet, und man Mit Hilfe des Shannonschen Informations- Ereignishorizont, bedeutet dies, dass es eine
schreibt dann ln anstelle maßes lässt sich der Informationsgehalt unter- universelle Obergrenze für die Entropie eines
von loge. Die Umrechnung schiedlicher „Codes“ bestimmen, unter ande- beliebigen Raumbereichs gibt, die nicht von
zwischen Basen ist einfach: rem auch der des Genoms. Die Verbindung zur dessen Volumen, sondern nur von der Größe
loga(y) = logb(y) · loga(b). Die Entropie liegt auf der Hand. Wenn insgesamt seiner Oberfläche abhängt. Im Widerspruch
Logarithmen unterschied- W gleich wahrscheinliche Realisierungsmöglich- dazu folgt aber aufgrund des beschriebenen
licher Basen unterscheiden keiten eines Systemzustands existieren, beträgt Zusammenhangs zwischen Zustandsanzahl und
sich nur durch einen kons- sein Informationsgehalt: Entropie, dass bei dreidimensionalen Objekten
tanten Faktor. Wichtige Re- die Entropie proportional zum Volumen ist
chenregeln sind: W 1 1 (Å Abbildung 9-21). Sollte die „Raumhaftig-
I = −∑ log 2 = log 2 W
log(mn) = n ⋅ log(m) i =1 W W keit“ der Welt etwa eine Illusion sein? Wenn
log(m · n) = log(m) + log(n) alle Informationen eines Raumbereichs bereits
log(m / n) = log(m) – log(n) Durch Vergleich mit S = k ·lnW
W folgt: S =k·ln 2·I. in dessen Oberfläche steckt, entspräche diese
log(1) = 0. Hohe Entropiewerte entsprechen also einem einem Hologramm, das ja alle räumlichen
hohen Informationsgehalt. Anschaulich drückt Informationen des aufgenommenen Gegen -
dies die Tatsache aus, dass bei W zugänglichen stands enthält. Diese „holografisches Prinzip“
Bytes Zuständen eines Systems log2W Ja/Nein-Fragen genannte Vorstellung bedeutet nicht nur, dass
Bei Computern sind Sig- nötig sind, um den Zustand zu ermitteln. die Information einer Oberfläche äquivalent zu
nale der Länge 8 häufig
der des umschlossenen Volumens ist, sondern
anzutreffen, weshalb man
hierfür den Begriff Byte Schwarze Löcher und holografisches es sollten auch alle physikalischen Gesetze, die
prägte: 8 bit = 1 Byte.
Prinzip für das Volumen gelten, ein exaktes Gegen-
stück für die Oberfläche besitzen. So könnte ein
Schwarze Löcher sind Objekte im Universum fünfdimensionales schwarzes Loch in unserer
mit praktisch unendlich hoher Dichte und so vierdimensionalen Raumzeit als gewöhnliche
starkem Gravitationsfeld, dass selbst Licht Wärmestrahlung erscheinen. Da uns anderer-
nicht mehr in der Lage ist, aus ihnen zu ent- seits Information aus einem Raumbereich nur
weichen. Aufgrund ihrer besonderen mathe- über dessen Oberfläche zugänglich ist – sie ist
matischen Eigenschaften in der Relativitäts - gewissermaßen der einzige Informationskanal
theorie bezeichnet man sie als Singularitäten – könnte das holografische Prinzip aber auch
(ÅSchwarze Löcher, Seite 481). Bewegt man nur Ausdruck dieses simplen Sachverhalts sein.
sich auf sie zu, kommt man irgendwann zu Das würde bedeuten, dass wir die physikali-
einen „Punkt ohne Wiederkehr“. Überschreitet sche Realität weniger als Geschehen in Raum
man diesen, ist keine Rückkehr mehr mög- und Zeit ansehen müssen, sondern als einen
lich. Auch etwaige Funkbotschaften gelangen ständigen Prozess des Informationsaustauschs,
nicht mehr nach außen. Die Fläche um eine wobei auch Raum und Zeit nichts anderes
Singularität, auf der diese Punkte liegen, be- wären als eine kausale Kette von Ereignissen.
zeichnet man als ihren Ereignishorizont. Da Gedanken dieser Art sind Bestandteil der ak-
nichts mehr nach außen dringen kann, ist es tuellen Vorschläge zur Vereinheitlichung von
auch nicht möglich, irgendetwas über das In- Relativitäts- und Quantentheorie, die wir noch
nenleben eines schwarzen Lochs in Erfahrung in Kapitel 10 kennen lernen werden (Å Jenseits
zu bringen. Lediglich die Eigenschaften, die des Standardmodells, Seite 437).
408
Erde, Wasser, Luft und Feuer
409
KAPITEL 9 Form und Materie
ergon genannt. Nimmt G bei einer Reaktion zu, bald sich große Moleküle nah genug kommen,
so muss Energie zugeführt werden, die Reaktion ziehen sie sich daher an. Diese Kraft spielt bei
ist endergon. Es ist klar, dass die Umkehrung der Reaktionsdynamik von Makromolekülen
einer exergonen Reaktion endergon ist. Für die in Zellen eine große Rolle. So funktioniert das
Zerlegung von Wasser muss Energie zugeführt DNA-Replikationssystem des Bakteriums Esche-
werden. Führt eine Reaktion tatsächlich zu einer richia coli außerhalb der Zelle nur, wenn man
Energieabgabe an die Umgebung und nicht nur der Lösung kleinere Moleküle zusetzt, die die
zu einer Erhöhung der Entropie des Systems, so Zusammenballung der Makromoleküle fördern.
wird sie exotherm genannt. Auch die Kernfusion Die mangelnde Löslichkeit unpolarer Mo-
ist eine exotherme Reaktion, allerdings ist auf- leküle wie Öl in Wasser ist ebenfalls Folge ei-
grund der starken Abstoßungskräfte zwischen ner entropischen Kraft. Wassermoleküle bilden
den Kernen eine extrem hohe Aktivierungsener- aufgrund ihrer starken Polarität energetisch
gie notwendig. optimale Netzstrukturen. Würden sich unpo-
lare Moleküle in Wasser vollständig verteilen,
Entropische Kräfte würden sie diese Strukturen stören und dadurch
nicht nur die innere Energie des Wassers erhö-
9-22
Entropiebilanz der Was- Wir haben beim osmotischen Druck gesehen, hen, sondern auch die Bewegungsmöglichkeiten
serstoffverbrennung. Bei dass bei Prozessen, bei denen die Entropie steigt, der Wassermoleküle einschränken. Insgesamt
der Bildung von Wasser auch Kräfte wirken können, der Sog der En- würde daher die Entropie des Wassers verringert.
aus Wasserstoff und Sau-
erstoff nach der Reakti- tropie ist dann sozusagen fühlbar. Ein Lehr- Diese Erniedrigung überstiege die Entropieer-
onsgleichung 2 H2 + O2 → buchbeispiel hierfür ist die Spannkraft eines höhung, die durch eine möglichst vollständige
2 H2O ist die Entropie Gummis. Gummi ist ein Polymer, es besteht aus Lösung der unpolaren Moleküle entstünde. Die
des Systems „Wasser-
stoff + Sauerstoff“ zwar langen Ketten sich wiederholender Atomgrup- nichtpolaren Moleküle bleiben daher ungelöst
höher als die von Wasser, pen (Å Vom Kautschuk zum Gummi, Seite 302), und lagern sich bevorzugt aneinander an, um
dafür nimmt aber auf- die beweglich sind wie die Glieder eine Eisen- ihre Gesamtoberfläche zu reduzieren. Je kleiner
grund der Wärmeentwick-
lung (Reaktionsenthalpie)
kette. Durch die thermischen Bewegungen der die Oberfläche, desto geringer die Beeinflus-
die Entropie der Umge- Atome sind die Ketten nicht gestreckt, sondern sung der Wassermoleküle, d. h. desto geringer
bung zu, so dass die En- vielfach geknickt. Streckt man sie, in dem man der negative Entropieeffekt. Dies ist der Grund
tropiebilanz insgesamt po-
sitiv ist. Daher läuft diese
das Gummi dehnt, so kehren sie nach dem Los- für die spontane Entmischung eines Öl-Wasser-
Reaktion nach einer „In- lassen schnell wieder in den geknickten Zustand Gemischs. Gibt man sogenannte Emulgatoren
itialzündung“ von selbst zurück. Dieser besitzt eine wesentlich höhere hinzu, deren Moleküle auf der einen Seite polar
ab. Die Entropiewerte
Entropie, da es sehr viel mehr Möglichkeiten und auf der anderen unpolar sind, so bilden sie
der Reaktionspartner sind
die sogenannten molaren gibt, eine Kette zu knicken als sie zu richten. aufgrund der entropischen Effekte kugelförmige
Standardentropien, die auf Um die Ketten zu strecken, müssen Kräfte auf- Membranen, die kleine Öltröpfchen umschlie-
1 bar Druck und 298 K be-
gewendet werden, die jedem Knick den „Kick“ ßen und damit vor dem Zusammenballen und
zogenen absoluten Werte
der Entropie. Für Wasser in die richtige Richtung geben, mithin also den Entmischen bewahren.
beträgt die Standardreak- thermischen Stoßkräften entgegenwirken. Die
tionsentropie 70 J/(K · mol) Summe dieser gerichteten Kräfte ist die benötigte Komplexe Strukturen
Kraft, um das Gummiband zu dehnen.
In wässrigen Lösungen weniger großer und Welt aus dem Gleichgewicht
vieler kleinerer Moleküle – typisch für das Zel-
leninnere – beobachtet man eine weitere entropi- Ein System, das mit seiner Umgebung Energie
sche Kraft, die große Moleküle sich zusammen- und Materie austauscht, strebt nicht zwangs-
ballen lässt. Sie wirkt, sobald deren Abstände läufig zum Zustand maximaler Entropie. Ein
kleiner werden als der Durchmesser der klei- Zustrom von Energie oder Materie kann viel-
neren Moleküle. In diesem Moment reduziert mehr die interne Entropieproduktion des Sys-
sich das für die Bewegung der kleinen Moleküle tems ausgleichen, solange so viel Entropie aus
verfügbare Volumen, ihre Entropie sinkt. Durch dem System „strömt“, dass die Gesamtentropie
weitere Annäherung der großen Moleküle wird „System plus Umgebung“ steigt. So kann ein
das für die kleineren Teilchen verfügbare Vo- Diffusionsprozess aufrechterhalten werden, in-
lumen wieder vergrößert, diesmal außerhalb dem man den Konzentrationsausgleich durch
der Zwischenräume der großen Moleküle. So- Z ufuhr zusätzlichen Materials verhindert.
410
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Dass man das Streben nach „Unordnung“ ver- Von Streifen und Flecken
hindern kann, erklärt allerdings noch nicht,
wie die in der Welt beobachteten geordneten Insbesondere die belebte Welt wimmelt von Mus-
Strukturen entstehen. Die Wirkung entropi- tern: Zebras und Wespen haben Streifen, Katzen
scher Kräfte ist offensichtlich als Erklärung sind oft gefleckt oder gestreift und eine große
dafür nicht ausreichend. Viele Wissenschaftler Zahl von Fischen und Muscheln haben streifen-
haben sich bereits mit der Frage auseinander- oder wellenförmige Muster. Auch in der Welt der
gesetzt, wie komplexe Strukturen „von selbst“ Chemie finden sich diese, zum Beispiel in der
entstehen und sich erhalten könnten. So suchte Belousov-Zhabotinsky-Reaktion (Å Abbildung 9-23
der Begründer der Systemtheorie LUDWIG VON 9-25, Seite 412). All diesen Strukturen liegen Rückkopplung. In rückge-
koppelten Systemen wirkt
BERTALANFFY (1901 – 1972) nach allgemeinen gleiche Mechanismen zugrunde, es handelt sich das Ausgangssignal auf
Organisationsprinzipien von Systemen. Die von um sogenannte Reaktions-Diffusions-Systeme. den Eingang zurück. Wird
WARREN MCCULLOCH (1898 – 1969), NORBERT In Systemen dieser Art wirken lokale chemische das rückgekoppelte Signal
addiert, spricht man von
WIENER (1894 – 1964) und anderen begründete Reaktionen und Diffusionsprozesse zusammen, Mitkopplung (A), andern-
Kybernetik versuchte das Verhalten komplexer Nichtlinearität entsteht durch Rückkopplungen falls von Gegenkopplung
lebender Systeme durch mathematische Modelle innerhalb der Reaktionsketten. Die Produktion (B). Gegenkopplung
erhöht die Stabilität, Mit-
zu verstehen, in denen Rückkopplungen eine eines Bestandteils beeinflusst die Produktion kopplung kann Verluste
große Rolle spielten (ÅAbbildung 9-23). Der der anderen. Häufig sind dabei autokatalytische ausgleichen, aber das Sys-
Chemiker und Nobelpreisträger ILYA L PRIGOGINE Reaktionen beteiligt, bei denen die Konzentra- tem wird schnell instabil.
(1917 – 2003) entwickelte die sogenannte The- tion einer Komponente deren Produktionsrate
orie dissipativer (lat. dissipare, zerstreuen, ver- positiv beeinflusst (Mitkopplung). Je nach Re-
breiten) Strukturen zur Erklärung von Selbst- aktions- und Diffusionsgeschwindigkeiten der Dissipative Prozesse
organisationsprozessen jenseits des thermody- Komponenten und der Geometrie des Reaktions- Prozesse, die die Entropie
eines Systems erhöhen,
namischen Gleichgewichts. Die von HERMAN raums bilden sich stationäre Muster oder sich zum Beispiel Reibungspro-
HAKEN (*1927) maßgeblich entwickelte Syner- wellenförmig ausbreitende Oszillationen. Eine zesse.
getik erklärt, warum die Teilchen eines Systems besondere Form sind Aktivator-Inhibitor-Sys-
spontan „im Gleichklang“ marschieren können. teme als Modelle vieler biologischer Prozesse wie
Dissipative Strukturen
Viele dieser Konzepte sind heute unter dem Embryonalentwicklung, Stoffwechselrhythmen Stabile Strukturen, die in
Oberbegriff Komplexitätstheorie zusammen- oder Bildung von Fellzeichnungen und Schalen- dissipativen Prozessen bei
gefasst. Sie liefert nicht nur in der materiellen mustern (ÅAbbildung 9-26, Seite 412). laufender Energiezufuhr
entstehen.
Welt Einsichten in Selbstorganisationsprozesse,
sondern auch in den Bereichen Wirtschaft, Psy- Ordnung bei Umwälzung
chologie und Sozialforschung.
Damit ein System spontan Ordnungsstruktu- Beim Erwärmen von Suppe oder beim Kochen
ren bilden kann, müssen zwischen Systemgrößen von Reis steigen deren feste Bestandteile oft
nichtlineare Zusammenhänge bestehen. Nichtli- in relativ geordneten, nebeneinander liegenden
neare Zusammenhänge in Systemen zeigen sich Bereichen auf und wieder ab. Diese Bereiche
oft daran, dass sich beim Ändern einer Größe nennt man Konvektionszellen. Unter optimalen
das Systemverhalten zunächst kaum ändert, Bedingungen bilden sich regelmäßige Strukturen
ab einem bestimmten Punkt aber sprunghaft. aus hexagonalen Zellen (Å Abbildung 10-27,
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
Zustände nichtlinearer Systeme können also Seite 412). Konvektionszellen sind auch die
durchaus sehr stabil gegenüber Störungen sein. Ursache der „körnigen“ Struktur (Granulation)
Das Verhalten nichtlinearer Systeme ist au- der Sonnenoberfläche und von streifenförmigen
ßerordentlich vielfältig, gleichzeitig sind die Wolkenformationen. Auch die Plattentektonik
zugrunde liegenden Gesetze oft verblüffend ein- der Erdkruste ist eine Folge von Konvektions-
fach. Es widerspricht unserer Intuition, dass strömungen im flüssigen Erdmantel. Konvektion
hochkomplexes Verhalten auf einfachen Geset- entsteht, wenn zwischen oberem und unterem 9-24
Flecken und Streifen. Sie
zen beruht. Aber sogar das Embryonalwachstum Bereich einer Flüssigkeit oder eines Gases ein sind eine Folge der Wech-
ist, so unglaublich es klingen mag, zu einem gu- Temperaturunterschied besteht. Durch Erwär- selwirkungen zwischen
ten Teil eine Folge der Wechselwirkung zwischen mung von unten sinkt die Dichte der Substanz, rückgekoppelten chemi-
schen Reaktionen und Dif-
rückgekoppelten chemischen Reaktionen und sie steigt nach oben, kühlt dort ab und sinkt fusionsprozessen während
Diffusionen (Å Abbildung 12-27, Seite 517). nebenan wieder nach unten. Dabei spielen auch des Wachstums.
411
KAPITEL 9 Form und Materie
Diffusion und Viskosität eine wichtige Rolle. nisation war, dass größere Gruppen von Teilchen
Bei zu geringer Temperaturdifferenz verhindert plötzlich in Gleichschritt fallen. So orientieren
die Viskosität eine Konvektionsströmung, und sich magnetische Spins unterhalb der Curie-Tem-
412
Erde, Wasser, Luft und Feuer
ter ist ein Attraktor, der nach Abklingen einer Der Weg zum Chaos verläuft als Funktion von
Störung alle abweichenden Muster wieder „an- Kontrollparametern oft über eine Folge von
413
KAPITEL 9 Form und Materie
9-32
Bifurkationsdiagramm der logistischen Gleichung. Die
logistische Gleichung beschreibt die jährliche Entwicklung
einer Population x in Abhängigkeit von Fruchtbarkeit
und Nahrungsangebot, beide ausgedrückt durch den
Parameter r. x „springt“ in diesem Modell von Jahr zu
Jahr. Diskrete Gleichungen können auch mit nur einem
Ordnungsparameter chaotisches Verhalten aufweisen. Das
Bifurkationsdiagramm zeigt x als Funktion von r. Eine von
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
414
KAPITEL 10
Elementarteilchen
Physik der kleinsten Teilchen
Die Rätsel des Atomkerns
Das Standardmodell
Jenseits des Standardmodells
TE SIEHE BILDN
BILDRECHTE
BILDRECH WEIS S. 529
WEIS,
NACHW
W
Zum zehnten Kapitel
Man beobachtet eine Lampe und weiß, dass darin ein elek-
trischer Strom fließt, denn man hat es in der Schule gelernt.
Was da fließt sind Elektronen, die – wir gingen in Kapitel 4
ausführlich darauf ein – wesentliche Bestandteile von Atomen
sind und insbesondere der „Kleister“, der chemische Bindun-
gen zusammen hält. Wir haben auch schon erfahren, dass
alle Atomkerne aus Protonen und Neutronen bestehen. Dies
war etwa der Wissensstand der frühen 1960er Jahre, und er
genügte durchaus, um sehr viele chemische Gegebenheiten
vom Molekülbau bis hin zu Reaktivitäten auf einem befrie-
digenden Erklärungsniveau zu verstehen. Dieses Verstehen
basierte im Wesentlichen noch auf der immensen Erklärungs-
kraft der aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stam-
menden klassischen Elektrodynamik JAMES CLERK MAXWELLs
(Maxwell-Gleichungen) und der Quantenmechanik. RICHARD
P. FEYNMAN, JULIAN SCHWINGER und SHIN'ICHIRO TOMONAGA
gelang es in den 1940er Jahren, beide zur Quantenelektro-
dynamik (QED) zu kombinieren. Diese Theorie bildet den
krönenden Abschluss des Verständnisses der Interaktion
zwischen Photonen und elektrischen Punktladungen wie
Elektronen. Sie berücksichtigt auch EINSTEINs Spezielle Re-
lativitätstheorie und ist heute ein Grundstein experimentell
geprüften physikalischen Wissens. Diese Theorie ist so genau,
dass sie mit experimentellen Messungen auf unglaubliche elf
Dezimalstellen übereinstimmt. Ihre Urheber wurden im Jahre
1965 mit dem Physiknobelpreis ausgezeichnet.
Aber ist das schon die ganze Geschichte? Sind diese „Ele-
mentarteilchen“ wirklich elementar? Was hindert eigentlich
die positiv geladenen Protonen eines Atomkerns daran, in
alle Windrichtungen davonzuflitzen, wie man es nach den
elektrischen Kräften zwischen ihnen vermuten sollte? Woher
kommt die starke Kernkraft, die offensichtlich stark genug
ist, sie dennoch beieinander zu halten? Ist ihre Ursache in
den Elementarteilchen selbst zu finden? Kann man auch
diese „Elementar“-Teilchen zerbrechen? Wie könnte man so
etwas anstellen?
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Elementarteilchen
Physik der kleinsten Teilchen JEAN FRÉDÉRIC JOLIOT im Jahr 1935 erstmals ein
Radionuklid (ein radioaktives Isotop) künstlich
Was die Welt im Innersten zusammenhält herstellen.
Angeregt durch die Arbeiten dieser Pariser
Wenn ein Steinzeitmensch sehen wollte, was in Gruppe begann ENRICO FERMI (1901 – 1954)
einem harten Gegenstand war, vielleicht einer in Rom, Uran mit Neutronen zu beschießen,
417
KAPITEL 10 Elementarteilchen
die Möglichkeit aufmerksam, dass auf Basis von chen noch andere „ultimative Waffen“ lauern.
Uranspaltung Bomben gebaut werden könnten. Teuer sind vor allem die Geräte, die für die Un-
Teilweise aus Furcht vor einer „Deutschen Atom- tersuchung der allerkleinsten Teilchen benötigt
bombe“ – Deutschland hatte den Verkauf von werden. Doch dazu später.
Uran aus Minen in der besetzten Tschechoslovakei Wir beginnen die Beschreibung der Welt der
gestoppt – wurde in Amerika das „Manhatten- kleinsten Teilchen mit den drei Teilchen, die für
Projekt“ gestartet. Wissenschaftlicher Leiter war die Eigenschaften der Atome primär verantwort-
JULIUS ROBERTR OPPENHEIMER R (1904 – 1967), der lich sind. Diese drei Hauptkomponenten der
später als „Vater der Atombombe“ tituliert wurde. Materie gehören zu den Fermionen (ÅBosonen,
Dabei war er ein unglücklicher Vater. Die erste Fermionen und die Ausgedehntheit der Materie,
Zündung einer Atombombe erlebte OPPENHEIMER
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
418
Erde, Wasser, Luft und Feuer
errechnen. Dieser stimmt sogar recht gut mit Schnell fliegende Protonen findet man auch als Elektron e–
den in einfachen Streuversuchen ermittelten Bestandteile der kosmischen Strahlung (ÅKos- Elektrisch negativ geladenes
Wirkungsquerschnitten überein. Neuere Theorien mische Strahlung, Seite 451). leichtes Elementarteilchen, das
die Atomhülle aufbaut und che-
gehen allerdings davon aus, dass Elektronen in Eine wichtige Rolle spielen Protonen auch mische Bindungen vermittelt.
Wirklichkeit sehr viel kleiner sind. Es ist nicht in der Chemie. Sie sind die für Säuren cha- me = 9,109 38215 · 10–31 kg
einmal völlig auszuschließen, dass es sich um rakteristischen Teilchen (Brönstedtsche Säure- –e = – 1,602 176 487 · 10–19 Cb
μ = – 928,476 377 · 10−26 J / T
punktförmige Teilchen ohne jede Ausdehnung Base-Theorie). In wässrigen Lösungen kommen s = ½ (Spin)
handelt. Dies würde unsere Vorstellungskraft sie allerdings nicht frei vor, sondern sie bilden re = 0
erneut auf die Probe stellen: Wie kann etwas zusammen mit Wassermolekülen H3O+-Ionen
Masse haben, aber überhaupt keine Ausdehnung? (H+ + H2OͲH3O+). Der pH-Wert ist der negative Proton p
Doch wie so häufig im subatomaren Reich der dekadische Logarithmus der in mol / l einzuset- Elektrisch positiv geladenes,
schweres Kernteilchen, dessen An-
Quantenmechanik kümmert sich die Natur nicht zenden Protonenkonzentration in einer Lösung. zahl in einem Atomkern die Ord-
sonderlich darum, ob wir etwas plausibel finden Protonen sind, wie in der Randspalte schon nungszahl des Elements bestimmt.
oder nicht. Inzwischen wurden experimentell angedeutet, eigentlich nicht elementar, sondern Protonen sind nicht elementar,
sondern bauen sich aus zwei
Radien von unter 10–19 m bestätigt. Manche zusammengesetzte Teilchen. Dies erweist sich up-Quarks (u) und einem down-
mo d ernen Theorien weisen d en kleinsten zum Verständnis ihrer physikalischen Wechsel- Quark (d) auf (uud).
Teilchen „Durchmesser“ in der Größenordnung wirkungen als wesentlich. mp = 1,672 621637 · 10–27 kg
e = 1,602 176 487 · 10–19 Cb
der Planck-Länge von 1,6 · 10–35 m zu, also in der μp = 1,410 606 662 · 10−26 J / T
Nähe einer vermuteten Granularität des Raums Das Neutron s = ½ (Spin)
selbst. rp = 0,85 fm; Ƿp = 1,7 fm
Wegen ihrer im Vergleich zu den Kernteilchen Neutronen kommen in allen Atomkernen außer
viel geringeren Masse sind Elektronen wesentlich dem leichtesten, dem gewöhnlichen Wasserstoff- Neutron n
Elektrisch neutrales, schweres
stärker von der Unschärferelation (Å Abbildung isotop Protium (1H) vor. Unterschiedliche Anzah- Kernteilchen, dessen Anzahl in ei-
4-11, Seite 127) betroffen. Versucht man, ein len von Neutronen im Kern sind die Ursache für nem Atomkern das Atomgewicht
Elektron in einem zunehmend kleineren Raumbe- die Existenz mehrerer Isotope einiger Elemente. mitbestimmt und so zur Bildung
unterschiedlich schwerer Isotope
reich einzusperren, so wird es regelrecht „wild“, So gibt es vom Wasserstoff das schwerere Deu- eines Elements führt. Neutronen
d. h. es hat einen immer unschärfer definierten terium (2H) und das überschwere radioaktive sind nicht elementar, sondern
Impuls. Das Elektron unterliegt der elektromag- Tritium (3H). Die Neutronenmasse ist ein klein bauen sich aus einem up-Quark
(u) und zwei down-Quarks (d) auf
netischen Wechselwirkung, der schwachen Wech- wenig höher als die Protonenmasse. Auch Neu- (udd).
selwirkung und der Gravitation, nicht jedoch der tronen sind damit Baryonen. Ihr Spin von ½ mn = 1,674 927211 · 10–27 kg
starken Wechselwirkung. Letztere ist insbeson- ordnet sie wie Elektronen und Protonen den e = 0
μn = − 0,966 236 41 · 10−26 J / T
dere für die Nukleonen des Kerns wesentlich. Fermionen zu. Neutronen haben nach außen
s = ½ (Spin)
hin keine elektrische Ladung. Deshalb erstaunt rp = 0,75 fm ?; Ƿp = 1,5 fm ?
Das Proton es zunächst, dass auch sie ein magnetisches Mo-
ment aufweisen. Dies deutet schon auf eine in-
Protonen sind die in allen normalen Atomkernen nere Struktur mit unsymmetrischer elektrischer
vorkommenden Teilchen, deren Anzahl (Ord- Ladungsverteilung hin. Der Durchmesser eines
nungszahl) bestimmt, um welches chemische freien Neutrons beträgt ca. 1,5 fm.
Element es sich handelt. Protonen haben eine Die mittlere Lebensdauer freier Neutronen
positive elektrische Ladung, deren Betrag ge- beträgt 885,7 ± 0,8 s, also nur ca. 15 Minuten. Volumen eines Nukleons
Nach einfacher Abschät-
nau gleich groß ist wie derjenige der Elektro- Innerhalb von Atomkernen sind sie in der Regel
zung über die Kugelform
nenladung. Die Masse eines Protons ist fast langlebig. Sie können sich aber, da sie der schwa- ergibt sich:
zweitausend-mal größer als die Elektronen- chen Wechselwirkung unterliegen, in bestimmten
masse, weshalb man Protonen zu den Baryonen Kernen auch wie freie Neutronen in ein Proton, VN = 4/3 · ਸ਼· 0,85 fm
= 2,6 fm3
(von griech. barys, schwer) zählt. Als geladenes ein Elektron und ein sogenanntes Antineutrino
Teilchen mit Spin besitzt das Proton ein mag- umwandeln, auf das wir noch zurückkommen In der Literatur finden sich
netisches Moment. Der Durchmesser beträgt werden. Dieser Zerfall wird auch als Betazerfall aber auch viel kleinere
Werte um 0,6 fm3.
ca. 1,7 fm. Protonen scheinen stabile Teilchen bezeichnet, da dabei Elektronenstrahlung ent-
zu sein, zumindest ist ihre Lebensdauer größer steht, die Bezeichnung Betastrahlung hat histo- Es ist auf dieser Betrach-
als 1033 Jahre. rische Gründe. Neutronen sind wie Protonen tungsebene zu bedenken,
dass Nukleonen eben
Positive Ionen des Elements Wasserstoff (H+- zusammengesetzte Teilchen. Auf ihre innere keine einfachen Kugeln
Ionen) stellen nichts anderes als Protonen dar. Struktur werden wir im Folgenden eingehen. darstellen.
419
KAPITEL 10 Elementarteilchen
Nukleonen im Atomkern: Die Rätsel des Atomkerns aus. Es herrscht eine einheitliche Dichte der Kern-
Protonen + Neutronen
materie, aber die Teilchen können sich gegenein-
Von Tröpfchen zu Schalen ander bewegen. An der Oberfläche hingegen wer- r
den Teilchen, die zu entweichen suchen, von der
Spricht man in der Wissenschaft von einem Scha- hier einseitig wirkenden Kraft in die Flüssigkeit
lenmodell, so sind dabei praktisch immer die zurück gezogen (ÅKasten Oberflächenspannung,
10-3 Elektronenschalen der Atomhülle gemeint, die Seite 311).
Schreibweisen für Kerne. noch auf das historische Bohrsche Atommodell H AN S B ETHE (190 6 – 2005) und C A RL
Bestimmte Isotope eines zurückgehen und die heute jeder Schüler einer FRIEDRICH VON WEIZSÄCKER R (1912 – 2007) gestal-
Elements werden durch
eine vor das Elementsym-
weiterführenden Schule im Chemieunterricht teten das Modell mithilfe ihrer Bethe-Weizsäcker-
bol hochgestellte ganz- kennen lernt (ÅSpektren und das Bohr-Sommer- Formel (ÅAbbildungen 10-6 bis 10-8) numerisch
zahlige Massenzahl (blau) feldsche Atommodell, Seite 99). Über den Kern detaillierter aus. Dieses empirische Modell be-
gekennzeichnet. Die
selbst und seine Struktur erfahren Schüler höchs- rücksichtigt zunächst die Anziehung aufgrund
Ordnungszahl (rot) wird
häufig weggelassen, da sie tens etwas in Physik-Leistungskursen. Vielleicht der Kernkraft (Volumenenergie). Sie muss wegen
durch das Elementsymbol liegt der Grund einfach darin, das die Prozesse deren kurzen Reichweite nur für die direkten
festgelegt ist. Eine nicht
in Atomkernen auch heute noch nicht bis ins Nachbarn eines Nukleons berücksichtigt werden.
ganzzahlige Massenzahl
ergibt sich bei natürlichen letzte Detail enträtselt sind. Wie können wir die Für Nukleonen an der Oberfläche verringert sich
Isotopenmischungen. Die Physik der Atomkerne verstehen, die schließlich diese Energie entsprechend (Oberflächenenergie).
Massenzahl A ist stets die mehr als 99,9 Prozent der Masse gewöhnlicher Schon diese beiden Modellannahmen allein be-
Summe aus der Neutro-
nenzahl N und der Ord- Materie ausmachen? schreiben ein flüssigkeitsartiges Verhalten. Die
nungszahl (Protonenzahl) Energie wird weiter reduziert durch die elektro-
Z. Alternativ ist auch die statische Abstoßung der Protonen untereinander
Schreibweise U-235 ge- Tröpfchenmodell
bräuchlich. (Coulomb-Energie). Sie ist wohl viel schwächer,
Ein simples halbklassisches Modell des Atom- aber sie nimmt nicht so stark mit der Entfer-
kerns ist das Tröpfchenmodell. Es basiert auf der nung ab. Ein Proton „sieht“ über diese Wech-
Beobachtung, dass Kernteilchen offenbar durch selwirkung also alle anderen Protonen im Kern.
eine besondere Kraft, die Kernkraft, zusammen- Die Energie wird im Modell weiter angepasst
geklebt sind. Diese muss wesentlich stärker sein durch einen nur quantenmechanisch zu begrün-
als die Coulombsche Abstoßung der elektrisch denden Symmetrieterm, der Abweichungen vom
positiv geladenen Protonen. Heute erinnern die 1:1-Verhältnis zwischen Protonen und Neutro-
Namen „Starke Kraft“ und „Gluon“ (engl. glue, nen energetisch „bestraft“ (Symmetrieenergie).
Klebstoff) für deren Austauschteilchen an diese Der fünfte Term schließlich trägt der Tatsache
10-4 Vorstellung. Wir werden noch sehen, dass die Rechnung, dass gleiche Nukleonen sich etwas
Otto-Hahn-Gedenk- Kernkraft sich tatsächlich als Wirkung der heute stärker anziehen als ungleiche. Wert und Vorzei-
münze. Die darauf ab-
gebildete Kettenreaktion als eine der vier Grundkräfte unseres Universums chen sind davon abhängig, ob die Protonen- bzw.
beruht auf der Freisetzung bekannten Starken Kraft beschreiben lässt. Neutronenanzahlen gerade (g) oder ungerade (u)
von bis zu drei Neutro- Im Tröpfchenmodell werden die Nukleonen sind. Für ug- oder gu-Kerne ist der fünfte Term
nen bei der Spaltung von
U-235. Diese spalten neue
des Kerns ähnlich behandelt wie die Teilchen in stets null. gg-Kerne sind etwas stabiler und haben
Kerne, wenn sie nicht einer normalen Flüssigkeit. Das Modell entstand einen positiven, uu-Kerne entsprechend einen
zuvor aus dem Uran ent- ab dem Jahr 1930 aus Gedanken des russischen negativen Paritätsterm (Paritätsenergie).
weichen. Größe und Kom-
paktheit der vorhandenen
Kernphysikers und Astronomen GEORGE GAMOV Der Atomkern und seine Schwingungszu-
Uranmenge entscheiden (1904 – 1968), der damals bei seinem Lehrer stände werden im Tröpfchenmodell als Ganzes
darüber, ob die kritische NIELS BOHR in Kopenhagen weilte. BOHR ent- betrachtet, während die individuellen Nukle-
Masse für eine Ketten-
wickelte das Modell bis 1939 wesentlich weiter, onen kaum von Bedeutung sind. Der Kernra-
reaktion erreicht wird. In
Atombomben wird dies teilweise benutzte er auch den Begriff „Sandsack-
durch schnelles Zusam- modell“. Die Vorstellung dahinter war, dass ein 10-5
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
menfügen von Teilmassen in den Atomkern eindringendes Geschoss seine Urankern U-235. Eine
mithilfe normalen Spreng- stark vereinfachte Variante
stoffs erreicht. In Kernre- Energie an einzelne Nukleonen abgibt und so des Tröpfchenmodells liegt
aktoren wird der Prozess den Kern in einen angeregten Zustand versetzt. auch dem Visualisierungs-
durch Absorption eines Im Tröpfchenmodell gleichen sich die Kräfte programm der Autoren
Teils der Neutronen ge- zugrunde, das Darstel-
regelt. Die Spaltprodukte auf ein Teilchen im Inneren des ungefähr kugel- lungen von Atomkernen
sind nicht eingezeichnet. förmig gedachten Kerns im statistischen Mittel berechnet.
420
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
10-6 10-7
Bethe-Weizäcker-Formel. Näherungsweise Berechnung der Nukleonen-Bindungsenergie Diagramm der Energiebeiträge bei 13Bor. Die Anteile variie-
über fünf Energiebeiträge mit experimentell ermittelten Parametern (Beispiel 13Bor). ren von Kern zu Kern, abhängig von der Kerngröße.
dius kann aus der Massenzahl A und dem Ra- reagieren unter diesen Extrembedingungen in ei-
dius r0 eines Protons im Wasserstoffkern durch ner Art umgekehrtem Betazerfall zu Neutronen.
r = r0 · A1/3 abgeschätzt werden. Leider ist der Man kann die Kernbindungsenergie noch auf
Neutronenradius nur ungenau bekannt. Es gibt andere Weise ermitteln als über das Tröpfchen-
einige Messungen, die darauf hindeuten, dass er modell, nämlich indem man direkt die Masse
um etwa 0,16 fm größer ist als der Protonenra- einer entsprechenden Anzahl freier Nukleonen
dius. Für diesen findet sich ein Literaturwert von mit der Masse des daraus formal gebildeten
Magaggiisc
sscche
he Zahlen
ca. 0,8768 fm. Allerdings gibt es neuere Messun- Atomkerns vergleicht. Die Masse des Kerns ist 2,, 8,
8, 220,
20 0,
0, 2
288, 50, 82, 126
gen, die hier von einem etwas kleineren Radius stets geringer als die seiner Komponenten. Dieser
ausgehen (0,8418 fm). Allgemein ist natürlich Massendefekt, ausgedrückt in Energieeinheiten Do
Dop
D op
o pp
pel
pee
elltma
tm
tm
ma agi
giische Kerne
z.B. 4He e,, 16
16 O oder 40Ca
das Konzept eines „Radius“ bei kleinen Teilchen (nach E = mcc2) und bezogen auf ein Nukleon,
im Gültigkeitsbereich der Unschärferelation pro- ist die Bindungsenergie. Es erweist sich, dass
deren „Dichte“ in einer gewissen Funktion nach halbempirische Vorgehensweise als unbefriedi-
außen abnimmt. Dies zeigt sich auch in den gend. Zudem konnte das Modell nicht die soge-
Eigenschaften von Neutronensternen (ÅNeutro- nannten „magischen Zahlen“ erklären: Man
nensterne, Seite 480), die sozusagen als riesige hatte beobachtet, dass bestimmte Neutronen-
Atomkerne aufgefasst werden können. Darin oder Protonenzahlen besonders stabile Kerne
drängen sich die Nukleonen aufgrund des ex- ergeben, „magische Kerne“. Noch stabiler sind 10-9
tremen Drucks viel dichter, und jedem Nukleon doppeltmagische Kerne, bei denen Protonen- Urankern
rankern alternativ.
alternativ Nuk-
leonen nehmen keinen klar
stehen nur noch ca. 0,6 fm3 zur Verfügung. Die und Neutronenanzahlen magisch sind.
definierbaren Raum ein.
Dichte ist dort schätzungsweise eine Zehnerpo- Kernmaterie ist deshalb im
tenz höher als in normalen Atomkernen. Wie Yukawa-Potenzial und Mesonen Gegensatz zu gewöhnli-
der Name schon sagt, besteht die Kernmaterie in chen Flüssigkeiten unter
Extrembedingungen wie in
Neutronensternen nur noch aus Neutronen. Die Die experimentell beobachteten flüssigkeitsähn- Neutronensternen durch-
Protonen und Elektronen des ehemaligen Sterns lichen Eigenschaften der Kernmaterie deuten aus kompressibel.
421
KAPITEL 10 Elementarteilchen
Nukleonenradien. Der Japaner HIDEKI YUKAWA mit EUGENE PAUL WIGNER (1902 – 1995), der
(1907 – 1981) veröffentlichte 1935 eine Arbeit, bedeutende Beiträge zur Kernphysik geleistet
in der er zum ersten Mal einen Zusammenhang und bereits zehn Jahre früher Gedanken zu
zwischen der Masse eines Austauschteilchens einem Schalenmodell geäußert hatte, erhielten
und der Reichweite der Kraft herstellte, die das beide 1963 den Nobelpreis für Physik.
10-11 Teilchen vermittelt. Nur durch Austausch von Nukleonen sind ebenso Fermionen wie die
Schalenmodell des Atom- masselosen Teilchen konnten demnach Kräfte Elektronen der Atomhülle. Bei diesen kennen
kerns. Das Modell (hier u nendlicher Reichweite entstehen, wie sie wir das Pauli-Prinzip. Es beschreibt die Tatsache,
des Isotops 18O) erklärt
Eigenschaften von Gam- etwa das elektrostatische Coulomb-Potenzial dass sich Fermionen in mindestens einer Quan-
mastrahlungsspektren beschreibt. Das Yukawa-Potenziall verallgemei- tenzahl unterscheiden müssen, also höchstens
durch verschiedene Ener- nert das Coulomb-Potenzial auf Fälle masse- zwei Elektronen mit unterschiedlichen Spins in
gieniveaus in Atomkernen
und die besonders stabilen behafteter Austauschteilchen und gestattet die einem Orbital untergebracht werden können
„magischen“ und „dop- Beschreibung der entstehenden Kräfte kurzer (ÅPauli-Prinzip, Seite 132). Es ist verantwort-
peltmagischen“ Kerne mit Reichweite. Diese Kraft sollte über Bosonen lich dafür, dass sich überhaupt stabile Atome
gefüllten Schalen.
vermittelt werden, deren Masse zwischen der bilden, und es gilt auch für Kernteilchen. Die
des damals schon bekannten Elektrons und de- Nukleonen bewegen sich im Schalenmodell re-
nen der schweren Kernteilchen liegt. Er nannte lativ unabhängig voneinander auf Bahnen in
die hypothetischen Teilchen Mesonen (griech. einem von ihnen selbst erzeugten Potenzial.
mésos, in der Mitte). Sie sollten in einer Art Für numerische Rechnungen verwendet man
Mesonenwolke ständig zwischen den Nukleo- meist das Woods-Saxon-Potenzial (ÅAbbildung
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
nen ausgetauscht werden und so die Kernkräfte 10-12). Es ergeben sich diskrete Energieniveaus,
vermitteln. YUKAWA erhielt für seine Arbeit im die quantitative Voraussagen erlauben.
Jahre 1949 den Physik-Nobelpreis, nachdem
solche mittelschweren Teilchen (Pionen und
die damals ebenfalls noch zu den Mesonen ge-
rechneten Myonen) im Jahre 1947 tatsächlich
10-12
bei der Untersuchung kosmischer Strahlung
Woods-Saxon-Potenzial.
Als numerische Näherung nachgewiesen worden waren.
für das Kernpotenzial wird Obwohl der von YUKAWA entdeckte Ruhe-
häufig das Woods-Saxon-
masse-Reichweite-Zusammenhang auch in der
Potenzial verwendet, das
vom Kernmittelpunkt aus modernen Quantenchromodynamik noch An-
zunächst kaum ansteigt, wendung findet, werden Kernkräfte heute über
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
aber am Rand des Kerns den Austausch von Gluonen beschrieben. Me-
einen steilen Anstieg zeigt.
Außerhalb erreicht es sonen wurden als Partikel erkannt, die ebenso
schnell einen konstanten wenig elementar sind wie die Nukleonen selbst.
Wert.
10-13
422 Energieniveaus im Kern. Protonen (p) nehmen etwas hö-
here Energieniveaus ein als Neutronen (n).
Teilchendetektive
Angesichts der winzigen Dimensionen subatomarer Partikel ist es Um nicht ausschließlich auf natürliche Geschosse angewie-
ganz erstaunlich, dass es überhaupt möglich ist, einzelne davon sen zu sein wie noch RUTHERFORD und andere, entwickelte
zu detektieren. Die ersten dazu geeigneten Geräte basierten auf ERNEST ORLANDO LAWRENCE (1901–1958) im Jahr 1929 einen
Beobachtungen, die der schottische Physiker CHARLES THOMSON Ringbeschleuniger für Elementarteilchen – das Zyklotron. Er
REES WILSON (1869 – 1959) ab 1894 anlässlich metereologischer erhielt dafür 1939 den Physik-Nobelpreis. Das Element 103,
Experimente zur Tröpfchenbildung durchführte. Er verringerte Lawrencium, ist nach ihm benannt. Atome konnten in der Folge
den Druck in Kammern mit staubfreier, wasserdampfübersättigter gezielt mit immer schnelleren Teilchen genau bekannter Energie
Luft. Als er sie versuchsweise den damals frisch entdeckten Rönt- beschossen und die Reaktionsprodukte untersucht werden.
genstrahlen aussetzte, beobachtete er verstärkte Tröpfchenbildung Noch immer lernen Physiker am meisten über den Bau der
und vermutete korrekt, dass entstehende Ionen als Kondensations- Materie, indem sie immer wieder Teilchen auf andere Teilchen
keime wirken. Um 1911 war es ihm erstmals möglich, die Spuren schießen und beobachten, was dabei heraus kommt. Allerdings
von Alpha- und Betateilchen zu fotografieren, was ihm 1927 inzwischen auf ganz anderem Niveau. Erhöht man nämlich die
den Nobelpreis für Physik einbrachte. Während WILSONs Gerät Energie der Geschosse, so kann man immer feinere Substruktu-
Übersättigung mittels zyklisch wiederholter Druck- und damit ren unterscheiden, ähnlich, wie man mit sichtbarem energierei-
Temperaturänderung erreichte, werden die heutigen Geräte konti- chen Licht feinere Details auflösen kann als mit Radiostrahlung.
nuierlich mit einem Luft-Alkohol-Gemisch betrieben. Zwischen ei- Die Experimente, die Teilchenphysiker mit ihren Elektronen,
ner gekühlten Bodenplatte und einer beheizten oberen Gasschicht Protonen, Neutronen und Atomkernen anstellen, können in
entstehen ein Temperaturgefälle und eine Schicht permanent über- vielerlei Hinsicht spannender als ein Billardspiel sein. Denn
sättigten Dampfes. Hier werden die Bahnen geladener Teilchen als während bei diesem nur Geschwindigkeit und Richtung (Win-
Tröpfchenketten wie Kondensstreifen eines Flugzeugs erkennbar. kel) nach einem Zusammenprall von Interesse sind, kann uns
Verwendet man zudem ein senkrecht dazu gerichtetes homogenes der genaue Verlauf der Teilchenbahnen viel über die winzigen
Magnetfeld, so werden die Spuren der Teilchen durch die Lorentz- Versuchsobjekte erzählen. Analysiert werden dann zum Beispiel
Kraft gekrümmt. Aus Richtung und Ausmaß der Krümmung lässt die Anzahl und Art der Teilchen, die in bestimmte Raumrich-
sich das Verhältnis von Ladung zu Masse der Teilchen bestimmen. tungen gestreut werden, sowie die entstehenden Bruchstücke
Noch heute werden Nebelkammern zu Präsentationszwecken und neu gebildeten Teilchen. Viele der entstehenden Teilchen
eingesetzt, da sie apparativ sehr einfach sind. haben charakteristische Halbwertszeiten, mit denen sie spontan
Ähnlich wie bei der Nebelkammer wird bei der empfindli- in andere Teilchen zerfallen.
cheren Blasenkammer ein metastabiler Phasenzustand genutzt. Das „Billardspiel“ mit den kleinsten Bausteinen unterschei-
Dabei wird z. B. flüssiger Wasserstoff durch schnell abfallenden det sich noch in anderer Hinsicht von seinem sportlichen Vor-
Druck kurzzeitig in einen Zustand gebracht, in dem er eigentlich bild. Was man bei echten Billardkugeln unbedingt vermeiden
bereits sieden müsste (Siedeverzug). Selbst schwach ionisierende sollte: Teilchen können sich beim Zusammenprall unter Um-
Teilchen erzeugen darin gut sichtbare Perlenketten von Bläschen. ständen zerstören, und die Bruchstücke fliegen danach in alle
Kurz danach wird der Druck wieder erhöht, und der Prozess kann möglichen Richtungen davon. Diese Richtungen sind aber nicht
erneut starten. Auch Blasenkammern wurden inzwischen in der ganz zufällig. Sie erlauben vielmehr Rückschlüsse auf den inne-
Forschung durch zahlreiche andere Verfahren ersetzt, etwa durch ren Aufbau der Teilchen. Zusammenstoßende Elementarteilchen
Szintillations- und Halbleiterdetektoren, Drahtkammern oder können auch untereinander reagieren und sich mit bestimmten
Kalorimeter. Moderne Detektoren, wie etwa Atlas oder CMS am Wahrscheinlichkeiten dabei in andere Teilchen umwandeln. Und
Large Hadron Collider (LHC), nutzen parallel mehrere unter- r nicht einmal das ist die ganze Geschichte. Sogar die Bewegungs-
schiedliche Messprinzipien, um Bahnen von bei Kollisionen ent- energie eines Teilchens kann bei einer Interaktion gemäß der
stehenden Teilchen verfolgen zu können. Sie erreichen gigantische Umkehrung der Einsteinschen Gleichung E = mc2 in Masse, also
Ausmaße. So ist Atlas 7000 Tonnen schwer, 45 Meter lang und in neue Teilchen, umgewandelt werden. Sehr schnelle Teilchen
durchmisst 22 Meter. Seine Ergebnisse beschäftigen fast zweitau- der Höhenstrahlung können so unter Umständen Tausende von
send Wissenschaftler. Und man untersucht auch längst nicht mehr Sekundärteilchen erzeugen, einen ganzen Teilchenschauer.
nur natürliche oder von Radionukliden ausgehende Strahlung.
