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Die Rückkehr der Samurai

Albrecht Rothacher

Die Rückkehr
der Samurai
Japans Wirtschaft nach der Krise

Mit 10 Abbildungen

123
Dr. Albrecht Rothacher
Argentinierstr. 26/10
1040 Wien
Österreich
albrecht.rothacher@ec.europa.eu

ISBN 978-3-540-45112-9 Springer Berlin Heidelberg New York

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Vorwort

Die Zeiten, in denen man in Europa vom japanischen Managementwissen


die Geheimnisse des Orients für dauerhaftes Hochwachstum, stete Mitar-
beitermotivation, rapide Innovation und die strategische Dominanz der
Weltmärkte zu entlocken suchte, sind längst vorbei. Die zu Zeiten der
Spekulationsblase (1985-91) schnell geschriebenen Bestseller stauben heute
auf den Wühltischen der Buchdiscounter ein. Qualitätszirkel, dezentrale
Ringi-Sho-Entscheidungen, Kaizen-Prozessrationalisierungen, Kanban
(„just-in-time“), der Faktor Z (William Ouchi), das 3C-Modell (Kenichi
Ohmae), die Mysterien des Zen, oder gar arbeitslebenslange Beschäfti-
gungssysteme haben keine Konjunktur mehr. Stattdessen sind chinesische
und selbst indische Wirtschaftswunder angesagt, bevor sie überhaupt statt-
gefunden haben. Kein Zweifel, bald werden dem gläubigen Publikum eine
Vielzahl chinesischer Wirtschaftsweisheiten offeriert werden, die mutmaß-
lich auf den Strategen Lao Tsu rekurrieren, oder jede Menge indische
Ökonomiegurus, die unter Einbeziehung des Kamasutra neues postindus-
trielles Outsourcing propagieren könnten, natürlich nur bis die nächste
Spekulationsblase platzt und eine neue Managementmode ihren bejubel-
ten, gutbezahlten Einzug hält.
Das vorliegende Buch will also nicht 5 Methoden vorstellen, wie man
an der Tokyoter Börse ohne Geld und Anstrengung 500.000 Yen am Tag
verdienen kann. Noch geht es um die 7 Managementtricks, mit denen die
Toyodas in 70 Jahren die Weltmarktführerschaft bei Automobilen errun-
gen haben. Vielmehr möchte dieses Buch, das im Rahmen eines Graduier-
tenkurses an der Munich Business School im Frühsommer 2006 entstanden
ist, nüchtern, schnörkellos und lesbar eine praxisorientierte Einführung in
die Stärken und Schwächen der aktuellen Nachkrisen-Wirtschaft Japans
geben, zum Nutzen und Frommen deutscher und europäischer Unterneh-
mer und Manager. Japanische Firmen beobachten ihre Wettbewerber in-
tensiv. Mancher mag glauben, die große Bedrohung durch die japanische
Exportindustrie, die in den 80er Jahren allenthalben Besorgnis und Panik
auslöste, sei endgültig geschwunden. Langfristig, wenn die demographi-
schen Daten zu greifen beginnen und die Überalterung einer schrumpfen-
den Bevölkerung alles Wachstum abwürgen wird, mag dies sicher stim-
VI Vorwort

men. Doch bleibt Japan während der nächsten 15-20 Jahre ein ernsthafter
Wettbewerber1. Wenn zwischenzeitlich ein sektorieller Angriff erfolgt, ist
es für den Konkurrenten, der wie die amerikanische Automobilindustrie
seine Hausaufgaben vernachlässigt hat, zu spät.
Japans Wirtschaft ist weiterhin siebenmal größer als die des chinesi-
schen Milliardenvolkes. Sein nominelles Prokopfeinkommen liegt mit
$ 33.000 hundertzwanzigfach über dem chinesischen und 50% über dem
deutschen Durchschnitt. Es muss also noch sehr viel Wasser den Gelben
Fluss hinabschwimmen, bis der chinesische Markt in bestenfalls 30 Jahren
annähernd die Größe und Kaufkraft des japanischen Marktes erreicht hat,
und dies nur unter der denkbar unwahrscheinlichen Voraussetzung, dass
das aktuelle doppelstellige, von der Exportnachfrage und dem Zustrom
von Auslandskapital abhängige chinesische Wachstum sich in den nächs-
ten Jahrzehnten ungetrübt fortsetzen kann. Der japanische Markt bleibt
also bis auf weiteres der mit Abstand größte und wichtigste Asiens, und
die japanischen Unternehmen die weitaus härtesten und seriösesten
Wettbewerber und Partner auf den Weltmärkten. Deshalb bleibt es unab-
dingbar, die strategischen Absichten, das taktische Vorgehen, die sozio-
kulturellen Hintergründe und den Heimatmarkt seiner japanischen Gegner
und Freunde möglichst gut zu kennen und Fehleinschätzungen und Fehl-
verhalten vor Ort zu minimieren. Diesem nicht ganz unwichtigen Zweck
dient dieses Buch.

Albrecht Rothacher Wien/Brüssel im Oktober 2006

1
Malcolm Trever. „Japan: what international managers should know“ in: American
Management Association (Hg.) Managing New Horizons. Brüssel 1996.
Inhaltsverzeichnis

1 Nachhaltiges Wachstum oder Strohfeuer in der


Stagnationskrise?..................................................................... 1

2 Eine Wirtschaftsgeschichte: Von den Samurai des


Shogunats zu den Salarymen der
Spekulationswirtschaft............................................................. 7

3 Die Keiretsu-Konglomerate nach der Krise.......................... 17


3.1 Die Organisation der Hochwirtschaft ......................................... 17
3.2 Unternehmensporträt: Sumitomo Keiretsu ................................. 27

4 Wirtschaftliche und politische Machtstrukturen.................. 41

5 Sozialbeziehungen in der Wirtschaft: Gewerkschaften,


Frauenarbeit, Demographie ................................................... 53

6 Japanisches Management ..................................................... 67


6.1 Führungsstile, Wirtschaftsethik, Unternehmensorganisation
und Karrieren .............................................................................. 67
6.2 Das Kanban-System bei Toyota.................................................. 86
6.3 Akio Moritas Unternehmensphilosophie .................................... 95

7 Vertriebssysteme .................................................................. 109


7.1 Marketing und Vertrieb, Groß- und Einzelhandel .................... 109
7.2 Seven-Eleven Japan Co. ........................................................... 116

8 Branchenanalysen ................................................................ 123


8.1 Biotechnologie .......................................................................... 123
8.2 Automobilindustrie in Japan ..................................................... 129
8.3 Nahrungs- und Genussmittel, Nahrungsmittelmaschinen,
Landwirtschaft .......................................................................... 137
8.4 Die Unterwelt: Die Yakuza als Wirtschaftsfaktor .................... 144
VIII Inhaltsverzeichnis

9 Firmenportraits ..................................................................... 155


9.1 Canon: Die Erfolgsgeschichte einer Sanierung aus
eigener Kraft ............................................................................. 155
9.2 Toshiba: Heillos diversifiziert?................................................. 160
9.3 Matsushita: Lebensglück durch Elektrogeräte.......................... 167
9.4 Das Duell Samsung versus Sony .............................................. 175
9.5 Toyota: Weltkonzern wider Willen .......................................... 181
9.6 Honda: Von der Tüftler-AG zum Weltkonzern ........................ 189
9.7 Nissan: Auferstanden aus Ruinen ............................................. 194
9.8 Yamaha: Motorräder und Musik............................................... 202
9.9 Nomura: Das dritte Leben eines Wertpapierhauses.................. 209
9.10 Kikkoman: Soßen für die Welt ................................................. 218
9.11 Hello Kitty: Das reiche Kätzchen von Sanrio........................... 223
9.12 Der Aufstieg und Fall von Seibu .............................................. 227

10 Regionalportraits .................................................................. 235


10.1 Kansai ....................................................................................... 235
10.2 Hokkaido................................................................................... 238
10.3 Okinawa .................................................................................... 244
10.4 Die regionale Wirtschaftsförderung.......................................... 251

11 Japan, Europa und die EU ................................................... 255

12 Sozialverhalten im Wirtschaftsleben. Die Freuden und


Leiden der Expats ................................................................. 261
1 Nachhaltiges Wachstum oder Strohfeuer in
der Stagnationskrise?

Im Jahr 2005 wuchs die japanische Wirtschaft um 2,8%. Für 2006 werden
vom IWF 2,75% und für 2007 2,0% Wachstum vorhergesehen1. Die offi-
zielle Arbeitslosigkeit sank von 5,4% (2002) auf 4,1% (2006). Die Regie-
rung erklärt die Krise für vorläufig beendet. Japan sei ein neues „Hoch-
wachstumsland“ jubelt pflichtgemäß ein Analyst von Meryll Lynch2. Der
Nikkei als Index der 225 führenden japanischen Aktienwerte stieg 2005/06
um 42%, und der TOPIX als erstes Segment der Tokyoter Börse um 50%.
70 Milliarden Euro legten ausländische Anleger binnen Jahresfrist in japa-
nischen Aktien an. Alles im Lot also angesichts solcher für europäische
Verhältnisse sagenhafter Zahlen?
Laut Akio Mikuni3 ist Japans Wirtschaftserholung keinesfalls Ausdruck
erfolgreicher Wirtschaftsreformen. Sie beruht ausschließlich auf der Ex-
portnachfrage aus den USA und China, sowie hoher Ersparnisse, die als
billiges Kapital mit niedriger Rendite für Industrieinvestitionen und dem
Staat für kreditfinanzierte Investitionsprogramme zur Verfügung stehen.
Das war vor dem Platzen der Spekulationsblase von 1991/92 nicht anders.
Man kann auch wie Richard Katz argumentieren, dass die massiven Real-
lohnkürzungen und die Zunahme prekärer Teilzeitbeschäftigungen die
Binnennachfrage weiter unterdrücken. Das Wachstum beruht also nur auf
der Exportnachfrage und den staatlichen Ausgabeprogrammen4. Weiter
kann man Anthony M. Millers Argument folgen, dass bei 0-0,25% Zinsen
die Banken und die Wirtschaft eigentlich so mit Liquidität geflutet sind,
dass wiederum das Kapital ineffizient investiert wird, zumal Banken- und
Unternehmensreformen mit dem Ziel der Verminderung von Überkapazitä-
ten nicht ernsthaft unternommen wurden5.

1
Financial Times 25.5.2006.
2
Jesper Koll zitiert in: Frankfurter Allgemeine 6.3.2006.
3
Akio Mikuni. „Party time as Japan goes into self-destruct mode“ Financial
Times 29.4.2004.
4
Richard Katz „Japan still waits for a turnaround“ Financial Times 1.12.2004.
5
Anthony M. Miller. „Deflation isn’t Japan’s Problem“ Wall Street Journal
28.2.2003.
2 Nachhaltiges Wachstum oder Strohfeuer in der Stagnationskrise?

Schon 1996 und 2000 hatte es mit 3,4% bzw. 2,8% Wachstum zwei
kurzfristige Erholungsphasen gegeben, die von der Politik und den Analys-
ten flugs zum endgültigen Aufschwung ernannt wurden, nur um jeweils im
Folgejahr einmal nach einer zweiprozentigen Erhöhung der Mehrwertsteu-
er (1997: von 3% auf 5% – der Berliner Politik steht diese Erfahrung 2007
noch bevor) und dann nach dem Platzen der IT-Blase von 2000/01 wieder
zum Minuswachstum zu schrumpfen. Dem aktuellen Wachstum könnte
angesichts der Strukturschwächen der Hauptexportmärkte Ähnliches blü-
hen. Die US-Nachfrage beruht auf der Verschuldung der US-Verbraucher
sowie der USA selbst mit ihrem von den asiatischen Exportländern finan-
zierten Handelbilanzdefizit. Die chinesische Nachfrage schließlich hängt
von einem ausschließlich vom Auslandskapital und von Exporten alimen-
tierten und vor der Überhitzung stehenden Boom ab, der eine vor dem
Platzen stehende Spekulationsblase eigener Art nährt, zumal die Rechtsun-
sicherheit in der kommunistischen Kaderdiktatur die Gewinnträchtigkeit
ausländischer Unternehmen deutlich beeinträchtigt. Von einer langfristig
nachhaltigen Exportnachfrage kann für Japans und Asiens Exportindust-
rien also keine Rede sein.
In Japan selbst hat die Zentralbank das Land seit Jahren mit billigem
Geld geflutet, um einer Neuauflage der Großen Depression zu entgehen.
Sie hatte die Leitzinsen jahrelang auf 0% gesetzt und nutzte ihre Rückla-
gen, um massiv Staatsanleihen und notleidende Wertpapiere der Banken
aufzukaufen. Der Staat hatte mit dem größten Deflationsprogramm der
Weltgeschichte seine Verschuldung von 69% (1992) auf 180% (2005) des
BIP, die in Summe 6.400 Milliarden Euro darstellt, hochgetrieben. Die
Mittel wurden zur Sanierung fauler Bankenschulden, hauptsächlich aber
für landesweite Infrastrukturprogramme ausgegeben. Um die aufgeblähte
Bauindustrie vor dem Absturz zu bewahren, beträgt das jährliche Haus-
haltsdefizit noch immer – 6,5% des BIP, mehr als das Doppelte des Stabili-
tätslimits von Maastricht. Der Schuldendienst des Staates umfasst schon
jetzt 130 Milliarden Euro im Jahr. Das sind 10% der öffentlichen Haushalte.
Eine Sanierung durch erhöhte Steuern ist nirgendwo in Sicht.
Die Einkommens- und Unternehmenssteuern sind mit 50% bzw. 40,9%
ohnehin schon hoch. Pläne zur Erhöhung der Mehrwertsteuer von derzeit
5% sind bis auf weiteres auf Eis. Die regierende LDP verkündet allen
Ernstes, das Wirtschaftswachstum würde über steigende Steuereinnahmen
das Schuldenproblem automatisch lösen.6

6
Financial Times 16.2.2006.
Nachhaltiges Wachstum oder Strohfeuer in der Stagnationskrise? 3

Während der letzten Jahre hatten sich die Verbraucher an sinkende


Preise gewöhnt (- 0,9% im Jahr 2002) und deshalb ihre mittel- und lang-
fristigen Konsumbedürfnisse in der Erwartung weiterer deflationärer Preis-
rückgänge aufgeschoben. Unsichere Beschäftigungsverhältnisse – zumal
für Berufsanfänger, für Frauen und die über 54jährigen -, Reallohnkürzun-
gen, ungenügende Rücklagen für Firmenrenten und sehr knapp bemessene
sozialstaatliche Leistungen reduzierten durch die Notwendigkeit privater
Rücklagen die Ausgabeneigung der Haushalte. Diese legten ihr gespartes
Geld vorrangig in staatlichen Schuldverschreibungen an, die mit nur 0,1%
verzinst werden. „Die Japaner sind reich. Der Staat ist pleite“, wird Klaus
Wellerhoff von der UBS zitiert7. Wer seine Spargroschen bei einem kon-
kursreifen Gläubiger gebunkert hat, der eigentlich nur an der Inflations-
und Steuerschraube zu seiner Notrettung drehen kann, der ist vielleicht
doch nur auf dem Papier reich. Mit diesen strukturellen Widrigkeiten kann
der Aufschwung in Japan auch bei einer stark bleibenden Exportnachfrage
mittel- und langfristig nur höchst unsicher bleiben.
Ich habe schon andernorts in Bezug auf die Transformation Mittelost-
europas nachzuweisen versucht8, dass es nicht so sehr darauf ankommt,
sich zwei bis drei Makroindikatoren anzusehen und dann einen Auf-
schwung zu bejubeln oder den Abstieg eines Landes zu betrauern, son-
dern darauf, sich mit der tatsächlichen Unternehmensführung und dem
konkreten Wirtschaftshandeln zu befassen. Wie alle empirischen Arbei-
ten ist dies natürlich ein mühsameres Geschäft als lediglich ein paar
Bankenländerbriefe zu überfliegen. Japan ist bekanntlich eine duale
Wirtschaft, bestehend aus gut tausend börsennotierten exportierenden
Großbetrieben des TOPIX, und dem Rest der KMU als Zulieferer und
örtliche Kleinproduzenten und Dienstleister. Die weitaus meisten – 4,5
Millionen – haben weniger als 20 Mitarbeiter.
Die erste Liga ist, wie wir in den Firmenstudien in dieser Arbeit doku-
mentieren, deutlich in vier Gruppen differenziert:
1. Konservative Firmen die von starken Unternehmenskulturen oder
Unternehmerpersönlichkeiten an der Spitze geprägt werden, die sich
während der verrückten 80er Dekade weiter auf ihr Kerngeschäft
konzentrierten und sich von den Börsen-, Immobilien- und IT-
Spekulationen kaum ablenken ließen. Toyota, Honda, Matsushita,
Yamaha, Kyocera und Kikkoman gehören dazu.

7
In Die Presse 15.12.2005.
8
Albrecht Rothacher. Im wilden Osten. Hinter den Kulissen des Umbruchs in
Osteuropa. Hamburg 2002.
4 Nachhaltiges Wachstum oder Strohfeuer in der Stagnationskrise?

2. Einige wenige Firmen, die in der Boomphase die Orientierung ver-


loren hatten, sie dann aber durch energische Refokussierung und
Unternehmensreformen entweder aus eigener Kraft (Canon)9 oder
mit fremdem Management (Nissan, Mazda) nachhaltig wiederge-
wonnen haben.
3. Die große Mehrheit, die weiter ziellos auf diversifizierten Geschäfts-
feldern umherirrt, weil ihre konsensorientierte Kollektivführung –
der bekanntlich schlechteste Führungsstil überhaupt – zu harten
strategischen Entscheidungen nicht fähig ist. Massenentlassungen,
Einstellungsstops, Lohnkürzungen und Randverkäufe finden zwar
notgedrungen statt. Es wird aber weiter in allen Sparten, von denen
man sich nicht trennen kann, auf Wunderprodukte und auf diffuse
Exportmärkte gehofft. Die Liste ist lang und reicht von Sony, To-
shiba, Hitachi, Sanyo, NTT, Fujitsu über Sanrio bis zu Mitsubishi
Motors und Japan Airlines. Zu den problematischen Sektoren zählen
weiter die kaum genesene Finanzwirtschaft, einschließlich der Ver-
sicherer, die nach Umschuldungen ihre problematischen Megafusio-
nen noch verdauen müssen, die überdimensionierte Bauwirtschaft,
die Kaufhäuser und die nicht wettbewerbsfähige Ernährungswirt-
schaft, die in großen Teilen die nächste WTO Liberalisierungsrunde
nicht überleben dürfte.
4. Schließlich gibt es noch jene traurigen Zombiefirmen, vor allem im
Einzelhandel (Daiei [„The Zombie King“10], Sogo, Mycal), im Bau-
gewerbe (Tobishima, Kumagai, Daikyo, Misawa Homes)11 und in
der Kreditwirtschaft, die seit 15 Jahren klinisch tot sind und weiter
mit öffentlichen Garantien durch verlängerte Kreditlinien den Ge-
schäftsbetrieb mühsam aufrecht erhalten. Ab und zu gelingen aus-
ländischen Beteiligungsgesellschaften wie Ripplewood mit dem bru-
talen Charme amerikanischer Sanierer noch ein paar wundersame
Wiedererweckungen, etwa mit Shinsei, der früheren Long Term
Credit Bank of Japan12. Meist aber stellen sie die früheren Kapital-
vernichtungen aber als doch zu aberwitzig heraus.

9
Nihon Keizai Shimbun. How Canon Got its Flash back. Singapur 2004.
10
Newsweek 30.8.2004.
11
Andrew Morse. Twilight Zone. Far Eastern Economic Review 2.9.2004.
12
Gillian Tett. Saving the Sun: A Wall Street Gamble to Rescue Japan from its
Trillion Dollar Meltdown. New York. 2003.
Nachhaltiges Wachstum oder Strohfeuer in der Stagnationskrise? 5

In Summe ergibt unser kursorischer empirischer Überblick – mehr dazu in


den Kapiteln 8 bis 10 – eine eher skeptische Einschätzung des gegenwärtig
sichtbaren Aufschwungs. Um nachhaltig zu werden, bedarf es noch weit-
aus energischerer Unternehmensreformen in Stil von Canon und Nissan.
Es ist jedoch angesichts der mühsam wiedergewonnenen hauchdünnen
Gewinnmargen der meisten überdiversifizierten Großunternehmen un-
wahrscheinlich, dass dort viel passiert. Eher wird man in den dortigen Füh-
rungsetagen mit großer Erleichterung übereinstimmend und sich gegensei-
tig gratulierend feststellen, dass die Welt wieder in Ordnung ist und sich
wie in alten Tagen wieder per Diensthubschrauber in den firmeneigenen
Golfklub fliegen lassen.
Die nächste Krise kommt also bestimmt.
2 Eine Wirtschaftsgeschichte:
Von den Samurai des Shogunats zu den
Salarymen der Spekulationswirtschaft

Man mag die Zwänge der jahrtausendelangen Nassreiskultur bemühen


oder die Insellage Japans oder die steten Zerstörungen und den Wiederauf-
bau nach Taifunen, Erdbeben und Großbränden, um Japans einzigartige
Wirtschaftskultur und sein Arbeitsethos zu begründen. Noch Überzeugen-
der dagegen scheint ein Rückblick auf die 250jährige Isolationsphase der
frühen Neuzeit durch das Tokugawa-Shogunat und die folgende 50jährige
staatlich gelenkte autoritäre Modernisierungsphase durch die Meiji-Refor-
mer zu sein.
Aus den Wirren der Bürgerkriege des 16. Jahrhunderts ging ein Fürst,
Tokugawa Ieyasu, als Einiger des Landes siegreich hervor. Er ließ sich
zum Großkanzler und Shogun (Feldmarschall) des machtlosen, weiter in
Kyoto residierenden Kaisers ausrufen, schottete Japan systematisch von
fast allen ausländischen Einflüssen ab und ließ das Christentum, das sich
durch spanische und portugiesische Missionare im Süden stark verbreitet
hatte, grausam verfolgen. Nur in der Bucht von Nagasaki, auf dem Insel-
chen Deshima1, durften niederländische Kaufleute, die jeglicher Missi-
onstätigkeit abschwören mussten, streng kontrollierten Handel betreiben.
Japanern waren Auslandsreisen gänzlich untersagt. Von deutschen Ärz-
ten wie Engelbert Kaempfer, Caspar Schamberger und Philipp Franz von
Siebold, die einige Jahre auf Deshima in niederländischen Diensten die
medizinische Versorgung übernommen hatten und an den alljährlichen
Fahrten zum Hof des Shogun in Edo (Tokyo) teilnahmen, besitzen wir
sehr anschauliche und kenntnisreiche Schilderungen der sozialen und

1
Heute ist die Insel verlandet. Als ich sie im Jahre 1979 erstmals besuchte, war
dort ein Schrottplatz. In den 90er Jahren wurde ein aufwändiges, freilich ahisto-
risches „Oranda-mura“ (Holland-Dorf) als teures Wohnviertel und Touristen-
attraktion errichtet, das später in den Konkurs schlitterte.
8 Eine Wirtschaftsgeschichte

wirtschaftlichen Lage in jenen abgeschotteten zweieinhalb Jahrhunderten


(1603-1854)2.
Das Tokugawa Shogunat war als strenger Feudalstaat organisiert. Die
politische Macht lag bei der Familie des Shogun und dem Hofadel, den
großen Regionalfürsten (daimyo). Es folgte der zahlreiche Ritterstand (sa-
murai), der wegen der langen Friedenszeit weitgehend arbeitslos geworden
war und sich wegen des strengen Bushido-Ehrenkodexes für Samurai nur
als Grundbesitzer oder mit Verwaltungsarbeiten durchschlagen konnte.
Viele gaben in der Spätphase des Shogunats verarmt ihren Adelsstand auf,
um als Großbauern, Händler oder Unternehmer ein besseres Auskommen
zu finden. Kaufleute wurden in der sozialen Rangordnung der feudalen
Ständegesellschaft noch hinter die Bauern und Handwerker gereiht, da sie
aus Sicht der herrschenden konfuzianistischen Staatslehre keine Werte
schufen. Unter ihnen war nur noch die Unterschicht der sozial Ausgesto-
ßenen angesiedelt, kleinkriminell gewordenes fahrendes Volk, Schausteller
und nach buddhistischer Lehre unreine Berufe wie Abdecker, Metzger,
Gerber und Henker, eine Gruppe, deren Nachfahren heute noch als bura-
kumin (wegen ihrer besonderen Viertel „Siedlungsleute“ genannt) diskri-
miniert werden. Trotz seiner Isolation entwickelte sich Japan langsam aber
stetig. Tokyo war 1730 mit 1,4 Millionen Einwohnern die damals größte
Stadt der Welt. Dies setzte eine umfangreiche Arbeitsteilung voraus, mit
einem differenzierten Handwerk, Bergbau, Manufakturen, Überschüssen in
Landwirtschaft und Fischfang, eine funktionierende öffentliche Verwal-
tung und ein leistungsfähiger Transport- und Handelssektor. Ländliche
Großgrundbesitzer verfügten über genügend Kapital, um als Unternehmer
sake oder shoyu (Sojasoße) zu brauen. Osaka als Handelsstadt ermöglichte
Investitionen in Baumwoll- und Seidenmanufakturen, in den Bergbau und
das Hüttenwesen. So entstand der Sumitomo-Konzern schon 1590 mit der
Kupferverhüttung in Kyoto. Mitsui wurde im 17. Jahrhundert von einem
Samurai gegründet, der seine Nobilität aufgab, um sich dem Textilhandel
und Geldwechsel zu widmen. Seine Erben sollten als japanische Fugger
die Finanziers der Tokugawa-Shogune werden.
Ähnlich wie China und Korea war die wirtschaftliche und technische
Entwicklung Japans in ihrer selbstgewählten Isolation gegenüber der stür-

2
Herbert Scurla (Hg.). Reisen in Nippon. Berichte deutscher Forscher des 17.
und 19. Jahrhunderts aus Japan. Berlin 1969; Michael Henker e.a. (Hg.). Phi-
lipp Franz von Siebold. Ein Bayer als Mittler zwischen Japan und Europa.
München: 1993; Wolfgang Michel. Von Leipzig nach Japan. Der Chirurg und
Handelsmann Caspar Schamberger. München 1999.
Eine Wirtschaftsgeschichte 9

mischen Entwicklung im neuzeitlichen Europa und Nordamerika seit dem


18. Jahrhundert weit zurückgefallen. Als 1853 amerikanische Kriegsschif-
fe unter dem Kommando von Matthews Perry in der Bucht von Tokyo
auftauchten und ultimativ die Öffnung des japanischen Marktes für ameri-
kanische und westliche Produkte verlangten, hatte das Shogunat in Er-
manglung einer hochseetüchtigen Flotte dem nichts entgegenzusetzen.
Sein Versagen vor den Barbaren erschütterte in den Augen patriotischer
Samurai die Legitimität des Shogunats. Bald begannen Aufstände und
Verschwörungen der südlichen Daimyo, mit dem Ziel, die Herrschaft des
Kaisers (Tenno) wiederherzustellen. Zwischen beiden Seiten begann ein
Wettlauf, sich möglichst schnell überlegene westliche Waffen und Militär-
techniken anzueignen3, auch in der Absicht, nach dem Sieg die Barbaren
bald wieder hinauszuwerfen.
1868 setzten sich die aufständischen Daimyo des Südens durch. Sie
setzten die Tokugawa ab und inthronisierten den jugendlichen Kaiser
Meiji in Tokyo. Gleichzeitig siegte auch die Einsicht, dass der nötige
Aufholprozess Japans langwieriger sein würde als der Erwerb von Zünd-
nadelgewehren und Feldgeschützen. Die Meiji-Reformer begannen einen
systematischen Modernisierungsprozess aus eigener Kraft mit selektiven
Anleihen bei den jeweils führenden europäischen Mächten4, der für ande-
re Entwicklungsländer vorbildlich sein sollte. So wurden die rechtlichen
Grundlagen für eine bürgerliche Gesellschaft geschaffen und feudale
Vorrechte gegen geringe Entschädigungen abgeschafft. Mit einem bür-
gerlichen Gesetzbuch wurden umfassende Eigentumsrechte eingeführt
und die ländliche Wirtschaft durch Bodensteuern monetarisiert. Das 1870
geschaffene Industrieministerium begann, staatliche Banken, die Post,
Eisenbahnen, Schifffahrtslinien und Musterindustrien zu gründen. Private
Investitionen flossen eher in Textil- und andere Leichtindustrien. 1889
wurde eine Verfassung nach preußischem Vorbild erlassen: eine konstitu-
tionelle Monarchie mit einem starken Oberhaus, in dem die Meiji-
Reformer der siegreichen Klans das Sagen hatten. Es begannen Gründer-
jahre, in denen die Schwerindustrie und Handelshäuser in Großbetrieben
organisiert wurden. Die meisten wurden von politisch gut verbundenen
Familienholdings als Zaibatsu-Konglomerate geführt. Sie profitierten auch

3
Interessant waren auch die Abenteuer deutscher Waffenhändler auf der Verlie-
rerseite des Bürgerkriegs: Holmer Stahncke. Die Brüder Schnell und der Bür-
gerkrieg in Nordjapan. Tokyo 1986.
4
W.G. Beasley. The Meiji Restauration. Stanford, CA 1972. S. 350ff.
10 Eine Wirtschaftsgeschichte

von den preisgünstigen Privatisierungen erfolgreicher staatlicher Infra-


struktur- und Industrieentwicklungen.
Nach dem Vorbild europäischer Kolonialmächte suchte sich Japan auch
am reformunfähigen chinesischen Nachbarn zu bereichern. 1895 wurde
Taiwan als Kolonie annektiert. Der bedrohliche russische Konkurrent wur-
de 1905 nach zwei Schlachten in der Mandschurei ausgeschaltet, seine
baltische Flotte bei Tsushima versenkt. Als Ergebnis wurden 1905 Südsa-
chalin und die Kurilen japanisch und das mittelalterlich zurückgebliebene
Korea eine Kolonie Japans statt Russlands. Am Ersten Weltkrieg nahm
Japan als Verbündeter Großbritanniens auf Seiten der Alliierten teil und
eroberte und annektierte die deutschen Besitzungen in Fernost, darunter
die Stadt Tsingtao und Teile der Schantung Halbinsel, sowie die Marianen,
Karolinen und Marshallinseln5.
Der Erste Weltkrieg brachte Japan durch alliierte Rüstungsaufträge ei-
nen Wirtschaftsboom, der mit dem Frieden jäh zusammenbrach. Schon
während des Krieges waren soziale Spannungen durch die starke Industria-
lisierung, Urbanisierung und rapide wachsende Ungleichheiten akut ge-
worden, die sich 1918 in gewalttätigen Krawallen in Zusammenhang mit
dem nach Missernten spekulativ verknappten Angebot von Reis entluden6.
Diese sozialen Konflikte setzten sich wie in Europa als militante Streiks
und blutige Auseinandersetzungen zwischen Rechts- und Linksradikalen in
den Wirtschaftskrisen der 20er Jahre fort.
Derweil profitierten die zaibatsu von ihren guten politischen Beziehungen
bei Privatisierungen und lukrativen öffentlichen Aufträgen. So sponsorte
Mitsui die Liberale Partei des aus der Präfektur Yamaguchi stammenden
Choshu-Klans und Mitsubishi die konkurrierende Demokratische Partei des
in Kagoshima beheimateten Satsuma-Klans. Als Ergebnis kontrollierten in
den 30er Jahren acht Familien über ihre Zaibatsu-Holdings 50% des Kapi-
tals der japanischen Wirtschaft. Der anglophile Internationalismus und der
„unjapanische“ kosmopolitische Lebensstil der japanischen Superreichen
war rechtsradikalen Offizieren, die oft verarmten Bauernfamilien entstamm-
ten, so verhasst, dass etliche Zaibatsu-Führer, wie Baron Dan Takuma,
ihren Attentaten zum Opfer fielen. Nach der Weltwirtschaftskrise von 1929
stürzte Japan in eine neue Wirtschaftsdepression. Die Regierung reagierte
1931 durch die Errichtung von Manschukuo, einer vom Militär kontrol-
lierten neuen Siedlungskolonie für die überschüssige Landbevölkerung.

5
Horst Gründer. Geschichte der deutschen Kolonien. Paderborn 2000. S. 169ff.
6
Yujiro Hayami. A Century of Agricultural Growth. Tokyo 1975. S. 61.
Eine Wirtschaftsgeschichte 11

1932 begann die Regierung angesichts des Ausbleibens privater Investitio-


nen, noch bevor Keynes eine solche Politik erfunden hatte, mit kreditfi-
nanzierten staatlichen Investitions- und Beschäftigungsprogrammen, mit
Rüstungsaufträgen zugunsten der Schwerindustrie und einem massiven
Importschutz. Auch fing die in der Mandschurei stationierte Kwantung-
Armee an, auf eigene Faust Krieg gegen China zu führen, der 1937 eska-
lierte. Als der japanische Vorstoß entlang der Küste und ins Landesinnere
strategische und wirtschaftliche Interessen der Alliierten in China zu be-
drohen begann, reagierten die USA, Großbritannien und Niederländisch
Ostindien 1941 mit einer Ölblockade, die der japanischen Kriegsmaschine
ebenso wie seiner Wirtschaft in Kürze das Lebenslicht ausgeblasen hätte.
In einem verzweifelten Befreiungsschlag griffen die Japaner bekanntlich
am 7.12.1941 den amerikanischen Kriegshafen Pearl Harbour auf Hawaii
an. Es spricht einiges dafür, dass jener day of infamy der amerikanischen
Führung unter Roosevelt nicht ganz unerwartet und unwillkommen war7.
Schon ab Ende 1942 begann sich das Kriegsglück, das bislang den Japa-
nern gegen unzureichend gerüstete und schlecht geführte Kolonialarmeen
in Südostasien hold war, mit der wachsenden amerikanischen Luft- und
Seehoheit zu wenden. Japanische Truppen- und Versorgungstransporte
waren bald kaum noch möglich. Die Städte wurden von amerikanischen
Brandbombenteppichen verheert. Die Rüstungs- und Industrieproduktion
verfiel. Die Versorgungsengpässe des Inselreiches wurden immer drama-
tischer. Nach den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki und dem
Überfall der bislang neutralen Sowjetunion im August 1945 blieb nur noch
die bedingungslose Kapitulation.
Das Besatzungsregime des imperial auftretenden US-Generals Douglas
MacArthur suchte zunächst die Schuldigen des Krieges abzustrafen und
auszuschalten. Bei Kriegsverbrechen war dies ziemlich einfach. Hielt man
doch die kommandierenden Offiziere für die Untaten ihrer Untergebenen
verantwortlich und hängte eine knappe Tausendschaft kurzerhand auf. Da
es in Japan keine totalitäre Massenpartei wie die NSDAP gegeben hatte,
wurden auch die meisten Politiker der Kriegszeit summarisch gesäubert,
auch dann, wenn ihre Parteien nicht unbedingt antidemokratisch waren.
Für Japans Aggressionen selbst hielten die USA nach Art der Vulgärmar-
xisten den Großgrundbesitz und das Großkapital für verantwortlich. Deshalb
ließ MacArthur ohne Ansehen der Person alles Ackerland von mehr als
1ha (die Größe eines Fußballfeldes) und die Familienholdings aller zaibatsu

7
George Morgenstern. Pearl Harbour 1941. München 2001; Dirk Bavendamm.
Roosevelts Krieg. München 1998.
12 Eine Wirtschaftsgeschichte

enteignen und entflechten. Zur Entfeudalisierung wurden alle Adelsprädi-


kate (außer jener des Kaisers) und alle erblichen Sitze im Oberhaus abge-
schafft. Weil sie von der Militärpolizei (kempetai) besonders drangsaliert
worden waren, hielten die Amerikaner die Kommunisten für besonders
gute Demokraten und zunächst für besonders förderungswürdig. Als stali-
nistische Partei begann die KPJ jedoch bald Massenstreiks in dem ausge-
hungerten, ausgebombten Land mit seinen 7 Millionen Kriegsheimkehrern
und Flüchtlingen, um nach chinesischem Vorbild die sozialistische Revo-
lution vorzubereiten.
Als der Kalte Krieg im Jahr 1947 auch in Fernost einsetzte, hielten die
Amerikaner die kommunistische Agitation für den Wiederaufbau nicht
länger für förderlich und begannen nach einer politischen Kehrtwende mit
dem Red purge, die Kommunisten und ihre Sympathisanten nunmehr aus
öffentlichen Stellungen zu säubern. Bestreikten japanischen Unternehmen
wurden jetzt Aussperrungen erlaubt, was diese prompt nutzten, um zahme
Betriebsgewerkschaften zu gründen, mit denen Tarifverträge abgeschlos-
sen und die Produktion wieder aufgenommen wurden. Die militanten Ge-
werkschaftler streikten bis zu ihrer Entlassung und der Auflösung ihrer
Gewerkschaften weiter.
1948 führten die Amerikaner in einer weiteren Kehrtwendung mit dem
Dodge-Plan eine solide makroökonomische Politik zur Bekämpfung der
massiven Inflation und des Schwarzhandels ein. Die Rationierung und
Preiskontrollen wurden aufgegeben, das Geld deflationär verknappt und
der Staatshaushalt ausgeglichen. Der Yen-Kurs wurde zur Stützung der
japanischen Exporte mit 360 Yen/US$ sehr niedrig fixiert – und blieb auf
diesem Niveau bis 1971! Mit dem Ausbruch des Korea-Krieges (1950-53)
begann das amerikanische Militär mit seinen Beschaffungen aus Japan
einen ersten Nachkriegsboom auszulösen.
Nach dem Friedensvertrag von San Francisco 1951 wieder souverän
geworden, führte Japan mit seinen rehabilitierten Politikern und Wirt-
schaftsführern den Wirtschaftsaufschwung in Eigenregie weiter. Wie
schon zu Meiji-Zeiten setzte das Industrieministerium MITI auf eine staat-
lich gelenkte Industriepolitik, indem es Devisen und billige Kredite jenen
Unternehmen zuteilte, die in strategischen Bereichen Exporterfolge erzielt
hatten. Gleichzeitig wurde der japanische Markt in allen jenen Sektoren
gegen Warenimporte und ausländische Direktinvestitionen abgeschottet, in
denen die japanische Wirtschaft noch nicht wettbewerbsfähig war8. Den

8
Chalmers Johnson. MITI and the Japanese Miracle. Stanford CA 1975; Robert S.
Ozaki. The Control of Imports and Foreign Capital in Japan. New York 1971.
Eine Wirtschaftsgeschichte 13

alten zaibatsu wurde gestattet, sich unter Leitung angestellter Manager


durch Kreuzbeteiligungen wieder als Konzerngruppen (keiretsu) zu for-
mieren. Dies ermöglichte eine kritische Masse für gemeinsam unternom-
mene Kapitalinvestitionen, Exportmarketing durch die gemeinsame Au-
ßenhandelsfirma und aus Sicht des MITI genügend Wettbewerb der
Konzerngruppen untereinander, um die weitgehende Ausschaltung auslän-
discher Konkurrenten auszugleichen. Häufig entstanden allerdings in der
Folgezeit durch Kartelle auf dem Binnenmarkt Doppelpreissysteme, bei
denen die japanischen Verbraucher durch hohe Binnenpreise das Preis-
dumping der Firmen auf den Auslandsmärkten subventionierten. Niedrige
Löhne, lange Arbeitszeiten, ein niedrig fixierter Yen-Kurs und die For-
schungs- und Entwicklungskosten sparende Produktimitation beflügelten
die japanischen Exportoffensiven. In den 50er Jahren waren es Produkte
der Textil- und Leichtindustrie, in den 60er Jahren die Stahlindustrie, der
Schiffsbau, Uhren und Transistorradios, in den 70er Jahren PKWs, Motor-
räder, Kugellager, Kameras, Fernseher und andere Gebrauchselektronik. In
den 80er Jahren kamen Werkzeugmaschinen, Industrieroboter, Computer
und die Büroelektronik dazu. Obwohl den Bürokraten des MITI gelegent-
lich Fehler unterliefen – so versuchten sie Mitsubishi und Honda in den
60er Jahren die PKW-Herstellung mit der Begründung, elf Autobauer sei-
en zu viel für Japan, zu untersagen oder mit viel Geld und wenig Erfolg
den Flugzeugbau zu fördern -, so war doch Japans staatlich konzertiertes
Wirtschaftswunder eine Erfolgsgeschichte ohnegleichen. Premierminister
Hayato Ikeda versprach bei seinem Amtsantritt 1960, das Volkseinkom-
men binnen eines Jahrzehnts zu verdoppeln. Normalerweise sind solche
Ankündigungen dazu bestimmt, möglichst rasch unerfüllt wieder verges-
sen zu werden. Ikeda dagegen konnte Wort halten. Allgemein gelten die
Olympischen Sommerspiele von 1964 in Tokyo als symbolischer Meilen-
stein für das Ende der entbehrungsreichen Nachkriegszeit und den Beginn
eines damals freilich noch bescheidenen Massenwohlstandes.
Korea und Taiwan waren als ehemalige Kolonien mit zeitlichem Verzug
ebenso erfolgreiche Zöglinge des japanischen Entwicklungsmodels9. An-
dere Länder – von Malaysien bis Polen – versuchten die Imitation, allein –
außer teurer Importprotektion und verlorenen Industriesubventionen – oh-
ne sichtbaren Erfolg. Es fehlte dort an kritischen Variablen: an der Ar-
beitsethik im Management, am Wettbewerb auf dem Binnenmarkt und am
Willen zur ernsthaften Restrukturierung.