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
Da Protonen und Neutronen unterscheidbare eines solchen „verdünnten“ Kerns ist dann ver-
Teilchen sind, müssen unabhängige Protonen- gleichbar mit denen sehr schwerer Kerne.
und Neutronenniveaus existieren. Und hier fin- Kerne können sich in (nahezu) gleich schwere
den wir die Erklärung für den besonders stabilen Kerne des nächstniedrigen Elements des Peri-
4He-Kern: Zwei Neutronen belegen das unterste odensystems umwandeln, wenn ein Neutron
Neutronenniveau (1s-Niveau) voll, und das tun in ein Proton zerfällt und dabei ein Elektron
auch die zwei Protonen mit dem 1s-Protonen- aussendet. Solche Betazerfälle finden auch tat-
niveau. Die Energieniveaus der Protonen liegen sächlich statt, wenn der entstehende Kern eine
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
wegen der Coulomb-Abstoßung stets etwas hö- niedrigere Energie besitzt als der ursprüngliche.
her als die entsprechenden Niveaus der Neutro- Die Halbwertszeit ist bei höherer Energiediffe-
nen. Dies ist der eigentliche Grund dafür, dass renz tendenziell kürzer.
schwerere Kerne eine Überzahl an Neutronen Deutlich anders liegen die Dinge beim Zer-
aufweisen müssen, um stabil zu sein. Wäre der fall eines Kerns durch Aussendung von Alpha-
„Füllstand“ der Protonen energetisch höher als teilchen oder Kernspaltung. Hier erzeugen die
10-17 der der Neutronen, würden sich einige Protonen Kernkräfte einen Potenzialwall, der den Zerfall
Energieniveaus im Ma- sofort unter Energiegewinn über einen Betazer- „klassisch“ eigentlich verhindern müsste – die
gnetfeld. Um eine Mag-
netnadel gegen das Feld fall in Neutronen verwandeln. (Å Abbildung Kerne wären dauerhaft stabil. Quantenmecha-
zu drehen, benötigt man 10-13, Seite 422). nisch betrachtet, zeigt sich aber, dass selbst hohe
Energie. Potenzialwälle mit einer bestimmten geringen
Instabile und angeregte Kerne Wahrscheinlichkeit durchtunnelt werden können
(ÅVerbotene Wege – Der Tunneleffekt, Seite
Atomkerne können ähnlich wie die Elektronen- 207).
systeme der Atomhülle den Grundzustand oder
angeregte Zustände einnehmen. Unter Bedin-
gungen, wie wir sie bei normaler Materie auf der Kernmagnetismus
Erde finden, liegen sie stets im Grundzustand vor.
Lediglich bei Anregung durch Teilchenbeschuss, Wir haben schon festgestellt, dass Protonen und
durch Absorption von Gammastrahlung oder in- Neutronen wie Elektronen einen Spin (das quan-
folge radioaktiver Zerfälle gehen sie in angeregte tenmechanische Äquivalent zu einem Drehim-
Zustände über. puls) aufweisen. Der Spin eines zusammenge-
Beim Tröpfchenmodell waren wir von einer setzten Atomkerns entspricht der Vektorsumme
Abhängigkeit des Kernradius R von der Nu- der Spins seiner Nukleonen. Da diese paarweise
kleonenzahl ausgegangen, die mit R = r0 · A1/3 einander entgegen gerichtet sind (Pauli-Prinzip),
abgeschätzt werden kann. Dabei steht r0 für den kompensieren sie sich bei gg-Kernen mit gera-
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
Radius, den ein Nukleon im Kern beansprucht. der Protonen- und gerader Neutronenzahl im
Ein experimentell aus Streuexperimenten ermit- Grundzustand zu null. Ungerade Protonen- oder
telter Wert hierfür beträgt 1,3 ± 0,1 fm. Auch Neutronenzahlen im Kern bewirken aber einen
alternative Radiusdefinitionen sind in Gebrauch, resultierenden Kernspin, der im Detail noch von
die nicht alle genau der soeben angegebenen der Anzahl vorhandener Nukleonen und deren
A1/3-Abhängigkeit folgen. Verteilung auf die Energieniveaus abhängt. Die
Di ese e inf ac h e n Ann a hm e n k o n sta n te r meisten magnetischen Kerne treten mit Spin-
10-18
Präzession. Das magne- Dichte der Kernmaterie gelten nur einigerma- quantenzahlen von l = ±½ auf. Solche Kerne ver-
tische Moment μ eines ßen genau für stabile mittelschwere Kerne mit halten sich ähnlich wie winzige Stabmagnete,
Kerns bewirkt einen Dreh-
ausgewogenem Protonen/Neutronen-Verhältnis. deren magnetisches Moment allerdings nur zwei
moment in Richtung eines
externen Magnetfeldes B Liegt ein deutlicher Neutronenüberschuss vor, Werte annehmen kann, die mit +μ und –μ be-
(rote, gestrichelte Linien). so besteht die Tendenz, dass sich die Neutronen zeichnet werden.
Aufgrund des Drehmo- verstärkt am Rand des Kerns aufhalten. In Ex-
menterhaltungssatzes
richtet sich die Drehachse tremfällen wie bei dem sehr instabilen 11Li ist Kernmagnetische Resonanz
des Kerns nicht einfach diese Neutronenanreicherung sogar zu einer Art
parallel zum Feld aus, Neutronenhalo aufgeweitet. Einige Neutronen Die magnetischen Eigenschaften vieler Kerne
sondern präzediert wie ein
unrunder Kreisel um die sind dann nur noch locker gebunden und weit führen uns zur kernmagnetischen Resonanz (Nu-
Richtung des Feldes. weg vom Zentralkern anzutreffen. Der „Radius“ clear Magnetic Resonance, NMR). Diese hat sich
424
Erde, Wasser, Luft und Feuer
10-20
1H-NMR. Kernspins wirken als Sonden zur Analyse der
elektronischen Bindungsverhältnisse. Chemische Verschie-
bung und Spin-Spin-Kopplung machen Wasserstoffkerne
mit verschiedenen Nachbarschaften unterscheidbar. Aus
hochaufgelösten NMR-Spektren kann ein Analytiker die
Struktur eines Moleküls oft direkt ablesen.
KAPITEL 10 Elementarteilchen
aus. Und dies sogar dann, wenn mehrere Bindun- Das Standardmodell
gen dazwischen liegen. Diese können nämlich
wiederum parallel oder antiparallel (entgegen Von den Nukleonen zum Standardmodell
gerichtet) zum Spin des betrachteten Kerns liegen
und das Feld verstärken oder abschwächen. Die Das Bild des Atoms aus Protonen, Neutronen
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
Folge ist eine Aufspaltung der Energieniveaus, und Elektronen, deren Verhalten mit Wellen-
die sich im Spektrum als Mehrfachlinien (Mul- gleichungen beschreibbar ist, genügte zunächst
tipletts) bemerkbar macht (Å Abbildung 10-20, für viele Zwecke. In den 1960er Jahren aber
Seite 425). verdichteten sich Hinweise, dass man noch
Diese Effekte, zusammen mit deutlichen ap- nicht auf dem Grund der Komplexität ange-
parativen Verbesserungen (zum Beispiel durch kommen war. Man entdeckte, dass in Kern-
Einstrahlung vieler Frequenzen und rechnerische teilchen (Nukleonen) drei lokalisierte Bereiche
10-21 Auswertung über eine Spektralzerlegung) bewir- existieren, die zunächst als Partonen, später
Magnetic Resonance
ken, dass sich heute auch komplexe chemische als Quarks bezeichnet wurden. Von diesen
Imaging (MRI). In der
Medizin ergänzt die kern- Strukturen mithilfe der NMR schnell aufklären Quarks wurden im Laufe der nächsten Jahr-
magnetische Resonanz die lassen. zehnte insgesamt sechs Varianten ( Flavours
klassischen Röntgenver- genannt) aufgespürt. Allerdings sind nur zwei,
fahren. Sie hat den Vorteil,
eine Belastung durch Magnetresonanz in der Medizin das up-Quark (u) und das down-Quark (d), in
schädliche Strahlung zu den Neutronen und Protonen normaler Mate-
vermeiden. Verwendet man statt eines im ganzen Volumen rie vertreten. Das Proton hat die Komposition
homogenen Magnetfelds ein über einen grö- „uud“, das Neutron „dud“. Nach heutiger
ßeren Raumbereich linear abfallendes Feld, Kenntnis besitzen die Quarks tatsächlich keine
so wird die Resonanzbedingung für einen be- Unterstruktur mehr, sollten also wirklich fun-
stimmten Kern nur in einer einzigen Ebene damentale Teilchen sein. Aufgrund experimen-
erreicht. Durch Messungen aus verschiedenen teller Daten kann man davon ausgehen, dass
Winkeln und mit weiteren Methoden kann ihre Ausdehnung höchstens 10–18 m beträgt,
die Zahl der Kerne (meist Protonen) in einem also um einen Faktor 1000 kleiner ist als jene
3-dimensionalen Bildpunkt (Voxel) im Com- der Nukleonen. Aber auch viele Größenord-
puter berechnet werden. Viele Protonen be- nungen weniger, bis hinab zur Planck-Länge,
deuten in der Medizin normalerweise hohen gelten nicht als ausgeschlossen. Was man unter
10-22 Wassergehalt. Da der Wassergehalt von Kno- „Ausdehnung“ überhaupt verstehen könnte,
Quarks und Elektronen.
Sie gelten heute als funda- chen, Muskeln, Fettgewebe und Blutgefäßen hängt stark von der angewandten Theorie ab.
mentale Materieteilchen. unterschiedlich ist, können durch dieses, MRI Obwohl subatomare Partikel also weit davon
up-Quarks (u) tragen (Magnetic Resonance Imaging) genannte Ver- entfernt sind, kleine Kugeln zu sein, werden wir
zwei Drittel einer positiven
elektrischen „Elementarla- fahren Gewebestrukturen mit hoher Auflösung in diesem Buch mangels Alternativen fortfah-
dung“, down-Quarks (d) dargestellt werden. ren, sie als solche darzustellen.
ein Drittel einer negativen. Unser gegenwärtiges Bild eines Atomkerns
Der Aufbau von Protonen
(uud) und Neutronen
zeigt eine komplexe Struktur auf mehreren Ebe-
(dud) führt zur positiven nen, die im Grunde aus nur drei nahezu punkt-
elektrischen Ladung des förmigen Bausteinen sehr geringer Masse zusam-
Protons und zum neutra-
len Neutron. Die Quarks
mengesetzt ist. Der Löwenanteil der Nukleonen-
besitzen außerdem eine masse, die wir beobachten können, resultiert aus
andere Art von Ladungen, Bindungs- und Bewegungsenergien der Quarks in
sogenannte Farbladungen.
den Nukleonen. Die Masse der Atome und damit
Obwohl sie nichts mit
normalen Farben zu tun jeder Materie besteht aus jener der Kerne und
haben, zeigen die drei aus dem kleinen Beitrag der Hüllenelektronen.
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
426
Erde, Wasser, Luft und Feuer
427
10-24
Standardmodell. Das Standardmodell der Elementarteilchen stellt unser gegenwärtiges
Wissen über die Grundbausteine der Welt zusammen. Das Graviton wird von Quanten-
feldtheorien der Gravitation vorausgesagt, konnte aber bisher nicht nachgewiesen wer-
den. Hingegen gibt es kaum mehr Zweifel an der Existenz des Higgs-Teilchens. Mit ihm
lassen sich die unterschiedlichen Massen der anderen Teilchen durch verschieden starke
Wechselwirkungen mit einem allgegenwärtigen „Higgs-Feld“ beschreiben.
10-27
Dritte Generation. Tauon, Tau-Neutrino, top-Quark,
bottom-Quark. Diese Teilchen sind noch schwerer und
Neutrino. Es ist wichtig zu betonen, dass diese instabiler als die der zweiten Familie.
wenigen Partikel der ersten Generation alles
aufbauen, was wir normalerweise unter Ma- Allgemein sind die Teilchen der zweiten und
terie verstehen. insbesondere die der dritten Generation sehr
Masse in eV? kurzlebige Partikel, die vorübergehend bei hoch-
In der Teilchenphysik energetischen Prozessen entstehen. Außer bei
wird die Masse meist
den Neutrinos ist die Lebensdauer der Teilchen
in Elektronenvolt (eV)
angegeben, denn aus stark abhängig von ihrer Masse und von den
E = mc2 folgt m = E/c2. Wegen, über die sie unter Beachtung der Er-
Die Lichtgeschwindigkeit haltungsgesetze in leichtere Teilchen zerfallen
c (und auch das Wir-
kungsquantum Ʒ) setzt 10-25 können. Die jeweils leichtesten Teilchen eines
man in der Teilchenphysik Erste Generation. Elektron, Elektron-Neutrino, up-Quark, Typs, wie etwa Elektronen, sind deshalb stabil.
gleich 1 und nimmt sie als down-Quark. Diese Familie beinhaltet alle Bestandteile
normaler Materie. Bei Neutrinos ist noch nicht sicher, ob sie eine
dimensionslos an. (Man
kann das mit gleichen Masse besitzen.
Recht tun, mit dem man Aus der zweiten Generation kennen wir bereits
etwa eine Entfernung zum das Myon, das Analogon zum Elektron, das
Bahnhof auch als 10 Fuß-
Neutrinos
minuten angeben kann.)
allerdings 200 mal schwerer ist. Hinzu kommen
ein Myon-Neutrino und zwei Quark-Typen (be- Neutrinos (nicht zu verwechseln mit Neutro-
Für die Umrechnung in die nannt als charm und strange). nen!) sind Teilchen mit ganz bemerkenswerten
üblichen SI-Einheiten gilt:
Eigenschaften. Sie wurden von WOLFGANG PAULI
1 eV = 1,78266 · 10–36 kg im Jahr 1933 zunächst rein buchhalterisch als
eine Art „freilebender Drehimpuls“ eingeführt,
denn ansonsten hätten die beobachteten Zerfälle
von Neutronen zu Protonen und Elektronen
Energie und Temperatur (n → p+ + e– + Neutrino) das Gesetz der Dreh-
Temperaturen gibt man in 10-26 impulserhaltung verletzt. Gleichzeitig ließ sich
der Teilchenphysik oft in Zweite Generation. Myon-Neutrino, charm-Quark,
Energieeinheiten an. damit auch erklären, warum die bei dem Pro-
strange-Quark. Schwere instabile Materieteilchen.
zess entstehenden Elektronen große Variatio-
1 eV ݖ12000 K nen in der Geschwindigkeit aufweisen und ein
1 keV ݖ12 Mio. K
1 MeV ݖ12 Mrd. K Das erste Mitglied der dritten Generation von kontinuierliches Energiespektrum ergaben. Die
1 GeV ݖ12 Bill. K Elementarteilchen wurde um 1975 gefunden, Gleichung geht nur auf, wenn das postulierte
428
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Teilchen einen Spin von –1/2 besitzt und einen Entdeckung des Positrons
Teil der gemäß E = mc2 entstehenden Energie
mit sich fort trägt. Die Geschichte der Antiteilchen beginnt, wie so
Neutrinos können selbst Lichtjahre dicke häufig in der Physik, mit der theoretischen Vor-
Materieschichten ohne Kollision mit einem hersage eines Teilchens, das später tatsächlich
Atomkern durchfliegen – die Erde ist für sie gefunden wurde. PAUL DIRAC (1902– 1984) stellte
ebensowenig ein Hindernis wie Nebel für eine im Jahr 1928 seine berühmte, nach ihm benannte
Gewehrkugel. Sie kümmern sich so wenig um ge- Gleichung auf, die die Eigenschaften und das
wöhnliche Materie, die ihnen im Weg steht, dass Verhalten von Materieteilchen (Fermionen) mit
429
Standardmodells auch Antiteilchen. Anti-Quarks tritt der Zerfall instabiler Teilchenkombinationen
aller sechs Flavours erzeugen in entsprechenden nicht ohne eine gewisse Latenzzeit ein – und Me-
Kombinationen Anti-Protonen und Anti-Neutro- sonen sind tatsächlich allesamt instabile Teilchen.
nen. Man nennt Teilchen aus Quarks allgemein Wie lange sie existieren (sie besitzen Halbwerts-
Hadronen (griech. hadrós, stark). Teilchen aus zeiten zwischen 10–23 und 10–8 Sekunden), hängt
drei gebundenen Quarks (oder drei gebundenen von ihrer Zusammensetzung ab. Formal lassen
Anti-Quarks) werden als Baryonen bezeichnet. sich aus den sechs Quarks und ihren Antiquarks
Treffen Teilchen und ihre Antiteilchen auf- 36 verschiedene Mesonen bilden. Kombinatio-
einander, so kommt es meist innerhalb sehr nen eines Quarks mit dem Antiquark desselben
kurzer Zeit zur Zerstrahlung (Annihilation). Flavours sind besonders kurzlebig. Zu den langle-
Kommen zum Beispiel ein Elektron und ein bigsten Quarks gehören die π-Mesonen (Pionen),
Positron sich zu nahe, so zerstrahlen sie ent- die YUKAWA als Austauschteilchen im Atomkern
weder sofort oder zumindest innerhalb etwa postulierte und die aus den Kombinationen ud,
einer Nanosekunde vollständig in zwei Gam- du bestehen können. Da Mesonen in verschie-
maquanten mit der charakteristischen Energie denen inneren Anregungszuständen mit jeweils
von 511 MeV. Übrigens kann es umgekehrt bei anderen Eigenschaften und Zerfallswegen auf-
der Wechselwirkung eines Gamma-Photons mit treten können und zwischen den drei leichtesten
mindestens dieser Energie mit dem elektrischen Quarks u, d und s mit ähnlichen Massen auch
Feld einer Atomhülle oder eines Atomkerns quantenmechanische Überlagerungen auftreten,
auch zur Entstehung eines Elektron-Positron- kennt man inzwischen über hundert Mesonen
Paares kommen. Bei noch höherer Energie kön- und hat Hinweise auf mehr als fünfzig weitere.
nen auch andere Paare wie Myon-Antimyon
oder Proton-Antiproton entstehen. Es handelt Exotische Kombinationen
sich also um die Bildung von Materie und An-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
timaterie aus reiner Energie, in Umkehrung der Physiker sind erfinderische Zeitgenossen. Ne-
Gleichung E = mc2. ben der Arbeit mit altbekannten Atomen des
Protonen und Neutronen sowie ihre Anti- Periodensystems lernten sie, Teilchen in einer
teilchen aus den entsprechenden Antiquarks Art subatomarem Glasperlenspiel zu völlig neuen
sind nicht die einzigen Baryonen. Generell kann Einheiten mit erstaunlichen Eigenschaften zu
10-30 man alle zusammengesetzten Teilchen als mehr kombinieren. Ist mindestens eine Komponente
Exotische Atome. Schwere oder weniger langlebige Bindungszustände ihrer kein gewöhnlicher Atombaustein, werden die
Hüllenteilchen interagie- Konstituenten betrachten. Schließlich sind auch Einheiten als exotische Atome bezeichnet (ÅAb-
ren mit dem Kern stärker
als Elektronen, da sie Atome nichts anderes als komplex strukturierte bildung 10-30). Diese Bindungszustände sind,
diesem viel näher kom- und zum Glück normalerweise beständige Bin- so kurzlebig sie auch oft sein mögen, nicht nur
men. Besitzen sie eine dungszustände der beteiligten Teilchen. Aus den „L'art pour l'art“. Sie erlauben Messungen, die
Farbladung, so erfolgt die
Interaktion zusätzlich über elementaren Bestandteilen des Standardmodells an gewöhnlicher Materie nicht möglich sind.
Gluonen. An Positronium lassen sich auch zahlreiche andere Kombinatio- Damit lassen sich physikalische Theorien sehr
und Myonium ist interes- nen als separate Teilchen beobachten. genau prüfen. In der Natur kommen einige dieser
sant, dass ausschließlich
fundamentale Teilchen Exoten als kurzlebige Produkte hochenergetischer
beteiligt sind. Antimaterie Mesonen – Grenzgänger zwischen Welten Reaktionen vor, beispielsweise bei der Reaktion
bildet die einzig bekannte von Protonen aus der kosmischen Strahlung mit
stabile Form exotischer
Atome. Komplette Anti-
Im Lichte der Quantenchromodynamik (QCD) Materie. Schauen wir uns hierzu ein Beispiel an.
Wasserstoff-Atome lassen sich auch die Mesonen systematisch be-
konnten erstmals 2010 schreiben. Diese leichteren Verwandten der Bary-
eingefangen werden. Als
Myonische Atome
onen bestehen aus jeweils zwei Quarks und haben
bislang schwerster nackter
Anti-Atomkern wurde damit einen ganzzahligen Spin, sind also Bosonen. Myonen sind 200 mal schwerer als Elektronen,
im Jahr 2011 der des Sie überraschen aber noch in ganz anderer Weise: sie verhalten sich aber aufgrund ihrer negati-
Anti-Heliums (4He) nach-
Eines der beiden Quarks gehört zur „dunklen ven elektrischen Ladung trotzdem sehr ähnlich.
gewiesen. Er entstand am
Schwerionenbeschleuniger Seite der Macht“, zur Welt der Antimaterie. Sollte In Teilchenbeschleunigern kann man Myonen
des Brookhaven National die Masse eines Mesons also nicht sofort zu Ener-
r herstellen und mit Atomkernen zu sogenannten
Laboratory bei Kollisionen gie zerstrahlen? Nun, wie schon beim Zusam- „myonischen Atomen“ vereinigen. Diese künstli-
von Gold-Kernen.
mentreffen von Elektron und Positron erwähnt, chen Atome besitzen interessante Eigenschaften:
430
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Genau wie Elektronen in echten Atomen können konzeptionell nicht weit. Anstatt die Lösung Vakuum
Myonen nur bestimmte Energieniveaus einneh- der Dirac-Gleichung als Wellenfunktion eines Das Vakuum ist definiert
als Grundzustand aller
men und gehen schließlich in den Grundzustand unveränderlichen Elektrons anzusehen, muss Felder.
über, den man mit der K-Schale des Bohrschen man sie als Feld betrachten, dessen Quanten
Atommodells vergleichen kann (Å Von Schalen Elektronen sind, ganz so wie Photonen Quan-
und Orbitalen, Seite 135). Allerdings ist der ten des elektromagnetischen Feldes sind. Ein
Kernabstand aufgrund des extremen Überge- einzelnes Teilchen bestimmter Energie ist nichts
wichts dieser „Pseudoelektronen“ 200 mal klei- weiter als ein entsprechender Anregungszustand
ner als bei Elektronen. Solche künstlichen Atome des Feldes. Ist kein Teilchen vorhanden, kann
sind schon als reines Phänomen sehr interessant, das Feld daher immer noch existieren, und man
aber mit ihnen lässt sich auch gewöhnliche Spek- sagt, es sei im Grundzustand. Das Vakuum ist
troskopie betreiben, bei der Übergänge zwischen definiert als der Grundzustand aller Felder.
Schalen angeregt und die Energien vermessen Die nach diesem Schema entstandenen
werden können. Quantenfeldtheorien vervollständigten die
Diese Anwendung führt uns zurück auf die von EINSTEIN und DE BROGLIE angenommene
vorstehend diskutierte Frage nach den Kernra- Korrespondenz zwischen Teilchen und Wellen
dien. Die unterste s-Schale der Myonen liegt so (Å Quantentheorie, die Zweite: Teilchen als
nahe am Kern, dass das Myon sich mit einer Wellen, Seite 104). In Quantenfeldtheorien
gewissen Wahrscheinlichkeit im Kern aufhält. gehen Teilchen und Feld im einheitlichen Begriff
Dabei kann es durch die kurzreichweitige schwa- des Quantenfeldes auf. Da man auch Feldern
che Kraft zu einer Interaktion mit einem Proton einen Impuls zuordnen kann, sind klassische
kommen, das dabei in ein Neutrino und ein Neu- Methoden der Mechanik auf Felder anwendbar
tron verwandelt wird (inverser Betazerfall). Die (Å Kasten Lagrange-Funktion und Quantenfel-
negative Ladung des Myons ist in myonischen der, Seite 432). Wodurch unterscheidet sich
Atomen in einem 2003 mal (d. h. 8 Millionen nun das Quantenfeld des Elektrons von dem
mal) kleineren Volumen konzentriert als die des Photons oder anderer Teilchen? Es stellt
Ladung des Elektrons in einem gewöhnlichen sich heraus, dass sie sich im Wesentlichen durch
Wasserstoffatom. Messungen der Spektren myo- ihre Spins und ihre Wechselwirkungen unter-
nischer Atome erlauben deshalb genaue Bestim- scheiden. Unter Spin sollte man sich keine reale
mungen der Atomkernradien. Drehbewegung vorstellen, denn es handelt sich
vielmehr um Symmetrieeigenschaften des Feldes.
Alle Fermionen, also Teilchen im klassischen
Wellenfunktionen und Sinn, sind Quantenfelder mit dem Spin ½, sie Fermionen
Zu den Fermionen (mit
Quantenfelder werden durch die Dirac-Gleichung beschrieben. dem Spin 1/2) gehören
Den „Kraftfeldern“, also dem elektromagne- Leptonen und Quarks.
Die Schrödinger-Gleichung, mit deren Hilfe man tischen Feld (Photonen), der schwachen und
die Wellenfunktion eines Teilchens berechnen der starken Wechselwirkung (W- und Z-Bo -
kann, ist leider nicht verträglich mit der speziel- sonen beziehungsweise Gluonen) entsprechen
len Relativitätstheorie. Diese postuliert die Äqui- Quantenfelder mit dem Spin 1. Aus Gründen,
valenz zwischen Masse und Energie (E = mc2), die später klar werden, nennt man sie auch
also können prinzipiell aus der kinetischen Ener-r Eichfelder, und ihre Teilchen heißen Eichbo-
gie eines Teilchens weitere Teilchen entstehen. sonen. Das Higgs-Feld (Higgs-Boson), dessen
Die Schrödinger-Gleichung geht jedoch von der Wechselwirkung mit anderen Feldern für deren
Unveränderlichkeit der Teilchen aus. Einmal Masse verantwortlich gemacht wird, hat den
Elektron, immer Elektron! Die von DIRAC als Spin 0. Man kann die Eichfelder der schwachen
Alternative aufgestellte relativistische Gleichung Wechselwirkung und das elektromagnetische
für die Wellenfunktion des Elektrons ließ ande- Feld zum sogenannten elektroschwachen Feld
rerseits negative Energien zu. DIRAC behalf sich zusammenfassen. Elektroschwaches Feld, die
mit der Vorstellung eines „Sees“ aus negativen Felder der starken Wechselwirkung, das Higgs-
Energiezuständen, die normalerweise alle besetzt Feld und die Fermionenfelder von Quarks und
sind. (ÅEntdeckung des Positrons, Seite 429). Leptonen bilden das Fundament des Standard-
So anschaulich diese Vorstellung ist, sie führt modells. Obwohl es noch nicht gelungen ist, eine
431
KAPITEL 10 Elementarteilchen
gen gleichzeitig auf und überlagern sich. Bei- lungen mathematischer Ausdrücke sind. Jedes Energieunschärfe
Energie und Zeit unterlie-
spielsweise kann überhaupt keine Impulsüber- Diagramm stellt einen möglichen Übergang vom
gen wie Ort und Impuls
tragung stattfinden (keine Streuung), oder es Anfangs- in den Endzustand eines Wechselwir- der Unschärferelation:
findet nur eine einzige statt (Streuung an einem kungsprozesses dar. So werden bei der Streuung ΔE ⋅ Δt ≥ 2π · h. Wegen
Punkt), oder zwei oder drei, bis hin zu unendlich zweier Elektronen aneinander (Møller-Streu- E = mc2 kann ein virtuelles
Teilchen der Masse m also
vielen (Å Abbildung 10-36). ung) ein oder mehrere Photonen ausgetauscht. bis zu 2π · h / mc2 Sekun-
Die Gesamtwahrscheinlichkeit einer Wechsel- den lang existieren, ohne
wirkung erhält man durch die Kombination den Energieerhaltungssatz
zu verletzen.
aller möglichen Übergänge. Zum Glück sind
nicht alle Übergänge gleich wahrscheinlich. Die Reichweite
Wahrscheinlichkeiten hängen von den Koppel- Die maximale Lebens-
konstanten der beteiligten Quantenfelder ab. dauer T eines virtuellen
Teilchens beschränkt
Die Koppelkonstante des elektromagnetischen die Reichweite S sei-
10-34
Feldes ist wesentlich kleiner als eins, weshalb ner Wechselwirkung:
Feldkopplungen. Wechselwirkungen zwischen Feldern
man nur relativ wenige Übergänge berücksich- S c ⋅ T = 2π ⋅ h / mc. Die
S
kann man sich vorstellen als kleine „Federn“ (grau im
masselosen Photonen
Bild) zwischen den Gitterpunkten beider Felder. Die Kop- tigen muss. Allerdings müssen noch Übergänge haben eine unendliche
pelkonstante bestimmt die Stärke der Wechselwirkung. In anderer Art einbezogen werden. So kann ein Reichweite. Für das
Quantenfeldtheorien ist sie proportional zur „Ladung“.
virtuelles Photon selbst in ein virtuelles Elek- schwere W-Boson folgt
So ist die elektrische Ladung des Elektrons proportional
S ≈ 10–18 m, zehntau-
zur Koppelkonstanten zwischen dem Dirac-Feld des Elek- tron-Positron-Paar zerfallen, welches sich sofort send mal kleiner als ein
trons und dem elektromagnetischen Feld. wieder zum Photon vereinigt, das zugehörige Atomkern.
Diagramm hat „Schleifen“ (Å Abbildung 10-38,
Die Auflösung des Streuprozesses in diskrete Seite 434). Schleifen führen bei der Berech-
Folgen von Impulsübertragungen legt natürlich nung zu unendlichen Impulsen. Man kann sie
eine „Teilchensicht“ auf Quantenfelder nahe. meist durch andere geeignet gewählte unendliche
In einer solchen Teilchensicht wird ein Elektron Größen kompensieren, so dass das Ergebnis
im Feld einer positiven Ladung durch den „Aus- endlich bleibt. Diese sogenannte Renormierung
tausch“ virtueller Photonen von seiner Bahn ab- bleibt physikalisch ohne Auswirkungen, da die
gelenkt. Die Teilchensicht ist aber etwas seltsam: renormierten Größen nicht beobachtbar sind. So
10-35
Auch hier muss man alle möglichen Fälle gleich- kann die „nackte“ Masse eines Elektrons durch Richard Phillipp Feynman
zeitig berücksichtigen: dass gar kein Austausch die unendliche Zahl virtueller Teilchen, die es (1918 – 1988).
stattfindet, dass nur ein Photon ausgetauscht umgeben, gar nicht beobachtet und folglich als
wird oder zwei und so weiter. Am Ende kommt unendlich angenommen werden. Die unend-
das Gleiche heraus: Welchen Weg das Elektron
tatsächlich nimmt, ist nicht vorhersagbar.
Insgesamt sind Streuprozesse zwischen Ele-
mentarteilchen aber noch etwas verwickelter:
Die Interaktion zwischen Quantenfeldern kann
ja dazu führen, dass neue Teilchen entstehen
und andere verschwinden. Es stellte sich heraus,
dass diese Fälle analog behandelbar sind, und
dank des genialen Physikers RICHARD FEYNMAN
gibt es eine sehr anschauliche Methode dafür: 10-36
die berühmt gewordenen Feynman-Diagramme. Streuung. Die Streuung des Quantenfeldes eines Elektrons am Feld einer positiven La-
dung kann man sich vorstellen als Folge einzelner Impulsübertragungen zwischen den
Feldern. Links sind drei von insgesamt unendlich vielen möglichen Folgen dargestellt,
Feynman-Diagramme mit keiner (0), einer (1) und zwei (2) Übertragungen. Das resultierende gestreute Feld
ist eine Überlagerung aller Folgen. Im Gegensatz zur klassischen Betrachtungsweise liegt
Feynman-Diagramme (ÅAbbildung 10-37, Seite daher die Flugrichtung des Elektrons nach Passieren des Feldes nicht fest, lediglich die
Wahrscheinlichkeit, ein Elektron in der klassisch erwarteten Richtung zu registrieren, ist
434) dienen der Berechung der Wechselwir- maximal. Die Feldbetrachtung korrespondiert mit der Teilchenvorstellung (rechts): Die
kungen zwischen Quantenfeldern. Sie haben „Ablenkung“ des Elektrons entsteht durch Interaktionen, bei denen Photonen (gewellte
den Vorteil, dass sie der intuitiven Vorstellung Linien) ausgetauscht werden. Auch hier ist die resultierende „Bahn“ des Elektrons nicht
determiniert. Jeder Interaktion ist eine Wahrscheinlichkeit zugeordnet, das abgelenkte
wechselwirkender Teilchen eher entsprechen, Elektron in der entsprechenden Richtung zu finden. Die Kombination aller Alternativen
wenngleich ihre Elemente nur grafische Darstel- liefert die statistische Verteilung des Streuwinkels.
433
KAPITEL 10 Elementarteilchen
434
Erde, Wasser, Luft und Feuer
geben, die so klein sind wie Atome. Die fehlende che Symmetriebrechung bereits kennengelernt:
Skaleninvarianz folgt aus der Quantenstruktur die Aufspaltung von Spektrallinien beim Anle-
der Welt. Es gibt für alle physikalischen Größen gen eines Magnetfelds (ÅQuantenzahlen, Seite
einen kleinsten Wert, eben das entsprechende 130). Das Magnetfeld bricht die Symmetrie der
Quantum. Umgekehrt wirken sich Quantenef- Magnetquantenzahl der Elektronen im Atom.
fekte nicht in allen Größenordnungen gleich aus Die Invarianz des Isospins ist eine Folge von
(ÅDekohärenz, Seite 110). Symmetrien der Quarkkonfiguration von Ha-
Der Zusammenhang zwischen Symm e - dronen. Aus den Konfigurationen von up- und 10-40
trien und Erhaltungsgrößen gilt nicht nur für down-Quarks kann ein „Raum“ aus Basisfunk- Isospin-Symmetrie. Die
Transformationen von Ort und Zeit, sondern tionen gebildet werden, in dem sich die Wellen- Umwandlung von Pro-
tonen und Neutronen
auch für interne Größen eines Systems. Un- funktionen der Hadronen „drehen“. Protonen ineinander entspricht
ter anderem sind die Spinquantenzahl und die und Neutronen besitzen unterschiedliche Iso- einer „Drehung“ in einem
sogenannte Isospinquantenzahl von Hadronen spinwerte (I3 = ½ bzw. I3 = –½) aber die glei- Raum („Koordinatensys-
tem“) aus zwei Basisfunk-
interne Erhaltungsgrößen. Die zugeordneten che Isospinquantenzahl. Pi-Mesonen bestehen
tionen u und d. Im Prinzip
Symmetrietransformationen sind mit räumlichen ebenfalls aus Quarks und haben einen Isospin sind in diesem Raum auch
Drehungen verwandt (weshalb man „Spins“ von 1 mit den möglichen Isospinwerten –1 (π–- „Überlagerungszustände“
gerne als in bestimmte Richtungen orientierte Meson), 0 (π0-Meson) und 1 (π+-Meson). Da möglich, sozusagen
„Preutonen“. Allerdings
Drehachsen darstellt). Allerdings sind sowohl die wir zwischen Proton und Neutron unterschei- ist unter normalen Ver-
„Räume“, in denen gedreht wird, als auch die den können, ist die Isospinsymmetrie bei ihnen hältnissen die Isospin-
gedrehten „Objekte“ abstrakter Natur. Es han- offenbar gebrochen. Verantwortlich dafür ist Symmetrie „gebrochen“,
weshalb wir beide sogar
delt sich um Drehungen der Wellenfunktionen in die elektroschwache Wechselwirkung, die in dann unterscheiden könn-
einem Raum, dessen Koordinatenachsen Basis- Hadronen ebenfalls wirkt. ten, wenn Protonen nicht
funktionen sind, aus denen die Wellenfunktionen In Fällen gebrochener Symmetrie ist stets elektrisch geladen wären.
kombiniert werden (ÅHilbert-Raum, Abbildung Energie erforderlich, um den Wert der Erhal-
3-110, Seite 105). Solche Drehungen lassen tungsgröße zu ändern, da sich die Werte ener-
Spin- und Isospinquantenzahl unverändert, än- getisch unterscheiden. So ist die Aufspaltung
dern aber die Orientierung der Wellenfunktion, von Spektrallinien ein Zeichen dafür, dass jedem
ganz so, wie eine räumliche Drehung eines Punk- Wert der Magnetquantenzahl eine andere An- Strangeness
tes um eine Achse zwar den Abstand zur Achse regungsenergie entspricht. Analog wird beim Die Strangeness (engl.
unverändert lässt, nicht aber den Drehwinkel. radioaktiven Betazerfall ein Neutron durch Seltsamkeit) ist eine
Quantenzahl, die be-
Den Drehwinkeln entsprechen die tatsächlich Austausch eines W-Bosons (schwache Wechsel-
stimmte Quarks charak-
beobachtbaren Spin- beziehungsweise Isospin- wirkung) in ein Proton verwandelt, wobei der terisiert, sogenannte s-
werte, die natürlich gequantelt sind. Fermionen Isospin gedreht wird. Quarks. Sie ist in Teilchen,
die Quarks enthalten,
haben die Spinquantenzahl ½ mit den möglichen
gleich der Anzahl der
Spinwerten ±½, Bosonen die Spinquantenzahl CPT-Theorem s-Antiquarks minus der
1 mit den möglichen Werten ±1 und 0. In Pro- Anzahl der s-Quarks.
zessen, bei denen es auf den konkreten Wert Die Vorzeichen der elektrischen Ladung und s-Quarks haben die
Strangeness –1, s-Anti-
nicht ankommt, sind Teilchen mit unterschied- der Strangeness (ÅRandspalte) sowie die De- quarks die Strangeness 1.
lichen Spinwerten nicht unterscheidbar. Erst in finitionen der sogenannten Leptonen- und Ba- Die Strangeness bleibt bei
einem Kraftfeld, dessen Wirkung vom Spin- ryonenzahl sind zwar Konventionen, spiegeln der starken Wechselwir-
kung erhalten.
wert abhängt, sind die Teilchen als verschieden aber innere Symmetrien der Gesetze wider, die
wahrnehmbar. Man sagt, die Symmetrie wird die Welt der Teilchen beschreiben. Die Sym-
durch das Feld gebrochen. Wir haben eine sol- metrietransformation, die alle Ladungen und Parität
Quantenzahlen umkehrt, nennt man Ladungs-
Absolute Größe Transformation Erhaltungs- Positiv:
größe konjugation und kürzt sie mit C ab. C überführt Der Wert einer Funktion f
Absolute Lage im alle Teilchen in ihre Antiteilchen. Man glaubte ist invariant bezüglich ei-
x' = x + a Impuls ner Koordinateninversion:
Raum auch lange, dass die Parität (P) eine Erhaltungs-
– ). Man sagt
f(x) = f(–x
Absolute Zeit t' = t + a Energie größe physikalischer Prozesse sei, also sollte auch: f ist gerade.
Absolute Richtung
eine Inversion der Raumkoordinaten (Punkt-
Rotation Drehimpuls spiegelung am Nullpunkt) einen physikalischen Negativ:
im Raum
Der Wert von f kehrt sich
Absolut rechts Prozess nicht beeinflussen. 1956 gelang jedoch um: f(x) = –f(–x
– ), und f ist
x' = -x Parität
oder links der Physikerin CHIEN-SHIUNG WU (1912 – 1997) ungerade.
10-39
Transformationen und Erhaltungsgrößen. Symmetrie-
transformationen drücken aus, dass absolute Größen
nicht existieren. Dies impliziert die Erhaltung physikali-
435
scher Größen wie Energie oder Impuls.
KAPITEL 10 Elementarteilchen
CP-Invarianz der experimentelle Nachweis, dass beim Zerfall aus dieser Art von Eichung hervor, weshalb man
besagt, dass sich physi-
kalische Gesetzmäßigkei-
von Pionen die Paritätserhaltung verletzt wird. auch von Eichbosonen spricht.
ten nicht ändern, wenn Die Gesetze der schwachen Wechselwirkung sind
gleichzeitig alle Teilchen nicht invariant gegenüber Punktspiegelungen,
durch ihre Antiteilchen
Symmetrien und Eichbosonen
ersetzt und alle Raum-
die Parität mithin keine Erhaltungsgröße von
koordinaten gespiegelt Prozessen, bei denen die schwache Wechselwir- Im Standardmodell sind praktisch alle Symme-
werden. C steht für engl. kung eine Rolle spielt. Heute glaubt man, dass trien Drehsymmetrien in den erwähnten abstrak-
charge, Ladung, bzw.
die Kombination aus C, P und der Zeitumkehr ten Funktionenräumen, in denen Teilchenzu-
charge conjugation, La-
dungskonjugation, P für T eine Erhaltungsgröße aller Prozesse ist. Dies stände beschrieben werden. Wie bei räumlichen
engl. parity, Parität. ist das sogenannte CPT-Theorem. Drehungen sind unterschiedlich viele „Drehach-
Quantenzahlen sen“, das heißt unabhängige Parameter, in diesen
Die Existenz von Quan- Räumen möglich. Die Zahl der Drehachsen be-
tenzahlen weist auf eine
Lokale Symmetrien
stimmt nun, wie viele verschiedene Eichbosonen
Symmetrie des Systems
hin. Wir haben bisher nur über globale Symmetrien notwendig sind, um eine lokale Symmetrie zu
gesprochen. Bei diesen muss die entsprechende gewährleisten. Die einfachste Drehsymmetrie
Transformation überall angewandt werden: Die nennt man U(1), sie entspricht einer räumlichen
Addition einer Konstante zur Ortskoordinate Drehung in der Ebene mit nur einer Achse. Lo-
muss auf die Positionen aller Teilchen angewandt kale U(1)-Symmetrien benötigen nur ein Boson;
werden. Physiker sind aber bestrebt, Theorien die elektromagnetische Wechselwirkung ist von
so zu formulieren, dass ihre Gleichungen ge- dieser Form, weshalb es hier nur das Photon
genüber lokalen Transformationen invariant gibt. Die nächste Stufe bilden SU(2)-Symme-
sind, also eine lokale Symmetrie gilt. Eine lokale trien mit drei unabhängigen Parametern, was
Transformation kann beispielsweise eine lokale räumlichen Drehungen mit drei Achsen ent-
Verschiebung elektrischer Ladungen sein, die spricht. SU(2)-Eichtheorien haben drei Bosonen.
die Gesamtenergie (das Potenzial) unverändert Im Rahmen der Quantenfeldtheorien bedeuten
lässt. Die Forderung nach lokaler Symmetrie ist Drehungen mit drei und mehr Parametern die
durch das Lokalitätsprinzip der Relativitätsthe- Überführung eines Teilchens in ein anderes, zum
10-41
orie motiviert. So wäre die gleichzeitige parallele Beispiel die Überführung eines Neutrons in ein
Lokale Symmetrie. Eine
globale Verschiebung aller Verschiebung aller Ladungsträger im Kosmos Proton. Die elektroschwache Theorie ist eine
Ladungen im Universum eine globale Symmetrietransformation, die die Kombination aus SU(2) und U(1), geschrieben
um eine Strecke x ändert
Menge an elektrischer Energie nicht ändert. Diese meist als U(1)⊗SU(2) mit daher vier Bosonen:
auf Dauer nichts am
elektrischen Potenzial U Transformation impliziert jedoch, dass alle durch dem Photon, den beiden W-Bosonen und dem
zwischen ihnen (oben). die Verschiebung erzeugten Potenzialänderungen Z-Boson. Die starke Wechselwirkung basiert
Das Coulombsche Gesetz augenblicklich überall spürbar sein müssen. Un- auf einer SU(3)-Symmetrie mit 8 unabhängigen
verfügt über eine globale
Translationsymmetrie. endlich schnell ablaufende Prozesse sind aber laut Parametern, weshalb es acht Gluonen gibt. Das
Das Potenzial kann sich Relativitätstheorie nicht möglich: Wirkungen Standardmodell wird daher oft dargestellt als
aber nur mit endlicher Ge- sind immer lokal und breiten sich höchstens mit U(1)⊗SU(2)⊗SU(3).
schwindigkeit ausbreiten,
was dazu führt, dass jede Lichtgeschwindigkeit aus. Man kann die Max-
Ladung die Verschiebung wellschen Gleichungen und andere Feldtheorien Wie Teilchen ihre Masse bekommen
der anderen Ladungen nun so formulieren, dass ihre Strukturen gegen-
zunächst nicht „spürt“,
die Verschiebung wirkt
über lokalen Transformationen invariant bleiben, Aufgrund experimenteller Hinweise vermutete
lokal. Die Ausbreitung man spricht von „Eichung“ und sogenannten man schon früh, dass es einen Zusammenhang
des Potenzials erfolgt Eichtheorien. Die Felder dieser Theorien („Eich- zwischen der elektromagnetischen und der
durch elektromagnetische
Wellen (unten). Die Max-
felder“) gleichen die Wirkung lokaler Symme- schwachen Wechselwirkung geben sollte, also
wellschen Gleichungen trietransformationen gerade aus. Die Felder sind beide durch ununterscheidbare Bosonen ver-
kann man mittels einer also eine Konsequenz des Lokalitätsprinzips der mittelt werden. Die vermutete elektroschwache
sogenannten „Eichung“
Relativitätstheorie: Weil sich die Wirkung lokaler Symmetrie U(1)⊗SU(2) sollte auch Elektronen
so formulieren, dass sie in-
variant gegenüber lokalen Ladungsverschiebungen nicht mit Überlichtge- und Neutrinos ununterscheidbar machen, ähn-
Verschiebungen sind. Das schwindigkeit ausbreiten kann, sorgen elektro- lich wie die Isospinsymmetrie Protonen und
bei Verschiebung entste- magnetische Felder für den Potenzialausgleich Neutronen zusammenführt. Aus der endlichen
hende elektromagneti-
schen Feld ist genau das (ÅAbbildung 10-41). Alle Quantenfelder, die Reichweite der schwachen Wechselwirkung folgt
benötigte Eichfeld. Bosonen (Austauschteilchen) beschreiben, gehen aber, dass deren Bosonen eine Masse besitzen,
436
Erde, Wasser, Luft und Feuer
ganz im Gegensatz zum masselosen Photon mit U(1) entsteht ein Goldstone-Boson, bei SU(2) Träge Masse
Sie ist dafür verantwort-
unendlicher Reichweite. Wie konnte eine Sym- entstehen drei, und so weiter.
lich, dass Bewegungsän-
metriebrechung die Masse der Teilchen verän- Gemäß dem Standardmodell erfüllt ein der- derungen eines Körpers
dern? 1964 wurde von PETER HIGGS (*1929) und artiges Feld mit gebrochener Symmetrie das Va- Kraft erfordern.
anderen ein Mechanismus postuliert, der eine kuum, das sogenannte Higgs-Feld. Das bei dessen
spontane Symmetriebrechung für die Entstehung Symmetriebrechung entstehende massive Higgs- Schwere Masse
Sie ist Ausdruck der
der trägen Masse der Bosonen und der schwe- Boson wurde 2012 im neuen Large Hadron Col- Wechselwirkung von
ren Elementarteilchen verantwortlich machte. lider des CERN wahrscheinlich identifiziert. Die Körpern mit einem Schwe-
Ausgangspunkt waren Theorien zur Supralei- masselosen Higgs-Teilchen wirken ihrerseits mit refeld. Bisher wurde kein
messbarer Unterschied
tung in Festkörpern, die die Verwandtschaft von den Eichfeldern der schwachen Wechselwirkung zwischen den Beträgen
Symmetriebrechungen und Phasenübergängen zusammen. Man kann zeigen, dass dadurch die der trägen und schweren
deutlich machen (ÅKasten Spontane Symme- masselosen Teilchen „verschwinden“ und die Masse festgestellt.
triebrechung in Festkörpern, Seite 438). Eichbosonen stattdessen eine Masse erhalten.
Zur spontanen Symmetriebrechung kommt Fermionen erhalten dagegen ihre Masse durch
es, wenn der Zustand minimaler Energie eines die direkte Wechselwirkung mit dem gesamten
Systems nicht gleichzeitig der Zustand höchster Higgs-Feld. Wenn sich das Higgs-Feld in einem
Symmetrie ist. Stellen wir uns eine Kugel auf höheren Energiezustand befindet, so kann die
dem höchsten Punkt des gewölbten Bodens einer Symmetriebrechung wieder aufgehoben werden.
Sektflasche vor. Sie besitzt nicht die niedrigste Bei hohen Energien sollten daher die Eichboso-
potenzielle Energie, dafür ist aber ihr Zustand nen der schwachen Wechselwirkung ihre Masse
symmetrisch gegenüber Drehungen um die Fla- verlieren; sie vereinigen sich dann mit dem Pho-
schenachse. Bei der kleinsten Erschütterung wird ton zur elektroschwachen Wechselwirkung.
die Kugel deshalb „spontan“ in die kreisförmige Leider gibt es ein Problem bei der Berech-
Bodenrinne rollen, da dort das Energieminimum nung der Masse des Higgs-Bosons. Wegen der er- r
liegt. Die Drehsymmetrie ist gebrochen, denn wähnten Schleifen durch virtuelle Teilchen in den
die Kugel wird auf irgendeiner Seite zu liegen Feynman-Diagrammen müsste das Higgs-Teilchen
kommen. Während in diesem Zustand jeder Ver- r eine wahrhaft gigantische Masse im Bereich von
such, die Kugel aus der Rinne zu heben, Energie Milliarden Teraelektronenvolt besitzen. Die be-
erfordert, läuft sie entlang der Rinne von selbst kannten Massen der Elementarteilchen erfordern
(Reibung vernachlässigt). Das gleiche Verhalten aber einen weit geringeren Wert, der nur durch
tritt bei Quantenfeldern (Å Abbildung 10-42) eine extrem genaue Justierung der Parameter der
auf. Besitzt das Potenzial eines Feldes mit zwei Theorie erreicht werden kann. Der experimentell 10-42
Komponenten eine solche Flaschenbodenform, gefundene Wert um 125 GeV passt allerdings in Flaschenbodenpotenzial.
so ist der Zustand „auf der Wölbung“, bei dem den theoretisch möglichen Wertebereich. Ein Higgs-Feld besitzt ein
flaschenbodenförmiges
sein Betrag null ist, nicht der Zustand minimaler Potenzial. Der Nullzustand
Energie. Letzteren nimmt das Feld als Grundzu- Jenseits des Standardmodells des Feldes liegt auf dem
stand ein, wenn die Drehsymmetrie gebrochen Hochpunkt im Zentrum
und hat nicht die mini-
wird. Diesem Zustand entsprechen ein masselo- Von Susy, Strings und Loops male potenzielle Energie
ses und ein massives Feldteilchen. Dem masse- (oben). Ein Teilchen in
losen Teilchen entsprechen Feldzustände längs So erfolgreich das Standardmodell auch ist, es diesem Punkt wird in die
Potenzialrinne „rollen“
der Potenzialrinne, da diese alle die Energie null handelt sich nur um eine approximative Theorie. und damit die Rotations-
besitzen. Dem massiven Teilchen entsprechen Wesentliche Schwächen kennen wir bereits: Es symmetrie der Anordnung
Zustände senkrecht zur Rinne, deren Feldener- kann nicht erklären, warum es drei Teilchenfami- brechen. In der Rinne
kann man das Feld aus
gien größer als null sind, denn wegen E = mc2 lien gibt, es liefert keine befriedigende Erklärung
zwei Komponenten beste-
entspricht jeder Energie eine Masse. Die mas- für die Größe der Teilchenmassen und es bezieht hend betrachten (unten):
selosen Teilchen bezeichnet man als Goldstone- die Gravitation nicht ein. Oberhalb der Quan- einer radialen (rote Pfeile)
und einer Winkelkompo-
Bosonen. Das Prinzip lässt sich auf mehr als zwei tenwelt werden Gravitationseffekte durch die
nente (blauer Pfeil). Letz-
Feldkomponenten ausweiten, wenngleich das allgemeine Relativitätstheorie (ART) beschrie- tere entspricht einem mas-
anschauliche Bild einer Potenzial„rinne“ dann ben. Die Welt der Quanten und die Welt der selosen Teilchen, erstere
nicht mehr zutrifft. Die Zahl der dabei entstehen- ART können nebeneinander koexistieren, weil einem massiven Teilchen,
da für jede Zustandsände-
den Goldstone-Bosonen entspricht den „Achsen“ die Gravitationskraft im Vergleich zu den ande- rung in radialer Richtung
der gebrochenen Symmetrie des Potenzials. Bei ren Kräften extrem schwach ist. Erst im Bereich Energie notwendig ist.
437
KAPITEL 10 Elementarteilchen
438
Erde, Wasser, Luft und Feuer
439
KAPITEL 10 Elementarteilchen
441
KAPITEL 10 Elementarteilchen
sum beschreibt. Die Größe der Ladungen der auch die Supergravitation lediglich niederenerge-
Elementarteilchen ist abhängig von der Art, wie tische Näherungen. Derzeit weiß noch niemand,
sich Strings um diese Löcher „winden“ können. wie eine solche Theorie im Detail aussehen kann,
Unglücklicherweise gibt es mehr als eine Mög- denn viele dafür nötigen mathematischen Struk-
lichkeit, die Vielfalt der Elementarteilchen durch turen sind Neuland. So faszinierend die durch
offene oder geschlossene Strings zu beschreiben, eine M-Theorie aufgezeigten Zusammenhänge
ganz zu schweigen von der riesigen Anzahl von aber auch sein mögen, letzten Endes werden erst
Konfigurationsmöglichkeiten der Geometrie der Experimente zeigen, ob mehr dahinter steckt
Extradimensionen. Im Laufe der Zeit kristalli- als reine Mathematik. Aber gerade die experi-
sierten sich fünf verschiedene Superstringtheorien mentelle Bestätigung ist das größte Problem der
heraus, die alle bestimmte Aspekte unseres Uni- Stringtheorie wie auch der Loop-Quantengravi-
versums beschreiben und meist auch mehrdimen- tation. Zwar würde der Nachweis des Zerfalls
sionale Branen enthalten. Leider ist es unmöglich, von Protonen und der Existenz superschwerer
die „richtige“ Theorie anhand von Experimenten Teilchen indirekt die Stringtheorien zumindest
oder Beobachtungen auszuwählen. Weder waren nicht ausschließen, aber direkte Bestätigungen
bisher entsprechende Beobachtungen zugänglich, sind rar. Ihren größten Erfolg feierte die String-
noch beherrscht man den komplizierten mathe- theorie mit der korrekten Berechnung der En-
10-51 matischen Apparat dieser Theorien ausreichend, tropie schwarzer Löcher. Die in der Literatur
Strings und Branen. Of- um den Ausgang von Experimenten vorherzusa- aufgeführten „Erklärungen“ der Expansion des
fene Strings haften an gen. Verblüffenderweise stellte sich aber heraus, Universums oder der kosmischen Inflation mit-
Branen, hier dargestellt
als zweidimensionale
dass diese Theorien in wesentlichen Punkten tels Branen, Extradimensionen und Strings sind
Oberfläche (2D-Bran). Sie paarweise physikalisch äquivalent zueinander aber nicht mehr als Spekulationen, da sie keine
können sich allerdings auf sind! Man spricht von der Stringdualität dieser nachprüfbaren Fakten liefern. In diesen Fällen
der Bran frei bewegen.
Geschlossene Strings kön-
Theorien. Beschreibt eine Theorie ein Univer- wird im Allgemeinen eine „passende“ Konfigu-
nen sich frei in und um die sum mit einer Stringkoppelkonstanten kleiner ration von Branen und Extradimensionen kon-
Branen bewegen. als eins, so gibt es eine dazu duale Theorie, die struiert. Diese Vorgehensweise entspricht nicht
eine Welt mit starker Stringkopplung beschreibt. gerade der in den Wissenschaften üblichen. In
Gleiches gilt für den Radius eingerollter Dimensi- einer „guten“ Theorie sollte eine möglichst ge-
?
onen. Eine Theorie beschreibt eine Welt mit dem ringe Zahl an „Parametereinstellungen“ notwen-
„Kompaktifizierungsradius“ R, die dazu duale dig sein, um sie an Beobachtungen anzupassen.
Theorie beschreibt eine Welt mit dem dazu rezi- Andererseits muss die aktuelle Struktur der
Wird am Ende doch noch alles proken Radius 1/R. Die Dualität ist sehr hilfreich Welt sich nicht „zwingend“ aus fundamentalen
GUT? In neuester Zeit hat die
dabei, physikalische Probleme zu lösen, die in Naturgesetzen ergeben. Schließlich könnte es
langee Suche nach einer The Theorie
derr Quantengravitation wiede
wieder einer Theorie unlösbar erscheinen. Man kann ein unendlich viele Welten geben, in denen völlig
eine erstaunliche Wendung ge- Problem in das äquivalente Problem der dualen unterschiedliche Naturgesetze gelten. Sie könn-
men. Mit der Entwicklung
nommen. Theorie transformieren, wodurch es manchmal ten sogar gleichzeitig als Paralleluniversen auf
der Unitaritätsmethode de durch ZWI
BERN, LANCE J. DIXON und DAVID A A. lösbar wird. anderen Branen neben unserer existieren. Die
KOSOVER konnten Unendlichkeit
Unendlichkeiten Tatsache, dass unsere Welt so wohl präpariert
rfahren, die au
in Rechnungsverfahren, auf erscheint für Atome, Sterne, Planeten und Men-
agrammen bas
Feynmann-Diagrammen basieren, Reality Check
nfacht werde
enorm vereinfacht werden. Es schen, mag reiner Zufall sein. Die Frage, warum
mit möglich zzu sein, die
scheint somit So praktisch die Dualitäten der Stringtheorien unsere Welt so geeignet ist für Lebensformen,
Theorie derer Supergra
Supergravitation wie- auch sein mögen, was bedeuten sie physika- könnte man deshalb auch mit „Darum!“ be-
eben, die in den 1980er
der zu beleben,
Jahren aufgegeben
fgegeben worden war.
lisch? Existieren Strings wirklich, und wenn antworten: Würde unsere Welt völlig anders
Es stellte sich nämlich heraus,
ch nämli ja, welche? Handelt es sich nur um mathema- aussehen, gäbe es eben niemand, der solche
dass Gravitonen als Paare von tische Strukturen, die aus noch unbekannten Fragen stellen kann! Man nennt diese Art der
chreib
Gluonen beschreibbar sind. Noch
rüh, zu sage
ist es zu früh, sagen, welche
Gründen auf bestimmte Teile der physikalischen Argumentation das anthropische Prinzip. Viel-
ysik sich darau
neue Physik daraus ergeben Welt „passen“? Diese Fragen lassen sich derzeit leicht ist es tatsächlich die richtige Antwort auf
könnte. Auf jeden Fall bleibt die nicht beantworten. Allerdings scheinen die Zu- die Frage nach der „Theorie für alles“. Uns
Suche nach Grundkräften des
ch den Grun
sammenhänge noch tiefer zu gehen, als bisher scheint es allerdings noch viel zu früh und unser
Universums ein sehr spannender
Krimi und vielleicht das größte gedacht. So mag es eine sogenannte M-Theorie Wissen ist noch viel zu lückenhaft, um sich auf
Abenteuer der Menschheit. geben, deren Basis eine elfdimensionale Raum- diese Position zurückzuziehen – mathematische
zeit ist. In ihr sind alle Superstringtheorien und Eleganz hin oder her.
442
KAPITEL 11
Kosmologie
Welt des Großen und des ganz Großen
Materie im Universum
Sterne und Sternentwicklung
Deep Space
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
Zum elften Kapitel
Im Mittelteil dieses Buches haben wir uns hauptsächlich deren Ausmaße gigantisch anmuten, an Geräten, deren Größe
um solche Erscheinungen der Materie gekümmert, die uns man manchmal in Dutzenden von Kilometern misst. Welche
mehr oder weniger direkt gegenübertreten. Um Dinge also, Erkenntnisse bekommen wir für die Milliardeninvestitionen
die wir körperlich berühren können oder die sich zumindest in solche Wissenschaftsmaschinen?
im Experiment manipulieren lassen. Doch wie schon die in Die kosmologische Forschung wird gegenwärtig von Be-
Kapitel 3 angesprochenen Schöpfungsmythen zeigten, gaben griffen wie Urknall, Inflation, Cosmic Web, Dunkle Materie,
sich die Menschen zu allen Zeiten nicht damit zufrieden. Sie Schwarzes Loch, Quasar und Dunkle Energie geprägt. Allen
haben nie aufgehört, die Wahrheiten hinter den räumlichen diesen zum Verständnis des Kosmos wichtigen Aspekten
und zeitlichen Horizonten zu suchen, über das Hier und Jetzt werden wir in diesem Kapitel nach und nach begegnen.
hinaus zu denken. Wie ist die Materie in der Welt verteilt? Als Ausgangspunkt für die Reise zu den wirklich großen
Besteht der ganze Kosmos bis in den letzten Winkel aus den kosmischen Objekten soll uns aber unser Vorhof dienen, die
gleichen Stoffen, die wir von der Erde kennen? Wie lange gibt „direkte“ Nachbarschaft unserer Erde, die wir heute und
es sie schon? Wie ist die Erde einst entstanden? Endet unsere jetzt sehen und mit unseren Instrumenten erfassen können.
materielle Welt irgendwo? Und wie wird letztlich die fernste In einem Parforceritt werden wir dann die meisten Struk-
Zukunft aller materiellen Existenz aussehen? Oder, einfach turen kennenlernen, welche die Materie unseres Universums
ausgedrückt, in materialistischer Form die alten zentralen Fra- bildet. Wir begegnen dabei exotischen Materieformen, die
gen: Woher kommen wir – was sind wir – wohin gehen wir? so nicht auf der Erde vorkommen. Aber wir werden auch
Die Kosmologie, die Lehre vom Kosmos, galt noch vor sehen, dass das ganze Universum prinzipiell aus denselben
etwa hundert Jahren, auch lange nach dem Zeitalter der Grundbestandteilen besteht. Dabei wird sich zeigen, dass
Aufklärung, als rein spekulative Wissenschaft, als Teilgebiet unsere eigene Existenz eng mit den Vorgängen verknüpft ist,
der Philosophie. Die Chancen, über diesen Aspekt jemals die sich „dort draußen“ abspielen. In gewisser Weise stammen
konkrete und überprüfbare Aussagen machen zu können, wir sogar selbst von den Sternen ab, und der Urknall fand
schienen eher gering, und noch geringer die Möglichkeiten, genau hier auf unserer Fingerspitze statt.
hier experimentell weiter zu kommen. Diese Situation hat Das immens gewachsene Wissen über das Universum hat
sich seither in vieler Hinsicht grundlegend geändert. Wir in der modernen Kosmologie nicht nur zur Ausgestaltung und
haben begonnen, das Werden des Universums ein gutes Präzisierung vorhandener und in gewissem Sinne gesicher-
Stück weit zu verstehen. Der faustische Forschergeist kann ter Modelle geführt. In einer Sturm-und-Drang-Zeit dieser
Glaube und Metaphysik mittlerweile durch zuverlässig lebendigen Wissenschaft beobachtet man gegenwärtig die
messbare Fakten ersetzen. Entstehung teils abenteuerlicher Hypothesen, die momentan
An dieser Stelle sollen einige der soeben angerissenen experimentell weder bewiesen und noch widerlegt werden
Urfragen im Licht der aktuellsten Erkenntnisse und The- können. Obwohl sich mancher Theoretiker damit auf dünnes
orien angegangen werden. Wir wollen in die Geschichten Eis begibt, können derlei Gedankenspiele sich sehr wohl als
hineinhören und die Bilder sehen, welche die inzwischen fruchtbar erweisen. Im letzten Teil dieses Kapitels wollen wir
zahlreichen Unterdisziplinen der Astronomie aus den Strah- daher kurz auf einige dieser avantgardistischen Hypothesen
lungen herauslesen, die uns aus dem Universum erreichen. eingehen.
Was sagt uns die Astronomie mit ihren immer feiner ausge-
klügelten Teleskopsystemen über das Sein und Werden der
Materie? Was kann man modellieren? Und was zeigen uns
die aufwändigen Computersimulationen, die die Entwick-
lung des Kosmos beschreiben sollen? Wir wollen uns auch
damit beschäftigen, wie Messungen der Elementarteilchen-
physiker, also Beobachtungen des Allerkleinsten, zu unserem
Verständnis der Welt im Großen beitragen. Messungen, die
sie an Teilchenbeschleunigern und Detektoren durchführen,
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Kosmologie
Welt des Großen und des ganz nur deshalb so wichtig, weil sie uns Aufschluss
Großen über die Verteilung der Materie im Universum
gibt, sondern auch, weil sie uns die vom irdischen
Sag mir, was die Sternlein sind... Labor bestens bekannten Bausteine der Welt unter
Extrembedingungen zeigen kann.
Kosmos heißt auf griechisch Ordnung. Gemeint Auch wenn das Licht, eine elektromagnetische
ist die Ordnung der Welt im Ganzen. Irgendwie Strahlung, die im Wortsinne „offensichtlichsten“
passt dieser Begriff zu uns Menschen wie ein Antworten auf das Wo und Wie der Materie gibt,
zu großes Hemd. Das Universum als Ganzes so sind zum Verständnis der Strukturen und Pro-
begreifen zu wollen, ist doch wohl Hybris und zesse im Universum zusätzlich Erkenntnisse über
Blasphemie! Aber sollten wir uns mit weniger zu- die Grundkräfte unentbehrlich. Da wäre zunächst
frieden geben? Staunen, unser Leben genießen – die Gravitationskraft. Sie gilt, was ihre Intensität
und wieder so ahnungslos von dieser Welt ver- zwischen Elementarteilchen anbelangt, als extrem
schwinden, wie wir gekommen sind? Ist es nicht schwache Kraft. Wenn wir die äußerst schwache
sogar ein wesentlicher Teil des Menschseins, dass Anziehung messen wollen, die zwei Massen von
445
KAPITEL 11 Kosmologie
Die schwache Kraft macht sich nur durch Auch GALILEI vermutete eine endliche Geschwin-
eine bestimmte Art von Radioaktivität (dem digkeit des Lichts. Seine einfachen Versuche, diese
β-Zerfall) bemerkbar, der wir im täglichen Leben über eine nur drei Kilometer lange Strecke zu
kaum begegnen. Von der „Starken Kraft“ hängt ermitteln, waren allerdings angesichts der da-
die Stabilität der Teilchen im Atomkern ab. Von maligen Messgenauigkeit von vorneherein zum
ihr bekommen wir absurderweise gerade deshalb Scheitern verurteilt. Dem dänischen Astronomen
so wenig mit, weil sie viel stärker als die elektro- OLE CHRISTENSEN RØMER R (1644 – 1710) fiel die
11-2 magnetische Kraft ist. Fast perfekt schafft sie es, endliche Geschwindigkeit erstmals anhand der
Ibn al Haitham (Alhazen). die Kernteilchen zusammenzuhalten, sodass sich Verfinsterungen der Jupitermonde durch ihren
Dieser arabische Wis- deren Bestandteile, die Quarks, kaum auffällig Planeten auf. Sie traten gegenüber den damals von
senschaftler lieferte eine
korrekte Vorstellung vom nach außen zeigen. GIOVAV NNI DOMENICO CASSINI (1625 –1712) genau
Licht, das sich mit endli- vorausberechneten Zeitpunkten stets etwas später
cher Geschwindigkeit von ein, wenn sich die Erde in größerer Entfernung be-
den gesehenen Körpern Blick in die Vergangenheit
zum Auge hin ausbreitet. fand. CHRISTIAAN HUYGENS (1629 – 1695) berech-
Bei der Interpretation astronomischer Bilder aus nete aus dieser Zeitverschiebung einen (allerdings
den Tiefen des Alls ist zunächst etwas Grundlegen- noch um etwa 30 Prozent zu niedrigen) Wert von
Licht des zu beachten, das in unserer täglichen Sehweise c. Der heutige Wert der Lichtgeschwindigkeit c
ist elektromagnetische
Strahlung. Ihre Quanten auf der Erde keine Entsprechung findet: Es ist eine beträgt exakt 299 792,458 m/s. Dieser Wert wurde
werden Photonen ge- Zeitmaschine. Wir sind in der Astronomie mit der 1983 im SI-System der Maßeinheiten unter Neu-
nannt. Endlichkeit der Lichtgeschwindigkeit konfron- definition des Meters zum Standard erklärt und
Im engeren Sinn: tiert. Physiker bezeichnen die Lichtgeschwindig- festgeschrieben. Er beruht auf den zu diesem Zeit-
sichtbares Licht (Wellen- keit mit dem Formelbuchstaben c. punkt vorliegenden genauesten Messungen.
länge ca. 400 – 800 nm) Ihr Wert ist bezogen auf Bewegungen des Eine direkte Folge der endlichen Lichtge-
Im weiteren Sinn: menschlichen Alltags und für unsere vergleichs- schwindigkeit ist natürlich, dass wir beim Blick
Strahlung des gesamten weise langsam reagierenden Sinne extrem hoch, zu ferneren Objekten im Kosmos unfreiwillig auch
elektromagnetischen aber eben doch nicht unendlich. Während in der weiter in die Vergangenheit hinein blicken. Seit
Spektrums
griechischen Antike, etwa bei EMPEDOKLES (ÅDie EINSTEINs Erkenntnissen über die Relativität ist
Gegensatz vier Elemente – Empedokles, Seite 33), schon ein allgemein anerkanntes Grundprinzip, dass c
Teilchenstrahlung besteht die Vorstellung eines nicht unendlich schnellen die höchste Geschwindigkeit ist, mit der sich Teil-
aus Teilchen mit einer von
null verschiedenen Ruhe-
Sehvorgangs auftauchte, wurde damals fälschli- chen und Wellen und damit Informationen in der
masse. cherweise ein vom Auge ausgehender Sehstrahl Welt ausbreiten können, quasi also eine universelle
angenommen. Hundert Jahre später ging ARISTO- Geschwindigkeitsbeschränkung, wirksamer, als sie
TELES wohl von Licht aus, das von den Körpern sich jede Stadtverwaltung wünschen kann. Aber
Die vier physikalischen zum Auge gelangt, jedoch nahm er wiederum eine es kommt noch schlimmer. Durch EINSTEINs be-
Grundkräfte der Welt unendliche Geschwindigkeit an – ein Irrtum, der rühmte Beziehung zwischen Energie und Materie
s %LEKTROMAGNETISMUS
im westlichen Kulturkreis lange tradiert wurde. Zu (E= mc2) wissen wir, dass die Masse eines im Ver-r
s 'RAVITATION einem Modell des Lichts, das mit unserer heutigen hältnis zu uns schnell bewegten Teilchens höher
s 3CHWACHE +RAFT Vorstellung vergleichbar war, kam der aus der sein muss als seine Ruhemasse. Beschleunigen
s 3TARKE +RAFT
Stadt Basra im heutigen Irak stammende Wissen- wir nämlich ein solches Teilchen, so stecken wir
schaftler IBN AL-HAITHAM (965 – 1039). Er wurde ja sozusagen Masse in Form von Energie hinein.
im Westen eher unter seinem latinisierten Namen Das ist fatal. Denn nun müssen wir noch mehr
ALHAZEN N bekannt und gilt als „Vater der Optik“, Energie aufbringen, um es noch ein klein wenig
manchmal sogar als erster echter Wissenschaftler mehr zu beschleunigen. Schließlich würde alle
überhaupt. Auch durch direkte Untersuchungen Energie des Universums nicht mehr ausreichen, um
11-3 an Augen gelangte er zur Vorstellung von Licht, selbst das kleinste ruhemassenbehaftete Elementar-r
Gravitationsgesetz. Die das sich von den gesehenen Objekten ausgehend teilchen auf exakt Lichtgeschwindigkeit oder gar
Kraft F hängt über die
sehr kleine Gravitations-
zum Auge hin fortpflanzt – und zwar mit endli- darüber hinaus zu beschleunigen. In unserem Bild
konstante G mit den be- cher, wenn auch sehr hoher Geschwindigkeit. der Geschwindigkeitsbeschränkung hat also ein
teiligten Massen (m1,m2) 11-4
und dem Quadrat der Ent- Blick in die Vergangenheit. Sie sehen diese Buchstaben, wie sie vor ungefähr einer Nanosekunde ausgesehen haben.
fernung r zusammen. Um die Distanz von ca. 30 cm vom Blatt zu Ihrem Auge oder entlang der am unteren Seitenrand abgebildeten Strecke
von A nach B zurückzulegen, benötigt das Licht ca. 1 Nanosekunde (eine Milliardstel Sekunde). In etwas mehr als einer
Sekunde erreicht ein Lichtstrahl von der Erde aus den Mond.
A
Erde, Wasser, Luft und Feuer
AB = 1 Nanolichtsekunde B Lichtgeschwindigkeit
im Vakuum
448
Erde, Wasser, Luft und Feuer
bezüglich der Beugungsunschärfe wie ein viel 0,14 m Isaak NEWTONs Teleskop 1670
größeres virtuelles Instrument verhält, dessen 2,4 m HST Hubble Space Telescope 1990
wirksamer Durchmesser ungefähr dem Abstand 4,2 m WHT WILHELM HERSCHEL Telescope 1987
5,08 m Hale-Teleskop Mt. Palomar 1947
der Teilspiegel voneinander entspricht.
2 x 8,4 m LBT Large Binocular Telescope 2007
Dieses Verfahren hat man sich bei der Ra-
4 x 8,2 m VLT Very Large Telescope 1998
dioastronomie abgeschaut, wo es allerdings viel
2 x 6,5 m Magellan Telescope 2000
leichter durchgeführt werden kann. Stärke und 10,4 m GTC Gran Telescope Canarias 2007
Phasenverlauf von Radiowellen lassen sich zum 11,4 m HET Hobby-Eberly-Teleskop 1999
einen relativ leicht aufzeichnen, zum anderen 11,4 m SALT South African Large Telescope 2005
besitzen sie längere einheitliche Wellenzüge (Ko- 30 m TMT Thirty Meter Telescope 2018?
härenzlängen). Die Überlagerung zu einem hoch- ca. 40 m E-ELT European Extremely Large 2016?
auflösenden Bild kann im Radiobereich sogar Telescope
100 m OLT Overwhelmingly Large Tele- >2020
„offline“ mit aufgezeichneten Daten erfolgen.
scope (Studie)
Im Gegensatz dazu bringt man die Wellenzüge
im optischen und im infraroten Spektralbereich nauer Interpretation) etwas über die Menge der
direkt zur Interferenz. Das Interferometer „Very im jeweiligen Gemisch vorhandenen Atome und
Large Telescope (VLT)“ in Chile kann so Bilder Ionen. Fast ironisch ist es, dass zu COMTEs Zeit die
von vier 8,2-Meter-Teleskopen zusammenführen. grundsätzlichen Beobachtungen für die Spektral-
Dabei werden die unvermeidlichen Verbiegungen analyse bereits vorlagen. JOSEPH VON FRAUNHOFER
der 430 Tonnen schweren Einzelspiegel über Ak- hatte 1814 ein Spektroskop entwickelt und begon-
tuatoren kompensiert. Ihre Oberflächen erreichen nen, das Sonnenspektrum zu untersuchen, ohne
eine Genauigkeit im Bereich von etwa 20 nm. aber die richtigen Schlüsse zu ziehen. Dies gelang
Weitere Fortschritte, die für Instrumente wie erst 1860 den beiden Forschern GUSTA TAV ROBERT
dieses notwendig waren, betreffen die Empfind- KIRCHHOFF und ROBERT WILHELM BUNSEN. Elf
lichkeit der Bildaufnahmesysteme, die zeitliche Jahre nach COMTEs Tod, nämlich 1868, gelang es
Auflösung der Datenerfassung und die Möglich- seinem Landsmann PIERRE JANSSEN (1824 – 1907) 11-9
Spiegeldurchmesser. Aus-
keit paralleler Auswertung großer Datenmengen. und dem Engländer JOSEPH NORMAN LOCKYER
wahl einiger historischer,
(1836–1920) sogar, das Element Helium auf der aktueller und geplanter
Spektroskopie Sonne zu entdecken, bevor es 1882 von LUIGI optischer Instrumente.
PALMIERI (1807 – 1896) auf der Erde nachgewiesen Das ursprünglich mit 42
Metern Spiegeldurchmes-
Im Jahr 1835 schrieb ein ansonsten eher tech- werden konnte. ser geplante europäisch-
nikgläubiger, einflussreicher französischer Philo- Die Spektroskopie ist bis heute das macht- brasilianische E-ELT wurde
soph, AUGUSTE COMTE (1798 –1857), dass es den vollste Instrument der Astronomen, das uns die allerdings aus Kosten-
gründen auf 39,6 Meter
Menschen nie und mit keiner Methode gelingen detailliertesten Informationen aus entfernten reduziert.
werde, den chemischen Aufbau der Sterne zu Winkeln des Universums und aus dessen Urzeit
ergründen. Und doch ist das im Prinzip ganz liefert. Im Jahr 2008 konnte mit dieser Methode
einfach: Licht trägt alle nötige Information über sogar erstmals ein organisches Molekül, nämlich
Milliarden Lichtjahre aus den entferntesten Win- Methan, auf dem Planeten eines fremden Sterns
keln des Universums und vom Anfang der Zeit nachgewiesen werden. So haben wir also die selt-
bis hierher vor unsere Haustür. Genau so, wie wir same und überraschende Situation, dass wir über
das Licht leuchtender Gase im Labor untersuchen die Zusammensetzung eines Planeten in Tausen-
können, indem wir es mit einem Prisma oder ei- den von Lichtjahren Entfernung genauer Bescheid
nem Beugungsgitter in seine verschiedenfarbigen wissen als z.B. über die Zusammensetzung des
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
Spektrallinien zerlegen. So können wir auch das Erdmantels nur 500km unter uns.
Licht der entferntesten Sterne untersuchen. Viel
genauer als ein genetischer Fingerabdruck einen Giganten blicken zum Himmel
Menschen, beschreiben die Spektrallinien im Licht
eines angeregten Atoms, um welches Element es All dies zusammengenommen hat eine regelrechte 11-10
sich handelt, außerdem seine Temperatur und Bauwut für immer größere Teleskope ausgelöst, Riesenteleskope. Das VLT
ggf. vorhandene Magnetfelder, und ob es sich die uns mit Instrumenten ausstattet, von denen vor kombiniert die wichtigsten
neuen Technologien zur
auf uns zu oder von uns weg bewegt. Die relative kurzem noch niemand geträumt hätte. Der mög- erdgebundenen Beobach-
Intensität sagt uns (wenn auch erst bei sehr ge- lich gewordene Zuwachs an Spiegelgröße (ÅAb- tung.
449
bildung 11-9) ist so gewaltig, dass wir in der Lage
sein werden, das Aufflammen der ersten Galaxien
im Universum zu sehen und die Atmosphären von
Planeten anderer Sterne zu untersuchen.
Wir sollten uns diese früher für unglaublich
gehaltenen Fortschritte der Teleskope stets vor
Augen halten, wenn jemand davon spricht, et-
was sei „grundsätzlich unmöglich“.
Radioteleskope
450
Erde, Wasser, Luft und Feuer
dieser Schnellläufer hinter sich herzieht. Im Rönt- Raumflugkörpern lässt sich die kosmische Strah-
genbereich lassen sich z. B. aktive Galaxienkerne lung direkt untersuchen. Doch die Forscher haben
beobachten, bei denen man davon ausgeht, dass sich Tricks ausgedacht, um auch hier auf der Erde
sich auf ein supermassives Schwarzes Loch einströ- nicht völlig „teilchenblind“ zu sein.
mende Materie bis zur Röntgenemission erhitzt.
Und im Bereich der Gammastrahlung werden die Kosmische Strahlung
noch rätselhaften Gammastrahlenbausbrüche und
?
zung der Lichtgeschwindigkeit halb enorm viel gewöhnliche Materie enthalten
c. Zweifel daran waren am 22. Gammastrahlungs-Teleskope und sehr empfindlich sein, um überhaupt einmal
September 2011 aufgekommen, einige der durch sie ausgelösten Kernprozesse
als namhafte Wissenschaftler des
CERN und des Gran-Sasso Neu- Die Quelle kosmischer Strahlung ist selbst mit aufzeichnen zu können. Solche „Teleskope“ für
trino-Observatoriums scheinbar richtungsspezifischen Instrumenten nicht einfach Neutrinos werden vorzugsweise tief unter der
eine etwas erhöhte Geschw Geschwindig- ausfindig zu machen, denn geladene Teilchen Erde installiert, um andere Störungen so weit
keitt gestoppt hatten.
Eine Überschreitung der Ge- werden im Gegensatz zu Licht stark von inter- wie möglich auszuschließen. Da die Erde für
ndigke c durch
schwindigkeit ch ein Teilche
Teilchen stellaren Magnetfeldern beeinflusst. Sie bewegen Neutrinos praktisch völlig transparent ist, könnte
– sei sie auch noch so gering – sich sozusagen „auf verschlungenen Wegen“ zu man von der Sonne kommende Teilchen eben so
könnte das Prinzip derr Kausalität
gefährden. Die Trennung zwischen
nnung zwisch
uns. Normalerweise kommen Teilchen der kos- gut am Tag beobachten wie in der Nacht, gleich-
Vergangenheit und nd Zukunft wäwäre mischen Strahlung im interstellaren Raum auch gültig, ob sie zuvor die ganze Erde durchdringen
deutig definier
nicht mehr eindeutig definiert. nicht allzu weit ohne Kollisionen. Aber gerade müssen oder nicht.
Spätestens im m März 2012 war der
ließlich durch exakte
Befund schließlich
diese Kollisionen helfen uns weiter. Denn dabei
Nachmessungen wiederlegt.
ungen wied entstehen noch in der Nähe der Strahlungsquel-
Warum erwähnen
rwähnen w wir hier eine of- len kurzlebige Teilchen (Pionen), die bei ihrem Asteroiden und Planetenmissionen
fensichtliche Fehlmessung? Ganz
he Fehlm
Zerfall Gammastrahlung erzeugen. Diese erreicht als Informationsquelle
einfach deshalb:
shalb:
Allein die Tatsache, dass es den uns dann aber auf geradem Wege. So konnte mit
Wissenschaftlern gelang, dieses
tlern ge dem Fermi-Weltraumteleskop eine Quelle kosmi- Um außerirdische Materie nicht nur indirekt aus
so „ungeheuerliche“
heuerliche“ Resultat in scher Strahlung nachgewiesen werden: ein Ster- der Ferne untersuchen zu können, sondern sie
einer renommierten
ommierten Fa Fachzeitschrift
zu publizieren beweist, dass die
ieren beweist nentstehungsgebiet mit wenigen hundert Licht- tatsächlich in der Hand zu halten, waren wir bis
wissenschaftliche Methode heute
aftliche Met jahren Durchmesser, in dem laufend schwere vor wenigen Jahrzehnten auf die eher zufälligen
funktioniert und d sich
i wohltuend Sterne gebildet werden, die schon nach wenigen Funde von Meteoriten angewiesen, die auf der
von den Glaubenskriegen un-
terschiedlicher Lehrmeinungen Millionen Jahren Lebenszeit wieder explodieren. Erde niedergegangen sind. Ihre Untersuchung
früherer Jahrhunderte unterschei- Daraus lässt sich umgekehrt schließen, dass die erlaubte uns erste Vorstellungen davon, woraus
det. Jede Theorie kann durch wohl meisten kosmischen Strahlungsteilchen, andere Himmelskörper bestehen.
ein einziges reproduzierbares ihr
widersprechendes Resultat zu Fall die direkt bei uns ankommen, aus der näheren Den immensen Einfluss der Raumfahrt auf
gebracht werden. Umgebung der Sonne stammen. unsere Kenntnis von extraterrestrischer Materie
haben wir bereits in Form der zahlreichen er-
452
Erde, Wasser, Luft und Feuer
wähnten Weltraumobservatorien und Satelliten Mehrere Sonden sind gegenwärtig auf solchen
kennen gelernt. Aber diese Technologie gibt uns Wegen ohne Wiederkehr. Sie haben den direkten
auch die Möglichkeit, ganz direkt an Proben von Bereich unseres Sonnensystems verlassen und
Materie außerhalb der Erde heranzukommen, die bewegen sich weiter in „die unendlichen Weiten
nicht zufällig in unserem Vorgarten landen. Viele zwischen den Sternen“. Hier machten vor allem
Untersuchungen können nur an direkt gewon- die Raumsonden Pioneer 10 und 11 sowie Vo-
nenen Proben außerirdischen Materials durch- yager 1 und 2 von sich reden. Nach Besuchen
geführt werden. Meteore werden nämlich bei bei allen großen Planeten haben diese Raum-
Eintritt in die Erdatmosphäre enorm stark erhitzt fahrzeuge den interstellaren Raum erreicht. Wir
und verlieren dabei einen beträchtlichen Teil ihrer werden im Folgenden noch auf sie zu sprechen
Aussagekraft. Viele Untersuchungen, beispiels- kommen.
weise über den Gehalt an flüchtigen Substanzen Doch aller Euphorie für die Raumforschung
und die Mineralzusammensetzung, sind sehr viel zum Trotz darf man sich nicht darüber hinweg
aussagekräftiger geworden, seit man über Ver- r täuschen lassen, dass mit heutiger Antriebstech-
gleichsproben von den Apollo-Mondmissionen nologie noch keinerlei Hoffnung in Sicht ist, diese
der 1970er Jahre verfügt. Doch ein entsprechen- Art der Erkundung wesentlich über unser heimat- 11-14
der Besuch von Menschen auf dem nächsten, liches Sonnensystem hinaus betreiben zu können. Probenahme-Missionen.
möglichen Ziel bemannter Raumfahrt, dem Mars, Unsere Sonden werden erst nach Zehntausenden Seit der Zeit der Apollo-
Mondmissionen (oben)
liegt leider noch in weiter Ferne. von Jahren in die Nähe anderer Sterne vorstoßen. wurden nur winzige
Um solche Untersuchungen an außerirdischem Bis dahin sind ihre Instrumente natürlich ohne Proben außerirdischer Ma-
Material trotzdem durchzuführen, kann man jede Energie und wahrscheinlich von Strahlung terie von nicht immer voll
erfolgreichen Kometen-
automatische Landegeräte wie die berühmten zerstört. Zu ungeheuerlich sind die interstellaren und Asteroidenmissionen
Landegeräte „Pathfinder“ und „Spirit“ absetzen, oder gar die intergalaktischen Entfernungen. Um (Mitte) zurücktranspor-
die dies vor Ort erledigen. Doch damit ist man sie zu überwinden, müsste sich schon ein qualita- tiert. Allerdings konnten
mehrere Marsmissionen
deutlich eingeschränkt durch deren geringe Größe tiver Sprung in unseren physikalischen Theorien
(unten) der NASA Unter-
und durch die unflexible Gewinnung und Hand- und technischen Möglichkeiten ergeben. Aber suchungen an Mineralen
habung der Proben. Ein weiteres Problem: Man immerhin: Solche Sprünge gab es in den letzten vor Ort durchführen.
muss alle Untersuchungen vorab genau planen, Jahrhunderten bereits mehrfach.
also eigentlich schon wissen, wonach man sucht.
Nach dem Start neu entwickelte und verbesserte
Geräte lassen sich bei der oft Jahre später erfol- Wissen vom Kleinsten für das
genden Untersuchung nicht mehr einsetzen. Da ist Größte
es schon besser, Proben zur Erde zurückzubringen
und sie mit der ungleich breiteren Palette hier zur Ebenso wie die Beobachtung des Weltalls im Gro-
Verfügung stehender Methoden zu untersuchen. ßen tragen aber auch Teilchen- und Atomphysik
Wie anspruchsvoll solche Sonden ohne Einsatz dazu bei, kosmologische Prozesse besser zu ver- r
von Menschen sind, haben einige Missionen ge- stehen. Die Experimente, die wir auf der Erde real
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
zeigt, bei denen versucht wurde, Teilchen aus ausführen können, reichen zwar bei weitem nicht
Kometenschweifen einzusammeln. So hatte die an die Extreme von Druck, Dichte, Temperatur
im Jahr 2003 gestartete japanische Sonde „Haya- oder Feldstärke heran, die wir astronomisch beob-
busa“ (Wanderfalke) große technische Probleme achten, aber wir können sie dafür gezielt manipu-
beim Versuch einer Probennahme von der Ober- lieren, und ihre Ergebnisse lassen sich viel genauer
fläche eines Asteroiden. Sie fand im Juni 2010 analysieren. Die Kenntnisse der Eigenschaften 11-15
Teilchenbeschleuniger.
nur mühsam mit dem sekundären Ionentriebwerk von Atomen und Elementarteilchen, die wir auf Kenntnisse über den Auf-
und mit drei Jahren Verspätung zurück zur Erde. der Erde erforschen (ÅKapitel 10), helfen uns bau von Materieteilchen
Obwohl sie schließlich doch einige mikrosko- dabei, nicht nur die Prozesse im Inneren norma- und die Kräfte zwischen
ihnen sind unentbehrlich
pisch kleine Proben mitbrachte, hatte man sich ler Sterne zu erforschen. Daraus lassen sich auch
für das Verständnis des
viel mehr Material zur Untersuchung und damit Schlüsse über noch extremere Objekte ziehen, z.B. materiellen Aufbaus des
eindeutigere Aussagen erhofft. über das Verhalten sehr verdünnter interstellarer Universums. Sie werden
Noch viel schwieriger werden solche Missionen Materiewolken, extrem dichter Neutronensterne durch Experimente an mo-
dernen Teilchenbeschleu-
natürlich zu weiter entfernten Zielen im äuße- oder hochenergiereicher Prozesse in der Nähe nigern gewonnen (Bild:
ren Sonnensystem und darüber hinaus sein. aktiver Galaxienkerne. ATLAS-Detektor des LHC).
453
KAPITEL 11 Kosmologie
Das Universum im Computer quasi „auf Du und Du“. Sie wird als fermionische
Materie bezeichnet, wenn man sie gegen die Bo-
Nicht zuletzt hat auch die Entwicklung der Com- sonen des ÅStandardmodells der Teilchenphysik
putertechnologie der letzten Jahrzehnte auf viel- (Seite 427) abgrenzen will. Möchte man zum
fältige Weise zum kosmologischen Erkenntnis- Ausdruck bringen, dass ihre Masse hauptsäch-
gewinn beigetragen. Bereits erwähnt wurde die lich von den schweren Kernteilchen herrührt,
parallele Erfassung und Auswertung vieler Daten, spricht man von baryonischer Materie. Wir selbst
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
zum Beispiel bei Himmelsdurchmusterungen. Ge- bestehen daraus, ebenso alles, was wir anfassen
nau so sind die Physiker, die Teilchenbeschleu- können und alles was wir sehen. Vieles über diese
niger betreiben, zur Erfassung und Auswertung Materie haben wir in früheren Kapiteln kennenge-
der mittlerweile bei Kollisionsexperimenten an- lernt. Selbst das empfindlichste optische Teleskop
11-16 fallenden abenteuerlichen Datenmengen direkt zeigt uns nur diese einzige Sorte von Materie. Aus
Computersimulationen. von Supercomputer-Netzwerken abhängig. Aber spektroskopischen Untersuchungen wissen wir
Mathematische Modelle geballte Rechenleistung wird stets für die immer mit großer Sicherheit, dass auch entfernte Sterne
auf Basis der Eigenschaf-
ten von Elementarteilchen detaillierteren Modellrechnungen in Astronomie, nur aus den uns von der Erde bekannten Atomen
und der beteiligten Kräfte Physik und Kosmologie benötigt. und Teilchen bestehen. Müssen wir daher auch
führen zu Voraussagen In gewisser Weise wurde der Kosmos selbst in annehmen, dass uns dort draußen langweilige
über die Strukturbildung
im Universum, die durch
Form von Modellrechnungen mit Computern hier Wiederholungen altbekannter Objekte erwarten?
Vergleich mit der beob- auf der Erde „experimentell“ zugänglich. Neue Die Astronomie galt seit GALILEI GALILEO
achteten Realität geprüft Theorien lassen sich damit erstmals auf ihre Plau- und ISAAK NEWTON als Wissenschaft, in der die
werden können.
sibilität überprüfen und unbekannte Parameter Dinge im wahrsten Sinne in wohlgeordneten
so lange variieren, bis Modell und Beobachtung Bahnen ablaufen und in sehr klaren Katego-
übereinstimmen. Allerdings sollte man Plausibili- rien existieren. Monde laufen um Planeten,
tät nicht mit gesicherter Erkenntnis verwechseln. Planeten um Sterne. Später entdeckte WILHELM
Blickt man in die Wissenschaftsgeschichte, so fin- HERSCHEL(1738 – 1822), dass sich diese wiede-
det man durchaus Beispiele plausibler Theorien, rum um das Zentrum von Milchstraßen bewe-
die sich im Nachhinein eben doch als Irrwege gen. Dazwischen etwas teilweise ionisiertes Gas,
erwiesen. und fertig war das Rezept für ein Universum.
Vor diesem Hintergrund muss man auch Doch die Entdeckungen der letzten zwei Jahr-
Erkenntnisse zu Modellen der kosmologischen zehnte haben viele der klaren Abgrenzungen zwi-
Entwicklung, sogar bei breiter Zustimmung der schen den Aggregationsformen von Materie im
Forschergemeinde, stets mit Vorsicht betrach- Weltall aufgeweicht. Allzu leichtfertig haben wir
ten. Von alten dogmatischen Lehren sollte sich die Verhältnisse in unserem Sonnensystem und in
lebendige Wissenschaft eben dadurch unter- seiner unmittelbaren Nähe als allgemeine Gesetze
scheiden, dass wir Eines nicht aus den Augen betrachtet und auf alle anderen Raum- und Zeit-
verlieren: Alle Erkenntnis ist vorläufig. Eine regionen übertragen. Heute kennen wir Planeten
Theorie kann durch tausend Experimente und um fremde Sonnen, die nicht in das Schema von
Simulationen bestätigt sein – doch eine einzige Gesteinsplanet oder Gasplanet passen, das in
gesicherte Beobachtung, die ihr widerspricht, unserem Sonnensystem gut funktioniert. Wir
bringt sie unweigerlich zu Fall. kennen kleine kühle Sterne, die in einer Reihe
stehen mit großen und heißen Gasplaneten. Ein
typisches Zwitterwesen ist etwa der im Jahr 2008
Materie im Universum entdeckte superkalte braune Zwerg mit der Be-
zeichnung CFBDS0059. Das ca. 40 Lichtjahre
Welten aus Gas und Sternenstaub entfernte Objekt hat ca. 15 – 30 Jupitermassen.
Imposant, aber nicht genug für einen ausgewach-
Wenn wir von der Verteilung der Materie im senen Stern mit eigener Kernfusion. Die Oberflä-
Universum reden, so meinen wir dabei zumeist chentemperatur wurde zu ca. 350 °C bestimmt.
gewöhnliche Materie im Sinne von Molekülen, Heute kennen wir „entartete“ Materie in Neu-
Atomen und Ionen sowie Elektronen und anderen tronensternen von Planetengröße sowie Schwarze
Elementarteilchen, die mit elektromagnetischer Löcher und haben Hinweise auf Dunkle Materie,
Strahlung wechselwirken. Mit diesen sind wir die womöglich aus ganz anderen Teilchen besteht.
454
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Wir kennen sogar ganze Galaxien, die anscheinend und Licht sind, haben uns die zurückliegenden
nicht einen einzigen Stern enthalten, und Monster, Eis- und Warmzeiten drastisch vor Augen ge-
Massen aus
die wie kosmische Leuchtfeuer Röntgenstrahlung führt: Seinerzeit schwankte die Oberflächentem-
Umlaufbahnen
zuhauf auswerfen. Trotzdem sollen uns die klas- peratur gerade einmal um ca. 5 Grad Celsius.
ermitteln
sischen Kategorien in diesem Kapitel vorläufig als Deren Ursache ist übrigens noch immer nicht Nach dem dritten Kep-
Richtschnur dienen. An ihr wollen wir uns, aus- abschließend geklärt. Sie werden bisher meist den lerschen Gesetz gilt:
„Die Quadrate der
gehend von unserem heimatlichen Sonnensystem, Milankovitch-Zyklen zugeschrieben, periodischen Umlaufzeiten zweier
hinaustasten in das nach und nach etwas besser Änderungen der Präzession (100 000 Jahre) und Planeten verhalten sich
verstandene, ferne Universum und damit auch der Neigung der Erdachse (41 000 Jahre). Zusam- wie die Kuben der gro-
ßen Bahnhalbachsen“:
zurück in die Frühzeit seiner Entstehung. men mit einem auf der Schwankung der Präzes-
sion (18 000– 23000 Jahre) beruhenden weiteren T12 / r13 = T22 / r23 = k
Zyklus könnte dies helfen, die Unregelmäßigkeit
Die Konstante k ergibt
Sonne unserer himmlischen Heizung zu erklären. Der sich aus dem Gravi-
ungarische Astrophysiker ROBERT EHRLICH von tationsgesetz und der
Wir nehmen unsere Sonne gerne als selbstver- der George-Mason-Universität in Fairfax meint Formel für die Zentrifu-
galkraft zu:
ständlich hin. Und irgendwie ist sie es ja auch, seit kurzem aufgrund eines theoretischen Modells
denn von nichts Anderem außerhalb der Erde sind über das Magnetfeld im äußeren Kern der Sonne T2 / r3 = 4π2 / (GMS)
wir so unmittelbar abhängig wie von dem Glut- leichte Schwankungen der Leuchtkraft mit Peri-
mit MS = Sonnenmasse
ofen vor unserer Haustür. Ohne die Sonne wären oden von 100000 bzw. 41000 Jahren erklären
wir nicht hier. Selbstverständlich muss sie funk- zu können. Mit den Daten der Erd-
tionieren. Verschwände sie von einem Augen- Wieviel von der Strahlung der Sonne erreicht bahn (Entfernung von
blick zum nächsten, so würden wir das nach we- nun eigentlich die Erde? Man bezeichnet die Strah- der Sonne
r = 1,5 · 1011 m; Um-
nig mehr als acht Minuten zu spüren bekommen. lungsleistung, die im mittleren Abstand der Erde laufzeit T = 365,25 d
Das Schaudern und Frösteln, von dem Beobach- von der Sonne pro Flächeneinheit oberhalb der = 3,16 · 107 s) lässt sich
ter einer totalen Sonnenfinsternis berichten, gibt Atmosphäre ankommt, als Solarkonstante E0. Als somit die Sonnenmasse
durch Umstellung der
uns einen schwachen Abglanz vom Beginn einer Mittelwert hat die Weltorganisation für Metereo- Gleichung ganz einfach
solchen Apokalypse. Die Erde würde ihre Ellip- logie im Jahr 1982 die Zahl 1367 W/m2 festgelegt. bestimmen:
senbahn verlassen und tangential in die Dun- Sie ist allerdings keine wirkliche Konstante. Sie
MS = 4π2r3/(GT
T2)
kelheit des Weltraums enteilen. Binnen weniger schwankt z.B. mit dem Sonnenfleckenzyklus um
Tage würde die Temperatur an der Erdoberflä- etwa 0,1 Prozent. Im Laufe der normalen Entwick- MS = 1,989 · 1030 kg
che an allen Stellen weit unter den Gefrierpunkt lung der Sonne nimmt ihr Wert außerdem um ca.