9
Ryuichiro Inoue, Hirohasa Kohama and Shujiro Urata (Hg.). Industrial Policy
in East Asia. Tokyo 1993.
14 Eine Wirtschaftsgeschichte

Doch auch Japan hatte allzu offensichtlich die Kosten seines exportge-
leiteten Wachstums auf seine Handelspartner externalisiert. 1969 riss den
Amerikanern bei Textilien der Geduldsfaden. Sie belegten japanische Pro-
dukte mit engen Importquoten10 – zu einem Zeitpunkt freilich, an dem die
Fertigung in Japan schon rückläufig und seine Exporte kaum noch wett-
bewerbsfähig waren. Zwei Jahre kündigten die von den Kosten des Viet-
namkriegs und der Inflation gebeutelten USA über Nacht den für Japans
Exporte 23 Jahre lang so günstigen Yen-Kurs auf. Jener „Nixon-Schock“
von 1971 zwang die japanische Exportwirtschaft in der Folge zu höher-
wertigen Exporten. Der gestärkte Yenkurs und die Restrukturierung der
japanischen Wirtschaft weg von der Schwerindustrie ermöglichten es Ja-
pan, die Ölpreiskrisen von 1973/74 und 1978/79 deutlich besser zu ver-
kraften als die meisten Europäer, deren Inflation und industrielle Arbeits-
losigkeit massiv anstieg.
Da Japan mit seinen modernen Produktionskapazitäten munter weiter
gewaltige Exportüberschüsse produzierte und keine sichtbaren Anstren-
gungen unternahm, durch Importe von Fertigwaren die Wertschöpfung und
Arbeitsplatzbilanz seiner Partner zu unterstützen, erzwangen die Amerika-
ner im September 1985 in dem nach einem New Yorker Hotel benannten
„Plaza Accord“ die dauerhafte Aufwertung des Yen im Bezug zum Dollar.
Die japanische Zentralbank reagierte auf jene Yen-Teuerung (endaka),
dessen Außenwert sich in zwei Jahren verdoppelte, indem sie das Land,
um eine Rezession wegen der gebremsten Exporte zu vermeiden, mit Li-
quidität flutete. So sollte die Binnennachfrage angekurbelt werden. Die
Japaner sparten jedoch eisern weiter: Zu niedrig blieben ihre Pensionen
und zu eng die Wohnungen für neue Konsumsymbole. Das überschüssige
Kapital fand in den Börsenwerten und in Immobilien seine Anlage. Fast
täglich stiegen die Kurse auf neue historische Höchststände. Der Nikkei-
Index verdreifachte seinen Wert von 13.000 (1985) auf 39.000 (1989).
Manche Mittelständler gaben die wenig rentierliche Fertigung auf und
steckten ihr Betriebskapital lieber in das clevere zaitech, das als financial
engineering die Vervielfachung des Reichtums ohne körperliche oder geis-
tige Anstrengung versprach. Die mit Einlagen überreich gesegneten Banken
waren froh, wenn Spekulanten neues Kapital nachfragten. Sie akzeptierten
kritiklos überbewertete Aktienpakete und Immobilien als Sicherheiten.
Von 1985-90 stiegen die Immobilienpreise um das Vierfache. Rentabilitäts-
kriterien spielten bei Kaufentscheidungen keine Rolle mehr. Entscheidend

10
I.M. Destler. The Textile Wrangle – Conflict in Japanese American Relations
1969-1979. Ithaka, NY. 1979.
Eine Wirtschaftsgeschichte 15

war die Erwartung weiterer dramatischer Wertsteigerungen. Dies ist ein


klares Zeichen einer Spekulationsblase, die vor dem Platzen steht. Zum
Schluss, gegen 1991, wurde angesichts wahnwitziger Preise – etwa als die
Bodenpreise des Tokyoer Geschäftsbezirks Marunouchi dem Gegenwert
ganz Kaliforniens oder gar Kanadas entsprachen – nur noch argumentiert,
ein Kollaps der Preise sei zu furchtbar, um vorstellbar zu sein.
Sie kollabierten ohnehin, auch wenn die Zentralbank mit dauernden
Geldspritzen an die Banken dramatische Notverkäufe und die Regierung
durch den Aufkauf von Aktienpaketen und unnützen Bauobjekten panikar-
tige Preisstürze zu verzögern suchten. Wie immer, wenn Politik gegen die
Marktlogik gemacht wird, erfolgte die Quittung unnachsichtig. Je länger
ein solcher Unfug getrieben wird, desto teurer wird es. In Japan kostete der
Spaß drei jährliche Bruttosozialprodukte und eine Rezession von andert-
halb Jahrzehnten. Der drohende Staatskonkurs ist jedoch trotz der aktuellen
konjunkturellen Erholung noch nicht ausgestanden.
3 Die Keiretsu-Konglomerate nach der Krise

3.1 Die Organisation der Hochwirtschaft

Japans Wirtschaft ist dual geprägt: Der kleinen Zahl international bekann-
ter und global operierender Großkonzerne steht eine Masse von Klein- und
Mittelbetrieben gegenüber, die als Zulieferbetriebe oder für lokale Märkte
arbeiten. Profitabilität, Lohnniveaus und Arbeitsbedingungen sind meist
deutlich schlechter als bei den Großbetrieben. All jene vielbeschriebenen
Errungenschaften der 1992 zu Ende gegangenen Hochwachstumsphase der
japanischen Volkswirtschaft wie arbeitslebenslange Beschäftigungsver-
hältnisse, das Senioritätsprinzip bei Beförderungen und kollegiale Kon-
sensentscheidungen haben in jenen mittelständischen Betrieben im Famili-
eneigentum kaum je Gültigkeit gehabt. Immerhin ist es wichtig zu wissen,
dass jener KMU-Sektor mit zwei Dritteln aller Arbeitsplätze allen jenen
Arbeit und Brot gibt, die aus dem Hamsterrad der Großbetriebe neigungs-
oder altersbedingt ausgestiegen sind oder die, wie die meisten Berufsan-
fänger aufgrund nur durchschnittlicher Schulleistungen, dort nie eine An-
stellungschance hatten und nunmehr in den vielen Klein- und Mittelstädten
der Provinz ein vielleicht glücklicheres und sicher weniger stressvolles
Auskommen finden.
Als Ausländer hat man jedoch in aller Regel mit den Spitzenunter-
nehmen der japanischen Wirtschaft zu tun, die im Außenhandel, bei Aus-
landsinvestitionen, in der technologischen Innovation und in der Mas-
sengüterfertigung engagiert sind und meist mit Sitz in Tokyo an der
Börse gehandelt werden. Die meisten jener Spitzenunternehmen sind in
mehr oder minder enger Form als keiretsu organisiert, weswegen es sich
lohnt, sich diese Unikate der Weltwirtschaft – bei den koreanischen Chaebol
handelt es sich eher um Zaibatsu-Imitate – näher zu betrachten.
Bekanntlich hatte MacArthur 1945/46 die Besitzerfamilien der Zaibatsu,
die Iwasaki von Mitsubishi, die Barone Mitsui etc. enteignen lassen, ihre
Holdings aufgelöst und die Einzelfirmen gründlich zerschlagen lassen. So
wurden die Außenhandelsfirmen Mitsui Bussan in 140 und Mitsubishi
Shoji in 170 kleine Handelshäuser atomisiert. Nach dem Friedensvertrag
von 1951 fusionierten in dem souverän gewordenen Japan die Teilfirmen
von Konzerngruppen mit einer starken Unternehmenskultur wie Mitsubishi
18 Die Keiretsu-Konglomerate nach der Krise

und Sumitomo sehr bald wieder. Die konsolidierten Großfirmen der Grup-
pen formierten sich zu eng koordinierten keiretsu. Bei anderen, die wie
Mitsui bis 1945 hauptsächlich von der Eignerfamilie dominiert worden
waren, dauerte die Gruppenkonsolidierung bis Ende der 50er Jahre. Manche
ehemaligen Mitsui-Firmen wie Toshiba, Toyota, die Mineralölfirma General
Sekiyu und der Nahrungsmittelkonzern Toshoku hielten weiter Sicherheits-
abstand und beteiligten sich nur sehr selektiv an den Aktivitäten der Mitsui-
Familie1. In wieder anderen Firmen genoss das neue Management so sehr
seine neue Freiheit und Unabhängigkeit, dass sie sich höchstens auf ein loses
„Banken-Keiretsu“, einen besseren Hausbankenklub, einlassen wollten. Da-
zu zählten die ehemaligen Firmen der Yasuda und Asano-Zaibatsu (die dann
zum Fuyo Keiretsu der Fuji-Bank zählten) und die der Furukawa, Kawasaki,
Suzuki Shoten, Fujiyama und Meiji Zaibatsu (die sich meist dem keiretsu
der Daiichi Kangyo Bank, DKB, anschlossen).
Als horizontal organisierte Konzerngruppen hielten die Kernfirmen in
den Mitsubishi-, Mitsui- und Sumitomo-Konglomeraten jeweils unterein-
ander Aktienpakete (und eliminierten damit feindliche Übernahmerisiken
oder Aktionäre, die frech auf höheren Dividenden oder bei Hauptversamm-
lungen auf ernsthaften Antworten bestehen konnten), tauschten innerhalb
des keiretsu Manager aus und ließen ihre Vorstandsvorsitzenden, ihre
Stellvertreter, die Chefs ihrer Planungsabteilungen, sowie andere Füh-
rungskräfte sich allmonatlich regelmäßig treffen. So kommen die CEOs der
29 Mitsubishi-Kernfirmen jeden zweiten Freitag im Monat zum Präsiden-
tenklub (kinyukai) zusammen2. Dabei plaudern sie mutmaßlich nicht so
sehr über ihr Golf-Handicap, ihre letzten Auslandsreisen, oder wie Minoru
Makihara, der Chef von Mitsubishi Shoji meint, über Spenden und Spon-
soring3, als vielmehr über die Lage der Mitgliedsfirmen, gemeinsame strate-
gische Reaktionen und Projekte, größere Auslandsinvestitionen und poli-
tische Anliegen, die gegenüber den Fraktionen und führenden Parlamen-
tariern der Regierungspartei LDP und den Ministerien in Tokyo zu
artikulieren sind. Die Sekretariatsfunktionen werden jeweils von der Haus-
bank und der Außenhandelsgesellschaft (sogo shosha) der Gruppe wahr-
genommen. Diese gehören ebenso zum keiretsu wie Lebens- und Sachver-
sicherer, chemische und Mineralölfirmen, Stahlkocher, Brauereien, Groß-

1
John G. Roberts. Mitsui. Three Centuries of Japanese Business. New York. 1989.
2
Yasuo Mishima. The Mitsubishi. Its Challenge and Strategy. Greenwich, Conn.
1989.
3
The Economist 23.10.1999.
Die Organisation der Hochwirtschaft 19

firmen der Textil-, Papier-, Glas-, und Elektronikindustrie, Maschinenbauer,


Präzisionsgeräte- und PKW-Hersteller, sowie Industriedienstleister wie
Schiffahrts-, Speditions-, Lagerhaus- und Immobiliengesellschaften.4
Entscheidend ist, dass jede Branche nur von einer Einzelfirma vertreten
ist, um den störenden Wettbewerb innerhalb des Keiretsu auszuschalten.
Tunlichst werden Aufträge nur innerhalb der Konzerngruppe vergeben. So
werden Mitsubishi-Produkte nur von Nippon Yusen transportiert, von der
Mitsubishi-Bank finanziert, von Tokyo Marine and Fire Insurance versichert
und von Mitsubishi Shoji im Ausland verkauft. Mitsubishi Construction baut
alle Industrie- und Verwaltungsbauten der Gruppe, die anschließend von
Mitsubishi Estate administriert werden. Es ist mehr als Ehrensache, dass die
80.000 Mitsubishi-Angestellten nur Fahrzeuge von Mitsubishi Motors fah-
ren, ihre Lebensversicherung bei Meiji Life abschließen, Nikon-Kameras
benutzen und nach der Arbeit (fast) nur Kirin-Bier trinken. Dominant waren
Keiretsu-Strukturen bis 1992 in den Grundstoffindustrien (Eisen, Stahl,
Chemie, Metalle, Papier, Zement, Glas), in der kapitalintensiven Fertigung
(Autos, Schiffbau, Elektronik, Werkzeugmaschinen) und bei Industriedienst-
leistungen (Finanzen, Versicherungen, Handel, Schifffahrt, Bau, Lagerhal-
tung). Das Ausmaß der Intra-Keiretsu-Exklusivität wurde von den USA als
so dramatisch eingeschätzt, dass sie diese Geschäftspraktiken als Diskrimi-
nierung von Importen – Waren wie Industriedienstleistungen – bei ihren
damals „Strategic Impediments Initiative“ (SII) genannten Handelsverhand-
lungen 1989/91 mit der japanischen Regierung thematisierten, freilich ohne
dass sich als Ergebnis irgendetwas substantiell geändert hätte.
Die von den Banken (Fuji, DKB, Sanwa) im Verein mit verbündeten
Handelshäusern organisierten Keiretsu waren weniger kohärent, zumal sich
aufgrund früherer Bankenfusionen teilweise konkurrierende Firmen in der
gleichen Gruppe befanden. Doch auch sie wurden wie die drei großen In-
dustrie-Keiretsu per Präsidentenklub kollektiv geführt und bemühten sich
ebenso, den Schwerpunkt der Gruppen von chemischer und Schwerindustrie
zu High-Tech-Produkten zu verlagern. Zu diesem Zweck wurden mit ge-
meinsam eingebrachtem Kapital und abgeordnetem Führungspersonal Toch-
terunternehmen in tatsächlichen oder vermeintlichen Zukunftsindustrien
gegründet. In den 60er und 70er Jahren war dies die Kernenergie, später die
Ölexploration, die Tiefseeforschung, die Immobilienwirtschaft und die e-
lektronische Informationsverarbeitung. Dazu kam die Nutzung industrieller
Dienstleistungen aus der eigenen Gruppe: Außenhandel, Finanzen (Kredite,
Wertpapiergeschäft), Versicherungen, Leasing, Marketing, Bauwirtschaft,

4
Masafumi Matsuba. The Contemporary Japanese Economy. Tokyo 2001. S. 81ff.
20 Die Keiretsu-Konglomerate nach der Krise

Land- und Seetransport, Lagerhaltung, Datenverarbeitung usw. und die


Pflege einer gemeinsamen Gruppenidentität mit gemeinsamen Logos und
sozialen Unternehmungen. In der Sanwa Bank gab es zum Beispiel die
Kampagne „Trink Suntory Whisky“, um die emotionalen Beziehungen zu
dieser gruppenzugehörigen Brennerei zu kräftigen. Für nüchterne Bilanzana-
lysen war diese Kampagne nicht sonderlich zielführend. Bei Mitsubishi ging
(und geht) das bonding soweit, dass seine Jungmannen für den Manage-
mentnachwuchs gemeinsam in ein Militärlager der Selbstverteidigungskräfte
für einige Wochen zur körperlichen Ertüchtigung und Abhärtung gesteckt
werden. Dieser robuste Ansatz stellte sich langfristig für den Konglomerats-
zusammenhalt erfolgreicher heraus als die gemeinsamen Golfausflüge und
feuchtfröhlichen Umtrünke der Konkurrenz.
Denn kaum hatten sich die Führungsetagen und ihr Nachwuchs im Cor-
porate Clubland ihrer Keiretsu so richtig gemütlich eingerichtet5, da er-
wischte sie der Crash von 1991/92 voll auf dem falschen Fuß. Mit 530
Milliarden US-Dollar fauler Bankschulden war die Partystimmung gründ-
lich verdorben; – zum Vergleich: die Berliner Bankgesellschaft verlor 8
Milliarden US-Dollar in fehlinvestierten mitteldeutschen Immobilien im
subventionierten Wiedervereinigungsrausch; die österreichische Gewerk-
schaftsbank BAWAG versenkte 3 Milliarden US-Dollar bei der Hedge-
fondsfinanzierung in der Karibik. Beim 200fachen Betrag waren die pro-
baten Hausmittel Kreditverlängerung, Hoffnung auf bessere Zeiten und
die Beschwichtigung der Einleger, kaum mehr möglich. Zu viele Milliar-
densummen waren in leeren Marmorpalästen, ungenutzten Golfland-
schaften und abwegigen Themenparks unwiederbringlich verschwunden.
Zur Stärkung der Eigenkapitalbasis und des Managements der maroden
Banken erzwang die neue Bankenaufsicht Financial Services Agency
(FSA), nachdem sie einen Gutteil der notleidenden Kredite in eine staat-
liche Auffanggesellschaft transferiert hatte, eine Serie von Bankenfusio-
nen. Die FSA erhoffte sich von der Übernahme maroder Banken durch
besser geführte das Ende der alten Freundschaftskredite, eine Praxis, die

5
Gelegentlich griffen bei tatsächlichen oder vermeintlichen Missständen „be-
freundete“ Keiretsu-Firmen auch energisch durch. So wurde nach öffentlich
ruchbar werdenden Selbstbereicherungs- und Begünstigungsaffären der Vor-
stand des traditionsreichen Mitsukoshi-Kaufhauses von Mitsui hinausgeworfen.
Der Nissan-Keiretsu verdrängte die ursprünglich Gründerfamilie Tsukatani aus
den Managementfunktionen seines Scheinwerfer- und Rückspiegelherstellers
Ichikoh, nachdem der Firmenerbe beim Nissan Management in Ungnade gefal-
len war (Financial Times 15.6.1991).
Die Organisation der Hochwirtschaft 21

die teilentschuldeten Banken aus alter Übung sogleich fortzusetzen droh-


ten. Aus Sicht der betroffenen Banken waren Fusionen zwar unerfreu-
lich, doch hofften sie, damit zum Sterben zu groß zu werden.
Die einzigartige Stärke von Firmenkulturen macht Fusionen in Japan stets
problematisch. Als Nissan 1966 Prince Motors übernahm, gab es noch jahre-
lang später Feindseligkeiten zwischen den Arbeitern beider Firmenteile. Das
gleiche passierte, nachdem sich 1970 die Yahata- und Fuji- Eisen- und
Stahlwerke zu Nippon Steel verschmolzen. Dito nach der Fusion von JAL
und Japan Air Systems im Jahr 20026. Schon beim Zusammenschluss der
Dai Ichi Bank und der Nippon Kangyo Bank 1971 zur weltgrößten Dai Ichi
Kangyo Bank (DKB), war die Fusion ebenfalls lange nur additiv. Ange-
sichts des nachhaltigen Widerstandes des Managements und der Belegschaf-
ten gab es auch Jahre später kaum Filialkonsolidierungen, weiter getrennte
Computersysteme, keine Personalfreisetzungen und fast überall Doppelbe-
setzungen in den Führungsetagen. 20 Jahre lang führten zwei Personalabtei-
lungen die Geschicke der Dai-Ichi- und der Kangyo- Banker getrennt weiter.
Ein dritte war für die Laufbahnen der nach der Fusion ins gemeinsame Un-
ternehmen eingetretenen Mitarbeiter zuständig. Diesmal war es nicht anders.
Von 1990 bis 2005 blieben von elf Großbanken nur dreieinhalb übrig.
Kostenersparnisse erfolgten eher durch Lohnkürzungen (bei Boni und Über-
stunden), Einstellungsstops, die Entlassung von Teilzeitkräften, die Abord-
nung von Personal an Tochterunternehmen und durch Druck auf Lieferan-
ten, seltener durch echte Rationalisierungen. Als Fuji, DKB und IBJ sich
vereinigten, wurden noch 18 Monate später die Geschicke der neuen Mizuho
Bank vom Triumvirat der drei vormaligen Bankenchefs geleitet. Weder die
IT-Netze noch die Bankfilialen wurden konsolidiert7. Wenn ein kleinerer
Partner, wie 1996 die Bank of Tokyo, von Mitsubishi übernommen wird,
fühlen sich die Mitarbeiter des geschluckten kleineren Unternehmens in
ihren beruflichen Möglichkeiten dauerhaft diskriminiert und zurückgesetzt.8
Heute nennen sich die größten Banken Japans und der Welt etwas kryp-
tisch MUFG (Mitsubishi UFJ Financial Group) und SMFG (Sumitomo
Mitsui Financial Group).
So übernahm die Mitsubishi Bank zunächst die Bank von Tokyo und
Mitsubishi Trust and Banking, und Ende 2005 die United Financial Japan

6
Financial Times 17.2.2006.
7
Financial Times 20.2.2002.
8
„Marriage in name only“ The Economist 2.3.2002.
22 Die Keiretsu-Konglomerate nach der Krise

(UFJ), den anno 2002 erfolgten Zusammenschluss der Sanwa Bank und
der Tokai Bank.
Die Sumitomo Bank schluckte ihrerseits 2001 die Sakura („Kirschblü-
ten“) Bank, eine Fusion der Mitsui Bank mit der Taiyo Kobe Bank aus
dem Jahre 1990.
Die dritte große Bankengruppe nennt sich nunmehr Mizuho. Sie ent-
stand, wie erwähnt, durch die Übernahme der DKB und der Industrial
Bank (IBJ) durch die Fuji-Bank im Jahr 2002.
Schließlich gibt es dann noch die Resona Bank, die als eigentlich kon-
kursreif im März 2003 verstaatlicht werden musste9. Sie war eine Fusion
der Daiwa Bank, die nach Milliarden von Spekulationsverlusten in New
York 1995 auf das Niveau einer Regionalbank in Kansai zurückgestutzt
worden war, mit der Asahi Bank, die ihrerseits als Fusion der Kyowa mit
der Saitama Bank 1991 entstanden war.
Die Stagnationskrise Japans und die Serie der Bankenfusionen konnten
nicht ohne Folgen für die Organisation und den Zusammenhalt der keiretsu
bleiben. Zum einen konnten die angeschlagenen Banken und Versicherun-
gen ihren in Turbulenzen geratenen Mitgliedsfirmen, zumal der Bauwirt-
schaft, den Kaufhäusern und Broker, kaum noch zu Hilfe kommen. Viele
Firmen begannen auch, ihre wenig rentierlichen Aktienpakete entfernt be-
freundeter Keiretsu-Firmen zu verflüssigen. Damit reduzierten sich die Ü-
berkreuz-Beteiligungen, zumal der Banken-Keiretsu, deutlich. Insgesamt
sanken die gegenseitigen Beteiligungen an den Kernfirmen von 28% (1987)
auf 16,7% (2004). Noch dramatischer war der Effekt der Bankenfusionen.
Mitsubishi trotzte als Fels der widrigen Brandung. Es gelang dem Keiretsu
sogar, die ungeliebte Daimler-Beteiligung an Mitsubishi Motors zu reduzie-
ren und die Teilnahme von Rolf Eckrodt als erstem und mutmaßlich letzten
gaijin (Ausländer) am Mitsubishi-Präsidentenklub zu beenden. Die Sumito-
mo Bank schluckte nicht nur die Sakura- (Mitsui) Bank. Sumitomo-Firmen
übernahmen auch die Versicherungen, die Chemischen Industrien und die
Bauwirtschaft des Mitsui- Keiretsu, so dass, eine gute Verdauung vorausge-
setzt, das Sumitomo- Konglomerat heute – ebenso wie Mitsubishi – um-
satzmäßig stärker dasteht denn je.
Von den Banken-Keiretsu lässt sich dies kaum noch sagen. Der Sanwa
Keiretsu desintegrierte mit der Krise der Sanwa Bank. Als die Fuji Bank
schließlich die DKB und die IBJ als Mizuho übernahm, fusionierten nomi-

9
Schon früher war eine Regionalbank, die Ashikaga Bank aus der Tochigi-
Präfektur, wegen ihrer Bedeutung für die von der schlechten Binnenkonjunktur
getroffene Regionalwirtschaft nicht geschlossen, sondern verstaatlicht worden.
Die Organisation der Hochwirtschaft 23

nell zumindest die beiden großen Fuyo und DKB Keiretsu, sowie die klei-
nere IBJ Gruppe. Zwar gab die Bank den Vorsitz an die weniger belastete
Handelsfirma Marubeni und die Yasuda Versicherungen ab10, doch war
der Keiretsu einfach zu überdimensioniert geworden, um noch viel opera-
tive Bedeutung zu haben. So enthält er jetzt vier Außenhandelsgesellschaf-
ten (sogo shosha), drei Mineralölgesellschaften, vier Stahlfirmen11 etc., die
alle im Wettbewerb untereinander stehen. Großartige Gruppengefühle
kommen da nicht mehr auf, in Japan genauso wenig wie andernorts.
Wie erwähnt, waren die Außenhandelsgesellschaften stets Co-Manager
der klassischen Keiretsu. Zu Meiji-Zeiten waren sie privilegierte Kommissi-
onshändler mit dem unergründlichen Ausland gewesen, beschafften Roh-
stoffe, Energieträger und Patente, und besorgten im Gegenzug den Absatz
der japanischen Industrieexporte. Noch in den 70er Jahren organisierten sie
50% der Exporte und 66% der Importe Japans12. Doch bald fühlten sich die
PKW-, Kamera- und Elektronikhersteller selbst besser fähig, den Absatz, die
Finanzierung und das Marketing ihrer Produkte auf den Weltmärkten zu
bewerkstelligen als die generalistischen Außenhändler. In der umgekehrten
Richtung nahmen ausländische Exporteure zunehmend den Direktabsatz
ihrer Waren durch eigene Niederlassungen oder durch japanische Vertrags-
vertreter vor. Auch sank mit Japans diversifizierter Produktionsstruktur der
Anteil der von den sogo shosha weiter betriebenen Rohstoffimporte an den
japanischen Gesamtimporten. So wurden von ihnen im Jahr 2000 nur noch
17,8% der Exporte und 32,5% der Importe durchgeführt.
Auf ihre Existenzkrise reagierten die sogo shosha unterschiedlich. Über-
lebenskünstler wie Mitsubishi Shoji diversifizierten upstream in der Res-
sourcenerschließung als integrierter Rohstoffkonzern und downstream mit
Restaurant-Ketten wie Kentucky Fried Chicken und den Sutor Coffee
Shops am Ende der Wertschöpfungskette direkt an den Verbrauchern. Ito-
chu verkaufte seine Tochter Techno-Science rechtzeitig mit Megaprofiten,
bevor die IT-Blase krachte und trennte sich von den 10% hartnäckigen Ver-
lustbringern unter seinen 740 Töchtern13. Andere versuchten sich mit Ver-
tragsfertigungen, Entwicklungsprojekten auf (in der Regel stark überteuerte)

10
Financial Times 1.11.1999.
11
Später fusionierte ein Teil jener Stahlfirmen als „JFE Holdings“.
12
Max Eli „Die Bedeutung der Generalhandelshäuser für die Wirtschaft Japans“
in: Heide und Udo Simonis (Hg.). Japan: Wirtschaftswachstum und soziale
Wohlfahrt. Frankfurt 1974. S. 123-42.
13
The Economist 25.5.2002.
24 Die Keiretsu-Konglomerate nach der Krise

Rechnung des Außenministeriums, Realtauschhandel zwischen Entwick-


lungsländern, dem Bau und Betrieb von Tourismuskomplexen und Golf-
plätzen und der Zaitech-Spekulation. Echte Restrukturierungen und Refo-
kussierungen blieben aus. Neben den Widrigkeiten der Strukturkrise
Japans ab 1992 wurden sie 1997 von der Asienkrise, die Projekte und den
Absatz in Korea, Thailand, Malaysien und Indonesien besonders traf, und
2001 von der Internet/High-Tech-Krise hart getroffen. Die Zahl der sogo
shosha halbierte sich von sechzehn auf acht. Max Eli fand als Reaktion auf
Umsatzrückgänge und steigende Verluste 1997-2001 bei dem betroffenen
Management nur schwammige Slogans wie value creating enterprise
(Mitsui), navigator company (Nissho Iwai), incubator corporation und
multifunctional enterprise als Positionsbeschreibungen14, anstelle von fo-
kussierten Strategien mit einer Konzentration auf Unternehmensstärken.
Als Ergebnis nüchterner Nutzen-Kosten Kalküle in japanischen Vor-
standsetagen werden denn auch die sogo shosha als Mittelmänner mit ent-
behrlichen Kommissionskosten leichter eingespart.
Dies taten auch die vertikal organisierten Industrie- (kigyo) Keiretsu, die
von Großkonzernen wie Nippon Steel (195 Mitgliedsfirmen), Hitachi (242
Mitgliedsfirmen), Sony (114 Mitglieder), Honda (295 Mitglieder), Matsu-
shita (385 Mitglieder), Toyota (210 Mitglieder), Nissan und Toshiba – das
heißt vor allem in der PKW-, Elektronik- und Stahlherstellung – mit Zulie-
ferbetrieben als Dauerbeziehung mit Kapitalbeteiligungen organisiert wur-
den. Ihren Außenhandel und Binnenabsatz führen sie mit Tochterunter-
nehmen in Eigenregie durch. In der Krise erhöhten die Stammwerke oft
die eigene Fertigungstiefe und verstärkten unsentimental, doch langsam
aber sicher den Kostendruck auf Lieferanten, am spektakulärsten sicher bei
Nissan unter der Ägide des Krisenmanagements von Carlos Ghosn.
Die durch die Keiretsu verfasste Hochwirtschaft Japans kontrolliert auch
weiter die drei wichtigsten universellen Wirtschaftsverbände: den Indust-
rieverband Keidanren, den Arbeitgeberverband Nikkeiren (die beiden fö-
derierten 2002 zum Nippon Keidanren), und der Managerverband Keizai
Doyukai. Dazu beherrscht sie sektorale Wirtschaftsverbände wie z.B. die
der Stahlindustrie (Kozai Club), des Außenhandels (Nihon Boeki Club),
etc., die als Repräsentanten des Industriekonsenses die Konsultationsgre-
mien (shingi kai) der Ministerien beschicken, gemeinsame Projekte orga-
nisieren und Außenwirtschaftsdiplomatie betreiben.

14
Max Eli. Japan – Gratwanderung einer Weltwirtschaftsmacht. Hamburg 2003.
S. 105.
Die Organisation der Hochwirtschaft 25

Die in den Spitzenverbänden aktiven Führungskräfte der japanischen


Wirtschaft werden gemeinhin als zaikai (Hochfinanzkreis) zusammenge-
fasst. An seiner Spitze steht der Vorsitzende von Nippon Keidanren, der-
zeit Hiroshi Okuda, der Vorstandsvorsitzende von Toyota, gleichsam als
Premierminister der Japan-AG. Von seinen 15 Stellvertretern sind die
Mehrzahl Chefs prominenter Keiretsu-Firmen wie MUFG, Sumitomo
Corporation, Mitsubishi Heavy Industries, NYK Line, Sumitomo Chemi-
cal etc. Keidanren organisiert seine Lobbyingarbeit in 44 Ausschüssen zu
Themen wie Industriepolitik, Steuern, Umwelt, Philanthropie, Transport,
Energie, Agrarpolitik, Verwaltungsreform, Rüstungswirtschaft usw., die
die Ministerien und die interessierten Abgeordneten mit entsprechenden
Positionspapieren und nachdrücklichen Empfehlungen versorgen. Dazu
gibt es zu den meisten mehr oder minder wichtigen Handelspartnern Japans
einen bilateralen Ausschuss, der sich der japanischen Wirtschaftsanliegen
im Lande und der Pflege der bilateralen Handelsbeziehungen besonders
annimmt.
Regionale Zusammenschlüsse wie Kankeiren (Kansai), Kyukeiren (Ky-
ushu), oder Tokeiren (Tohoken) vertreten die Wirtschaftsinteressen des
betreffenden innerjapanischen Großraums.
Der Höhepunkt des politischen Einflusses von Keidanren lag sicherlich
in der Hochwachstumszeit von 1956-68, als die Keidanren-Führung angeb-
lich bestimmen konnte, welcher LDP-Politiker Premierminister von Japan
werden konnte15. Seither wuchs die Autonomie der Regierungspartei,
während im Keidanren unterschiedliche Wirtschaftsinteressen die Konsens-
findung schwieriger machten. Das Durchschnittsalter von 75 Jahren der
Keidanren-Häuptlinge half auch nicht gerade bei einer dynamischen Interes-
senvertretung. Bis in die 90er Jahre unterhielt Keidanren eine Spendensam-
melanlage namens Kokumin Seiji Kyokai (Vereinigung für Staatsbürgerli-
che Politik), die im Umlageverfahren erhobene Industriespenden der
Regierungspartei LDP und in geringerem Masse zentristischen Oppositi-
onsparteien zukommen ließ. Als man merkte, dass die LDP diese Mittel als
eine Art Grundgehalt ansah, das keiner besonderen Anstrengungen mehr
bedurfte und sich statt dessen für direkte zielgerichtete Zuwendungen von
Partikularinteressen, etwa von Zahnärzten oder Krankenhausbetreibern,
viel erkenntlicher zeigte, drohte Keidanren mit der Drosselung seiner
Großzügigkeit. Unbeeindruckt dachten die LDP-Bosse dann laut über eine
Erhöhung der Unternehmenssteuern nach. Erst im Zuge des Regierungs-

15
Chitoshi Yanaga. Big Business in Japanese Politics. New Haven 1968.
26 Die Keiretsu-Konglomerate nach der Krise

wechsels und der politischen Krise von 1993 wurden die Zahlungen dann
vorübergehend eingestellt.
Der Arbeitgeberverband Nikkeiren ist das Gegenstück des Gewerk-
schaftsdachverbandes Rengo, mit dem er allerdings nicht in direkte Ver-
handlungen tritt. Tarifverhandlungen zu Löhnen und Arbeitsbedingungen
finden in aller Regel auf Betriebsebene zwischen Unternehmensleitung
und Betriebsgewerkschaft statt, gelegentlich, wie bei den Seeleuten, auch
branchenweit. Nikkeiren versucht, diese Verhandlungen auf Arbeitgeber-
seite durch Studien zur Lohn/Preisentwicklung, Beratung der Mitglieds-
firmen und eine geeignete Öffentlichkeitsarbeit zu koordinieren. Er propa-
giert harmonische Arbeitsbeziehungen, wissenschaftliches Personalman-
agement, die Förderung arbeitslebenslanger Beschäftigungen, konsultative
Führungsstile, Qualitätszirkel und das betriebliche Vorschlagswesen. Nik-
keiren befürwortet auch eine Deregulierung der japanischen Wirtschaft, um
die Lebenshaltungskosten und damit die Lohnforderungen zu senken. Seit
1977 gab es keine großen Arbeitskämpfe mehr. Mit der Privatisierung und
Zerschlagung der Staatsbahn JNR 1985/86 in privatisierte regionale Eisen-
bahngesellschaften entfiel auch ersatzlos die strategische Rolle der Eisen-
bahnergewerkschaft als Trendsetter der „Frühjahrsoffensive“ (shunto) der
alljährlichen Tarifverhandlungen. Arbeitskämpfe finden eigentlich nur
noch in Einzelfällen, wie in schlecht geführten staatsnahen Unternehmen,
etwa Japan Airlines (JAL), statt.
Mit dieser positiven Bilanz wurde Nikkeiren gewissermaßen zum Opfer
des eigenen Erfolgs und mit der Schwäche der Gewerkschaftsbewegung
genauso überflüssig. Seine große politische Zeit war die Zerschlagung der
militanten kommunistischen Gewerkschaften in den 50er Jahren. Das ist
lange her. Nikkeirens Aufgehen in Keidanren war daher folgerichtig.
Auch Keizai Doyukai, der dritte im Bunde, zehrt vom Ruhm vergange-
ner Tage. In den 60er und 70er Jahren waren seine Studienzirkel und Emp-
fehlungen zur Industriepolitik tonangebend. Heute pflegt er eher soziale
Funktionen krisengestresster Führungskräfte.
Selbstverständlich gibt es in Japan auch zahlreiche Vereinigungen und
Wirtschaftsverbände, die nicht vom Keiretsu-Management und seinen In-
teressen bestimmt sind. Dazu zählen zum Beispiel nissho, die Industrie-
und Handelskammer, die die Interessen von 1,3 Millionen Klein- und Mit-
telbetrieben vertritt, oder zenchu, die die ländlichen Genossenschaften mit
5 Millionen Genossenschaftsbauern repräsentieren. Zur erlauchten Gesell-
schaft des alten Geldes der zaikai zählen sie freilich nicht.
Unternehmensporträt: Sumitomo Keiretsu 27

3.2 Unternehmensporträt: Sumitomo Keiretsu

Daniel Klein und Gregor Kuhn

3.2.1 Unternehmensgeschichte

Die Geschichte von Sumitomo geht bis ins 17. Jahrhundert zurück, als
Masatomo Sumitomo (1585 – 1652) einen Buch- und Medizinladen in
Kyoto eröffnete. Er hinterließ seinen Nachkommen „Die Grundsätze des
Gründers“, in denen er detailliert erläutert, wie man Geschäfte abwickelt.
Seine Grundsätze werden auch heute noch als Basis der Sumitomo-
Unternehmenspolitik in Ehren gehalten.
Zur selben Zeit wie Masatomo entwickelte sein Schwager Riemon So-
ga (1572 – 1632), der eine Kupferschmelze namens Izumiya in Kyoto
betrieb, mit viel Einsatz ein Kupferschmelzverfahren, das Nanban-buki
heißt und Silber von Kupfer trennen kann. Tomomochi Sumitomo (1607
– 1662), der älteste Sohn von Riemon, wurde durch die Heirat einer
Tochter von Masatomo ein Familienmitglied des Sumitomo Hauses. Er
baute das Geschäft der Sumitomos und Sogas nach Osaka aus und mach-
te das Nanban-buki-Verfahren bekannt. Das Unternehmen Sumitomo/
Izumiya der beiden Familien wurde somit als das führende Unternehmen
für das nanban-buki angesehen und Osaka wurde führend in der Kupfer-
Raffination in Japan. In den kommenden Jahren verstand es das Haus
Sumitomo, sich auf seine Geschäfte zu konzentrieren und beispielsweise
ihre Besshi-Kupfermine nicht durch das Chaos der Meiji-Restauration
stören zu lassen. Das Unternehmen erwarb zügig Technologien aus dem
Ausland und erhöhte seine Produktivität erheblich. Später steigerte die
Besshi-Mine ihre Produktion nicht nur, sondern stieg in entfernte Bran-
chen ein wie den Maschinenbau, die Kohleförderung, die Herstellung
elektrischer Kabel und die Holzwirtschaft. Die namiai-gyo, der Finanz-
arm des Unternehmens, entwickelte sich zu einem Bankgeschäft. Das
Warenlagergeschäft, das ursprünglich ein Teil des Bankgeschäftes war,
wurde als Finanzgruppe eigenständig. Nach dem 2. Weltkrieg begannen
nach der Enteignung der Gründerfamilie alle Unternehmen der Sumitomo-
Gruppe ihren Weg zu gehen.
Trotz allem verbindet sie heute die Keiretsu-Organisation und die damit
verbundene Unternehmenspolitik der „Grundsätze des Gründers“.
28 Die Keiretsu-Konglomerate nach der Krise

3.2.2 Unternehmenspolitik

Die Geschäftsgrundsätze von Sumitomo sind ein Geschäfts- und Manage-


mentkonzept, welches sich über die letzten 400 Jahre entwickelt hat. Diese
„Grundsätze des Gründers“ wurden im Jahre 1891 formal kodifiziert:
1. Sumitomo soll Stärke und Wohlstand durch die Priorität von Integri-
tät und fehlerfreien Management erreichen,
2. Sumitomo soll seine Aktivitäten mit Vorausschau und Flexibilität
bewältigen.
Im Jahre 1998 wurden die Grundsätze angepasst, um für das nächste Jahr-
hundert Gültigkeit zu haben:
1. Sumitomo soll Wohlstand und Träume durch fehlerfreie Geschäfte
erreichen,
2. Sumitomo soll höchste Priorität auf Integrität und korrektes Mana-
gement setzten, mit höchstem Respekt für das Individuum,
3. Sumitomo soll eine Unternehmenskultur voller Dynamik und Inno-
vation fördern.

3.2.3 Verbundgruppen

Der Sumitomo Keiretsu besteht aus neun strategischen Geschäftsfeldern.


Diese Bereiche werden durch den Präsidentenklub unter Führung des
CEO, der Sumitomo Corporation, der Außenhandelsgesellschaft (sogo
shosha), der Gruppe Motojuki Oka, und seinen 34 Direktoren gesteuert.
Abbildung eins im Anhang stellt das offizielle Organigramm der einzelnen
Gruppenmitglieder der Sumitomo Corporation dar.16
1. Metallprodukte
• Sumitomo Metal Industries, Ltd.
2. Transport und Konstruktionssysteme
• Sumitomo Corporation
• Sumisho Auto Leasing Corporation
• P.T. Oto Multiartha

16
Vgl. Sumitomo Corporation (2006), http://www.sumitomocorp.co.jp/english/
index.htm aufgerufen am 26.05.06.
Unternehmensporträt: Sumitomo Keiretsu 29

• SC-ABeam Automotive Consulting


• Oshima Shipbuilding Co., Ltd. etc.
3. Maschinen und Elektronik
• Sumitomo Electric Industries etc.
4. Media und Netzwerke
• NEC Corporation
• Jupiter Telecommunications Co., Ltd.
• Sumisho Computer Systems Corporation (SCS)
• Sumisho Electronics Co., Ltd. (SSE)
• MS Communications Co., Ltd. (MSCOM)
• Sumitronics Group etc.
5. Chemikalien
• Sumitomo Chemical Co., Ltd. etc.
6. Rohstoffe und Energie
• Sumitomo Metal Mining Co., Ltd. etc.
7. Verbrausartikel und Dienstleistungen
• Sumitomo Corporation
8. Materialien und Immobilien
• Sumitomo Realty & Development Co., Ltd.
• Sumitomo Construction Co., Ltd. etc.
9. Finanzen und Logistik
• Sumitomo Bank, Ltd.
• Sumitomo Trust & Banking, Ltd.
• Sumitomo Life Insurances
• Sumitomo Marine & Fire Insurance Co., Ltd. etc.

3.2.4 Analyse der Verbundunternehmen

Im Folgenden werden die Funktionen und Sparten sowie die strategischen


Ausrichtungen der neun strategischen Geschäftsfelder des Sumitomo-
Keiretsu kurz dargestellt. Auf das 1897 gegründete Hauptgeschäftsfeld der
30 Die Keiretsu-Konglomerate nach der Krise

Metallprodukte wird detailliert eingegangen, um die schier endlose Kom-


plexität der Verbundgruppe zu erläutern. Die acht weiteren Sektoren wer-
den kürzer vorgestellt.17

3.2.5 Metallprodukte

Sumitomo Metal Industries Ltd. wurde 1897 gegründet. Es ist heute ein
Netzwerk zahlreicher Verbundunternehmen aus den Bereichen Stahl, Ma-
schinenbau, Elektro- und Informationssysteme und weiterer Unternehmen
der Metallindustrie. Die Produkte des Sumitomo-Metal- Industries-
Netzwerks sind so vielseitig wie die einzelnen Unternehmen selbst. Neben
elektromagnetischen Eisenblechen, Stahlplatten, Konstruktionsmaterialien
für Wolkenkratzer (Stahlträger), Titanprodukten, Stahlrohren und -röhren
werden auch Eisenbahn-, Maschinen- und Automobilteile sowie Maschi-
nen für die Produktion von Computerchips produziert.18
Die bedeutungsvollsten Tochter- und Verbundunternehmen der Sumi-
tomo Metal Industries Verbundgruppe im Bereich Stahlproduktion
und Stahlverkauf sind:
1. Sumitomo Metals, Ltd. (ehem. Kokura Stahlwerke): Produktion
und Verkauf (P&V) Stahlstangen und Kabel, (27,000/100%) (Ka-
pital in Mio.Yen/Vernetzung des EK mit der Sumitomo Metal Indust-
ries, Ltd. in %)
2. Sumitomo Metals, Ltd. (ehemals Naoetsu Werke): P&V von rost-
freien Präzisionsrollprodukten und rostfreien geformten Stahl,
(5,500/100%)
3. Sumitomo Titanium Corporation: P&V Titanprodukte und Silikon
für Halbleiterprodukte sowie Solarzellen, (6,583/37%)
4. Sumitomo Pipe & Tube Co., Ltd.: P&V Röhren und Rohre,
(4,801/57%)
5. Sumitomo Metal Steel Products, Inc.: P&V Stahlprodukte haupt-
sächlich für Bauwesen, (7,496/98%)
6. Sumikin Steel & Shapes, Inc.: P&V H-Formen, (3,000/100%)

17
Vgl. Sumitomo Corporation (2006), http://www.sumitomocorp.co.jp/english/
section_e/kinzoku/index.shtml aufgerufen am 26.05.06.
18
Vgl. Sumitomo Metal Industries Ltd. (2006): http://www.sumitomometals.co.
jp/e/profile/network.html aufgerufen am 26.05.06.
Unternehmensporträt: Sumitomo Keiretsu 31

7. Sumikin Stainless Steel Tube Co., Ltd.: P&V rostfreie Stahlröhren,


(916/80%)
8. Ring Techs Co., Ltd.: P&V Autoreifen, (500/100%)
9. Sumikin Kikoh Co., Ltd.: P&V Gasbehälter und Röhrenzubehör,
(500/100%)
10. Kyoei Steel, Ltd.: P&V Stangen, Formen, flache Stangen,
(10,273/35%)
11. Sumikin Bussan Corporation: Handel, (8,077/43%)
12. Western Tube & Conduit Corporation (U.S.A.): P&V Stahlröhren
und mechanische Schläuche, (US$17 Millionen/97%)
13. Seymour Tubing, Inc. (U.S.A.), Schläuche für Automobile, (US$10
Millionen/80%)
14. National Pipe Co., Ltd. (Saudi Arabia): P&V große Röhren; (200
Millionen SRIs/33%)19
Der Bereich Maschinenbau fällt hingegen kleiner aus und besteht aus
den folgenden drei Unternehmen:
1. Sumikin Kansai Industries, Ltd.: Design, Verbesserung, Montage
und Unterstützung von Maschinen und Anlagen, (310/100%)
2. Sumitomo Metal Plantec Co., Ltd.: Herstellung von Pipelines und
Rohrkonstruktionen, (300/100%)
3. Sumikin Plant, Ltd.: Design Verbesserung, Montage und Unterstüt-
zung von Maschinen und Anlagen; (600/100%)
Die Sparte Elektro- und Informationssysteme liefert unter anderem
Silikon und Keramikprodukte für die Halbleiterindustrie:
1. Sumitomo Metal (SMI) Electronics Devices Inc.: P&V IC Ver-
packungen, (10,091/100%)
2. Sumikin Ceramics & Quartz Co., Ltd.: P&V feine Keramik, ma-
schinenfähige Keramik für Halbleiter und LCDs und andere qualita-
tiv hochwertige Quarzprodukte, (485/98%)
3. Sumitomo Mitsubishi Silicon Corporation, P&V von Silikonwaf-
feln, (45,000/50%)

19
Vgl. Sumitomo Corporation (2006), http://www.sumitomometals.co.jp/e/profile/
network.html aufgerufen am 26.05.06.
32 Die Keiretsu-Konglomerate nach der Krise

4. SUMCO USA Corporation (U.S.A.): Holding von Sumco’s US Ge-


schäften, (US$314 Millionen/50%)
5. SUMCO Phoenix Corporation (U.S.A.): P&V Silikonwaffeln,
(US$404 Millionen/50%)
6. SUMCO France S.A.S.: Veredelung von Silikonwaffeln; (6,5 Milli-
onen Euro/50%)
Weitere Tochter- und Verbundunternehmen von Sumitomo Metall
sind:
1. Sumitomo Precision Products Co., Ltd.: P&V Flugzeugteile, Luft-
kühler, hydraulischer Steuerungen und Umweltanlagen,
(10,309/41%)
2. Sumimetal Mining Co., Ltd.; P&V Kalkstein, (2,000/70%)
3. Sumitomo Metals Logistics Service Co., Ltd.: See- und Landtrans-
port, Lagerhaltung, (1,515.5/92%)
4. Narumi China Corporation: P&V Tonwaren, (540/100%)
5. Sumitomo Metal Technology, Inc.: Hauptforschungs- und Testcen-
ter das auf Materialanalysen spezialisiert ist, (100/100%)
6. Kashima Kyodo Electric Power Company: Elektrizitätsversorgung,
(22,000/50%)
7. Daiichi Chuo Kisen Kaisha, Seetransport, Versand, (13,258/20%)
8. Chuo Denki Kogyo Co., Ltd.: P&V elektrolytisches Mangan;
(3,630/29%)
Die gerade vorgestellten 31 wichtigsten Verbundunternehmen der Metallin-
dustrie sind durch eine gegenseitige Kapitalvernetzung untereinander, mit
der Sumitomo Metal Industries und mit der Sumitomo-Gruppe verbunden.
Zum Teil gehören die einzelnen Tochterunternehmen zu 100% zum Sumi-
tomo-Metal-Industries-Netzwerk. Zusammengenommen verfügen die ein-
zelnen Aktivitäten der Sumitomo Metal Industries über eine Kapitalisierung
von 3,9 Mrd. Yen (Eigene Berechnung).

3.2.6 Transport und Kommunikationssysteme

Die strategischen Geschäftsfelder der Sumitomo-Gruppe sind unter ande-


rem Transport- und Konstruktionssysteme. Das Geschäft der Transport
und Konstruktionseinheit der Sumitomo Corporation besteht aus Tätigkei-
ten, die mit Schiffen, Eisenbahnen und Transportsystemen in Verbindung
Unternehmensporträt: Sumitomo Keiretsu 33

stehen. Außerdem leistet diese Geschäftseinheit Leasing- und Darlehens-


möglichkeiten für Baufahrzeuge, Bauzubehör, Kraftfahrzeuge, Flugzeuge
und andere verbundene Geschäftsfelder. Das Kerngeschäft ist eine weit
reichende Wertschöpfungskette im automobilorientierten Geschäft.20

3.2.6.1 Maschinen und Elektronik


Die Sumitomo Electric Industries (SEI) ist ein Infrastrukturunternehmen,
das die Geschäfte Elektrizität, IT & Telekommunikation, Wasser- und
Abwassermanagement, Naturgas-bezogene Projekte und Pipelines in sich
vereinigt. Innovative Geschäftsbereiche wie Healthcare, Umwelt- und
Biowissenschaften, energiesparende und umweltfreundliche Technologien
gehören ebenfalls zum Portfolio der SEI.21

3.2.6.2 Medien und Netzwerke


Die Hauptaktivitäten der Gruppe im Medien-, Elektronik- und Netzwerk-
geschäft werden von den Unternehmen NEC Corporation, Jupiter Tele-
communications Co., Ltd., Sumisho Computer Systems Corporation (SCS),
Sumisho Electronics Co., Ltd. (SSE), MS Communications Co., Ltd.
(MSCOM) und Sumitronics Group geführt.
Die NEC (Nissho Electronics Corporation) Corporation und Sumisho
Computer Systems Corporation (SCS) sowie Sumisho Electronics Co.,
Ltd. (SSE), sind für IT-Lösungen und Dienstleistungen in der IT-
Netzwerksparte zuständig. Jupiter Telecommunications Co. Ltd. (J-Com)
ist der größte Kabelfernsehenanbieter und bietet mit Jupiter TV Co., Ltd.
das umfangreichste Multikanalfernsehprogramm Japans.
Im Elektronikgeschäft hat die Sumitronics-Gruppe das größte Ferti-
gungssystem für elektronische Güter in Japan und Asien. Die Sumitomo-
Gruppe ist außerdem der einzige Vertrieb von Cree, Inc. LEDs, wodurch
das Unternehmen einen Marktanteil von 25% im japanischen Markt für
LEDs besitzt.22

20
Vgl. Sumitomo Corporation (2006), http://www.sumitomocorp.co.jp/english/
section_e/yusoki/index.shtml aufgerufen am 26.05.06.
21
Vgl. Sumitomo Corporation (2006), http://www.sumitomocorp.co.jp/english/
section_e/kiden/index.shtml aufgerufen am 26.05.06.
22
Vgl. Sumitomo Corporation (2006), http://www.sumitomocorp.co.jp/english/
section_e/joho/index.shtml aufgerufen am 26.05.06.
34 Die Keiretsu-Konglomerate nach der Krise

3.2.6.3 Chemie
Die Hauptaktivitäten der Sumitomo-Chemicals-Gruppe bilden die Ent-
wicklung und der Handel mit inländischen und internationalen neuen
Materialien, Elektronik und Batterien, mit biotechnologischen Materialien,
Pharmazeutik und landwirtschaftlichen Chemikalien. Des weiteren handelt
die Gruppe mit inländischen und internationalen Kunststoffen, organischen
Chemikalien sowie mit artverwandten Geschäftszweigen.
Die Ursprünge von Sumitomo Chemical können bis in das Jahr 1913 zu-
rück verfolgt werden, als das Unternehmen Sulfur-Dioxid-Austritte aus der
Besshi-Kupfer-Mine in der japanischen Region Shikoku verwendete, um
Calcium-Superphosphat-Dünger zu produzieren und dabei die Luftver-
schmutzung der Mine reduzierte. Heute hält die Sumitomo Chemical
Group rund 100 Unternehmen, welche in den oben genannten sechs Ge-
schäftsbereichen weltweit arbeiten.
Mit Hilfe seines globalen Netzwerkes hat es das Unternehmen geschafft,
mit bestimmten Produkten und Dienstleistungen Marktführer auf verschie-
denen Kontinenten zu werden.23

3.2.7 Rohstoffe und Energie

Die Metall- und Bergbausparte wurde im Jahr 1590 gegründet. Heute hat
das Unternehmen 2,058 Mitarbeiter. Das Unternehmen ist in den Feldern
Bodenschätze, Metal, Elektronik und fortgeschrittene Materialien aktiv.24

3.2.7.1 Verbrauchsartikel und Dienstleistungen


Die Sumitomo Corporation (Sumitomo Shoji) wurde unter dem Namen
Osaka Hokko Kaisha als Generalhandelsgesellschaft des Sumitomo Zai-
batsu 1919 gegründet. 1996 machte Sumitomo Shoji in Japan Firmenge-
schichte, als ihr Kupferhändler Yasuo Hamanaka mit 1,8 Milliarden US-
Dollar im Duell gegen George Soros den größten bisherigen Spekulations-
verlust einfuhr25. Sie ist heute mit seinen 39.700 Mitarbeitern durch ihr
weltweites Netzwerk in verschiedensten Bereichen tätig. Dies betrifft

23
Vgl. Sumitomo Corporation (2006), http://www.sumitomocorp.co.jp/english/
section_e/kagaku/index.shtml aufgerufen am 26.05.06.
24
Vgl. Sumitomo Corporation (2006), http://www.sumitomocorp.co.jp/english/
section_e/shigen/index.shtml aufgerufen am 26.05.06.
25
Willaim Dwakins „Vulnerable to catastrophe“ Financial Times 21.6.1996.
Unternehmensporträt: Sumitomo Keiretsu 35

hauptsächlich den Absatz der Keiretsu-Produktion auf dem Binnenmarkt,


den Export auf den Weltmärkten sowie den Import von Rohstoffen und
Teilen für die Gruppenfirmen Mehrere hundert Tochterunternehmen haben
sich auf die jeweiligen Geschäftsfelder von Chemikalien und Metallen bis
zu Immobilien und Medien spezialisiert.

3.2.7.2 Materialien und Immobilien


Sumitomo Realty & Development Co. Ltd
Die „Reality & Development“-Sparte der Sumitomo-Gruppe wurde am
ersten Dezember 1949 gegründet. Das Nominalkapital beträgt 86,787 Mil-
liarden Yen. Das Hauptbüro ist in Shinjuku, Tokyo, wo auch der Präsident
Junju Takashima sein Büro hat. Das Unternehmen realisiert 394,258 Milli-
arden Yen mit 1,868 Mitarbeitern. Die Hauptaktivitäten des Unternehmens
sind die Gebäudekonstruktion, Leasing, Vorbereitung und Unterteilung
von Wohnimmobilien, Bauwesen, Planung und Überwachung von Gebäu-
debauten und der Kauf und Verkauf von Immobilien.26
Sumitomo Construction Co. Ltd.
Die Hauptgeschäftstätigkeit der Sumitomo Construction Co. Ltd. liegt im
Bauwesen, im Hoch- und Tiefbau, in der Architektur und im Installations-
service von Industrieanlagen. Die Tätigkeiten der Gruppe sind in die zwei
großen Geschäftsfelder Bauwesen und Immobilien geteilt.27

3.2.7.3 Finanzen und Logistik


Sumitomo Bank Ltd. (SMFG)
Sie spielt die Rolle der Hauptbank in der Verbundgruppe durch Kreditver-
gaben, Aktienbesitz, Unternehmensüberwachung und -bewertung, Risikoka-
pitalfinanzierung, Beratungen und eine Art Sicherheitsnetzwerk für in
Schwierigkeit geratenen Unternehmen. Seit der Übernahme der Mitsui (Sa-
kura) Bank übernimmt die SMFG diese Funktionen auch für die ehemaligen
Mitglieder der Mitsui-Gruppe, sofern diese darauf noch Wert legen.

26
Vgl. Sumitomo Corporation (2006), http://www.sumitomocorp.co.jp/english/
section_e/shizai/index.shtml aufgerufen am 26.05.06.
27
Vgl. Sumitomo Corporation (2006), http://www.sumitomocorp.co.jp/english/
section_e/shizai/index.shtml aufgerufen am 26.05.06.
36 Die Keiretsu-Konglomerate nach der Krise

Sumitomo Trust & Banking Ltd.


Die Sumitomo Trust & Banking wurde im Jahr 1925 gegründet und hat ein
operatives Kapital von 33,88 Milliarden Yen. Die Anlagen des Unterneh-
mens belaufen sich auf einen Wert von 16,01 Milliarden Yen. Das Unter-
nehmen hat 19 Tochterunternehmen, neun Tochtergesellschaften und 40
Agenturen.28
Sumitomo Life Insurance
Sumitomo Life Insurance (SLI) ist mit Nippon Life und Daiichi Mutual
Life eine von Japans größten Lebensversicherungen. SLI hatte zwar einige
Probleme, zeigte aber schließlich seine Beständigkeit in einer schwierigen
Branche. Das Unternehmen verkauft individuelle and allgemeine Kran-
kenversicherungen, verwaltet Pensionen und bietet durch seine Tochter
Sumisei General Autoversicherungen an. Sumitomo Life Insurance ist in
China, Großbritannien und den USA tätig.

28
Vgl. Sumitomo Corporation (2006), http://www.sumitomocorp.co.jp/english/
section_e/kinyu/index.shtml aufgerufen am 26.05.06.
Unternehmensporträt: Sumitomo Keiretsu 37

Anhang

Abb. 1. Aktuelles Organigramm der Sumitomo Corporation29

29
Sumitomo Corporation (2006): Organisation, http://www.sumitomocorp.co.jp/
english/company_e/org/index.shtml, 18.05.2006.
38 Die Keiretsu-Konglomerate nach der Krise

Literatur

Bücher und Zeitschriften


Dolles, H., Keiretsu – Eine Organisationsform zwischen Markt und Hie-
rarchie? – Überlegungen zur Analyse japanischer Verlagsgruppen,
Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Internationales
Management an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-
Nürnberg, Nürnberg, 1995
Fruin, W.M., The Japanese Enterprise System, Oxford, 1992
Miyashita, K. / Russel, D.W., Indside the Hidden Japanese Conglomerates,
1994
Steinbrenner, J. O., Japanische Unternehmensgruppe – Organisation, Ko-
ordination und Kooperation der Keiretsu, Schäfer Poeschel, Stuttgart,
1997

Websites
Sumitomo Corporation (2006): Message from the President & CEO,
http://www.Sumitomocorp.co.jp/english/company_e/message/index.sh
tml, 18.05.2006
Sumitomo Corporation (2006): Organisation, http://www.sumitomocorp.
co.jp/english/company_e/org/index.shtml, 18.05.2006
Sumitomo Corporation (2006), http://www.sumitomocorp.co.jp/english/
index.htm aufgerufen am 26.05.06
Sumitomo Corporation (2006), http://www.sumitomocorp.co.jp/english/
section_e/kinzoku/index.shtml aufgerufen am 26.05.06
Sumitomo Metal Industries Ltd. (2006): http://www.sumitomometals.co.
jp/e/profile/network.html aufgerufen am 26.05.06
Sumitomo Corporation (2006), http://www.sumitomocorp.co.jp/english/
section_e/yusoki/index.shtml aufgerufen am 26.05.06
Sumitomo Corporation (2006), http://www.sumitomocorp.co.jp/english/
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Sumitomo Corporation (2006), http://www.sumitomocorp.co.jp/english/
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Sumitomo Corporation (2006), http://www.sumitomocorp.co.jp/english/
section_e/shigen/index.shtml aufgerufen am 26.05.06
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www.de.emb-japan.go.jp/NaJ/NaJ0510/Dfiles/DKeiretsu.pdf, abgerufen am
22.05.2006
http://www.jama.org/library/brochures2005MIJReport.pdf, abgerufen am
22.05.2006
4 Wirtschaftliche und politische
Machtstrukturen

Japans einzigartiges politökonomisches Zusammenspiel wurde nicht um-


sonst als „Japan Inc“ bezeichnet, mit weit mehr Berechtigung als die mitt-
lerweile in Abwicklung begriffene „Deutschland AG“, Deshalb ist es loh-
nend, die Zusammenhänge und Eigentümerverhältnisse der Japan Inc.
etwas zu entmystifizieren. Seit der Nachkriegszeit wurde Japans recht ho-
mogene Machtelite oft als „eisernes Dreieck“ beschrieben, in dem die Par-
lamentsfraktion der „eine halbe Ewigkeit“ regierende Liberaldemokrati-
schen Partei (LDP), die wichtigsten Ministerien und die Führung der
Keiretsu-Konzerne eng mit gemeinsamen Zielen für Japan zusammenar-
beiten1. Für das Verständnis der politischen Ökonomie Japans, das Aus-
maß politischer Protektion und administrativer Reglementierung und In-
terventionen in das Wirtschaftsgeschehen ist die Einsicht in das Funk-
tionieren dieser Dreiecksbeziehung unverzichtbar. Mit dem Andauern der
Krise ab 1992 wurden allerdings periodisch Zweifel an der fortgesetzten
Gültigkeit dieses Paradigmas laut, dies vor allem als die LDP vorüberge-
hend 1993/94 die Macht an eine heterogene Oppositionskoalition unter
Führung des Aristokraten Morihiro Hosokawa abgeben musste2.
Deshalb lohnt es sich, die teilweise dramatischen Veränderungen der
letzten eineinhalb Jahrzehnte in Japans politischen, wirtschaftlichen und
Verwaltungsstrukturen in Bezug auf ihre machtpolitischen Konsequenzen
einmal zu resümieren. Wie nach französischen Revolutionen könnte man
dann vielleicht zu dem Schluss kommen: Plus ça change, plus c’est la
même chose.
Zusammenfassend erscheint es, dass

1
Zum Beispiel in meinem Buch: The Japanese Power Elite. Houndmills 2005
(1. Auflage 1993).
2
Professor Verena Blechinger von der FU Berlin sieht das eiserne Dreieck in
„nachhaltigen Turbulenzen“, siehe: Verena Blechinger „Political Reform in Ja-
pan“ in: Friederike Bosse, Patrick Köllner (Hg.). Reformen in Japan. Hamburg
2001, 89-110. S. 102f.
42 Wirtschaftliche und politische Machtstrukturen

1. das politische System nach einer umfassenden Wahlrechtsreform


und einer Endlosserie von Parteienspaltungen und Neugründungen
zum alten Anderthalbparteiensystem zurückgefunden hat, wobei ge-
genüber der konservativen Regierungspartei LDP die fast genauso
konservative Mitte-Rechtspartei der Demokraten die Rolle der na-
hezu verschwundenen Sozialisten als führende Oppositionspartei
übernommen hat. Dabei setzt die LDP ihre jahrzehntealte Praxis der
Kontrolle der Ministerien durch altgediente Politikspezialisten (zo-
ku) ihrer Fraktion und das Verschieben öffentlicher Aufträge in ihre
Wahlkreise (pork barrel) munter fort. Mit der Stärkung der Rolle der
Direktwahlen bleiben die meisten Wahlkreise ein weitgehend erbli-
ches Lehen der LDP-Abgeordneten (oft schon in der 3. Generation),
die jedoch der steten und aufwendigen Pflege durch teure Wahl-
kreisorganisationen (koenkai) vor Ort bedürfen.
2. Obwohl die Schlüsselministerien der Finanzen (MoF), Industrie
(METI/MITI) und des Äußeren (MFA) im Zuge etlicher bürokrati-
scher Skandale und politischen Versagens Funktions- und Legitima-
tionsverluste erlitten, wurde die zentralstaatliche Ministerialbürokra-
tie durch die großen Ausgabenprogramme des neufusionierten
Infrastrukturministeriums, die gestärkten Überwachungsfunktionen
der neuen Finanzdienstleistungsagentur (FSA) und die vermehrten
Kompetenzen der Kanzlei des Premierministers (PMO) entschädigt.
3. Die Wirtschaftskrise hat die Zahl der Generalhandelsgesellschaften
(sogo shosha) und der Großbanken – und damit auch die von ihnen
getragenen keiretsu Konglomerate – stark reduziert, so dass die über-
lebenden horizontalen Mitsubishi und Sumitomo Keiretsu sowie eini-
ge der vielen vertikalen Keiretsu (Toyota, Honda, Matsushita etc)
durchaus gestärkt erscheinen und die führenden Wirtschaftsorganisa-
tionen Japans – von Nippon Keidanren bis zu den Branchenverbänden
– weiter zu ihrem nicht uneigennützigen Wohl dominieren.
Damit erscheinen die drei Machtzentren Nachkriegsjapans zwar alle etwas
angeschlagen, benommen und zerzaust, nachdem der Taifun einer 15jähri-
gen, noch nicht ganz ausgestandenen Systemkrise über sie hinweggefegt
ist. Sie sind aber zur eigenen Verblüffung doch noch lebendig und an den
Hebeln der Macht. Mutmaßlich blieb ihre Macht nur deshalb erhalten, weil
die Krise der 90er Jahre auch alle möglichen Alternativen ausschaltete: die
Sozialisten als Oppositionspartei, die Gewerkschaften, die Bürgerinitia-
tiven, oder der kläglich gescheiterte Versuch einiger Gouverneure und
Wirtschaftliche und politische Machtstrukturen 43

Präfekturparlamente, eine politische Dezentralisierung durch ein Maß regio-


naler Autonomierechte für die Präfekturen einzuführen. Gerade die Entker-
nung der japanischen Industrie hat die Regionen Kyushu, Shikoku, Kansai
(um Osaka), Chubu (um Nagoya), Tohoku und Hokkaido viel härter getrof-
fen als das Export- und Dienstleistungszentrum Kanto um Yokohama und
Tokyo, in dem auch die meisten, von den Produktionsverlagerungen nach
China nicht betroffenen japanischen Firmenzentralen ihren Sitz haben. Nach
dem Platzen der Immobilien- und IT-Spekulationsblasen blieb das alte Geld
der klassischen Exportindustrien. All dies stärkte die Wirtschaftsmacht des
zentralen Großraums von Tokyo und Umgebung.
Im Kräftediagramm der drei Hauptakteure gewann die LDP-Parlaments-
fraktion gegenüber den Ministerien und organisierten Wirtschaftsinteres-
sen vorherrschenden Einfluss. Die Partei stutzte die Macht etlicher Schlüs-
selministerien (MOF, MITI, MFA), und organisierte die zentralen Verwal-
tungskompetenzen neu um. Durch die Privatisierung und Fusionierung
vieler öffentlicher Betriebe und partielle Deregulierungen wurde der Ver-
waltungseinfluss und die lukrativen Nachpensionskarrieren (amakudari)
vieler Spitzenbeamter beschnitten. Gleichzeitig setzte die LDP-Führung im
Verein mit den Ministerien und der Zentralbank die Rettung Dutzender
völlig überschuldeter Keiretsu-Banken sowie Finanz- und Baugesellschaf-
ten mit Milliardenbeträgen auf Kosten der Sparer und aktueller und künfti-
ger Steuerzahler durch. An diese Dankesschuld wird die LDP ihre Zaikai-
Finanziers sicher noch länger erinnern.
Als Partei war und ist die LDP stets eine Koalition verschiedener Frak-
tionen, die sich kaum programmatisch, so doch durch oft feindlich geson-
nene personalisierte Gefolgschaften und eigene Finanzquellen unterschei-
den. Wegen der dauernden innerparteilichen Querelen gab es häufig
Abspaltungen und Fraktionsteilungen, die jedoch die Wähler, die ihrem
Wahlkreisabgeordneten, sofern er sich gebührend um sie kümmerte und
genügend öffentliche Aufträge für die örtliche Industrie und Gewerbe be-
sorgte, unabhängig von der Partei- und Fraktionszugehörigkeit die Treue
hielten, nicht weiter aufregten.
Die Gründung der Demokratischen Partei (DPJ) als aktuell wichtigster
Oppositionspartei lässt sich auf die Spaltung der größten und aufgrund ihrer
Nähe zur Bauindustrie reichsten LDP-Fraktion, die damals von Ex-Premier
Noburo Takeshita geführt wurde, nach der Verhaftung ihres Paten Shin Ka-
nemaru im Sommer 1993 zurückführen. Äußerer Anlass waren innerfraktio-
nelle Dispute über die beabsichtigte Wahlreform gewesen. Tatsächlich aber
hoffte der Stratege und Finanzier der Abspaltung Ichiro Ozawa mit der
Gründung einer zweiten konservativen Partei die doktrinär pazifistische
44 Wirtschaftliche und politische Machtstrukturen

Opposition der Sozialisten abzulösen, um damit energischere Reformen in


Japan und eine nachdrücklichere außenpolitische Gangart durchzusetzen.
Nach etlichen Irrungen und Wirrungen schaffte es Ozawa, seine neue Partei
mit rechtssozialdemokratischen Abspaltungen der SPJ zu vereinigen. Aller-
dings gelang es Ozawa und seinen Demokraten nicht, die LDP als Regie-
rungspartei abzulösen, zumal der Fraktionalismus und die Streitereien seiner
heterogenen Partei noch ausgeprägter sind als die der LDP3.
Um die politische Korruption zu bekämpfen, die wegen hoher Kosten
der Wahlkreispflege eine ununterbrochene Serie von Skandalen erzeugte
und das politische Leben Japans zu lähmen drohte, hatte man sich 1994
mühsam auf eine Wahlrechtsreform geeinigt. Nunmehr wurden 300 Abge-
ordnete nach englischem Vorbild in Einzelwahlkreisen direkt gewählt und
180 Abgeordnete auf 11 regionalen Parteilisten wie bei dem deutschen
Verhältniswahlrecht gewählt. Dies sollte den korruptionsträchtigen Wett-
bewerb ideologisch gleichgesonnener Abgeordneter um die gleichen Wäh-
lergruppen in den bisherigen Mehrfachsitz-Wahlkreisen ausschalten.
Diese Mehrfachwahlkreise wurden nunmehr in Einzelwahlkreise aufge-
teilt. Abgeordnete treten in den Wahlkreisen an, in dem sie als Ortskaiser
ihren angestammten örtlichen Schwerpunkt (jiban) haben. Im traditionel-
len ländlichen Raum, wo LDP Abgeordnete schon in der 2. und 3. Genera-
tion ihre Wahlkreispflege betrieben, funktioniert die Wiederwahl in aller
Regel wunderbar, zumal sich ernsthafte Konkurrenten kaum blicken las-
sen4. Viel schwieriger allerdings ist es in Großstädten und in Ballungsräu-
men mit ihren wankelmütigen Wechselwählern, in denen mittlerweile die
Mehrheit der Japaner wohnt und in denen die politische Konkurrenz zahl-
reich auftaucht. Hier bleibt die Wahlkreispflege so teuer und aufwendig
wie je, zumal jetzt zwischen LDPlern und Demokraten oft ein Persönlich-
keitswahlkampf nach amerikanischem Muster praktiziert wird. Um sich
gegen unvorhersehbare Wählerströmungen abzusichern, müssen traditio-
nelle Organisationen, die Blockstimmen liefern können, besonders um-
worben werden. Dazu zählen die Agrargenossenschaften, die Ärzte-,
Zahnärzte- und Kaufleutevereinigungen, Nachbarschaftsgruppen (chonai-
kai), Rentnerklubs, Sportvereine, Feuerwehren, Industrie- und Handels-
kammern, Buddhistische Tempel usw. Alle erwarten und zeigen sich für

3
Patrick Köllner. Informelle Parteistrukturen und institutioneller Wandel: Japa-
nische Erfahrungen nach den politischen Reformen des Jahres 1994. Politische
Vierteljahresschrift 46, 2005, 39=61.
4
Kwan Weng Kin “Land of the Rising Sons” Straits Times 9.11.2003 ; Verena
Blechinger. Politische Korruption in Japan. Hamburg 1998. S. 101ff.
Wirtschaftliche und politische Machtstrukturen 45

Spenden aller Art erkenntlich. Ins Geld geht auch die aussichtsreiche Plat-
zierung auf den regionalen Parteilisten, bei denen Regional- und Lokalpo-
litiker mit ihren eigenen teueren Wiederwahlbedürfnissen umworben wer-
den müssen. Auch erwarten sie von ihrem Abgeordneten in Tokyo Bau-
und andere Projekte für ihre Heimatdistrikte. In der Tat wird der Bezug auf
frühere, aktuelle und künftige öffentlich finanzierte Wohltaten für den
Wahlkreis von LDP-Abgeordneten als die effektivste Wahlwerbung ange-
sehen. Programmatische Parolen und schöne Reden zu Frieden, Wohlstand
und Gerechtigkeit, mit denen europäische Politiker ihre Wähler zu gewin-
nen suchen, gelten demgegenüber als wohlfeiles Gerede. Da könnte ja je-
der kommen.
Gerade in der abgelegenen wirtschaftlich benachteiligten Provinz sieht
man in öffentlichen Projekten, auch jenen der offensichtlich sinnlosesten
und überteuerten Art, einen gerechten Lastenausgleich, die von den arro-
ganten Hauptstädtern und den reichen Großfirmen für das rechtschaffene
Hinterland zu leisten ist.
In der Leistung dieser Transfers haben LDP-Abgeordnete aufgrund ihrer
jahrzehntelangen Regierungspraxis einen anerkannten Heimvorteil. Des-
halb erhält die Partei in den Wahlkreisen stets bessere Ergebnisse als bei
den Listenwahlen. Dank zersplitterter Oppositionsstimmen konnte die Par-
tei bei den Wahlen 1996-2003 mit 39-41% der Stimmen in den Wahlkrei-
sen 56-59% der Direktmandate erringen. Bei den Wahlen im September
2005 schließlich gewann die LDP mit 48% der dortigen Stimmen 73% der
Direktmandate. Dank der Stärke der Wahlkreisorganisationen (koenkai)
der LDP-Abgeordneten ist ein künftiger Machtverlust der Partei sehr un-
wahrscheinlich geworden.
Die Wahlkreisorganisationen der Abgeordneten begrenzen auch die Ein-
flussmacht der Parteiführung. Als Premier Koizumi 2005 37 LDP-Abge-
ordnete wegen ihrem Widerstand gegen die Postprivatisierung aus der Par-
tei werfen ließ und gegen sie „Killer-Kandidaten“ in ihren Wahlkreisen
aufstellte (einer davon war der später als Schwindler enttarnte Internet-
Unternehmer Takefumi Horie), gewannen die meisten Renegaten dank
ihrer loyalen Wähler unschwer die Wiederwahl als Unabhängige5.
Das Hauptinstrument der LDP für die Kontrolle der Ministerien ist das
Zoku („Stamm“-) System. Es handelt sich dabei um altgediente, regelmäßig
wiedergewählte und damit hochrangige Parlamentarier, die sich auf die
Politik, die Projekte und die Personalia eines Ministeriums spezialisiert
haben, auf dessen Entscheidungen sie als langjährige Fachausschussmit-

5
Asahi Shimbun 3.9.2005; Japan Times 7.9.2005.
46 Wirtschaftliche und politische Machtstrukturen

glieder dann entsprechenden Einfluss ausüben. Sie mögen dort durchaus


einmal Kurzzeit-Staatssekretär oder Minister gewesen sein, haben aber oft
mehr Einflussmacht als der amtierende Minister, der wegen seiner kurzen
Amtsdauer in Folge der alle zehn Monate stattfindenden Kabinettsumbil-
dungen kaum alle Agenden und personalpolitischen Zusammenhänge zu
überblicken vermag. Denn auch in der Politik gilt das Senioritätsprinzip.
Nach 5-7 Wiederwahlen winkt ein Staatssekretärsposten, nach 9 bis 10
Wahlerfolgen ein Ministeramt, dessen Wichtigkeit weniger vom Fachwis-
sen als von der Stellung in der jeweiligen Fraktion abhängt. Damit mög-
lichst jeder LDP-Parlamentarier „Minister a.D.“ auf seine Visitenkarte
drucken kann, ist die Amtszeit in aller Regel begrenzt. Politischer Einfluss
wird deshalb eher informell durch die zoku, die sich im jeweiligen parla-
mentarischen Fachausschuss tummeln, ausgeübt.
Anerkannte Zoku-Mitglieder sind bekannt. Sie werden von interessierten
Geschäftskreisen für Projektgenehmigungen, Gesetzesentwürfe, Verwal-
tungsverordnungen, Auftragserteilungen, Subventionen und regulative
Protektion intensiv lobbyiert. Ihr zielführendes Engagement wird durch-
aus großzügig entlohnt. Karriereorientierte höhere Ministerialbeamte sind
gut beraten, den Wünschen von Zoku-Mitgliedern möglichst zügig zu ent-
sprechen. Denn diese reden seit den 70er Jahren immer nachdrücklicher
auch bei Personalentscheidungen mit, vor allem dann, wenn ab dem 50.
Lebensjahr sich bei jedem Spitzenbeamten entscheidet, ob er weiter beför-
dert oder zur alsbaldigen Pensionierung auf einen Seitenposten abgescho-
ben wird. Traditionell waren die Zoku-Stammespolitiker besonders stark
gegenüber allgemein als zweitrangig angesehenen Ministerien wie Bau,
Transport, Landwirtschaft, Gesundheit oder Arbeit, die viel Geld zu vertei-
len oder einen großen regulativen Ermessensspielraum hatten. Mittlerweile
hat das Zoku-System auch die Eliteministerien für Finanzen, Industrie und
Handel und für Äußeres kolonisiert6.
So ermunterte Muneo Suzuki, ein Führer des zoku für Außenpolitik, die
Beamten „seines“ Außenministeriums zur Disloyalität gegenüber seiner
Intimfeindin, der damals amtierenden Außenministerin Makiko Tanaka.
Nach etlichen gezielten Indiskretionen über ihre exzentrische Amtsführung
musste sie im Januar 2002 gehen. Suzuki selbst stolperte dann über auf
seine Veranlassung hin getürkten Ausschreibungen, den Missbrauch von
Entwicklungshilfegeldern, und landete wegen der Annahme eines ver-
gleichsweisen Taschengeldes von 5 Mio Yen (€ 35.000) für eine Inter-

6
The Economist 16.1.2001.
Wirtschaftliche und politische Machtstrukturen 47

vention bei der Forstagentur wegen Abgeordnetenbestechung für 2 Jahre


im Gefängnis7.
Bis zu seiner Verhaftung 1993 war Shin Kanemaru als graue Eminenz
und Hauptfinanzier der Tanaka/Takeshita-Fraktion der unbestrittene Chef
des zoku des Bauministeriums. Er erhielt regelmäßig eine Provision von 1-
3% für alle öffentlichen Bauaufträge, die an die vier größten Baukonzerne
Obayashi, Kajima, Taisei und Shimizu nach routinemäßig abgesprochenen
Ausschreibungsofferten (dango) vergeben wurden8. Das Bezirksgericht
Tokyo stellte unlängst fest, dass auch nach dem Abtritt und Tod Kanema-
rus das Dango-System getürkter Ausschreibungen als gängige Praxis in der
öffentlich finanzierten Bauwirtschaft fortgesetzt wird9.
Premier Junichi Koizumi (2001-6) gehörte stets zu einer mit der Tana-
ka/Takeshita/Kanemaru/Ozawa verfeindeten Fraktion, die von national-
konservativ geneigten Führern wie Fukuda, Abe und Mitsuzuka geleitet
wurde. Von der Bauindustrie bekamen sie wesentlich weniger Geld. Koi-
zumi hatte früher zum zoku des Finanzministeriums gezählt und Bankenin-
teressen vertreten. Dies erklärt seine Priorität der Postprivatisierung mit
ihrer riesigen Postsparkasse und angeschlossenen Versicherung, deren
Mittel in Höhe von insgesamt 3200 Milliarden US-Dollar in einem unkon-
trollierten Parallelhaushalt wiederum der Bauwirtschaft und Koizumis
politischen Feinden zugute kamen und den privaten Banken als steuerbe-
günstigte unlautere Konkurrenz ein Dorn im Auge war10.
Die Strukturkrise Japans hinterließ unübersehbare Spuren in der Orga-
nisation, der Amtsführung und dem Selbstverständnis der japanischen
Ministerien. Ebenso wie sie den Ruhm für Japans Aufstieg dank ihrer
vorausschauenden Industriepolitiken in Anspruch nahmen, so wurden sie
jetzt für ihr Scheitern, die Wirtschaft mit einer Überdosis keynesiani-
scher Ausgabenprogramme wieder in Fahrt zu bringen, als Versager ge-
scholten. Ein Endlosserie politischer und Finanzskandale, die nicht nur
die üblichen Verdächtigen, die von LDP-Politikern kolonisierten ausga-
benträchtigen Bau- und Transportministerien, sondern auch die elitären
MOF, MITI und MFA heimsuchten, erschütterte ihr Ansehen und ihre

7
Kwan Wei Kin „Disgraced Suzuki on the brink of arrest“ Straits Times
18.6.2002; Kyodo 8.11.2004.
8
Financial Times 12.10.1993, 12.3.1994, 29.3.1996; Newsweek 5.4.1993.
9
Financial Times 16.7.2002.
10
Sebastian Moffett „Party politics“ Far Eastern Economic Review 20.11.2003 ;
Asia Times on-line 12.8.2005 ; Financial Times 15.11.2003.
48 Wirtschaftliche und politische Machtstrukturen

Legitimität. LDP-Politiker konnten deshalb – vor allem im Wahlkampf


von 1996 – ihr Politikversagen elegant auf die Ministerialbürokratie ab-
wälzen11 und überboten sich gegenseitig mit Vorschlägen zu Verwal-
tungsreformen mit umverteilten Kompetenzen und reduzierter Autonomie.
Am Ende verlor das Finanzministerium seine bis dahin eher mangelhaft
ausgeführte Bankenaufsicht an eine neue Finanzdienstleistungsagentur
(FSA). Sechs Ministerien und einige Agenturen wurden im Jahr 2000 zu
drei Ministerien verschmolzen. Sie wurden zu Ministerien für: Gesund-
heit, Arbeit und Wohlfahrt (MHLW), Land, Infrastruktur und Transport
(MLIT); und: Inneres und Kommunikation (MIC). Die Planungs- und
Koordinationsfunktionen des Amtes des Premierministers (PMO) wurden
gestärkt, und einige Umbenennungen vorgenommen. Zum Beispiel wur-
de das MITI auf Englisch zum Wirtschaftsministerium METI („Ministry
of Economics, Trade and Industry“). Auch wurden einige ausführenden
Aufgaben der regionalen Ministerienbüros an die Verwaltungen der Prä-
fekturen und Gemeinden delegiert, ohne dass dies jedoch eine echte De-
zentralisierung darstellte12.
Es gab unter den Ministerien Gewinner und Verlierer der Verwaltungs-
reform. Wegen einiger Deregulierungen und dem Verlust tausender Plan-
stellen in den Managementfunktionen von 90 fusionierten, privatisierten
oder abgewickelten ministeriumsnahen öffentlichen Firmen, entfielen luk-
rative Karriereoptionen. Das gesunkene öffentliche Ansehen der Ministe-
rien reduzierte ihre traditionelle Attraktivität für die Rekrutierung der bes-
ten Absolventen der angesehensten Hochschulen, etwa der elitären
Jurafakultät der Staatlichen Universität Tokyo. Auch haben die noch rüsti-
gen Pensionäre13 der Ministerien vermehrte Schwierigkeiten adäquate Po-
sitionen zu finden, die ihnen als amakudari („vom Himmel herabsteigen-
de“) Spitzenbeamte vordem stets in Unternehmen und Verbänden, die im
Naheverhältnis zum bisherigen Ministerium und ihrer vormaligen Tätig-
keit standen, angeboten worden waren.