Ganz analog erhält
abfallen, alle Pflanzen würden ohne Licht die 10 Prozent pro Milliarde Jahren zu. Seit der Zeit man übrigens aus den
Photosynthese einstellen und zusammen mit den der ältesten Lebensrelikte ist die Sonne somit um Bahndaten des Mondes
Lebewesen der Oberfläche erfrieren. Die Ozeane ca.30 Prozent heller geworden. Für das irdische die Erdmasse zu ME =
5,9736 · 1024 kg.
würden zufrieren, der Wasserdampf aus der At- Leben könnte dies bedeuten, dass es auf der Erde
mosphäre kondensieren, später würde sich gar nicht erst dann ungemütlich wird, wenn die Sonne Die Sonne der Antike
der Sauerstoff und der Stickstoff auf dem Eis im Laufe ihrer natürlichen Entwicklung nach wei- Mitte des fünften Jahr-
hunderts v. Chr. hielt der
niederschlagen. Denn von der Sonne erreicht uns teren ca. 5 Milliarden Jahren zu einem Roten griechische Philosoph
heute etwa 5000 Mal mehr Energie, als aus dem Riesenstern wird, sondern schon deutlich früher. ANAXAGORAS die Sonne
heißen Erdinneren dringt. Die Ozeane würden für eine glühende Ei-
senkugel, kaum größer
mit ihrer dann recht guten Wärmeisolierung und Die Sonne wird gewogen als Griechenland. Die
mit ihrer hohen Wärmekapazität wohl noch Vorstellung von einer
eine Weile unter dem Eispanzer flüssig bleiben, Von der Sonne haben wir erfahren, dass sie ganz hauptsächlich aus Eisen
bestehenden Sonne
aber auch sie würden wahrscheinlich am Ende und gar aus Plasmen besteht. Ihr Durchmesser wirkte noch bis Anfang
bis auf den Grund zufrieren. Abgesehen von ist ca. 109 Mal größer als der der Erde, ihr Volu- des zwanzigsten Jahr-
einigen in tiefen Gesteinsschichten auf der Basis men gar 1,3 Millionen Mal so groß. Was wiegt hunderts nach, zumal
Spektrallinien des Eisens
chemischer Energiegewinnung gemächlich le- sie? Nun, man muss sie natürlich nicht auf eine
im Sonnenspektrum
benden Archaeen und Bakterien sowie wenigen Waage legen, um das zu erfahren. Die Astro- prominent auftreten. Erst
Extremophilen in der Nähe von Vulkanschloten nomen kennen eine einfache Möglichkeit, die ein besseres Verständnis
würde dann alles Leben der Erde erlöschen. Masse jedes Körpers zu bestimmen, der von der Ionisierungsprozesse
führte zur Aufklärung der
Wie empfindlich abhängig wir von einer einem anderen umlaufen wird (ÅKasten Rand- tatsächlichen Zusammen-
gleichmäßigen Energiezufuhr in Form von Wärme spalte). setzung.
455
KAPITEL 11 Kosmologie
456
Erde, Wasser, Luft und Feuer
sich deshalb nur auf den Oberflächen kühlerer, sind nur 1/6000 der Sonnenmasse). In Erdnähe hat
rot leuchtender Sterne halten. der Sonnenwind noch eine Dichte von etwa 5 Mil-
lionen Teilchen pro Kubikmeter. Insbesondere bei
Energiequelle der Sonne verstärkter Sonnenaktivität und koronalen Mas-
senauswürfen kann er allerdings in seiner Intensi-
Die Freisetzung von Energie in der Sonne beruht tät und Zusammensetzung beträchtlich schwan-
auf Fusionsreaktionen, die in den 1920er Jahren ken. Man spricht geradezu von „Weltraumwetter“
von BETHE und WEIZSÄCKER aufgeklärt wurden und verfolgt dieses mit Argusaugen. Denn die Son-
(ÅDie Rätsel des Atomkerns, Seite 420), haupt- nenstürme können Satelliten und empfindliche In-
sächlich auf der Verschmelzung von Wasser- frastrukturen auf der Erdoberfläche beschädigen
stoff- zu Heliumkernen. Dabei wird ein kleiner und für Astronauten gefährlich werden. Satelliten
Prozentsatz (etwa 4 Prozent) der Masse des werden daher bei schlechtem „Wetter“ notfalls
Wasserstoffs in Energie umgewandelt. Dieser für abgeschaltet, nachdem sie in eine möglichst ge-
uns so lebenswichtige Prozess läuft in einem sehr schützte Richtung gedreht wurden.
dichten und heißen Plasma ab. Die dazu notwen-
digen Bedingungen werden nur im Zentrum der Sonnenneutrinos
Sonne erreicht, das nicht mehr als 1,6 Prozent
ihres Volumens ausmacht. Die dort freigesetzte Außer dem Sonnenwind aus gewöhnlicher Mate-
Strahlungsenergie muss sich wegen der perma- rie im Plasmazustand sendet jeder Stern als Ne-
nenten Streuprozesse in dem dichten Plasma in benprodukt der im Zentralbereich stattfindenden
457
KAPITEL 11 Kosmologie
Sonntag (engl. Sonne in mindestens Dutzenden von Millionen Kilome- der Planetenbahnen durch JOHANNES KEPLER
sunday tern messen die Entfernungen zu den nächsten (1571 – 1630) zeigte sich die klare Überlegenheit
Montag (ital. Mond Planeten und deren Monden. Unsere direkten des heliozentrischen Weltbildes. Nach den von
lunedí)
Nachbarplaneten sind Venus und Mars des inne- im entdeckten Gesetzen der Himmelsmechanik
Dienstag (ital. Mars ren Sonnensystems. Kennzeichnend für diese umrunden die Planeten die Sonne (von klei-
martedi)
Mittwoch (ital. Merkur
Körper ist, dass sie in ihrem chemischen Aufbau neren Störungen durch andere Körper einmal
mer- der Erde ähneln. Merkur, Venus, die Erde selbst, abgesehen) auf Ellipsenbahnen, in deren einem
coledi) ihr Mond und Mars werden deshalb auch als Brennpunkt die Sonne steht. Weiter entfernte
Donnerstag (ital. Jovis terrestrische Planeten oder Gesteinsplaneten be- Planeten benötigen für eine Umrundung deut-
giovedi) (Jupiter)
zeichnet und den äußeren Gasplaneten Jupiter, lich länger als solche nahe der Sonne. Das dritte
Freitag (ital. Venus
venerdi) (Freia) Saturn, Uranus und Neptun gegenübergestellt. Keplersche Gesetz besagt, dass sich die Quad-
Samstag (engl. Saturn rate der Umlaufzeiten zweier Planeten wie die
saturday) dritten Potenzen der großen Halbachsen ihrer
Die Bildung des Planetensystems
Bahnellipsen verhalten. Das lässt sich durch eine
Seit der Entstehung unserer Art gab es Menschen, Formel deutlich kürzer fassen: T12 / T22 = r13 / r23
die von den Sternen so fasziniert waren, dass sie (dabei stehen die Indizes 1 und 2 für zwei be-
genauere Beobachtungen anstellten. Heute zeugen liebige Planeten, T für Umlaufzeit und r für die
hiervon noch Bauwerke wie Stonehenge, deren große Halbachse der Bahn). Aber auch darüber
exakte Ausrichtung beträchtliche astronomische hinaus zeigen sich auffällige Regelmäßigkeiten.
Kenntnisse offenbart. Seit vorgeschichtlicher Zeit So bewegen sich alle Planeten fast in der glei-
ist auch bekannt, dass einige der „Sterne“ sich chen Bahnebene um die Sonne. Die Bahnebene
relativ zum restlichen Himmelsgewölbe bewegen. der Erde wird Ekliptik genannt. Alle Planeten
Sie wurden Wandelsterne genannt, oder Planeten zeigen auch den gleichen Umlaufsinn. Dieser
(von griechisch planetes, umherschweifen). In Zu- Zusammenhang ist kein Zufall.
sammenhang mit dem damaligen geozentrischen Als es dann ISAAC NEWTON sogar gelang, die
Weltbild wurden auch die Sonne und der Mond keplerschen Ellipsen auf die Gravitationskraft
als Planeten bezeichnet. Noch heute erinnern da- zurückzuführen, die von fallenden Körpern
ran Aussprüche wie „heute brennt der Planet auf der Erde bekannt war, war der Triumph
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
wieder herunter“ an einem heißen Sommertag. vollkommen. Erst mit der Relativitätstheorie
Die Wochentage wurden ursprünglich nach ALBERT EINSTEINs ergaben sich daran zweihun-
diesen mit bloßem Auge sichtbaren Wandel- dert Jahre später für starke Gravitationsfelder
sternen benannt, die wiederum antiken Göttern winzige Korrekturen.
11-20 (ÅRandspalte) zugeordnet waren. In den einzel- Unter dem Eindruck dieser Entwicklungen
Protoplanetare Scheibe. nen Sprachen ist die Herkunft unterschiedlich sah IMMANUEL KANT (1724 – 1804), der vielleicht
Wie KANT und LAPLACE
bereits im 18. Jahrhun-
leicht zu erkennen, da die lateinischen Götter wichtigste Philosoph der Aufklärung, in seiner
dert vermuteten, sind teilweise durch die jeweils lokalen Entsprechun- „Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des
neu entstandene Sterne gen ersetzt wurden. Himmels“ (1755) auch einen entwicklungsge-
oft von einer Staub- und
Gasscheibe umgeben, aus
Natürlich war bereits lange vor der Antike schichtlichen Zusammenhang.
denen sich Planeten bilden klar, dass es sich bei der Relativbewegung der Er schlug als erster das Modell der Planeten-
können. Planeten keineswegs um ein „Umherirren“ han- entstehung aus einer solaren Gas- oder Stauburr-
Bild oben: künstlerische
delt, sondern um reguläre und voraussagbare wolke vor, das im Kern bis heute Bestand hat. Ein
Darstellung, darunter:
Originalaufnahmen der Bahnen, auch wenn diese einige unschöne Beson- ähnliches Modell wurde unabhängig von ihm gut
Protoplanetaren Scheibe derheiten zeigten, wie zeitweise eine scheinbare 40 Jahre später auch von PIERRE-SIMON LAPLACE
PRC95-45c (M. J. Mc- Rückwärtsbewegung. aufgestellt und in seinem Werk „Exposition du
Caughrean, MPIA und C.
R. O'Dell, Rice University, Das lange umstrittene heliozentrische Welt- systeme du monde“ (Darstellung des Weltsys-
NASA) bild des NIKOLAUS KOPERNIKUS (1473 – 1543) tems, 1796) veröffentlicht. Die Hypothese ging
brachte hier Fortschritte, wenn auch noch nicht als Kant-Laplace-Hypothese in die Wissenschafts-
sofort die erhoffte Vereinfachung und Verbesse- geschichte ein. Eine hohe philosophische Bedeu-
rung der Vorhersagen. Erst mit der Beschreibung tung wird ihr vor allem deshalb zugemessen, weil
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
Erde, Wasser, Luft und Feuer
sie erstmals die Entstehung des Planetensystems den die Erdkruste heute besitzt, gar nicht direkt
ohne göttlichen Eingriff erklärte. Ihre Plausibilität bei der Bildung des Planeten auf die Erde, sondern
konnte inzwischen durch zahlreiche Computersi- wurde durch spätere Kollisionen mit Kometen aus
mulationen bestätigt werden. In neuerer Zeit dem äußeren Sonnensystem eingebracht. (Übri-
wurden solche Staubringe um junge Sterne tat- gens ist dies auch ein Szenario, das für einen Gut-
sächlich direkt beobachtet (Å Abbildung 11-20) – teil des irdischen Wassers in Frage kommt.) Der
wir werden also zu Augenzeugen der Planeten- überschüssige Sauerstoff bestimmt bis heute die
entstehung um fremde Sonnen. Reste des Staubes Chemie unserer Gesteinsplaneten, deren Kruste
aus der Frühzeit unseres eigenen Sonnensystems aus seinen Verbindungen mit Silicium, Magne-
tummeln sich übrigens noch heute in der Ebene sium, Aluminium, Schwefel und Eisen besteht.
der Ekliptik. In sternklaren Frühlings- oder Diese liegen meist als Oxide, Silikate oder Alumi-
Herbstnächten kann man sie als schwachen Licht- nosilikate vor. Planetenkerne enthalten schwerere
schein (Zodikallicht) etwa zwei Stunden vor Son- Elemente wie Eisen und Nickel.
nenaufgang bzw. nach Sonnenuntergang im Be- Es ist erstaunlich, wie unterschiedlich hierzu
reich der Ekliptik erkennen. Die Planetenbildung unsere Erde aussehen könnte, hätte damals der
hat nach heutigen Erkenntnissen sofort mit der Kohlenstoff überwogen. Dann bestünde die Ober- r
Verdichtung der Sonne begonnen und könnte fläche wohl aus Siliciumcarbid oder sogar aus
bereits nach hundert Millionen Jahren weitge- elementarem Graphit. Weiter im Inneren einer
hend abgeschlossen gewesen sein. solchen Welt fänden sich wohl große Mengen
Doch aus welcher Art Materie bestand diese Diamant. Die Chemie der Atmosphäre würde
Urwolke? Woher kam sie, und welche Elemente möglicherweise der des Saturnmonds Titan
waren in ihr in welchen Mengen vertreten? Im (ÅSeite 463) ähneln, mit Kohlenwasserstoffen als
Abschnitt über die Sternentstehung werden wir Atmosphärenbestandteil und als Fluiden in even-
mehr über die Herkunft der Wolke erfahren. tuellen Flüssen, Seen und Ozeanen. Auch wenn
Aber wir können uns diesen Fragen auch nähern, die Zusammensetzung der Milchstraße generell
wenn wir einerseits die heutigen Zusammen- eher dem höheren Sauerstoffgehalt unseres sola-
setzungen der Planeten unseres Sonnensystems ren Urnebels entspricht, ist nicht auszuschließen,
zugrunde legen und andererseits versuchen, die dass es solche Kohlenstoff-Erden irgendwo dort
Zusammensetzungen protoplanetarer Scheiben draußen gibt. Insbesondere nahe der Zentrumsre-
um andere Sterne zu untersuchen. gion, die besonders reich an schweren Elementen
Im Universum sind neben Wasserstoff (1H) ist, ist das Verhältnis nämlich in Richtung Koh-
und Helium (4He) die Elementisotope Sauerstoff lenstoff verschoben. 11-21
(16O) und Kohlenstoff (12C) am häufigsten ver- Gesteinsplaneten und
treten. In einer protoplanetaren Scheibe laufen Gasplaneten. Typische
Gesteinsplaneten Gesteinskörper finden sich
chemische Reaktionen ab, in deren Verlauf aus im inneren Sonnensystem
Kohlenstoff und Sauerstoff auch Kohlenmonoxid Gesteinsplaneten in unserem Sonnensystem be- (Merkur bis Mars, hier
entsteht. Nach einem Modell von JADE BOND, sitzen ein eher hohes spezifisches Gewicht (Erde: im Größenvergleich zur
Sonne), aber auch viele
DANTE LAURETTA T und DAVIDA O’BRIEN von der 5,517 g / cm3). Ihr hauptsächlicher Aggregatzu- Zwergplaneten und Monde
University of Arizona und dem Planetary Sci- stand ist, wie der Name vermuten lässt, der feste, werden zu ihnen gezählt.
ence Institut in Tucson ist für die Chemie der obwohl sie durchaus auch flüssige Komponen- Die Planeten von Jupiter bis
Neptun enthalten viel mehr
Gesteinsplaneten ganz entscheidend, welches von ten in ihrem Inneren beherbergen können und,
leichte Stoffe als Gesteins-
beiden Elementen häufiger vorkommt und bei der zumindest was Venus, Erde und Mars angeht, planeten. Sie besitzen ver-
Reaktion übrig bleibt. In unserem Sonnensystem auch Atmosphärengase auftreten. Die Chemie mutlich keine feste Oberflä-
che, sondern werden unter
sind Sauerstoffatome 1,46 Mal häufiger als Koh- unserer Gesteinsplaneten wird beherrscht von
zunehmendem Druck nach
lenstoffatome. Denn der in der protoplanetaren den Elementen Sauerstoff und Silicium. Daneben innen dichter. In einem an-
Scheibe als gasförmiges Kohlenmonoxid vorlie- spielen Magnesium und Aluminium sowie Eisen genommenen kleinen Kern-
gende Kohlenstoff wurde möglicherweise vom eine wesentliche Rolle. Diese treten zu etwa drei- bereich kann er allerdings
so hoch sein, dass selbst
Sonnenwind in den interstellaren Raum geblasen. ßig häufig vorkommenden Mineralen zusammen, Wasserstoff metallische Ei-
Vielleicht gelangte der geringe Kohlenstoffanteil, hauptsächlich zu Silikaten, Aluminosilikaten und genschaften aufweist.
KAPITEL 11 Kosmologie
Metalloxiden. Mit Ausnahme der natürlichen vitationsfeld der Sonne ungleichmäßig verteilt
Gläser sind alle Gesteine der Erde und anderer Ge- hätten. Schwere Elemente sollten demnach näher
steinsplaneten sowie viele Monde, Meteoriten und an unserem Zentralgestirn vorkommen, leichtere
Asteroiden großenteils aus Mineralen aufgebaut. Überbleibsel der solaren Urwolke vornehmlich in
Häufige und für ganze Formationen typische Mi- den Außenbezirken des Systems.
nerale werden auch als Gesteinsbildner bezeichnet.
Gesteinsplaneten bestehen weitgehend aus Gasplaneten
festen oder zähplastischen Bestandteilen, die ent-
sprechend ihrem spezifischen Gewicht in meh- Tatsächlich finden sich in der Nähe der Sonne die
rere Schalen differenziert vorliegen können: Im Gesteinsplaneten, während sich weiter draußen
Zentrum existiert typischerweise ein schwerer vorzugsweise Gasriesen aus leichteren Elementen
Eisen-Nickel-Kern, der vor kurzem sogar für und Himmelskörper mit hohem Eisanteil finden.
den Erdmond nachgewiesen werden konnte. Da- In welchem Umfang dies als allgemeine Regel
rüber liegt eine dicke Mantelschicht aus meist gelten kann, ist nach der Beobachtung sehr hei-
schweren Silikaten (z. B. Magnesium-Perowskit, ßer Gasplaneten nahe an anderen Sternen etwas
(Mg,Fe)SiO3; nicht identisch mit gewöhnlichem zweifelhaft. In unserem Sonnensystem sind Jupiter,
leichten Perowskit: CaTiO3) und Oxiden (z.B. des Saturn, Uranus und Neptun Gasplaneten. Wir
Magnesiums, Aluminiums und Eisens). Unter der wollen uns im Folgenden mit deren stofflicher Zu-
Oberfläche liegt eine vergleichsweise nicht sehr sammensetzung, ihrem Aufbau und ihren überaus
dicke Kruste, in der leichtere Minerale (z.B. Alkali- interessanten Monden befassen.
und Erdalkalisilicate sowie Oxide) angereichert
sind. Bei größeren Körpern kann sich daran ein Innerer Aufbau der Gasplaneten unseres
Bereich mit flüssigen Anteilen (Hydrosphäre) und Sonnensystems
eine Atmosphäre anschließen.
Historisch werden nur die vier Planeten Mer- r Stellt man die acht Planeten der Sonne nebenei-
kur, Venus, Erde und Mars zu den terrestrischen nander dar, so wird sofort klar, warum man die
Planeten im engeren Sinne gerechnet. Im weiteren vier soeben angesprochenen Himmelskörper auch
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
Sinne versteht man darunter aber auch plane- als Gasriesen bezeichnet. Selbst Neptun, als der
tenähnlich aufgebaute Gesteinskörper wie den kleinste unter ihnen, könnte die Erde 64-mal in
Erdmond, die Jupitermonde Io, Europa, Gany- sich aufnehmen, ganz zu schweigen vom Platz-
med und Kallisto sowie den Saturnmond Titan hirsch Jupiter, der den 1400fachen Rauminhalt
und den Neptunmond Triton. Bei den Eismonden der Erde besitzt. Wir haben schon gesehen, wie
11-22 kann zwar der Nickel-Eisen-Kern fehlen, und ein man Planeten „wiegen“ kann. Die Methode funk-
Krater. Einschlagskrater von
Meteoriten sind typische Eismantel tritt an die Stelle eines Silikatmantels, tioniert auch bei unserem Quartett wunderbar.
Strukturen auf allen Ge- trotzdem aber ähneln sie in vieler Hinsicht den Daraus ergeben sich Dichten, die eindeutig nicht
steinsplaneten. Bei dichter Gesteinsplaneten. Selbst der Zwergplanet Ceres zu einer Zusammensetzung aus Gestein und Me-
Atmosphäre wie auf der
Erde finden sich weniger
und der große Asteroid Vesta können zu dieser tallen passen würden.
Krater, da sie von der Ero- Gruppe gezählt werden. Wie auch spektroskopische Untersuchungen
sion schneller eingeebnet Untersucht man die Erdatmosphäre, so findet zeigen, bestehen Gasplaneten ähnlich wie die
werden.
man in den unteren Schichten einen erhöhten An- Sonne vorwiegend aus den leichtesten chemischen
Von oben nach unten: teil schwererer Gase. Leichte gasförmige Elemente Elementen Wasserstoff und Helium. Sie haben
wie Wasserstoff und Helium kommen nur in sehr keine klar definierte Oberfläche, zumindest nicht
auf dem Merkur
geringen Mengen vor. Ihr relativer Anteil ist aber dort, wo man sie vom einfachen Hinsehen her ver- r
auf der Venus
auf der Erde in der oberen Atmosphäre höher (ÅKapitel 7). muten würde. Vielmehr sind sie nach innen immer
auf dem Mars Obwohl Gase sich in einem Gefäß gleichmäßig dichter, da die äußeren Schichten auf den weiter
verteilen, gilt dies in großen Dimensionen und innen liegenden lasten. Eine angepasste Version
unter dem Einfluss von Gravitationsfeldern nicht. der Åbarometrischen Höhenformel (Abbildung
Es liegt nahe anzunehmen, dass sich die Elemente 7-4, Seite 360), die eine ähnliche Situation im Fall
bei der Bildung des Sonnensystems auch im Gra- der Erdatmosphäre beschreibt, kann auch für die
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
Erde, Wasser, Luft und Feuer
grobe Modellierung der Verhältnisse zumindest irdisches Felsgestein (Å Kapitel 5) und Eisen-
im äußeren Bereich der Gasplaneten herangezogen Nickel-Legierungen verfügen, allerdings bei an-
werden. Wie wir in früheren Kapiteln erfahren genommenen Temperaturen von 20 000 Grad
haben, geht die Unterscheidung zwischen der Gas- Celsius und damit in Plasma-Zustandsformen,
phase und der flüssigen Phase oft schon bei mode- die für unsere irdische Erfahrung exotisch und
rat hohem Druck verloren, und es liegen überkri- schwer vorstellbar sind.
tische Fluide vor. Die Verhältnisse werden bei den
Gasplaneten noch dadurch verkompliziert, dass sie
nicht aus reinen Elementen bestehen, sondern aus Monde
Mischungen mehrerer Gase. Neben Wasserstoff
und Helium wurden Ammoniak, Methan sowie Mit den erdähnlichen Planeten und den Gas-
Ammoniumsulfid und Wasser nachgewiesen. planeten haben wir aber noch lange nicht alle
Exoten unseres Sonnensystems besucht. Viele
Metallischer Wasserstoff der zahlreichen Monde sind sogar noch interes-
santer und durchaus einen Blick bzw. die Reise
Die Druckverhältnisse in größeren Gasplaneten einer Planetensonde wert.
sind wegen der Gewichtskraft der auflagernden Den Erdmond haben wir bereits als Gesteins-
Schichten derartig extrem, dass Wasserstoff zu- körper kennengelernt. Er entstand nach der gän-
mindest im Falle von Jupiter und Saturn bei einem gigen Vorstellung in der Endphase der Plane-
Druck von vermutlich ungefähr 3 Millionen Bar tenbildung, als ein etwa marsgroßer Körper in
(bei Jupiter ab etwa 20 000 km Tiefe) sogar in eine die Urerde einschlug, aus aufgeschmolzenem
flüssige metallische Phase übergeht. Berechnungen Material, das in eine Umlaufbahn geriet. Dies
haben gezeigt, dass dieser besondere Stoff unter erklärt auch, warum der Mond ein geringeres
400– 450 MPa Druck noch bei Temperaturen weit spezifisches Gewicht als die Erde aufweist (3,341
oberhalb der Zimmertemperatur supraleitend sein gegenüber 5,515 g / cm3). Offensichtlich hatte
sollte und wohl Eigenschaften einer Supraflüs- sich der schwere Nickel-Eisen-Kern bereits teil-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
sigkeit (ÅSuperflüssigkeiten, Seite 355) besitzt. weise gebildet und war vom Einschlag weniger
Obwohl schon vor sechzig Jahren vom Nobel- betroffen. So überrascht es nicht, das wir auf
preisträger EUGENE PAULL WIGNER R (1902 -1995) dem Mond ganz ähnliche Minerale antreffen,wie
vorhergesagt, konnte metallischer Wasserstoff in der Erdkruste. Neuere Forschungen zeigen
auf der Erde erst 1996 am Lawrence-Livermore- aber auch, dass hier typisches Mantelmaterial
11-24
Laboratory bei 1,4 Millionen Bar und 3000 K für häufiger offen an der Oberfläche zutage liegt.
Exotische Monde. Die
die Dauer einer Mikrosekunde nachgewiesen wer- r Aus seismischen Daten gibt es neuerdings auch chemisch interessantesten
den. Offenbar wird der metallische Zustand bei Hinweise auf einen teils flüssigen, teils festen Monde des Sonnensys-
tems sind bei den Rie-
höheren Temperaturen sogar schneller erreicht als Kern ähnlich jenem der Erde, aber im Verhältnis
senplaneten Jupiter und
bei tiefen, da die Elektronen durch die thermische dazu kleiner. Saturn zu finden. Io zeigt
Energie in das Leitungsband (ÅAbbildung 4-38, Von der Chemie her sind einige Monde der eine ausgeprägte Schwe-
Seite 147) angeregt werden. Riesenplaneten wesentlich vielfältiger, allen vo- felchemie. Europa und
Enceladus sind Eismonde
ran die Jupitermonde Jo und Europa sowie die mit Anzeichen von Was-
Heißer Kern Saturnmonde Titan und Enceladus. Sie sind ne- serozeanen, und Titan ist
ben der Erde die interessantesten Orte des Son- Spezialist in Sachen Koh-
lenstoffverbindungen. Au-
Man geht davon aus, dass auch die Gasplaneten nesystems und zeigen uns, dass auch bei frostigen ßer Enceladus (5-fach ver-
über einen Kern aus ähnlichem Elementen wie Temperaturen „einiges los“ sein kann. größert) sind die Monde
und die Erde maßstäblich
11-23
dargestellt.
Gasplaneten. Die sichtbare Hülle der Gasplaneten besteht hauptsächlich aus molekularem Wasserstoff und aus Helium,
beim Neptun auch aus Methan. Sie geht unter dem starken Druck jenseits des kritischen Punktes langsam in den
461
überkritischen Fluidzustand über. Bei Überschreiten von ungefähr 450 GPa (4,5 Millionen Atmosphären) Druck wan-
delt sich Wasserstoff in eine metallische Hochdruckmodifikation um. Unterhalb dieser Schicht wird ein Kern von Gestein
und Nickel-Eisen vermutet.
KAPITEL 11 Kosmologie
Io, der innerste der vier bereits von GALILEI Der zweite große Mond des Jupiter, Europa, ist
beobachteten Jupitermonde, zeigt neben Titan mit 3121 km Durchmesser nur wenig kleiner als
am eindrucksvollsten, wie stark sich eine Welt Io und hat mit 3,01 g / cm3 eine geringere Dichte.
von der Erde unterscheiden kann. Io ist von dem Er besitzt wie dieser eine gebundene Rotation
Element Schwefel und extremem Vulkanismus und umläuft Jupiter in knapp der doppelten Ent-
11-25 geprägt. Obwohl er eine gebundene Rotation fernung auf einer fast genau kreisförmigen Bahn.
S8. Schwefelatome schlie-
(ÅRandspalte) aufweist, führt die Einwirkung Teilweise erklärt sich aus diesen Unterschieden
ßen sich leicht zu Ringen
zusammen und bilden so des gewaltigen Mutterplaneten zusammen mit und den viel geringeren Gezeitenkräften, dass
zahlreiche unterschied- der leicht elliptischen Umlaufbahn dazu, dass im uns Europa ein völlig anderes Bild zeigt als Io.
liche Modifikationen.
Inneren des 3643,2 Kilometer durchmessenden Wassereis ist auf Europas Oberfläche der be-
Unter den Verhältnissen
auf Io sollten Ringe aus Himmelskörpers enorme Energien aufgrund von herrschende Stoff. Diese zeigt nur wenige große
acht Schwefelatomen eine Gezeitenkräften freigesetzt werden – im Ver- Einschlagkrater und keine größeren Erhebungen.
wichtige Komponente gleich zum Erdmond 1000-fach stärker. Infra- Nach der Anzahl der Einschläge kann man ein
bilden.
rotmessungen wiesen an der Oberfläche einzelne Alter von nicht mehr als 30 Mio. Jahren errech-
Hot Spots mit Temperaturen von bis zu 2000 °C nen. Man kann beobachten, dass bei Einschlä-
nach. Trotz einer durchschnittlichen Oberflä- gen weißes Material – sehr wahrscheinlich Eis
Gebundene Rotation chentemperatur von –143 °C findet sich auf Io – radial ausgeworfen wird. Die Krater selbst sind
Bei kleinen Himmelskör-r fast kein Wassereis. Man schließt daraus, dass Io mit Eis verfüllt. Die ganze Mondoberfläche ist
pern, die größere umkrei-
sen, sind Eigenrotation und
während seiner Entwicklung – möglicherweise, außerdem von auffälligen, in alle Richtungen
Umlaufperiode oft mitei- als er noch eine ungebundene Rotation besaß verlaufenden Furchen geringer Tiefe durchzogen,
nander gekoppelt, so dass – sehr heiße Phasen durchlebt hat, in denen die frappierend an Strukturen irdischer Eisfelder
der kleinere Himmelskörper
dem großen immer die
flüchtige Verbindungen entwichen sind. in Polarregionen erinnern. Gezeitenbedingte Be-
gleiche Seite zuwendet, wie Die relativ hohe Dichte von 3,56 g/cm3 weist wegungen könnten die Eiskruste immer wieder
dies auch beim irdischen auf das Vorhandensein eines Nickel-Eisen-Kerns aufbrechen lassen. Die beobachteten Strukturen
Mond der Fall ist.
hin. Darüber befindet sich Mantelgestein aus könnten durch Kryovulkane entstanden sein, bei
Silikaten mit signifikanten Anteilen von Schwe- denen Wasser die Rolle der Lava übernimmt,
felverbindungen und elementarem Schwefel. Die oder durch Geysire. Spektroskopische Untersu-
Oberfläche zeigt nur wenige Einschlagkrater, chungen konnten dort Salze nachweisen. Diese
denn sie wird durch die starke Vulkantätigkeit sind, möglicherweise durch Eisenverbindungen,
ständig umgestaltet, wie die Raumsonden Voya- rot gefärbt. Alle Hinweise sprechen dafür, dass
ger 1, Galileo und New Horizons eindrucksvoll die etwa 10 – 15 km dicke Eisschicht auf einem
dokumentierten. Charakteristisch sind farben- ca. 90 km dicken mondumspannenden Salzwas-
prächtige Calderen und Seen, gefüllt mit flüs- serozean schwimmt. Auch Messungen von Mag-
sigem Schwefel und Schwefelverbindungen. In netfeldern deuten auf eine leitfähige Flüssigkeit
gewaltigen Fontänen treten flüssiger und gas- unter dem Eis hin. Es ist nicht auszuschließen,
förmiger Schwefel sowie Schwefeldioxid mit dass sich in diesem Ozean eigenständige Lebens-
Geschwindigkeiten von bis zu 1000 Metern pro formen entwickeln konnten.
Sekunde aus und steigen wegen der nur ungefähr
ein Fünftel des irdischen Wertes betragenden Enceladus – Der Ringmacher
Schwerkraft bis zu 330 km hoch. In den aus-
gestoßenen Gasen wurden spektroskopisch S2- Auch einer der kleineren Monde des Saturn, der
Moleküle nachgewiesen, also Paare von Schwe- nur 504 Kilometer durchmessende Eismond En-
felatomen. Wenn diese auf der kalten Oberfläche celadus, dem Jupitermond Europa nicht unähn-
niedergehen, gruppieren sich die Schwefelatome lich, kommt als mögliche Brutstätte von Leben
möglicherweise zu S3- und S4-Ringen, die für die in Betracht. Auf Wasser bzw. Eis als wesentlichen
beobachteten rötlichen Färbungen verantwort- Bestandteil weist auch schon seine durchschnitt-
lich sein können. Langfristig kommt es aber liche Dichte von nur 1,61 g / cm3 hin. Im Inneren
zur Umlagerung in die energetisch stabilsten S8- wird silikatisches Mantelgestein angenommen.
Ringe, die die typische blassgelbe Schwefelfarbe Der Mond ist mit einer Rückstrahlung (Albedo)
verursachen. von 0,99 Prozent der weißeste natürliche Körper
462
Erde, Wasser, Luft und Feuer
im Sonnensystem. Seine Oberfläche ist von auf- gasförmiges Methan, ferner Argon und geringe
fälligen „Tigerstreifen“ durchzogen, die mehrere Mengen anderer Substanzen wie z. B. Ethan, Pro-
hundert Meter tiefen Spalten entsprechen. Ei- pan, Ethin, Kohlendioxid, Helium und Wasser
gentlich liegt die Temperatur im Saturn-System sowie Cyanwasserstoff (Blausäuregas). Nur freier
wegen der größeren Sonnenentfernung noch Sauerstoff ist praktisch überhaupt nicht vorhan-
deutlich unter der beim Jupiter, und die hohe Al- den. Abgesehen von der Blausäure könnte man
bedo tut ein Übriges, Enceladus mit nur 73 Kel- die Titanatmosphäre wahrscheinlich unbeschadet
vin (ca. –200 °C) zu einem sehr frostigen Ort zu atmen, wäre nur Sauerstoff vorhanden. Sogar
machen. In der Südpolarregion besitzt Enceladus ein regelrechtes Wettergeschehen gibt es auf dem
aber einen besonders aktiven Hot Spot, der in Mond. Nur nehmen die Stoffe wegen der ext-
463
KAPITEL 11 Kosmologie
Insbesondere bei Gesteinsplaneten kann man sich fragen, wa- als 300 km haben, sollten demnach ungefähr kugelförmig sein.
rum sie eigentlich alle nahezu kugelförmig sind. Könnten sie Entsprechendes würde für Kometen schon bei 30 km gelten.
nicht eine völlig unregelmäßige Form haben, wie man es von Dies sind jedoch nur grobe Abschätzungen. Selbstverständlich
beliebigen Gesteinsbrocken auf der Erde kennt, oder etwa die können auch kleinere Himmelskörper bereits Kugelgestalt an-
Form von Kristallen, in der sich Atome in Festkörpern anord- nehmen, wenn sie nicht aus kompaktem Material bestehen,
nen (ÅKristalle und Kristallgitter, Seite 153). Die Antwort sondern etwa lose Schuttansammlungen sind. Auch eine hohe
hängt eng mit den unterschiedlichen Stärken der elektrischen Porosität kann die Berechnung wegen der geringeren Dichte und
Bindungskräfte (Kohäsionskräfte) zwischen den Teilchen der der veränderten Zugfestigkeit des Materials beeinflussen. Die
Materie einerseits und der Gravitationskraft andererseits zu- Betrachtung zeigt aber doch, dass es selbst aus besten Edelstahl
sammen. Bindungskräfte sind auf kurze Distanzen viel stärker, unmöglich wäre, einen mehrere hundert Kilometer großen
auf etwas größere Distanzen betrachtet jedoch viel schwächer massiven Würfel herzustellen.
als die Gravitation. Anzumerken ist, dass die Gravitation stets Die astronomischen Beobachtungen stimmen mit diesen Ab-
anziehend wirkt, während sich die anziehende und die ab- schätzungen gut überein. So haben kleinere Asteroiden gewöhn-
stoßende Wirkung elektrischer Plus- und Minusladungen auf lich eine unregelmäßige Form. Alle als Zwergplaneten klassifi-
große Distanzen im Mittel ausgleichen. Körper bestehen ja stets zierten Objekte (z.B. Ceres) von mehreren hundert Kilometern
aus nahezu gleichen Anzahlen positiv und negativ geladener Durchmesser sowie die großen Monde des Sonnensystems ha-
Elementarteilchen. ben schon nahezu Kugelform. Die größeren Gesteins-Asteroiden
Ein im Weltraum schwebender Salzkristall von einigen hingegen (z. B. Vesta, Pallas, Juno) weichen schon merklich von
Zentimetern Kantenlänge würde daher seine Würfelform beibe- der Kugelform ab. Kleinere Asteroiden und Monde mit unter
halten. Hätte er aber Planetengröße, so würde die bei der hohen hundert Kilometern Durchmesser, wie die Marsmonde Phobos
Masse viel stärkere Gravitation alle Bindungskräfte überwiegen und Deimos, besitzen recht irreguläre Formen.
und eine Kugelform bewirken.
Man kann die Größe eines Körpers abschätzen, bei der die
Gravitationskraft gegenüber der Kohäsion das Übergewicht er- r
11-27
langt. Bei einer angenommenen Dichte ρ erhält man folgendem Unregelmäßige Körper.
Ausdruck für den Grenzradius R, bei dessen Überschreitung die Der Saturnmond Hyperion
Gravitationskraft G die Bindungskräfte, repräsentiert durch die sollte bei einem mittleren
Radius von ca. 300 km ei-
Zugfestigkeit Z, überwiegen: gentlich ungefähr kugelför- r
mig sein. Seine irreguläre
R = ( Z / (G· ρ2))0,5 Gestalt kann er beibehal-
ten, weil er wegen des ex-
Dieser Radius ist astronomisch vor allem für das Gestein von trem porösen Aufbaus eine
Planeten von Interesse, aber auch für Wassereis, das einen Be-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
464
Erde, Wasser, Luft und Feuer
465
KAPITEL 11 Kosmologie
diesen Meteoriten sogenannte CAIs (Calcium- artigen Schicksalen, die sie inzwischen durch-
Aluminium Intrusions) als Einschlüsse vor, deren laufen haben.
Alter über die Uran-Blei-Datierung sehr genau auf Zwischen den Umlaufbahnen der Gesteinspla-
4,5672±0,6 Milliarden Jahre bestimmt wurde. Da- neten und denen der Gasplaneten, die wesentlich
mit wären dies die ältesten mineralischen Feststoffe weiter außen ihre Bahn ziehen, erstreckt sich eine
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
des Sonnensystems. Doch damit nicht genug: In merkliche Lücke. Diese ist aber keineswegs völlig
diesen Meteoriten und insbesondere eingeschlos- leer. Hier existiert ein Ring von Gesteinsbrocken,
sen in den CAIs fand man Kristalle, die allem An- die es offenbar nie bis zu einem zusätzlichen
schein nach aus noch früherer Zeit stammen. Bei Planeten gebracht haben, nämlich der Asteroiden-
dieser wahrscheinlich präsolaren Materie handelt gürtel oder Planetoidengürtel. Auch die Gesamt-
es sich um Sternenstaub, bestehend z.B. aus nano- masse der Asteroiden würde allenfalls zu einem
11-29 metergroßen Diamanten und anderen sehr stabilen ansehnlichen Mond reichen, nicht aber für einen
Kohliger Chondrit. Diese
Meteoriten enthalten
Verbindungen wie Siliciumcarbid, Siliciumnitrid, richtigen Planeten. Seit der Entdeckung des ers-
Kohlenstoff und organi- Titancarbid und Korund. Sie könnten am Ende des ten die Marsbahn kreuzenden Planetoiden Eros
sche Verbindungen wie Lebens früher existierender Roter Riesensterne in im Jahre 1898 durch den Berliner Astronomen
Aminosäuren (Bild: Mario
jener großen Staub- und Molekülwolke entstanden GUSTATAV WITT (1866 – 1946) weiß man, dass einige
Müller).
sein, die nach gängiger Theorie durch die Druck- solcher Brocken auch im inneren Sonnensystem
wellen naher Supernova-Explosionen kollabiert auftauchen können. Im Jahre 1932 entdeckte
ist und dabei schließlich zur Bildung des Sonnen- der Heidelberger Astronom KARL WILHELM
systems geführt hat. REINMUTH (1892 – 1979) mit Apollo den ersten
der Planetoiden, die die Erdbahn kreuzen. Seine
Woher kommen die Einschläge? Bahn konnte erst bei der Wiederentdeckung 1973
näher bestimmt werden. Er kommt der Erde bis
Im Sonnensystem findet man mehrere Klassen 22 Mio. km nahe, der Venus bis auf 11 Mio. km.
von Objekten, die man ähnlich wie die kohligen Einem Computermodell zufolge soll übrigens
Chondrite für Überbleibsel aus der Entstehungs- der Zusammenstoß eines ca. 60 km großen As-
zeit derPlaneten hält. Ihre Verschiedenheit ver- teroiden mit dem damals 170-km-Asteroiden
danken sie den Bedingungen in den unterschied- Baptistina im inneren Bereich des Gürtels vor
lichen Regionen der Staub-Akkretionsscheibe, in 160 Millionen Jahren die Ursache für ein Bombar- r
denen sie entstanden sind, und den verschieden- dement sein, das noch heute mit 86 Prozent Anteil
verantwortlich für die allermeisten Einschläge von
Meteoriten auf der Erde ist. Zu diesen Chondri-
ten, die eine sehr typische chemische Zusammen-
setzung aufweisen, gehörte wahrscheinlich auch
der Brocken, der von 65 Mio. Jahren den berühm-
ten Chicxulub-Krater auf der Yucatán-Halbinsel
verursachte. Möglicherweise in Kombination mit
weiteren Einschlägen soll er den Sauriern auf un-
serem Planeten den Todesstoß versetzt und damit
das Zeitalter der Säugetiere eingeläutet haben.
Von den Meteoriten, die auf der Erde nie-
dergehen, konnte man bei einem kleinen Teil
nachweisen, dass sie vom Mond bzw. vom Mars
stammen. Offenbar können heftigere Einschläge
auf diesen Himmelskörpern Teile der planetaren
11-30
Kuiper-Gürtel und Oortsche Wolke. Aus Bahnneigungen
sowie beobachteten Häufigkeiten und der Wahrschein-
lichkeit naher Begegnungen, bei denen Objekte ins
innere Sonnensystem gelenkt werden können, lässt sich
als Herkunftszone mittelperiodischer Kometen auf ein
ringförmiges Kometen„reservoir“ außerhalb der Nep-
tunbahn schließen (Kuiper-Gürtel, orange). Außer Pluto
wurden inzwischen zahlreiche KBOs (Kuiper Belt Objects)
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
Kruste auf die jeweilige Entweichgeschwindig- Kometen besitzen oft deutlich stärker exzentri-
keit beschleunigen. Millionen Jahre später kön- sche Bahnellipsen als Asteroiden. Ein gewisser
nen diese interplanetaren Wandergesellen dann Anteil, als aperiodische Kometen bezeichnet,
von der Erde eingefangen worden sein. folgt offenbar sogar Parabel- oder Hyperbel-
bahnen und wird deshalb kein zweites Mal er-
Kometen scheinen. Die Heimstatt der Kometen mit Um-
laufzeiten von unter 200 Jahren ist entsprechen-
Immer wieder tauchen im inneren Sonnensys- den Bahnberechnungen zufolge in den eisigen
tem auch andere Typen von Himmelskörpern Regionen jenseits der Neptunbahn zu suchen.
auf, die Kometen (ÅAbbildung 11-30). Dort befindet sich ein torusförmiger Bereich, in
Zweifellos gehören helle Kometen zum ein- dem inzwischen sehr viele Objekte nachgewiesen
drucksvollsten, was der Himmel dem Beobachter werden konnten, die z. T. sogar die Größe von
mit bloßem Auge zu bieten hat. Wer das Glück Kleinplaneten erreichen können. Zu ihnen wird
hatte, einen dieser Vagabunden des Himmels zu auch der früher als Planet angesehene Pluto ge-
sehen, wird das Schauspiel nie wieder vergessen. rechnet. Andere bekannte Kuiper-Belt-Objekte
Im Frühling des Jahres 1997 konnte man mo- (KBOs) sind z. B. Sedna und Eris.
natelang den wahrscheinlich meistbeobachteten Die Bahnen langperiodiger Kometen, die auf
Kometen des zwanzigsten Jahrhunderts, Hale- ihren extrem exzentrischen Umläufen nur sehr
Bopp, bewundern. Er erreichte eine Helligkeit, selten ins innere Sonnensystem gelangen, liegen
die Astronomen als – 1 mag bezeichnen. Er er- nicht vorzugsweise nahe der Ekliptikebene.
schien fast so hell wie der hellste Stern Sirius am In sehr großer Entfernung von der Sonne ver-
Nordhimmel und mit einem Schweif, der sich mutet man daher eine ungefähr kugelförmige
über 30 – 40° des Himmelsgewölbes verfolgen Oortsche Wolke (ÅAbbildung 11-30) als Her-
ließ. Oder genauer gesagt, mit zwei Schweifen, kunftsgebiet. Sie könnte durchaus bis zu einem
einem blauen, geraden Gasschweif und einem Viertel der Entfernung zum sonnennächsten
gelblichen, gekrümmten Staubschweif. Und da- Stern Proxima Centauri (Entfernung: 4,3 Licht-
mit sind wir auch schon bei der Struktur und der jahre) reichen und aus Billionen von Objekten
Zusammensetzung von Kometen. unterschiedlicher Größe bestehen.
Kometen werden oft als „schmutzige Schnee-
bälle“ tituliert, obwohl sie nach neueren Er-
kenntnissen vielleicht eher „eisige Schmutzbälle“ Sterne und Sternentwicklung
genannt werden sollten. Sie kommen aus den
Außenbezirken des Sonnensystems und werden Über die Kinderstuben schwerer Atome
allgemein als relativ authentische Überbleibsel
aus der Entstehungszeit des Sonnensystems an- Falls Sie einmal das Glück haben, in einer klaren
gesehen. Ihre Zusammensetzung sollte deshalb in Sommernacht über die Alpen nach Italien unter- r
etwa die der solaren Urwolke widerspiegeln, aus wegs zu sein, dann nehmen Sie am besten nicht
der die Planeten vor etwa 4,7 Milliarden Jahren die bequeme Abkürzung durch einen der Tunnels.
entstanden sind. (Hieran sind in neuester Zeit al- Fahren Sie stattdessen den kleinen Umweg und
lerdings wieder Zweifel aufgekommen, nachdem folgen einer der alten Passstraßen hinauf. Machen
man in Kometenstaub auch Material fand, wie Sie Rast an einem abgelegenen Platz, fernab von
es eigentlich für Meteoriten charakteristisch ist.) unseren lichtdurchfluteten Städten, und betrach- Parsec
In der Astronomie übliches
Am 15.1.2006 kehrte ein kleines Raumfahr- ten Sie das Sternenmeer, wie es unsere Vorfahren Entfernungsmaß. Es ist
zeug von nur 45 kg Masse nach einer siebenjäh- noch von fast überall aus sehen konnten. Doch die Entfernung, aus der
rigen und 4,5 Milliarden Kilometer weiten Reise so unglaublich es angesichts des Gefunkels auch betrachtet die Entfernung
Erde–Sonne (1 AU =
durch das Sonnensystem auf die Erde zurück und klingt, Sie erkennen selbst unter diesen optimalen
150 Millionen Kilometer)
landete wohlbehalten in der Wüste von Utah. Es Bedingungen kaum mehr als etwa 2000 Einzels- unter einem Sehwinkel
war die Landekapsel der Stardust-Mission. An terne. Noch einmal so viele befinden sich natür- von 1 Bogensekunde
Bord: Proben der Materie aus der Gashülle (die lich am Taghimmel. Praktisch alle diese Sterne (1/3600 Grad) erschei-
nen würde. Ein Parsec
Koma) des Kometen Wild 2, die bei einem Flug sind Nachbarn der Sonne und liegen in einem entspricht damit 3,262
durch die Koma gewonnen worden waren. Umkreis von wenigen tausend Lichtjahren. Lichtjahren).
467
KAPITEL 11 Kosmologie
469
KAPITEL 11 Kosmologie
Primordiale Elemente Suche nach der Energiequelle Atomgewichte sollten ganzzahlige Vielfache die-
H Wasserstoff ser Basisgröße sein. Allerdings fand ASTON eine
He Helium
(Li Lithium) Die Sonne gibt jährlich eine Wärmemenge ab, die geringe Ausnahme, ironischerweise ausgerechnet
ausreichen würde, um Eis vom fünfhundertfachen beim Wasserstoffatom selbst. Es war um etwa
Auswahl wichtiger mittel- Volumen der Erde zu schmelzen. ISAAC NEWTON 8 Promille schwerer, als es nach der Hypothese
schwerer Elemente
C Kohlenstoff beschäftigte sich bereits Anfang des 18. Jahrhun- hätte sein dürfen. Die Erklärung hierfür hatte
N Stickstoff derts mit der Frage, welcher Prozess diese enorme Jahrzehnte vorher, im Jahr 1861, ein Visionär
O Sauerstoff Energieproduktion in Sternen über die extrem vorgeschlagen: JEAN CHARLES GALISSARD DE
Ne Neon
Naa Natrium langen Zeiten aufrecht erhalten konnte, die sich MARIGNAC (1817 – 1894) vermutete, die Masse
Mg Magnesium schon allein aus den geologischen Daten der Erde könnte beim Zusammentreten der Bausteine in
Al Aluminium für ihr Mindestalter ergaben. Form von Energie entweichen. Vor dem Hin-
Si Silicium
P Phosphor
Obwohl die Schätzungen des Erdalters bis ins tergrund der 1905 veröffentlichten speziellen
S Schwefel erste Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts noch Relativitätstheorie, als deren Konsequenz man
Cl Chlor deutlich zu niedrig ausfielen, zeigten schon erste die Masse als eine Art kondensierter Energie
Ar Argon
Überschlagsrechnungen, dass hierfür chemische betrachten konnte (E = mc2), war damit erstmals
K Kalium
Caa Calcium Umsetzungen gleich welcher Art völlig unzurei- die wirkliche Quelle der Sonnenenergie geklärt.
Fe Eisen chend sind. Auf die Möglichkeit, dass Vorgänge Sie war einfach der Unterschied zwischen den
Ni Nickel
innerhalb der Atome genügend Wärme liefern Bindungsenergien, die verschiedenartige Atom-
Auswahl wichtiger könnten, wies 1899 erstmals der amerikanische kerne zusammenhält. Die Abhängigkeit dieser
schwerer Elemente Geologe THOMAS CHROWDER CHAMBERLAIN Energie von der Kerngröße ist in ÅAbbildung
Pb Blei (1843 – 1928) hin. Die Entdeckung der Radioak- 10-10 (Seite 422) dargestellt. Energie lässt sich
Au Gold
Hg Quecksilber tivität zeigte wenige Jahre später, dass Vorgänge also nicht nur durch Spaltung schwerer Atom-
U Uran in Atomkernen tatsächlich ein Millionenfaches kerne gewinnen, wie z. B. bei der Radioaktivität,
der Energie freisetzen können, die für chemische sondern auch durch Fusion leichter Kerne.
Vorgänge charakteristisch ist. Offen blieb weiterhin die Frage nach den
Trotz der Möglichkeiten der durch JOSEPH beteiligten Elementen und den Details der Ele-
Metallizität VON FRAUNHOFER (1787 – 1826) verfeinerten mentumwandlungen bei der Energiefreisetzung.
Im Gegensatz zur Defini-
tion in der Chemie ver-
Spektralanalyse ließen sich jedoch auf der Sonne Zu ihrer Klärung bedurfte es noch vieler unbe-
stehen Astronomen unter keinerlei radioaktiven Elemente nachweisen. kannter Puzzlestücke.
„Metallen“ alle Elemente, JOSEPH NORMAN LOCKYER(1836 – 1920)‚ hatte Zunächst wies RUTHERFORD 1919 als erster
die schwerer als Helium
sind. Die Metallizität gibt
allerdings schon 1870 eine andere Komponente Kernumwandlungen von leichteren in schwerere
deren Anteil in Sternen auf der Sonne vermutet, die sich später als zen- Atomkerne nach. Beim Beschuss von Stickstoffa-
oder Materiewolken an. tral für die Vorgänge bei der Energieerzeugung tomen mit Alphateilchen entstanden Sauerstoff-
Meist wird zur Definition
herausstellen sollte: das damals noch unbekannte atome und jeweils ein positiv geladenes Teilchen.
ein auf die Sonne bezoge-
nes logarithmisches Maß Element Helium. Es stellte sich im Folgenden Er identifizierte Letzteres als Kern des Wasser-
benutzt, das nur die Inten- heraus, dass die von RUTHERFORD verwendete stoffatoms. Zu Ehren von WILLIAM PROUT gab er
sitäten N der Wasserstoff- Alphastrahlung aus nichts anderem als Helium- ihm den Namen Proton. Analoge Prozesse fand
und der Eisenspektrallinien
berücksichtigt: atomkernen bestand. man später bei den meisten leichten Elementen
Ganz entscheidend für die weitere Entschlüs- außer Helium, Kohlenstoff und Sauerstoff, die
selung der Kernprozesse war die Entdeckung besonders stabile Atomkerne besitzen.
der Isotope des Elements Neon 1913 durch Damit war erstmals die prinzipielle Möglich-
J.J. THOMSON (1856 – 1940) und die dadurch keit aufgezeigt, durch den Aufbau komplexerer
angeregte Entwicklung eines leistungsfähigen Atomkerne Energie frei zu setzen. JEAN-BAPTISTE
Massenspektographen durch seinen Assisten- PERRIN (1870 – 1942) formulierte auf diesem
ten FRANCIS WILLIAM ASTON (1877 – 1945) im Fundament die Hypothese, dass die lang ge-
Jahr 1919. Im Rahmen seiner Messgenauigkeit suchte Energiequelle der Sonne die Fusion von
ließ sich zunächst eine bereits rund einhundert Wasserstoffatomen zu schwereren Kernen sei.
Jahre früher (1815) von dem englischen Che- Allerdings gab es für diese an sich plausible
miker und Arzt WILLIAM PROUT (1785 – 1850) These zwei Haupthindernisse:
aufgestellte Hypothese bestätigen, wonach alle 1 Spektroskopische Daten wiesen damals eher
Elemente aus gleichen Bausteinen aufgebaut sein auf Eisen als Hauptbestandteil der Sonne hin,
sollten, die er in Wasserstoffatomen sah. Alle nicht aber auf einen hohen Wasserstoffgehalt.
470
Erde, Wasser, Luft und Feuer
471
KAPITEL 11 Kosmologie
Masse, die ASTON zwischen Wasserstoff- und nicht alle Protonen dieselbe Geschwindigkeit
Heliumkernen gemessen hatte. RUTHERFORD haben, sondern einige von ihnen aufgrund der
hatte bereits gezeigt, dass durch Einfang von Maxwellschen Geschwindigkeitsverteilung sehr
Kernteilchen im Prinzip aus leichteren Elemen- viel energiereicher als der Durchschnitt sind,
ten unter Energiefreisetzung schwerere entste- können ausreichend viele Verschmelzungen bei
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
hen könnten. Würde in Sternen Wasserstoff zu der Temperatur des Sonneninneren ablaufen, um
Helium „verbrannt“, so würde zwar mehr als den Energieumsatz zu erklären.
hundert mal weniger Energie frei als bei einer
totalen Umwandlung von Protonen in Energie, Einsichten in das Sonnenfeuer
aber immer noch genug, um die Sonne Jahrmil-
liarden lang leuchten zu lassen. Leicht ließ sich Tiefere Einsichten in die genaue Reaktionsfolge
errechnen, dass für den Strahlungshaushalt der bei der Energiegewinnung von Sternen waren
11-36 Sonne in jeder Sekunde vierhundert Milliarden erst nach der Entdeckung des Neutrons durch
Bindungsenergien leichter
Kerne. Vom Wasserstoff Kilogramm Wasserstoff (4·1011 kg) umgesetzt JAMES CHADWICK im Jahr 1932 möglich. Aller- r
bis zum Eisen nehmen werden müssten. Doch bei der Masse der Sonne dings war nun klar, dass Helium nicht, wie früher
Atomkerne immer tiefere (1,99 · 1030 kg) und 3,2 · 107 Sekunden pro Jahr fälschlicherweise vermutet, aus einem Atomkern
(stabilere) Energiezustände
an, da die pro Nukleon würde dies bereits bei einem Wasserstoffgehalt mit vier Protonen, sondern aus zwei Protonen
abgegebene Bindungs- von einigen Prozent problemlos für ein Mehrfa- und zwei Neutronen bestand. Da freie (nicht in
energie zunimmt. Die ches der vermuteten, bisherigen Lebenszeit der Kernen gebundene) Neutronen aber binnen we-
Energiekurve ist allerdings
unstetig, da bestimmte Sonne von einigen Milliarden Jahren ausreichen. niger Minuten zerfallen, müssen sie irgendwie
Kerne wie z. B. 4He und Ob die Sonne wirklich so viel Wasserstoff beim Einfang von Protonen aus diesen entstehen
12C aus Symmetriegrün-
enthalten kann, und welcher Kern überhaupt können. Genau einen solchen Prozess ermöglicht
den besonders stabil sind.
für den Einfang zusätzlicher Protonen in Frage das von WOLFGANG PAULI im Jahr 1933 für die
kam, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht be- Erklärung des kontinuierlichen Spektrums des
kannt. Ebenso war es rätselhaft, wie die er- Betazerfalls von Kernen postulierte Neutrino. Die
forderlichen Kernprozesse zum Einfang von Reaktion, die für die Entstehung von Neutronen
Protonen bereits bei Temperaturen in der Grö- aus Protonen entscheidend ist, ist der Beta-plus-
ßenordnung von einigen zehn Millionen Grad Zerfall. Dabei wandelt sich ein Proton innerhalb
ablaufen konnten, statt erst bei den errechneten eines Atomkerns spontan in ein Neutron um. Als
zehn Milliarden Grad. Zwischenprodukt entsteht ein W+-Boson, und
Die Lösung für die letzte Frage brachte dieses zerfällt umgehend in ein Positron und ein
schließlich die Quantentheorie. Nachdem ERW R IN Elektron-Neutrino. Der Beta-plus-Prozess ermög-
SCHRÖDINGER mit seiner berühmten Gleichung licht es also einem Atomkern im Endeffekt, durch
von 1926 das Verhalten von Quantenobjek - den Einfang von Protonen manchmal nicht seine
ten berechenbar gemacht hatte, konnte GEORG Ordnungszahl zu erhöhen, sondern seine Neutro-
GAMOW den quantenmechanischen Tunnelef- nenzahl. Er ist damit ein entscheidender Schritt bei
fekt (ÅVerbotene Wege – der Tunneleffekt, Seite der Entstehung schwererer Atomkerne mit aus-
207) zur Erklärung des Alpha-Zerfalls von geglichenen Nukleonenverhältnissen in Sternen.
Atomkernen heranziehen. Der Physiker FRITZ
GEORG HOUTERMANS (1903 – 1966) wandte zu- Der Bethe-Weizäcker-Zyklus
sammen mit dem Experimentalphysiker ROBERT
D‘ESCOURT ATKINSON (1898 – 1982) im Jahr Die erste genaue Beschreibung einer Reaktions-
1929 die Ideen GAMOWs auf den umgekehrten kette bei der stellaren Nukleosynthese wurde
Prozess an, als er seine berühmte Arbeit „Zur zwischen 1937 und 1939 durch HANS BETHE
Frage der Aufbaumöglichkeiten von Elementen in Amerika und unabhängig davon durch CARL
in Sternen“ publizierte. Der auf der Heisenberg- FRIEDRICH VON N WEIZSÄCKER R in Deutsckland er r-
schen Unschärferelation beruhende Tunneleffekt arbeitet. Wir haben die Namen beider Physiker
konnte, wie er zeigte, auch erklären, warum bereits bei der Bethe-Weizäcker-Formel zur Stabi-
Protonen bereits bei viel niedrigeren Tempera- lität der Atomkerne kennengelernt (ÅAbbildung
turen in Kerne eindringen können, als dies nach 10-6, Seite 421). HANS BETHE war zunächst As-
klassischen Rechnungen für möglich gehalten sistenzprofessor in Tübingen gewesen, verlor diese
worden war. Zusammen mit der Tatsache, dass Stelle aber wegen seiner jüdischen Abstammung
472
Erde, Wasser, Luft und Feuer
und musste 1933 wie so viele exzellente Wissen- Zyklus erforderlichen protoneneinfangenden
schaftler aus Nazi-Deutschland emigrieren. Dem Kerne. Sie eröffnete sich nach der Entdeckung
Vernehmen nach soll BETHEE die entscheidenden des schweren Wasserstoffs durch den Chemi-
Formeln innerhalb weniger Stunden auf einer ker HAROLD CLAYTON
A UREY (1893 - 1981). Wir
Bahnfahrt von Washington nach New York zu werden ihm im nächsten Kapitel bei Versuchen
Proton-Proton-Reaktion
473
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
11-40 11-41
Der Elementmix im Uni- Chemische Analyse eines Universums Lebenswege von Sternen. Die Masse eines Sterns be-
versum. Von 10 000 Ato- stimmt seinen Entwicklungsweg und seine Lebensdauer.
men im Universum sind Bei weniger als 0,08 Sonnenmassen kann keine ausrei-
Die beiden beschriebenen Reaktionswege von
9000 Wasserstoffatome, chende Kernfusion stattfinden, um einen Stern entste-
975 Heliumatome, sechs
Wasserstoff zu Helium bestimmen den größten hen zu lassen. Unterhalb der Chandrasekar-Grenze von
Sauerstoffatome und nur Teil eines Sternlebens und werden als Wasser- 1,44 Sonnenmassen entwickelt sich ein Hauptreihenstern
ein Kohlenstoffatom. Der stoffbrennen bezeichnet. In dieser Phase befinden zu einem über Jahrmilliarden langsam erkaltenden Wei-
Rest verteilt sich auf alle ßen Zwergstern von ungefähr Erdgröße. Sterne zwischen
sich Sterne der Hauptreihe des Hertzsprung-Rus- 1,44 und 3 Sonnenmassen entwickeln sich zu ungeheuer
übrigen Elemente.
sel-Diagramms (ÅAbbildung 11-32, Seite 469). dichten Neutronensternen mit nur ungefähr 20 km Durch-
Was hat nun diese Art der Energiegewinnung messer. Ihre Materie erreicht die Dichte von Atomker-
nen. Noch schwerere Sterne kollabieren zu Schwarzen
in Sternen mit Elementen jenseits des Heliums Löchern.
zu tun? Wie kann man überhaupt herausfinden,
wie häufig die auf der Erde bekannten Atomarten den Durchmischung der Sternmaterie ausgehen.
in Sternen vorkommen? Wir haben bereits die Massereichere Sterne zeigen eine unvollständige
Möglichkeiten der Spektralanalyse angesprochen. Durchmischung ihrer Materie. Insbesondere in
LOCKYER war mit ihr die Entdeckung des Heli- späten Entwicklungsphasen der Sterne entwi-
ums gelungen, und man konnte Spektrallinien ckeln sich Kern und Hülle sehr verschieden. Basis
zahlreicher bekannter Elemente in Sternen nach- für alle quantitativen Untersuchungen sind Ar-
weisen. Allerdings lässt sich dieses machtvolle beiten des indischen Physikers MEGHNAD SAHA
Instrument nicht allein dadurch zur Bestimmung (1893 – 1956), der mit der nach ihm benannten
der Elementarzusammensetzung anwenden, dass Gleichung im Jahr 1920 erstmals den Ionisations-
man die Intensitäten der spektralen Fingerabdrü- grad jedes Elements bei gegebenen Zustandspa-
cke im Sternenlicht miteinander oder mit einem rametern berechnen konnte. Basierend auf Me-
Standard vergleicht. Vielmehr müssen für eine thoden zur Schätzung der Elementhäufigkeit in
sinnvolle Analyse ausreichend genaue Atom- und Plasmen nach RALPH FOWLER (1889 – 1944) und
Sternmodelle zugrunde liegen. Das Atommodell Edward ARTHUR MILNE (1896 – 1950) gelang
(ÅKapitel 4) sagt uns etwas über die Ionisie- es einer jungen britische Astronomin namens
rungsenergien und damit über das Verhalten ein- CECILIA PAYN
A E-GAPOSCHKIN N (1900 – 1979) im Jahr
zelner Elemente bei bestimmten Temperaturen 1925 erstmals, diese Erkenntnisse auf Sternspek-
und Drücken. Das Sternmodell wiederum sorgt tren anzuwenden. Entgegen der damals herr-
dafür, dass realistische Werte für diese Parameter schenden Lehrmeinung ergaben ihre Berechnun-
in die Analyse eingehen. Ferner kann man nur bei gen, dass die Sonne tatsächlich zum allergrößten
den allerkleinsten Sternen von einer weitgehen- Teil aus Wasserstoff und Helium besteht. Ob-
474
Erde, Wasser, Luft und Feuer
475
KAPITEL 11 Kosmologie
Beryllium-Barriere. Insbesondere ist die Bildung Kernladung wird allerdings die Bildung von
von Kohlenstoffkernen (12C-Kernen) wichtig, für Alpha-Elementen (α-Elementen) durch diesen
die drei Alpha-Teilchen (4He-Kerne) sich zusam- Prozess wegen der stärkeren Abstoßung des
menfinden müssen. Der Kohlenstoff ist nicht nur Alpha-Teilchens viel unwahrscheinlicher. Tat-
das zentrale Element alles Lebendigen, sondern sächlich spiegelt sich der Syntheseweg über den
auch eine unverzichtbare Zwischenstufe für die Alpha-Prozess auch in der Häufigkeitsverteilung
Bildung der meisten anderen Elemente. Müssen der Elemente im Universum wider – ein starker
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
etwa drei He-Kerne auf einmal zusammen sto- Hinweis auf die Richtigkeit der Theorie. Wegen
ßen, um einen 12C-Kern aufzubauen? Ein solcher der in Richtung zum Eisen hin immer flacher
Dreierstoß müsste innerhalb von nur 10–21 s statt- verlaufenden Bindungsenergiekurve und der ge-
finden und wäre damit viel zu unwahrscheinlich! ringen Umsatzmengen spielt der Alpha-Prozess
Es zeigte sich schließlich, dass ein aus zwei 4He- nur für die Nukleosynthese eine Rolle, nicht
Kernen entstehender 8Be-Kern immerhin 10–17 s jedoch für die Energiegewinnung in Sternen.
11-43
lang existiert – ausreichend, um den Einfang eines
Alpha-Prozess. Als Folge-
reaktion der Bildung von weiteren 4He-Kerns und damit die Bildung von
12C-Kernen in Sternen 12C zehntausendfach wahrscheinlicher zu machen. Elementsynthese durch
werden weitere Alpha-
Doch selbst unter Berücksichtigung des Re- Ungleichgewichtsprozesse
Teilchen eingefangen, was
zur Bildung einer ganzen aktionswegs über 8Be würde die Kernreaktion,
Kette der Alpha-Prozess- wie der Astronom FRED HOYLE (1915 – 2001) Aus der Bindungsenergiekurve der Kerne folgt,
Elementen führt, die sich erkannte, längst nicht schnell genug ablaufen, dass Prozesse im thermischen Gleichgewicht keine
um jeweils vier Nukleonen
unterscheiden. Der Pro- um signifikante Mengen Kohlenstoff zu erzeugen Elemente jenseits von Eisen produzieren können.
zess ist hier exemplarisch (ÅRandspalte). Dies ist nur einem unwahrschein- Zudem verläuft die Energiekurve vom Wasserstoff
bis zum Neon gezeigt. lichen Zufall geschuldet: Der 12C-Atomkern be- zum Eisen nicht stetig abwärts, und auch das Zu-
sitzt ein Energieniveau bei 7,65MeV, das mit der standekommen vieler Elemente dazwischen, wie
Summe zweier Energieniveaus von 8Be und 4He Fluor, Natrium oder Phosphor, lässt sich durch
nahezu übereinstimmt. Man bezeichnet eine sol- die bisher beschriebenen Prozesse nicht erklären.
Verstecktes Hoyle-Niveau che Konstellation als Resonanz, und sie erhöht die Um ausgehend von den Alpha-Elementen zu
entsprechende Reaktionsgeschwindigkeit enorm. schwereren Elementen und zu solchen mit unge-
Erst 2011 konnten extrem Ein Beispiel für einen Stern in der Helium- raden Ordnungszahlen zu gelangen, müssen diese
aufwändige theoretische Brennphase ist der Rote Riesenstern Betei- Kerne auf irgendeine Weise mit weiteren Protonen
Rechnungen mit einem Su- geuze im Orion. Der Energieumsatz des Drei- versorgt werden. Der einfachste denkbare Prozess,
percomputer tatsächlich die Alpha-Prozesses ist sogar noch stärker tempera- nämlich der direkte Einfang eines Wasserstoff-
Existenz des angeregten Ho- turabhängig als bei der CNO-Reaktion. Er wächst kerns, ist bei Kernen hoher Ordnungszahl wegen
yle-Energieniveaus des 12C- etwa proportional zur dreißigsten Potenz der Tem- der extrem starken Coulomb-Abstoßung unmög-
Kerns auf Basis der Quanten- peratur (T30). Da die gesamte Energieproduktion lich. Selbst Protonen mit nahezu Lichtgeschwindig-
chromodynamik bestätigen. des Heliumbrennens wesentlich geringer ist, als die keit wären hierzu nicht in der Lage. Andererseits
des Wasserstoffbrennens, dauert diese Phase viel lassen sich Neutronen wegen ihrer fehlenden elek-
weniger lange an. Sie leitet das Ende des Haupt- trischen Ladung von dieser Kraft überhaupt nicht
11-44 reihensterns ein. behindern. Sie können ohne weiteres in Kerne
Lebenszyklus der Sonne. eindringen. Um diese Reaktionen zu verstehen,
Bei unserer Sonne haben werden wir uns zunächst die Vorgänge beim Altern
wir großes Glück gehabt.
Mit ihrer zu erwartenden Alpha-Prozess von Sternen und bei ihrem Todeskampf ansehen.
Lebensdauer von knapp
11 Milliarden Jahren lässt Ist über den Drei-Alpha-Prozess erst einmal 12C
sie uns hoffentlich genü- Schalenbrennen und Rote Riesen
gend Zeit, einen fremden entstanden, so kommt es unweigerlich zu weiteren
Stern für die Auswande- Zusammenstößen mit Alpha-Teilchen. Dadurch Geht die von seiner Geburtsmasse bestimmte Le-
rung zu finden, bevor sie können nacheinander die Nuklide 16O, 20Ne, benszeit eines gewöhnlichen Hauptreihensterns
das Stadium des Roten 24Mg, 28Si, 32S, 40Ar, 44Ca bis hin zu 48Ti mit
Riesen erreicht und die
mit etwa 0,6 bis 10 Sonnenmassen ihrem Ende
Erde verschlingt. der Kernladungszahl 22 entstehen. Mit höherer entgegen, so gerät er zunehmend aus dem inneren
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
47 6
47
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Gleichgewicht. Dies ist bei einem Stern mit zehn- und seine Masse erhöhen. Damit dieser Prozess
facher Sonnenmasse bereits nach der in kosmi- möglich ist, müssen natürlich zumindest in be- Schalenbrennen
schen Maßstäben sehr kurzen Zeitspanne von ca. stimmten Bereichen oder Entwicklungsphasen
35 Millionen Jahren der Fall. Wie oben beschrie- von Sternen kontinuierlich freie Neutronen ent- Wasserstoffbrennen
ben, sinkt der Strahlungsdruck durch die nachlas- stehen, denn ungebundene Neutronen haben nur (H → He)
sende Energieproduktion, und das Zentrum des eine Halbwertszeit von etwa fünfzehn Minuten.
Heliumbrennen
Sterns zieht sich zusammen. Dabei heizt sich diese Beweise für das Stattfinden solcher Reaktionen (He → C, O)
Region durch die Gravitationsenergie immer mehr wurden bereits in den 1950er Jahren in Form von
Kohlenstoffbrennen
auf, bis die Zündtemperatur einer weiteren Kern- Spektrallinien kurzlebiger Isotope in den Spektren
(C, O → Ne, Mg)
reaktion erreicht ist. Ein solcher Prozess von der Roter Riesensterne entdeckt.
Erhitzung bis zur Zündung und dem Ablauf einer Einige der tief im Inneren solcher Sterne ab- Neon- und Magnesiumbrennen
neuen Reaktion kann sich in mehreren Zyklen laufenden Prozesse (zum Beispiel der Zerfall von (Ne, Mg → Si, S)
wiederholen. Währenddessen laufen im restlichen 24Mg-Kernen, die als Nebenreaktion aus 12C
Silicium- und Schwefelbrennen
Stern zwiebelschalenartig auch noch die früheren entstehen), liefern auch tatsächlich Neutronen (Si, S → Fe, Ni)
Kernreaktionen weiter (ÅKasten Schalenbrennen). als Nebenprodukte. Diese stehen eigentlich für
Kollaps des Eisenkerns
Wie viele dieser Stadien tatsächlich durchlaufen Einfangreaktionen zur Verfügung. Infolge ihrer
werden, und das weitere Schicksal des Sterns hän- geringen Lebensdauer erreichen sie allerdings nie Bildung einer Schockwelle
gen wiederum entscheidend von seiner Masse ab. eine besonders hohe Dichte, und entsprechende
In der Phase des Schalenbrennens entkoppelt Nukleosynthesereaktionen laufen nur sehr lang-
sich die Entwicklung des immer heißer werdenden sam ab (ein Kern wird durchschnittlich nur alle
Sternzentrums zunehmend von derjenigen der äu- 100 000 Jahre von einem Neutron getroffen).
ßeren Zonen. Die sichtbare Oberfläche dehnt sich Diese Reaktionen werden deshalb unter der Be-
extrem aus und kühlt ab. Der Stern wird zu einem zeichnung s-Prozess (s wie slow) zusammengefasst.
Roten Riesenstern, der im Falle der Sonne sogar Mit einem Neutronenüberschuss sind die pri-
bis über die Erdbahn hinausreichen wird. Rote mär entstehenden Kerne meist instabil. Sie können
Riesensterne in dieser Phase erbrüten ungefähr sich durch radioaktiven β–-Zerfall eines Neutrons
die Hälfte der schweren Elemente des Universums. in ein Proton stabilisieren und senden dabei ein
Elektron und ein Antineutrino aus. Dies erfolgt in
s-Prozess der Regel schneller, als ein neues Neutron einge-
fangen wird. Im s-Prozess der Roten Riesensterne
11-47
V838 Mono. Entwick-
lung des Lichtechos der
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
„Leuchtstarken roten
Nova“ V838
Monocerotis 477
KAPITEL 11 Kosmologie
also innerhalb von nur Tagen oder Wochen hell Nicht alle folgen dem skizzierten Mechanismus.
aufleuchtende Objekte, sind somit keine neuen So gehörte das vielleicht schönste astronomische
Sterne, wie noch TYCHO BRAHE (1546 –1601) mit Objekt überhaupt, die um den 1. Januar 2002
seiner Begriffsbildung in der lateinischen Form ausgebrochene Nova V838 Monocerotis (ÅAb-
„stellae novae“ nahe legte. Die Ausbrüche stellen bildung 11-47) zum Typus der „Leuchtkräftigen
vielmehr kataklysmische Vorgänge dar, die von roten Novae“. Der so reizvolle Kokoneffekt des
einer Existenzkrise eines Sterns zeugen, der zuvor etwa 20000 Lichtjahre entfernten Objekts kam
unscheinbar oder wegen seiner ursprünglich zu hier nicht etwa dadurch zustande, dass sich das
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
geringen Helligkeit überhaupt nicht bekannt war. Gas so schnell ausdehnte, sondern das Licht der
Klassische Novae treten, wie man heute weiß, Nova erzeugte bei seiner Ausbreitung in der von
in speziellen Doppelsternsystemen aus nicht sehr der Sternentstehung übrig gebliebenen Molekül-
massereichen Hauptreihensternen (ÅAbbildung wolke ein Lichtecho.
11-32, Seite 469) der Art unserer Sonne auf,
wenn sich eine ihrer Komponenten im Stadium Supernovae
11-48 eines Roten Riesen befindet, während die andere
Modellgrafik einer Nova-
explosion. Neu aufflam- bereits das Stadium eines Weißen Zwergsterns Supernovae sind extreme Explosionen bestimmter
mende nukleare Fusions- erreicht hat. Weiße Zwerge sind normalerweise Klassen von Sternen, die für kurze Zeit so hell
reaktionen auf der Ober- zu keiner Energieerzeugung über Kernfusion mehr leuchten wie eine kleine Galaxie. Diese Fanale
fläche Weißer Zwergsterne
in Doppelsternsystemen. in der Lage. Sie bestehen im Wesentlichen aus den können über riesige Entfernungen hinweg wahr- r
(Bild rechts unten: HST, Produkten normaler thermonuklearer Reaktionen genommen werden, sogar dann noch, wenn sie vor
Nasa). solcher Sterne, nämlich Kohlenstoff und Sauer- r vielen Milliarden Jahren und einen halben Durch-
stoff (denn bei unzureichender Masse werden die messer des sichtbaren Universums von uns entfernt
Stadien des Schalenbrennens nicht vollständig bis stattgefunden haben. Mit etwa einem Ereignis pro
zum Eisen durchlaufen). Infolge schwacher Kon- 50 Jahren in unserer Galaxis sind sie viel seltener
vektion findet sich in oberflächennahen Schichten als gewöhnliche Novae. Diese „Katastrophen“ im
mehr Kohlenstoff, im Kernbereich vorwiegend Kosmos sind (neben dem s-Prozess) Quellen schwe-
der schwerere Sauerstoff. In engen Doppelstern- rerer Elemente als Eisen und die Ursache dafür,
systemen allerdings kommt es nun dazu, das sich dass in unserem Universum auch neutronenrei-
Gase (vorwiegend Wasserstoff), die vom größe- chere Elemente als Bismut existieren. Nur in einer
ren Partner abströmen, auf der Oberfläche des schnellen Reaktion fernab des thermodynamischen
Zwergsterns ansammeln (ÅAbbildung 11-48). Sie Gleichgewichts, wie sie für Supernova-Explosionen
gelangen entweder über eine Akkretionsscheibe typisch sind, können sie überhaupt entstehen.
oder beim Vorliegen starker Magnetfelder auch Besonders zwei Haupttypen von Supernovae
entlang der Feldlinien (ähnlich wie die gelade- sind für die Forschung interessant geworden. Sie
nen Teilchen bei Polarlichtern) über polnahe unterscheiden sich nach gängiger Theorie stark im
Trajektorien auf die Oberfläche. Sie heizen sich Mechanismus der Explosion und zeigen auch Un-
dabei extrem auf und erreichen schließlich die terschiede in den beobachteten Lichtkurven (ÅAb-
Zündtemperatur einer thermonuklearen Reak- bildung 11-46). Sie werden als Typ-Ia-Supernovae
tion. Abhängig von Parametern wie der Masse des bzw. Typ-II-Supernovae bezeichnet.
Zwergsterns, den Eigenschaften des Partners und
den Bahnparametern unterscheidet man mehrere
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
11-49
Supernova vom Typ Ia. sein kann. Die beteiligten Sterne überstehen auch
Thermonukleare Ketten- wiederholte Explosionen nach diesem Mechanis-
reaktion beim Zusam-
menbruch eines Weißen mus nahezu unversehrt. In unserer Galaxis kommt
Zwerges. es zu etwa hundert Nova-Ausbrüchen pro Jahr.
11-50
Supernova PTF 11kly. In der Pinwheel-Galaxie (M101)
leuchtete am 23. August 2011 eine Supernova des Typs
478 Ia auf. Rechts: Negativ einer Aufnahme der Region mit
dem HST bei 814 nm Wellenlänge vor dem Ausbruch. Sie
zeigt zwei rote Riesensterne, die als mögliche Komponen-
ten des Vorläufersystems angesehen werden.
Erde, Wasser, Luft und Feuer
11-51
Supernova vom Typ II. Sterne hoher Masse sind sehr heiß und durchlaufen schnell alle Stadien des Schalenbrennens
bis zum Kollaps der entstehenden Kernzone aus Eisen/Nickel. Die in der Folge ablaufende Explosion reißt große Teile
der Sternmasse mit und bildet einen Emissionsnebel (Supernova-Überrest). Die verbleibende Materie fällt zurück, und
479
47
479
es entsteht ein kompaktes Objekt. Unterhalb einer Restmasse von ca. drei Sonnenmassen ist dies ein Neutronenstern.
Massereichere Überreste können sogar noch kompaktere Objekte ausbilden (Quarkstern, Gravastar, Schwarzes Loch).
KAPITEL 11 Kosmologie
ren. Die äußeren Schichten des Sterns werden Alle im Kosmos entstandenen Elemente vom
durch die Gewalt der Supernova-Explosion mit Lithium bis zum Uran werden übrigens – für
fast 10 Prozent der Lichtgeschwindigkeit als Chemiker schwer zu glauben – von den Astro-
Gaswolken in den Weltraum geblasen. nomen unterschiedslos als „Metalle“ bezeichnet.
Beide Haupttypen von Supernovae tragen Sie dienten späteren Phasen als Rohmaterial für
somit wesentlich zur Bildung schwerer Elemente die Bildung neuer Sterngenerationen. Im Laufe
bei. Die dabei ablaufenden Reaktionen fasst man früherer Sterngenerationen gebildete Elemente
unter dem Begriff r-Prozess zusammen. sind auch in unserer Sonne vertreten und Haupt-
baustoffe der Erde und der Lebewesen.
r-Prozess
Neutronensterne
Charakteristisch für den oben erwähnten
s-Prozess ist, dass dabei niedrige Neutronenflüsse Der Ausgangsstern wird bei der Bildung einer
auftreten, die entstandenen Kernen vor einem er- r SN II (Supernova vom Typ II) nicht vollständig
neuten Neutroneneinfang genügend Zeit für einen zerstört. Ein Überrest von etwa 1,4 – 1,7 Son-
β–-Zerfall gewähren. Wie bereits erwähnt, können nenmassen bleibt erhalten. Dieser Reststern ist
sehr neutronenreiche Kerne wie Uran auf diese so dicht, dass die positiv geladenen Protonen der
Weise nicht gebildet werden. Mit der Identifikation Atomkerne negative Elektronen eingefangen und
des r-Prozesses (r = rapid, schnell) wurde auch ihr sich in Neutronen verwandelt haben. Die „Atom-
Bildungsort entdeckt: Sie entstehen in endothermen kerne“ in den inneren Schichten haben ihre In-
Ungleichgewichtsprozessen während Supernova- dividualität verloren und sind zu einer riesigen
Explosionen unter dem Einfluss von sehr hohen Ansammlung von Neutronen verschmolzen, ei-
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
480
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Schwarze Löcher
Da sie nie genau senkrecht fallen, werden sie bis etwa 16000 Lichtjahren im Zentrum. Als
zunächst in eine enge Umlaufbahn gezwungen Band erscheint die Scheibe uns nur deshalb, weil
und durch die frei werdende Gravitationsenergie wir uns mit der Sonne innerhalb von ihr befin-
extrem beschleunigt. So bildet sich noch au- den. Nach beiden galaktischen Polen hin sehen
ßerhalb des Ereignishorizonts eine Akkretions- wir nur wenige Sterne. Das Band der Milchstraße
scheibe, in der sich das Material durch Reibung ist nicht überall gleich dicht. Besonders deutlich
auf Millionen Grad aufheizt und unter anderem ist es in Richtung des Sternbildes Schütze aus-
Röntgenstrahlung abgibt. gebildet. Dort befindet sich das Zentrum der
Wie wir im Folgenden sehen werden, schei- Scheibe in etwa 28 000 Lichtjahren Entfernung
nen sich superschwere Schwarze Löcher in den von der Sonne, die sich somit eher in einer Rand-
Zentren fast aller großen Sternsysteme (Galaxien) lage in der Linse befindet. Allerdings erscheint die
zu befinden. Sie können Millionen von Sonnen- Milchstraße von uns aus keineswegs gleichmäßig
massen in sich vereinigen, und ihre Entstehung ist hell, sondern sie ist hier und da von dunklen Be-
Gegenstand aktueller Forschung. reichen durchzogen, die sich als lichtundurchläs-
sige Gas- und Staubwolken herausgestellt haben.
Deep Space Insbesondere die Zentralebene beherbergt
nämlich große Mengen interstellares Gas und
Von der Milchstraße zu den fernsten Plasma, das sogar mehr Masse besitzt als die
Objekten in Raum und Zeit Sterne, und zudem einen gewissen Anteil an in-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
11-57
Gestalt der Milchstraße. Da wir uns mit der Sonne in
der Scheibe unserer Galaxis befinden, sehen wir die
Milchstraße stets nur als Band am Himmel. Ein direkter
Überblick wie in dieser Grafik (NASA, verändert) ist uns
verwehrt.
Erde, Wasser, Luft und Feuer
11-58
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
Sagittarius A*. Infrarot-, Radio- und Röntgenteleskope zeigen, dass sich im Zentrum
unserer Galaxis einige Sterne sehr schnell um ein selbst nicht sichtbares superschweres
Objekt bewegen. Seine Position und Masse (fast vier Millionen Sonnenmassen) lässt
sich besonders genau anhand der Bahndaten von Sternen bestimmen, die ihm bei dem
Umlauf sehr nahe kommen wie die hier eingezeichneten Objekte S0-2, S0-16, S0-17 483
und S0-19.
KAPITEL 11 Kosmologie
ben noch mit bemerkenswerten Unsicherheiten des Spektrums zu kurzwelligerem Licht. Wird
Dreimal
behaftet.) die Entfernung zwischen uns und der Licht-
Rotverschiebung
Mit immer leistungsfähigeren Teleskopen quelle größer, verschiebt sich das Lichtspekt-
Doppler-Effekt
fand man bald Myriaden weiterer Galaxien, die rum entsprechend zu längeren Wellen. In erste-
Lineare Relativbewegung einer sich zu kleineren Gruppen, größeren Haufen und rem Fall spricht man – etwas unexakt, aber an-
Lichtquelle von uns weg führt zu teilweise zu riesigen Superhaufen mit Tausenden schaulich – von Blauverschiebung, in letzterem
einer Rotverschiebung, auf uns
zu entsprechend zu einer Blau-
von Mitgliedern zusammen fanden. Darin müs- von Rotverschiebung. Dieser Effekt lässt sich
verschiebung. Rotiert ein nur als sen die einzelnen Galaxien offensichtlich gravi- hervorragend nutzen, um die großräumigen
Ganzes sichtbares Objekt, so tativ gebunden sein, sonst hätten sie sich schon Bewegungen der Galaxien im Universum zu
führt dies durch Mischung zu ei-
längst gleichmäßig im Raum verteilt. bestimmen. Während sich beim Andromeda-
ner Verbreiterung der Spektralli-
nien. Der schweizer Astronom FRITZ ZWICKY nebel und einigen wenigen anderen Galaxien
(1898 – 1974) untersuchte im Jahr 1933 die Be- eine Blauverschiebung ergab (sie sich also auf
Gravitations-Rotverschiebung wegungen der Komponenten von Galaxienhau- uns zu bewegen), fand HUBBLE eine eigenartige
Muss Licht aus einem Gravitati-
onsfeld entkommen, so verrin- fen und fand Seltsames: Die Geschwindigkeit ist lineare Abhängigkeit: Je weiter ein System von
gert sich nach der allgemeinern so hoch, dass die Mitglieder von Superhaufen uns entfernt ist, desto stärker ist das Licht in
Relativitätstheorie (ART) seine eigentlich nicht beieinander bleiben dürften. Er Richtung Rot verschoben. Alle Versuche, diese
Energie. Es erscheint daher
rotverschoben. Umgekehrt er- vermutete als Ursache eine unsichtbare Dunkle entfernungsabhängige Rotverschiebung z. B.
scheint von außen einfallendes Materie, die genügend Anziehungskraft bewirken mit einer Art „Ermüdung“ der Lichtquanten zu
Licht einem Beobachter in einem sollte. Dies konnte auch die Erklärung für OORTs erklären, scheiterten. Ist unsere Galaxis etwa
starken Gravitationsfeld blauver-
schoben. Befunde sein. ZWICKYs These wurde allerdings das Zentrum der Welt?
jahrzehntelang wenig beachtet, bis schließlich in
Kosmologische Rotverschiebung den 1970er Jahren auch genauere Messungen der
Lichtwellen, die zu einem frühe-
Furioser Auftritt der Welt
ren Zeitpunkt im Universum aus-
Rotationskurven von Galaxien möglich wurden.
gesandt wurden, erscheinen rot- EDWIN HUBBLE beobachtete Galaxien am Die heute allgemein anerkannte Erklärung für
verschoben, denn das elektroma- Mount-Wilson-Obervatorium und teilte sie in die entfernungsabhängige Rotverschiebung fand
gnetische Feld dieser Photonen
unterschiedliche Typen ein. Es gibt unterschied- im Jahre 1927 der belgische Priester und Ast-
hat sich inzwischen zusammen
mit der Raumzeit gedehnt. Für lich ausgeprägte elliptische Galaxien, einfache rophysiker Abbé GEORGES EDOUARD LEMAÎTRE
die Rotverschiebung verwendet Spiralgalaxien, ferner Balkenspiralen sowie ir- r (1894 – 1966) und wurde so zum Vater der
man den Buchstaben z und defi-
reguläre Galaxien (Å Abbildung 11-61). Heute Urknall-Theorie: Wenn das Universum als Ge-
nert sie als: z = (λb – λ0) /λ0.
λb ist die beobachtete, λ0 die wissen wir, dass unsere Milchstraße zum Typ samtes expandiert, besteht eine Situation, die
ausgesandte Wellenlänge. der Balkenspiralen gehört (ÅAbbildung 11-57, mit einem einfachen Modell zu erklären ist
Seite 482). (Å Abbildung 11-62). Rechnete man die Bewe-
11-60 HUBBLE untersuchte auch die sogenannte gung der Galaxien zurück, so war der Schluss
Doppler-Effekt. Beim Doppler-Verschiebung der Spektren des And- unvermeidlich, dass das Universum aus einem
Doppler-Effekt (bei der
romedanebels und anderer Spiralnebel. Dieser Anfangszustand hervorgegangen sein musste,
Doppler-Verschiebung)
beobachtet man eine Wel- bereits 1842 von dem österreichischen Phy- bei dem alle Materie auf engstem Raum kon-
lenlängenverschiebung siker und Mathematiker CHRISTIAN ANDREAS zentriert war. Dieser musste ungeheuer dicht
aufgrund einer Relativbe-
DOPPLER (1803 – 1853) für Doppelsterne vor- und heiß gewesen sein – vielleicht sogar punkt-
wegung zwischen Licht-
quelle und Beobachter. hergesagte Effekt entspricht der Verschiebung förmig und unendlich dicht. Heute lässt sich die
Sie ist in Linienspektren des Fahrgeräuschs eines vorbeifahrenden Autos Expansion des Alls auch unabhängig von der
leicht nachweisbar, da von hohen zu tiefen Tönen und beruht einfach kosmologischen Rotverschiebung z (Å Rand-
jedes Atom und Ion Linien
charakteristischer Farbe darauf, dass bei relativer Annäherung mehr spalte) nachweisen, nämlich aus Helligkeit und
absorbiert oder emittiert, Wellenberge und -täler pro Sekunde unser Ohr Sichtwinkel von Galaxien mit gleicher Rotver-
die auch nach der Ver- erreichen, als wenn sich die Schallquelle von uns schiebung. Erwartungsgemäß ergibt auch diese
schiebung wie Fingerab-
drücke identifiziert werden entfernt. Bei Licht bewirkt eine Geschwindig- Betrachtung eine Expansionsrate wie durch die
können. keitskomponente auf uns zu eine Verschiebung Urknalltheorie vorausgesagt.
Erde, Wasser, Luft und Feuer
11-61 485
Hubble-Gabel. Galaxien werden nach Ihrer äußeren Form mit Buchstabencodes bezeichnet. Man unterscheidet die
Grundtypen: Elliptische Galaxien (E), Spiralgalaxien (S) und Balkenspiralen (SB) und untergliedert weiter nach dem Grad
der Ausprägung. Irreguläre Galaxien (Irr) können z.B. Folgen von Kollisionen sein.
KAPITEL 11 Kosmologie
Die Frage nach der Ausdehnung des Universums scheint auf den Helligkeits-Distanz DL (Luminosity) – Die Helligkeit eines ent-
ersten Blick leicht zu beantworten zu sein, denn man glaubt das fernten Objekts nimmt auf kurze Distanzen mit dem Quadrat
Alter mit 13,7 Milliarden Jahren aufgrund der Beobachtung des der Entfernung ab (ÅࡳAbbildung 11-31, Seite 468). In einem
Mikrowellenhintergrunds inzwischen recht genau zu kennen. expandierenden Universum allerdings ist diese Abnahme viel
Sollte nicht ein damals – nur wenige hunderttausend Jahre nach stärker, da sich die früher ausgesandten Lichtteilchen ja auf einen
dem Urknall – ausgesandtes Lichtteilchen inzwischen 13,7 Milli- viel größeren Raum verteilen. Zudem werden sie durch die Deh-
arden Lichtjahre zurückgelegt haben? nung der Raumzeit viel langwelliger und damit energieärmer. Die
Bei genauerem Hinsehen stimmt diese Überlegung aber nicht. entferntesten Galaxien, die z.B. im Hubble-Teleskop noch sicht-
Während das Photon unterwegs war, hat sich das Universum, die bar sind, erscheinen deshalb so lichtschwach, als wären sie (in
Raumzeit selbst, ja ständig ausgedehnt. Sowohl der Weg, den das einem statischen Universum) 350 Milliarden Lichtjahre entfernt.
Lichtteilchen bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zurückgelegt
hatte, wie auch der noch verbliebene Weg veränderten sich deshalb Winkeldurchmesser-Distanz DA (Angular) – Die entferntesten
laufend. Könnte ein solches Teilchen zurückblicken, so würde es gerade noch sichtbaren Galaxien sehen wir so, wie sie vor fast
erstaunt feststellen, dass es sich sogar mit Überlichtgeschwindig- 14 Milliarden Jahren aussahen. Sie standen uns in jener Zeit
keit von seinem Ursprung weg bewegt hat. Für die Ausdehnung aber noch sehr viel näher, nur wenige Milliarden Lichtjahre
des Raumes gilt keine „Einsteinsche Geschwindigkeitsbeschrän- entfernt. Da nähere Dinge aber unter einem größeren Sehwinkel
kung“! Summiert man die Effekte, so kommt man heute zu einem erscheinen, sehen sie für uns viel größer aus als vergleichbare
Radius des beobachtbaren Universums von ca. 47 Milliarden nähere Galaxien. Sie haben deshalb auch eine besonders geringe
Lichtjahren. Nur aus diesem Bereich konnten uns seit dem Urknall Flächenhelligkeit. Aus dem Vergleich der Winkeldurchmesser
Informationen erreichen. Fast alle Kosmologen gehen aber von lässt sich somit (unter Annahme eines flachen Universums) auf
Modellen aus, in denen die Ausdehnung des gesamten Universums die frühere Entfernung schließen.
sehr viel größer ist als die des von unserer Position aus beobacht-
baren Universums. Hier gibt es nur vage Hinweise darauf, dass Mitbewegungs-Distanz DC (comoving) – Dies ist eine Entfer- r
es mindestens 78 Milliarden Lichtjahre sein müssten. Der wahre nungsskala, die sich zusammen mit dem Universum ausdehnt.
Wert könnte aber auch sehr viel größer sein. Beispielsweise sagt Sie sagt aus, wie weit die Galaxien heute entfernt sind, obwohl
die Inflationstheorie voraus, dass es etwa 1023 Mal (!) größer wir sie natürlich nur in einem früheren Zustand sehen, als sie
ist – und selbst eine unendliche Ausdehnung wird diskutiert. Ein noch viel näher bei uns und jünger waren. In dieser Größenskala
philosophisches Problem in unendlich großen oder sehr großen ist der Rand des sichtbaren Universums etwa 47 Milliarden
Universen ist die Tatsache, dass darin auch sehr unwahrscheinliche Lichtjahre von uns entfernt. Die entferntesten mit dem Hubble-
Ereignisse mit hoher Wahrscheinlichkeit vorkommen. Teleskop gerade noch sichtbaren Galaxien sind etwa 32 Milli-
Man verwendet in der Kosmologie hauptsächlich vier Skalen arden Lichtjahre entfernt.
zur Entfernungsmessung. Es lohnt sich, diese näher anzuschauen,
denn sie helfen uns, die Vorgänge im sich ausdehnenden Kos- Lichtreisezeit-Distanz DT – (Travel time)
mos besser zu verstehen. Die Lichtreisezeit-Distanz sagt einfach aus, wie lange das Licht
von weit entfernten Galaxien zu uns unterwegs war. In dieser
Skala ausgedrückt, gibt es natürlich keine Entfernungen sicht-
barer Objekte, die größer sind als die 13,7 Milliarden Jahre, die
man heute als Alter des Universums annimmt. Von möglichen
Objekten, deren Entfernungen auf dieser Skala größer wären,
könnte uns bis heute noch kein Licht erreicht haben.
11-63
Größe des beobachtbaren Universums. Die Größe des von unserer Posi-
tion aus prinzipiell beobachtbaren Teils des Unversums ist begrenzt durch
die Zeit, die das Licht seit dem Urknall unterwegs war. Durch die Deh-
nung der Raumzeit, die während der Lichtausbreitung erfolgte, sind die 11-64
entferntesten Regionen für mitbewegte (comoving) Beobachter heute ca. Kosmische Entfernungsskalen. Bei weniger als ca. 2 Mrd. Lichtjahren Ent-
DC = 47 Milliarden Lichtjahre entfernt. fernung unterscheiden sich die verschiedenen Distanzskalen nur wenig.
Erde, Wasser, Luft und Feuer
seiner heutigen Größe, nicht einmal die zwan- allgemeiner Relativitätstheorie (ART) gab es
zigfache heutige Distanz zum Andromedanebel. Versuche, die Gestalt und Entwicklung des
Der gesamte Kosmos war zu diesem Zeitpunkt Kosmos daraus herzuleiten. Bekannt sind etwa
noch etwa das, was man sich unter einer Hölle die 1917 vom niederländischen Astronom
vorstellen kann. Lichteilchen wurden ständig WILLEM DE SITTER (1872 – 1934) erarbeiteten
an elektrisch geladenen Teilchen des Plasmas Modelle und insbesondere die 1922 veröffent-
gestreut und verhinderten so auch deren Zusam- lichten, allgemeineren Gleichungen des russi-
menballung zu gravitativ gebundenen Strukturen schen Mathematikers und Physikers ALEXANDER
(ÅࡳSeite 494). ALEXANDROWITSCH FRIEDMANN (1888 – 1925).