11
Uwe Schmidt „Mit aller Macht gegen Japans Bürokraten“ Frankfurter Allge-
meine 9.10.1996.
12
Jiro Yamaguchi „Result of Unfinished Reforms“ Friederike Bosse und Patrick
Köllner (Hg.) Reformen in Japan. Hamburg. 2001, 71-87. S. 71.
13
32.000 höhere Ministerialbeamte werden alljährlich Mitte 50 pensioniert. Ihre
knapp bemessene Pension erhalten sie erst ab 60, sie sind also weiter auf Er-
werbstätigkeit angewiesen; siehe: Taro Yayama. The present state of amakudari
in Japan. Asia 21. Juli 1999, 46-7.
Wirtschaftliche und politische Machtstrukturen 49

Die Liste von publik gewordenem Verwaltungsversagen ist lang, vor al-
lem seit die öffentliche Hand ab 1992 mit massiven Schulden umfangrei-
che Infrastrukturprogramme auflegte, für die eigentlich keine Nachfrage
bestand. Diese reichen von leeren, voll erschlossenen Industrieparks, neu-
en Fischereihäfen in von Fischern und Fischen verlassenen Küstenorten,
und unbenutzten Flughäfen bis zu Autobahnen, Tunneln und Brücken von
Nirgendwo nach Nirgendwo. Bei allen Notfällen schien der langwierige
Bürokratismus zu versagen: Rettungs- und Bergungsdienste setzten bei
dem Erdbeben von Kobe 1995 mit fataler Verspätung ein. Bei der wissent-
lichen Verbreitung von mit AIDS verseuchten Blutkonserven schritt das
Gesundheitsministerium nicht ein. Nuklearunfälle im Kernkraftwerk To-
kaimura wurden vertuscht. Frustrierte Spitzenbeamte schrieben Bestseller
über die Inkompetenz, den Bürokratismus und den Mangel an Professiona-
lität ihrer Ministerien14, die als ein Ergebnis stumpf gewordener politischer
Instrumente und demotivierender politischer Dauerinterventionen durch
die Zoku-Politiker erschienen. Indikativ für den sich verbreitenden Zynis-
mus war die fast universelle Annahme von Einladungen der Spitzen-
beamten zum Nachtleben, von Golfklubmitgliedschaften, Auslandsreisen,
Sportwagen und Bargeld von Seiten interessierter Geschäftskreise. So wurde
die Bankenaufsicht des MoF regelmäßig in Luxusrestaurants (ryotei) von
den zu kontrollierenden Finanzinstituten bewirtet. Das Ergebnis der Prüfun-
gen fiel entsprechend aus. Die für die Kontrolle der Mineralölmärkte zu-
ständigen MITI-Beamten wurden von Ölhändlern ebenso ausgehalten15. Die
Mittel der Entwicklungshilfe schließlich wurden im Außenministerium zur
Entwicklung des eigenen Vergnügens – für Freundinnen, Reitstunden, Pri-
vatreisen nach Übersee und Shopping im Mitsukoshi-Kaufhaus – verwen-
det16, mutmaßlich im sicheren Wissen, dass das Geld in Afrika und Latein-
amerika ohnehin verschwendet werden würde.
Mittlerweile mag das Arbeitsleben in den grauen Großraumbüros der
ministeriellen Betonbauten von Kasumigaseki freudloser und nüchterner
geworden sein. Sicher aber ist das weitgehende Ende der Amakudari-
Praxis für die Privatwirtschaft kein großer Verlust an unternehmerischen
Talenten. Die früher massenhafte Platzierung von pensionierten Beamten
des Finanzministerium und der Bank von Japan in Banken und Finanzinsti-
tutionen aller Art hatte nachweislich nicht die Qualität ihrer Kreditpolitik

14
Naoto Amaki. Saraba Gaimusho. Tokyo 2004; Masao Miyamoto. Straightja-
cket Society. Tokyo 1995.
15
Financial Times 28.12.1996.
16
Financial Times 27.1.2001 und 1.2.2002.
50 Wirtschaftliche und politische Machtstrukturen

erhöht. Im Gegenteil, durch das personelle Naheverhältnis zu den Auf-


sichtbehörden wussten die Banken um die Ausschaltung effektiver Kon-
trollen17 und wiegten sich in dem fatalen – leider nicht ungegründeten –
Glauben, wenn Dinge schiefgehen würden, würden das so eng befreundete
mächtige Finanzministerium und die Zentralbank als Nothelfer schon mit
Finanzspritzen und Umschuldungen aushelfen18. Diese edle Freundschaft
kostete, wie erwähnt, den japanischen Steuerzahler 530 Milliarden US-
Dollar.
Was bleibt also nach der Verwaltungsreform und den vielgepriesenen De-
regulierungen an Verwaltungseinfluss auf die Wirtschaft? Bekanntlich war
Japans Modernisierung unter dem Meiji-Kaiser, die Kriegswirtschaft und die
Nachkriegsentwicklung unter staatlicher Anleitung und Protektion durchge-
führt worden. Die Spekulationsblasen der 20er und 80er Jahre hatte die Pri-
vatwirtschaft in Eigenregie verbrochen. Im Zweifelsfall wird deshalb in Ja-
pan den Anweisungen und Prognosen gut informierter, intelligenter und im
Idealfall auch unparteiischer Verwaltungsstäbe in den Eliteministerien im-
mer noch mehr Vertrauen entgegengebracht als den aktuellen wechselhaften
Marktsignalen. So wird die einzigartige Praxis informeller Verwaltungsan-
weisungen (gyosei shido) an die Wirtschaft in vielen angeblich deregulierten
Sektoren weiter mit dem Anspruch auf Gehorsam durchgeführt und durch-
gesetzt19. Der staatliche Einfluss ist besonders stark im Transportwesen, in
der Mineralölwirtschaft, der Landwirtschaft und Nahrungsmittelverarbei-
tung, der Finanz- und Versicherungswirtschaft, der Bauwirtschaft, der medi-
zinischen Versorgung und der Arzneimittelherstellung.
Von staatlichen Einflüssen weitgehend befreit haben sich die hochprofi-
tablen Firmen der Exportwirtschaft, die den Großteil ihrer Umsätze im
Ausland erzielen und dort auch produzieren: Toyota, Honda, Matsushita,
Sony, Canon, Hitachi, Kyocera etc. Sie werden diese Tatsache jedoch
taktvollerweise den Ministerien nicht lauthals verkünden, sondern weiter-
hin brav ihre verschiedenen Beratungsausschüsse (shingi kai) mit Rat und
Tat unterstützen. Selbstverständlich haben sich die industriepolitischen

17
Wolter Hassink und Adrian van Rixtel „Monitoring the Monitors. Amakudari
and the ex-post monitoring of the private banks” CEPR Discussion Paper 1785,
Januar 1998.
18
Jörg Mahlich. „Neue Entwicklungen in den Banken-Firmenbeziehungen“ in:
Manfred Pohl/Iris Wieczorek (Hg.) Japan 2004, Politik und Wirtschaft. Ham-
burg 2004, 243-64. S. 255.
19
Zum rechtlichen Hintergrund jener administrative guidance siehe: Wolfgang
Pape. Gyoseishido und das Anti-Monopol Gesetz. Köln 1980.
Wirtschaftliche und politische Machtstrukturen 51

Instrumente gewandelt. Längst teilen die Ministerien nicht mehr wie noch
in den 60er Jahren Kredite und Devisen nach den vorhersehbaren Export-
leistungen zu. Doch winken weiterhin staatliche Aufträge für die Bau- und
Rüstungswirtschaft, Forschungsförderungen von der Tiefseeexploration
bis zur Satellitentechnik, Entwicklungshilfemittel zu Nutz und Frommen
der Generalhandelshäuser, regulativer Schutz gegen allzu viel Wettbewerb
im Inneren wie von Außen, administrative Notbremsen gegen feindliche
Übernahmen und unerwünschte Auslandsinvestitionen sowie last but not
least der Einsatz von Steuergeldern bei der Rettung der Finanzwirtschaft
und leichtsinniger Großspekulanten.
Schließlich gibt es als ultima ratio bei hartnäckiger Unbotmäßigkeit von
Firmen auch immer noch den Lizenzentzug und die Steuerpolizei.
Als der Mineralölsektor 1999 dereguliert werden sollte, organisierte das
Wirtschaftsministerium (MITI) noch die Konsolidierung der Branche unter
Führung von Nippon Mitsubishi Oil20. Seit den Tagen von Premier Naka-
sone (1982-87) ist Deregulierung ein Evergreen in allen Regierungspro-
grammen. Die Ministerialbürokratie hat seither mit ihrer politischen Herr-
schaft, den zoku, eine unbestreitbare Meisterschaft in der Erfindung von
Deregulierungen entwickelt, die durch die Hintertür neue Regeln und Er-
messensentscheidungen wieder einführen. So erhalten beide ihren politi-
schen Einfluss und ihre administrative Ermessensmacht und die geschütz-
ten Wirtschaftssektoren ihre protektionsbedingtes Extra-Einkommen21. Zur
Not spielt die Bürokratie schlicht auf Zeit. Dies gelingt selbst bei so hoch-
politisierten Themen wie der Postprivatisierung. Obwohl sie seit den Wah-
len vom September 2005 mit Koizumis Erdrutschsieg beschlossene Sache
ist, findet sie erst im Jahre 2017 statt. Bis dahin kann das neue Innenminis-
terium (MIC) nach Gutdünken über die Postguthaben verfügen – etwa im
Ermessen, welche bedrängten regionalen und lokalen Haushalte durch
Kreditspritzen gerettet werden sollen, und welche nicht. Nach der Verwal-
tungsreform werden 80% der öffentlichen Ausgabenprogramme im Infra-
strukturministerium (MLIT) getroffen22: Auch dies ist eine gewaltige neue
Konzentration von Verwaltungsmacht.

20
Alexandra Harney und Michiyo Nakamoto „MITI: Protector turned facilitator“
Financial Times Survey: Foreign Investment in Japan 19.10.1999. S. ii.
21
Aurelia George Mulgan „The Politics of Deregulation and Japanese Agriculture“
in: T.J. Pempel u.a. (Hg.). The Politics of Economic Reform in Japan. Canberra
1997.
22
Andreas Gandow „Japan drängt die Bürokratie nur halbherzig zurück“ Han-
delsblatt 5.1.2001.
52 Wirtschaftliche und politische Machtstrukturen

Zur neuen ökonomischen Rolle der japanischen Ministerien kann man


Peter Drucker nur zustimmen: „Eliten können sich allein deshalb an der
Macht halten, weil kein Ersatz in Sicht ist. Bis es eine solche Alternative
gibt … wird die herrschende Elite weitermachen, sogar dann, wenn sie
völlig diskreditiert und dysfunktional ist. Ein Ersatz ist in Japan nicht in
Sicht … Bis auf weiteres ist die Bürokratie, und mag sie auch noch so dis-
kreditiert sein, die einzige Gruppe, die diese Rolle ausfüllen kann“23.
So bleiben in Summe am etwas rostig gewordenen eisernen Dreieck die
Grundgleichungen: Die Finanzierung der LDP (und in wesentlich geringe-
rem Maß der Demokraten (DPJ)), ihrer Fraktionen und Wahlkreisorganisa-
tionen durch die von den keiretsu organisierten Hochwirtschaft (zaikai);
die fortgesetzten vielfältigen Wirtschaftsinterventionen der Ministerialbüro-
kratie und schließlich: die wachsende politische Dominanz der Ministerien
durch die führenden Politikspezialisten (zoku) der LDP-Fraktionen.
In der Tat gibt es keine Alternativen: Linke Parteien hatten auf die Wirt-
schaftskrise keine Antwort. Sozialisten und Kommunisten sind seit 1996 nur
noch als Splitterparteien parlamentarisch präsent. Der gewerkschaftliche
Organisationsgrad ist auf unter 20% gerutscht. Die Jugend amüsiert sich
mit apolitischen Zeitvertreiben. Eine administrative Dezentralisierung, die
die wirtschaftlichen Initiativen der Regionen hätte wecken können, wurde
nie ernsthaft unternommen. Trotz einer der größten Kapitalvernichtungen
der Weltwirtschaftsgeschichte blieb das Geld und der politische Einfluss
der alten Exportwirtschaft. Die jungen Sektoren der Finanz- und Internet-
dienstleistungen wurden von den Märkten abgestraft. Die Japan-AG ist
also weiter im Geschäft und es ist unwahrscheinlich, dass sich daran in den
nächsten Jahrzehnten allzu viel ändern dürfte.

23
Peter F. Drucker „In Defense of Japanese Bureaucracy“ Foreign Affairs 77,5,
1998, 68-80. S. 74 (meine Übersetzung).
5 Sozialbeziehungen in der Wirtschaft:
Gewerkschaften, Frauenarbeit, Demographie

Von den 60er bis in die 90er Jahre hielten sich mehr als 90% der Japaner
für zur Mittelschicht zugehörig. Die radikale Landreform und Enteignung
der großen Zaibatsu-Familien durch die Amerikaner, hohe Erbschaftssteu-
ern und eine starke Progressivität der Einkommenssteuern schuf bis Mitte
der 80er Jahre eine Vermögensverteilung, die nahezu skandinavische Di-
mensionen der Gleichheit aufwies. Auch die während der Spekulations-
phase von 1985-92 durch Aktien- und grosstädtischen Immobilienbesitz
geschaffenen eklatanten Disparitäten wurden seither wieder teilweise ein-
geebnet. Innerhalb der Betriebe beträgt die Disparität zwischen Einstiegs-
und Vorstandsgehältern gerade einmal 1:11 – ein gewaltiger Unterschied
zu dem in den USA praktizierten Usancen, Unsitten, die leider auch mitt-
lerweile bei manchen deutschen Konzernen um sich greifen. In Japan wäre
der Gedanke nicht vermittelbar, ein Vorstandssprecher leiste mehr als das
500fache eines Schalterbediensteten oder Kreditsachbearbeiters und müsse
das Entsprechende verdienen, wie dies z.B. bei der Deutschen Bank seit
einiger Zeit praktiziert wird. Frugale, arbeitsorientierte Lebensstile und
meritokratische, bildungsgangorientierte Lebensentwürfe finden weite
gesellschaftliche Akzeptanz und Umsetzung mit dem salaryman, dem fest
angestellten Gehaltsempfänger als erstrebenswerter Durchschnittsnorm.
Proletarische, kleinbäuerliche, gegenkulturelle oder elitäre Gegenentwürfe
existieren durchaus, finden auch genügend Publizität, bleiben jedoch abso-
lute Minderheitenprogramme. Gesellschaftliche Normen in Japan entmuti-
gen abweichendes Verhalten ohnehin. Reichtum (oder offene Armut) wird
deshalb nur selten zur Schau gestellt. Die alten Familien wissen dies ohne-
hin. Die Neureichen lernen es spätestens in der dritten Generation. Weit-
gehend gemeinsame Lebensentwürfe, die für alle gleich schweren Zulas-
sungsprüfungen in die besseren Mittel-, Oberschulen, Universitäten, Minis-
terien und Großbetriebe, dienen offenkundig dem nationalen Zusammen-
halt und dem sozialen Frieden. Alle Japaner hatten die gleichen Chancen,
jeder geistig und körperlich gesunde junge Mann die zumindest theoreti-
sche Option einer Spitzenkarriere.
Wer sie nicht wahrnahm, muss persönliche Ursachenforschung treiben,
kaum nach widrigen sozialen Verhältnissen suchen. Zweifellos gibt es in
54 Gewerkschaften, Frauenarbeit, Demographie

Japan Berufsgruppen, die weitgehend vererbt werden: traditionelle Künste


zählen dazu, wie das Amt des Tempelpriesters, das Ikebana-Blumenstecken
oder die Kabuki-Schauspielerei, auch Arztpraxen, LDP-Parlamentssitze,
mittelständische Unternehmen, selbst Todai-Professuren werden gern ver-
erbt (oft an den Schwiegersohn, der zuvor jahrzehntelang als Assistent
diente und die Tochter seines Profs heiratete). Dies sind jedoch eher die
spektakulären Ausnahmen von der meritokratischen Regel.
Schon in den 80er Jahren war der Gini-Koeffizient, der soziale Un-
gleichheit misst, durch die Spekulationsgewinne der Aktien- und Immobi-
lienbesitzer auf 0,4, auf den Wert der USA geklettert. Dies ist der Punkt,
bei dem soziale Ungleichheit für alle sichtbar wird. Er hatte damit die eins-
tens egalitäre Nachkriegstradition Japans hinter sich gelassen. Die sozialen
Schichtungsvorstellungen haben sich dann mit der Krise von 1992-2004
auch im öffentlichen Bewusstsein gewandelt. So erklärten sich bei einer
Nikkei-Umfrage Anfang 2000 nur noch 54% der Mittelschicht und schon
37% der Unterschicht zugehörig1. Die Krise hatte natürlich zunächst ein-
mal die Schicht der neureichen Spekulanten, die Bauwirtschaft und die
Banken hart getroffen. Doch wurden die wesentlichen Kosten der Krisen-
bewältigung der Bevölkerung – und durch die massive öffentliche Ver-
schuldung auch der nächsten Generation – aufgelastet. Die Sparguthaben
wurden mehr als ein Jahrzehnt lang nicht verzinst. Die Reallöhne wurden
durch reduzierte Bonuszahlungen, unbezahlte Überstunden, Beförderungs-
sperren, Versetzungen in Tochterbetriebe und Teilzeitjobs drastisch ver-
mindert2. Die ohnehin knapp bemessenen staatlichen Renten wurden um
15% gekürzt3 und die Mehrwertsteuer erhöht. Die Steuergelder wurden
nicht etwa zur Erhöhung der städtischen Lebensqualität oder für verbesser-
te staatliche Dienstleistungen ausgegeben sondern, wie erwähnt, in einer
Umverteilung von unten nach oben zur Rehabilitierung der Banken und
zur Sanierung der Bauwirtschaft aus ihren selbstverschuldeten Pleiten.
Die Krise traf aber auch direkt die Mittelschichten. Wer etwa in den
80er Jahren den japanischen Traum vom Eigenheim, ein kleines Vor-
stadthäuschen, für durchaus übliche 3 Millionen Euro erwarb, sah sich in das
Korsett eines Hypothekenkredits mit 25-30jähriger Laufzeit eingezwängt,
während der Wert seines Hauses auf ein Drittel fiel und sein Gehalt zuse-
hends schrumpfte. Ist dann der Kredit jener Lebensinvestition endlich

1
Financial Times 14.3.2006.
2
Financial Times 10.11.2004.
3
Frankfurter Allgemeine 14.3.2005.
Gewerkschaften, Frauenarbeit, Demographie 55

mühsam getilgt, ist das aus Holzfertigteilen gezimmerte Eigenheim ohne-


hin am Ende seiner geplanten Lebensdauer und abbruchreif.
Für die neue Großgruppe der Krisenverlierer erfanden Soziologen den
Terminus karyu shakei (Unterschichtengesellschaft). Sie besteht aus jenen
4% Arbeitslosen, 15% geringfügig Beschäftigten, darunter die 5 Millionen
freeter als Teil jener 32% Teilzeitarbeiter. Es sind auch jene 25% der Ja-
paner, die keine Ersparnisse haben. Von 220 Millionen Kreditkarten im
Umlauf sind 15 Millionen verschuldet, 10% davon in problematischem
Umfang. Für deren Besitzer gibt es nur noch die Umschuldung über Kre-
dithaie (sarakin), die zu 2% Kapital aufnehmen und zu 25% Sollzinsen
verleihen4. Täglich gibt es deshalb im Schnitt 19 Selbstmorde oder Fälle
von Zeitgenossen, die einfach spurlos verschwinden. Die Zahl der Privat-
konkurse beträgt jährlich 160.000.
Japan ist kein Sozialstaat. Die öffentlichen Defizite begünstigen wie er-
wähnt die Bauwirtschaft und die Banken, nicht wie in Deutschland die
Sozialstaatsbürokratie und ihre Klientelen. So gibt es in Japan 13 Millionen
Menschen, die ernsthafte soziale Probleme haben: 1,2 Millionen pflegebe-
dürftige Alte, 4,4 Millionen Behinderte, 5 Millionen Alleinerzieherfamilien
mit ihren Kindern, und 500.000, die an Tuberkulose und ansteckenden
Krankheiten leiden.
Vielleicht am folgenreichsten war der „Tod des Salaryman“ als gesell-
schaftliches Leitbild. Vormals auf dem Ehrenplatz der Nation als selbstlo-
ser Modellangestellter der Japan AG sah man in ihm nach der Krise ein
Symbol massenhaft trottelhafter Mittelmäßigkeit5. Im Gegensatz zum hoch-
produktiven Fabrikarbeiter wurde der Büroangestellte als ein nicht länger
vermittelbarer Generalist zum entbehrlichen Kostenfaktor und zur unpro-
duktiven Restrukturierungsbremse6, in den Augen der Öffentlichkeit und
der Jugend eine traurige, oft selbstmitleidige, gescheiterte Existenz. Die
Erosion jenes sozialen Leitbildes konnte nicht ohne Folgen bei dem mate-
riell sorgenfrei aufwachsenden, von seinen Müttern umsorgten und ver-
wöhnten Nachwuchs bleiben. Der augenscheinliche Eindruck trügt nicht.
Seit Jahren schon belegen Lebensstil- und Attitüdenstudien7, dass die unter

4
The Straits Times 25.3.2002.
5
„Death of a Salaryman“ Financial Times 12.11.1998.
6
The Economist 20.11.1999.
7
„Japanese sararimen at the crossroads“ The Economist 2.5.1992; Ana Goy Ya-
mamoto „Japanese Youth Consumption“ Asia Europe Journal 2, 2004, 271-82.
56 Gewerkschaften, Frauenarbeit, Demographie

30jährigen (new breed) der reglementierten Arbeit in Großbetrieben wenig


abgewinnen und sich eher für ihren Zeitvertreib engagieren.
Knapp zehn Millionen Japaner sind derzeit noch gewerkschaftlich orga-
nisiert. Dies entspricht einem Organisationsgrad von 19,6% (2003)8, Ten-
denz weiter fallend. 1993 waren es noch 24% und 1983 30% gewesen. Der
Niedergang der großindustriellen Beschäftigung, das Aufkommen neuer
Kleinbetriebe im Dienstleistungssektor und massenhafte Teilzeitjobs sind
strukturelle Ursachen. Die weitverbreitete Unzufriedenheit über die Ge-
werkschaftspolitik kommt dazu, die sich stets zu Lohnzurückhaltungen
gezwungen sahen, während die Firmen die Unternehmensgewinne in Ü-
berkapazitäten und Spekulationsobjekten versanken9. Etwa 8 Millionen
sind Mitglieder von Betriebsgewerkschaften, die in dem Dachverband
Rengo, einer Art DGB/ÖGB föderiert sind. Rengo entstand im November
1989 als Fusion der linken Sohyo, dem Zusammenschluss von Gewerk-
schaften des öffentlichen Dienstes, Lehrern, Beamten und städtischen Ar-
beitern, und von Domei, der mitte-rechts gewirkten Föderation von Indus-
triegewerkschaften. Kommunistische und linkssozialistische Gewerk-
schaften mit insgesamt 1,7 Millionen Mitgliedern weigerten sich, Rengo
beizutreten. Die mächtige Lehrergewerkschaft Nikkyoso, die einst 80% der
Schul- und Gymnasiallehrer organisiert hatte, spaltete sich und gab seither
ihren fünfzigjährigen Konfrontationskurs gegen das „rechte“ Unterrichtsmi-
nisterium auf10. Rengo selbst vertritt hauptsächlich Themen der sozialen,
gesundheitlichen und Alterssicherung und der rechtlichen Gleichstellung.
Während der alljährlichen Lohnrunden (shunto – „Frühjahrsoffensive“)
empfiehlt Rengo gewisse, meist recht zurückhaltende Lohnerhöhungen oder
Arbeitszeitkürzungen. Sektor- und Betriebsgewerkschaften steht es dann
aber frei, ob sie sich an diese Orientierungen halten, oder nicht.
Da Rengo politisch zwischen der Unterstützung der Demokraten und So-
zialisten schwankt und als Föderation auf den Konsens ihrer Mitgliedsge-
werkschaften angewiesen ist, bleibt sie als Folge der ausbleibenden Überein-
stimmung meist parteipolitisch neutral. Für die Sozialisten war dies fatal.
Für sie fiel mit der faktischen Neutralisierung ihres einstigen gewerkschaft-
lichen Standbeins Sohyo ihre organisatorische Stütze für die Wahlkreisarbeit
und die Wahlkämpfe weg. So zerfiel die vor einem Jahrzehnt noch stärkste
Oppositionspartei SPJ nach 1996 zu einer Splittergruppierung.

8
Japan Institute for Labour Policy and Training. The Labour Situation in Japan
and Analysis 2004/5. Tokyo 2005. S. 58.
9
Financial Times 31.3.1994.
10
Labour Management Relations 34, 10. 1.10.1995.
Gewerkschaften, Frauenarbeit, Demographie 57

Instruktiv für den Werdegang der Gewerkschaftsbewegung ist die Ge-


schichte der Betriebsgewerkschaft von NKK, einem der größten Stahlkon-
zerne Japans11. Nach der Enteignung des Asano Zaibatsu übernahm Ende
1945 die Gewerkschaft die Produktion in Kawasaki, die die US-Brand-
bomben überlebt hatte. Der Absatz und die Entlohnung erfolgte durch
Tauschwirtschaft. Nach der Einführung eines professionelleren Manage-
ments wurden nach zwei Streiks die Mitbestimmungsrechte bei den Ar-
beitsabläufen 1948 durch Arbeiterausschüsse institutionalisiert. Um länge-
re Arbeitskämpfe zu vermeiden, führte das NKK-Management in der
Folge systematisch den damals von US Industriesoziologen propagierten
Human-Relations-Ansatz durch: lebenslange Anstellungen mit betriebsin-
ternen Arbeitsplatzwechseln (job rotation), Qualitätsmanagement, Seniori-
täts- und leistungsorientierte Entlohnungen und die Abschaffung der Sta-
tusunterschiede zwischen Arbeitern und Angestellten. Alles Dinge, die
heute als traditionelles japanisches Management angesehen werden. Die
Aufträge des Koreakriegbooms und die Industriepolitik des MITI erhöhten
die Umsätze und die Gewinne der Stahlindustrie. Dies erlaubte vermehrt
Neueinstellungen und zusätzliche Karrierechancen in neuen und ausgewei-
teten Geschäftszweigen. Die großen Stahlstreiks von 1957 und 1959, die
nur geringe Lohnsteigerungen brachten, waren die letzten Zuckungen der
Militanz der Industriegewerkschaften, deren Mitglieder immer mehr Mit-
telschichtenwerte und -lebensstile übernahmen. NKK begann seinen Mit-
arbeitern vermehrt Freizeitangebote in Form von Zirkeln für Sport und
Kultur und für die Ehefrauen Kurse für wissenschaftliche Haushaltsfüh-
rung anzubieten, deren Teilnahme nahezu obligatorisch war. An den Ar-
beitsplätzen wurden in den 60er Jahren die Überwachung und der Produk-
tivitätsdruck erhöht und die Arbeitszeiten ausgeweitet. Die betriebliche
Gewerkschaftsorganisation wurde mit Unterstützung der Firmenleitung
graduell von „informellen Gruppen“ übernommen, die die harmonische
Zusammenarbeit zum Unternehmenswohl propagierten.
Die Gewerkschaftsleitungen selbst verbürokratisierten. Ihre Chefs gefie-
len sich als autokratische Bosse. Ab Ende der 60er Jahre war die Führung
des Dachverbandes der Stahlarbeiter, Tekko Roren, von eher rechten Frak-
tionen übernommen worden. Sie stellten nur noch Lohnforderungen, die
von der Regierung empfohlen wurden. Die jährliche shunto wurde zum
inhaltsleeren Ritual, bei der Parolen skandiert wurden. Während in den
70er Jahren noch Hunderttausende von Arbeitnehmern (freilich eher sym-

11
Andrew Gordon. The Wages of Affluence. Labour and Management in Postwar
Japan. Cambridge, Mass. 1999.
58 Gewerkschaften, Frauenarbeit, Demographie

bolische) Kurzstreiks veranstalteten, die zumindest in Japan Nachrichten-


wert hatten, so ist die Teilnehmerzahl jetzt auf bestenfalls 50.000 gesun-
ken. Wenn Arbeitsplätze modernisiert, Arbeitsunfälle vermindert und die
Arbeitszeit geringfügig reduziert wurden, hatte dies mit Gewerkschaftsak-
tivitäten wenig zu tun, die sich eher darauf beschränkten, bei Rationalisie-
rungsmaßnahmen bremsend zu wirken. Schließlich wurde die Firmenlei-
tung selbst besorgt, dass sie ihre Gewerkschaften so gezähmt hatten, dass
die meisten Belegschaften sie in Umfragen für völlig nutzlos erklärten.
Denn immerhin hatten sie in der Vergangenheit potentielle Unzufrieden-
heit und Kritik kanalisieren und in Kooperation mit dem Management Ab-
hilfe leisten können. Obwohl die Mitgliedschaft in der Betriebsgewerk-
schaft mit dem Arbeitsantritt in den Großbetrieben weiterhin quasi
automatisch erfolgt, würde ihr faktischer Abtritt vom realen Arbeitsleben
der Mitarbeiter den Konsensmechanismus der Unternehmen gefährden.
Die internationalen Prämissen der Betriebsgewerkschaften japanischer
Unternehmen, die mittlerweile weltweit produzieren und Millionen von
Arbeitnehmern im Ausland beschäftigen, lassen sich mit dem schlichten
Grundsatz zusammenfassen, dass sie alles gutheißen, was ihrer Firma, ih-
ren Exporten und der japanischen Wirtschaft nützt. Hatte sich die Sohyo
noch völlig unkritisch mit den staatskommunistischen Scheingewerkschaf-
ten der WFTU getummelt und verbrüdert, so befreundete sich Rengo in
Absprache mit dem Arbeitsministerium mit den meist autoritär und staats-
nah geführten Gewerkschaften Ostasiens12. Mit den Mitteln der japani-
schen Entwicklungshilfe gelingt es ihr, eine Führungsrolle in der asiati-
schen Gewerkschaftsbewegung auszuüben. Sie leistet dort aber – im
Gegensatz etwa zur Friedrich Ebert Stiftung – sehr wenig Aufbauhilfen.
Sie propagiert stattdessen Japans paternalistischen und hierarchischen An-
satz in den Arbeitsbeziehungen als Modell für die nationale Entwicklung.
Mit den oft widrigen lokalen Arbeitsbedingungen in japanischen multina-
tionalen Konzernen, die in Asien wenig Arbeitsplatzsicherheit, oft harte
Arbeitsbedingungen und keine sonderliche Gewerkschaftsfreundlichkeit
bieten, setzt man sich nicht auseinander.
Die Arbeitsbedingungen in Japan selbst haben sich seit der Krise von
1992 nicht wesentlich verbessert. Die Jahresarbeitszeit liegt weiter bei
2100 Stunden. Dies entspricht 43 Wochenarbeitsstunden. Die meisten
Arbeitnehmer behandeln ihren Jahresurlaub, von ein paar Tagen um nati-
onale Feiertage (Neujahr und die erste Maiwoche) abgesehen, meist als

12
Hugh Williamson. Coping with the Miracle. Japan’s Unions explore new inter-
national Relations. Boulder, Colorado 1994. S. 18ff.
Gewerkschaften, Frauenarbeit, Demographie 59

Reserve für Krankheitsfälle und private Notfälle. Die Fünftagewoche ist


außerhalb des öffentlichen Dienstes weiterhin eher die Ausnahme als die
Regel. Überlange Arbeitszeiten und selten genommene Urlaube gelten
als Hauptursache des plötzlichen Todes am Arbeitsplatzes (kuroshi), ein
in Deutschland kaum mögliches Ableben, das jedoch in Japan zu stark
publizierten Abhilfen geführt hat, etwa Abteilungsleiter disziplinarisch
zu belangen, wenn ihre Mitarbeiter ab 22 Uhr ohne triftigen Grund noch
an ihren Büroarbeitsplätzen zu finden sind. Auch wenn die Produktivität
ab bestimmten Grenzwerten zu sinken beginnt, sind Japans Arbeitszeiten
eine arbeitskostenreduzierende Variable im internationalen Wettbewerb.
Die Arbeitsbedingungen selbst variieren stark, je nach dem Status des
Arbeitgebers. Als Faustregel gilt, dass ein Drittel aller Arbeitsplätze in
der Privatwirtschaft, vor allem bei den Keiretsu affiliierten Großbetrie-
ben, nach wie vor weitgehende Arbeitsplatzsicherheit mit relativ hohen
senioritätsorientierten Gehältern, Boni und Aufstiegschancen, verbunden
mit der Aussicht auf eine großzügig dotierte Firmenpension und andere
soziale Wohltaten genießen. Etliche jener angenehmen Erwartungen, wie
arbeitslebenslange Beschäftigungen, Beförderungen nach Dienstalter und
viele Pensionen, für die keine Rücklagen angelegt wurden,13 beginnen
sich in der rauen Luft der Krise als einseitige, nicht einklagbare Verspre-
chungen in Wohlgefallen aufzulösen. Dies trifft vor allem die jahrgangs-
starke Gruppe der 50-60jährigen, die zu Beginn ihrer Laufbahn Lohnver-
zicht übte, jetzt senioritätsbedingt zu teuer geworden ist, und der mangels
Unternehmenswachstum kaum echte neue Führungspositionen geboten
werden können, zumal überflüssige Managementebenen im Zuge man-
nigfaltiger Entbürokratisierungsaktionen unschwer identifiziert und ein-
gespart werden können.
Zwei Drittel der Beschäftigten, darunter fast alle Frauen, haben diese
Sorgen nicht, weil sie ohnehin als Angehörige des sekundären nachgeord-
neten Sektors der japanischen Wirtschaft in den Klein- und Mittelbetrieben
als Lieferanten, Distributoren und Dienstleister von sicheren Arbeitsplät-
zen, Bonuszahlungen und Firmenpensionen nur träumen konnten.
Als Massenphänomen der aktuellen Krise mit ihrer Reduzierung der
Vollzeitstellen sind bei eigentlich arbeitslosen Jugendlichen die sogenannten
„freeter“ (eine anglodeutsche Kontraktion von „free“ und „Arbeiter“) ver-
breitet. Ursprünglich galt das ziellose Driften zwischen unqualifizierten
Teilzeitjobs als bewusste Ablehnung des überreglementierten formellen

13
Die ungedeckten Pensionsverpflichtungen japanischer Unternehmen werden
auf 655 Milliarden US-Dollar geschätzt.
60 Gewerkschaften, Frauenarbeit, Demographie

Arbeitsmarkts durch junge, kritische und verwöhnte Geister. Mittlerweile


stellte sich heraus, dass die freeter zu 70% unfreiwillig ihrer prekären, unter-
bezahlten Arbeit nachgehen14. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt in Japan
wie in anderen Ländern mit ähnlich rigiden, überbezahlten Arbeitsmärkten,
mittlerweile 20% der zwischen 15 und 24jährigen. 1,4 Millionen junge
Menschen bezahlen den Preis dieses Politikversagens.
Die meisten Unternehmen haben auf die Nachbesetzung durch Frühpen-
sionierungen freiwerdender Stellen verzichtet und das Teilzeitangebot von
15% der Gesamtarbeitsplätze (1997) auf 25/30% (2004) ausgeweitet. Für
den Einzelhandel und die Bauwirtschaft ist der Teilzeitarbeiter seither ty-
pisch geworden.
Bei allen Arbeitsplätzen in Japan herrscht eine strenge Arbeitsdisziplin.
Pünktlichkeit, Gehorsam und Einsatzfreude werden vorausgesetzt. Das
Design und die Ausstattung von Fabrikhallen und Großraumbüros sind
spartanisch und funktional. Von Ministerbüros und Chefetagen abgesehen,
gibt es nur Blechmobiliar. Die Arbeitsplätze sind dabei hygienisch ein-
wandfrei, physisch meist sicher, mit einer Grundinfrastruktur für die sozia-
le Wohlfahrt der Mitarbeiter – von erschwinglichem Kantinenessen bis zu
Arbeiterwohnheimen, Kinderkrippen und Urlaubsquartieren. Die Arbeits-
zufriedenheit erscheint hoch. Absenteismus, Vandalismus und militante
Arbeitskämpfe sind so gut wie unbekannt. Stattdessen werden mehr oder
minder freiwillige Verbesserungsmechanismen wie Qualitätszirkel oder
kaizen unter weiter Beteiligung der Belegschaften angenommen. Wenn die
Anreize positiv und entsprechend großzügig dotiert sind, sogar mit einiger
Begeisterung ohne sichtbaren Gruppenzwang.
Wie erwähnt reagierten die Unternehmen auf sinkende Umsätze und er-
höhte Verluste allesamt mit der Reduktion der Lohnkosten, die damit von
einer fixen zu einer variablen Größe wurden. Die Methode waren Einstel-
lungsstops, Frühpensionierungen (ab 54 Jahren als Norm), Outsourcing an
billigere Lieferanten oder gleich nach China, Teilzeitarbeit, der Wegfall
der Boni und Überstundenvergütungen, und direkte Lohnkürzungen – al-
lerdings auch beim Management.
Arbeitslosengeld wird in Japan nur 9 Monate lang gezahlt, für Arbeitslose
unter 30 Jahren nur für drei Monate. Danach ist Schluss. Die 60.000 in or-
dentlichen Zeltstädten in Innenstadtparks hausenden obdachlosen Langzeit-
arbeitlosen schlagen sich mit dem Einsammeln von Dosen und Altpapier
durch. Oft mögen sie nicht einmal als Arbeitslose gezählt werden. Denn wer
länger als eine Stunde die Woche arbeitet, gilt sozialstatistisch als beschäftigt.

14
Akira Kojima, in: Japan Economic Review 15.2.2004.
Gewerkschaften, Frauenarbeit, Demographie 61

Neben jenen 3,5 Millionen formalen Arbeitslosen (5% der Arbeitnehmer)


gelten 15% als unterbeschäftigt. Die Dunkelziffer ist deshalb wie in
Deutschland sehr hoch. Oft merkt es nicht einmal die eigene Familie. Denn
häufig geht der Arbeitslose allmorgendlich weiter im Anzug aus dem Haus,
bis er sich irgendwo verzweifelt aufhängt. Politisch äußert sich kein Protest
der 3 Millionen Arbeitslosen. Die Jungen leben noch zuhause bei ihren El-
tern. Die Alten leiden stoisch – und leben von ihren Ersparnissen.
Hatten in den 90er Jahren die meisten Großfirmen Skrupel, sich von
langjährigen Stammarbeitern zu trennen und schoben sie lieber in schlech-
ter bezahlende Tochterunternehmen oder einvernehmlich in die Frühpensi-
on ab, so gibt es diese Zurückhaltung mittlerweile kaum noch. So haben in
den letzten Jahren Firmen wie Sony, NEC, Toshiba, All Nippon Airways,
JAL, Sega, Hitachi, Mitsubishi Chemical, NKK, Asahi Glass, Nissan und
sämtliche Großbanken Massenentlassungen von über 1000 Mitarbeitern
angekündigt und durchgeführt. Am beliebtesten war es, um das überbesetzte
Mittelmanagement abzubauen, die teuren qualifizierten Angestellten von
über 45 herauszuwerfen. Der Tod des sprichwörtlichen Salaryman sozusa-
gen. Allerdings kommt das zweifelhafte Vergnügen nicht billig. So betragen
die Trennungsgelder pro entlassenen Stammmitarbeiter in Japan € 150.000
(in Deutschland zum Vergleich im Schnitt € 25.000). Die Börsenkurse der
betroffenen Unternehmen machen deshalb – anders als in New York oder
London – bei solchen Aderlässen keine Freudensprünge.
Trotz der hohen Arbeitslosigkeit gibt es weiter Schwierigkeiten in den
Großstädten Arbeitsplätze zu besetzen, die als schmutzig, gefährlich oder
unangenehm gelten und zudem schlecht bezahlt werden, z.B. in der Alten-
pflege. So gibt es Pläne, in dem vergreisenden Land als erste signifikante
Öffnung der Arbeitsmärkte zu diesem Zwecke philippinischen und thai-
ländischen Krankenschwestern Arbeitsgenehmigungen zu erteilen. Auch
gibt es in manchen Branchen wegen den in den 90er Jahren verfügten Ein-
stellungstops mittlerweile einen Mangel an erfahrenen Industriearbeitern.
Häufig wird den Japanern dann der scheinbar gut gemeinte Rat gegeben,
sie könnten ihre demographischen und Arbeitsmarktprobleme ähnlich wie
Europa und Nordamerika durch den massenhaften, kaum kontrollierten
Import unqualifizierter Immigranten aus aller Herren Länder lösen. Nach-
dem das Sozialministerium die hohen Folgekosten (sowohl für die Emp-
fänger- wie für die Herkunftsländer) systematisch über die Jahre eruiert
hat, werden solche Migrationspolitiken für Japan konsensual weiter abge-
lehnt. Derzeit leben 1,8 Millionen Ausländer in Japan, die meisten davon
sind als Ergebnis der Kriegswirren Koreaner und Chinesen. Teilweise sind
sie für Außenstehende ununterscheidbar in die japanische Gesellschaft gut
62 Gewerkschaften, Frauenarbeit, Demographie

integriert, teilweise leben sie wie Nordkoreafans unter den Koreanern in


streng geschiedenen Parallelgesellschaften.
Die Japaner, die bis Mitte der 50er Jahre Massenarmut erfahren muss-
ten, sind nach allen Umfragen im Regierungsauftrag zu etwa 65% mit
ihren Lebensumständen und -standards zufrieden. Die materiellen Stan-
dards sind hoch. So gut wie alle Haushalte besitzen die in Industrielän-
dern üblichen langlebigen Verbrauchsgüter wie Farbfernseher, CD Spie-
ler, Kühlschränke, Klimaanlagen, Waschmaschinen, Telefone, Kameras
und Pkws, zwei Drittel auch Schnurlostelefone und PCs. Dagegen sind
die Lebensbedingungen zumal in den Metropolen weiter hart. Die durch-
schnittliche Wohnungsgröße beträgt gerade einmal 90m². Die zum tägli-
chen Pendeln in überfüllten Vorstadtzügen und U-Bahnen verwendete
Zeit beträgt 2-3 Stunden im Schnitt, kann aber häufig auch 4-5 Stunden
dauern. Gerade bei Teilzeitjobs muss ein Großteil des Arbeitstages in
öffentlichen Verkehrsmitteln verwendet werden. Parkflächen betragen in
Tokyo und anderen Großstädten gerade einmal 2m² pro Einwohner. Öf-
fentliche Amüsements und Attraktionen sind sehr schnell überfüllt. Des-
halb ist das knapp bemessene Freizeitleben der Arbeitnehmer eher mit
passivem Zeitvertreib erfüllt: Umtrünke und Essen, Fernsehen, Musik-
und Sportkonsum, Surfen im Internet und Glückspiele mit niedrigem
Einsatz wie Pachinko und Sportwetten.
Seit 1986 hat Japan ein Gesetz zur beruflichen Chancengleichheit, um das
Verfassungsgebot der Gleichberechtigung von Mann und Frau auch am Ar-
beitsplatz durchzusetzen. Da es ursprünglich keine Sanktionen enthielt, be-
eindruckte das Gesetz die Firmenwelt und ihre Personalabteilungen nicht
sonderlich. Im Jahr 1999 wurde es deshalb durch Strafbestimmungen ver-
schärft. So wurde Nomura im Jahr 2002 zu $ 425.000 Schadensersatz an 12
Mitarbeiterinnen verurteilt, die es wie alle Frauen jahrelang von internen
Prüfungen ausgeschlossen hatte, deren Bestehen eine Voraussetzung für
Beförderungen ist. Das Gesetz verlangt von Firmen „Anstrengungen“ zu
unternehmen, um Frauen Gelegenheit zum firmeninternen Arbeitsplatz-
wechsel (job rotation), zu Managementausbildungen und Beförderungen zu
geben. Geschlechtsspezifische Restriktionen bei Arbeitsplatzbeschreibungen
und „Sonderbedingungen“ in Anstellungsverträgen für weibliche Mitarbeiter
wurden untersagt. Solche Sonderbedingungen verlangten häufig, unverheira-
tete Mitarbeiterinnen müssten entweder bei ihren Eltern oder in einem Fir-
menwohnheim wohnen und ein niedrigeres Anfangsgehalt, den Ausschluss
von Aufstiegsprüfungen und das Laufbahnmuster einer Bürohilfskraft dau-
erhaft akzeptieren.
Gewerkschaften, Frauenarbeit, Demographie 63