Als die Temperatur des sich weiter ausdeh- Unter der zusätzlichen Randbedingung eines
11-65
nenden und abkühlenden Urplasmas erstmals auf sehr großen Längenskalen homogenen und
Primordiale Elemente und
etwa 3000 Kelvin unterschritt, konnten sich aus isotropen Universums bestimmen ihre Lösungen ihre Isotope. Die Entste-
Protonen und Elektronen neutrale Wasserstoffa- die Gestalt der Raumzeit. hung leichter Elemente
(vor allem Wasserstoff-
tome bilden. Durch das weitgehende Verschwin- Aus astronomischen Beobachtungen lässt sich
und Heliumisotope) im
den freier Ladungsträger (Rekombination) wurde tatsächlich bestätigen, dass wir keine heraus- Urknall war bereits nach
das Universum transparent für das Gros der gehobene Beobachtungsposition im Universum Minuten abgeschlossen.
elektromagnetischen Wellen: Materie und elek- einnehmen, ein Postulat, das später als „kosmo- ROBERT VERNON WAGONER,
WILLIAM FOWLER, und
tromagnetische Strahlung entkoppelten sich. logisches Prinzip“ bekannt wurde. Es besagt, dass FRED HOYLE konnten 1974
Aufgrund der Ausdehnung des Raumes wur- das sichtbare Universum heute auf sehr großen nachweisen, dass sich
den die Wellen dieses Lichts inzwischen so weit Längenskalen (ab etwa 100 Millionen Lichtjah- dabei die Mengenverhält-
nisse zwischen den Iso-
gedehnt (kosmologische Rotverschiebung), dass ren) ungefähr gleichförmig aufgebaut ist, dass topen der leichtesten Ele-
sie inzwischen der Schwarzkörperstrahlung eines die Naturgesetze nicht von Ort und Richtung mente ergaben, die heute
Körpers von etwa drei Kelvin und damit einer abhängen, und insbesondere dass der Kosmos tatsächlich beobachtet
werden. Sie lieferten damit
Mikrowellenstrahlung entsprechen mussten. Wie überall ungefähr dieselbe Materiedichte aufweist. ein wichtiges Argument
sich herausstellte, war die mysteriöse Störung in (Tatsächlich muss man jedoch zugeben, dass dies für die Urknalltheorie.
der Hornantenne nichts anderes als genau diese keineswegs streng bewiesen ist – wir sind stets da- Schwerere Atomkerne
bildeten sich in den ver-
im wahrsten Sinne „All“gegenwärtige Hinter- rauf angewiesen, den beobachtbaren Bereich auf schiedenen Lebenszyklen
grundstrahlung. Sie entsprach mit 2,725(1) K das unsichtbare Restuniversum zu extrapolieren.) der Sterne.
sehr gut den Erwartungen einer thermischen Wie nahe kommt man dem Urknall mit solchen
Gleichgewichtssituation vor der Rekombination, Theorien? Wann war das Universum nur einen
und ihre Messung wurde zu einem der wichtigs- Meter groß? Wann so groß wie ein Atom oder Kosmologisches Prinzip.
ten Fundamente moderner Kosmologie. noch kleiner? Das Problem: Das klassische Ur- r So wird das Postulat ge-
nannt, dass der Weltraum
Die Entdeckung der Mikrowellenstrahlung knall-Modell geht davon aus, dass das Universum von jedem Punkt aus und
bestätigte die Urknalltheorie auf eindrucksvolle in einer Singularität begann, einem Punkt unendli- in jede Richtung betrach-
Weise. Sie brachte den beiden Entdeckern dieser cher hoher Dichte, der sich im Rahmen bekannter tet gleich aussieht. Zumin-
dest auf großen Skalen
Hintergrundstrahlung, PENZIAS und WILSON Physik nicht sinnvoll beschreiben lässt. Selbst wenn betrachtet, ist dies mit
1978 den Physiknobelpreis ein. Sowohl ALPHER man keine unendliche Dichte annimmt, sondern den Beobachtungsdaten
wie auch HERMAN und DICKE dagegen gingen nur von einem extrem kleinen Universum noch konsistent. Implizit setzt
das kosmologische Prin-
leer aus. Und GAMOW, der große alte Mann endlicher Dichte ausgeht, haben wir allen Grund,
zip auch voraus, dass für
des Urknalls, war zu diesem Zeitpunkt bereits zumindest an der Gültigkeit der ART in diesen jeden Beobachter unab-
seit zehn Jahren tot. Die weitere Untersuchung Bereichen zu zweifeln. Die ART beschreibt das hängig von Zeit und Ort
dieselben Naturgesetze
der Mikrowellenstrahlung führt uns zurück in Universum in allen Dimensionen oberhalb von
gelten. Dies kann zumin-
eine Zeit, als das Universum nur 0,003 Prozent Atomen sehr erfolgreich. Aber kurz nach seiner dest zeitlich sehr nah beim
seines heutigen Alters erreicht hatte. Entstehung war das Universum so klein, dass es Urknall nicht mehr sicher
dem Regime der Quantenmechanik unterworfen angenommen werden.
Den ersten Augenblicken auf der Spur war. Quantenfluktuationen führten dann zu einer
unstetigen Verzerrung des Raumes, der damit nicht
Mit immer besseren Modellen kann man sich mehr durch die ART beschreibbar ist.
den Geschehnissen um den Urknall aber noch Aber es gibt noch andere Schwierigkeiten. Jenseits der ART. Die
sehr viel weiter nähern, als es die Beobachtung Die nahezu perfekte Isotropie der Hintergrund- Gültigkeit der allgemeinen
Relativitätstheorie (ART)
des Mikrowellenhintergrunds erlaubt. Bereits strahlung weist nämlich darauf hin, dass sich das muss bei extrem kleinen
kurz nach der Veröffentlichung von EINSTEINs Universum anfangs in einem thermodynamischen Skalen bezweifelt werden.
487
KAPITEL 11 Kosmologie
Inflationsphase. Gemäß
bar. Darüber hinaus scheint es wahrscheinlich,
der Inflationstheorie hat
das Universum kurz nach dass die Inflation keineswegs nur einmal zu
seiner Entstehung eine Pe- Beginn des Universums auftrat, sondern laufend
riode rapiden Wachstums und ewig ist, jeweils an anderen Punkten des
durchlaufen. Die Geo-
metrie wurde dabei quasi praktisch unendlichen Universums. So wäre der
„glattgebügelt“. gesamte Raum erfüllt mit riesigen Blasen, die
488
Erde, Wasser, Luft und Feuer
jeweils unserem bekannten Teil des Universums Diese Entdeckung der Anisotropie des Mik-
entsprechen, allerdings nur im Prinzip: In jeder rowellenhintergrunds war für die Kosmologie
dieser Blasen können völlig andere Verhältnisse so bedeutsam, dass den Astrophysikern JOHN
herrschen. In manchen ist die Materie zu fein ver- r C RO MWELL M ATHER (*1946) und G EO RG E
teilt, als dass sich Sterne und damit auch Planeten FITZGERALD S MOOT III (*1945) hierfür der
und Leben bilden könnten, in anderen wiederum Physiknobelpreis des Jahres 2006 zugesprochen 11-68
herrscht eine Fülle an Sternen, Galaxien und Ga- wurde. Die Ergebnisse konnten ab 2002 durch Isotropie. Auf einer groben
laxienhaufen. Unsere Blase liegt dabei in einem die Nachfolgemission WMAP (Wilson Micro- Temperaturskala (0 – 4 K) ist
nur isotrope Strahlung von
Mittelfeld. Dass sie gerade so ist, wie sie ist, wäre wave Anisotropy Probe) großartig bestätigt und T = 2,728 K erkennbar.
kein besonders großer Zufall, schließlich gebe es noch viel detaillierter ausgearbeitet werden.
eine praktisch unendliche Menge unterschiedlicher Die Bilder der Hintergrundstrahlung erin-
Blasen – wenigsten eine „passende“ muss also mit nern an unterschiedlich große Tintenkleckse.
hoher Wahrscheinlichkeit dabei sein. Die Auswertung erfolgt hauptsächlich, indem
Eine wichtige Frage war deshalb, ob die Vertei- man die beobachteten Temperaturschwankun-
lung der Mikrowellenstrahlung wirklich so isotrop gen in Beiträge unterschiedlich großer Winkel-
ist, wie bei einem inflationär aufgeblähten thermo- variationen zerlegt und als eine Art Spektrum
11-69
dynamischen Gleichgewichtszustand zu erwarten, aufträgt (ÅAbbildungen 11-69 und 11-70). Dipol-Term. Die Variation
oder ob sich aufgrund von Dichteschwankungen Die beobachtete Variation höherer Momente um ΔT = 3,353 mK lässt
im anfangs noch winzigen Universum Bereiche mi- wird dabei als Gravitations-Rotverschiebung sich als Relativbewegung
mit 368 km/s gegenüber
nimaler Temperaturabweichungen zeigen würden. des Lichts beim Entkommen aus unterschied- dem Mikrowellen-Strah-
Zur Beantwortung dieser Frage trugen und lich dichten Regionen gedeutet. Angleichung lungsfeld erklären.
tragen vor allem Weltraummissionen bei. Daten von Spektren aus Modellrechnungen an die
des 1989 gestarteten Satelliten COBE (Cosmic Beobachtungsdaten erlauben die Bestimmung
Background Explorer) waren die ersten Hoff- grundlegender kosmologischer Parameter.
nungsträger. Die diversen bekannten Strah- Wie viel Information sich in der detaillier-
lungsquellen im Vordergrund (beispielsweise ten Winkelstruktur der Temperaturvariationen
Supernova-Überreste und Radiogalaxien sowie verbirgt, ist erstaunlich. Erstmals lässt sich
eine Vielzahl von Quellen in der Milchstraßene- damit das Alter des Universums mit 13,7 ±
bene) mussten dazu natürlich zunächst sorgfältig 0,11 Milliarden Jahren relativ genau angeben.
kartiert und herausgerechnet werden. Zu den Nach gegenwärtiger Interpretation der Daten
ersten Entdeckungen gehörte eine deutliche di- muss man zudem davon ausgehen, dass die
polare Frequenzverschiebung im Promillebereich daraus abgeleitete Materie- und Energiedichte
– in eine bestimmte Richtung hin zu kürzeren des Universums nur zu ungefähr 4,6 Prozent
Wellen und entsprechend in der Gegenrichtung (!) durch normale Materie (und Energie) abge-
hin zu längeren. Diese Erscheinung war nicht das deckt ist. Zwei ganz andere Akteure scheinen
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
erhoffte Ergebnis, aber schon für sich gesehen die Hauptrollen im kosmischen Theater zu
interessant. Sie kann als echter Doppler-Effekt spielen: mysteriöse Dunkle Materie und noch
gedeutet werden, der durch die Relativbewegung schwerer zu fassende Dunkle Energie. Dabei
unseres Sonnensystems gegenüber dem univer- bedeutet der Begriff „Dunkel“ eher transparent
salen Strahlungsfeld entsteht. Dieses spielt die bzw. unsichtbar, denn diese Materie bzw. Ener-
11-70
Rolle eines aus unserer Sicht ruhenden globalen gie scheint mit normaler baryonischer Materie Vermessung des Mikro-
Bezugsystems. Für die weitere Auswertung wird ausschließlich über die Gravitation in Wechsel- wellenhintergrunds. Die
diese Variation ebenfalls herausgerechnet. wirkung zu treten. Die Berechnungen ergeben Weltraumteleskope COBE
(1989/1990), WMAP
In der Sache selbst tat sich aber zunächst nichts 23 Prozent Dunkle Materie und 72 Prozent (2002) und Planck (2009,
Spektakuläres: Nach der Auswertung einer ersten Dunkle Energie. Auswertung nicht abge-
Überblicksmessung befand man noch Mitte 1990: Noch genauere Resultate erhofft man sich schlossen) konnten die Va-
riation des kosmischen Mi-
Alles flach – keine Temperaturschwankungen! vom Infrarot-Weltraumteleskop Planck, dessen krowellenhintergrunds auf
Erst nach Erhöhung der Genauigkeit durch Aus- Mission bis Ende 2011 geplant war. Allerdings immer detaillierteren Skalen
wertung größerer Datenmengen gelang tatsächlich stellte sich heraus, dass bei der Vermessung mit untersuchen. Ihre Ergeb-
nisse haben die wichtigsten
der Nachweis von richtungsabhängigen Variati- dieser extrem hohen Genauigkeit das von den
Erkenntnisse geliefert, auf
onen (Anisotropien) der Strahlungstemperatur Vorgängermissionen gewohnte klare Bild des denen die moderne Kosmo-
in der Größenordnung von tausendstel Prozent. Mikrowellenhintergrunds schwieriger heraus- logie beruht.
11-67
Gravitations-Verschiebung. Photonen, die aus dichteren
Regionen (weiß) entweichen, erfahren eine Energiemin- 489
derung (Rotverschiebung), umgekehrt erhöht sich die
Energie von Licht aus durchschnittlich weniger dichten
Regionen (Blauverschiebung).
KAPITEL 11 Kosmologie
Urknall
11-72
Zeitleiste des Universums Zusammenfassung der wichtigsten Entwicklungsphasen des Univer- Den Anteil der (baryonischen und dunklen) Masse an der gesamten Masse-Energie-Dichte des
sums in logarithmischer Zeitskala. Gy steht für Gigayears (= Milliarden Jahre), My für Mega- Universums bezeichnet man als ਝ0 (27 Prozent). Der Anteil Dunkler Energie ist ਝΛ (72 Pro-
years. Unter a(t) versteht man die relative Größe des Universums (Skalierungsfaktor) zur Zeit t zent). Das untere Drittel der Grafik zeigt das klassische Urknallmodell, oberhalb ist die Variante
Erde, Wasser, Luft und Feuer
491
KAPITEL 11 Kosmologie
Quantenfluktuationen digkeit, das Plancksche Wirkungsquantum und sich starke Kraft und Elektroschwache Kraft an-
Energie und Zeit unterlie- die Gravitationskonstante einfach als 1 definiert. fangs noch nicht, es gibt also auch noch keine
gen wie Ort und Impuls
der Unschärferelation: Die Größe der Einheiten spielt in der Physik näm- Photonen. Schon nach etwa 10–36 Sekunden ist
ΔE ⋅ Δt ≥ 2π · h. Wegen lich keine Rolle, ähnlich wie auch ein Schneider die Energiedichte so weit abgesunken, dass sich
E = mc2 kann ein virtuelles eine Stoffbahn in Metern oder in Ellen messen Starke und Elektroschwache Kraft trennen.
Teilchen der Masse m also
bis zu 2π · h / mc2 Sekun-
kann. Im Jahr 1955 allerdings stellten JOHN Die Quantenfluktuationen führen zu Dichte-
den lang existieren, ohne ARCHIBALD WHEELER R (1911 – 2008) und OSKAR unterschieden, die in der folgenden Inflations-
den Energieerhaltungssatz N MIN KLEIN
BENJA N (1894 – 1977) fest, dass sich aus phase ins Gigantische vergrößert werden und die
zu verletzen. Virtuelle Teil-
chen können so nicht nur
diesen Grundeinheiten eine äußerste Grenze für Keime zukünftiger Sterne und Galaxien bilden.
aus einem Strahlungsfeld, die Gültigkeit der heute bekannten Physik ergibt,
sondern auch aus dem die auf Quantenmechanik (QM) und allgemeiner
Vakuum entstehen. Man
Inflationsphase
Relativitätstheorie (ART) basiert. Berechnungen
spricht von Quantenfluk-
tuationen des Vakuums. unterhalb bestimmten Zeiten und Längen er- Bis ca. 10–33 Sekunden – ALAN GUTH modellierte
geben einfach keine sinnvollen Werte mehr. An die Inflation als Phasenübergang eines das Uni-
dieser Grenze würde die quantenmechanische versum erfüllenden Inflatonfeldes, bei dem dieses
Ortsunschärfe (Å Abbildung 4-11, Seite 127) von einem lokalen Minimum der Energie (oft als
eines Objekts gerade so groß werden, wie sein „falsches Vakuum“ bezeichnet) in sein globales
Schwarzschild-Radius – es müsste gemäß der ART Minimum („echtes Vakuum“) übergeht. Die dabei
folglich zu einem schwarzen Loch werden. Längen freiwerdende Energie wirkt der Gravitationskraft
unterhalb der so definierten Planck-Länge von entgegen und führt deshalb zu einer schnellen
1,616199 ·10–35 Metern haben keinerlei Bedeutung Expansion des Raumes. Dieser Prozess sollte ähn-
Inflatonenfeld mehr. Die Zeit, die Licht bräuchte, um diese Länge lich wie Tautropfen oder Blasen einer kochenden
Der Phasenübergang des
zurückzulegen, wird Planck-Zeit genannt. Sie ist Flüssigkeit an Energiefluktuationen als Keimzellen
Inflatonenfeldes ist die
Folge einer Symmetriebre- die kleinste physikalisch sinnvolle Zeiteinheit. beginnen, und diese Blasen könnten später zu-
chung, wie wir sie bei den Auch andere kleinst- bzw. größtmögliche physi- sammenlaufen. Das Modell lieferte aber zunächst
Higgs-Bosonen kennen ge- kalische Größen lassen sich daraus ableiten, so viel zu große Unstetigkeiten. Es wurde 1982 un-
lernt haben (ÅAbbildung
10-42, Seite 437). etwa das Volumen des ersten „fassbaren“ Stadiums abhängig von ANDREI LINDEE (*1948) sowie PAUL
des Universums als dritte Potenz der Planck-Länge JOSEPH STEINHARDT (*1952) und seinem Dokto-
(10–105 Kubikmeter), seine ursprüngliche Dichte randen ANDREAS JOHANN N ALBRECHT abgewandelt.
(die 1093-fache Dichte des Wassers) und seine Tem- In seiner „new inflation“ genannten Form vermag
peratur (1032 Kelvin). Man geht heute davon aus, es nun die beobachteten relativ geringen Dichte-
dass im Bereich der Planck-Länge alle Kräfte zu schwankungen in der Hintergrundstrahlung zu
einer Urkraft vereinigt sind. Die spekulativen The- erklären. Das Universum soll sich während der In-
orien, die wir in Kapitel 10 kennen gelernt haben, flation um einen riesigen Faktor (vermutet werden
operieren mit Objekten (Strings bzw. Spin-Knoten) Werte zwischen 1018 und 1050) ausgedehnt haben.
in der Größenordnung der Plancklänge (ÅJenseits Die ursprünglichen Quantenfluktuationen und die
des Standardmodells, Seite 437). Raumkrümmung sollten dadurch vergrößert und
weitgehend „flachgebügelt“ worden sein.
Prä-Inflations-Zeitalter
Post-Inflations-Zeitalter
Bis ca. 10–35 Sekunden – In den nach der Planck-
Zeit unvorstellbar kurzen Sekundenbruchteilen Nach ca. 10–33 Sekunden – Die Inflation endet.
dehnt sich das Universum aus, bleibt aber noch Im Gegensatz zu den bisher beschriebenen, teil-
sehr viel kleiner als ein heutiges Atom. Zur Be- weise noch sehr spekulativen Vorstellungen der
schreibung kann nur die Quantentheorie, aber Geschehnisse in den ersten 10–33 Sekunden, kön-
nicht die ART herangezogen werden. Die Hei- nen wir nun die ART in Form der Friedmann-
senbergsche Unschärferelation erwingt unver- Gleichungen für Fragestellungen zur Krümmung
meidliche Quantenfluktuationen (ÅRandspalte) der Raumzeit und zur Entwicklung des Kosmos
– Teilchen entstehen und vergehen ständig aus als Ganzem anwenden. Der heute beobachtbare
Strahlung. Während bei der in dieser Phase herr-
r Teil des Universums überschreitet nach Ende der
schenden Energiedichte die Gravitationskraft von Inflation die Größe eines Gymnastikballs. Aus den
der Urkraft schon abgespalten ist, unterscheiden ehemaligen Quantenfluktuationen sind schwa-
492
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Kandidaten für WIMPs sind meist ebenfalls noch hypothetische Da solche Ereignisse aber sehr selten gefunden wurden, können
Teilchen, z. B. Axionen, supersymmetrische Teilchen (ÅGUT, Grand MACHOs höchstens für einen kleinen Bruchteil der Dunklen Ma-
Unified Theory, SUSY, Supersymmetrie, und WIMPs, Seite 439) terie verantwortlich sein.
oder WDM (Warm Dark Matter) aus Neutrino-Varianten ohne Schließlich glaubt eine Minderheit von Kosmologen, dass
schwache, starke oder elektromagnetische Ladung, die auch nur Dunkle Materie überhaupt nicht existiert, und stützen sich dabei,
über die Gravitation wechselwirken und deshalb sterile Neutrinos z.B. in einer Publikation aus dem Jahre 2010, auf einige Unge-
genannt werden. Aber auch andere Erklärungen für die scheinbare reimtheiten in der vom CDM-Modell vorhergesagten Dynamik der
Wirkung Dunkler Materie sind noch nicht völlig aus dem Spiel. Galaxienbildung. Sollte sich die Dunkle Materie aber tatsächlich als
In Erwägung gezogen wurden etwa sogenannte MACHOs Chimäre herausstellen wie vor über hundert Jahren der Weltäther,
(Massive Astrophysical Compact Halo Objects). Dies sind Objekte so würde dies bedeuten, dass das Gravitationsgesetz Newtons wie
aus normaler baryonischer Materie mit weniger als 0,5 Sonnen- auch die relativistische Fassung Einsteins einer Ergänzung bedürf-f
massen (z.B. Braune Zwergsterne), die nicht leuchten, da sie eine ten. Solche geänderten Dynamiken als Deutungsversuche werden
zum Zünden einer Kernfusion unzureichende Masse besitzen. unter dem Akronym MOND (Modified Newtonian Dynamics)
Allerdings müssten solche Objekte in riesigen Mengen im Halo zusammengefasst. Wie viele der durch das Lambda-CDM-Modell
unserer Galaxis vorkommen, und man müsste ihre bündelnde Wir- r anscheinend befriedigend geklärten Strukturbildungsprozesse sich
kung auf das Licht (Mikrolinseneffekt) detektieren können, wenn auch durch MOND erklären ließen und wie es ggf. um verifizierbare
sie sich vor Hintergrundsternen vorbei bewegen. Entsprechende Voraussagen der Hypothese bestellt ist, bleibt weiteren Untersu-
Untersuchungen fanden vor allem zwischen 1986 und 1993 statt. chungen vorbehalten.
che Dichteunterschiede im Urplasma geworden. sive Particles) bezeichnet werden – ein Wortspiel,
Die Strahlung ist noch so energiereich, dass sich denn Wimps sind in der englischen Umgangs-
spontan Teilchen und Antiteilchen aller Art bilden sprache Schwächlinge, Feiglinge. Langsame
C-Invarianz
und sofort wieder zerstrahlen können. Zwischen Partikel sind, so lehrt es uns die Thermody- Lange wurde angenom-
Strahlung und Teilchen besteht überall ein lokales namik, identisch mit geringen Temperaturen. men, dass Zerfälle von
Teilchen und Antiteilchen,
Gleichgewicht, allerdings lässt die weiterhin mit Man spricht daher von CDM (Cold Dark Mat-
die sich nur durch ihre
Überlichtgeschwindigkeit erfolgende Expansion ter). Das Modell wird wegen der implizierten Ladung (C = charge) un-
des Raums keinen globalen Ausgleich zwischen Annahme einer kosmologischen Konstanten Λ terscheiden, genau analog
entfernteren Teilen des Universums mehr zu. (Lambda) auch als ΛCDM-Modell bezeichnet. ablaufen. Dies erwies sich
für Reaktionen unter Be-
Man muss annehmen, dass die Teilchen – in teiligung der schwachen
Entstehung der Dunklen Materie? einem noch unbekannten Prozess – nach der Wechselwirkung als falsch.
Inflation, aber wegen ihrer großen Masse noch
P-Invarianz
Nach ca. 10–15 Sekunden? – Solange die Natur vor den Quarks entstanden sind. Dies könnte P steht für Parität, das
der Dunklen Materie weitgehend unbekannt ungefähr nach den ersten 10–15 Sekunden ge- Spiegeln einer Reaktion.
ist, müssen wir alle Aussagen hierzu mit großer schehen sein. Als grobe Schätzung für die Masse Tatsächlich ist bei der
schwachen Wechselwir-
Vorsicht betrachten. Hier sei daran erinnert, dass eines solchen WIMP wird angenommen, dass sie kung auch eine Paritäts-
wir ihre Existenz in den Halos um alle Galaxien mit der von Atomen vergleichbar ist. In dem su- verletzung festzustellen.
hauptsächlich aus der Dynamik der Bewegung perdichten und superheißen Zustand des jungen Spiegelbildliche Reaktio-
nen laufen verblüffender-
von Sternen in der Galaxien sowie von Galaxien Universums besaßen Photonen so viel Energie, weise nicht genau gleich
in Galaxiensuperhaufen folgern. dass aus ihnen jederzeit alle Arten von Teilchen ab.
Zunächst standen schnelle Neutrinos im Ver- und ihre Antiteilchen entstehen konnten. Auch
dacht, eine Hot Dark Matter (HDM) zu bilden. die Art der beobachteten Strukturbildung im
CP-Invarianz
Mittlerweile hat man aber erkannt, dass die Universum, nämlich ausgehend von kleinen hin Unter diesem Begriff ver-
drei bekannten Arten der Neutrinos des Stan- zu großen Strukturen (Bottom Up), passt viel steht man die Annahme,
dass wenigstens die
dardmodells (ÅAbbildung 10-24, Seite 428) besser zur Hypothese einer Cold Dark Matter
gleichzeitige Vertauschung
dafür viel zu massearm sind. Stattdessen könnte (CDM). Sie ist – obwohl die WIMPs selbst noch von rechts/links und der
dunkle Materie aus sehr schweren, verhältnis- nicht identifiziert werden konnten – momentan Ladung symmetrisches
mäßig langsamen und nur über die schwache die wahrscheinlichste Theorie und wird deshalb Verhalten hervorbringt.
Wie sich zeigte, wird aber
Kraft interagierenden Teilchen bestehen, die im dem folgenden Szenario der Strukturbildung selbst diese Invarianz
Englischen als WIMPs (Weakly Interacting Mas- zugrunde gelegt. verletzt.
493
KAPITEL 11 Kosmologie
Nach ca. 10–6 bis 100 Sekunden – Quarks unter-r Bis ca. 20 Minuten – In den ersten Minuten läuft
liegen nun dem Confinement aufgrund der starken die primordiale Elementsynthese ab. Zunächst
Kernkraft. Sie finden sich in Zweiergruppen zu entsteht aus Protonen und Neutronen vorwie-
Mesonen und in Dreiergruppen zu Protonen (Was- gend Deuterium (2H), das jedoch unter diesen
serstoffatomkernen) und Neutronen zusammen. Bedingungen fast vollständig zu Helium (4He)
weiter reagiert. Am Ende – so sagt es die Theorie
Strukturbildung Dunkler Materie – sind etwa 25 Prozent der Nukleonen zu 4He-
Kernen umgewandelt, und es existieren Spuren
Nach 100 Sekunden – Etwa eine Sekunde nach von Lithium. Neutronen, die noch nicht Unter-
dem Urknall beginnt die Dunkle Materie, die ja schlupf in einem Kern gefunden haben, unterlie-
nicht mit Photonen wechselwirkt, verstärkt zu gen dem β--Zerfall und wandeln sich mit einer
verklumpen. Gravitation und Expansion des Alls Halbwertszeit von ca. 15 Minuten in Protonen,
liefern sich ein Tauziehen. Ausgangspunkte für die Elektronen und Antineutrinos um. Messungen
gravitative Instabilität sind winzige Dichteschwan- der Verteilungen von Wasserstoff und Helium im
494
Erde, Wasser, Luft und Feuer
rend, denn von „wieder“ („Re-“) kann bei der nes Zusammenstoßes, so kann ein Elektron auf
Geburt des Universums natürlich nicht die Rede eine höhere Schale gehoben werden. Beim Zu-
sein. Das Strahlungsfeld wird von der Mate- rückfallen emittiert es die Energie als Photon
rie entkoppelt, da die elektrischen Ladungen entsprechender Wellenlänge. Betrachten wir die
nun in Atomen „eingeschlossen“ sind, die auf Anregungsenergie des energetisch niedrigsten
11-76
der Größenskala der Lichtwellenlänge neutal mit einiger Wahrscheinlichkeit auftretenden Antennen-Galaxien. Diese
erscheinen, und die heute als Mikrowellenhin- Übergangs im Wasserstoffatom (der Lyman-α- Hubble-Aufnahme zeigt
tergrund in Erscheinung tretende Schwarzkör- Übergang zwischen 1s- und 2s-Orbital). Dabei die Galaxien NGC 4038
und NGC 4039, die sich
perstrahlung entsteht (Å Abbildung 11-70, Seite stellt man fest, dass die emittierte Wellenlänge offenbar im Stadium einer
489). Sie zeigt auf verschiedenen Winkelskalen von 121,6 nm einer Energiedifferenz von 10,4 eV Verschmelzung befinden.
495
KAPITEL 11 Kosmologie
11-77
Rotverschiebung – Alter
– Radius. Zusammenhang
zwischen kosmologischer
Rotverschiebung, relati-
ver Größe des sichtbaren
Horizonts und Alter des
Universums.
496
Erde, Wasser, Luft und Feuer
schen den Sterneninseln war wesentlich kleiner. sondern stets zumindest Strahlung aus der Um- Big Bore
Selbst unsere Milchstraße wird voraussichtlich gebung enthält, leuchtet schon klassisch unmit- Dieses langweiligste Ende geht
in 5 Milliarden Jahren mit der Andromeda- telbar ein, denn kein Körper lässt sich bis genau davon aus, dass sich einfach alle
Materie für immer auseinander
bewegt und nichts Aufregendes
mehr passiert. Die Temperatur
des Kosmos sinkt nach unend-
licher Zeit zum absoluten Null-
punkt ab.
KAPITEL 11 Kosmologie
Geborgte Existenz
Obwohl unsere Zivilisation gerade einmal einige s Ist das Universum in einen höherdimensio-
Jahrtausende existiert und die meisten Zukunfts- nalen Raum eingebettet?
szenarien eher Voraussagen über Hunderte von
498
= 42
© 201
2012
012
0 12 WEELSCH
LLSC
LS
SSC
C & PAR
PARTNER
PART
ARTNER
AR
A RTNER
T SCIENTIF
SCIEN
CIENTIF
C ENT
NTIFIC
N CMMULTI
MU
MULT
ULT
LT
T ME
TI MEDIA
MED
M ED A
KAPITEL 12
Extraterrestrisches Leben
Die biologische Evolution
Lebendige Materie
Zum zwölften Kapitel
Auf den ersten Blick könnte es vielleicht überraschen, in schließen. Es ist den Strukturen lebender Organismen und
diesem Buch ein getrenntes Kapitel über „Lebende Systeme“ der Emergenz ihrer typischen Eigenschaften aus einfacheren
zu finden. Denn die Zeiten, als Lebendiges für grundsätz- Komponenten gewidmet. Hier wird die Stellung des irdischen
lich verschieden von Unbelebtem erachtet wurde, sind in Lebens im Allgemeinen und des Menschen im Besonderen in
der Naturwissenschaft eigentlich seit FRIEDRICH WÖHLERS der materiellen Welt thematisiert und damit auch der Bogen
Harnstoffsynthese im Jahr 1828 vorbei. Die Idee der „Le- zu den einleitenden und historischen Kapiteln gespannt. So
benskraft“, die nach früheren Annahmen alle Wesen und wie die Betrachtung des Kosmos uns mit neuen technischen
ihre Komponenten beseelte, ist mit jeder neuen Erkenntnis „Augen“ auf eine zuvor verborgene Welt schauen lässt, so
tiefer im Speicher der offensichtlich falschen und nur noch ist es die Untersuchung des Lebendigen, die uns gestattet,
historisch interessanten Hypothesen verstaubt. Dass sie unter unsere im ersten Kapitel thematisierte Stellung in der Welt
Ignoranz aller Forschungsergebnisse auch noch heute von zu hinterfragen.
manchen vertreten wird, entspringt wohl dem menschlichen An einigen Stellen werden wir in diesem Kapitel auch auf
Gefühl, dass bewusste und fühlende Lebewesen „besonders“ Theorien eingehen, wie Leben entstehen kann und wie es sich
sind, abgehoben von einer „gefühl- und willenlosen“ Materie. – auf den ersten Blick scheinbar im Gegensatz zum Entropie-
In der Tat sind Lebewesen – verglichen mit anderen Formen gesetz – zu immer höheren Organisationsgraden aufschwingt.
der Materie – etwas Besonderes, wie wir noch sehen werden. Wir werden uns hierbei aber nicht auf die Diskussion um
Das Besondere ist jedoch nicht Folge einer expliziten Lebens- „Intelligent Design“ als vermeintliche Alternative zur Evolu-
kraft, sondern eine Folge der Selbstorganisation von Materie tion nach CHARLES DARW R IN (1809 – 1882) einlassen. Jedem,
unter bestimmten Bedingungen. der im 21. Jahrhundert noch Zweifel an den Grundzügen der
Die offensichtlich materielle Natur allen Lebens erklärt Evolution durch Mutation und Selektion hat, sei die Lektüre
auch, warum wir in diesem Buch schon so häufig Produkten der Originalveröffentlichung DARW R INS „Über die Entstehung
und Baustoffen lebender Systeme begegnet sind. Materielle der Arten durch natürliche Zuchtwahl“ nahegelegt. Es ist
Bestandteile von Lebewesen können ohne weiteres als mehr vermutlich eine der am sorgfältigsten belegten und inspirie-
oder weniger komplexe Moleküle betrachtet werden, ange- rendsten wissenschaftlichen Arbeiten überhaupt. Durchaus
fangen von einfachen Zuckern und Fetten über Polymere wie erhellende Betrachtungen zu diesem Thema aus neuerer Zeit
Cellulose oder Stärke bis hin zu den komplex strukturierten finden sich z. B. auch bei dem Entwicklungsbiologen RICHARD
Nukleinsäuren und Eiweißen. DAW
A KINS (*1941).
Doch das ist nicht die ganze Geschichte. Je besser man
lebende Systeme seit dem Aufblühen der Molekularbiologie
in den 1950er Jahren versteht, je tiefer man eindringt in
die Details aller Lebensvorgänge, desto mehr gerät man ins
Staunen über die in der Evolution entstandenen Feinstruktu-
ren. Sie ermöglichen letztlich den kontrollierten simultanen
Ablauf einiger zehntausend wichtiger chemischer Reaktionen
in Lebewesen und führen dazu, dass so eine Ansammlung
chemischer Reaktionstöpfchen nun dieses Buch in Händen
hält und sich beim Lesen (hoffentlich) einige Verbindungen
in den Synapsen ihres Großhirns verändert – das im übrigen
die komplexeste Struktur im Universum ist, die wir kennen.
Nach langer Diskussion haben wir uns daher entschlos-
sen, dem Schaudern bei der Betrachtung der Komplexität der
lebenden Materie einen eigenen Platz zu geben und dieses
Buch mit einem Kapitel über die materiellen, strukturellen
und dynamischen Besonderheiten lebendiger Materie zu
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Lebendige Materie
Das Geheimnis der Rose chen. Nicht die Stoffe an sich machen das Le-
ben aus, sondern deren Zusammenwirken in
Was ist eigentlich Leben? einem erstaunlich geordneten, raumzeitlichen
Muster. Dieses Muster ist nicht auf ein Indi-
In der Vase auf dem Tisch vor mir steht eine viduum oder eine Spezies beschränkt, sondern
einzelne gelbe Rose. Betrachte ich ihre Blüte, es erstreckt sich über die gesamte Lebewelt der
ihren Stiel oder ihre Blätter mit dem analytischen Erde – über unser lebendes System.
Blick eines Naturwissenschaftlers und versuche Es ist bis heute nicht gelungen, sich auf eine
mir ihre molekularen Strukturen – soweit sie mir einfache Definition zu einigen, was Leben wirk-
bekannt sind – möglichst genau vorzustellen, lich ausmacht. Man schreibt ihm gerne einige
dann fällt zunächst ihre ungeheure Komple- „typische“ und „unverzichtbare“ Eigenschaften
xität auf. Und selbst die in der Schule und im zu, nur um bald zu erkennen, dass sich durchaus
Studium gelernten molekularen Modelle sind Ausnahmen denken lassen, welche die jeweilige
von der Realität dieser Gestalt „Rose“ so weit Definition unterlaufen. Naturgemäß gehen wir
entfernt, wie das Libretto einer Oper Verdis von im Folgenden vom Beispiel der irdischen Bio-
der Vorführung selbst. Diese Rose ist grundle- sphäre aus. Von dem System also, zu dem wir
gend und völlig verschieden von einem Kristall selbst gehören und ausnahmslos alle Exempel,
oder auch von einer Plastikblume. Und doch die wir kennen – angefangen von den Bakterien
besteht auch sie nur aus genau den gleichen (Bacteria), über die Archaeen (Archaea) bis hin
„natürlichen“ Atomen, welche die Chemiker zu unserem Zweig des Stammbaums, von dem
im Periodensystem so übersichtlich zusammen- sich die Tiere als Eukaryoten (Eukarya) aber
gestellt haben. Denn andere gibt es nicht. Schaut auch die Pilze (Fungi) und Pflanzen (Plantae)
man tiefer, so ist sie letztlich aufgebaut aus den ableiten. Die zuerst genannten, die Bakterien,
wenigen grundlegenden Teilchen, die uns die sind übrigens von Beginn an und – man kann es
Physiker im Standardmodell als vorläufige ul- nicht anders formulieren – selbst heute noch die
tima ratio der Weltsicht präsentieren. Wie wir in beherrschende Lebensform auf der Erde.
früheren Kapiteln diskutiert haben, bestehen sie Die Eigenschaften von Lebewesen können
aus Elektronen sowie Protonen und Neutronen im Einzelfall, etwa in bestimmten Lebensstadien,
(bzw. deren Konstituenten, den up-Quarks und sehr unterschiedlich ausgeprägt sein - vergleiche
den down-Quarks). Die Rose auf dem Tisch man nur einen ausgewachsenen Baum mit einem
oder die Hand eines Kindes daneben scheint nahezu trockenen Samenkorn. Einzelne dieser
in einem ganz seltsamen und verstandesmäßig Eigenschaften können auch durchaus in Sys-
schwer fassbaren Gegensatz zu den nur wenigen temen auftreten, die wir eindeutig als unbelebt
Grundkomponenten zu stehen, die Lebewesen bezeichnen. Beispiele wäre das Wachstum von
typischerweise aufbauen. Was also ist das „Ge- Kristallen oder die Kommunikation elektroni-
heimnis der Rose“? scher Systeme. Andere für Leben so typische Ei-
genschaften wie Fortpflanzung und Entwicklung
Wie definiert man Leben? wiederum könnten sich vielleicht bei fremden,
außerirdischen lebenden Systemen auch nur auf
D e n U n te r sc hi ed z w i sc h e n L ebe n u n d Tod Selbstreparatur und Adaptation beschränken.
kennt schon jedes Kind. So wenig man sich Der chilenische Neurobiologe und Philo-
unter „ein wenig schwanger“ vorstellen kann, soph HUMBERTO MATURANA (*1928) prägte im
so unnütz scheint es auch zu sein, von mehr Versuch, die Charakteristika von Leben in eine
oder weniger „lebendiger“ Materie zu spre- allgemeingültige Definition zu kleiden, in den
501
KAPITEL 12 Leben – Materie organisiert sich
1970er Jahren den Begriff Autopoiesis (altgriech. genz, Seite 160). So beruht die Eigenschaft
autos, selbst und poiein, schaffen). Gemeint ist eines Metalls, den elektrischen Strom zu leiten,
damit, dass ein lebendes System so organisiert auf den Eigenschaften seiner Atome, man kann
sein muss, dass das Zusammenwirken seiner aber nicht von der Leitfähigkeit eines einzelnen
Teile wieder ein solches organisiertes System Metallatoms sprechen. Bei Lebewesen gehören
hervorbringen kann. Es gibt also nach dieser De- zu den emergenten Eigenschaften unter ande-
finition keinen Unterschied zwischen dem Erzeu- rem eine differenzierte Reaktion auf die Um-
ger und dem Erzeugten. Vereinfacht kann man welt – und schließlich unser Bewusstsein. Nie-
auch von Replikation als zentraler Eigenschaft mand kann heute ausschließen, dass zukünftig
sprechen, obwohl bei der konkreten Definition Computer nicht ein Bewußtsein ihrer eigenen
autopoietischer Systeme noch eine ganze Reihe Existenz entwickeln können und in der Lage
anderer Eigenschaften eine Rolle spielen. sind, die Erzeugung eigener Kopien zu steuern.
Sollte man dies dann nicht als Leben bezeichnen?
Oder als Bewußtsein ohne Leben? Aber letztlich
braucht jede Information auch einen Träger, der
1 Die Einheit hat erkennbare Grenzen. nicht zwingend mit typisch biologischen Stof-
2 Die Einheit besteht aus Komponenten.
fen realisiert sein muss, sondern dessen Kom-
ponenten aus Halbleitern oder Nanoröhrchen
Die Einheit ist ein mechanistisches System. Die Relationen zwischen den Kompo- bestehen könnten. Am Ende genügt auch ein
3 nenten bestimmen die Eigenschaften des Gesamtsystems.
System miteinander wechselwirkender Quanten-
Die Komponenten, welche die Grenze der Einheit darstellen, tun dies als Folge felder in einem Quantencomputer der Definition
4 der Relationen und Interaktionen zwischen ihnen.
MATURANAs.
Die Komponenten, welche die Grenze der Einheit darstellen, werden produziert Die Bedingungen in Punkt 4 und 5 drücken
5 von Komponenten der Einheit selbst, oder entstehen durch Transformation von
aus, dass die Grenze zwischen der lebenden
Elementen, die keine Komponenten sind, durch Komponenten.
Einheit und deren Umgebung nicht von außen
Alle übrigen Komponenten der Einheit werden ebenfalls so produziert oder sind
6 anderweitig entstandene Elemente, die jedoch für die Produktion von Kompo- definiert ist; es gibt also kein „Reaktionsgefäß“,
nenten notwendig sind. das nicht Teil des Systems ist und nicht von
diesem produziert oder aus fremden Elementen
12-1 „zusammengebaut“ wird. Ganz klar hat der
Autopoiesis. Die Defini- Maturanas Definition lebender Systeme
tion einer autopoietischen Autor dabei die Zellmembran im Sinn, aber
Einheit nach HUMBERTO R. MATURANAs Definition der Autopoiesis enthält bis zu einem gewissen Grad werden die Forde-
MATURANA und FRANCISCO 6 Punkte, die in ÅTabelle 12-1 aufgeführt sind. rungen auch schon von einer Seifenblase erfüllt
VARELA (1946 – 2001) ist
eher abstrakt und benötigt
Punkt 1 drückt die Forderung aus, überhaupt (ÅAbbildung 12-2 und 6-41, Seite 332). Etwas,
konkretisierende Erläute- zwischen dem lebenden System selbst und seiner das im Inneren einer Seifenblase lebt und in der
rung (siehe Text). Umgebung unterscheiden zu können. Lage wäre, diese auch zu produzieren, würde
Punkt 2 stellt sicher, dass triviale homogene also diese Bedingung erfüllen.
Systeme ausgeschlossen werden. Beides ist un- Punkt 6 ist letzten Endes eine formale Defini-
mittelbar einleuchtend. tion dessen, was man als den Stoffwechsel eines
Interessant ist der dritte Punkt. Die Beschrän- Lebewesens bezeichnet. Ein Lebewesen nimmt
kung auf mechanistische Systeme schließt nicht- von außen Stoffe auf und produziert daraus
materielle Elemente aus, mithin also auch jeden seine eigenen Komponenten, oder nutzt sie, um
Bezug auf eine geistige Substanz als Essenz des diese Komponenten zu produzieren. Damit ge-
Lebendigen. Die Eigenschaften des Gesamtsys- hören Viren nicht zu den Lebewesen, da sie über
tems entspringen zwar den Relationen zwischen keinen Stoffwechsel verfügen und vollständig auf
den Komponenten, sind aber durchaus verschie- den Stoffwechsel der Wirtszelle angewiesen sind.
den von deren Eigenschaften. Oft kann ja eine Es fällt auf, dass der Schwerpunkt der De-
Systemeigenschaft überhaupt nicht sinnvoll für finition MATURANAs stark auf dem Aufbau der
eine einzelne Komponente definiert werden. So lebenden „Einheit“ und deren Grenze zur Um-
etwas haben wir auch schon früher in diesem gebung gelegt wird. Seine Definition ist nach
12-2 Buch angetroffen. Es tritt nicht nur bei lebenden fast einem halben Jahrhundert Forschung noch
Seifenblasen. Sie ähneln
in ihrer Struktur Biomem- Systemen auf und wird als Emergenz bezeichnet immer aktuell, wenn sie auch ein wenig abstrakt
branen. (ÅDas Ganze ist mehr als seine Teile: Emer- daherkommt.
502
Erd
Erde
e, W
genannt, weil sie entscheidende Ähnlichkeiten Feuer hingewiesen, die wir bereits im Kapitel 8
aufweisen und je nach betrachteter Metaebene angesprochen hatten. Auf dieser abstrakten
sogar gleichbedeutend sein können. Wächst ein Ebene betrachtet, sind es eigentlich nur ganz we-
Organismus, so heißt das in der Regel, dass sich nige Eigenschaften, welche die beiden Prozesse
seine einzelnen Zellen replizieren und teilen, also grundsätzlich unterscheiden. Hierzu gehört im
fortpflanzen. Viele Pflanzenarten können sich Wesentlichen die beim Feuer fehlende materielle
asexuell durch „Ableger“ vermehren, was im Grenze zur Außenwelt und die nicht vorhandene
wörtlichsten Sinne nichts anderes bedeutet als Codierung in einem replizierten Informations-
Fortpflanzung durch Wachstum und Umgestal- speicher, welcher der DNA entsprechen würde.
tung des Organismus. Normalerweise hat aller-
dings Fortpflanzung in unserer Lebewelt eine
andere Hauptfunktion. Durch die Mechanismen Weniger Materie – mehr Form
von Veränderlichkeit (Mutation) und Selektion,
die der Darwinschen Evolutionstheorie zugrunde
liegen, konnte es im Rahmen der Fortpflanzung Materielle Heterogenität
erst zur Entstehung und Weiterentwicklung von
Arten kommen. Insbesondere in Verbindung Gegenüber unbelebter Materie, wie etwa einem
mit der Genmischung im Zuge der sexuellen Metall oder einem Ionenkristall, fällt zunächst
Fortpflanzung wird jede neue Generation erneut die starke Komplexität lebendiger Strukturen
auf ihre Angepasstheit an die veränderlichen auf. Komplexität ist laut einer Definition von
Lebensbedingungen getestet. Dies ist ein effizi- Sir JULIAN HUXLEY (1887 – 1975), dem Bruder
entes – wenngleich nicht das einzige denkbare des Schriftstellers ALDOUS HUXLEY, aber nichts
– Verfahren, um Anpassung zu gewährleisten. anderes als Heterogenität, hier diejenige der
Leider ist dies bei höheren Organismen auch mit molekularen Bestandteile. Greift man beliebige
der „Erfindung“ des Todes verbunden. Während Stücke aus einem einfachen Metall, aus einem
das Ende des individuellen Lebens bei Mik- Glas oder Kunststoff heraus, würde man im
roben (außer bei widrigen Umwelteinflüssen) Wesentlichen immer wieder nahezu identische
noch durch deren Teilung definiert ist (bei der Strukturen finden: in einem anderen Ausschnitt
keine „Leiche“ zurückbleibt), sterben fast alle aus der recht monotonen Kristallstruktur des
anderen Organismen nach sehr unterschiedli- Metalls, in einem Stück eines sich immer wieder-
chen Zeiträumen von Tagen bis Jahrtausenden. holenden Polymerfadens oder in einer amorphen
Nur wenige Spezies haben gelernt, dem Tod ein Anordnung immer gleicher Silikatmoleküle in
Schnippchen zu schlagen. Bei Süßwasserpolypen einem Glas. Möglicherweise ein wenig verdreht
etwa hat man noch keine Anzeichen von Altern oder mit Baufehlern versehen, aber doch nichts
beobachtet. Auch von einer Quallenart (Turrit- grundsätzlich Neues.
opsis nutricula) weiß man, dass sich Individuen Bei der Rose haben wir gute Chancen, auf
am Ende eines Lebenszyklus entdifferenzieren sehr unterschiedliche molekulare Komponenten
und so quasi einen Neustart machen können – zu stoßen. Wir fördern einmal vielleicht aus ei-
auch sie sind potenziell unsterblich. nem Stück einer Zellmembran ein Lipidmolekül
zu Tage, ein anderes Mal ein Kohlenhydrat aus
6 Informationsaustausch einem Stärkekorn, ein Cellulosemolekül aus der
Eine weitere Eigenschaft, die wir Lebewesen zu- Zellwand, das Wachs aus einer Blattoberfläche,
schreiben können, ist der Austausch von Infor- r das Eiweiß eines Enzyms oder, wenn wir Glück
mationen mit ihrer Umwelt und entsprechende haben, sogar eine Stück DNA aus dem Zellkern.
Reaktion auf Veränderungen. Allerdings handelt Vielleicht finden wir ein Carotinoidmolekül des
es sich hier wieder um eine zwar notwendige, aber gelben Blütenfarbstoffs oder ein Chlorophyllmo-
keine exklusive Eigenschaft. Selbst ein einfaches lekül aus einem Blatt.
Gerät wie ein Thermostat reagiert auf Informa- Die Moleküle werden sich häufig in ihrem
tionen aus der Umwelt und interagiert mit ihr. Bau stark unterscheiden. Noch wichtiger sind
An dieser Stelle sei auch noch einmal auf aber deren Anordnung und die schwachen inter-
die erstaunliche und amüsante Analogie der molekularen Wechselwirkungen zwischen ihnen.