Im Prinzip gibt es für Angestellte zwei Laufbahnen: die für potentielle


Führungskräfte (sogo shoku) und die für Sekretariats- und einfache Sach-
bearbeitertätigkeiten (ippan shoku). Bisher sind erst 2,2% aller Sogo-
Shoku-Stelleninhaber Frauen. Bei Banken, Versicherungen und anderen
Finanzdienstleistern ist der Frauenanteil auf der untersten Karrieresprosse,
bei Gruppenleitern (kakaricho), „schon“ auf 10% geklettert. Jenseits offe-
ner Diskriminierungen sind die ruppigen Eigenheiten der japanischen Per-
sonalpolitik ernsthafte Hindernisse. Dazu zählt als beliebte Praxis, den
Sogo-Shoku-Angestellten nach Samurai-Art jederzeit an entlegenste Ein-
satzorte als Härte- und Bewährungstest zu schicken. Er geht unter Rück-
lassung seiner Familie allein in die entsprechende Einöde. Für Frauen mit
Kindern ist dies nicht machbar. Von Sogo-Shoku-Kadern erwartete und
übliche Überstunden sind die zweite große Barriere. Nicht nur ist deshalb
die Karrierefrau kaum in der Lage, Hausarbeit und Kindererziehung zu
leisten. Ihr Ehegatte ist in den japanischen Metropolen wegen Überstun-
den, sozialer Verpflichtungen und Pendlerzeiten gleichfalls nur selten vor
Mitternacht zuhause. Gegenwärtig arbeiten voll berufstätige Frauen 164
Stunden im Monat (an 22 Arbeitstagen). Männer arbeiten 182 Stunden im
Monat. Zwar ist die Berufstätigkeit von Müttern mittlerweile sozial akzep-
tiert (sie war es als Feldarbeit in der Agrargesellschaft und in der Rüs-
tungswirtschaft vor 60 Jahren ohnehin), doch ruht die Haus- und Kinderar-
beit weiter überwiegend auf den Schultern der Frau. So verbringt der
statistische Durchschnittsmann gerade einmal 11 Minuten täglich bei bei-
dem. Real dürfte sich sein häusliches Engagement darin erschöpfen, sein
statistisches Einzelkind am Sonntag zum Baseball zu fahren.
In Japan gibt es knapp 23.000 Kinderkrippen und -gärten mit zwei Mil-
lionen Plätzen für insgesamt sechs Millionen Kleinkinder im Alter von bis
zu 4 Jahren. Nur für wenige Berufsgruppen im öffentlichen Dienst (Lehrer,
Krankenschwestern, Erzieherinnen) gibt es die Möglichkeit, ein Jahr unbe-
zahlten Erziehungsurlaub zu nehmen.
Bettlägerige oder senile nahe Verwandte – deren Gesamtzahl angesichts
stetig steigender Lebenserwartungen auf bald 2 Millionen geschätzt wird –
werden zu 90% in häuslicher Pflege von ihren Familien versorgt. Diese
Arbeit trifft wieder in erster Linie Frauen: Schwiegertöchter, Ehefrauen
und Töchter.
Nach Studien von Rengo (2002) liegen die Durchschnittslöhne (ein-
schließlich Boni und Überstunden) weiblicher Arbeitnehmer bei nur rund
zwei Dritteln des Durchschnittswerts der Männer. Die Gewerkschaft er-
klärt dies mit ihrem niedrigeren Bildungsniveau, ihrem jüngeren Durch-
schnittsalter, kürzerer Beschäftigungsdauer, einfacheren Tätigkeiten und
64 Gewerkschaften, Frauenarbeit, Demographie

niedrigeren Positionen, vermehrter Teilzeit und Beschäftigungen in KMU


mit geringeren Löhnen. So haben 41% der Frauen Teilzeit gearbeitet, und
nur 14% der Männer (2002).
Im Jahr 2004 waren in Japan 22 Millionen Frauen berufstätig. Das ent-
spricht mit 64% der Frauenerwerbsrate Deutschlands. Ihre Berufstätigkeit
wird gewöhnlich während der intensiven Phase der Kindererziehung, in
der Regel also zwischen den 25. und 35. Lebensjahren, unterbrochen. Der
Wiedereintritt in den Arbeitsmarkt erfolgt dann meist in angelernte Teil-
zeitfunktionen ohne Arbeitsplatzsicherheit oder Aufstiegschancen mit nur
geringen Lohnzuwächsen. Hauptzweck ihrer Arbeit ist es, das Familien-
einkommen aufzubessern. Dies erklärt, warum sich die Beschäftigung von
Frauen seit 1994, als nur 9 Millionen erwerbstätig waren, in der Krise mit
ihren erhöhten Arbeitsplatzrisiken für die Jungen und die älteren männli-
chen Brotverdiener mehr als verdoppelt hat. Allerdings trifft die Krise
auch die Frauen: Sie werden bei betrieblichen Problemen als erste entlas-
sen. Bei selektiven Einstellungsstops wird auf die noch oft als „Blumen am
Arbeitsplatz“ angesehenen Office Ladies („OL“) verzichtet, die nach ei-
nem zweijährigen Kurzstudium an einem Frauenkolleg für Hilfstätigkeiten
im Büro, zum Fotokopieren und Teekochen, hauptsächlich aber zur He-
bung des Betriebsklimas und zur Verehelichung mit dem Management-
nachwuchs des Unternehmens engagiert werden.
Die schlechte Behandlung von Frauen in den meisten japanischen Unter-
nehmen ist freilich auch eine Chance für den ausländischen Wettbewer-
ber vor Ort, der bei Rekrutierungen unter männlichen Bewerbern oft nur
die 2. bis 3. Wahl vorfindet, bei qualifizierten Frauen dagegen die Auswahl
unter wesentlich besser motivierten professionellen Kandidatinnen hat.
Die dramatischsten Folgen allerdings hat die Doppelbelastung der Frau-
en als Mütter und Beschäftigte für die demographische Entwicklung Ja-
pans, nachdem junge Frauen dort mit einer nur noch von Koreanerinnen
übertroffenen Radikalität in den Gebärstreik getreten sind. So sank die
Geburtenrate von 5,1 Kindern pro Frau (1925) auf 3,7 Geburten (1950).
Die für die Reproduktion der Bevölkerung nötige Geburtenzahl von 2,1
wurde 1971 unterschritten. Danach ging es weiter regelmäßig abwärts, auf
derzeit 1,25 (2005). Auch ein niedliches kaiserliches Baby oder glückbrin-
gende Jahreshoroskope vermochten den Trend nicht aufzuhalten, ge-
schweige denn umzukehren. Noch vor einem Jahrzehnt war das 25. Le-
bensjahr das magische Alter für den Eheschluss der Frauen, auf den Eltern
wie Arbeitgeber nachdrücklich hinwiesen. Wer den Termin verpasste, galt
als old miss, als schwer vermittelbare Jungfer. Heute sind 54% der Japane-
rinnen zwischen 25 und 29 unverheiratet. Zwischen 30 und 34 Jahren sind
Gewerkschaften, Frauenarbeit, Demographie 65

es 26%15. Unter Studentinnen halten gerade einmal 12% eine Ehe noch für
erstrebenswert. Bei den Männern sind es immerhin noch 30%. Statt sich
mit Ehe-, Familien- und Berufspflichten abzumühen, scheint das von den
Medien und der Konsumwerbung propagierte Single-Dasein für die meis-
ten verlockender. Als „Moratoriums-Generation“ verschiebt man das ei-
genverantwortliche Erwachsenenwerden tunlichst, lebt weiter bei den ei-
genen Eltern und hat das ganze Einkommen für Modeartikel, Schönheit,
Dinieren, Reisen, Kultur und endloses Amüsement zur Verfügung. So war
die Großgruppe der weiblichen „parasitischen Singles“ die einzige, die
während der Deflationskrise ihre Konsumausgaben steigerte, weiter über-
teuerte Luxus- und Designerartikel kaufte und für modische Mini-Booms
wie für Hundesalons und Nagelstudios sorgte.
Bislang half die wachsende Lebenserwartung von 85,1 Jahren für Frau-
en und 77,9 Jahren für Männer (sie soll sich bis 2045 auf eigentlich sehr
erfreuliche 92,5 Jahre für Frauen und 83,7 Jahre für Männer steigern)
durch fallende Todesraten die sinkenden Geburtenraten aufzufangen und
so die freilich rapide alternde Gesamtbevölkerungszahl bei 127 Millionen
stabil zu halten. Dieser Trend ist offensichtlich nicht unendlich fortsetzbar.
Seit 2005 ist die Bevölkerung Japans mit minus 19.000 auch absolut rück-
läufig. Bis 2030 wird die Einwohnerzahl auf 121 Millionen und bis 2050
auf 109 Millionen sinken. Nur Russland wird einen noch drastischeren
Absturz erleiden: von derzeit 145 Millionen auf 119 Millionen (2030) und
101 Millionen (2050).
In Japan wird der Anteil der über 65jährigen von 17,3% (2000) auf
35,7% (2050) steigen. In Deutschland zum Vergleich von 16,4% auf 31%
im gleichen Zeitraum.
Woher aus einer überalterten, schrumpfenden Bevölkerung wirtschaftli-
che Wachstumsimpulse kommen sollen, bleibt schleierhaft. Man mag den
„Silbermarkt“ bedienen und Babynahrung zur Seniorenkost umetikettieren.
Der Markt wird in den Segmenten Pharma, medizinische Hilfsmittel und
Pflegedienste wachsen. Es werden bequemere Autos, Schuhe mit Klettver-
schluss, leichter bedienbare Elektronikprodukte, größere Druckbuchstaben,
Fertigessen in immer kleineren und fettfreien Portionen und klassische
Textilien als ewiger Freizeitlook angeboten werden. So werden jetzt schon
in Japan für jene 25%, die über 65 Jahre alt sind und über genügend Zeit
und über 53% aller Guthaben verfügen, erfolgreich nachgebaute Nostal-
giesportwagen wie der Nissan Fairlady verkauft. Yamaha vertreibt Musik-
instrumente mit Technologien zum Üben im Selbststudium. Als Club-

15
„Beschleunigter Geburtenrückgang in Japan“ Neue Zürcher Zeitung 7.2.2002.
66 Gewerkschaften, Frauenarbeit, Demographie

Tourismus wird themenorientiertes Reisen (Religion, Malen) für Alte or-


ganisiert. Shiseido schließlich entwickelte eine Anti-Aging-Hautcreme für
diese Zielgruppe.16 Gesamtgesellschaftliche Investitionen und Innovatio-
nen werden jedoch unweigerlich sinken. Das Kapital wird als Anleihever-
mögen ins Ausland strömen. Es wird massiv entspart. Die physische und
soziale Infrastruktur wird zurückgebaut. Statt Wohn- und Straßenbau ha-
ben Abbruchunternehmen Konjunktur.
Wer sich gegen die Umwelt versündigt, den bestraft gnadenlos die Na-
tur. Eine Gesellschaft, die ihre Mütter schlecht behandelt, wird von der
Demographie genauso abgestraft, und sei es um den Preis des nationalen
Aussterbens. In Japan, wo 70% des Sozialhaushaltes weiter für die Senio-
renfürsorge und nur 4% für Kinderzulagen aufgewandt werden, sind ernst-
hafte politische Reaktionen auf die mittlerweile weitverbreitete Problem-
einsicht nicht sichtbar, genausowenig übrigens wie in ähnlich betroffenen
Nachbarländern Ostasiens oder in Ost- Mittel- und Südeuropa.

16
Financial Times. Special report: Investing in Japan. 29.3.2006.
6 Japanisches Management

6.1 Führungsstile, Wirtschaftsethik,


Unternehmensorganisation und Karrieren

In den 70er und 80er Jahren wurden die Elemente des konsensualen und
paternalistischen Managements in Japan – von arbeitslebenslangen Be-
schäftigungen bis hin zu minutiös geplanten Produktionsabläufen, Quali-
tätszirkeln und aggressiv konzertierten Absatzoffensiven – als Erfolgsre-
zepte zur Weltmarkteroberung gefeiert und gefürchtet. Seit der Krise der
90er Jahre gelten genau die gleichen Elemente als Synonyme für Ineffi-
zienz, Kapitalvernichtung und vorhersehbares Scheitern. Die Wahrheit liegt
wohl wie immer in der Mitte. Aber in welcher Mitte?
Es wäre naheliegend, die Ikonen des japanischen Unternehmertums, die
ihre Weisheiten und Einsichten zu Papier brachten, direkt zu konsultieren.
Konosuke Matsushita allein hat in 46 Büchern und Broschüren die Saga
vom Aufstieg seines Konzerns und sein Verständnis vom Weltfrieden,
Wohlstand und der Güte der Menschheit zu Papier gebracht1. Akio Morita2
und Soichiro Honda3 hielten sich ebenfalls mit ihren Einsichten zur Lage
der Menschheit, der angemessenen Rolle Japans in der Welt, der Größe
und Zukunft ihrer Firmen und ihrer richtigen Führung nicht zurück. Mitt-
lerweile ist die allseits verehrte Generation der großen Unternehmensgrün-
der auch in Japan nahezu vollständig abgetreten. Eine Ausnahme ist Kazuo
Inamori, der nach dem Krieg Kyocera (Kyoto Ceramics) als Spezialist für
Isolatoren und andere Industrieanwendungen keramischer Werkstoffe grün-
dete und seither sein Unternehmen erfolgreich in Telefondienstleistungen
(DDI und Nippon Iridium) diversifizierte. Doch auch seine Management-
weisheiten4 klingen eher nach: „Üb immer Treu und Redlichkeit …“, und:
„Wer immer strebend sich bemüht …“. Sie passen eher ins Poesiealbum,

1
Ein Beispiel: Konosuke Matsushita. My Management Philosophy. Kyoto 1978.
2
Akio Morita. Made in Japan: Akio Morita and Sony. New York. 1986.
3
Tetsuo Sakiya. Honda Motor: The Man, the Management, the Machines. New
York. 1982; Sol Sanders. Honda. The Man and his Machine. Boston 1975.
4
Kazuo Inamori. A Passion for Success. New York 1995.
68 Japanisches Management

scheinen kaum als operative Handlungsgrundsätze tauglich. So unter-


streicht Inamori den Wert der Hingabe, Geduld und Liebe zur Arbeit; mit
optimistischer Ausdauer trotz Widrigkeiten nie aufzugeben; Freizeit und
Amüsement hintanzustellen; von den Älteren zu lernen um ihre Fehler
nicht zu wiederholen; als Führungskraft die Mitarbeiter mit zupackendem
Optimismus zu inspirieren; mit Geschäftspartnern stets Win-Win-Situatio-
nen anzustreben um dauerhaft profitable Beziehungen zu erhalten; recht-
zeitige Reserven gegen Misserfolge und für neue Operationen zu bilden und
als strategisches Prinzip: Umsätze maximieren, Kosten minimieren. Dann
kommen die Gewinne automatisch. Wichtig natürlich auch: der Weltfrieden
und die eigene Gesundheit. Inamori entwickelt als Grundgleichung für den
Lebenserfolg = Fähigkeit * Anstrengung * Einstellung.
Natürlich sollte jeder der Faktoren positiv sein, sonst gerät der Lebens-
erfolg negativ.
Von seinen Prinzipien leitet er als japanische Managementkonzepte die
Arbeit in überschaubaren Arbeitsgruppen und dezentralen Geschäftseinhei-
ten (profit centres) und einen ursprünglichen Bottom-Up-Ansatz durch
Ringi-Sho-Dokumente für die Erstellung der alljährlichen Entwicklungs-,
Produktions- und Verkaufspläne ab (die dann von der Firmenleitung in
einen Masterplan mit jeweiligen Monatszielen umgesetzt werden). Wie
schon bei Matsushita sehen wir hier Elemente buddhistischer Mensch-
heitsbeglückung und Selbstverbesserung sowie eine konfuzianische Ar-
beitsethik verbunden mit der Verehrung des Alters und der Seniorität.
Ganz entscheidend ist bei diesen Traktaten wie im japanischen Personal-
management allgemein immer die Frage nach der persönlichen Einstel-
lung. Der augenblickliche Erfolg ist relativ nachrangig. Wer ernsthaft sich
bemüht hat, kann auch bei temporären Misserfolgen stets mit Nachsicht
rechnen. Auch Matsushita wollten in seiner Garage die Glühbirnenfassun-
gen zunächst nicht gelingen. Inamori musste in seinem Keramiklabor
kämpfen. Keiner gab auf. Die erbauliche Moral: Des Menschen Wille ver-
setzt Berge. Das ist das voluntaristische Grundprinzip aller fernöstlichen
Managementweisheit. Der Rest ist eigentlich nur eine Mischung aus stren-
ger Disziplin und patriarchaisch-partizipativen Methoden, die im japani-
schen Kontext eine starke Unternehmenskultur und ein hohes Maß an Un-
ternehmensidentifikation bewirken. Matsushita und Inamura untertreiben
kaum: der Anteil an altmodischem Hausverstand in den Unternehmensfüh-
rungen erscheint deutlich höher als der der tieferen Einsichten amerikani-
scher business schools. Interessant ist übrigens, dass die universitäre Be-
triebswirtschaft in Japan genauso wenig unter den führenden 100 Schulen
Führungsstile, Wirtschaftsethik, Unternehmensorganisation und Karrieren 69

der Welt, die von der Financial Times alljährlich zusammengestellt wer-
den, auftaucht wie irgendeine deutsche Institution5. Vielleicht kann eine
Volkswirtschaft ja auf gut ausgebildete MBAs ohne sichtbaren Schaden
verzichten.
Noch bis Anfang der 90er Jahre erstrebte das von kommerziellen Erfol-
gen, billigem Kapital, der Stärke des Yen und der Schwäche vieler auslän-
discher Wettbewerber beflügelte japanische Management die Weltmarkt-
führerschaft in Schlüsselsektoren, die auf technologie- und kapitalinten-
siven Massenfertigungen (Elektronik, Kraftfahrzeuge) beruhten. Dies
geschah weniger aus Allmachtsfantasien heraus als vielmehr aus der büro-
kratischen Logik und Hoffnung, von der Position der Marktführerschaft
die Weltpreis- und Produktentwicklungen besser steuern zu können. Durch
ein vorhersehbareres Unternehmensumfeld sollte ein langfristiges Überle-
ben und Wachstum gesichert werden. Das Umsatz- und Wachstumsziel
tendierte dazu, sich mit der wachsenden Irrelevanz tatsächlicher Gewinne
zu verselbständigen. Eine für Außenstehende kaum noch nachvollziehbare
Diversifizierung diente diesem Ziel. Folgen wir den Konzernliteraturen,
dann schien stets die Absicht entscheidend, irgendwo „Nummer eins“ zu
werden: beim Umsatz, dem Personalstand, dem Ausstoß, den Patentzahlen,
der Modellvielfalt etc.
Während die Strategie mit aggressiven Marktdominanzzielen und der
Organisationsdisziplin eher militärisch anmutet, sind Modus operandi,
Personalführung und Entscheidungsweise deutlich bürokratisch. Die Cha-
rakterisierung einer quasi-militarisierten Bürokratie bedarf der Erläute-
rung. Es wäre verlockend, auf den Geist der Samurai rekurrieren zu kön-
nen, aus deren Stand viele Firmengründer (und wenn man sie fragt, ein
Gutteil der aktuellen Manager) entsprangen. Allein der Geist des bushido
ist unter den konformistischen Firmen-Kriegern in ihren grauen Büroanzü-
gen nur mit einer Überdosis romantischer Fantasie zu erspähen. Tatsäch-
lich gibt es zwei quasi-militärische Elemente in den Großfirmen:
1. Die planvolle, systematisch angelegte Eroberung von Märkten und
Marktanteilen, die aggressive Verteidigung existierender Märkte,
der ständige Versuch Mitbewerber zu verdrängen, gefügig zu ma-
chen, zu marginalisieren, als Subunternehmen abhängig zu machen,
falls nützlich zu übernehmen, und, sofern nötig, zu vernichten.

5
Financial Times „Special report: Business education“ 30.1.2006.
70 Japanisches Management

2. Die „totale Organisation“ im Inneren: Uniformierung, Initiationsriten,


Kasernierung (der nicht verheirateten Belegschaftsmitglieder), Hie-
rarchisierung, strenge Disziplin (Pünktlichkeit, Gehorsam, Hingabe
ans Unternehmensziel), geringe Freizeit, organisierte Gruppenakti-
vitäten, Morgenappelle, gemeinschaftliches Kantinenessen, Männer-
kultur, paternalistische Fürsorgepflichten, Intoleranz von Dissidenz,
Mangel an Privatheit im Dienst, Zweitrangigkeit des Familien-
lebens. Ein waffenloser Grundwehrdienst sozusagen.
Die soziale Umwelt japanischer Unternehmen ist geprägt von dem gesell-
schaftlichen Konsens Japans, der auch von seiner politisch-administrativen
Elite propagiert und geteilt wird: der absoluten Priorität für das wirtschaft-
liche Wachstum und die Sicherung der ökonomischen Prosperität Japans.
Alle anderen sozialen, kulturellen oder ökologischen Systemziele sind
demgegenüber nachrangig.
Japans Wertsystem beruht auf der konfuzianischen Ethik, die während
des dreihundertjährigen Tokugawa-Shogunats bis vor hundertfünfzig Jah-
ren verbindliche Staatsdoktrin war und weiter einflussreich blieb. Die
wichtigsten Normen des Konfuzianismus (der bekanntlich eine werteorien-
tierte Staats- und Gesellschaftsphilosophie ist und keine Religion darstellt)
sind: eine hierarchisch geordnete Gemeinschaft mit Führungsrollen, die
sich durch „Tugend“, d.h. eine uneigennützige Gemeinwohlorientierung,
und überlegenes Wissen auszeichnen; Seniorität als Respekt vor dem Al-
ter, Erfahrung und den Vorfahren; Großfamilien mit männlicher Führung;
soziale Konformität und Pflichterfüllung. Entsprechende Tugenden sind
Fleiß, Lerneifer, Loyalität, Gehorsam, Selbstdisziplin, harte Arbeit, Stren-
ge, Respekt vor gerechten Gesetzen, legitimer Herrschaft und verdienten
Älteren und Ahnen. Dies ist vergleichbar mit einer Mischung aus protes-
tantischer Ethik und Kantschem kategorischen Imperativ in einem kollek-
tiv-autoritären Kontext.
Solche konservativ-kollektiven Normen entsprachen auch der Reiskultur
des ländlichen Japan, das im vorindustriellen Japan jahrtausendelang bis in
die Nachkriegszeit hinein prägend blieb: der dörfliche Zwang gemeinsam
Bewässerungssysteme zu unterhalten, zum gleichen Zeitpunkt in die geflu-
teten Felder die Reisschösslinge auszupflanzen und sie nach der Reife
dann auf den getrockneten Feldern gemeinsam zu ernten.
Kulturell zeichnet sich Japan seit jeher durch eine große Adaptionsfä-
higkeit aus. Es hat schon immer fremde – zunächst koreanische, dann chi-
nesische, später europäische und seit dem 2. Weltkrieg amerikanische –
Kulturelemente und Technologien aufgenommen, verfeinert und seinen
Führungsstile, Wirtschaftsethik, Unternehmensorganisation und Karrieren 71

Bedürfnissen entsprechend umgesetzt. So kaufte Japan – bis in die 70er


Jahre hinein ein scheinbar marginaler Markt – billig über 100 Jahre hinweg
systematisch europäische und amerikanische Lizenzen und Patente ein. Es
ist in Japan nicht ehrenrührig, fremde Konzepte zu absorbieren (auch zu
plagiieren), und eine Idee wird nicht nur deshalb als schlecht angesehen,
weil man sie nicht selbst als erster gehabt hat. Letztlich verlangen die A-
daption und die kommerzielle Umsetzung und Vermarktung einer fremd-
entwickelten Technologie auch eine gewisse Kreativität, die über die simp-
le „Imitation“, wie sie von chinesischen Konzernen derzeit gerne – auch
mit japanischen Produkten – praktiziert wird, deutlich hinausgeht.
Gefördert wird die Produktivität japanischer Unternehmen von einem ho-
hen Ausbildungsstand in der japanischen Bevölkerung – 96% eines Alters-
jahrgangs absolvieren die Oberschule, 40% studieren, 20% besuchen nach
der Oberschule berufsqualifizierende Akademien. Der ökonomische und,
wie wir von den Pisa-Tests der OECD wissen, der mathematisch-natur-
wissenschaftliche Wissensstand der Gymnasiasten und Oberschulabsolven-
ten ist höher in Japan (und in Korea) als in Nordamerika oder in Europa,
auch wenn die Wissensvermittlung des Bildungssystems sehr stark auf im
realen Leben wenig relevantes abfragbares Prüfungswissen abzielt. So bleibt
trotz (oder vielmehr wegen) eines jahrzehntelangen Englischunterrichts mit
endlosen Übersetzungs- und Grammatikübungen die aktive Sprachbeherr-
schung des Englischen der meisten Japaner weiter unverbesserlich schlecht.
Ein weiterer guter Indikator für Volksbildung ist die Verbreitung von
Qualitätszeitungen. Deren größte, die Yomiuri Shimbun, hat eine landes-
weite Tagesauflage von 14,5 Millionen. Davon können in England und
Deutschland selbst die Boulevard-Blätter nur träumen. Doch auch die gro-
ßen Regionalzeitungen bemühen sich wie in Deutschland um Qualitätsbe-
richterstattung. Die Zeitungsverbreitung ist mit 1,1 Exemplaren pro Haus-
halt sehr hoch6.
Unternehmensziele sind in Japan, wie erwähnt, ziemlich eindeutig de-
finiert als langfristiges Überleben, das durch eine möglichst weitreichen-
de Marktdominanz gewährleistet werden sollte. Diese Marktdominanz
wird als Großteil der Marktanteile und Preisführerschaft operationali-
siert. Sie wird für Endverbrauchsprodukte ebenso erstrebt wie für Kom-
ponenten, für regionale innerjapanische Märkte, für den nationalen Markt
sowie für überseeische individuelle Märkte – mit dem Erfolg auf dem

6
Marc Loehr. „Zeitung machen in Japan“ in: Hilaria Gössmann und Franz Wal-
denberger (Hg.). Medien in Japan. Hamburg 2003, 195-212. S. 208.
72 Japanisches Management

schwierigsten und lukrativsten US-Markt als Ritterschlag (der Einstieg wird


nahezu unweigerlich via Hawaii, gefolgt von Kalifornien versucht) – wie
letztendlich – jedoch bislang unerreicht – für den Weltmarkt insgesamt.
Dieses Dominanzziel entspricht dem bürokratischen Vorhersehbarkeitsbe-
dürfnis, das der Erfahrung einer bürokratischen Organisation im täglichen
Überlebenskampf eines Cut-Throat-Wettbewerbs auf dem japanischen
Markt entspringt: Imponderabilien sollten möglichst eliminiert und tunlichst
durch das alle Unsicherheiten beseitigende Diktat der Konzernzentrale er-
setzt werden. Entsprechend soll möglichst die ganze Wertschöpfungskette –
von den Rohmaterialquellen bis zu den End-Verkäufern – in tunlichst weit-
gehende Abhängigkeit gebracht werden. Ideal wären die Hauptzulieferer,
nachgeordnete Lieferanten und Dienstleister und Abnehmer dann reine
Tochterunternehmen – als solche zentral kontrollierbar und als letzte irdi-
sche Jagdgründe für entsandtes zweitklassiges Führungspersonal nutzbar.
Wo ein Verdrängungswettbewerb solche oligopolistischen Gewisshei-
ten als Ergebnis nicht zu bringen verspricht, da akzeptiert man auch gern
das Gegenteil: die Kartellabsprache als Waffenstillstand. In reifen Märk-
ten erfolgt die Marktaufteilung per Preisabsprache. So war der Bierpreis
der vier großen und einzigen Brauer mit dem Segen des MITI im Einzel-
handel zwei Jahrzehnte lang bei 360 Yen pro halbem Liter stabil. Andere
Kartelle werden beim Schiffbau, Stahl, Zement, Glas und in der Bauwirt-
schaft toleriert. Die staatliche Reglementierungen schaffen auch in der
Landwirtschaft, der Nahrungsmittelindustrie, bei der Telekommunikati-
on, im Gesundheitswesen, im Straßengütertransport, beim Strom, Gas,
Wasser und im Bankwesen Schutz vor Wettbewerb, höhere Renditen,
hohe Verbraucherpreise und Ineffizienz7. Aus all dem spricht die unstill-
bare Sehnsucht der Konzernzentralen nach 5-Jahresplänen. Vielleicht ist
das Bonmot von Japan als der einzigen kommunistischen Wirtschaft, die
funktioniert, so überspitzt doch nicht.
In jedem Fall beschäftigt sich ein japanisches Unternehmen intensiv mit
den Produkten, Entwicklungen und Strategien der Konkurrenz, um unlieb-
samen Überraschungen vorzubeugen. Es wäre japanischen Autoherstellern
nie wie ihren europäischen Wettbewerbern widerfahren, völlig unvorbereitet
von der blitzkriegartigen japanischen Marketingoffensive der 70er Jahre
überrannt zu werden. Sie war mit generalstabsmäßiger Planung und Präzi-
sion erfolgt:

7
David Pilling „How could a corporate sector that dominated the world a decade
ago have become so unproductive“ Financial Times 21.4.2003; „Business in
Japan“ The Economist 27.11.1999.
Führungsstile, Wirtschaftsethik, Unternehmensorganisation und Karrieren 73

Jahr 1: Eroberung der Peripherie ohne eigene Autoproduktion:


Norwegen, Island, Portugal, Griechenland;
Jahr 2: Eroberung Englands, das Land mit der schwächsten Pro-
duktion;
Jahr 3: Eroberung des Benelux als Brückenkopf auf dem Konti-
nent;
Jahr 4: Angriff auf den deutschen Markt, den härtesten der
damaligen EG worauf die europäische Politik für Import-
bremsen um Hilfe gerufen wurde …
Schließlich erfolgte in den 80er Jahren die Konsolidie-
rung ihrer Eroberung durch Produktionsstätten in England
innerhalb der potentiell bedrohlichen EU-Mauern. Nicht
umsonst schrieben französische Medien von trojanischen
Pferden. Mittlerweile macht den Japanern dort der hohe
Kurs des britischen Pfunds schwer zu schaffen.
In Wachstumssektoren suchen japanische Betriebe durch aggressive Ver-
doppelungsstrategien beim Produktionsausstoß und bei Markteroberungen
vorauszueilen8. Gleichzeitig wird die Produktinnovation so beschleunigt,
dass Verbraucher alle 6 Monate verbesserte und billigere Modelle erwarten
können – bis die Konzerne spätestens in der Deflationskrise schmerzlich
bemerkten, dass sie nicht nur der Konkurrenz, sondern auch sie selbst sich
die Preise und Märkte kaputtmachten. Die halbjährig verkürzten Produkt-
zyklen begannen selbst im technologieverliebten Japan die Verbraucher zu
verwirren. Dazu blieben die vielversprechenden Zukunftsprodukte zu kurz
auf dem Markt, um ihre Entwicklungs- und Produktionskosten wieder ein-
zuspielen. Verbraucher lernten, dass sie nur einige Monate zuzuwarten
brauchten, bis das aktuell neue Modell billig verramscht und eine neue
Variante mit marginal verbesserten Funktionen auf den Markt kommen
würde. Gleichzeitig blieben selbst bei relativ geringer Nachfrage viele die-
ser Neuentwicklungen weiter in der Produktion, um mit einer möglichst
weiten Produktpalette alle denkbaren Kundenwünsche durch Eigenferti-
gungen abdecken zu können. So wurden aus Zukunftsmärkten, die die
Wettbewerber nur sehr ungern aufgaben, gerade in Japan verlässliche Ver-
lustbringer.

8
James C. Abegglen und George Stalk. Kaisha. Das Geheimnis des japanischen
Erfolgs. Düsseldorf 1986. S. 11ff.
74 Japanisches Management

In der Produktionspolitik avisierte man die Beherrschung künftiger, unter


optimistischen Prämissen prognostizierter Zielmärkte. Deshalb wurden die
Produktionskapazitäten in Antizipation der als stark wachsend angenom-
menen Nachfrage schon ex ante stark ausgeweitet – und zu deren Errei-
chung auch der Endpreis entsprechend gesenkt. In Europa ist normalerweise
das Umgekehrte üblich. Bei Neueinführungen werden Kapazitäten auch
bei dem Risiko von Engpässen erst im Lichte der empirischen Nachfrage
ausgeweitet, die hohen Einstandspreise erst mit der entsprechenden Massen-
produktion gesenkt.
In Stagnationssektoren werden in Japan dagegen ebenso aggressiv (wie
häufig ziellos) Diversifizierungen in antizipierten Wachstumsbereichen
angestrebt. Auch dabei wurde sehr viel gutes Geld verbrannt. Den Parade-
erfolgsgeschichten von Canon (von Kameras zu Fotokopierern, Druckern
und Druckfarbe) und Kyocera (von Industriekeramik zu Telefonnetzwer-
ken) stehen hunderte teurer Flops gegenüber, bei denen sich Unternehmen
aus geschützten Sektoren wie Schifffahrtslinien, Speditionen, Agrargenos-
senschaften, Bergbau-, Fischerei-, und Baufirmen bei der branchenfrem-
den Entwicklung von Hotels, Ferienorten, Themenparks und Golfplätzen
überhoben9. In den Jahren des Spekulationsbooms und des Gratis-Kapitals
schien es unschwer, die Vorstände für jede Schnapsidee zu gewinnen –
vorausgesetzt, es war in modisch-nebulösen High-Tech- oder Freizeit-
Jargon gekleidet. Für den nationalen Monopolisten Japan Tobacco mochte
es angehen, so viele Zigarettenmarken zu entwickeln, um die Automaten
mit Eigenmarken zu füllen, dass der Importkonkurrenz dort leider, leider
kein Platz mehr blieb. Seine teure Biotech-Forschung dagegen warf bisher
nur ein Low-Tech-Produkt für die Pflanzengeschäfte ab: Blühende Tabak-
pflanzen als Topfblumen.
Die regelmäßig aktualisierten „Visionen“ des Wirtschaftsministeriums
METI begünstigen solche Allmachtsfantasien der Technologie- und Markt-
beherrschung. Streicht man die unverbindlichen Schönwetterphrasen, so
bleibt als offiziöse Vision für Japans Rolle in der Welt: die Japan-AG als
Firmenzentrale, die über die Kontrolle von Kapital, Personal, Forschung
und Know-how die Zukunftstechnologien und -fertigungen der Welt mit
benevolenter Strenge wohlwissend lenkt und seine rüstigen Alten als Cou-
ponschneider mit den Renditen der Kapitalexporte ernährt.
Managementpraktiken reflektieren die dynamischen expansionsorien-
tierten Unternehmensziele. Entscheidungen strategischer Natur werden,
wie zu erwarten, vom Vorstandsvorsitzenden (CEO) gefällt – jedoch erst

9
The Economist 27.11.1999.
Führungsstile, Wirtschaftsethik, Unternehmensorganisation und Karrieren 75

nach Beratungen mit seinen zahlreichen Vorstandskollegen (die sich alle in


dem Unternehmen hochgedient haben) und nach der Konsultation aller
Hauptabteilungen und betroffenen Werksleitungen. Routineentscheidun-
gen dagegen sind an die zuständigen Fachabteilungen und Sachbearbeiter
delegiert, deren konsensfähiger Entwurf dann als formeller Entscheidungs-
akt (ringi sho) von Abteilung zu Abteilung wandernd zur formellen Ab-
segnung „von unten nach oben“ zirkuliert. Wenn genügend Abteilungen
das Deckblatt zustimmend gesiegelt haben, wird das Papier von den meis-
ten Direktionssekretariaten nur noch kursorisch durchgeblättert. Wider-
spruch kommt dann kaum noch. Insgesamt erscheint das japanische Spit-
zenmanagement deutlich delegationsfreudiger („Tun Sie das Notwendige“)
als das europäische. Doch ist die mythische Ringi-Sho-Prozedur mit sei-
nem bottom up in der Substanz nur Routineentscheidungen vorbehalten.
Bei wichtigen Entscheidungen ist der Inhalt des ringi sho schon vorab hö-
heren Orts einvernehmlich abgeklärt worden und enthält dann zur formel-
len Absegnung die entsprechenden Begründungen und ausführlichen Do-
kumentationen. Das Konsensverfahren, bei dem alle involviert und alle
Einwände berücksichtigt werden und deshalb bei der Implementierung alle
tunlichst auch an einem Strang ziehen, ist bei Unternehmen auf Expansi-
onskurs bei profitablen Wachstumsmärkten wunderbar. Der Vorstand kann
sich auf das gleichmäßige Verteilen von innerbetrieblichen Streichelein-
heiten beschränken und sich dann beim Golfen ausgiebig entspannen. Al-
les wächst, alles gedeiht. Das Verfahren entspricht einem Fahrzeug mit
ausschließlich Vorwärtsgängen ohne Bremse, das in alle Diversifikations-
richtungen blinkt. Ernsthaft kritisch wird es jedoch, wenn Verluste auftau-
chen, die mangels stringenter Kostenrechnungen zunächst kaum verortet
werden können und später dann Produktlinien, Entwicklungen oder Ferti-
gungen eingestellt werden müssen, bei denen das Herzblut und die Ar-
beitsplätze vieler Betroffener hingerafft werden, deren Einverständnis
nicht so schnell mit guten Worten und Seelenmassage zu erzielen ist. Fo-
kussierungen, Kurskorrekturen und Freisetzungen von Stammpersonal sind
dann eigentlich nur nach außerordentlich langen Vorlaufzeiten unter dem
Eindruck einer Überlebenskrise des Unternehmens machbar. Für schnelle
Reaktionen in Krisenzeiten, Mut zum Risiko und kreative Geniestreiche
aller Art taugt der konsensuale Bürokratismus sicher auch wenig.
Die starke kulturelle Präferenz des Führungspersonals für tatemae, die
ihnen angenehme gesichtswahrende Version der Wahrheit, – gegenüber
honne, der als unangenehm empfundenen richtigen Wahrheit (die alle Be-
troffenen nur allzu gut kennen, jedoch nicht öffentlich anzusprechen wagen)
– wird in der Rechnungsführung und Kostenrechnung zu einem großen
76 Japanisches Management

Problem. Wie bewertet man in der Abwesenheit klarer Kriterien den Wert
von Außenständen, Vorräten, Anlagen, Immobilien, Patenten, unverkauften
Lagerbeständen, wenn alles doch in der Erwartung der Kollegen und der
Führung von unschätzbarem Wert ist und das Ergebnis unbedingt positiv
erscheinen muss? Wertberichtigungen und Abschreibungen sind dann pein-
liche Eingeständnisse des Scheiterns10. Bei Verlusten muss der CEO bei
Bilanzpressekonferenzen weinen, die Öffentlichkeit um Vergebung bitten
und sein Gehalt halbieren. Das tut man ihm nur ungern an. Dazu kommt die
gleichfalls kulturell bedingte Knappheit qualifizierter externer Buchprüfer:
15.000 im Vergleich zu 330.000 in den USA11. Japanische Bilanzen sind
also weiter suspekt. Die jahrelang schön geschminkten Bilanzen von Kanebo
(„Schönheit für heute und morgen“) und ihre Gefälligkeitstestate durch die
Buchprüfer von Chuo Aoyama12 sind kein Einzelfall.
Investitionen in anwendungsbezogene Forschungs- und Entwicklungs-
projekte sind mit 3,3% des BIP seit Jahren höher als die der meisten ame-
rikanischen und europäischen Konkurrenten (Deutschland: 2,5%). Diese
Anstrengungen betreffen nicht nur Produktinnovationen, sondern in glei-
chem Maße auch Verbesserungen der Fertigungstechnologien. Systema-
tisch werden Erfindungen und Patente auf kommerzielle Anwendungen
überprüft. Nehmen wir die Zahl internationaler Patentanmeldungen als
rohen Indikator von Forschungseffizienz, dann liegt Japan schon seit
2 Jahrzehnten weltweit an der Spitze. Allerdings mussten gerade Firmen in
den früher erfolgsverwöhnten Elektronik-, Chemie- und Pharmabranchen
unter dem Eindruck wachsender roter Zahlen, oft schwer verkäuflicher,
überkomplizierter technischer Innovationen und ausbleibender Durchbrüche
in der Biotechnologie und erhoffter Wundermittel gegen Zivilisationskrank-
heiten aller Art, anfangen, ihre Forscherheere nach Aufwand- und Ertrags-
kriterien zu durchleuchten. Vieles hatten die Generalisten in der Konzern-
führung von dem, was ihnen an populärwissenschaftlicher Sciencefiction
von den Laboren erzählt wurde, in den Boomjahren gerne ungeprüft glau-
ben wollen. Bei kritischerer Überprüfung fand man viel Hokuspokus,
zweckfreie Forschung für die Wissenschaftsjournale, Doppelgleisigkeiten
durch akademische Eifersüchteleien und die aus Hochschulinstituten be-
kannten Schlampereien, wie unausgepacktes millionenteures Gerät, das in
den Kellern verstaubte. Bei inhaltlichen Neuausrichtungen ging man je-

10
David Pilling „The Hidden Japan“ Financial Times 30.8.2002.
11
Time 1.11.1999.
12
Nikkei net 8.6.2006.
Führungsstile, Wirtschaftsethik, Unternehmensorganisation und Karrieren 77

doch weiter sehr behutsam vor, galt es doch die sensiblen Forscherseelen
in ihrer Kreativität nicht zu frustrieren oder Projekte zu beschneiden, die
möglicherweise gerade vor dem entscheidenden Durchbruch standen.
Mit Kapital waren die japanischen Konzerne stets reichlich gesegnet.
Bei äußerst knapp bemessenen Altersrenten und staatlichen Sozialleis-
tungen sowie ungedeckten Firmenpensionen war und ist der japanische
Toshio-Normalverbraucher gut beraten, seine Sparquote auf 20% des
verfügbaren Einkommens hochzufahren und sie dort auch während der
Krise trotz aller Ausgabenappelle zu belassen, zumal seine enge Woh-
nung schon mit Gebrauchsgütern vollgestopft und sein Urlaub weiter
knapp bemessen ist.
Das Keiretsu-System hatte bis 1992 ohnehin reibungslos bei Mitglieds-
firmen für billiges Kapital gesorgt. Freundliche Hausbanken und Versiche-
rungsgesellschaften finanzierten mit den eingesammelten Einlagen gerne
unbesehen die Mitgliedsfirmen der ersten Liga wie jene Hundertschaften
im zweiten und dritten Glied. Dividenden hatten ohnehin nur symbolische
Bedeutung. Die Schulden der beliebten Wandelanleihen konnte man ange-
sichts steigender Aktienkurse stets zum Nulltarif in Kapitalbeteiligungen
umwandeln. Nach dem Crash von 1992 wurde die Nullzins-Politik der
Bank von Japan die neue Quelle des Kapitals zum Nulltarif. Denn die Ja-
paner – abgesehen von der Untergruppe weiblicher Singles – sparten, wie
erwähnt, aus guten Gründen eisern weiter, auch wenn ihnen selbst auf
langfristige Spareinlagen nur 0,1% Jahreszins geboten wurden. Da brauch-
te die Kapitalrendite der Wirtschaftsinvestitionen, um profitabel zu sein,
nur geringfügig darüber zu liegen. Man hat deshalb oft den Eindruck, als
sei Kapital in Japan weiter ein fast freies Gut, mit dem ebenso verschwen-
derisch umgegangen wird, wie seinerzeit im Staatssozialismus mit den
Faktoren Natur und Arbeit. Bei so niedrigen Kapitalkosten können die
Unternehmen dann auch ihre Preise entsprechend aggressiv mit geringeren
Gewinnspannen kalkulieren.
Dabei hilft weiter, dass Fertigungs- und Lagerkosten durch den intensi-
ven Gebrauch von abhängigen Subunternehmen, die mit geringeren Perso-
nalkosten operieren, niedrig gehalten werden können. Das famose Kanban-
(just in time) System reduziert das Lagerinventar auf ein absolutes Mini-
mum. Stattdessen warten die Kleinlastwagen der Zulieferbetriebe mit lau-
fendem Motor auf Nebenstrassen und benachbarten Parkplätzen auf ein
Pieps-Signal, um die für die neue Schicht benötigten Teile in die Ferti-
gungshallen des Hauptwerkes bringen zu dürfen. Die Kosten des einge-
sparten Lagers werden so externalisiert: auf den Lieferanten und die Öf-
fentlichkeit, deren Strassen mietfrei genutzt und verschmutzt werden.
78 Japanisches Management

Auch sehr komplexe Fertigungsvorgänge werden oft ausgelagert, wobei


solche Zulieferer ihrerseits wiederum Subunternehmer für Kleinteile be-
schäftigen. Jene lean production funktioniert natürlich nur, wenn auf Lie-
feranten 100% Verlass ist. Alle Spezifikationen sind detailliert vereinbart.
Die Qualität der Lieferungen wird minutiös kontrolliert. Schlamperei und
Unpünktlichkeit bedeuten das Ende der Geschäftsbeziehungen und meist
auch den Konkurs des Lieferanten, der normalerweise nur durch die Kredite
des Hauptabnehmerunternehmens und dessen Hausbank in eine solch pri-
vilegierte Position hinein expandieren und modernisieren konnte. Gele-
gentlich entgleist das System durch höhere Gewalt. So musste nach dem
Erdbeben von Kobe 1995 die Fertigung etlicher, von der Katastrophe nicht
direkt geschädigter Großbetriebe anfangs stillgelegt werden. Sie waren
später noch einige Wochen lang stark beeinträchtigt. Nach dem Großfeuer
eines Hauptlieferanten, des Bremsenherstellers Aisin Seiki im Februar
1997, fiel bei Toyota dann zwei Wochen die Produktion aus. Honda kom-
mentierte damals, das könne ihnen nicht passieren: Für jedes Teil haben
sie, im Gegensatz zum Toyota Keiretsu, zwei Lieferanten13.
Fertigungen im Hauptunternehmen selbst laufen in einer ungeheueren
Geschwindigkeit und Präzision ab. Die Stammarbeiter an den Fliessbän-
dern und in der Montage sind alle jung, männlich und werden nach etwa
einem Jahrzehnt in der Produktion in den Vertrieb oder in Servicebetriebe
versetzt. Nach jedem Produktionsabschnitt erfolgen Qualitätskontrollen.
Nicht erst, wie in Europa üblich, am Ende des ganzen Fliessbandes, wo
montags mancher PKW erst einmal in die Generalreparatur kommt.
Erfolgreiches Marketing erst ist die Krönung der von den Ingenieuren
und Industriemeistern erarbeiteten Leistung. In Japan erfolgt es offensiv
nach sorgfältigem Marktstudium mit „Laser-Taktiken“, um Wettbewerber
systematisch aus bestimmten Segmenten und regionalen und nationalen
Märkten zu verdrängen. Ein Hauptinstrument ist dabei eine je nach Markt-
struktur differenzierte Preispolitik. Während auf dem japanischen Markt
die Preise typischerweise hoch bleiben (und der Wettbewerb über Nicht-
Preiselemente wie Produktinnovationen, Werbung, Service, Extras er-
folgt), werden in den als strategisch definierten, zu erobernden Drittmärk-
ten die Preise ohne Rücksicht auf die tatsächlichen Kosten 25-30% unter
die der wichtigsten ausländischen Konkurrenten gesenkt. Die damit
eroberten Marktanteile – und der Rückzug der geschlagenen Wettbewerber
– dienen dann als Hauptindikator des Unternehmenserfolgs. Die Eroberung

13
Michiyo Nakamoto. „Brakes on at Toyota“ Financial Times 7.2.1997.
Führungsstile, Wirtschaftsethik, Unternehmensorganisation und Karrieren 79

der europäischen Märkte in den 70er Jahren – von Motorrädern bis zu


Kugellagern und Reißverschlüssen – funktionierte nach dem gleichen
Strickmuster. Später, nach der Beherrschung der Märkte, wurden die Ge-
winne nach einigen Jahren mit erhöhten Preisen wieder eingespielt.
Japanische Firmen haben beim Kauf ausländischer Unternehmen eher
unglückliche Erfahrungen gemacht. Zum einen wurde in den Boomzeiten,
als im Ausland alles billig erschien, oft spontan ohne Buchprüfungen und
ohne Kenntnis der Sektoren branchenfremd eingekauft. Der Erwerb der
Columbia-Filmstudios durch Akio Morita und der Intercontinental-Hotel-
kette durch Seiji Tsutsumi sind klassische Beispiele. Wie die bei japani-
schen Käufern beliebten Weingüter von Bordeaux waren es zunächst eher
Prestigeobjekte als seriöse Investitionen. Weil die Japaner weder das Ge-
schäft noch die Firmenkultur der erworbenen Unternehmen verstanden,
ließen sie dem eingekauften einheimischen Management ohne strategische
Orientierungen und Kontrollen lange Leine. Entsandtkräfte aus Tokyo
wirkten eher als Praktikanten. Das kam teuer zu stehen: Matsushita musste
bei den MCA-Filmstudios 1,5 Milliarden US-Dollar abschreiben, Sony und
NEC bei Columbia bzw. Packard Bell je 3 Milliarden. Auch der Erwerb
des Reifenherstellers Firestone durch Bridgestone (eigentlich: Ishibashi)
ging schief, obwohl wenigstens der Sektor der gleiche war14.
Von allen Produktionsfaktoren wird das Humankapital in Gestalt des
Stammpersonals von allen Unternehmen als am wichtigsten eingeschätzt.
Entsprechend große Anstrengungen unternimmt jedes reputierliche Unter-
nehmen bei der jährlichen Rekrutierung frischer Hochschulabsolventen als
Ingenieur- und Managementnachwuchs. Dabei ist das richtige Bewerber-
profil wichtig, denn der Neuling wird mindestens 32 Jahre lang bei dem
Unternehmen bleiben. Seine Generation wird nach 10 bis 20 Jahren in der
Lage sein, kollektiv unternehmenentscheidende Maßnahmen mitzutragen,
in 30 Jahren die Chefetage stellen und in jedem Fall die Arbeitsatmosphäre
des Betriebes entscheidend prägen. So werden nach den formalen Inter-
views und Eingangstests über die sich musterhaft konformistisch gebenden
Kandidaten auch von Detekteien Hintergrundchecks unternommen, um
diejenigen zu eliminieren, die den fixen Vorstellungen der Personalabtei-
lung von guter Hochschule, braver Mittelschichtenherkunft, den richtigen
Hobbies (viele bevorzugen nicht ohne Grund Mannschaftssportarten), sitt-
samem Lebenswandel und politischer wie kultureller Konformität nicht

14
Michiyo Nakamoto „When Culture Masks Communication“ Financial Times
23.10.2000.
80 Japanisches Management

entsprechen. Vermutlich entspricht dem auch die begründete Einsicht, dass


es Nonkonformisten und intellektuelle Querdenker in den meisten Groß-
firmen ohnehin nicht lange aushalten würden. Die Kandidaten selbst sind
sich der arbeitslebenslangen Konsequenzen ihrer Anstellungsentscheidung
im zarten Alter von 23 Jahren bewusst und präferieren meist wachstums-
orientierte Großunternehmen in mutmaßlichen Zukunftsbranchen. Ent-
sprechende Beliebtheitslisten der aktuell populärsten Unternehmen (in den
70er Jahren waren es die internationalistischen sogo shosha, in den 80er
Jahren die reichen Finanzhäuser – die meisten sind mittlerweile verschwun-
den) werden in der Tagespresse alljährlich recherchiert, in großer Aufma-
chung dargestellt und ausführlich kommentiert. Diese Unternehmen sind
umgekehrt begünstigt, weil sie im Gegenzug unter den besten Hochschul-
absolventen des Landes auswählen können. Die KMU in der Provinz da-
gegen rekrutieren unter den Absolventen ihrer zweit- bis drittrangigen pri-
vaten Präfekturhochschulen, denen es am Ehrgeiz oder der Fähigkeit zum
Studium an einer besseren Universität fehlte.
In einem stark am formalen Bildungsgang orientierten System wie Ja-
pan finden die Selektionen der Lebenschancen früh statt. Sie sind kaum
korrigierbar.
Nach der feierlichen, in seiner Uniformität totalitär anmutenden Ein-
trittszeremonie des neuen Firmenjahrgangs hilft dem jungen Kader sein
Todai- oder Waseda-Diplom zunächst einmal gar nichts. Wie bei der Bun-
deswehr beginnt der frisch eingestellte Führungsnachwuchs ganz unten.
Bei den E-Werken fängt die Karriere mit dem Ablesen der Zähler an – und
wer Pech hat, darf dies im Winter in Tohoku im meterhohen Schnee auf
den Dörfern tun – ; bei Broker-Häusern wie Nomura mit der Kundenwer-
bung durch Klinkenputzen bei Hausbesuchen und bei Kaufhäusern in der
Sockenabteilung15. Wer sich anstellig und kooperativ bei diesem ersten
Härtetest bewährt, für den ist das Martyrium nach einigen Monaten vorbei.
Wer durchblicken lässt, dass er sich für die Arbeit eigentlich für überquali-
fiziert hält, tut sie deutlich länger, bis zu 2 Jahre. Gleichzeitig wird wäh-
rend der harten ersten Jahre eine betriebsspezifische Ausbildung (techni-
sche Disziplinen, Buchhaltung, Business English, etc) durchlaufen, gefolgt
von einem Rotationsprogramm mit learning on the job. Diese von Prüfun-

15
Dieser ehrenvolle Karrierestart wurde dem Autor anno 1982 von Seibu De-
partment Stores in Aussicht gestellt, die als erste japanische Firma Ausländer in
Sogo-Shoku-Positionen rekrutierte. Er ging statt dessen lieber zur Deutschen
Bank nach Berlin.
Führungsstile, Wirtschaftsethik, Unternehmensorganisation und Karrieren 81

gen begleiteten Qualifikationen haben ausschließlich innerbetrieblichen


Charakter. Sie sind öffentlich nicht anerkannt und nur sehr bedingt über-
tragbar. Die Unterbringung der meisten ledigen Mitarbeiter erfolgt wegen
der häufigen Versetzungen in spartanisch-funktional ausgestatteten Firmen-
wohnheimen, die sich von Studentenwohnheimen nur insofern unter-
scheiden, als sie nicht auf einem lustigen Campus mit hübschen Studentin-
nen, sondern in einer öden Vorstadt auf Firmengelände mit frühem Zapfen-
streich ohne Partys ordentlich organisiert sind16. Pensionierte Werkmeister
dienen als Hausmeister und Äquivalent des Kompaniefeldwebels. Die Ü-
berwachung im langen Dienst und der kurzen Freizeit erfolgt also nahezu
rund um die Uhr. Dabei übt das Unternehmen gegenüber seinen jungen
Probanten nicht nur eine disziplinierende Funktion, sondern auch eine pa-
ternalistische Rolle aus. Dies in Gestalt eines väterlichen Abteilungsleiters
(kacho), zu dessen dienstlichen Obliegenheiten es zählt, nicht nur Leistun-
gen zu optimieren, sondern auch den seelischen Kümmernissen und per-
sönlichen Problemen seiner Truppe abzuhelfen. Es trifft sich daher immer
gut, wenn einer der einsamen Jungmannen seiner Abteilung zu schüchtern
ist, eine der attraktiven, jüngeren, ledigen Mitarbeiterinnen anzusprechen.
Dann ist der kacho ex officio gehalten, diskret ein Date (omiai) für die
beiden schmachtenden Seelen zu vermitteln – bei einem Happy End mit
deutlich positiven Ergebnissen für das Betriebsklima, zumal eine frühere
Mitarbeiterin als Ehefrau für die endlosen Überstunden und Versetzungen
ihres Gatten mehr Verständnis zeigen sollte.
Die Firmenzugehörigkeit wird nicht von ungefähr Teil der persönli-
chen Identität. Das Unternehmen wird dank langer Arbeitszeiten (2100
Stunden pro Jahr) zum Lebensmittelpunkt. Es gibt auch eine materielle
Abhängigkeit: Für den Arbeitnehmer in den Eliteunternehmen gibt es
keine annähernd gleichwertige Beschäftigungsalternative. Undenkbar ist
es, bei der Konkurrenz anzuheuern. Auch in Japan liebt man zwar den
Verrat, aber nicht den Verräter. Quereinsteiger sind unerwünscht. Wozu
auch wechseln? Die Anrechtszeiten auf die Firmenpension gehen verlo-
ren. Die Arbeitsbedingungen, das Gehalt und die Ochsentour sind ohne-
hin die gleichen. Wer bei Sumitomo unglücklich ist, wird bei Mitsubishi
nicht glücklicher.
Boni, die bei erfolgreichen Unternehmen bis zu 40% des Jahresgehalts
ausmachen, werden zweimal jährlich in Abhängigkeit vom Geschäftser-

16
Für einen anschaulichen Bericht siehe: Al Alletzhauser. The House of Nomura.
London 1990. S. 183ff.
82 Japanisches Management

gebnis (und zunehmend auch von der persönlichen Leistung) ausbezahlt.


Ein expandierendes Unternehmen schafft durch die Proliferation von
Tochter- und Auslandsgesellschaften neue Managementfunktionen und
Karrierechancen, die in einem stagnierenden oder gar kontraktierenden
Betrieb natürlich ausbleiben. Auch in der Öffentlichkeit hängt das soziale
Ansehen des einzelnen (und seiner Familie!) in großem Maße von seiner
Unternehmenszugehörigkeit und seinem dortigen Dienstrang ab. Bei öf-
fentlich werdenden finanziellen Problemen oder gar Skandalen eines Un-
ternehmens wird nicht nur das materielle Wohlergehen, sondern auch das
soziale Ansehen seiner Mitarbeiter beeinträchtigt. Entsprechend effektiv
ist die Andeutung einer (im Übrigen häufig stattfindenden) zeitweisen oder
dauerhaften (Straf-) Versetzung zu einem kleinen Tochterunternehmen, die
auf gleicher Funktionsebene einen schmerzhaften Einkommens- und Pres-
tigeverlust bedeutet.
Personalbeurteilungen erfolgen mehrmals jährlich. Sie betreffen solche
Kategorien wie: Disziplin, Fleiß, Anwesenheit, Einsatzfreude, Diskre-
tion, die Quantität und Qualität der Arbeitsleistung, das Sozialverhalten,
technisches Wissen, und eine Einschätzung des Führungspotentials des
Betroffenen.
Das Karrieremuster der erfolgreichen, sozialkonformen und bemühten
Mitarbeiters sieht nach der erwähnten Initiation, Einarbeitung und Unter-
nehmenssozialisation zunächst eine Verweildauer von fünf bis sieben Jah-
ren – bei schlechter Bezahlung und langer Arbeitszeit – in wechselnden
qualifizierten Sachbearbeiterfunktionen vor, an das sich im Alter von 30
Jahren eine Gruppenleitertätigkeit (kakaricho) mit einem mittelfristig an-
gelegten Rotationsprogramm anschließt. Die Rotation erfolgt arbeitsle-
benslang alle drei bis fünf Jahre im Wechsel zwischen verschiedenen Sek-
tionen in Produktion, Verkauf, Personal-, Rechnungswesen und so weiter.
Die Absicht ist, die Neigungen, Fähigkeiten und das Führungspotential der
Mitarbeiter dauernd zu testen. Sie sollen Kontakte in der ganzen Firma
pflegen und sich im Laufe der Jahre mit dem Unternehmensganzen, nicht
etwa nur mit einer Abteilung, identifizieren.
Bei Bewährung erfolgt frühestens Mitte 30 der Aufstieg in das mittlere
Management (kacho / Abteilungsleiter) und Mitte 40 zum Hauptabteilungs-
leiter (bucho). Mit 55 erfolgt die „Pensionierung“ (Pensionen werden je-
doch erst ab 65 gezahlt) fast aller Mitarbeiter, das heißt all jener, die es in
diesem Alter nicht zu Vorstandsposten gebracht haben. Meist werden sie
jedoch mit deutlichen Gehaltskürzungen in Tochterunternehmen weiterbe-
schäftigt. Niemand wird von diesem Schlag überrascht: Die Finanz- und
Führungsstile, Wirtschaftsethik, Unternehmensorganisation und Karrieren 83

Familienplanung ist darauf eingestellt: Mit 55 ist die Hypothek abbezahlt.


Die maximal zwei Kinder haben das Studium abgeschlossen.
Mit diesem seit Jahrzehnten praktizierten Notbehelf spart das Unter-
nehmen die senioritätsbedingten Lohnkosten, hat sich doch das Grundge-
halt eines auf dem Karrierepfad (sogo shoku) eingestellten Mitarbeiters
auch ohne große Höhenflüge zwischen 23 und 55 vervierfacht. Dazu
kommt eine Vielzahl von Zulagen für die Familie, für Qualifikationen, für
Leistungen, etc.17, die wie der Bonus der Personalabteilung einen großen
Ermessenspielraum für die Entlohnung der Leistungsunterschiede der Mit-
glieder einer Alterskohorte lassen, die tunlichst nicht zu früh in verschie-
dene Führungsebenen auseinander dividiert werden dürfen.
Klar ist, dass junge, dynamisch expandierende Unternehmen – wie ganz
Japan in den 60er Jahren – bei dem Senioritätssystem einen massiven
Lohnkostenvorteil gegenüber stagnierenden Unternehmen mit alternden
Belegschaften haben. Versuche, das Problem durch gezielte Freisetzungen
zu lösen, können nur allzu verständliche Verbitterung und Demotivierun-
gen hervorrufen. In einer sehr, ja allzu menschlichen Gesellschaft wie Ja-
pan kann dies für eine Firma tödlich sein.
Was das formale Einkommen des Spitzenmanagements angeht, so sind
japanische Unternehmen – verglichen mit angloamerikanischen Betrieben
– Musterbeispiele des Egalitarismus. So beträgt das Einkommensdifferen-
tial zwischen jungen Stammarbeitern und Vorstandsmitgliedern eins zu elf.
Allerdings gibt es noch zahlreiche executive perks wie Bewirtungsspesen,
Clubmitgliedschaften, Dienstvillen, Dienstwagen mit Chauffeur, Firmen-
hubschrauber etc. Dieser Reichtum funktioniert wie im Vatikan: Er ist
funktionsgebunden. Ist die Funktion weg, sind die vormaligen Funktions-
träger zwar nicht arm wie Kirchenmäuse, doch im Lebensstandard wieder
auf Mittelschichtenniveau.
Bei der Besetzung der Spitzenpositionen ist die Chancengleichheit ein-
geschränkt. In Großbetrieben, in denen große Aktienpakete noch im Besitz
der Gründerfamilie sind, haben männliche Klanmitglieder (die oft wegen
ihrer besseren Eignung adoptierte entfernte Verwandte oder Schwieger-
söhne sind) Vorfahrt. Insgesamt besteht wie in den Ministerien in manchen
Großunternehmen eine Präferenz für Absolventen der Jurafakultät der U-
niversität Tokyo (Todai), Japans unstreitiger Eliteanstalt, gefolgt von der

17
Helmut Demes. „Determinanten des Entgeltes in Japan“ in: Deutsche Industrie-
und Handelskammer in Japan (Hg.) Personalwesen in Japan. Tokyo 1991; 71-
91. S. 83.
84 Japanisches Management

Universität Kyoto (Kyodai), der Wirtschaftsuniversität Hitotsubashi und


den privaten Elite-Unis Keio und Waseda.
Vorstandsmitglieder können normalerweise bis zum Alter von 70 Jahren
in Amt und Würden bleiben. Ihr Vorsitzender (shacho) entscheidet norma-
lerweise über den Zeitpunkt seines Abtritts, das heißt die Übernahme des
Aufsichtratsvorsitzes (kaicho), im Regelfall selbst und bestimmt auch sei-
nen Nachfolger. Ist dieser jünger, müssen alle älteren Vorstandsmitglieder
ausscheiden.
Angesichts des Fehlens dividendensüchtiger Großaktionäre, unfreund-
licher Banken und kritischer Fondsmanager sind die Spitzenmanager
prosperierender Großunternehmen nahezu unumschränkte Herrscher ih-
rer Betriebe und nur den japanischen Göttern Rechenschaft schuldig. Sie
sind dessen ebenso gewahr wie tausende ihrer Mitarbeiter, die sich ihren
gottgleichen Chefs nur mit ehrfurchtsvollem Schaudern zu nähern wa-
gen. Generell bevorzugen japanische Unternehmen umgängliche Typen
als Führungskader. In jenen Jahren an der Spitze können bei dem shacho
jedoch auch zunehmend autokratische und egomanische Charakterzüge
auftauchen.
Die Rekrutierung in solche Spitzenpositionen erfolgt in fast allen
Fällen streng durch die Berufung von altgedienten Kandidaten aus dem
eigenen Haus. Fujio Mitarai, der Vorstand von Canon begründet dies so:
Jeder Angestellte solle den Traum bewahren, eines Tages selbst Direktor
werden zu können18 und: „Es dauert zwei bis drei Jahrzehnte, um Direk-
tor in einer japanischen Firma zu werden. Während dieser Zeit werden
der Charakter und die Fähigkeiten einer Person dauernd auf Herz und
Nieren getestet. Diese japanische Methode ist sicherer als die der Ameri-
kaner, deren Manager von außen rekrutiert werden“19. Dabei werden in
den Spitzenpositionen meist Ingenieure bevorzugt, die die Firmenpro-
dukte intim kennen und an sie glauben. Jahrzehntelang haben sie sich
zuvor im Managementklub des Unternehmens bewährt und sich dabei
keine Feinde geschaffen. Aggressive Verkäufer, strategische Entscheider
oder international erfahrene Kommunikatoren sind in aller Regel nicht
gefragt.20 Nur sehr selten werden Manager aus befreundeten Keiretsu-
Spitzenbetrieben berufen oder rarissime frisch pensionierte Elitebeamte
als amakudari nahestehender Ministerien. Diese erhalten meist einen

18
Nihon Keizai Shimbun. How Canon got its Flash back. Singapur 2004. S. 193.
19
Ibid. S. 116. Meine Übersetzung.
20
Financial Times 22.7.1996.
Führungsstile, Wirtschaftsethik, Unternehmensorganisation und Karrieren 85

gutbezahlten Beratertitel (komon) und geben gute Ratschläge zum Welt-


geschehen oder zu aktuellen Forschungstrends.
Die mit einigen Dutzend Mitgliedern überbesetzt erscheinenden Vor-
stände selbst sind eher zum Abnicken gedacht. Einer, der es wissen muss,
der Schweizer Jack Schmuckli, berichtet von seiner Vorstandserfahrung
bei Sony:21 Board meetings, die jeden Monat in Tokyo stattfinden, sind
eine formelle Sache. Man hakt eine festgelegte Traktandenliste ab. Die
Entscheidungen sind zum größten Teil schon vorher aufbereitet und ab-
gestimmt … Von einem japanischen Vorstand wird Harmonie, Ent-
schlusskraft und Geschlossenheit erwartet. Unter dem Prinzip lebenslan-
ger Zugehörigkeit teilt man das Schicksal des Unternehmens. Die
wenigen outside directors haben eine wohlwollende und unterstützende
Rolle … Nichts kommt zur Abstimmung in den Vorstand, bevor es aus-
palavert ist. Wenn auch nur wenige dagegen sind, wird nachgebessert,
oder die Vorlage kommt gar nicht mehr zurück … Innerhalb des Kreises
besteht der unausgesprochene Konsens, dass man in dem Gremium in
Harmonie zusammenarbeitet. Ehrgeizlinge sind nicht erwünscht. We
don’t need troublemakers.“. Offenkundig findet in Vorständen eine kriti-
sche Analyse der Unternehmenspolitik nur in Ausnahmefällen statt. Fujio
Mitarai bestätigt dies: „Die Führungskräfte sind wie ein old boys club.
Jeder hält sich sehr zurück, um die andern nicht zu beleidigen“22. Und
Joachim Reinhart, der ein Jahrzehnt später als erster Ausländer in den
Vorstand von Matsushita kam, berichtet von seiner Erfahrung nur kryp-
tisch, er habe dort viel Geduld gelernt.23
Was bleibt vom japanischen Management? Weniger human-technische
Fertigkeiten wie Qualitätszirkel oder die Manipulation von Zuliefererab-
hängigkeiten wie kanban. Als tatsächliche Stärke erscheint eine bewusst
geschaffene homogene Unternehmenskultur mit disziplinierten Mitarbei-
tern, die sich dank planvoller Konsultations- und Karrieremuster mit dem
Unternehmens-Image und Firmenziel trotz aller konjunktur- und krisenbe-
dingten Widrigkeiten identifizieren und buchstäblich ihr Bestes zu geben
bereit sind. Diese löblichen Grundsätze sind mit den japanischen Metho-
den auf Europa und den Rest der Welt sicher nicht übertragbar.

21
Jack Schmuckli. Interview in Wirtschaftswoche, 13.8.1992.
22
Nihon Keizai Shimbun. Op. cit. S. 116.
23
Joachim Reinhart. Interview in Der Spiegel 24.5.2004.
86 Japanisches Management

6.2 Das Kanban-System bei Toyota

Louisa Hübner und Anette Holzapfel

6.2.1 Einleitung
Schon bald nach dem zweiten Weltkrieg gab es erste Überlegungen, ob
Japan neue Strategien entwickeln könnte, um auf dem Weltmarkt konkur-
renzfähiger zu werden. Angetrieben wurden diese Überlegungen durch die
Angst Japans, dass nach der Niederlage im Pazifischen Krieg die Ressour-
cen zu knapp werden könnten. Es wurde nach Möglichkeiten gesucht, Ver-
schwendungen bei der Produktion zu vermeiden. Zu dieser Zeit konnte der
Materialfluss noch nicht mit Computern unterstützt werden.24 Generell
wurden immer höhere Anforderungen an die Produktion eines Unterneh-
mens gestellt.
Das 1937 gegründete Automobilunternehmen Toyota hatte Mitte der
fünfziger Jahre noch weitere Probleme: Das Unternehmen war damals zu
klein, um Massenproduktionen einzuführen und hatte Schwierigkeiten, sich
im internationalen Markt aufgrund der starken Konkurrenz zu etablieren.
Der heimische Markt bot dem Unternehmen nur begrenzte Möglichkeiten.25
Taiichi Ohno, der 1975 Executive Vice President bei Toyota wurde,
formulierte seine Lösung dieser wachsenden Problemen folgendermaßen:
„Es müsste doch möglich sein, den Materialfluss in der Produktion nach
dem Supermarktprinzip zu organisieren. Das heißt, ein Verbraucher ent-
nimmt aus dem Regal Waren bestimmter Spezifikation und Menge. Die
Lücke wird bemerkt und wieder aufgefüllt.“26 Damit wurde das japanische
Kanban-System erfunden, ein Produktionssystem, das durch einen bench-
mark an einem Supermarkt adaptiert wurde.
Toyota implementierte das neue System, das sich zu einem äußerst erfolg-
reichen Produktionskonzept in den nächsten Jahren entwickelte. Seitdem hat
sich die japanische Automobilindustrie gegenüber vielen westlichen Kon-
zernen wie z. B. General Motors einen wesentlichen Vorsprung erarbeitet.27

24
Vgl. Gienke, H./Kämpf, R. (2005): Praxishandbuch Produktion, Innovatives
Produktionsmanagement: Organisation, Konzepte, Controlling, München/Wien.
25
Vgl. Nixdorf, A. (2005): Operative Excellenz, Am Anfang war die Not, in:
McK Wissen 05, Hamburg, S. 8 – 15.
26
Ohno, T. (o. J.), in: Ünal, C. L. (2005): Logistik & Supply Chain Management,
in: Operations & Supply Chain Management, München, S. 11.
27
Vgl. Enright, M. J. (2003), Buyer-Supplier Relationships, Hong Kong, S. 2 – 3.
Das Kanban-System bei Toyota 87

6.2.2 Toyota und die Entwicklung des japanischen


Kanban-Systems

Das Produktionssystem Kanban setzt eine kontinuierliche Verbesserung


aller Prozesse voraus. Die gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen Quali-
tät, Kosten und Zeit werden dadurch aufgelockert.
Drei von Taiichi Ohno formulierte Grundsätze trugen zur Verbesserung
des Produktions- und Lagerkontrollsystems von Toyota bei:

• Ausschüsse und Verschwendung werden bei der Produktion ver-


mieden. Nur das wird produziert, was später auch gebraucht wird.
Dies wird mit dem japanischen Namen muda bezeichnet. Jedoch ist
damit nicht nur Materialverschwendung, sondern auch Kostenreduk-
tion gemeint. So wird z. B. das Lager reduziert, um Kosten zu sen-
ken und Probleme aufzudecken, die bislang aufgrund der Material-
masse im Lager gar nicht zum Vorschein kommen konnten.
• Fehler sollen so früh wie möglich erkannt und behoben werden. Lö-
sungsmöglichkeiten werden erarbeitet, um den Fehler in Zukunft
frühzeitig zu erkennen und Folgefehler zu vermeiden. Das Produkti-
onsziel lautet „Null Fehler“.
• Der dritte Aspekt wendet sich intern an alle Toyota Mitarbeiter und
extern an die Lieferanten. Verbesserungsvorschläge und Anregun-
gen von Produkten und Prozessen sind jederzeit erwünscht und wer-
den nicht als Belästigung betrachtet.
Diese drei Grundsätze sollten den Weg zur operativen Exzellenz ebnen.
Obwohl das Grundprinzip einfach ist, ist der Prozess langwierig, eigentlich
unendlich.
Einerseits müssen die Kosten so niedrig wie möglich gehalten werden,
andererseits sollen die Kunden zufrieden gestellt und gebunden werden.
Dies kann ein Unternehmen unter anderem erreichen, indem die Zeitspan-
ne zwischen der Entstehung der Kundenbedürfnisse und deren Befriedi-
gung (der Auslieferung der Ware) so kurz wie möglich gehalten wird. Des
Weiteren tragen optimale Verfügbarkeit, Zufriedenheit, Qualität, Lieferung
und Preis des Produktes zur positiven Kundeneinstellung bei.
Eine schnelle Reaktionsfähigkeit und niedrige Kosten sollen die Kapi-
talbindung in einem Kanban-System minimieren.
Der Leitgedanke dieses Produktionssystems ist build what you have sold.
Dies bedeutet, dass sich die Produktion von Toyota nach dem Supermarkt-
prinzip organisiert. Sobald eine bestimmte Menge einer Ware verarbeitet
88 Japanisches Management

wird, erkennt dies das System und leitet an die produzierende Stelle die
Mitteilung weiter, dass das Material wieder aufgefüllt werden muss.28 Dieser
Prozess wird im Folgenden dargestellt:

Abb. 2 . Gesteuerte Anlieferung durch Kanban29

Das Kanban-System stellt somit als erstes System eine Umsetzung des
Pull-Prinzipes dar:30
Das bedeutet, dass jede Produktionsstufe exakt die Anzahl von Einheiten
herstellt, die die nachfolgende Produktionsstufe auch wirklich benötigt (Pro-
duktion auf Abruf). Dadurch reduziert sich der Materialbestand deutlich.
Als Informationsinstrument führte der japanische Automobilhersteller
die so genannte Kanban-Karte ein. Diese erhält die Information, wie viele
Einheiten (über den definierten Mindestbestand) die nachfolgende Produk-
tionsstufe produzieren soll. Durch das Kanban-System wird somit die ur-
sprünglich sehr aufwendige Produktionssteuerung in einen sich selbst steu-
ernden Regelkreislauf umgewandelt. So werden zusätzlich die gesamten
Prozesszusammenhänge transparenter. Die folgende Darstellung veran-
schaulicht den Ablauf der Kanban-Einzelprozesse.

28
Vgl. Straube, F. (2005): Trends und Strategien in der Logistik. Ein Blick auf die
Agenda des Logistik-Managements 2010, Hamburg.
29
Ünal, C. L. (2005): Logistik & Supply Chain Management, in: Operations &
Supply Chain Management, München, S. 13.
30
Vgl. Tempelmeier, G. (2004), Produktion und Logistik, 6. Aufl., Berlin, Hei-
delberg, New York.
Das Kanban-System bei Toyota 89

Abb. 3. Betrachtung der Kanban Einzelprozesse31

Vor der Implementierung des Systems müssen jedoch Ziele definiert wer-
den. Ein mögliches Ziel könnte z. B. die Reduzierung der Durchlaufzeiten
sein. Hierbei muss eine genaue Messzahl festgesetzt werden. Grundlage
für die korrekte Ableitung der Messziele sollten dabei die übergeordneten
Unternehmensziele sein.
Bei der Implementierung eines Kanban-Systems müssen bestimmte Re-
geln eingehalten werden:

• Es darf kein Material ohne dazugehörige Kanban-Karte im Umlauf


sein, damit die Senke auch nur soviel Material wie notwendig an-
fordert.
• Die Senke muss zum definierten Zeitpunkt Material anfordern und
nicht etwa verfrüht, da dies den Ablauf der Produktion stören würde.
• Die Quelle darf nicht zu viel produzieren und somit einen Vorrat
erwirtschaften. Die Produktionskapazitäten würden hierdurch über-
schritten werden.
• Um die Produktion nicht zu verzögern, muss die Quelle die Ware
ohne Qualitätsmängel bereitstellen.
• Die Koordination muss eine gleichmäßige Belastung der einzelnen
Produktionsstufen sicherstellen, damit ein möglichst minimaler La-
gerbestand verwirklicht werden kann.
• Die Aufgabe des Kanban-Koordinators ist es, auf die die Anzahl der
Kanban-Karten achten. Diese sollten minimiert werden, da die Kar-
ten bedeuten, dass Material im Umlauf ist. Folglich sind die La-
gerhaltungs- und Transportkosten umso größer, je mehr Karten und
damit Material im Umlauf sind.
Der Material und Informationsfluss der aufgeführten Regeln werden ver-
einfacht in folgender Abbildung dargestellt:

31
Ünal, C. L. (2005), S. 11.
90 Japanisches Management

Abb. 4. Kanban Material/Informationsfluss32

Durch die Harmonisierung des Produktionsablaufes entstehen zahlreiche


Vorteile: Die relativ geringe Kapitalbindung, der geringe Steuerungsauf-
wand durch den Selbstregulierungsmechanismus sowie die erhöhte Pro-
duktivität und die minimierten Durchlaufzeiten tragen primär zu einer Re-
duzierung der Gesamtkosten bei. Die kurzen Durchlaufzeiten wirken sich
jedoch in gleichem Maße auch positiv auf die Kundenzufriedenheit und -
bindung aus, da sich die Termintreue verbessert. Die Lieferbereitschaft
steigt bei der Einführung des Kanban-Systems. Vorteile für den Kunden
entstehen außerdem durch die erhöhte Qualität des Endproduktes.

6.2.3 Adaptionsmöglichkeiten und Evaluierung

Das japanische Kanban-System wurde von vielen führenden Unternehmen


als Produktions- und Lagersystem adaptiert. Besonders häufig wurde in
der Automobilbranche das Kanban-System übernommen. So haben zum
Beispiel Volvo33 und Mercedes34 ihre Werke oder einen Teil ihrer Werke
auf das Kanban-System umgestellt. Auch Porsche hat 1993 damit begon-
nen, die Produktionsprozesse umzustellen. Das Unternehmen hat damit

32
Geiger, G./Hering, E./Kummer, K. (2003): Kanban – Optimale Steuerung von
Prozessen, 2. Aufl., München, Wien.
33
Vgl. McCutcheon, Duff (2003): On the right track.
34
Vgl. Mercedes Benz Brazil (2005): Operations, Total Preventive Maintenance.
Das Kanban-System bei Toyota 91

bewiesen, dass die japanische Produktionsstrategie auch für kleine Serien-


produktionen geeignet ist (Porsche steigert den Unternehmenserfolg konti-
nuierlich)35. Diverse weitere Unternehmen verwenden ähnliche Systeme,
um die Produktionsprozesse zu optimieren und besser zu kontrollieren.
Allerdings ist das Prinzip nicht für jede Branche, beziehungsweise Unter-
nehmen geeignet.
Das System lässt sich in den meisten Fertigungsbereichen implemen-
tieren. Besonders gut geeignet sind standardisierte Endproduktfertigungen
ohne große Variantenzahl. Unternehmen mit einer Reihenfertigung oder
Werkstattfertigung können ohne größere Probleme ein Kanban-System
einführen, wogegen die Implementierung bei Einzelfertigung eher unge-
eignet ist.36
Welche Voraussetzungen im Unternehmen vorhanden sein müssen, um
ein Kanban-System einzuführen, wird im Bereich der Fertigung kontrovers
diskutiert. Eine Serienfertigung ist jedoch nach allen Quellen überein-
stimmend notwendig. Bei einer Variantenfertigung ist die Einführung sehr
viel komplexer, kann aber unter bestimmten Voraussetzungen auch positi-
ve Effekte erzielen.
Den größten Nutzen erzielt ein Kanban-System bei denjenigen Teilen,
die für den Produktionsprozess besonders wichtig sind. Die Bestandteile,
die in den Prozess integriert werden, sollten ausgereift sein und eine relativ
einfache Stückliste haben. Das benötigte Material sollte ohne häufige Son-
derwünsche pünktlich zur Verfügung stehen. Generell ist das japanische
Produktionssystem eher bei Unternehmen mit geringen Produktänderun-
gen zu empfehlen.
Der Materialfluss im Unternehmen sollte geradlinig, ohne Pausen und
rasch ablaufen.
In einem kanban-fähigen Unternehmen muss ein schneller und sicherer
Informationsfluss sichergestellt sein. Außerdem ist es von Vorteil, wenn
Kommunikationswege möglichst einfach gehalten werden. Deshalb ist es
wichtig, dass geschultes und qualifiziertes Personal in der Fertigung einge-
setzt wird.
Unternehmen mit einer relativ konstanten Nachfrage haben bessere
Voraussetzungen Kanban einzuführen, weil eine genauere Vorhersage
über den Verbrauchsverlauf möglich ist.

35
Vgl. Kanban Consult (2006): Der Meister… und sein bester Schüler.
36
Vgl. Geiger, G./Hering, E./Kummer, K. (2003).
92 Japanisches Management

Sind die zu transportierenden Artikel von einer Produktionsstufe zur


nächsten vergleichsweise groß, muss auf ein optimales innerbetriebliches
Transportwesen Wert gelegt werden. Sind die Artikel zu groß und sperrig
für den Transport, ist ein Kanban-System nicht zu empfehlen. Ferner ist
Kanban für Unternehmen, die viele Lieferungen haben, die just in time
erfolgen müssen, ungeeignet.37
Bei der Prüfung, ob ein Unternehmen Kanban einführen sollte oder
nicht, werden auch die Lieferanten untersucht. Externe Lieferanten werden
nur in das System integriert, wenn sie Teile zum Produktionsprozess lie-
fern. Sind diese Lieferanten nicht kanban-fähig (weil sie z. B. unzuverläs-
sig liefern oder die Qualität nicht den Ansprüchen entspricht). muss ein
Lieferantenwechsel in Erwägung gezogen werden. Sind einzelne Zuliefer-
teile ungeeignet, sich von Kanban steuern zu lassen, sollten die Kanban-
Prinzipien zumindest teilweise zur Anwendung kommen, um wenigstens
partiell positive Auswirkungen zu erreichen. Eine grundlegende Voraus-
setzung zur Einführung eines Kanban-Systems ist die Qualität der Vorpro-
dukte. Qualitätsmängel ziehen in dem fest definierten Planungsprozess
erhebliche Probleme mit sich, die zu unerwünschten Nacharbeiten führen
würden. Um die Qualität der zu verarbeitenden Produkte zu gewährleisten,
ist ein konsequentes Qualitätsmanagement im Unternehmen umzusetzen.
Haben Unternehmen diese Voraussetzungen nicht oder nur teilweise er-
füllt, ist die Einführung eines Kanban-Systems nicht zu empfehlen oder
erst nach entsprechenden Umrüstungen möglich.
Beschließt ein Unternehmen, das Kanban-System in der Produktion ein-
zuführen, sind folgende Punkte für eine erfolgreiche Implementierung zu
beachten:
Die Losgröße muss verkleinert werden, um Überproduktion und die da-
durch entstehenden Lagerbestände zu vermeiden.
Eine genaue Planung der Produktion ist auf der letzten Stufe unumgäng-
lich, damit sich keine Schwankungen im gesamten Produktionsprozess
ergeben. Dieser Aspekt ist besonders wichtig, weil Änderungen in der Pro-
duktionsmenge eines Kanban-Systems immer auch Auswirkungen auf die
vorgelagerten Produktionsstufen haben. Wird auf der letzten Produktions-
stufe falsch geplant, führt das zwangsläufig zu Überkapazitäten oder
Pufferbeständen, die gerade durch dieses System vermieden werden sollen.
Aufgrund des minimierten Lagerbestandes müssen die Transportzyklen
verkürzt und möglichst immer auf die gleiche, vom Unternehmen fest de-
finierte, logistische Weise erfolgen.

37
Vgl. Gienke, H./Kämpf, R. (2005).
Das Kanban-System bei Toyota 93

Eine kanban-gesteuerte Produktion läuft im optimalen Fall kontinuier-


lich ab, um eine stetige und gleichmäßige Auslastung der Produktionsstu-
fen zu gewährleisten. Aus diesem Grund ist das System standardisiert. Zu
beachten ist jedoch, dass in der Praxis auch Sonderaufträge hinzukommen
können.
Den Materialfluss lenken die erwähnten sogenannten Kanban-Karten.
Um ein einwandfreies Funktionieren dieses System zu gewährleisten,
braucht jede Stufe im Produktionsprozess (die produzierenden und
verbrauchenden Stellen und die Pufferlager) sowie jeder Artikel eine exak-
te Bezeichnung. An dieser Stelle müssen auf jeden Fall Fehler vermieden
werden. Deshalb sollte dieser Prozess so einfach wie möglich gehalten
werden.
Beim Transport der Artikel ist auch auf deren Behälter zu achten. Diese
dienen nicht nur zum Schutz vor Transportschäden, sondern sollen auch
Informationen über Anzahl und Art der transportierten Artikel geben.

6.2.4 Ausblick

Wie sich aus Erfahrungen vieler Unternehmen gezeigt hat, ist es möglich,
durch den Einsatz des japanischen Kanban-Systems wesentliche Einspa-
rungspotenziale zu nutzen. Bei der Überlegung, ob das System in einem
Unternehmen eingeführt werden sollte, ist es unumgänglich alle Unter-
nehmensspezifika genau zu prüfen. Dabei werden die im dritten Abschnitt
beschriebenen Voraussetzungen geprüft und die aufgeführten Punkte der
Reihe nach abgearbeitet.
Die einmalige Einführung des Systems ist jedoch langfristig nicht aus-
reichend. Eine ständige Verbesserung der Prozesse und eine Weiterent-
wicklung des Systems sind vielmehr gefragt. Dabei müssen Fehler und
Lücken des Systems erkannt und überarbeitet werden.
An Bedeutung gewinnt wohl in Zukunft das elektronische Kanban,
welches Kanban in das PPS-System38 eines Unternehmens integriert.
Dadurch können alle wichtigen Daten von den verschieden Abteilungen
(Finanzdaten, Materialdaten, Produktionsdaten, Vertriebsdaten und Per-
sonaldaten) in das System eingebunden werden und von jeder Stelle ab-
gerufen werden. Außerdem können auch externe Lieferanten besser in

38
PPS-System: Produktionsplanungs- und Steuerungssystem; Ein aus Computer-
programmen bestehendes System das bei der Produktionsplanung- und Steue-
rung eingesetzt wird.
94 Japanisches Management

den Prozess eingebunden werden, weil sie mit Hilfe des Internets selb-
ständig die Kanban-Karten einsehen können und nach Bedarf deren Sta-
tus verändern können (z. B. den Status „voll“ einstellen, wenn eine Lie-
ferung gebracht wurde).39
Die japanische Automobilindustrie hat sich in der Vergangenheit einen
Vorsprung durch die Entwicklung des Kanban-Systems erarbeitet. Diesen
gilt es zu halten und auszubauen. Wettbewerber wie zum Beispiel General
Motors führen mittlerweile ebenfalls komplette Produktionssanierungen
durch Lean-Production-Systeme durch.40 Darin besteht durchaus eine po-
tentielle Gefahr für die japanische Automobilindustrie. Denn im heutigen
globalen Wettbewerbsumfeld bedeutet Stillstand Rückschritt.