Eigenschaften von Lebewesen mit denen von Meist sind komplexe biologische Moleküle wie
504
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Spurenelemente
Elemente des irdischen Lebens (CHONPS) Die „großen 6“ sind na-
türlich bei weitem nicht
die einzigen Elemente, die
Wir haben bereits in Kapitel 4 die wichtigsten ren (–COOH), Ether (–O–) und Ester (–COO–) in der heutigen Lebewelt
unverzichtbar sind. Hier
chemischen Elemente vorgestellt, die lebende genannt (Å Funktionelle Gruppen, Seite 335). wären vor allem noch ei-
Materie charakterisieren. In Kapitel 11 wurde Stickstoff ist weniger stark elektronegativ nige Alkali- und Erdalkali-
klar, dass diese keineswegs exotisch, sondern als Sauerstoff. Er stellt in organischen Mole- ionen (Natrium, Kalium,
Calcium, Magnesium)
im Universum sehr weit verbreitet sind. Was- külen so etwas wie eine sanftere Reaktivität zu nennen und deren
serstoff, entstand bereits beim Urknall, die bereit und trägt durch seine Dreibindigkeit Anionen wie Chlorid. Sie
anderen waren unter den ersten, die bei Kern- auch wesentlich zur Vielfalt der organischen stabilisieren Zellstrukturen
als Elektrolyte und bauen
reaktionen in Sternen gebildet wurden. So ist Chemie bei. Kommen Heteroatome in einem Membranpotenziale für
auch die große Verbreitung von Wasser (H2O) Ring eines zyklisch geschlossenen organischen die Nervenleitung auf.
leicht erklärlich. Moleküls vor, so spricht man von heterocycli- Auch nutzen zahlreiche
Enzyme (Proteine mit
Kohlenstoff, das typische Lebenselement, schen Verbindungen. Solche Ringe sind typi-
katalytischen Funktionen)
bildet in vielgestaltiger Weise nicht nur Lipide sche Strukturelemente bei vielen Zuckern, bei die Fähigkeit von Über-
(Fette), Kohlenhydrate (Zucker) und Proteine Protein-Seitenketten und kommen insbesondere gangsmetallen wie Eisen,
Kupfer und Mangan,
(Eiweiße), sondern ist wirklich überall vertre- auch bei Bestandteilen von Nukleinsäuren, den
zwischen verschiedenen
ten. Zigtausende Moleküle mittlerer Komple- Nucleosiden vor. Oxidationsstufen wech-
xität und eine nicht eingrenzbare Anzahl von In Proteinen kommen zwei Aminosäuren seln zu können. Diese
Makromolekülen bestehen aus Kohlenstoff- (Tryptophan und Cystein) vor, die Schwefel in Übergangsmetalle gehö-
ren zu den sogenannten
gerüsten. ihrer Seitenkette tragen. Dieser kann verschie- Spurenelementen, also un-
Ähnlich weit verbreitet ist auch Wasserstoff. dene Stellen eines Proteinfadens miteinander verzichtbaren Substanzen,
Seine unpolaren Bindungen zu Kohlenstoff sät- quervernetzen und spielt damit eine Rolle bei die nur in sehr geringer
Konzentration benötigt
tigen die meisten Kohlenstoffbindungen ab und der Stabilisierung der räumlichen Struktur. Der werden (beim Menschen
sorgen damit für eine gewisse Mindeststabilität unangenehme Geruch faulender organischer weniger als 50 mg / kg
vieler organischer Moleküle. Diese sind aber Substanzen ist wesentlich auf Abbauprodukte Körpergewicht).
an spezifischen Stellen durch reaktivere, so- dieser Aminosäuren wie Schwefelwasserstoff
genannte funktionelle Gruppen aufgehoben, (H2S) und Mercaptanen (R-SH) zurückzufüh-
die beispielsweise Doppelbindungen zwischen ren. Schwefel findet sich auch in katalytisch
Kohlenstoffatomen oder Heteroatome (andere aktiven Eisen-Schwefel-Proteinen (hierauf wer-
als C und H) enthalten. Reine gesättigte Koh- den wir bei der Besprechung der Chemischen
lenwasserstoffe (solche ohne Doppelbindun- Evolution noch zu sprechen kommen).
gen) spielen deshalb auch nur eine untergeord- Phosphor schließlich ist das Lebenselement,
nete Rolle. Meist sind sie, wie die aus Erdöl das zusammen mit Sauerstoff (als Phosphat)
stammenden, sekundär aus ehemals lebender und dem Zucker Desoxyribose eine Grund-
Materie hervorgegangen. Ungesättigte Kohlen- struktur der DNA-Stränge bildet. Unverzicht-
wasserstoffketten wie Carotinoide findet man bar ist es auch in Form von ATP (Adenosintri-
beispielsweise als sekundäre Pflanzenstoffe. phosphat) für den Energiestoffwechsel und in
Mit polaren Endgruppen versehen bilden sie Form von Phospholipiden als Bestandteil von
die wesentlichen Strukturelemente der Zell- Biomembranen. Phosphor ist deshalb auch ein
membranen. wichtiges Düngemittel für Pflanzen, das es den
Bei den funktionellen Gruppen kommen Menschen in den letzten hundert Jahren erlaubt
oft die anderen erwähnten Lebenselemente ins hat, die landwirtschaftliche Produktion auf ein
Spiel. Sauerstoff ist stark elektronegativ und Vielfaches zu steigern. Seine nur noch sehr be-
damit für die Reaktivität vieler typisch orga- grenzten Vorräte und nicht schnell zu findende
nischer Verbindungsklassen verantwortlich. Alternativen zum Phosphor verursachen größte
Hier seien exemplarisch Aldehyde (–CHO), Sorgen für die Welternährung in den kommen-
Alkohole (–OH), Ketone (–CO–), Carbonsäu- den Jahrzehnten.
12-4
Typische Lebensmoleküle. Obwohl sie aus fast den
gleichen chemischen Elementen bestehen, zeigen Be-
standteile von Lebewesen bis in molekulare Dimensionen
hinein einen sehr heterogenen Aufbau. Die beteiligten
Stoffe besitzen meist ein hohes chemisches Potenzial. Sie
sind also nicht im chemischen Gleichgewicht und können
bei ihren Reaktionen Energie freisetzen. 505
KAPITEL 12 Leben – Materie organisiert sich
Eiweiße auch nicht starr. Sie verbiegen oder durch ein pflanzliches oder ein tierisches Organ,
falten sich und können abhängig von ihrer che- so kann man noch viel mehr Gewebearten unter-
mischen Umgebung mehrere verschiedene stabile scheiden. Deren erschöpfende Aufzählung würde
Konfigurationen aus bilden. hier viel zu weit gehen. Sie bilden Stützgewebe,
Auch werden wir immer wieder auf Mole- Speichergewebe und viele mehr. Beim Menschen
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
küle treffen, die gerade an chemischen Reak- unterscheidet man etwa 220 verschiedene Ge-
tionen beteiligt sind, die gerade auf-, ab- oder webetypen.
umgebaut werden. Lebende Systeme sind keine Allen ist gemeinsam, dass sie aus gewebespe-
statischen Strukturen. Es ist immer etwas los. zifisch spezialisierten Zellen bestehen, die ge-
Wie auf einem orientalischen Markt werden häuft an einem Ort vorkommen, in der Regel in
ständig Stoffe und Energie zwischen allen betei- Kontakt zueinander stehen und eine gemeinsame
12-5
Archaea. Diese Zelle eines
ligten Strukturen getauscht. Es sammelt sich und Funktion erfüllen.
Archaeons (Sulfolobus) es wird geteilt, es wird geboren und gestorben.
wurde von XIAOYU XIANg Das einzig Konstante daran ist der stetige Um- Zellen – Grundstrukturen des Lebens
in einer sauren heißen
bau. Das Leben ist ein rastloses Geflecht von
Quelle in der Provinz
Yunnan, China isoliert. Die simultan ablaufenden chemischen Reaktionen. Die Zelle ist die Struktur, die man als die für alle
spindelförmigen Körper Wo dieses Gewimmel am stärksten ist, etwa Lebewesen charakteristische Einheit bezeichnen
sind STSV1-Viren (Sul- im Kern sich teilender Zellen, sind die Struk- darf. Jedes Lebewesen besteht aus einer oder
folobus tengchongensis
Spindle-shaped Virus 1), turen auch irgendwie „am lebendigsten“. Wo mehreren Zellen. Diese Definition schließt Viren
die das Archaeon befallen diese Prozesse träger dahin fließen, etwa beim als Grenzfälle lebender Systeme aus. Der Be-
haben und gerade ausge- Auf- und Abbau tragender Körperstrukturen wie griff (lat. cellula, Kämmerchen) wurde 1665 von
schleust werden.
Knochen, Chitinpanzern oder Perlmuttstruktu- ROBERT HOOKE geprägt, nachdem er die Struktur
ren, ist deren „Lebendigkeit“ weit weniger of- zunächst an Flaschenkorken und dann auch an
fensichtlich. Man könnte in manchen Fällen fast anderen Pflanzengeweben entdeckt hatte.
von einem fließenden Übergang zu unbelebten Erst mehr als 150 Jahre später, Anfang des
Strukturen sprechen. 19. Jahrhunderts, hatte sich die Erkenntnis
durchgesetzt, dass Pflanzenorgane generell aus
Stark strukturiert Zellen bestehen. Diese These wurde 1838 von
12-6 MATTHIAS JACOB SCHLEIDEN (1804 – 1881) expli-
Strukturierung. Betrachtet man die Rose mehr mit Blick auf zit für alle Pflanzen formuliert und kurz darauf
Im direkten Vergleich zei- ihren funktionalen Bau, so treten die hierarchi- von THEODOR SCHWANN W (1810 – 1882) auch auf
gen sich Gemeinsamkeiten
und Gegensätze zwischen schen Strukturen lebender Materie in den Vor- Tiere erweitert.
unbelebter und belebter dergrund. Obwohl Zusammenhänge zu der im Alle Zellen sind von einer Zellmembran
Materie. Typisch für un- vorigen Abschnitt untersuchten Heterogenität abgegrenzte, bis zu einem gewissen Grad eigen-
belebtes ist die Wiederho-
lung genau identischer, existieren, war jene Betrachtungsweise mehr die ständige und sich selbst erhaltende Gebilde. Auf
meist einfacher Baumus- eines Chemikers. Die hierarchischen Strukturen innere und äußere Reize können sie durch den
ter. Charakteristisch für in der Rose betreffen hingegen biologische Kate- Ablauf ganzer Reaktionskaskaden reagieren.
belebte Materie ist ihr
hoher Organisationsgrad
gorien, die sich chemisch nicht einmal besonders In der Folge können sie sich zum Beispiel ver-
mit heterogenen Unter- unterscheiden müssen. formen oder Stoffe abgeben. Insbesondere die
strukturen auf mehreren Wir finden verschiedene, vielfach bereits Möglichkeit vieler Zellen, auf Reize mit extern
Größenskalen. Diese
von außen durch ihre Funktion unterscheidbare sichtbaren Bewegungen zu reagieren, ist wohl
morphologischen Charak-
teristika reichen aber zur Gewebe: die zarten, duftenden und gefärbten diejenige Eigenschaft, die unserer intuitiven
Unterscheidung keinesfalls Blütenblätter, die verfestigten Gewebe des Stils Vorstellung von Leben am nächsten kommt.
aus, denn auch nicht
und der Dornen, die Blätter mit ihrer Wasser Jedes Kind probiert mit einem Stock aus, ob
lebende Objekte können
lebendig anmutende abweisenden und harten Oberseite und mit ihrer ein gefundenes kleines Tier sich bei Berührung
Strukturen bilden und helleren und weicheren Unterseite. bewegt. Tot oder lebendig ist der messerscharfe
Lebewesen entwickeln Nimmt man ein optisches Mikroskop zu – aber manchmal voreilige – Schluss. Selbst-
Strukturen, für die man
auf den ersten Blick einen Hilfe, und nutzt eine der vielen Techniken zum verständlich können solche Bewegungen auch
anorganischen Ursprung Anfärben bestimmter Komponenten in Schnitten, so langsam ablaufen, dass wir sie nicht ohne
vermuten würde.
12-7
Strukturierung in Zellen.
Gemeinsames Charakteristikum aller lebenden Systeme
(zumindest auf der Erde) ist ihr Aufbau aus Zellen, die
sich gegen die „Außenwelt“ durch eine nur selektiv
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
507
50
12-10 Membran durchdringen und den spezifischen eine Aminogruppe (–NH2) sowie eine variable
Aminosäuren. Von den Transport durch die Membran bewerkstelligen Seitengruppe. In Lebewesen kommen nur zwan-
zahllosen möglichen
und zahlreiche andere funktionale molekulare zig Aminosäuren vor, obwohl sich chemisch weit
Aminosäuren kommen
in Proteinen nur zwanzig Strukturen (ÅAbbildung 12-9, Seite 507). mehr herstellen lassen. Wegen ihres tetraedrisch
ganz bestimmte vor und koordinierten zentralen Kohlenstoffatoms sind
diese auch nur in einer der
alle Aminosäuren, außer der einfachsten (Glycin
beiden möglichen spiegel-
bildlichen Formen. Zentrale Biomoleküle mit der Seitengruppe – H), wie man sagt, chiral.
Sie existieren ähnlich wie Handschuhe in zwei
Vertreter einer biologisch wichtigen Stoffklasse spiegelbildlichen Formen, von denen aber nur
haben wir bereits kennengelernt: Fette und Tri- eine, die sogenannte L-Aminosäure tatsächlich
glyceride (Å Öle, Fette und ihre Abkömmlinge, in den Proteinen von Lebewesen vorkommt.
Seite 334). Beide zählt man zur Klasse der Die Abfolge dieser Aminosäuren heißt Pri-
Lipide (griech. lipos, Fett), wasserunlösliche Sub- märstruktur. Sie ist für ein Protein genau so cha-
stanzen, die meist lange Kohlenwasserstoffketten rakteristisch wie die Reihenfolge der Wörter in
besitzen. Lipide sind wichtige Energiespeicher einem Text. Dabei kommt es für die Funktiona-
und Gerüstsubstanzen. lität vor allem auf die dreidimensionale Struktur
Auch eine weitere Stoffklasse ist uns bekannt: an, in die sich die langen Proteinmoleküle falten,
die Kohlenhydrate oder Saccharide. Das Mo- und ob sich mehrere davon zu Komplexen zu-
nosaccharid Glucose (Traubenzucker) ist ein sammen finden. Diese sogenannte Sekundär-
Polyalkohol (mehrwertiger Alkohol, ÅAbbil- und Tertiärstruktur wird wiederum weitgehend
dung 6-45, Seite 150335) und Produkt der durch die Primärstruktur bestimmt. Der Grund
pflanzlichen Photosynthese. Diese energiereiche dafür ist, dass Aminosäuren abhängig von ihrer
Verbindung entsteht unter Nutzung der Licht- jeweiligen Seitengruppe völlig unterschiedliche
energie aus Kohlendioxid und Wasser. Glucose hydrophile oder hydrophobe Eigenschaften auf-
kann als Nahrung von allen Lebewesen verwen- weisen und in Lösung auch mehr oder weniger
det werden und stellt den wichtigsten Ausgangs- leicht positive oder negative elektrische Ladun-
stoff für fast alle Synthesewege in Organismen gen annehmen. In der wässrigen Umgebung des
dar. Auch viele andere Zucker (z. B. Fructose, Zellinneren legen sich positive und negative
Maltose, Ribose, Desoxyribose, Galactose) Kettenteile aneinander. Hydrophile Teile der
kommen in Lebewesen vor. Unter Wasseraus- Kette legen sich vorzugsweise nach außen und
tritt können mehrere Zuckereinheiten Oligo- Bereiche mit eher hydrophoben Aminosäuren
oder Polykondensate bilden. Der gewöhnliche verstecken sich im Inneren des sich automatisch
Rohrzucker (Saccharose) ist beispielsweise ein bildenden geordneten Proteinknäuels.
Zucker-Dimer aus Fructose und Glucose. In Die nach tausenden zählenden unterschied-
Form polykondensierter Kettenmoleküle (Poly- lichen Proteinarten eines Organismus überneh-
saccharide) bilden Kohlenhydrate wie Cellulose men je nach ihrer Struktur ganz verschiedene
oder Stärke auch wichtige Struktur- und Spei- Aufgaben. Teilweise stellen sie Strukturkompo-
cherstoffe (ÅKasten Cellulose, Seite 290). nenten wie im Zellskelett, vor allem aber über-
nehmen sie katalytische Aufgaben im Rahmen
Proteine – des Stoffwechsels. Die räumliche Struktur und
12-11 Makromoleküle aus Aminosäuren angelagerte Cofaktoren wie Metallionen sind
Proteine. Proteine beste- dafür verantwortlich, dass diese Proteine sehr
hen aus Ketten von Ami- Müsste man eine einzelne Verbindungsklasse spezifisch nur bestimmte Reaktionen katalysie-
nosäuren, die über Pep-
tidbindungen verknüpft
benennen, die typisch für das Leben auf der Erde ren. Diese organischen Katalysatoren werden als
sind. Bei Aminosäuren ist, so würde die Wahl wohl auf die Proteine Enzyme bezeichnet.
mit sauren oder basischen (Eiweiße) fallen, da sie im Organismus mit Ab-
Seitengruppen nehmen
stand die vielfältigsten Funktionen übernehmen. Nukleinsäuren
diese in Lösung unter-
schiedliche Ladungen an, Diese Kettenmoleküle sind aus einer Abfolge
die durch ihre Anziehung oft tausender Aminosäure-Einheiten aufgebaut. Die Proteine müssen, um ihre Aufgaben erfüllen
zur Faltung beitragen. Die
Aminosäuren tragen an den vier Bindungen zu können, zuverlässig eine definierte Aminosäu-
dreidimensionale Form der
Proteine ist für die Funk- eines Kohlenstoffatoms neben einem Wasser- rensequenz besitzen. Sie werden auf Grundlage
tion entscheidend. stoffatom (-H) eine Carboxygruppe (-COOH), von Information hergestellt, die auf DNA gespei-
508
Erde, Wasser, Luft und Feuer
muss. Jedes Basenpaar trägt dabei zwei Bit an definierten Sequenzen unter katalytischer Mit- 12-15
Information, entsprechend den vier möglichen wirkung von Zellorganellen, die als Ribosomen Codon-Tabelle (Aus-
Basen an jeder Stelle eines Strangs. Die mensch- bezeichnet werden. Während ein Ribosom auf ei- schnitt). Die Basentripletts
(Codons) der mRNA
liche DNA besteht aus 3,27 Milliarden Basen- ner mRNA entlanggleitet, werden entsprechend kodieren für verschie-
paaren, während manche Bakterien mit einem der Basenpaarung (AU bzw GC) ständig neue dene Aminosäuren. Da
Tausendstel davon auskommen. passende tRNAs angelagert und ihre Aminosäu- 64 Kombinationen aus
drei Basen möglich sind,
ren zu einem Proteinfaden verkettet. Nachdem aber nur 20 Aminosäuren
die tRNAs ihre Aminosäuren abgeliefert haben, produziert werden, wird
werden sie durch Enzyme erneut mit der richti- jede Aminosäure durch
mehrere Codons kodiert.
gen Aminosäure beladen. Sie sind damit auch
Da diese sich oft nur in
selbst nur Katalysatoren der Biosynthese. einer Base unterscheiden,
erhöht dies die Fehlertole-
ranz der Synthese.
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
12-12 12-13
Desoxyribonukleinsäure (DNA). Die DNA besteht aus Biosynthese. In Eukaryotenzellen wird DNA im Zellkern zu
zwei helikal gewundenen gegenläufigen Strängen aus mRNA umgeschrieben (Transkription). Im Cytoplasma findet
Phosphat- und Zuckerkomponenten (Desoxyribose). Sie an Ribosomen die Proteinbiosynthese statt. An die mRNA
sind über Wasserstoffbrückenbindungen zwischen Nu- wird ein passendes Triplett einer der zwanzig tRNAs angela- 509
kleobasen verbunden sind. A bildet zwei Bindungen zu gert, die mit einer spezifischen Aminosäure beladen ist. Wäh-
T, G drei Bindungen mit C. Somit ist die Gesamtstruktur rend die Bindung der Aminosäure an die wachsende Protein-
bereits durch einen Strang komplett festgelegt. kette erfolgt (Translation), wird die tRNA wieder freigesetzt.
KAPITEL 12 Leben – Materie organisiert sich
produziert werden, sei es durch Photosynthese, schinerie entstehen, bei der Proteine und
Zellatmung oder Gärung. In allen Zellen über- DNA in ineinandergreifenden Prozessen
nimmt Adenosintriphosphat (ATP) die Funktion Aufbau und Fortpflanzung einer Zelle voll-
des Energieträgers. Im Energiestoffwechsel wird bringen?
ATP aus Adenosindiphosphat (ADP) oder Ade-
12-16 nosinmonophosphat (AMP) und Phophat wieder Immerhin können wir inzwischen für einzelne
ATP. Adenosintriphosphat
ist der universelle Energie- regeneriert. Bei der Zellatmung handelt es sich Stufen der Lebensentstehung sinnvolle Hypo-
speicher jeder Zelle auf der um Oxidations-Reduktionsreaktionen (Redox- thesen aufstellen und deren Plausibilität im
Erde. Durch Abspaltung Reaktionen), wie die Umsetzung von Glucose und Labor testen. Allerdings wird es vermutlich
eines oder zweier Phos-
phatgruppen wird die ge- Sauerstoff zu Wasser und Kohlendioxid oder die leichter werden, ein lebendes System neu zu
speicherte Energie wieder Umsetzung von Kohlendioxid und Wasserstoff erschaffen, als definitiv herauszufinden, wel-
frei. Das entstehende ADP zu Methan und Wasser (Archaea). Bei der Pho- cher der vielen möglichen Wege in unserem
(-diphosphat) bzw. AMP
(-monophosphat) wird tosynthese entstehen durch Photonenabsorption Fall tatsächlich historisch beschritten wurde.
im Energiestoffwechsel energiereiche Elektronen, deren Energie in che- Man muss befürchten, dass wir die Geschichte
der Zelle wieder „aufge- mische Energie umgesetzt wird. Mit Ausnahme unseres LUCA, des „Last Universal Common
laden“. Die Omnipräsenz
der Substanz und ihr Auf-
der Gärung erfordert der Energiestoffwechsel Ancestor“, nur mit Indizien werden belegen
bau aus einer Nukleinbase Membranstrukturen, um die elektrochemischen können.
und Ribose ist ein Indiz Potenzialdifferenzen der Reaktionspartner gezielt
für eine präbiotische RNA-
Welt. Während DNA den
zur ATP-Gewinnung auszunutzen. Es begab sich zu der Zeit...
Zucker Desoxyribose ent-
hält, enthält RNA Ribose. Die chemische Evolution Fragen wir zunächst danach, wann denn das
Leben auf der Erde unter den damaligen geo-
LUCA - Last Universal Common Ancestor chemischen Bedingungen entstanden sein kann.
Glycolyse und ATP Vor etwa 4,56 Milliarden Jahre entstand
Beim Abbau eines Glucosemoleküls
entstehen 38 ATP-Moleküle:
Wie kann man sich nun das Zustandekommen die Erde durch Zusammenstöße größerer und
dieses so unglaublich komplizierten und gleich- kleinerer Brocken aus der solaren Urwolke.
38 H+ + C6H12O6 + 6 O2 + 38 ADP zeitig so perfekt abgestimmten chemischen Ge- Neben der Energie der kollidierenden Brocken
+ 38 P*i
webes des Lebens erklären? Neben dem Rätsel sorgte auch die von radioaktiven Elementen ab-
→ 6 CO2 + 38 ATP + 44 H2O
des Urknalls und dem Zustandekommen von gegebene Wärme im Erdinneren dafür, dass die
Nutzbar für die Biosynthese sind Bewusstsein zählt die Lebensentstehung zu den Urerde anfangs weißglühend und flüssig war.
davon etwa 30 Moleküle, der Rest drei ganz großen Menschheitsfragen. Es gibt Mit der Zeit sanken schwerere Elemente wie
wird verbraucht für Transportvor-
gänge zwischen Mitochondrium dabei mehrere Hürden, die in der präbiotischen Eisen und Nickel vorzugsweise zum Kern ab,
und Zellplasma. Die Ladung der Entwicklung überwunden werden mussten: leichtere reicherten sich eher an der Oberfläche
Protonen (H+) wird durch die nega- an. Die ältesten Gesteine der Erde stammen
tive Ladung der Phosphatgruppen
(Pi*) kompensiert. 1 Wie und wo entstanden einfache organische aus einer Zeit vor etwa 3,9 Milliarden Jahren.
Grundmoleküle? Darin eingeschlossene winzige Splitter des Mi-
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
12-17
Stufen zum Leben. Die präbiotische Evolution von einfa-
chen organischen Grundbausteinen hin zu einem ersten
Replikator (LUCA, Last Universal Common Ancestor)
wirft noch immer viele Rätsel auf. Obwohl für einige Teil-
prozesse Experimente, Beobachtungen und Hypothesen
existieren, ergibt sich gegenwärtig noch kein stimmiges
Gesamtbild. Auch die dargestellte Reihenfolge ist durch-
aus nicht unstrittig.
Erde, Wasser, Luft und Feuer
nerals Zirkon sind noch etwas älter, nämlich Wie der Mond entstanden
Spurensuche auf der Erde ist. Nach der Kollisions-
etwa 4,2 Milliarden Jahre. theorie streifte vor etwa
Damals herrschten recht unwirtliche Bedin- 4,5 Milliarden Jahren
gungen. In den Zeitraum vor 3,8 bis 4 Milli- Erste Hinweise auf Leben gibt es in Form noch ein letzter Brocken
von der Größe des Plane-
arden Jahren fällt die als „Großes Bombarde- ungewöhnlicher Isotopenzusammensetzun- ten Mars die Protoerde.
ment“ bezeichnete Periode, eine Zeit, in der gen schon in 3,75 Milliarden Jahre alten Ge- Dieser hypothetische
die Meteoriteneinschläge stark zunahmen und steinen auf Grönland. Beweiskräftiger aber Planet bekam den Namen
Theia. Der größte Teil
von denen die erhalten gebliebenen zahlreichen erscheinen Funde 3,4 Milliarden Jahre alter seiner Masse vereinigte
Einschlagskrater auf dem Mond (ÅRandspalte, Mikrofossilien, die 2011 im Sandstein der sich mit der Erde. Etwa
rechts) beredtes Zeugnis ablegen. Wahrschein- Strelley Pool Formation, West-Australien, 1 Prozent der gesamten
Masse wurde dabei als
lich brach die Erdkruste in diesen ersten hun- gefunden wurden. Sie werden als frühe bak- geschmolzenes Gestein in
dert Millionen Jahren immer wieder auf und terienähnliche Lebewesen interpretiert, die Umlaufbahnen geschleu-
verhinderte zunächst die Entstehung organischer Schwefel statt Sauerstoff veratmen konnten. dert und aggregierte nach
dieser Theorie binnen
Verbindungen, denn nur wenige davon sind auch An den wenige Mikrometer großen Struk-
weniger hundert Jahre
nur bis zu einigen hundert Grad Celsius stabil. turen ließen sich kettenförmig angeordnete zum Mond. Dieser war
Zellhohlräume nachweisen und kohlenstoff- der Erde zunächst noch
viel näher als heute, die
Die Uratmosphäre und stickstoffhaltige Bereiche deuten auf eine
Entfernung betrug etwa
ehemalige Zellmembran hin. In unmittelbarer 60 000 Kilometer. Rei-
Die erste Atmosphäre der Erde bestand aus den Nachbarschaft zu den Zellen, die heutigen bung durch extreme Ge-
Urelementen Wasserstoff und Helium, die man lebenden Sulfobakterien frappierend ähneln, zeitenkräfte führte dazu,
dass sich die Erdrotation
auch in den Atmosphären der Gasplaneten fin- wurden Pyrit-Mikrokristalle gefunden und immer mehr verlangsamte
det. Deren Teilchen sind jedoch viel zu leicht, als Stoffwechselprodukte interpretiert. Die und der Mond sich weiter
um dauerhaft an die Erde gebunden zu werden. Theorie der organischer Herkunft wird auch von der Erde entfernte.
Bald entwickelte sich eine zweite Atmosphäre, durch das Vorhandensein überproportional
die wohl hauptsächlich aus Wasserdampf, Koh- vieler leichter Isotope des Kohlenstoffs und
lendioxid und Schwefeldioxid mit geringeren Schwefels in den Strukturen gestützt, denn
Anteilen anderer Gase wie Stickstoff bestand. leichte Isotope werden wegen ihrer leicht hö- Tholine
Flüssiges Wasser konnte aus dieser Atmosphäre heren Reaktivität beim Einbau in Lebewesen (griech. schlammig) sind
erst in einer riesigen Sintflut kondensieren, als etwas bevorzugt. rötlich-braune organische
Substanzen, die man spek-
die Oberfläche sich unter den Siedepunkt des Auf der Erde gab es wohl zur fraglichen troskopisch etwa auf dem
Wassers abgekühlt hatte (dieser muss abhängig Zeit nur an wenigen Stellen feste Landober- Saturnmond Titan, aber
vom damaligen Atmosphärendruck keineswegs fläche. Die Wassertemperatur muss etwa auch auf Kometen und so-
gar in Staubscheiben um
bei 100 °C gelegen haben). Auf welche Weise das 40 – 50 °C betragen haben. Die nach der junge Sterne nachgewie-
Wasser ursprünglich auf die Erde kam, wurde Uratmosphäre zweite Atmosphäre bestand sen hat, die gerade Plane-
immer wieder kontrovers diskutiert. Es könnte am Ende ihrer Entwicklung wahrscheinlich im tensysteme bilden. Noch
ist ihre genaue Struktur
größtenteils aus dem irdischen Gestein entwichen Wesentlichen aus Stickstoff, enthielt aber auch nicht aufgeklärt, die In-
sein und wäre demnach bereits in den Planetesi- Wasserdampf, Kohlendioxid und Argon. Gesi- frarotspektren sprechen
malen enthalten gewesen, aus denen sich die Erde chert scheint ferner ihr reduzierender Charak- aber für komplexe Makro-
moleküle auf Basis von
gebildet hat. Denkbar ist aber auch, dass wasser- ter, sie enthielt noch keinen freien Sauerstoff. Kohlenstoff, Stickstoff und
haltige Asteroiden es erst später bei Einschlägen Zu vermuten ist, dass unter den damaligen Wasserstoff, die offenbar
aus äußeren Bereichen des Sonnensystems mit- Bedingungen auch Tholine auf der Erde vor- unter UV-Einwirkung in
reduzierenden Umgebun-
gebracht haben. Wie unten zu sehen ist, können kamen. Diese könnten ersten Organismen als gen z. B. aus Methan und
wir uns keineswegs sicher sein, dass erste lebende als Kohlenstoffquelle gedient haben. Ethan entstehen können.
Systeme ebenso empfindlich auf hohe Tempera-
turen reagierten, wie das heute der Fall ist. Diese
Ereignisse um die Lebensentstehung könnten des-
halb schon in einem noch kochenden Ozean vor
etwa 3,9 Milliarden Jahren stattgefunden haben
oder aber erst einige hundert Millionen Jahre
später, als moderatere Temperaturen herrschten.
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
12-18
Atmosphären der Erde. Die Chemie der Atmosphäre hat
sich im Laufe der Erdentwicklung mehrmals grundlegend
geändert. Man geht heute davon aus, dass die Atmo-
sphäre in der Zeit, als das Leben entstand, weniger stark
reduzierende Eigenschaften hatte, als man noch Mitte
des 20. Jahrhunderts annahm.
KAPITEL 12 Leben – Materie organisiert sich
Man hat auf der Erde keine Fossilien gefunden, die zurück. Obwohl er sich in seinem Hauptwerk
uns genügend Aufklärung aus der Zeit der aller- r Über die Entstehung der Arten (1859) nicht
ersten lebenden Systeme geben könnten und man über die allerfrühesten Stufen der Evolution
wird vermutlich auch keine finden. Sicher ist aber, äußerte und auch der Stammbaum des Lebens
dass das Leben erstaunlich schnell auf der Erde in der einzigen Abbildung des Werks mehrere
Fuß fasste (ÅKasten Spurensuche auf der Erde). parallele Stämme zeigte, weiß man aus einem
Als gesicherte Indizien gelten 3,5 Milliarden Jahre Brief an den Botaniker JOSEPH HOOKER, dass er
alte Stromatolithen, dünnlagige Sedimente mit mutmaßte, das Leben könne in einem „kleinen
kegel- bis pilzförmigen Aufwölbungen, die auch warmen Tümpel“ entstanden sein. DARW R IN hielt
heute noch unter bakteriellen Biofilmen (Mikro- es nicht für möglich, diese Frage auf Basis der
benmatten) in Küstenzonen entstehen (ÅAbbil- damaligen Kenntnisse ernstlich anzugehen und
dung 5-42, Seite 243). verglich sie mit der Frage nach der Herkunft
Die Vorgänge, die zur Entstehung von Leben der Materie überhaupt. Möglicherweise hielt er
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
führt haben, könnten heute auf der Erde wohl aber auch das religiös geprägte gesellschaftliche
nicht mehr ablaufen, da sich die Rahmenbedin- Umfeld noch nicht für reif genug, sich damit zu
gungen eben durch den Einfluss des Lebens radi- beschäftigen. Der zweite große alte Mann in der
kal verändert haben. Auch würde wohl jedes zarte Erforschung der chemischen Evolution ist der so-
„Pflänzchen“ eines neu entstehenden Lebensrei- wjetische Biochemiker ALEXANDER IWANOW WITSCH
12-19 ches durch die bereits vorhandene Lebenswelt OPARIN (1894 – 1980). Er ging (entgegen heuti-
Miller-Urey Experiment.
umgehend vernichtet werden. ger Einschätzung) von einer stark reduzierenden
Im Miller-Urey-Experiment
wurde erstmals versucht, Uratmosphäre aus, die aus Verbindungen wie
komplexe präbiotische Bildung einfacher organischer Moleküle Methan, Ammoniak und Schwefelwasserstoff be-
Moleküle herzustellen, standen haben sollte. Unter Einwirkung von Son-
indem man Wasser
„Urmeer“ und einfache Ist das Leben vielleicht vom Himmel gefallen? nenenergie, Vulkanismus und Blitzentladungen,
anorganische Gase (eine Zumindest für manche organische Grundstoffe so stellte er sich vor, konnten daraus organische
„Uratmosphäre“) elektri- kann man dies wahrscheinlich bejahen. Bausteine Moleküle entstehen und sich in einem Urozean
schen Funkenentladungen
aussetzte.Tatsächlich für die Entstehung von Leben sind im Kosmos weit zu einer Ursuppe anreichern, in der er die Entste-
entstehen in solchen Ver- verbreitet und bereits in großen Mengen Bestand- hung von Lebensprozessen vermutete. Vor allem
suchen unter anderem teile von Gas- und Staubscheiben um junge Sterne. sein 1936 publiziertes Werk Entstehung des Le-
Purine, Pyrimidine und
Aminosäuren, die sich im
Spektroskopisch nachgewiesen wurden sie bei- bens auf der Erde hatte großen Einfluss auf die
Wasser anreichern. Pu- spielsweise 2007 um den 220 Lichtjahre entfernten weitere Entwicklung des Fachgebiets und führte
rine und Pyrimidine sind Stern HR 4796A. Diese als Tholine (ÅRandspalte, zu entsprechenden Experimenten von UREY und
Ausgangssubstanzen der
Nukleobasen, aus denen
Seite 511) bezeichneten organischen Stoffe finden MILLER.
die Nukleinsäuren aufge- sich auch heute noch in unserem Sonnensystem,
baut sind. etwa in Kometen und auf dem Saturnmond Titan. Die Ursuppe und das
Allerdings kann man davon ausgehen, dass Miller-Urey-Experiment
eine ganze Reihe einfacher, für das Leben wichtiger
organischer Moleküle auf der Erde gebildet wur- r Das bekannteste Experiment zur chemischen Evo-
den, z. B. der chemisch nicht sehr stabile Zucker lution wurde im Jahr 1953 von STANLEY MILLER
Ribose, der zusammen mit Phosphat das Rückgrat (1930 – 2007) auf Anregung von HAROLD CLAY-
der Ribonukleinsäuren (RNA) bildet. Auf welche TON UREY (1893 – 1981) durchgeführt. Er simu-
Weise diese Moleküle entstanden sind, ist heute lierte die Bedingungen der Urerde und die damals
noch weitgehend ungeklärt. Womöglich hatten für die Uratmosphäre angenommene Zusammen-
manche auch einfachere Vorläufer ähnlicher Funk- setzung in einer Apparatur aus mehreren Glaskol-
tion und entstanden erst, als es bereits Leben auf ben. Ein heizbarer, wassergefüllter Kolben stand
der Erde gab. für den Urozean, ein mit Röhren verbundener
zweiter Kolben, gefüllt mit den Gasen Methan,
Ammoniak, Kohlenmonoxid und Wasserstoff,
Von Makromolekülen zur Urzelle simulierte die Atmosphäre. Der „Ozean“ wurde
erhitzt und elektrische Gewitterentladungen wur-
r
Die Idee, das Leben könnte sich im Urozean ent- den durch die Atmosphäre geschickt. Verdampf-
wickelt haben, geht bereits auf CHARLES DARW
R IN tes Wasser wurde über einen Kühler als „Regen“
512
Erde, Wasser, Luft und Feuer
in den Ozean zurückgeführt. MILLER ließ den ren deshalb meist alle oben genannten Fragen
Versuch einige Tage laufen und analysierte die gleichzeitig.
entstandenen gelbbraunen Verbindungen. Die
Ergebnisse waren seinerzeit eine Sensation: Bei RNA-Welt
513
KAPITEL 12 Leben – Materie organisiert sich
Für die Hypothese der RNA-Welt und andere De r C h e mik e r u n d P ate n ta n wa l t G Ü NTER
Ansätze, die die Entstehung des Lebens „an der WÄCHTERSHÄUSER (*1938) entwickelte als erster
Luft“ bzw. in „Tümpeln“ ansiedeln, ist eine eine Theorie der chemischen Evolution, die nicht
nur wenig reduzierend wirkende Uratmosphäre die Replikation, sondern den Stoffwechsel an
ein Problem: Der Aufbau von Kohlenwasser- den Anfang stellte. Eine von ihm vorgeschlagene
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
stoffen aus CO2 erfordert neben einer Ener- Eisen-Schwefel-Welt, ähnlich den Verhältnissen
giequelle auch starke Reduktionsmittel (Elek- an schwarzen Rauchern, stellt dieser Theorie
tronenlieferanten), die in der Uratmosphäre zufolge ein ideales Medium für die präbiotische
nicht ohne weiteres verfügbar waren. (In UREYs Synthese dar. Bei der Reaktion von Eisensulfid
und MILLERs Uratmosphäre stand Wasserstoff und Schwefelwasserstoff zu Pyrit entsteht aus-
als Reduktionsmittel zur Verfügung.) Heutige reichend Wasserstoff und Energie für die Biosyn-
Pflanzen verfügen zu diesem Zweck über einen these (ÅRandspalte links). Im Jahr 2003 wurde
sehr komplexen Prozess, die Photosynthese. Es auch nachgewiesen, dass unter diesen Bedin-
ist nicht sehr wahrscheinlich, dass ein vergleich- gungen Ammoniak aus elementarem Stickstoff
barer Prozess bereits zu Beginn der chemischen entstehen kann.
Evolution zur Verfügung stand. Im Jahr 1977 An der Oberfläche von Pyritkristallen lagern
wurde nun zum ersten Mal ein Lebensraum sich organische Anionen wie Carbon- oder Nu-
entdeckt, dessen extreme Bedingungen an die kleinsäuren leicht an, was komplexere Folge-
noch junge und heiße Erde denken lassen und reaktionen wie die Replikation erleichtert. Die
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
der ein reduzierendes Umfeld bietet. Mit Hilfe Reaktanten sind nicht mehr irgendwo in einer
des berühmt gewordenen Tauchboots Alvin dünnen Ursuppe verteilt, sondern eng benach-
fanden Forscher im Ostpazifik untermeerische bart in einem organischen Film in der Nähe
hydrothermale Quellen, eine Art Geysire am katalytisch wirkender Metallsulfide und ener-
Meeresgrund. Inzwischen weiß man, dass sie gieliefernder Prozesse.
12-21 an vielen vulkanisch aktiven Zonen entlang der Für die Eisen-Schwefel-Welt spricht, dass
Hydrothermale Quellen.
Weiße Raucher (oberes geotektonischen Plattengrenzen vorkommen. sowohl ein stabiler Energielieferant als auch eine
Bild) verdanken ihre Farbe Hier dringt mehrere hundert Grad heißes und katalytisch wirksame und stabilisierende Reak-
ausfallenden Sulfaten von mineralgesättigtes Wasser aus Öffnungen des tionsoberfläche vorhanden ist. Zudem gehören
Elementen wie Calcium,
Barium oder Silicium. Meeresgrunds. Die austretenden Fluide stehen gerade die thermophilen (hitzeliebenden) Bak-
Schwarze Raucher (un- unter dem hohen Wasserdruck der Tiefsee. Un- terien zu den ältesten Organismen überhaupt.
teres Bild) sind oft besie- ter diesen Umständen löst Wasser in großen Es gibt eine Reihe weiterer Modelle der che-
delt von Bakterien und
Archaeen, die aus der Mengen Metallsalze aus dem Gestein. Kommt mischen Evolution, und die Suche nach plau-
Oxidation von Schwe- es nach dem Austritt zum Kontakt mit dem siblen Prozessen, die schließlich zu den ersten
felwasserstoff Energie 2 °C kalten Ozeanwasser, fallen sofort große reproduktionsfähigen „Urzellen“ führten, wird
gewinnen und wiederum
Ernährungsgrundlage für
Mengen an Mineralen aus. Ringförmig um die gewiß noch lange dauern. Aus menschlicher Sicht
höhere Organismen sind. Öffnungen bilden sich Niederschläge, die zu begann die wichtigste Phase erst, als LUCA schon
Schornsteinen emporwachsen können, über existierte: mit der Entwicklung mehrzelliger Or-
denen mächtige „Rauchfahnen“ zu sehen sind ganismen in der biologischen Evolution.
(Å Abbildung 12-21).
Abhängig von den vorherrschenden gelösten Die biologische Evolution
Eisensulfid-Reaktion Stoffen unterscheidet man schwarze und weiße
Durch die exotherme Reaktion
von Eisensulfid mit Schwefelwas-
Raucher. Die Hydrothermalwässer schwarzer Von LUCA zu Domänen
serstoff entsteht Wasserstoff, der Raucher enthalten typischerweise große Mengen
als Reduktionsmittel (Elektro- an Sulfiden (S2– - Ionen) sowie dunkel gefärbte Die Replikations- und Transkriptionsmecha-
nenlieferant) für die präbiotische
Synthese dienen kann:
Metallionen, z. B. Eisen. In ihrer Umgebung kön- nismen der ersten Urzellen funktionierten wohl
nen sich beachtliche Erzvorkommen aus dem noch sehr unvollkommen. Da die Fehlerrate mit
FeS + H2S → FeS2 + H2 Mineral Pyrit (FeS2) bilden. Weiße Raucher der Länge eines codierenden Bereichs zunimmt,
verdanken ihre Farbe vorwiegend ausfallenden waren die ersten Gene (ÅKasten Einige Begriffe
Dabei entstehen 36 kJ/mol Ener-
gie (Freie Enthalpie) und Wasser- Sulfaten von Elementen wie Barium, Calcium der Genomik) relativ kurz und damit auch die
stoff als Reduktionsmittel. und Silicium. Bausteine und Enzyme der Urzellen sehr einfach.
514
Erde, Wasser, Luft und Feuer
12-22
Kladogramm des Lebens. Heute geht man davon aus,
dass sich aus den Urzellen drei getrennte Domänen bil-
deten, die zellkernlosen Bakteria und Archaea, sowie die
Eukarya (Eukaryoten, mit Zellkern), aus denen sich alle
mehrzelligen Organismen entwickelten. Welche Domäne
sich von welcher zuerst trennte, ist allerdings unklar, da
anfangs wohl ein reger Gentransfer zwischen den Orga-
nismen aller Arten stattfand.
Der rege Gentransfer zwischen den Domänen drückt sich
in Eigenschaften aus, die paarweise gleich sind. Sowohl
Archaeen als auch Bakterien verfügen über eine zirkuläre
DNA, Eukaryoten teilen sich mit Archaeen bestimmte
Translationsmechanismen. Mit Bakterien gemeinsam ha-
ben sie die Struktur der verwendeten Lipide. Alle Eukary-
oten verfügen über Zellkerne und Mitochondrien.
KAPITEL 12 Leben – Materie organisiert sich
Vererbung und Mutation auf biochemischer Schritte entstanden sein, da es ja keine Zwischen-
Ebene identifiziert werden. stufen gebe, die einen Selektionsvorteil bieten!
Dies ist kein Buch über Evolution, und auch Abgesehen davon, dass Biologen inzwischen
eine Darstellung der Entwicklung der Arten unzählige Belege für eine „Strukturentstehung
würde seinen Rahmen sprengen. Die biologi- im Kriechgang“ fanden (ÅAbbildung 2-3, Seite
sche Evolution ist jedoch im Kern eine Folge des 18), ist diese Art der Argumentation ein Bei-
Zusammenspiels reproduktionsfähiger Systeme spiel für BACONs Trugbilder (ÅEine neue Me-
aus Materie mit der Umwelt. Und in diesem Sinn thode der Wissenschaften – Francis Bacon, Seite
ist es interessant, wie durch kleine(!) Schritte der 51), denen wir Menschen anheimfallen. Wir
BILDRECHTE SIEHE BILDNACHWEIS, S. 529
Veränderung aus einer einfachen Urzelle so etwas schließen gerne aus komplexen Veränderungen
wie eine Rose oder ein Mensch entstehen konnte. direkt auf die Existenz komplexer Ursachen.
Die Mechanismen der Evolution sind im Komplexes Verhalten kann aber durchaus durch
Prinzip einfach: Durch Veränderungen eines einfache Gesetze gesteuert sein (Å Kapitel 9)!
Gens wird dessen Funktion oder der Zeitpunkt
12-24
DARWIN als Affe. Diese seiner Transkription verändert. Tritt die Mu- Evo-Devo –
Karikatur Darwins als tation in einer Keimzelle auf, so überträgt sie kleine Ursachen mit großer Wirkung
Affe erschien 1871 in der sich auf die Nachkommen, sofern sie nicht zum
Zeitschrift „The Hornet“
mit dem Unterltitel: „Ein Absterben der Zelle führt. Hat eine Mutation Bis vor wenigen Jahrzehnten glaubte man, dass
ehrwürdiger Orang-Utan. keine Auswirkungen auf die Überlebens- oder das Genom der Säugetiere oder gar des Men-
Ein Beitrag zur (Un)Na- Fortpflanzungschancen des Trägers (des Phäno- schen wenig gemein habe mit dem einfacherer
turgeschichte (unnatural
history)“.
typs), so geschieht (zunächst) nichts. Anderen- Tiere wie der Fliege. Überraschenderweise ver-
falls verschafft es ihm einen vielleicht winzigen fügen aber alle Säugetiere, inklusive uns Men-
12-25
Mutationen. Genetische Vorteil gegenüber Artgenossen, so dass er etwas schen zu etwa 99 Prozent über die gleichen
Mutationen gibt es in besser angepasste Nachkommen hat als diese. Gene! Diese sind zwar oft in unterschiedlicher
vielen Formen. Bei der Auf Sicht wird sich diese Mutation in der Po- Zahl vorhanden und auch die Basensequenzen
Punktmutation wird ein
Basenpaar in einem Gen
pulation deshalb durchsetzen. Mutationen mit mögen sich etwas unterscheiden, aber insge-
entweder durch ein an- weniger vorteilhaften Auswirkungen werden samt ist es sehr schwer, beim Vorliegen eines
deres ausgetauscht oder demgegenüber mit der Zeit verschwinden. Dieser Genoms auf die Art zu schließen. Auch kodie-
es entfällt bzw. es kommt
Selektionsprozess ist außerordentlich wirksam, ren beim Menschen weniger als 2 Prozent des
ein neues hinzu. Die Si-
chelzellenanämie ist ein wie die schnell eintretenden Resistenzen von Genoms für irgendwelche Proteine! Es scheint
Beispiel einer Punktmuta- Bakterien gegen Antibiotika oder die von Insek- so, als ob die Natur aus wenigen Bausteinen
tion, bei der ein Basenpaar
ten gegen Insektizide zeigen. ganz unterschiedliche Wesen erschaffen kann,
ausgetauscht ist. Auch
eingeschobene Sequenzen Da sich Mutationen laufend ereignen, wird ähnlich wie Kinder mit einem Lego-Baukasten
(Insertionen) kommen vor, sich eine relativ abgeschlossene Population von die verschiedensten Dinge zaubern können.
ein Beispiel sind die von Individuen einer Art durch den Mutations-Se- Wie funktioniert das und was bedeutet das für
GREGOR MENDEL unter-
suchten runzeligen Erbsen, lektionsprozess irgendwann soweit von anderen die Evolution?
denen durch Insertion ein Artgenossen entfernt haben, dass zwischen ihnen Mit diesen Fragen beschäftigt sich die noch
Gen für die Stärkesynthese keine sexuelle Fortpflanzung mehr möglich ist: recht junge evolutionäre Entwicklungsbiologie,
abhanden gekommen ist.
Genkopien bewirken, dass Eine neue Art ist entstanden. kurz Evo-Devo genannt (von engl. evolutionary
die zugehörige Substanz Die Vorstellung, dass alle Tier- und Pflanzen- developmental biology). Tatsächlich lernte man
in größeren Mengen pro- arten durch viele winzige Mutationen aus einer viel vom Arbeitstier der Molekulargenetik, der
duziert wird. Menschen
unterscheiden sich z. B. Urzelle über einen Selektionsprozess entstanden Schwarzbäuchigen Taufliege (Drosophila me-
von Schimpansen in der sein sollen, erschien allerdings nicht nur einigen lanogaster), über die Steuerung der Embry-
Zahl der Kopien für ein Zeitgenossen DARW R INs höchst unglaubwürdig onalentwicklung aller Tiere und damit auch
stärkespaltendes Enzym.
Bei Duplikationen wird ein
(die Entstehung der Arten aus Urformen wurde über ihre Evolution. Das Grundprinzip der
Basenpaar mehrfach wie- schon vor DARW R IN diskutiert), auch heute noch Embryonalentwicklung ist überraschend ein-
derholt. Bei Replikations- setzen Gegner der Evolutionstheorie an diesem fach und wird von einem recht überschaubaren
veränderungen ändern
Punkt an: Komplexe biologische Prozesse wie die Satz (einige hundert) sogenannter Entwick-
sich z. B. die Enhancer-
Sequenzen eines Gens. So Biosynthese und Strukturen wie das Auge könn- lungsproteine gesteuert. Ist ein solches Protein
entstand der langstielige ten doch unmöglich durch kleine evolutionäre in den Zellen an einer Stelle des Embryos zu
Mais aus büscheligen Vor-
einer bestimmten Zeit aktiv, so veranlasst es die
läufern.
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Eine anfängliche (zufällige) Heterogenität der tun werden. Beispiele sind die Laktosetoleranz
Konzentration von Substanzen führt dazu, dass der Milchviehzüchter oder die blauen Augen der
auf einer Seite des Embryos ein anderes Ent- Nordeuropäer und vieles mehr. Und auch das
wicklungsgen eingeschaltet wird als auf der gerne bemühte steinzeitliche „Jäger-Sammler-Ge-
anderen, und wieder andere auf der Ober- bzw. hirn“ gehört eher ins Reich der Mythen. Unser
Unterseite. Das entstehende Konzentrationsge- Verhalten wäre – wenn man es denn auf diesen 12-28
fälle an Entwicklungsproteinen führt in diesem Ebenen eindeutig auf genetische Faktoren zurück- Differenzierung eines
Fliegenembryos. Anfangs
Fall zu einer Vierteilung des Embryos. Die kom- verfolgen könnte – nicht nur geprägt durch die
werden im westlichen und
Lebensverhältnisse vor 15 000 Jahren, sondern mittleren Bereich zwei
noch stärker durch die danach folgende Zeit der Entwicklungsproteine aktiv
(a, grün und rot). In einem
Ackerbauern und Viehzüchter. Männer sollten
weiteren Schritt enstehen
sich daher damit abfinden, dass sie keineswegs weitere Unterteilungen.
genetisch zum Mammutjäger prädestiniert sind. Die hellen Bereiche kenn-
Die globale Mobilität des Menschen hat ver- zeichnen Entwicklungspro-
teine, die in jedem zweiten
hindert, dass neue Menschenarten entstehen. Segment einen Streifen
Das könnte sich natürlich ändern, zum Beispiel erzeugen (b).
12-26
Lokale Differenzierung eines Embryos. Unterschiedliche
Konzentrationen an Entwicklungsproteinen zwischen 5 17
linker und rechter (a, b) bzw. Ober- und Unterseite (1, 2)
ergeben in der Mitte eine Kombination, die in den dorti-
gen Zellen ein Gen aktivieren kann, das sie zum „Nach-
außen-Wachsen“ veranlasst.
KAPITEL 12 Leben – Materie organisiert sich
Geist, GÖDEL und Com- durch die Besiedlung weit entfernter Planeten, sind diese Fragen noch keineswegs geklärt. Dies
puter
Gelegentlich wird auf oder indem wir selbst Hand an unseren geneti- liegt unter anderem daran, dass sich Bewusstsein
Basis des Gödelschen schen Code legten. nicht an einer bestimmten Stelle im Gehirn ver-
Unvollständigkeitssatzes Möglich wäre, dass unsere moderne Lebens- orten läßt, sondern ein kollektives Phänomen
argumentiert, dass der
Geist aus prinzipiellen führung (gehaltvolle Nahrung und geringe kör- vieler Areale der Großhirnrinde ist (ÅAbbildung
Gründen nicht durch einen perliche Belastung) in den Industrieländern in den 12-29). Zwar kennt man inzwischen recht gut
Computer simuliert wer- nächsten Jahrhunderten zu einer genetischen An- die Funktion der einzelnen Areale, aber wie
den könne. Kurz gesagt,
bewies der österreichische
passung führte, aber auch ganz andere Szenarien daraus unser Gefühl, eine „Person“ zu sein, ent-
Mathematiker KURT GÖDEL sind denkbar: neben der bewussten genetischen steht, weiß heute niemand. Allerdings sind viele
(1906 – 1978), dass es Manipulation werden Menschen womöglich Kör- r höhere geistige Funktionen, wie das Erkennen
kein widerspruchsfreies
formales Verfahren geben
perfunktionen durch künstliche Komponenten, von Zahlen oder Begriffen, unbewusste Prozesse.
kann, mit dem sich alle mechanischer oder biologischer Natur, ersetzen. Das Bewusstsein scheint eine dünne „Schicht“
Sätze der Arithmetik (und Manche Autoren gehen sogar so weit, dass sie oberhalb ansonsten unbewußter Gehirnfunkti-
mächtigerer mathemati-
die völlige Körperlosigkeit prognostizieren: Der onen zu sein. Bewusste Prozesse zeichnen sich
scher Systeme) beweisen
lassen. Der englische Ma- Mensch transferiert seinen Geist in ein „künstli- wohl vor allem dadurch aus, dass sie sequentiell
thematiker ALAN TURING ches Gehirn“ oder prägt ihn gar in die Struktur ablaufen und langsam sind, während alle unbe-
(1912 – 1954) bewies der Raumzeit ein, wie es ARTHUR C. CLARKE wussten Prozesse hochgradig parallelisiert und
diesen Satz für das von
ihm entwickelte univer- (1917 – 2008) in seinem Roman 2001: Odyssee sehr schnell sind.
selle Modell eines Com- im Weltraum beschreibt. Aber: Läßt sich unser Es ist natürlich auch nicht leicht, Bewusstsein
puters, der sogenannten Geist, unsere Persönlichkeit einfach von unserem zu definieren. Wann würden wir sagen, ein Lebe-
Turing-Maschine. Manche
Interpreten folgern dar- Körper lösen und in etwas anderes übertragen? wesen sei mit Bewusstsein ausgestattet?
aus, dass der menschliche Als wesentliches Element von Bewusstsein
Geist mächtiger sein muss wird angesehen, dass die eigene Identität und
als eine Maschine, da Bewusstsein
er schließlich die Sätze das eigene Erleben als abgegrenzt von der Um-
der Arithmetik beweisen Die meisten Philosophen und Naturwissen- welt und anderen Personen erfahren wird. Dazu
könne. Abgesehen davon, schaftler vertreten heute einen materialistischen gehört auch, dass wir uns nicht als willenlose
dass man durchaus Com-
puter bauen kann, die
Standpunkt, wonach Bewusstsein in die Welt der Marionetten empfinden, sondern als Urheber
keine Turing-Maschinen physikalischen (materiellen) Phänomene gehört, unseres Handelns, kurz: Wir fühlen einen freien
sind (z. B. auf Quanten- im Gegensatz zum dualistischen Standpunkt, der Willen. Auch empfinden wir uns in der Regel Zeit
basis), beweist dieser Satz
nur, dass auch ein Compu-
von prinzipiell unterschiedlichen Seinsbereichen unseres Lebens als „ein Ich“, selbst wenn uns an-
ter in diesem Punkt keinen ausgeht. Damit ist natürlich noch nicht geklärt, dere Leute sagen, man hätte sich sehr verändert.
Vorsprung vor mensch- was mentale Phänomene vor anderen auszeich- Die Schwierigkeit, den subjektiven Gehalt unse-
lichen Mathematikern
net. Ist unser Bewusstsein womöglich nur ein res Erlebens in Form objektiver Gesetze auszu-
hätte. Ein Mathematik
treibendes Computerpro- „Begleitphänomen“ deterministischer neuronaler drücken, wird in der Philosophie des Geistes als
gramm könnte – ganz Prozesse, das keinerlei Einfluss auf unser Handeln das Qualia-Problem bezeichnet (lat. qualis, wie
menschlich – auch mal hat, wie es der Epiphänomenalismus postuliert? beschaffen). Wir haben Schwierigkeiten zu glau-
„hängen“ bleiben.
Ebensowenig ist damit erklärt, unter welchen ben, dass unser subjektives Erleben des Duftes
Bedingungen Bewusstsein auftritt. Benötigt man einer Rose „nichts anderes“ ist als ein bestimm-
dazu ein materielles Substrat, einen „Körper“? ter Erregungszustand unseres Gehirns! Deshalb
Könnte man Bewusstsein auch in einem Compu- können wir uns auch kaum vorstellen, dass wir
ter erzeugen, vielleicht, in dem man ein Modell zum Beispiel eines Tages in der Lage sein werden,
des menschlichen Gehirns „simuliert“ (ÅRand- einfach durch Inspektion von Programmcodes
spalte)? Und: Sind wir Menschen auf der Erde die festzustellen, ob dieses Programm – auf einem
einzige lebende Spezies mit Bewusstsein? Computer ausgeführt – Bewußtsein hat, oder
Obwohl man heute mittels bildgebender Ver- erzeugt. Generell haben wir Schwierigkeiten,
fahren Menschen beim Denken zuschauen kann,
12-29
Die Großhirnrinde. Bewußtsein ist ein kollektives Phä-
nomen der Großhirnrinde (blassgelb), insbesondere des
Frontallappens (1), des Parietallappens (2) und des da-
runter liegenden Temporallappens (nicht markiert). Der
innen liegende Hippocampus (3) ist für die Koordination
des deklarativen Gedächtnisses zuständig. Seinen Namen
verdankt er seiner Form, die an ein Seepferdchen erin-
© 2012 WELSCH & PARTNER SCIENTIFIC MULTIMEDIA
bei Lebewesen, die keine für uns verständliche erscheint als eines der einfachsten Moleküle aus
Sprache besitzen, den Grad ihres Bewusstseins den sehr weit verbreiteten Elementen Wasserstoff
festzustellen. Lange glaubte man daher, dass Be- und Sauerstoff ein idealer Kandidat. Allerdings
wusstsein allein uns Menschen zukommt. Heute könnte man sich wohl auch die Kombination
weiß man, dass immerhin einige der Prozesse, Kohlenstoff/Ammoniak (NH3) vorstellen.
die Menschen nur bewußt ausführen können, Dann ist da noch die anscheinend triviale
auch bei Tieren vorkommen. So erkennen einige Frage, wo man nach „lebender Materie“ suchen
Affenarten und gewisse Arten aus anderen Tier- sollte. Klar doch, auf Planeten! Aber so einfach ist
gruppen (z. B. einige Rabenvögel) sich selbst im die Sache nicht. Natürlich werden wir zunächst
Spiegel und sind fähig, auch komplexere Hand- auf unserem Nachbarplaneten, dem Mars, gründ-
lungsketten wie die Fertigung von Werkzeugen lich nachsehen. Ganze Flotten von Sonden und
zur Erbeutung schwer zugänglicher Happen im Robotergefährten haben den Mars in den letzten
voraus zu planen. Derartige Leistungen scheinen Jahren untersucht oder werden noch dorthin auf-
eine Großhirnrinde mit sehr hoher Zelldichte brechen. Interessanterweise gibt es auf unserem
vorauszusetzen, die in der Lage ist, eine große Nachbarplaneten Mars offensichtlich tatsächlich
Menge an Informationen miteinander zu ver- aktive Quellen für Methan, denn es wurden auf-
netzen. Eine recht junge Theorie, die Integrated fallend große Mengen dieses Gases gefunden, die
Information Theory des Psychiaters GIULIO TO- sich nicht sehr lange in der Atmosphäre halten
NONI von der Universiät Wisconsin definiert auf könnten. Auch der Saturnmond Titan scheint mit
dieser Basis ein numerisches Maß für den Grad seinen Methanflüssen und Eisfelsen ein interes-
an Bewusstsein, dass man im Prinzip auf alle Ar- santer Kandidat zu sein. Und vielleicht ist auch
ten von Systemen, biologischen und künstlichen, noch der Jupitermond Europa interessant, der
anwenden kann. Allerdings ist die Berechnung über einen Wasserozean unter seiner Eisschicht
dieser Größe so aufwändig, dass es derzeit nicht verfügen soll. Was aber wesentlich darüber
einmal möglich ist, sie für Nervensysteme mit hinausgeht, ist für uns, wie schon erwähnt, nur
wenigen Hundert Zellen zu berechnen. Es wir indirekt zugänglich. Diese Überlegungen führen
also noch etwas dauern, bis wir den Grad an Be- ganz natürlich zu der Frage, wo im Kosmos Leben
wusstsein eines Computerprogramms ausrechnen noch entstanden sein müsste.
können – sofern dieses Theorie korrekt ist.
Leben in anderen Sonnensystemen?
Extraterrestrisches Leben
Natürlich liegen die allermeisten der Orte, an
Wo beginnt man zu suchen? denen man nachsehen müsste, weit außerhalb des
Sonnensystems. Sie sind deshalb mit keiner heute
Aus einem Beispiel lässt sich schwer abstrahieren. vorstellbaren Technik physisch zugänglich. Zum
Aber wir kennen leider bisher nur das irdische Glück ist das aber auch gar nicht erforderlich.
Leben. Voraussetzung für die Entstehung von auf Suchen wir doch einfach nach den „Fingerab-
Kohlenstoff und wässrigen Lösungen basierenden drücken“ bestimmter Moleküle im Licht, das uns
Lebewesen sind vermutlich ähnliche chemische erreicht. Mit Hilfe der Spektroskopie ist es mög-
und physikalische Bedingungen, wie sie bei der lich, Moleküle aufzuspüren, die an den entfern-
Entstehung irdischen Lebens geherrscht haben. testen Regionen im Weltraum vorkommen und
Aber muss es überhaupt Leben wie unseres dort Licht bestimmter Wellenlängen aussenden
sein? Viele Argumente sprechen tatsächlich für oder absorbieren. Inzwischen hat man hunderte
Kohlenstoff als Basis. Kein anderes chemisches extrasolarer Planeten entdeckt, die man spek-
Element kann so leicht komplexe Molekülstruk- troskopisch auf Anzeichen von Wasser, Methan,
turen mit Ketten, Verzweigungen und Mehr- Sauerstoff oder sogar von komplexeren „Lebens-
fachbindungen hervorbringen. Dies ist die Folge zeichen“ wie Chlorophyll durchsuchen kann.
der Elektronenstruktur des Kohlenstoffatoms, Bei letzterem wäre es allerdings verwunderlich,
die auch in seiner Stellung im Periodensystem wenn zur Absorption von Strahlungsenergie in
Ausdruck findet. Kohlenstoffatome können vier einem anderen Lebenssystem eine sehr ähnliche
stabile Atombindungen ausbilden und kommen Substanz entstanden wäre. Eigentlich wäre es für
zudem im Universum häufig vor. Auch Wasser Pflanzen ohnehin besser, wenn sie das ganze auf
519
KAPITEL 12 Leben – Materie organisiert sich
der Planetenoberfläche ankommende Lichtspek- dynamischen Systems – das sind alles Eigenschaf-
trum des Sterns verarbeiten könnten und somit ten, die man bisher nur lebenden Systemen zuge-
ideal schwarz wären, fast so wie eine Aubergine. schrieben hatte. Durch Polarisation des Plasmas
Deshalb suchen Astrobiologen denn auch können sich dabei sogar gleich geladene Teilchen
nicht nur nach der Signatur irdischen Chloro- nah beieinander anordnen. Plasmaströme beein-
phylls, sondern allgemein nach Anzeichen auf- flussen die Struktur der Verzweigungen dieser
fälliger Absorptionen. Ein starker Hinweis wäre Gebilde. So ist es nicht völlig ausgeschlossen,
das gleichzeitige Vorkommen von Substanzen dass dieser neue Materiezustand des „staubigen
wie Methan und Sauerstoff, die im Stoffwechsel Plasmas“ das Zeug dazu hat, eine Evolution zu
des irdischen Lebens eine Rolle spielen, aber durchlaufen und stets komplexere Strukturen
ohne stetige Produktion nicht lange gemeinsam auszubilden: also anorganisches Leben? Immer-
existieren können: Methan wird bei Anwesenheit hin gibt es im Universum so viele Orte, an denen
von Sauerstoff langsam zu Kohlendioxid und sich Plasma und Staub finden, dass an möglichen
Wasser oxidiert. Geburtsstätten wohl kein Mangel sein dürfte.
Selbst wenn diese Idee bisher nur eine interes-
Leben auf Siliciumbasis? sante Simulation ist, so kann sie uns doch zeigen,
dass man bei der Suche nach außerirdischem
Die Fixierung auf die Suche nach Leben auf Leben ab und zu die Kohlenstoff-Scheuklappen
Kohlenstoffbasis wird oft provokant als Koh- abnehmen sollte. Denkt man weiter, so kann
lenstoff-Chauvinismus bezeichnet. Schaut man man sich sogar fragen, ob Leben unbedingt an
sich das Verhalten anderer Elemente an, so stellt Materie aus Atomen gebunden sein muss, ob
sich heraus, dass neben Kohlenstoff allenfalls nur zwischen ihnen genügend komplexe Gebilde
noch Silicium ähnlich komplexe Strukturen bil- entstehen können, um die für Leben typischen
den kann, wenn auch längst nicht in gleichem Merkmale ausbilden zu können. Schließlich geht
Maße. Immerhin kann die Silicium-Chemie mit man gegenwärtig davon aus, dass gewöhnliche
großen Gitterstrukturen und Polymermolekü- Materie nur etwa 4 Prozent Anteil am gesam-
len aufwarten. Man konnte entgegen früheren ten Kosmos hat. Vom ganzen Rest haben wir
Annahmen seit den 1980er Jahren sogar Si = Si- momentan, gelinde gesagt, noch sehr unklare
Doppelbindungen synthetisieren. Allerdings sind Vorstellungen. Immerhin 20 Prozent soll die mys-
diese deutlich weniger stabil als ihre Kohlen- teriöse Dunkle Materie ausmachen. Aus welcher
stoff-Pendants. Obwohl die Si - O-Bindung sehr Art von Teilchen mag sie bestehen? Bekannt ist
stabil ist, und es für Siliciumpolymere wichtige lediglich, dass diese kaum mit gewöhnlicher Ma-
technische Anwendungen gibt, erreicht die Sili- terie wechselwirken und nur durch ihre Gravita-
ciumchemie doch bei weitem nicht die Vielfalt tionswirkung erkennbar sind. Ob diese geister-
der Kohlenstoffchemie. haften Teilchen wohl untereinander Strukturen
bilden können? Möglicherweise sogar komplexe?
Wahrhaft exotische Lebensformen? Solche Gedanken sind natürlich pure Spekulation
und erscheinen völlig unwahrscheinlich. Aber
Aber könnte es Leben nicht in noch fantastische- mit welchem Recht bezeichnen wir eigentlich
ren Formen geben, an die wir planetenansässige „unsere“ 4 Prozent der Welt als „gewöhnliche“
Wesen einfach nicht denken? Ein Artikel einer Materie?
russisch-australisch-deutschen Arbeitsgruppe
aus dem Jahr 2007 zeigt eine solche Möglichkeit Was noch bleibt...
auf. Die Autoren zeigten in einer Computersi-
mulation, dass sich interstellare Staubteilchen An dieser Stelle sollte sich ursprünglich ein Ka-
in kosmischen Plasmen selbstorganisierend zu pitel anschließen, in dem wir alle noch offenen
mikroskopischen kleinen spiraligen Staubfäden Fragen zur Materie und dem Universum ab-
anordnen können. Diese sollen eine nicht nur schließend beantwortet hätten. Redaktionstech-
zufällige strukturelle Ähnlichkeit mit DNA besit- nische Gründe standen dem jedoch entgegen,
zen. Unter bestimmten Einflüssen können sie sich und auch der Rand ließ zuwenig Platz dafür. Die
teilen und replizieren. Sie können verzweigt sein Beantwortung dieser letzten Fragen muss daher
und sie sind Bestandteile eines offenen thermo- leider noch etwas warten...
520
Bildquellen
Literaturverzeichnis
Index
ANHANG
522
Erde, Wasser, Luft und Feuer
University, http://web.ics.purdue. S. 359 Foto: Blane (Wikipedia) 11-22 Mond: NASA, Venus: Computer-
edu/~braile/edumod/waves/Wave- 7 -4 Foto: BlueShade (Wikipedia) generiertes Bild des Saskia-Kraters
Demo.htm 7-16 Koloriert durch Hugo Heikenwaelder, (NASA), Erde: http://apod.nasa.gov/
4-142 nach Grotzinger, Jordan, Press, Sie- Wien 1998 apod/ap001213.html, Mars: ESA
ver: Understanding Earth, 5.Aufl., 7-26 Fotos: Knolle: Frank Vincentz, Cy- Raumsonde Mars Express © 2005 by
© W.H.Freeman and Company, anobakterien: YAMAMAYA, Wurzel: ESA, DLR, FU Berlin
2007; Wiedergabe mit frdl. Geneh- Agricultural Research Service, United 11-24 W&P-Collage, Bilder: NASA
migung von W.H. Freeman and States Department of Agriculture, 11-27 Bild der Raumsonde Cassini
Company Denitrifizierung: www.anammox. (26.9.2005, NASA)
4-148 nach: Ashcroft, Neil W.; Mermin, com, Rinder: Agricultural Research 11-28 Aram Dulyan
N. David: Solid State Physics. Holt, Service, United States Department of 11-29 Foto: Mario Müller
Rinehart and Winston 1976 Agriculture 11-44 Welsch & Partner - scientific multi-
4-164 Ofey65 (Wikipedia) 7-28 Foto: Leibniz-Institut für Meereswis- media, Fotos: NASA (Hubble)
4-173 Rajsapan Jain et al., High-tempera- senschaften an der Universität Kiel 11-47 Fotos: NASA (Hubble)
ture metal-organic magnets, Nature 8 -4 Foto Andreas Trepte, www.photo- 11-50 Fotos: NASA (Hubble)
445, 291 (2006) natur.de 11-56 Fotos: NASA
4-174 F. J. Gießibl, Universität Regenburg 8-11 Foto: NASA 11-57 basierend auf NASA-Grafiken
S. 223 Erde, Appollo 17 (NASA) 8-17 Dr. Andreas Zeddel 11-59 basierend auf NASA-Grafiken
5-4 Verändert nach U.S. Geological Sur- 9 -2 wahrscheinlich posthumes Portrait 11-68 NASA
vey von Madame Feytaud, 1842, Acadé- 11-70 © ESA/ LFI & HFI Consortia
5-16 nach www.deutschetonstrasse.de mie des Sciences, Paris 12-5 Xiangyux (Wikipedia)
5-17 nach www.deutschetonstrasse.de 9 -5 nach: Statistisches Bundesamt, 12-21 oben: National Oceanic and At-
5-21 nach www.online-handwerker.de Deutschland, 2010 mospheric Administration (NOAA),
5-22 http://www.brennundbaumaterial. 9 -8 Mandelbrot, B. B.; Hudson, R. L. 2004, unten: P. Rona, OAR/National
de/epages/61648555.sf/de_ (2004), Fraktale und Finanzen, Piper Undersea Research Program (NURP);
DE/?ObjectPath=/Shops/61648555/ Verlag, München NOAA
Products/0075 9-16 Graphik: Wikimedia, Wikimol 12-24 © University College London Digital
5-23 Foto: Ingersoll 9-25 http://www.flickriver.com/photos/ Collections (18886)
5-24 Foto: Gabriele Müller nonlin/4297013382/ 12-28 Carroll, S. B., (2004), Evo Devo, Ber-
5-39 Foto: Gabriele Müller 9-28 NASA Remote Sensing Tutorial, Sec- lin University Press, 2008, S. 97
5-40 Foto links: Parent Géry, rechts: Lysip- tion 14
pos 9-29 nach einer Aufzeichnung von: Wiki-
5-42 Foto: Harry Bery media, Bionerd
5-45 Welsch & Partner - scientific multi- 9-33 Graphik Roessler Attraktor: Wikime-
media, Foto: Fabian Heinemann dia, Wofl
5-48 Foto: Reiner Flassig 9-95 © Michael C. Rogers and Stephen W.
5-51 Viola sonans (Wikipedia) Morris, Nonlinear Physics, University
5-53 http://www.gaertnerplatzbruecke. of Toronto
de/ S. 417 Foto: National Nuclear Security
5-54 Liapor Administration / Nevada Site Office
5-55 Liapor Photo Library, number XX-33
5-57 LiTraCon 10-1 Verfremdetes Bild auf Basis: http://
5-59 Fotos: Gabriele Müller extranet.kinnick.pac.dodea.edu/
5-62 Georgius Agricola, De re metallica, teachershtml/scott.andrews/physci/
1556, TU Bergakademie Freiberg, chem/cool_cats11/A4/j_oppenh/j_
Foto: Waltraud Rabich oppenh.html
5-64/5 Woudloper (Wikipedia) 10-4 Foto: Wächter (Wikipedia)
5-74 Mond Nickel Company 10-16 Foto: Frank Hommes
5-83 Randy Benzie (Wikipedia) 10-28 Derrik Malcome, Argonne National
5-85 Didier Desouens (Wikipedia) Laboratory
5-87 Foto: United States Federal Govern- 10-47 nach Quigg, Chris: Weltbild vor dem
ment Umbruch in Spektrum der Wissen-
5-92/5 Wikipedia:Graphic Lab schaft: Verständliche Forschung,
5-104 Fotos: Der Neue Brockhaus (1937), 11/2008
vol. 2 11-2 Geldschein der Zentralbank Irak
5-110 Foto: Ursula Dachs 11-11 Welsch & Partner - scientific multi-
5-118 Gemälde von William Adolphe media / Dr. Schorsch (Teleskop)
Bouguereau (1825-1905): La Fileuse 11-12 Nasa
5-119 Foto: Holger Ellgard 11-15 Foto: © 2005 CERN/Maximilien
5-136 nach: S.R. White, B.J. Blaiszik: Selbst- Brice
heilende Materialien, Spektrum der 11-16 Der Kosmos im Computer. Spektrum
Wissenschaft, März 2012 der Wissenschaft 11/05, S. 12ff
6-6 Foto: Anja Kämper (2008) 11-20 Zeichnung oben: NASA / JPL Cal-
S. 321 Fotos; Ursula Dachs tech, Bilder unten: Originalaufnah-
6-28 Dr. Ellmar C. Fuchs men der Protoplanetaren Scheibe Hier nicht aufgeführte Bilder und Grafiken
6-44 Foto: Gabriele Müller PRC95-45c (M. J. McCaughrean, können dem Copyright der Firma Welsch &
S. 341 Foto: Ursula Dachs (2011) MPIA und C. R. O‘Dell, Rice Univer- Partner scientific multimedia, Tübingen unter-
6-61 Foto: Michael Kauffmann (2005) sity, NASA) liegen. Anfragen bitte an info@welsch.com
523
ANHANG
524
Erde, Wasser, Luft und Feuer
525
ANHANG
Quellen der Astronomie und Kosmologie, W.H. Freeman and Company, New
Springer, Berlin. York.
310 Chaplin, M., Water Structure and 387 Ussher, J., Annals of the World, 412 Velarde, M. G. und Normand, C.,
Science, http://www.lsbu.ac.uk/water/ Internet Archive, http://archive.org/ (1989) Konvektion, Chaos und
index2.html (25.4.2012) details/AnnalsOfTheWorld (17.4.2012) Fraktale, 38ff
322 Pradzynski, C., et al. (2012) Science 387 (1995) Lexikon der Astronomie, Band 399 Periodensterbetafeln für Deutschland
337, S. 1529–1532 2, Spektrum Akademischer Verlag, 2003/2005, http://www-ec.destatis.de
Heidelberg. (23.11.2006)
393 Fusionsexperiment JET setzt
Kapitel 7 Weltrekordmarken, Max-Planck-Institut
für Plasmaphysik, http://www.ipp.mpg. Kapitel 10
Allgemeine Literatur de/ippcms/de/presse/archiv/08_97_
pi.html (17.4.2012) Allgemeine Literatur
Cerbe, G., (2004) Grundlagen der Gastechnik, 393 Plasmahochtöner, wikipedia, http://
Carl Hanser Verlag, München, Wien. de.wikipedia.org/wiki/Plasmahochtöner Bojowald, M., (2009) Der Ur-Sprung des Alls,
Möller, D., (2003) Luft: Chemie, Physik, (17.04.2012) Spektrum der Wissenschaft, Band 5, 26ff
Biologie, Reinhaltung, Recht, Walter de 393 Flammenionisationsdetektor, Das, A. und Ferbel, T., (1995) Kern- und
Gruyter, Berlin, Boston. wikipedia, http://de.wikipedia.org/ Teilchenphysik, Spektrum Akademischer
Roedel, W. und Wagner, T., (2011) Physik wiki/Flammenionisationsdetektor Verlag, Heidelberg.
unserer Umwelt: Die Atmosphäre, Springer, (17.4.2012) Feynman, R., (1985) QED - Die seltsame
Heidelberg. 389 Plasmaschirm als Raumschiff-Schutz?, Theorie des Lichts und der Materie, Piper,
Stöcker, H., (2007) Taschenbuch der Physik, scinexx, http://www.scinexx.de/ München.
Harri Deutsch, Frankfurt/Main. wissen-aktuell-9167-2008-11-26.html McMahon, D., (2009) String Theory -
Tabor, D., (1985) Gases, liquids, and solids, (12.4.2012) Demystified, McGraw-Hill, New York.
Cambridge University Press, Cambridge, New 393 Plasma die leuchtende Verheissung, Paul, S. und Weise, W., Online Skript:
York. Bild der Wissenschaft Online, http:// Teilchen und Kerne, Physik-Department der
Ueberhorst, S., (1994) Energieträger Erdgas- www.bild-der-wissenschaft.de/bdw/ Technischen Universität München, http://
Exploration, Produktion, Versorgung, Bibliothek bdwlive/heftarchiv/index2.php?object_ www.mppmu.mpg.de/~rwagner/skript/
der Technik, Band 102, Verlag moderne id=31717858 (17.4.2012) (16.4.2012)
Industrien, Penrose, R., (2007) The Road to Reality,
Watson, L., (2001) Der Duft der Verführung: Vintage Books, New York.
Das unbewusste Richen und die Macht der Kapitel 9 Polchinsky, J., (2005) String Theory, Cambridge
Lockstoffe, S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt/ University Press, Cambridge.
Main. Allgemeine Literatur Povh, B., Rith, K., Scholz, C. und Zetsche, F.,
(2006) Teilchen und Kerne, Springer, Berlin.
Becker, R., (1985) Theorie der Wärme, Randall, L., (2006) Verborgene Universen, S.
Quellen
Springer, Hamburg. Fischer, Frankfurt a.M..
Haken, H., (1978) Synergetics, Springer, Berlin. Smolin, L., (2001) Three Roads to Quantum
368 Hatt, H. und Dee, R., (2008) Das
Prigogine, I. und Stengers, I., (1980) Dialog Gravity, Basic Books, New York.
Maiglöckchen-Phänomen: Alles über
mit der Natur, Piper, München. Zee, A., (2003) Quantum Field Theory in a
das Riechen und wie es unser Leben
Schwabl, F., (2006) Statistische Mechanik, Nutshell, Princeton University Press, Princeton,
bestimmt, Piper, München. Springer, Hamburg. Oxford.
Strogatz, S. H., (1994) Nonlinear Dynamics (1984) Teilchen, Felder und Symmetrien,
Kapitel 8 and Chaos, Perseus Books, Cambridge MA.
Érdi, P., (2010) Complexity Explained, Springer,
Spektrum der Wissenschaft: Verständliche
Forschung,
Berlin.
Allgemeine Literatur
Quellen
Kaufmann, M., (2003) Plasmaphysik und Quellen
Fusionsforschung, Teubner, Stuttgart, Leibzig, 434 Genz, Henning; Decker, R., (1991)
Wiesbaden. 408 Bekenstein, J., (1973) Black Holes and Symmetrie und Symmetriebrechung in
Kegel, W. H., (1998) Plasmaphysik: Eine Entropy, Physical Review D, Band 7/8, der Physik, Vieweg, Braunschweig.
Einführung, Springer, 2333ff 442 Lüst, D., (2009) Ist die Stringtheorie
Stroth, U., (2011) Plasmaphysik: Phänomene, 408 Bekenstein, J., (2003) Das noch eine Wissenschaft?, Spektrum
Grundlagen, Anwendungen, Vieweg+Teubner, holografische Universum, Spektrum der der Wissenschaft, Band 5, 34ff
FusEdWeb - Fusion Energy Education, Fusion Wissenschaft, Band 11, 34ff 418 Oppenheimer, R., (1965) The decision
Group, Contemporary Physics Education 397 Earman, J., Campbell, J. K., O‘Rourke, to drop the bomb, NBC White Paper
Project, http://fusedweb.pppl.gov/cpep/ M. und Shier, D. (Hrsg.), (2004) Radio Broadcast,
(15.4.2012) Determinism: What We Have Learned 424 Pollard, E., (1935) Nuclear Potential
and What We Still Don‘t Know in: Barriers: Experiment and Theory,
Freedom and Determinism (Topics in Physical Review Letters, Band 47, 611-
Quellen
Contemporary Philosophy), A Bradford 620
Book, Cambridge, Ma., London. 437 Quigg, C., (2008) Weltbild vor dem
383 Goren-Inbar, N., Alperson, N., Kislev,
399 Mandelbrot, B. B. und Hudson, R. L., Umbruch, Spektrum der Wissenschaft:
M. E., Simchoni, O., Melamed, Y.,
(2004) Fraktale und Finanzen, Piper Verständliche Forschung, Band 11, 12ff
Ben-Nun, A. und Werker, E., (2004)
Verlag, München. 438 Rovelli, C., (2004) Quantum
Evidence of Hominin Control of Fire at
396 Monod, J., (1971) Zufall und Gravity, Cambridge University Press,
Gesher Benot Ya`aqov, Israel, Science,
Notwendigkeit, Piper Verlag, München. Cambridge.
Band 304, 5671, 725-727
410 Nelson, P., (2008) Biological Physics, 438 Smolin, L., (2004) Quanten der
388 North, J., (2001) Viewegs Geschichte
526
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Raumzeit, Spektrum der Wissenschaft, dem Ursprung der Atome, Matrix- 465-523
Band 3, 54ff Verlag, Wiesbaden. 520 Janoschek, R., (1988) Kohlenstoff und
441 Smollin, L., (2006) The Trouble with 497 Davies, T. M., (2010) Verliert der Silicium – wie verschieden können
Physics, Houghton Mifflin Company, Kosmos Energie?, Spektrum der homologe Elemente sein?, Chemie in
Boston, New York. Wissenschaft, 11, 22-29 unserer Zeit, Band 22, 4, 128-138
441 Woit, P., (2006) Not even wrong, Basic 493 Feng, J. und Trodden, M., (2011) 502 Maturana, H. R. und Varela, F. J.,
Books, New York. Der verborgene Bauplan des Kosmos, (2011) Der Baum der Erkenntnis: Die
440 Wuensch, D., (2008) Der Erfinder der Spektrum der Wissenschaft, 1, 38-46 biologischen Wurzeln menschlichen
5. Dimension, Termessos, Göttingen, 493 Kroupa, P. und Pawlowski, M., (2010) Erkennens, Fischer Verlag, Frankfurt
Stuttgart. Das kosmologische Standardmodell a.M..
auf dem Prüfstand, Spektrum der 512 Miller, S. L., (1953) A production of
Wissenschaft, 8, 22-31 amino acids under possible primitive
Kapitel 11 463 Lorenz, R. und Sotin, C., (2010) Ein earth conditions, Science, Band 117,
Mond mit dem Zeug zum Planeten, 3046, 528-529
Allgemeine Literatur Spektrum der Wissenschaft, 10, 22-29 503 Schrödinger, E., (1999) Was ist Leben?,
Piper, München.
A.Weigert, H.J.Wendker und L.Wisotzki, 516 Shanks, N., (2004) God, the Devil,
(2005) Astronomie und Astrophysik, , Wil, Kapitel 12 and Darwin - A Critique of Intelligent
Weinheim. Design Theory, Oxford University Press,
Chown, M., (2009) We need to talk about Allgemeine Literatur New York.
Kelvin, Faber and Faber, London. 520 Tsytovich, V. N., Morfill, G. E., Fortov,
Heisenberg, W., (1955) Das Naturbild der Dawkins, R., (2008) Der blinde Uhrmacher: V. E., Gusein-Zade, N. G., Klumov, B.
heutigen Physik, rowohlt Taschenbuch Verlag, Warum die Erkenntnisse der Evolutionstheorie A. und Vladimirov, S. V., (2007) From
Hamburg. zeigen, daß das Universum nicht durch Design plasma crystals and helical structures
Müller, A., (2007) Lexikon der Astrophysik, entstanden ist, Deutscher, München. towards inorganic living matter, New
http://www.wissenschaft-online.de/ Kämpfe, L., (1992) Evolutions und Journal of Physics, Band 9, 263,
astrowissen/downloads/Lexikon/Lexikon_ Stammesgeschichte der Organismen, Gustav 502 Varela, F. J., Maturana, H. R. und
AMueller2007.pdf (21.4.2012) Fischer, Jena. Uribe, R., (1974) Autopoiesis: The
Randall, L., (2009) Verborgene Universen: Eine Lewin, B., (1998) Molekularbiologie der Gene, organization of living systems,
Reise in den extradimensionalen Raum, Fischer Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, its characterization and a model,
Taschenbuch Verlag, Frankfurt. Berlin. Biosystems, Band 5, 187-196
Struve, O., (1962) Astronomie, Walter de Rauchfuß, H., (2005) Chemische Evolution, 511 Wacey, D., Kilburn, M. R., Saunders,
Gruyter & Co, Berlin. Springer, Berlin, Heidelberg. M., Cliff, J. und Brasier, M. D., (2011)
Trofimowa, T. I., (1997) Physik, Vieweg Verlag, Thoms, S. P., (2005) Ursprung des Lebens, Microfossils of sulphur-metabolizing
Braunschweig/Wiesbaden. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt. cells in 3.4-billion-year-old rocks of
Weinberg, S., (2002) Die ersten drei Minuten, Zubay, G. L., (1998) Biochemistry, McGraw- Western Australia, Nature Geoscience,
Piper Verlag, München. Hill, Band 4, 698-702
Weinberg, S., (2008) Cosmology, Oxford Breuer, R. (Hrsg.), (2009) Die Evolution der 503 Wendland, Ist Feuer ein Lebewesen?,
University Press, Oxford, New York. Evolution - Wie Darwins Theorie die Welt Yahoo Deutschland, http://de.answers.
Zimmermann, H. und Weigert, A., (1999) verändert, Band 1, Spektrum Akademischer yahoo.com/questionindex?qid=200609
Lexikon der Astronomie, Spektrum Verlag, Heidelberg. 20042421AAUVEmM (17.4.2012)
Akademischer Verlag, Heidelberg. Hanser, H. und Scholtyssek, C. (Hrsg.), (2001) 514 Wächtershäuser, G., (1990) Evolution
Al-Shamery, K. (Hrsg.), (2011) Moleküle aus Lexikon der Neurowissenschaft, Spektrum of the First Metabolic Cycles,
dem All, Wiley-VCH, Weinheim. Akademischer Verlag, Heidelberg, Berlin. Proceedings of the National Academy
Horneck, G. und Rettberg, P. (Hrsg.), (2007) of Sciences, Band 87, 200-204
Complete Course in Astrobiology, Wiley-VCH, 519 Young, J. D. und Martel, J., (2010)
Quellen
Weinheim. Aufstieg und Fall der Nanobakterien,
Spektrum der Wissenschaft, 10, 44 â “
452 Antonello, M., et al., (2011)
51
Measurement of the neutrino velocity Quellen
518 Dudel, J., Menzel, R. und Schmidt, R.
with the ICARUS detector at the
F. (Hrsg.), (2001) Neurowissenschaft,
CNGS beam, , CERN Press Release, 511 Herd, C. D. K., et al., (2011) Origin and
Springer, Berlin, Heidelberg.
arXiv:1203.3433v3 and http://press. Evolution of Prebiotic Organic Matter
516 Pennock, R. T. (Hrsg.), (2001)
web.cern.ch/press/PressReleases/ As Inferred from the Tagish Lake
Intelligent Design Creationism and Its
Releases2011/PR19.11E.html Meteorite, Science, Band 332, 6035,
Critics, A Bradford Book, Cambridge,
(21.4.2012) 1304-1307
Ms., London.
454 Springel, V., et al., (2005) 516 Carroll, S. B., (2008) Evo Devo -
502 Sauermost, R. und Freudig, D. (Hrsg.),
Supercomputer Simulationen Das neue Bild der Evolution, Berlin
(1999) Lexikon der Biologie, Band 2:
untersuchen die Entstehung von University Press, Berlin.
Ark bis Blas, Spektrum Akademischer
Galaxien und Quasaren im Universum, 515 Darwin, C., (1985) The Origin of
Verlag, Heidelberg.
Nature, Band 435, 7042, 537-712 Species, Penguin Books, London.
514 Alvin, National Oceanic and
475 Burbidge, M., Burbidge, G., Fowler, W. 512 Debes, J. H., Weinberger, A. J. und
Atmospheric Administration, U.S.
und Hoyle, F., (1957) Synthesis of the Schneider, G., (2008) Complex Organic
Department of Commerce, http://
Elements in Stars, Review of Modern Materials in the Circumstellar Disk of
oceanexplorer.noaa.gov/technology/
Physics, Band 29, 4, 547-650 HR 4796A, The Astrophysical Journal
subs/alvin/alvin.html (12.4.2012)
457 Burns, J. A., (2011) Von nahen Letters, Band 673, 2 L191,
und fernen Welten, Spektrum der 513 Eigen, M., (1971) Molekulare
Wissenschaft, 4, 36-45 Selbstorganisation und Evolution,
469 Chown, M., (2004) Auf der Suche nach Naturwissenschaften, Band 58, 10,
527
ANHANG
528
Erde, Wasser, Luft und Feuer
529
ANHANG
530
Erde, Wasser, Luft und Feuer
531
ANHANG
532
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Raumzeit 438, 439, 440, 487, Schallgeschwindigkeit 195 von Einzellern 17 Stickstoff (N) 122, 376
488 Schallimpedanz 195 von Menschen 17, 18 als Element des Lebens 505
Rayleigh (Lord) 78, 97 Schallintensität 195 von Pflanzen 17 in der Uratmosphäre 511
Reaktionspartner 75, 102 Schechtmann, Daniel 157 Sinne menschliche 18 Stoff (Begriff, Etymologie) 12
Realgar 119 Scheibe Sinnesmodalitäten 23 Stoffe 37, 115
Redox-Reaktionen 140, 373, 510 protoplanetare 459 Sintern 230 Stoffgemische 326
Reduktion 140 Scherben 230, 232, 234 Softwareagenten 9 Stoffkonzentration 18
und Metallgewinnung 116, Scherbenkobalt 119 Solarkonstante 455 Stoffwechsel 503, 508, 513, 514
254 Schichtung Solarzellen 280 Störungen 8
Reduktionsmittel 116, 378 (der Atmosphäre) 364 Somatosensorischer Cortex 24 Strahlenoptik 20
Refraktor 447 (von Tonmineralen) 229 Sonne 387, 455 Strahlung
Reibung Schleiden, Matthias Jacob 506 als Hauptreihenstern 471 elektromagnetische 80, 81,
Gleit- 220 Schlüssel-Schloss-Prinzip 25 Energiequelle der 457, 470 387, 454, 487
Haft- 220 Schmecken 24 Masse der 456 Gamma- 451, 452, 481
Relativitätstheorie 26 Schmelze (Gestein) 236, 244, und Metall (Alchemie) 60 Hintergrund- 451, 485, 487
Rennofen 255 356 Sonnenenergie 470 Infrarot- 368
Repräsentation, interne 21 Schmelzen (Prozess) 92 Sonneneruptionen 388 ionisierende 365, 387, 496
Resonanz Schmiermittel 220 Sonnensystem 454, 458, 466 kosmische 451, 480
kernmagnetische 424 Schneeflocke 49, 322, 405 Relativbewegung des 489 Mikrowellen- 487
Retina 20 Schockwellen 451 Sonnenwind 388, 389, 451, 457, Röntgen- 387, 389, 455
Rezeptoren 17, 23 Schöpfungsmythen 29 463 Schwarzkörper- 96, 487
Riechchips 25 Schreibkreide 241 Spallation 480 solare Teilchen- 388
Riechen 24 Schrödinger, Erwin 126, 128, 472 Spannung UV- 365, 372, 375
Riechepithel 24 Schrödinger-Gleichung 126, 128, Bruch- 190 Strahlungsdichte 96
Riechstoffe 368, 369 134 Druck- 176, 186 Strahlungsgürtel 389
RNA (ribonucleic acid) 509, 512, Schrödingers Katze 109 Oberflächen- 310, 311, 323, Stratosphäre 365, 375
513 Schubmodul 176, 177 325, 331, 339, 353 Streichhölzer 384
Roheisen 255, 256 Schwann, Theodor 506 Scher- 176, 311 Streuung 433
Rohrer, Heinrich 23 Schwarzer Körper 124 Schub- 176, 311, 312 Strings 441, 442
Rohstoffe 231, 233, 339 Schwarzes Loch 451, 481, 482, Zug- 176, 236 Stringtheorie 438, 441
chemische 343, 352 497 Spannungsrisskorrosion 193 Strom
Rømer, Ole, Christensen 446 Entropie des 408, 439 Speiseeis 323 elektrischer 203, 204
Röntgenlicht 451 in der Milchstrasse 483 Spektralbereich Stromatolithen 243
Röntgenstrahlung 130 und Jets 452 ultravioletter 219 Struktur
Rost 191 Schwefeldioxid 117, 511 Spektralklassen kristalline 153
Rösten Schwefel (S) 60, 117, 462 (Sterne) 468 räumliche 77
(von Erzen) 120, 254 als Element des Lebens 122, Spektrallinien 124, 131, 133 Strukturformel 77, 217, 218
Rote Riesensterne 471, 477, 479 505 Spektroskopie 449 vereinfachte 217, 218
Rotverschiebung 484, 487, 489, auf der Urerde 511 Spektrum Styropor 159
496 Schwefelverbindungen 25 des atomaren Wasserstoffs Substanz (Begriff, Etymologie) 11
r-Prozess 480 Schweiß 318, 336 124, 125 Substitutionstheorie 77
Ruffini-Körperchen 23 Schwerkraft. Siehe Gravitation Sperrschicht 206 Summenformel 217, 218, 314
Ruhestandardnetz 22 Schwerkraftsinn 17 Spiegelteleskop 447, 448 Superflüssigkeiten 356
Ruß 116 Schwingung 193, 194 Spin 130, 133, 208, 214, 424 Superisolation 209
Rutherford, Ernest 99, 103, 123 Schwingungsfrequenz 97 des Elektrons 131 Supersymmetrische Theorien
Rydberg-Konstante 125 Sedimentite 226, 237, 238 Spin-Bahn-Kopplung 133, 134 (SUSYs) 439, 440
biogene 241 Spinkorrelationsfunktion 173 Supraleiter 207, 353
klastische 239 Spinquantenzahl 132, 214 Hochtemperatur 208
S Sehbahn 20 Splitt 244 Supraleitung 208
Sehen 17, 19, 21 s-Prozess 477 Suspension 330, 340
Salze 72, 73, 328, 386, 462 Sehnerv 20 Stahl 256 süß 25
flüssige 354 Sehpigmente 22 (Eigenschaften) 257 Süßrezeptoren 25
salzig 25 Sehzellen 20 Veränderungsverfahren 185, Symmetrie 434
Sandsteine 239, 240 Sehzentrum, primäres 20 257 -brechung 437
Sättigungsdampfdruck 317, 324 Seifen 220, 331, 338, 339, 340 Standardkerzen 479 des Standardmodells und SUSY
Sauerstoffblasverfahren 256 Seifenblasen 332 Standardmodell 439
Sauerstoff (O) 122, 371, 478 Seitenlinienorgan 18 (der Kosmologie) 121 Dreh- 436, 437
als Lebenselement 505 Selbstorganisation 412 (der Teilchenphysik) 427, 432, Isospin- 435
dreiatomiger (Ozon) 122 Selektion (Evolution) 18, 515 434, 436 lokale 436
Entdeckung von 70 Sgraffito 247 Staubringe 459 und Extradimensionen 441
kosmische Häufigkeit 459 Sicherheitsgläser 186 Stein 235 Syndet 340, 341
und extraterrestrisches Leben Siedeverzug 172 Stein der Weisen 62, 116 synthetisch
519 Silber (Ag) 117 Steingut 232 Begriff 222
und Verbrennung 385 Silbersulfid 117 Steinzeug 232
Säule Voltasche 86 Siliciumdioxid 237 Stern 121, 471, 474
Säure 72 Silicium (Si) 277, 459, 520 Sterne T
Schalenbau (Erde) 224 Silikatkern 463 schwere 479
Schalenbrennen 477 Sinne Sternenstaub 454 Taiji 47
Schall 18, 194, 195 fünf 17 Stickoxide 367, 376 Tastrezeptoren 17
Schalldämmung 195 künstliche 16 Stickstoffdünger 122 Tauon 428
533
ANHANG
534