6.2.5 Literatur

Cachon, G. P./Terwiesch, C. (2004): Matching Supply with demand: An


introduction to operations management, Pennsylvania
Enright, M. J. (2003): Buyer-Supplier Relationships, Hongkong, S. 2 – 3
Geiger, G./Hering, E./Kummer, K. (2003): Kanban – Optimale Steuerung
von Prozessen, 2. Aufl., München, Wien
Gienke, H./Kämpf, R. (2005): Praxishandbuch Produktion, Innovatives
Produktionsmanagement: Organisation, Konzepte, Controlling, Mün-
chen/Wien
Kanban Consult (2006): Der Meister… und sein bester Schüler,
http://66.249.93.104/search?q=cache:BaQ7WVmgrvEJ:www.kanbanc
onsult.de/ergebnis.htm+kanban%2Bporsche&hl=de&ct=clnk&cd=2,
11.5.2006
McCutcheon, Duff (2003): On the right track, http://66.249.93.104/search?
q=cache:E0jmi2XxNS8J:www.advancedmanufacturing.com/May03/
coverstory.htm+volvo%2Bkanban&hl=de&ct=clnk&cd=13, 11.5.2006
Mercedes Benz Brazil (2005): Operations, Total Preventive Maintenance,
http://66.249.93.104/search?q=cache:YEf0abS4tQYJ:www.seattleu.ed
u/asbe/studytour/brasil98/mercedes_benz.htm+mercedes%2Bkanban&
hl=de&ct=clnk&cd=1, 12.5.2006

39
Vgl. Geiger, G./Hering, E./Kummer, K. (2003).
40
Vgl. Enright, M. J. (2003), S. 2 – 3.
Akio Moritas Unternehmensphilosophie 95

Nixdorf, A. (2005): Operative Excellenz, Am Anfang war die Not, in:


McK Wissen 05, Hamburg, S. 8 – 15
Ohno, T. (o. J.): in: Ünal, C. L. (2005): Logistik & Supply Chain Manage-
ment, in: Operations & Supply Chain Management, S. 11
Ünal, C. L. (2005): Logistik & Supply Chain Management, in: Operations
& Supply Chain Management, München, S. 1 – 19
Straube, F. ( 2005): Trends und Strategien in der Logistik. Ein Blick auf
die Agenda des Logistik-Managements 2010, Hamburg
Tempelmeier, G. (2004): Produktion und Logistik, 6. Aufl., Berlin, Heidel-
berg, New York

6.3 Akio Moritas Unternehmensphilosophie

Michael Blasi und David Fritsch

„It’s a Sony!“ – Wenn Sie sich in ihrem Haushalt umsehen, werden Sie
sehen, dass dieser Werbeslogan wirklich zutrifft. Egal ob Fernseher, Ra-
dioempfänger, Videorecorder oder Walkman – der Name Sony steht für
eine der bekanntesten Marken der Unterhaltungselektronik und einen
weltweit führenden Hersteller von Audio-, Video-, Kommunikations- und
Informationstechnologie im Heim- und Profisegment. Die Firma mit ihrem
Hauptsitz in Tokyo beschäftigte im März 2002 168.000 Menschen auf der
ganzen Welt. Im Jahr 1946, als sich Masaru Ibuka und Akio Morita, beides
Elektroingenieure, dazu entschlossen, ihre eigene Firma aufzubauen, be-
gannen sie mit 20 Angestellten.
Es gibt viele Beispiele von Firmen, die ein Imperium aus dem Nichts
aufgebaut haben. Doch nur wenigen gelingt es, diese Spitzenposition zu
halten. Sony ist ein gutes Beispiel dafür, was man mit der richtigen Strate-
gie erreichen kann. Die beeindruckende Geschichte weltweiten Erfolgs
war nur möglich durch eine einzigartige Vision, die stark von der japani-
schen Lebensweise und Kultur geprägt ist.
Was ist so besonders an diesem Japanese Way? Was macht die japanische
Unternehmensphilosophie aus und wie schaffte es die Firma Sony und Fir-
mengründer Akio Morita, der unzweifelhaft die Seele des Unternehmens
darstellte, den japanischen Management-Stil auf die weltweiten Niederlas-
sungen zu übertragen?
96 Japanisches Management

6.3.1 Herkunft und kultureller Hintergrund Moritas

Japans Kultur wurde von jeher stark von ausländischen Einflüssen geprägt.
Morita schreibt dazu: „We often joke that most Japanese are born Shinto,
live a Confucian life, get married Christian-style, and have a Buddhist fu-
neral. We have our rites and customs and festivals steeped in centuries of
religious traditions, but we are not bound by taboos and feel free to try
everything and seek the best and most practical ways of doing things.“41
Besonders nach dem zweiten Weltkrieg imitierten die Japaner europä-
isch-westlichen Lebensstil. Auch Morita erlebte die Zeit, in der die Leute
bewusst europäische Gesellschaftstänze besuchten, europäische Kleider-
ordnungen und Esskultur übernahmen.42
Die Familie hatte in Japan schon immer eine sehr wichtige Rolle ge-
spielt. Japanische Familien sind groß – traditionell leben drei Generatio-
nen, Großeltern, Eltern und Kinder in einem Haus. Auch Morita lebte so,
allerdings mit dem Privileg eines hohen Lebensstandards. Er lebte in ei-
nem großen Herrschaftshaus, in einer rich man’s street wie die Leute sie
nannten.43 Die Familie besaß seit Generationen eine Sojasoßen-Fabrik.
Deshalb half Morita schon früh seinem Vater bei den Geschäften. In Groß-
familien mit mehreren Kindern werden die ältesten Söhne oft bevorzugt
behandelt, da diese als Nachfolger für den Familienbetrieb bestimmt wer-
den. Morita hatte deshalb große Zweifel, ob es eine gute Idee sei, selbst
eine eigene Firma zu gründen und somit seinen Vater im Stich zu lassen.
Zum Glück unterstützte schließlich der Vater die Idee seines Sohnes und
gab sogar gelegentlich Kredite. An der Reaktion des Vaters ist sichtbar,
dass die strikte Disziplin in den japanischen Familien in der Nachkriegs-
zeit abnahm.44
Neben der Disziplin existiert auch ein harter Konkurrenzkampf im Ge-
schäftsleben und im Sozialleben Japans. Deshalb legen japanische Eltern
besonderen Wert auf die erstklassige Ausbildung ihrer Kinder.
Nur die besten Studenten werden zu den guten Universitäten zugelassen
und müssen dafür sehr schwierige Zugangsprüfungen bestehen, die noch
schwerer als das nachfolgende Studium sind. Morita kritisiert in diesem

41
Morita (1988): S. 251 f.
42
Vgl. Morita (1988): S. 10.
43
Morita (1988): S. 7.
44
Vgl. Blanpain, R., Hanami, T. (1993): Industrial Relations and Human Res-
source Management in Japanese Enterprises in Europe, Baden Baden, S. 27 f.
Akio Moritas Unternehmensphilosophie 97

Zusammenhang die amerikanischen und europäischen Universitäten, in


denen ihm das Gegenteil der Fall zu sein scheint.45
Vielleicht liegt es auch an dem stark auf Konkurrenz ausgelegten Bil-
dungssystem, dass Armut in Japan kaum zu existieren scheint. Die Japaner
lernen sehr früh, wie wichtig es ist, für ein Leben in Wohlstand zu kämpfen,
indem sie durch harte Arbeit eine gute Ausbildung anstreben, die die Garan-
tie für einen lebenslang sicheren Arbeitsplatz darstellt. Die Kluft zwischen
arm und reich ist in Japan relativ klein, immerhin 90 Prozent der Bevölke-
rung gehören laut Morita der Mittelklasse an.46
In Verbindung damit steht die japanische Philosophie, Verschwendung
zu vermeiden. Morita erklärt dies mit dem japanischen Ausdruck mottai-
nai, ein Schlüsselkonzept im Sozial- und Geschäftsleben. „It suggests that
everything in the world is a gift from the Creator, and that we should be
grateful for it and never waste anything.“47

6.3.2 Individualismus in Japan als prägender Einfluss auf Morita

Japan ist wohl eines der wenigen Länder, in denen Individualismus und
Kollektivismus in den unterschiedlichsten Bereichen des täglichen Lebens
gleichermaßen wichtig sind.
In Familie, Schule, Militär oder berufliche Bildung wird jeder dazu er-
zogen, sich seiner individuellen Stärken und Schwächen bewusst zu wer-
den, um als Individuum erfolgreich zu sein und Ehre und Respekt zu ver-
dienen. Der ehrenvollste Status ist der des ichiban, der „Nummer Eins“, im
Unterricht, Sport oder Geschäftsleben. In Moritas Schule saßen zum Bei-
spiel die Schüler in der Reihenfolge ihrer Leistungen aufgereiht, um den
Wettbewerb zu verstärken. Nichts wird jedoch als ehrenvoller angesehen
als das Oberhaupt einer glücklichen Familie und gleichzeitig ein erfolgrei-
cher Geschäftsmann zu sein.
Einer der am besten gehüteten Schätze Japans ist die Ehre des Einzelnen.
Die Angst, sein Gesicht zu verlieren, ist so groß, dass davon das Sozial-
verhalten und das Denken maßgeblich beeinflusst werden. Genau so
schrecklich wie sein Gesicht zu verlieren, ist es, jemanden in eine Situation
zu bringen, in der er sich selbst entehren könnte, indem er sein Gesicht
verliert.

45
Vgl. Morita (1988): S. 245 f.
46
Vgl. Morita (1988): S. 149 f.
47
Morita (1988): S. 252.
98 Japanisches Management

Das ist der Grund, warum japanische Dialoge kaum Möglichkeiten zu


enthalten scheinen, einen Streit anzufangen. Anstatt Meinungsverschie-
denheiten offen auszutragen, analysieren Japaner eher die Situation, um
herauszufinden, was falsch gelaufen ist, und konfrontieren somit ihr Ge-
genüber nicht direkt. Laut zu werden oder grob aufzutreten ist in Japan
tabu. Der japanische Individualismus äußert sich eher introvertiert, ist we-
niger expressiv als im Westen.
Derjenige, der überreagiert und die Beherrschung verliert, verliert
gleichzeitig auch sein Gesicht. Morita schreibt hierzu: „One day in New
York my friend Issey Miyake told me that he was upset that Yoshiko and
Diana Vreeland had “a terrible” fight. (…) There was no fight, just a dif-
ference of opinions that is natural among Westerners, but which most
Japanese try to avoid.”48

6.3.3 Japanisches Management

Die japanischen Führungsstile, die sich seit der Industrialisierung heraus-


gebildet haben, wurden einerseits durch die japanische Geschichte und
Kultur geprägt, andererseits durch die „Verwestlichung“, die nach dem
Ende des Tokugawa-Zeitalters begann. Auch die Zeit des Wirtschaftswun-
ders der 50er und 60er Jahre, als sich auch Sonys Wachstum und Expansi-
on in fremde Märkte vollzog, hatte einen großen Einfluss auf die Entwick-
lung der japanischen Unternehmensführung. Wie Akio Morita hatten die
meisten japanischen Manager damals – ebenso wie in Deutschland – zuvor
als Offiziere und Unteroffiziere Kriegsdienst leisten müssen und dabei
nolens volens in jungen Jahren die Tugenden der Kameradschaft, der
Fürsorge für die anvertrauten Untergebenen, des opferbereiten Eintretens
für die Systemziele, der eigenverantwortlichen Initiative und des vorbild-
haften Führens gelernt.

6.3.4 Kollektivismus

Im Gegensatz zum Individualismus im privaten Leben ist das Arbeitsleben


sehr stark vom Kollektivismus geprägt. Der Japaner ist traditionsgemäß
stark in Kollektive eingebunden und es scheint so, als ob er drei Familien
besitzt: seine eigentliche Familie, die Firma, für die er arbeitet, und das
Land, in dem er geboren ist.

48
Morita (1988): S. 116 f.
Akio Moritas Unternehmensphilosophie 99

Der Stolz der Japaner auf ihre Nation, Nippon oder Nihon genannt, ist au-
ßergewöhnlich. Die Japaner feiern Statistiken, die ihr Land vor anderen
zeigen. Autoren, die Bücher mit Titeln wie „Japan als Nummer eins“
schreiben, finden sich regelmäßig auf den obersten Plätzen der Bestseller-
Listen wieder. Da es das Hauptziel jedes Einzelnen ist, ichiban zu sein,
kann jeder dieses Ziel erreichen, der produktives Mitglied der „Japan-AG“
ist49. Weil alle Unternehmen Mitglied der Japan-AG sind, ist die Firma für
einen japanischen Angestellten nicht nur sein Arbeitgeber. Der Arbeit-
nehmer sieht sich selbst als Teil der ganzen Gemeinschaft. Er begreift sich
sogar als ein Teil, der die gesamte Gemeinschaft zum Erfolg führen kann.
Wegen dieser Hingabe nennen Japaner, wenn sie sich Fremden gegenüber
vorstellen, zuerst den Namen der Firma, für die sie arbeiten und dann erst
ihren eigenen Namen.50
Im Vergleich zu Deutschland ist die Bereitschaft eines japanischen An-
gestellten, sich für seinen Arbeitgeber aufzuopfern, ein Vielfaches höher.
Deutsche arbeiten in der Regel so lange, wie es ihnen ihr Arbeitsvertrag,
der sich oftmals auf einen Tarifvertrag stützt, vorschreibt. Ein Japaner
würde die Arbeitszeit als die Zeit beschreiben, die notwendig ist, um die
Aufgabe zu erfüllen.
In Japan wird die Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer
eher als familiäre Beziehung betrachtet, nicht zuletzt deshalb, da der Ar-
beitnehmer Zulagen vom Arbeitgeber erhält um seine Familie zu versor-
gen. Im Gegenzug für seine Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber genießt
der Angestellte den Vorzug, von Managern nicht als Werkzeug betrachtet
zu werden, sondern als jemand, der dem Unternehmen hilft, seine Visionen
und Ziele zu erreichen. Dies wird von Morita so beschrieben51:
„Management must consider a good return for the investor,
but he also has to consider the employees…, who must help
him to keep the company alive and he must reward their
work. The worker’s mission is to contribute to the company’s
welfare, and his own, every day all of his working life. He is
really needed.“
Morita beschreibt weiter, dass die Leistung eines Managers daran gemessen
wird, wie gut er eine große Anzahl von Leuten koordinieren kann und wie

49
Vgl. Sachwald, F. (1995): Japanese Firms in Europe, Luxemburg, S. 17 – 18.
50
Vgl. Blanpain / Hanami (1993): S. 77.
51
Vgl. Morita (1988): S. 158.
100 Japanisches Management

gut er die einzelnen Arbeitskräfte zu Höchstleistungen motivieren kann.52


Diese Philosophie wird in Japan so gelebt, dass japanische Unternehmen
ihre Angestellten auf Lebenszeit beschäftigen. Sogar in Krisenzeiten wech-
seln sie nicht zu einer Hire-And-Fire-Mentalität, wie sie z.B. in amerikani-
schen Unternehmen üblich ist. Im Gegenteil versuchen sie eine motivierte
und flexible Belegschaft zu bilden. Dies wird auch durch konsequente
Gruppenarbeit, interne Trainingsseminare und Weiterbildungen, Beförde-
rungen und außerordentliche Prämien sowie umfangreichen Informations-
austausch erreicht. Auf diese Weise gelingt es japanischen Unternehmen, die
volle Denkleistung ihrer Mitarbeiter zu nutzen. Gerade der Gedankenaus-
tausch der Arbeitnehmer untereinander hat laut Morita sehr große Bedeu-
tung, denn, so schreibt er, je unterschiedlicher die Ideen der Mitarbeiter sind,
desto geringer ist das Risiko für ein Unternehmen, Fehler zu machen.53 Um
eine motivierte Belegschaft zu entwickeln, hat Sony sogar eine subventio-
nierte Bar namens „Sony Club“ gegründet, wo sich Sony-Mitarbeiter im
Anschluss an die Arbeit treffen können. Diese Bar diente aber auch dazu, die
Mitarbeiter davon abzuhalten, in unbekannten Bars herumzuhängen, zu viel
zu trinken und dann Firmengeheimnisse auszuplaudern.54
Japanische Unternehmen sind im Umgang mit Fehlern, die von Ange-
stellten gemacht werden, generell toleranter als westliche Arbeitgeber.
Anstatt den Schuldigen zu suchen, konzentriert man sich vielmehr darauf,
die Ursachen für den Fehler zu ergründen. Die individuellen Zuständigkei-
ten der Mitarbeiter sind oft nicht klar bestimmt, um vor allem jüngere An-
gestellte dazu zu ermutigen, zu experimentieren und dadurch die Wahr-
scheinlichkeit zu erhöhen, etwas Neues zu entdecken.
Dennoch kommt in japanischen Unternehmen auch der Vermeidung von
Fehlern wesentlich größere Bedeutung zu als der Analyse derer, die Fehler
gemacht haben. Auch deshalb sind Sitzungen in japanischen Unternehmen
meist wesentlich länger und intensiver als in europäischen Unternehmen.
Geschäftsleute aus dem Ausland fühlen sich deshalb auch des Öfteren un-
wohl, wenn sie mit japanischen Partnern verhandeln. Der Grund dafür
könnte darin liegen, dass Japaner, wie erwähnt, im Gespräch dazu neigen,
Details wiederholt von allen Seiten zu eruieren und dabei gleichzeitig – um
Streitigkeiten zu vermeiden – um ihre eigentliche Meinung herumzureden;
eine Tatsache, die immer wieder zu Missverständnissen führt.

52
Vgl. Morita (1988): S. 171.
53
Vgl. Morita (1988): S. 235.
54
Vgl. Morita (1988): S. 235.
Akio Moritas Unternehmensphilosophie 101

6.3.5 Hierarchien im Unternehmen

Angestellte in Japans Unternehmen bringen ihren Vorgesetzten sehr viel


Respekt entgegen. Die Achtung vor Alter und Vorrang, Erfahrung und Hie-
rarchie ist grundlegend für die japanische Gesellschaft. Dennoch sehen sich
japanische Manager aufgrund des Kollektivismus auch als Teil einer Unter-
nehmens-Familie. Morita unterstreicht, dass Management keine Diktatur ist.
So ist das Management stets um gute Beziehung zu den Mitarbeitern bemüht
und trifft sich auch regelmäßig nach den Arbeitszeiten mit ihnen.55 Um die
Lücke zwischen Management und Arbeitnehmern abzubauen, sehen die
Büros von Topmanagern in Japan anders aus als die ihrer Kollegen in Ame-
rika oder Europa. Nur selten sind sie um ein Vielfaches größer als die Büros
ihrer Untergebenen oder mit edlen Möbelstücken oder Statussymbolen ein-
gerichtet. Auf diese Weise wird auch vermieden, dass Kunden oder Investo-
ren hinterfragen, wofür die Profite der Firma ausgegeben werden.
Die Rolle der Manager in Japan ist von ihrer Verantwortung geprägt, je
nach der Situation, in der sich die Firma gerade befindet. Wenn das Unter-
nehmen nur geringen Profit oder sogar Verluste erwirtschaftet, werden
eher die Gehälter der Manager gekürzt, anstatt Arbeitskräfte zu entlassen.56
Dies zeigt den großen Unterschied zu Amerika oder Europa, wo in schlech-
ten Zeiten Mitarbeiter entlassen werden, obwohl das Management weiter
das gleiche Gehalt bezieht. Dies wäre in Japan schwer vorstellbar, da es der
Tradition der Beschäftigung auf Lebenszeit und der Solidarität zwischen
Management und Belegschaft widerspräche.

6.3.6 Japanische Globalisierungsstrategien

Wenn sich ein japanisches Unternehmen auf seine Internationalisierung


vorbereitet, indem es Zweigniederlassungen in anderen Ländern aufbaut,
muss es seinen Führungsstil auf die Auslandsniederlassung übertragen und
an die ausländischen Gegebenheiten anpassen. Probleme, die aufgrund von
kulturellen Unterschieden bestehen, müssen erkannt, analysiert und gelöst
werden. Unterschiedliche Wertorientierungen hinsichtlich Hierarchie und
Kollektivismus müssen zwischen dem japanischem Management und der
westlichen Belegschaft abgestimmt werden. Sony hatte zunächst große
Schwierigkeiten, dies zu meistern, obwohl damals in den 60er Jahren ganz
andere Bedingungen herrschten als heute.

55
Morita (1988): S. 160.
56
Blanpain / Hanami (1993): S. 29.
102 Japanisches Management

6.3.6.1 Going global – japanische Unternehmen


Wenn man das Management von japanischen Zweigniederlassungen in
Europa und Nordamerika näher betrachtet, fallen zahlreiche einzigartige
Charakteristika auf. Zunächst ist frappant, dass viele japanische expatriates57
aus der Unternehmenszentrale in Japan in den ausländischen Zweignieder-
lassungen arbeiteten. Um eine reibungslose Integration in das Netz der
angeschlossenen Unternehmen in den Anfängen zu gewährleisten, wurden
die meisten hohen und mittleren Positionen mit japanischen Entsandt-
kräften besetzt. Im Gegensatz zu anderen multinationalen Unternehmen
sind auch nach einiger Zeit immer noch sehr viele Positionen, insbesonde-
re auf Führungsebene, von expatriates besetzt. Als viele japanische Unter-
nehmen im Ausland erfolgreicher wurden, führte dieser Umstand immer
wieder zu dem Vorwurf der Diskriminierung. Eine Erklärung liegt darin,
dass die japanische Firmenzentrale wesentlich mehr Vertrauen in ihre ex-
patriates setzt als in einheimische Arbeitskräfte. Da die expatriates dem
japanischen Kulturkreis angehören, können sie viel besser für die
reibungslose Übertragung der Firmenziele und -kultur und für die Imple-
mentierung der japanischen Managementstrategie im Ausland sorgen, so
die Argumentation Moritas, der sich mutmaßlich an Sonys teures Lehrgeld
mit Sony Pictures in den USA noch allzu gut erinnern konnte.
Eine andere Eigenheit ist der Umgang mit Hierarchien im Kollektivismus.
Viele europäische und amerikanische Beschäftigte würde es befremden, mit
ihren Vorgesetzten das gleiche Büro zu teilen oder mit diesen regelmäßig
während der Mittagspause oder nach der Arbeit am gleichen Tisch oder in
der gleichen Bar zu sitzen. In Japan jedoch ist dieser ungezwungene Um-
gang zwischen Führungskräften und Personal nicht gerade unüblich.
Der Kollektivismus in japanischen Unternehmen ist auch an der Art des
Austausches von Informationen im Unternehmen sichtbar. In vielen Sit-
zungen und bei anderen Anlässen werden die Meinungen und Anregungen
von jedem berücksichtigt, um möglichst gute Lösungen und neue und in-
novative Ideen zu finden.58
Ein weiterer Unterschied ist die hohe Bereitschaft zum innerbetrieblichen
Arbeitsplatzwechsel, auf die in japanischen Unternehmen großer Wert
gelegt wird und den die Mitarbeiter von japanischen Tochtergesellschaften
unbedingt teilen sollten. Der typische Karriereweg eines westlichen Ar-

57
Def.: ständig im Ausland lebende Entsandtkraft der Stammfirma.
58
Blanpain / Hanami (1993): S. 74.
Akio Moritas Unternehmensphilosophie 103

beitnehmers – eine spezielle Ausbildung, eine berufliche Spezialisierung


und die spätere Verantwortlichkeit für eine spezielle, eng eingegrenzte
Tätigkeit – ist in Japan unüblich.
Im Firmenkollektiv wird viel Wert auf die Persönlichkeit jedes Indivi-
duums gelegt. Das einstellende Unternehmen sucht bei der Auswahl von
Angestellten nach Personen mit speziellen Charaktereigenschaften. Natür-
lich wird die berufliche Qualifikation vorausgesetzt, aber es wird auf eine
Reihe weiterer Eigenschaften Wert gelegt. Diese Eigenschaften beinhalten
Anpassungsvermögen, Dynamik, die Fähigkeit zuzuhören, Interesse am
Zeitgeschehen und Wohlergehen Japans, Bereitschaft zur Übernahme von
Verantwortung, Loyalität, Teamfähigkeit, den Willen für lange Zeit im
Unternehmen zu bleiben, Interesse für die Belange der Gemeinschaft und
eine ausgeglichene Persönlichkeit. Diese persönlichen Qualitäten bilden
die Voraussetzung für die berufliche Weiterbildung, Arbeitsplatzrotation
und bereichsübergreifende Ausbildungsgänge.
Aufgrund zahlreicher Entlassungen im westlichen Wirtschaftsraum ge-
winnt die Sicherheit des Arbeitsplatzes in Europa und Nordamerika für die
Arbeitnehmer zunehmend an Bedeutung. Wie erwähnt, stellt die Anstel-
lung auf Lebenszeit einen besonderen Wert der japanischen Kultur dar.
Viele japanische Tochtergesellschaften versuchen damit einheimisches
Personal zu werben.
Während einige der oben erwähnten Charakteristika sich positiv auf die
Arbeitnehmerschaft auswirken, stehen andere, wie z.B. unzureichend defi-
nierte Verantwortlichkeiten bei Arbeitsplatzbeschreibungen im Konflikt mit
den strengen Regeln des Arbeitsrechts und gewerkschaftlicher Vorstellun-
gen, die speziell in europäischen Ländern anzutreffen sind. Aus diesem
Grund versuchen japanische Unternehmen, gewerkschaftsfreie Betriebe zu
organisieren oder besondere Bedingungen auszuhandeln, um die Arbeitsbe-
dingungen für sich möglichst vorteilhaft und flexibel gestalten zu können.

6.3.6.2 Going global – das Unternehmen Sony


Als sich der internationale Erfolg einstellte und Sony bereits die Hälfte
seiner Produkte im Ausland verkaufte, entdeckte Morita, dass die Zukunft
seines Unternehmens entscheidend von den Vereinigten Staaten und anderen
internationalen Märkten abhing und Sony ein erfolgreiches und bekanntes
Unternehmen in zahlreichen Ländern geworden war. Deshalb begann die
Geschäftsleitung von Sony sich für mehr als nur die Marktstatistiken und
Verkaufszahlen zu interessieren.
104 Japanisches Management

Akio Morita war, wie erwähnt, bereits 1953 in die USA gereist und hat-
te das Land damals für so groß und hochentwickelt gehalten, dass er nicht
einmal darüber nachzudenken wagte, seine Erfindungen dort zu verkaufen
– geschweige denn dort eine Niederlassung zu eröffnen.59 Doch schon in
diesen frühen Jahren hielt er Augen und Ohren offen und analysierte das
Land und seine Märkte. Morita wollte unabhängig bleiben und sich nicht
von anderen Japanern, die bereits länger in Amerika Geschäfte betrieben,
helfen lassen. Dies begründete er damit, dass diese ebenso wie er Fremde
in diesem Land waren. Er begann stattdessen selbständig, Kontakte zu
amerikanischen Geschäftsleuten aufzubauen, darunter auch viele einfluss-
reiche Anwälte.60 Als 1960 die Sony Corporation of America als erste
Auslandsniederlassung weltweit eröffnet wurde, war diese mit Hilfe von
weitreichenden Beziehungen und auf einem profunden eigenen Wissen
über das Land erbaut worden.
Um der Dauerbelastung von ständigen Reisen in die USA zu entgehen,
beschloss Morita 1963 mit seiner Frau und seinen zwei Kindern von To-
kyo nach New York zu ziehen. Dieser große Schritt half Morita und Sony,
noch tiefere Einblicke in den amerikanischen Markt zu gewinnen. Durch
seine Kinder, die beide amerikanische Schulen besuchten, wurde er mit
vielen amerikanischen Traditionen vertraut.
Morita versuchte, dem Personal der Zweigniederlassungen, das gerade
in den Anfängen noch hauptsächlich aus Japanern bestand, eine Philoso-
phie der Integration zu vermitteln. Ein gutes Beispiel ist die Wahl des
Standortes für die deutsche Niederlassung. Da Morita nicht wollte, dass
sein Unternehmen und dessen Belegschaft ständige und ausschließliche
Verbindungen mit der japanischen Gemeinde unterhielt, die sich in Düs-
seldorf konzentrierte, wählte er Köln als Standort für die Sony Deutsch-
land GmbH, damit das Personal dort hauptsächlich mit Deutschen zu tun
haben würde und nicht dauernd mit japanischen expatriates.61
Für die Besetzung von Managementpositionen in Auslandsniederlas-
sungen verließ sich Sony hauptsächlich auf Versetzungen aus der japani-
schen Firmenzentrale. Morita blieb in diesem Punkt eher konservativ und
lehnte die amerikanische Art des Managements ab, bei der Außenstehende

59
Morita (1988): S. 72.
60
Morita (1988): S. 99.
61
Morita (1988): S. 141.
Akio Moritas Unternehmensphilosophie 105

weitreichende Entscheidungen über die Zukunft des Unternehmens trafen.62


Seine Abneigung gegenüber Außenstehenden mag darauf zurückzuführen
sein, dass er in früherer Zeit schlechte Erfahrungen gemacht hatte, als die
familieneigene Sojasoßen-Brauerei eine Zeit lang von angeworbenen Ma-
nagern geführt wurde und erst dann nur knapp der Pleite entkam, als Mori-
tas Vater wieder die Führung übernahm.
Auch äußerte Morita Kritik daran, dass Amerikaner sich zu sehr auf die
Erwirtschaftung von Profiten konzentrierten anstatt für dauerhafte Be-
schäftigung und eine zufriedene Belegschaft zu sorgen.63 Er machte bald
erste Erfahrungen mit der Hire-And-Fire-Mentalität der Amerikaner. Bei
der Firmeneröffnung in den USA wurde im Eifer des Gefechts manche
Stelle mit Leuten besetzt, die den Anforderungen der jeweiligen Positionen
nicht gerecht werden konnten. Moritas amerikanische Manager schlugen
bald vor, die betroffenen Personen zu entlassen, anstatt zu versuchen, in-
tern einen geeigneteren Arbeitsplatz für sie zu finden. Im ersten Moment
war er schockiert, lernte aber bald, dass für die Amerikaner ein Job bloß
ein Job war, und sie diesen nicht als Verbindung mit der Firma auf Le-
benszeit betrachteten. Ebenso verwundert war Morita, als ihm ein Ver-
kaufsleiter kündigte, da er von einem Konkurrenten ein höheres Gehalt
angeboten bekam.
Da Morita daran interessiert war, dass die Philosophie we are a family –
welche offensichtlich zum Großteil japanisch ist – auch in den Zweignie-
derlassungen gelebt wurde, entwickelte Morita ein Trainingssystem für
ausländische Manager. Diese sollten nach Japan in die Sony-Firmen-
zentrale geflogen werden, wo man ihnen den Managementstil von Sony
vorlebte. Das spezielle daran war, dass es für das dortige Management
keine Einzelbüros gab und keine eigenen Speisesäle, dafür aber regelmä-
ßige Sitzungen und Gespräche mit den Mitarbeitern, um eventuelle Prob-
leme zu beseitigen oder gar nicht erst entstehen zu lassen.64
Moritas Absicht war es, den Sony-Geist, den er von Anfang an im Un-
ternehmen lebte, am Leben zu erhalten und in neuen Auslandsniederlas-
sungen einzuführen.

62
Morita (1988): S. 198.
63
Morita (1988): S. 199.
64
Morita (1988): S. 159.
106 Japanisches Management

6.3.7 Zusammenfassung

Der Grund für Sonys frühe Erfolgsgeschichte kann zu einem Großteil in


der Person Akio Morita gefunden werden. Ein weltweites Netzwerk von
Tochterfirmen unter einem Firmennamen aufzubauen und das ganze wie
eine große Familie erscheinen zu lassen, wäre nicht möglich gewesen, hät-
te nicht Akio Morita selbst ein starkes Charisma und einen unbeirrbaren
Unternehmergeist in sich gehabt und ausgestrahlt. Ihm ist es gelungen,
seine Mitarbeiter zu motivieren und davon zu überzeugen, die japanische
Unternehmenskultur in Sonys Firmenniederlassungen auf der ganzen Welt
einzuführen und umzusetzen, wodurch er den Konzern zu nahezu einzigar-
tigem weltweiten Erfolg führte.
Dieser Erfolg lässt sich unter anderem darauf zurückführen, dass japani-
sche Arbeitskräfte zufriedener sind als amerikanische oder europäische,
auch wenn es weniger Geld, sehr viel kürzeren Urlaub und längere Ar-
beitszeiten gibt. Im Vergleich mit der EU, den USA und der Schweiz hat
Japan die niedrigsten Lohnstückkosten.65 Gleichzeitig gibt es in Japan we-
niger Feiertage und auch keine universelle 5-Tage-Woche.
Dennoch gibt es in Japan weniger Arbeitskämpfe und Unzufriedenheit
als in Vergleichsländern, was auf die japanische Management-Philosophie
zurückgeführt werden kann. Bei Sony achten deshalb die Manager darauf,
an jeden Mitarbeiter hohe Anforderungen hinsichtlich seiner Arbeitsleis-
tung zu stellen, die ihn selbst befriedigt und an seinen „Familiensinn“ ap-
pelliert. Darum wird bei Sony die Arbeit oft umorganisiert, um den Talen-
ten und dem Können der Kollegen Rechnung zu tragen und Abwechslung
in den Arbeitsalltag zu bringen. Wir denken, dass sich auch die hohe Inno-
vationskraft der Firma auf diese Prinzipien zurückführen lässt.
Auch werden die Arbeitnehmer im Unternehmen über alle Entscheidun-
gen frühzeitig befragt und informiert, was den Zusammenhalt der Beleg-
schaft untereinander fördert.
Deshalb hat uns der japanische Führungsstil, der stark auf dem Ein-
heitsgedanken und Zusammengehörigkeitsgefühl aufgebaut ist, stark be-
eindruckt. Heutzutage fehlt solch ein Geist und ein Gruppengefühl in vie-
len europäischen Firmen.

65
Vgl. o.V., (2004): Staatssekretariat für Wirtschaft, Standort: Schweiz, Tatsachen,
http://www.standortschweiz.ch/imperia/md/content/download2004/107.pdf, S. 64.
Akio Moritas Unternehmensphilosophie 107

6.3.8 Literatur

Bücher
Morita, Akio; Reingold, Edwin M.; Shimomura, Mitsuko: Made in Japan –
Akio Morita and Sony, New York, 1988
Blanpain, Roger; Hanami, Tadashi: Industrial Relations and Human Res-
source Management in Japanese Enterprises in Europe, Baden Baden,
1993
Sachwald, Frédérique: Japanese Firms in Europe, Luxemburg, 1995
Schneidewind, Dieter: Markt und Marketing in Japan, München, 1998
Kikuchi, Makoro: Japanese Electronics, Tokyo, 1982

Internetquellen
Staatssekretariat für Wirtschaft, Standort: Schweiz, Tatsachen, http://www.
standortschweiz.ch/imperia/md/content/download2004/107.pdf, S. 64,
2004, (Abgerufen: 29.05.2006)
Sony Overview, http://www.sony.net/SonyInfo/Environment/environment/
communication/report/2005/qfhh7c00000692jb-att/CSR2005E-P4-9.pdf,
2005, (Abgerufen: 18.05.2006)
UNCTAD's Division on Investment, Technology and Enterprise Develop-
ment, FDI report, http://stats.unctad.org/fdi/, ohne Jahr, (Abgerufen:
14.05.2006)
Sony History, Ibuka’s first visit to the United Status, http://www.sony.net/
Fun/SH/1-4/h1.html, ohne Jahr, (Abgerufen: 29.04.2006)

Sonstige Quellen
Microsoft, Microsoft Encarta Enzyklopädie 2001, 2000
7 Vertriebssysteme

7.1 Marketing und Vertrieb, Groß- und Einzelhandel

Der japanische Markt ist geprägt von zwei Variablen: vielen Läden auf
kleinem Raum und einem großen Ausstoß an Produkten. Beide Faktoren
sind zwar tendenziell rückläufig, prägen aber im Prinzip weiterhin das
tradierte Distributionssystem, ohne dessen Kenntnis auch aktuelle Neue-
rungen nicht verstanden werden können und kaum erfolgreich importiert
werden kann. Es gibt auch deutliche Anzeichen, dass bald der seit 1990
eingetretene Liberalisierungsprozess, der die Eröffnung großflächiger Su-
permärkte und Einkaufszentren und damit eine Rationalisierung des Groß-
handelssystems eingeleitet hatte, wieder gesetzlich eingebremst werden
wird. So soll die Errichtung neuer Geschäfte ab 10.000m² Verkaufsfläche
zum Schutz der etablierten Einzelhändler wieder erschwert werden1.
Der traditionelle Verbraucher erwartet Einzelhandelsgeschäfte für Waren
des täglichen Bedarfs in seiner Nachbarschaft, in denen er bzw. meistens
sie zum Teil mehrfach am Tag kleine Mengen frisch einkaufen geht. Oft
wird ein Klappfahrrad benutzt, in dessen Einkaufskorb nicht allzu viel
passt. Japanische Kühlschränke sind ebenfalls klein, die Küchen beengt
und Vorratsräume und Keller nicht vorhanden. Der alte übervolle Tante-
Emma-(Mom & Pa) Gemischtwarenladen mit seinen minimalen Umsätzen
ist zwar mittlerweile fast überall auf der gleichen gedrängten Fläche den oft
24 Stunden lang geöffneten, voll computerisierten (point of sale) conve-
nience stores gewichen, doch sind, obzwar modernisiert, die Geschäfts-
grundlagen die gleichen: Kleine Mengen, frische, tadellose Qualität, makel-
lose Aufmachung und Verpackung, stets freundlicher Service, Gratis-
lieferungen nach Hause, Installation technischer Geräte beim Kunden und
ausführliche technische Erklärungen, unbefragte Rücknahmen, ein totaler
Kundendienst – für den auch klaglos höhere Preise in Kauf genommen
werden. Umgekehrt erwartet der Einzelhändler, der über keinerlei Lager-
haltung und Stauraum verfügt, mindestens einmal, wenn nicht mehrfach
tägliche Lieferungen und Regalpflege durch seinen Grossisten, plus bei
langlebigen Konsumgütern die Begleichung der Rechnung erst nach dem

1
Financial Times 29.3.2006.
110 Vertriebssysteme

(Kommissions-) Verkauf. Lieferantenkredite werden für bis zu 5 Monate


gewährt. Unverkaufte oder unansehnlich gewordene Produkte werden ohne
Widerrede zurückgenommen. Das Risiko liegt also beim Grossisten. Ent-
sprechend großzügig ist seine Marge.
Die neue Ware wird vom Lieferanten platziert. Er schult auch, falls nötig,
das Verkaufspersonal, und erhält die Freundschaft nicht nur bei Einzel-
händlern sondern auch bei institutionellen Einkäufern (Spitäler, Schulen,
Betriebe) durch große Diskonte und spendable Geschenke. Als Ergebnis
beziehen die Endverkäufer ihre Waren nur exklusiv von ihrem langzeitlich
verbundenen Großhändler und von niemandem sonst.
Im Prinzip gibt es drei Ebenen des Großhandels. Auf unterster Ebene mag
er einige Viertel einer Großstadt oder eine ländliche Unterpräfektur (ent-
sprechend einem Landkreis) von einem Lager aus mit mehreren Kleinlastern
täglich beliefern. Ein Zwischengroßhändler versorgt die Untergroßhändler
einer Großstadt oder einer Präfektur. Der Hauptgroßhändler schließlich be-
treut die Zwischengroßhändler einer der neun Großregionen Japans. In
Summe beschäftigen Japans 400.000 Großhändler fast vier Millionen Ange-
stellte. Damit ist der Sektor viermal stärker besetzt als in Deutschland.
Für Importe ist dann stets noch ein Generalimporteur vorgeschaltet. Das
mag ein Generalhandelshaus (sogo shosha) sein, ein eigener spezialisierter
Agent, wie etwa das Importautohaus Yanase, möglicherweise auch eines
der alteingesessenen deutschen Importhäuser (C. Correns, C. Illies, Rie-
ckermann, Melchers etc., die meistens auf Maschinenbau und industriellen
Bedarf spezialisiert sind) oder, wenn es die Absatzzahlen und das Markt-
potential erlauben, eine eigene Tochter oder ein Gemeinschaftsunterneh-
men mit einem komplementär arbeitenden japanischen Partner. Beispiele
sind Beiersdorf mit Kao für Nivea Produkte, Danone mit Ajinomoto, wo-
bei die gekühlten Lieferfahrzeuge des japanischen Partners bei ihren tägli-
chen Runden zur Verteilung der Ajinomoto Fertigsoßen und Gewürzmi-
schungen auch problemfrei und ohne viel Mehraufwand Danone-Joghurts
und -Snacks mitnehmen und in die Regale stellen können. Eher nur noch
für Wirtschaftshistoriker von Interesse sind die erfolgreichen Joint Ven-
tures von Fujitsu (1935 von Siemens und Furukawa gegründet) mit Sie-
mens für den Absatz von Siemensrechnern, solange es diese noch gab, und
von Hitachi beim Verkauf von Mannesmannstahl, als es dieses Unterneh-
men noch gab2. Viele solcher Gemeinschaftsunternehmen bestehen schon
seit den 50er und 60er Jahren. Die Liste der beteiligten Firmen liest sich

2
Erich Batzer, Helmut Laumer. Marketing Strategies and Distribution Channels
for Foreign Companies in Japan. Boulder CO. 1989, S. 83.
Marketing und Vertrieb, Groß- und Einzelhandel 111

wie das Who is Who der deutschen Exportwirtschaft: BASF, Bayer, BMW,
Beiersdorf, Boehringer Ingelheim, Bosch, Braun ….Sie betreffen meist die
Fertigung und den Vertrieb in Japan. So hatten schon in den 80er Jahren
Braun-Rasierer einen Marktanteil von 30% erreicht, Wella Haarpflegemit-
tel 15% – beide wurden und werden von den Verbrauchern als japanische
Produkte angesehen – und Siemens bei medizinischem Gerät 6% (als es
solche Geräte noch herstellte). Bei über 50% lagen die Marktanteile von
Procter & Gamble-Einwegwindeln, Knorr-Fertigsuppen, Warner-Lambert-
Rasierklingen, löslichem Nestle-Kaffee, Dunlop-Golfbällen, Coca-Cola-
Limonaden und bei Boeing-Flugzeugen3.
Jede Vertriebsstufe schlägt seine eigenen Margen auf den Produktpreis,
bei Markenartikeln je etwa 30/50%. Bei Importwaren sind nach überseei-
schen Transportkosten, Zoll und Importeurmargen die Verkaufspreise im
Einzelhandel dann doppelt bis vierfach so hoch wie im Herkunftsland.
Preissensible Produkte für den Massenbedarf haben da in der Regel keine
Chance. Es gehen bei Verbrauchsartikeln eigentlich nur Luxusgüter, auf-
wändig verpackte Geschenkartikel oder Spezialitäten für den gehobenen
Bedarf. Häufig werden diese Waren über die teuren Kaufhäuser abgesetzt,
an deren Warenangebot Importe immerhin 10% ausmachen. Doch sind die
Margen der Kaufhäuser bei Luxusgütern besonders hoch – bis zu 70% –
und ihr Umsatz ist seit dem Beginn der Krisenjahre aus nachvollziehbaren
Gründen deutlich rückläufig. Etliche jener aufwändigen Konsumtempel –
das einstige Flagschiff Seibu Ginza zählte 47 Eingänge, 8000 Verkäufer
auf 75.000m² Verkaufsfläche und 63 Restaurants – schlitterten wie z.B.
Sogo mit 16 Milliarden US Dollar Schulden in den Konkurs4. Die anderen
großen Namen: Mitsukoshi, Matsuzakaya, Takashimaya, Isetan und Dai-
maru retteten sich mühsam und treiben trotz Kostensenkungen (wie zum
Beispiel den Schließungen der meisten Auslandsgeschäfte von Paris bis
Singapur oder vermehrter Teilzeitarbeit) den alten Personalaufwand mit
bemannten Aufzugbegleitungen, allmorgendlichen Verbeugungen vor den
ersten Kunden und ähnliche Höflichkeiten weiter.
Angesichts der attraktiven Margen und der Vielzahl eigener Produkte –
Matsushita allein stellte 1989 noch 72 verschiedene Reiskochertypen her
(mittlerweile sind es nur noch 38) – lag es nahe, dass viele Hersteller ihren
eigenen Direktabsatz organisierten. Dies vor allem bei Produkten mit hohem
Beratungsbedarf wie bei PKWs, der Haushaltselektronik, Kosmetika und

3
Ibid., S. 26.
4
Financial Times 12.7.2000.
112 Vertriebssysteme

Musikinstrumenten, bei denen die von den Herstellern direkt kontrollierten


Läden (die sich oft als shop in shop in Kaufhäusern oder großen Super-
märkten befinden) Marktanteile von bis zu 85% (bei Musikalien halten
dies Yamaha und Kawai zusammengenommen) erreichen können. So kon-
trolliert Matsushita 100 Großhändler und 27.000 Einzelhändler seiner Na-
tional Shops. Toshiba verfügt über 22 Grossisten und 14.000 Toshibalä-
den, Hitachi über 86 Großhändler und 12.000 Einzelhändler. Die Kosme-
tikhersteller Shiseido und Kanebo haben 25.000 bzw. 24.000 Endverkäufer
mit zahlreichen Schönheitsberaterinnen, die zusätzlich Clubs für Kundinnen
organisieren mit Schminkkursen, Schönheitstips, Gratiszeitschriften und
Geschenken bei Großeinkäufen. Diese Läden führen fast ausschließlich
Eigenmarken und werden als Franchise oder mit Kapitalbeteiligung des
Stammhauses geführt. Bei PKWs gehört dem Hersteller im allgemeinen
80/90% des Kapitals seiner Vertragshändler. Sie zählen im weiteren Sinn
zum Kigyo-Keiretsu-Netzwerk des Hauptunternehmens. Häufig werden
solche Handelsfirmen von pensionierten Stammangestellten geführt. Regel-
mäßig wird bei Flauten auch überzähliges Firmenpersonal in jene ange-
schlossenen Läden bei geringerem Gehalt abgeordnet. Sie können im
Kundenkontakt ihren technischen Sachverstand gut einbringen. Nach ihrer
Rückkehr ins Stammwerk ist die Erfahrung an der rauen Absatzfront si-
cher ebenfalls nicht von Schaden.
Selbstverständlich folgen jene Vertragshändler getreulich der Absatz-
und Preispolitik der Hersteller. Wegen der Preisbindungen gehen die all-
gemein üblichen Diskonte (10% vom Listenpreis werden z.B. bei PKWs
erwartet) zu Lasten der Händler. Ihre Erträge sind auch durch die hohen
Personalkosten, die bei aufwendigen Hausbesuchen unvermeidlich entste-
hen, unter Druck.
Schon in den 70er und 80er Jahren tauchten die ersten Diskonter wie
Best Denki, Big Camera, Yamagiwa, Seidu, Yodobashi Camera, Daiichi
Sangyo und Laox auf. Die Elektrohändler von Akihabara in Tokyo oder
Nipponbashi in Osaka machten bald 10% des Umsatzes der Branche. Sie
kaufen Lagerbestände und Remittenden von „freundlichen dritten Quellen“
en gros auf, und leben mit knappen Margen und schnellem Umsatz bei
Preisen, die in der Regel ein Drittel unter dem Listenpreis liegen5. Der
Service besteht nur in einer Einkaufstüte für den Kunden. Mit der Krise
erhöhten große Teile der Mittelschichten ihre Sparneigung. Mit wachsen-
den Einkommensverlusten wurden viele überteuerte Markenartikel unmo-
dern. So verbreiteten die Diskonter sich auch in anderen, vorher kaum ge-

5
The Economist 6.2.1993.
Marketing und Vertrieb, Groß- und Einzelhandel 113

nutzten Segmenten: Kawachiya für Spirituosen und andere Alkoholika,


Aoyama Trading für in China genähte und direkt importierte Anzüge für
Büroangestellte, Shimachu für Möbel. Lieferboykotte der Hersteller, die
auf Preisbindungen bestehen und so allen Beteiligten der langen Verkaufs-
kette ein Auskommen ermöglichen würden, wurden von der Fair Trade
Commission verboten. Gerne versorgen sich die Diskonter auch bei Ge-
schäftsauflösungen, nach denen sie das spottbillig erworbene Inventar preis-
günstig losschlagen.
Nachdem 1992 die Restriktionen bei der Eröffnung großflächiger Su-
permärkte gefallen waren, versuchten einige Ketten wie Daiei auf den
wachsenden Wettbewerb im Standardsegment mit einer Diskontstrategie
mit reduziertem Service zu reagieren6. Sie wurde jedoch im Lebensmittel-
bereich, bei dem viele Kunden auf frische Zubereitungen und Aufschnei-
den an den Ladentheken bestehen, nicht angenommen. Als WalMart im
Jahr 2002 die konkursreife Seiyu-Supermarktkette mit ihren 416 Geschäf-
ten übernahm, wollten die erfolgsverwöhnten Amerikaner sogleich unbe-
sehen ihre US Marketingrezepte 1:1 in Japan umsetzen, nämlich alle Pro-
dukte dauerhaft billiger als die Konkurrenz anzubieten. Doch erwiesen
sich japanische Konsumgewohnheiten als zäher. Die japanische Schnäpp-
chenjägerin ist Sonderangeboten durchaus gewogen. Sie mag nur das zeit-
ökonomische one stop shopping der Amerikaner nicht, sondern durch-
streift lieber mehrere Läden täglich nach günstigen Angeboten und
frischen regionalen Delikatessen z.B. bei Fischen und Gemüse7. Die dau-
ernden Tiefstpreise von WalMart-Seiyu genügten ihren anspruchsvolleren
Kauferlebniswünschen nicht8. So beträgt der Anteil der drei größten Ein-
zelhandelsketten Japans (Ito-Yokado, Aeon [„Jusco“], Daiei) weiter nur
erst 9% des gesamten Lebensmittelhandels (zum Vergleich Frankreich:
53%, Deutschland: 41%).9
Auch die Anfang der 90er Jahre populäre markenfreie (muji – No brand)
Bewegung, die in China oder Südostasien gefertigte Produkte mit einem
einfachen Design, klaren Farben, meist mittlerer Qualität und zu einem
vernünftigen Preis an besonderen Verkaufsständen anbot, konnte sich we-

6
Hendrik Meyer-Ohle. „Revolution in Japanese Retailing?“ AMA Conference on
Japanese Distribution Strategy, Honolulu 22.11.1998.
7
Far Eastern Economic Review 25.9.2003.
8
Financial Times 24.3.2004.
9
Katharina Osmers. „Neue Wege im japanischen Einzelhandel“. Deutsch-Japa-
nischer Wirtschaftskreis AGB-News Nr. 3/2004.
114 Vertriebssysteme

gen gelegentlicher Qualitätsmängel bei den anspruchsvollen Verbrauchern,


die gegenüber billigen Produkten misstrauisch sind, nicht durchsetzen10.
Großer Gewinner der Revolution im japanischen Einzelhandel, der
1991/97 12% aller Einzel- und 15% der Großhändler zum Opfer fielen,
sind ohne Zweifel die convenience stores, die in großer Dichte mittlerweile
das Straßenbild aller Städte, Vorstädte und Dörfer prägen. Das ursprüng-
lich von den USA übernommene Franchising-System von Seven-Eleven
wurde von der Supermarktkette Ito-Yokado in Japan adaptiert. Das System
besteht aus dem Angebot von bis zu 3000 kleinverpackten Waren des täg-
lichen Bedarfs, die von Point-Of-Sales-Systemen an der Kasse erfasst,
täglich mehrmals nachgeliefert werden und sofort gestrichen werden, wenn
die Umsätze nicht mehr stimmen. Das System geht damit auf Kundenwün-
sche, einschließlich der Reaktionen auf die laufenden Werbespots des
Fernsehens, sofort ein. Mit dem billigen Massenabsatz der Ketten besteht
ein deutlicher Vorteil gegenüber Kaufhäusern und Supermärkten, die mit
ihrem deutlich größeren Warenangebot geringere Absatzzahlen und höhere
Beratungskosten haben. Wegen ihrer – oft 24 Stunden – langen Öffnungs-
zeiten wurden die convenience stores ursprünglich hauptsächlich von Stu-
denten, Taxi- und LKW-Fahrern, arbeitenden Müttern und nachtschwär-
menden Singles genutzt. Mittlerweile dienen sie neben den Supermärkten
der Grundversorgung. 20% der Kunden kommen sogar mehrmals täglich –
jedes Mal wenn das Bier oder die Zahnpasta alle ist oder zwei Eier zum
Kochen fehlen. Waren früher essfertige, oft angewärmte Fertiggerichte
oder Zeitschriftenstände, an denen die Schuljugend Manga las, prägend, so
hat sich jetzt das Angebot fast zum Gemeinschaftszentrum ausgeweitet. So
kann man auf Terminals Rechnungen zahlen, Urlaube und Kinotickets
buchen, Faxe abschicken, angelieferte Pakete abholen und abschicken,
Filme entwickeln lassen oder telefonisch vorbestellte Arzneimittel kaufen.
Als das Sterben der Tante-Emma-Läden ab den 80er Jahren immer un-
übersehbarer wurde, setzte ein run auf die Convenience-Franchisen ein,
bei dem die bisherigen Besitzer in Kürze ihre Läden (in dessen erstem
Stock sie oft selbst wohnen) gründlich nach den Vorstellungen der Kette
modernisierten11. Ihre alten Grossisten haben dabei natürlich nicht über-
lebt. Die großen Ketten sind jetzt neben Seven-Eleven, FamilyMart, Mini-
Stop, KMart, SunChain, Sunshop Yamazaki, Lawsons etc.

10
Financial Times 28.6.1995.
11
Financial Times 15.7.1997.
Marketing und Vertrieb, Groß- und Einzelhandel 115

Zweiter Gewinner sind die großen Supermarktketten wie Ito Yokado,


Jusco, Uny und Aoen, die sich, auf die verstärkte Nutzung von PKWs beim
Einkauf setzend, von den früher bevorzugten teuren Bahnhofsstandorten auf
billigeren, mit reichlich Parkplätzen versehenen Vorstadtstandorten ansie-
deln. Aeon, die größte jener Ketten hat dabei die meisten Zwischenhändler
verdrängt und kauft, ähnlich wie WalMart, zunehmend direkt vom Herstel-
ler. Die ersten, die sich darauf einließen, waren Ausländer wie Procter &
Gamble und Unilever. 12 Mittlerweile sind auch japanische Flaggschiffe wie
Kirin-Bier und Meiji Seika, ein führender Süßwarenhersteller, dazu bereit.
Nach dem Fall der administrativen Barrieren und der hohen Bodenprei-
se begannen sich auch ausländische Investoren für den bislang verbotenen
japanischen Einzelhandel mit seinen märchenhaften Margen zu interessie-
ren. Als erstes begann der Spielzeughändler Toys R Us in der ostjapani-
schen Provinz in Niigata. In jener 500.000 Einwohnerstadt am winterharten
Japanischen Meer gab es bis dato 63 Spielwarenläden, die alle zu gleichen
Preisen in jahrelang unverändert gebliebenen Läden das mehr oder minder
gleiche Angebot führten, zumal sie auch von den gleichen Großhändlern
beliefert wurden. Alle hatten also ohne viel Aufwand ein geregeltes Aus-
kommen13. Nachdem Toys R Us gegen ihren Widerstand auf 5000m² Ver-
kaufsfläche dort 13 Mio US Dollar Jahresumsatz macht, sind diese para-
diesischen Zustände natürlich Vergangenheit. Mittlerweile drängten andere
US Superstores wie Eddie Bauer, The Gap, Tiffany’s, Tower Records und
J. Crew, und American Malls International (AMI), sowie aus Europa Ikea
und Carrefour auf den Markt, um dort zusammen mit den großen japani-
schen Ketten gewaltige Einkaufszentren in die Landschaft zu setzen. Wo
dies erfolgte (allein im Jahr 2005 wurden 61 solche Großzentren eröff-
net)14, verödeten angesichts rückläufiger Umsatzzahlen des Einzelhandels
bald die traditionellen Einkaufstraßen (shotenkai) der betroffenen japani-
schen Städte. Mit den üblichen administrativen Tricks wie der Weigerung
des Landwirtschaftsministeriums, der Umwidmung von Ackerland zuzu-
stimmen (die früher, wenn es um Golfplätze ging, immer sehr schnell er-
folgte), wird die Invasion der Einkaufsstädte derzeit häufig blockiert. So
harrt Ikeas erster Laden mit 40.000m² im Neuland von Makuhari nördlich
Tokyo noch immer der Eröffnung (ein erster Versuch scheiterte schon

12
The Economist. Special Report Japan, 25.9.2004.
13
The Economist 16.6.1990.
14
Bundesagentur für Außenwirtschaft. „Japans Einzelhandel durchläuft wichtige
Umbruchsphase“ 16.2.2006, www.bfai.de.
116 Vertriebssysteme

1974, als die Japaner sich nicht mit Möbeln zum Selberbasteln anfreunden
wollten)15. Auch hat sich Carrefour von seinen acht Großeinkaufszentren
nach dem Verkauf an Aeon wieder getrennt. Der japanische Gesetzgeber
will jedoch der Zersiedelung der Landschaft, den Verkehrsstaus der Shop-
per und der Verödung vieler Innenstädte, in denen die ältere Bevölkerung
unter sich bleibt, durch eine neue Re-Regulierung einen Riegel vorschie-
ben. Die existierenden Einzelhandelsketten haben nichts dagegen16. Sie
haben angekündigt etwa 1000 städtische Filialen renovieren zu wollen,
wenn die ausländische Invasion wieder abgewehrt wird.
Für Importeure gibt es durch die Erschütterung und die Aufkündigung
vieler alter Loyalitäten in dem bis in die 80er Jahre versteinerten Distribu-
tionssystem neue Chancen und Möglichkeiten, auch solche kostengünsti-
ger Abkürzungen der langen Distributionskanäle17. Die Generalhandelsge-
sellschaften (sogo shosha) und die Grossisten suchen neue Produkte zum
Überleben. Lagerflächen werden frei. Einzelhändler brauchen neue Ni-
schenangebote. Die Kontrolle der Hersteller über Vertriebskanäle ist gelo-
ckert. Damit könnte der verstärkte Eigenvertrieb, der bislang aus Kosten-
gründen und Umsatzschwäche nicht in Frage kam, auch für importierte
Konsumgüter wieder eine Option werden. Für Kapitalgüterexporte, deren
Absatz schon immer weniger kompliziert verlief, war eine Vertriebstochter
mit genügend technisch versiertem Personal und dem Direktverkauf an
Industriekunden ohnehin schon lang gängige Praxis. Die anderen klassi-
schen Instrumente des Japanabsatzes: Gemeinschaftsunternehmen, Spezi-
alimporteure und sogo shosha bleiben als weitere Möglichkeiten.

7.2 Seven-Eleven Japan Co.

Hans A. Clement und Benjamin Pochhammer

Gegründet 1973, eröffnete Seven-Eleven Japan seinen ersten Laden im


Mai 1974 in Koto-ku, Tokyo. Das Unternehmen wurde erstmals im Okto-
ber 1979 an der Tokyoter Börse gelistet. Seven-Eleven gehört der Ito-
Yokado-Gruppe, die mehrere Supermarktketten in Japan betreibt und
Mehrheitseigner von Southland ist, der Holding Firma von Seven-Eleven

15
Financial Times 24.3.2004.
16
Financial Times 29.3.2006.
17
„Cracking the Japanese Market“ The McKinsey Quarterly 1995, no. 3.
Seven-Eleven Japan Co. 117

in den USA. Zwischen 1984 und 2005 konnte Seven-Eleven ein unglaubli-
ches Wachstum erzielen. Die Anzahl der Läden wurde von 2.299 auf
27.727, der Umsatz von 386 Mrd. Yen auf 2,45 Bill. Yen, der Profit von 9
Mrd. Yen auf 96 Mrd. Yen mehr als verzehnfacht. Der ROE (return on
equity) lag die letzten 10 Jahre meist über 20%. Heutzutage ist Seven-
Eleven gemessen am operativen Gewinn und der Anzahl an Läden Japans
größter Einzelhändler.
1999 besuchten mehr als 1,8 Milliarden Kunden Seven-Eleven. Das be-
deutet, dass jeder Durchschnittsjapaner 15 mal im Jahr bei Seven-Eleven
einkaufen ging!

7.2.1 Unternehmensgeschichte und Profil

Sowohl Seven-Eleven als auch die Stammfirma Ito-Yokado wurden von


Masatoshi Ito gegründet. Er gründete sein Einzelhandelsimperium nach dem
Zweiten Weltkrieg, als er zusammen mit seiner Mutter und seinem älteren
Bruder in einem kleineren Modeladen in Tokyo arbeitete. 1960 hatte er die
alleinige Kontrolle über das Unternehmen und entwickelte es zu einer Groß-
firma mit 3 Millionen US-Dolllar Umsatz. Nach einer Reise in die USA
1961 war Ito überzeugt von dem Konzept von Mega-Einkaufscentern und
der Ablösung der traditionellen japanischen Tante-Emma-Läden. Ito´s Kette
von Einkaufszentren wurde in Tokyo und Umgebung enorm populär. Es ist
bis heute noch das Hauptgeschäft von Ito-Yokado.
1972 kontaktierte Ito das erste Mal die amerikanische Southland Corpo-
ration wegen der Möglichkeit, Seven-Eleven Läden in Japan zu eröffnen.
Die ersten Anfragen wurden von Southland abgewiesen. Erst 1973 einigte
man sich auf eine Lizenz. In Austausch von 0,6% am Gesamtumsatz ver-
gab Southland an Ito die exklusiven Vermarktungsrechte von Seven-Eleven
in Japan.
Das neue Konzept von Seven-Eleven war ein sofortiger Hit in Japan und
erlebte ein unerwartetes starkes Wachstum. Bis 1979 gab es 519 Läden in
Japan, 1984 waren es schon 2001 Läden. Heutzutage gibt es mehr als
27.727 Läden weltweit.
Am 24 Oktober 1990 meldete die Southland Corporation Insolvenz an
und bat Ito-Yokado um Hilfe. Am 5 März 1991 wurde die IYG Holding
von Seven-Eleven Japan (48%) und Ito Yokado (52%) gegründet. Sie kaufte
70% der Southland Corporation für 430 Mio. US$.
Der genaue Blick auf die finanziellen Daten von Seven-Eleven Japan
zeigt, warum die Firma so wertvoll ist. Obwohl sie nur 7% des Gesamtum-
satzes an IGY beiträgt, steuert sie mehr als 47% des operativen Gewinns
118 Vertriebssysteme

bei. Seven Eleven ist gemessen am Gewinn der größte Einzelhändler Ja-
pans und die größte Convenience-Kette Japans.

7.2.2 Das Seven-Eleven Franchise-System


Seven-Eleven hat ein intelligentes Franchise-System entwickelt, das eine
Schlüsselrolle im Tagesgeschäft spielt. Das Netzwerk besteht aus den un-
ternehmenseigenen Läden sowie den Franchise-Läden. 1998 gab es ca.
32,3% unternehmenseigene Läden. Um die Effizienz aufrechterhalten zu
können, basiert die Seven-Eleven Erweiterungsstrategie auf einer markt-
dominierenden Stellung. Der Markteintritt erfolgt immer in einem Cluster
von ca. 50-60 Läden. Dieses Cluster-System gibt Seven-Eleven eine hohe
Dichte in Bezug auf die Marktstellung und erlaubt ein effizientes Ver-
triebssystem. In seinem Jahresbericht listet Seven-Eleven die folgenden
Felder der Effektivitätserhöhung der Strategie auf:
1. Distributionseffizienz.
2. Markenerkennung
3. Systemeffizienz
4. Franchise Unterstützungs-Service
5. Werbeeffektivität
6. Verhinderung von Konkurrenzeintritten in die dominierte Gegend
Nur einer von 1.000 Antragsstellern wird als Franchisenehmer zugelassen.
Jeder der Franchisenehmer muss 3 Millionen Yen einbezahlen. Die Hälfte
davon wird für die Einrichtung des Ladens und die Ausbildung des Besit-
zers benutzt. Der Rest wird für den Kauf der Waren verwendet.
Seven-Eleven pflegt mit seinen Franchisenehmern ein sehr aktives und
kommunikatives Verhältnis. Bei der Verteilung des Gewinns gehen 45%
an Seven-Eleven und der Rest an den Ladenbesitzer. Die Verantwortung
der jeweiligen Parteien teilt sich wie folgt auf:
Verantwortung von Seven-Eleven Japan:
1. Entwicklung der Lieferkette
2. Verfügungstellung des Bestellsystems
3. Buchhaltung
4. Werbung
5. Installation und Abbau von Service-Einrichtungen (Mikrowellen-
herde, Kühltruhen, Eismaschinen usw.).
Seven-Eleven Japan Co. 119

Verantwortung des Franchisenehmers:


1. Leitung und Management des Ladens.
2. Einstellung und Bezahlung der Angestellten
3. Bestellungen
4. Instandhaltung des Ladens
5. Kundendienst.

7.2.3 Die Läden

In Japan hat jeder einzelne Laden eine durchschnittliche Größe von 100 m².
Das ist ungefähr ein Drittel der Fläche der meisten Seven-Eleven-Läden in
den USA. In jedem Laden werden durchschnittlich Umsätze von über
700.000 Yen (ca. 8.000 €) verbucht, das Doppelte eines US-Ladens.
Die einzelnen Geschäfte können aus mehr als 5.000 Artikeln auswählen
und diese vertreiben. Die meisten haben bis zu 3.000 Produkte im Ange-
bot, welche nach der Nachfrage in der bestimmten Nachbarschaft ausge-
wählt werden. Jeder Laden verkauft Lebensmittel, Getränke, Magazine,
Zeitungen und Haushaltsmittel wie Seife, Putzmittel, etc. Fast 90% der
Seven-Eleven Läden in Japan haben 24 Stunden geöffnet. Manche machen
bis zu 40% ihres Umsatzes mit alkoholischen Getränken.
Die Lebensmittel können nach Art der Lagerung in folgende vier Kate-
gorien unterteilt werden:
1. Kühlschranktemperatur (5˚C) wie z.B. für Sandwiches, Delikatessen
oder Milch;
2. Warme Temperatur (20˚C) wie z.B. Mittagessen zum Mitnehmen,
Reis und frisches Brot;
3. Tiefgekühlte Produkte (-20˚C) wie z.B. Eis und Tiefkühlkost und
4. Raumtemperatur für Salate und Dosen.
Frisches Essen und Fast Food der ersten beiden Kategorien waren die Ver-
kaufsschlager in allen Läden. Ende 2003 feierte Seven-Eleven seinen 30.
Geburtstagsverkauf mit einer speziellen Verkaufsaktion. Für preisorientier-
te Kunden wurden Produkte wie frisches Essen und Schnellimbisse verbil-
ligt angeboten. Dadurch erhöhte sich der Verkauf 2004 um 12,6% für
Reisgerichte und 10,5% für Sandwiches. 2004 machten die Umsätze mit
frischem Essen und Fast Food fast 40% des totalen Umsatzes jeden Ladens
aus. Allein Reisgerichte und -snacks (z.B. Sushi und gefüllte Reisbälle
120 Vertriebssysteme

(Onigiri)) verkauften sich im Wert von 409 Milliarden Yen im Jahre 2004.
Das bedeutete den gleichen Umsatz, den die größte Schnellimbisskette in
Japan erreichte.
Auf dem Getränkemarkt können aufgrund behördlicher Beschränkungen
nicht alle Läden alkoholische Getränke verkaufen, sondern nur Soft
Drinks. Da in Japan kürzlich der Verkauf von alkoholischen Getränken
weiter liberalisiert wurde, setzte Seven-Eleven in 41% seiner Läden auch
diesen Markt erfolgreich um. Private Handelsmarken bei alkoholischen
Getränken (Seven-Eleven plant ein solches privates Label u.a. mit Philipp
Morris) versprechen weitere Umsatzsteigerungen.
Für Kunden, die es bevorzugen, monatlich ihre Einkaufsrechnungen zu
begleichen, gibt es bei Seven-Eleven ein speziell ausgerichtetes Rech-
nungssystem. Daher hat Seven-Eleven ein Abbuchungssystem entwickelt,
das so einfach und schnell geht, dass Millionen von Kunden zusätzlich
gewonnen werden konnten. Dieser Service begann schon im Jahre 1987.
Seither wurden bereits mehr als 60 Millionen Monatsrechnungen damit
beglichen.

7.2.4 Vertriebssystem von Seven-Eleven

Die Stärke von Seven-Eleven ist sein Logistiksystem mit dem es mit hoher
Effizienz die Produkte an Ort und Stelle bringt. Alle Produkte und Katego-
rien sind miteinander in einer Nachschubkette verbunden. Damit war Se-
ven-Eleven auf diesem Gebiet ein Vorreiter und wurde zum Vorbild für
viele Ketten außerhalb Japans. Das Distributionscenter von Seven-Eleven
und sein Informationsnetzwerk spielten eine außerordentlich wichtige Rol-
le. Die Zusammenarbeit ist perfekt aufeinander eingestellt und dadurch
sehr effizient. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Verfolgung des konkre-
ten Absatzes. Damit kann man genau feststellen, wo sich ein spezielles
Produkt zu welchem Zeitpunkt aufhält und wann es verkauft wurde. Im
Prinzip kann so sofort eine gleiche Ware nachgeschoben werden. Dies
vereinfacht die Arbeit für den Einzelhändler und für das Seven-Eleven-
Vertriebszentrum. Dieses System wurde von z.B. SAP aufgegriffen und
verbessert. SAP wurde nicht zuletzt deshalb zu einer der heute größten IT-
Software-Firmen der Welt.
Seven-Eleven bietet jeder Filiale dreimal täglich Lieferungen von Reis-
gerichten an (die am meisten verkauft werden). Brot und frisches Essen
werden zweimal angeboten und geliefert. Das System ist so flexibel, um
im Prinzip auf die Wünsche von jedem einzelnen Kunden eingehen zu
können. Lieferungen können auch ausgesetzt oder verschoben werden.
Seven-Eleven Japan Co. 121

Zum Beispiel wird Eis im Sommer einmal täglich geliefert, im Winter aber
nur dreimal wöchentlich, so lange der Abnehmer nichts anderes wünscht.
Wenn ein Kunde Extrabestellungen von frischem Essen oder Fast Food
wünscht, kann es innerhalb von 10 Stunden an jeden Laden von Japan ge-
liefert werden.
Der Ladenbesitzer bestellt alle Produkte via Internet. Dann bekommt
nicht nur der Hersteller sondern auch das Vertriebszentrum von Seven-
Eleven Nachricht. Der Hersteller stellt die Produktionsmenge her, um lie-
fern zu können. Er schickt alsbald die Ware mit einem Lastwagen zum
Vertriebszentrum. Die Bestellungen der einzelnen Läden werden getrennt
von einander verpackt, damit das Vertriebszentrum schnell und einfach die
Ladung in den richtigen Lastwagen für jeden Laden verteilen kann. Dieses
System wurde „Combined Delivery System“ genannt und galt bei seiner
Erfindung als einzigartig. Im Verteilungszentrum werden Lieferungen von
verschiedenen Herstellern wie z.B. von Milch und Sandwiches direkt in
Kühllastwagen geladen. Hierbei wird wieder in die erwähnten vier Katego-
rien unterschieden, eisgekühlte Produkte, kalte Produkte, Raumtemperatur,
und warme Temperaturen. Jeder dieser Lastwagen beliefert mehrere Filia-
len. Die Zahl der belieferten Filialen pro Lastwagen hängt von der Größe
der Bestellungen ab. Die Lieferungen werden nur während der Zeit ge-
macht, in der große Kundenmengen nicht erwartet werden. Das heißt zur
Frühstückszeit, mittags und abends. Die Lieferungen werden im Laden
durch einen Scanner gegeben. Damit kann verfolgt werden, wann wie viel
geliefert worden ist. Das System läuft auf Vertrauensbasis. Das bedeutet,
dass der Lieferant nicht beim Einscannen der Lieferung präsent sein muss.
Das verkürzt die Zeit erheblich, die ein Lieferant braucht, um alle Läden
zu befahren.
Dieses Vertriebssystem erlaubt es Seven-Eleven, die Anzahl seiner
Lastwagen zu reduzieren, die sonst für die täglichen Lieferungen an die
Läden benötigt werden würden. 1974 mussten 70 Kleinlastwagen pro Tag
einen Laden beliefern. Heute sind gerade 11 nötig, um die gleichen oder
größere Mengen zu verteilen. Das hat zu einer extremen Kostenreduzie-
rung und zu einer effizienteren Belieferung, insbesondere von frischen
Lebensmitteln geführt.
8 Branchenanalysen

8.1 Biotechnologie

Harriet Jebens und Stefanie Ladegast

8.1.1 Marktüberblick

Der japanische Markt hatte im Jahr 2003 ein Volumen von 1,66 Billionen
Yen, wodurch er sich nach den USA als zweitgrößter Biotechnologiemarkt
der Welt platzierte.1 Hinsichtlich der Patentanmeldungen liegt Japan mit
seiner Anzahl an Patenten im Biotechnologiebereich weltweit nach den
USA und Europa auf dem dritten Platz.2
Aufgrund der zunehmenden Alterung der Gesellschaft sowie des wach-
senden Gesundheitsbewusstseins gewinnt die Biotechnologiebranche an
Bedeutung, so dass für das Jahr 2010 ein Gesamtmarktvolumen von rund
25 Billion Yen (entsprechend 185 Milliarden Euro) prognostiziert wird.
Dies entspräche einem Wachstum um das 19-fache.
Die Chancen für hohe Umsätze und Gewinne sind in den Bereichen der
regenerativen Medizin, der Proteinanalyse und der funktionalen Ernährung
besonders hoch.3
Durch die Deregulierung des japanischen Marktes für medizinische Ge-
räte sind in diesem Sektor sehr gute Ergebnisse für den Absatz ausländi-
scher Produkte zu erwarten. Die Unternehmensberatung Mc Kinsey Inc.
Japan prognostiziert in dieser Sparte ein Wachstum von rund 30 Milliarden
Euro bis zum Jahr 2007.

1
Japan External Trade Organization (2006): Attraktive Branchen. Biotechnolo-
gie, S. 4 ff.
2
Japanisches Patentamt (2001): Survey into Major Trends in Bio-technology, in:
Jetro (Hrsg.): Investitionen in Japan: 10 überzeugende Vorteile., S. 7.
3
GfW Nordrhein-Westfalen Global Business Partner (2005): NRW – Japan.
Länderinformationen. Wirtschaftsbeziehungen. Investitionschancen. Erfolgs-
beispiele., S. 13 f, www.gfw-nrw.de/gfw/gfw.nsf/ContentByKey/E7DC41959D
AE9EA0C12570D6004D1992/$FILE/NRW-Japan_2005_10.pdf, 4.04.2006.
124 Branchenanalysen

8.1.2 Politische Initiativen

Für Japan ist die Biotechnologie neben der Informationstechnologie für


das künftige Wachstum des Landes von Bedeutung. Seine intellektuellen
Qualitäten sind die einzige Ressourcen, auf die das Land zurückgreifen
kann. Die Biotechnologie wurde vom japanischen Premierminister zu einer
Zukunftsbranche deklariert und daher stark gefördert.4 Große Fondsgesell-
schaften investieren immer mehr Gelder in diese Branche. Man kann von
einer großen Aufbruchstimmung sprechen.
Um seine Position als wettbewerbsstärkste Biotechnologiemacht zu
festigen, verwendet der Staat beträchtliche Summen für den Aufbau von
Forschungseinrichtungen, die Förderung von Bioventure Start-up-Unter-
nehmen, die Erweiterung von Bio-Netzwerken (Clustern) sowie die Ent-
wicklung von Humanressourcen und den Auf- und Ausbau entsprechender
Hochschuleinrichtungen.5
Durch die Lockerung rechtlicher Bestimmungen hinsichtlich der beruf-
lichen Tätigkeit von Hochschullehrern (bis vor kurzem war es ihnen unter-
sagt, parallel zu ihrem Hochschuldienst im privaten Sektor tätig zu sein)
kam es zu einer vermehrten Gründung von Biotechnologieunternehmen,
die die an den Hochschulen entwickelten Technologien vermarkten. Auf-
grund der positiven Ergebnisse dieser Firmen entschied sich die japanische
Regierung für die Gründung und spätere Unterstützung von 1.000 Ven-
ture-Unternehmen direkt aus den Hochschulen heraus.
Die verschiedenen Fähigkeiten der unterschiedlichen Regionen Japans
sollen hinsichtlich der Entwicklung neuer Technologien besonders gestärkt
werden. Von 19 regionalen Förderprojekten sind fünf im Bereich Biotech-
nologie angesiedelt.
So wurden im Jahr 2002 die „Strategischen Richtlinien zur Biotechno-
logie“ von der Regierung vorgestellt. Dabei handelt es sich um einen Be-
richt mit detaillierten Ansätzen zur Förderung des Wachstums des japani-
schen Biotechnologiesektors.
Das Engagement ausländischer Unternehmen wird in diesem Sektor von
der Regierung ausdrücklich unterstützt, denn Japan soll zu einem internatio-
nal attraktiven Biotechnologie-Raum werden, in dem Unternehmen aus der
ganzen Welt gemeinsam forschen können, um schneller preiswertere Medi-

4
AWO Branchenprofil Japan – Biotechnologie, http://portal.wko.at/wk/pub_
detail_file.wk?AngID=1&DocID=392421, 5.04.2006.
5
Japan External Trade Organization (2006): Attraktive Branchen. Biotechnologie,
S. 4 ff.
Biotechnologie 125

kamente auf den Markt bringen zu können. So kommen seit 2001 immer
mehr ausländische Arzneimittelhersteller auf den japanischen Markt.6
Für Investoren wurde ein zusätzlicher Steueranreiz durch die Erhöhung
der von der Steuer abzugsfähigen F&E-Ausgaben geschaffen. Seit dem
Jahr 2003 sind 10% bis 12 % aller F&E-Aufwendungen abzugsberechtigt.
Hinsichtlich des bürokratischen Aufwands ist festzuhalten, dass der all-
gemeine Genehmigungsvorgang für neue Medikamente und medizinische
Geräte im Rahmen der Revision des Arzneimittelgesetzes beschleunigt
wurde. Dies gilt insbesondere für solche Produkte, die im Ausland bereits
zugelassen sind und deren Wirksamkeit bereits bewiesen worden ist.

8.1.3 Trends auf dem Markt für Biotechnologie

Japan stellt aufgrund der bisher erläuterten Aspekte einen attraktiven


Markt für internationale Investments dar. Vier aktuelle Trends für neue
Geschäftsstrategien zeichnen sich ab.
1. Zügige Genehmigungsverfahren ermöglichen eine schnellere Ein-
führung wichtiger neuer Arzneimittel auf dem japanischen Markt.
Zu diesen bereits im Ausland erfolgreich eingesetzten Medikamen-
ten gehören beispielsweise die Produkte Allegra von Aventis Phar-
ma oder Viagra von Pfizer.
2. In den Vertriebsstrukturen ist ein Wechsel erkennbar von der Li-
zenzvergabe zu vorwiegend eigenen Vertriebsoperationen der Un-
ternehmen.
3. Durch zunehmende Fusionen findet eine Reorganisation und Erwei-
terung des Japangeschäfts vieler internationaler Unternehmen statt.
Hier sind beispielsweise Firmen wie Novartis Pharma (Sandoz +
Ciba-Geigy) zu nennen.
4. Auch durch M&A in Verbindung mit japanischen Herstellern findet
eine Reorganisation und Erweiterung des Geschäfts statt. So erwarb
Schering im Januar 2001 das japanische Unternehmen Mitsui Phar-
maceutical Industrial und im Jahr 2002 fusionierte Nippon Roche
mit Chugai Pharmaceutical.

6
GfW Nordrhein-Westfalen Global Business Partner (2005): NRW – Japan.
Länderinformationen. Wirtschaftsbeziehungen. Investitionschancen. Erfolgs-
beispiele., S. 13, www.gfw-nrw.de/gfw/gfw.nsf/ContentByKey/E7DC41959D
AE9EA0C12570D6004D1992/$FILE/NRW-Japan_2005_10.pdf, 4.04.2006.
126 Branchenanalysen

8.1.4 Schlüsselsektoren

In der Biotechnologie ist Japan hauptsächlich bei der Einführung von in-
novativen Technologien und neuen Geschäftsmodellen tätig. Dabei haben
sich in den vergangenen Jahren verschiedene regionale „Bio-Cluster“ her-
ausgebildet, die durch die Ausnutzung lokaler Stärken und Vorteile effi-
zient auf dem Markt tätig sind. Attraktive Geschäftsmöglichkeiten für Un-
ternehmen ergeben sich beispielsweise in der Region Kansai, die sich
durch die Ansammlung zahlreicher Hochschulen und damit durch bedeu-
tende Humanressourcen auszeichnet. Aber auch der Markt in der Region
Kanto zieht zahlreiche Unternehmen aus der Biotech-Branche an. Speziell
um Tokyo hat sich ein Cluster aus modernsten Forschungseinrichtungen
und Biotech-Unternehmen gebildet.
Als Best-Practice-Beispiel kann das Unternehmen Invitrogen Japan
K.K. angeführt werden. Der amerikanische Konzern wurde 1983 gegrün-
det und ist tätig in der Auftragsforschung, der Produktion von Reagenzien
und Apparaturen mit hoher Wertschöpfung sowie in der Softwareentwick-
lung für die Forschung im Bereich Life Sciences und Biotechnologie. Zu-
sätzlich betreibt Invitrogen Importe und den Vertrieb der Produkte.
Das unternehmenseigene Research Center wurde in den Räumen des „Y-
okohama Kanazawa High-Tech Center“ eingerichtet, das als Standort für
diverse staatliche und privatwirtschaftliche biotechnologische Forschungsin-
stitute fungiert. In der näheren Umgebung befinden sich weitere branchen-
bezogene Institute. Die Präfektur Yokohama bietet Firmen verschiedene
Vorteile für eine Ansiedlung. Dazu gehören Subventionen, z.B. für das Lea-
sing von Geschäftsräumen, Einrichtungen für die Geschäftsunterstützung
und eine attraktive Lebensumgebung in der weltoffenen Hafenmetropole für
die Mitarbeiter mit kurzen Anfahrtswegen und Pendlerdistanzen.

8.1.5 Erfolgversprechende Marktbereiche der Zukunft

Ausländische Unternehmen mit R&D-Kapazitäten und Produktpaletten,


die sich bereits auf anderen Märkten einen Namen machen konnten, haben
große Chancen, sich auch auf dem japanischen Markt durchzusetzen.
Es ist davon auszugehen, dass sich im Besonderen die Bereiche Arz-
neimittelentwicklung, Medizin und Gesundheitspflege, Bioservices, func-
tional foods und Biogeräte vielversprechend entwickeln werden.7

7
Japan External Trade Organization (2006): Attraktive Branchen. Biotechnologie,
S. 10f.
Biotechnologie 127

8.1.5.1 Arzneimittelentwicklung
Besonders der Bereich der Biomedikamente wird sich in den nächsten Jah-
ren weiter positiv entwickeln. Gegenwärtig machen Biomedikamente ei-
nen Anteil von 5 bis 10 % aller zugelassenen Arzneimittelprodukte auf
dem japanischen Markt aus. Dieser Anteil wird Prognosen zufolge bis
2010 auf bis zu 30 % ansteigen.

8.1.5.2 Medizin und Gesundheitspflege


Da sich die Infrastrukturen für eine Marktbildung ständig verbessern, wer-
den künftig noch mehr Unternehmen in diesem Sektor aktiv sein. Hierbei
richtet sich der Fokus auf die Bereiche regenerative Medizin und Genthe-
rapie.

8.1.5.3 Bioservices
Dieses Marktsegment hatte im Jahr 2003 einen Umfang von ca. 32,6 Mrd.
Yen. Dabei bildeten Ausbildung und Humanressourcen mit 43 % den
größten Sektor. Ein großes Wachstumspotenzial wird auch dem Markt für
speziell angepasste DNA-Chips zugeschrieben.

8.1.5.4 Functional foods


Japan bildet einen großen Markt für die Entwicklung und den Vertrieb von
funktionellen Lebensmitteln für Senioren und organische sowie genetisch
veränderte Nahrungsmittel. Europa hat sich von einem Teil dieser For-
schungen und Entwicklungen aus ideologischen Gründen schon lange ab-
gekoppelt. Der Trend zu functional foods wird sich jedoch auch künftig
fortsetzen und bis 2010 in Japan voraussichtlich einen Umfang von 3,4
Billionen Yen erreichen. Bis Anfang 2005 trugen 481 Lebensmittel das
offizielle Siegel „Spezielle Reformkost“ (Special Health Food). Auch
werden Agrarprodukte auf gesundheitsfördernde Eigenschaften hin syste-
matisch untersucht, um gezielt präventive Wirkungen gegen Krankheiten
zu nutzen.
Diese kurze Branchenanalyse hat gezeigt, dass der japanische Markt im
Bereich der Biotechnologie interessante Perspektiven sowohl für nationale
als auch für internationale Unternehmen bietet. Die Liberalisierung dieses
Sektors sowie die aufgezeigten Erfolgsfaktoren werden auch künftig für
ein Anhalten des wachsenden Booms in der Branche sorgen. Biotechnolo-
gie, eine Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts, etabliert sich auch in
Japan und bietet den Unternehmen ein positives Geschäftsklima.
128 Branchenanalysen

8.1.6 Anhang

Sonstiges

4,2 0,8 Medizinische


8,4 Versorgung
5,3
Nahrungsmittel

Bio Tools und


6,3
Informationen
Umwelt und Energie

Abb. 5. Der japanische Biotechnologiemarkt im Jahr 2010 in Billion Yen. Quelle:


Biotechnology Strategy Council (2002): Strategische Richtlinie zur Biotechnolo-
gie, in: Jetro (Hrsg.): Attraktive Branchen. Biotechnologie., S. 4

0,8 0,7 0,8 0,9 Andere


0,4 0,5 0,4 0,4
1,1 1,4 1,5 1,6
Chemieprodukte

Medizin,
4,5 4,5 4,7 4,8 Pharmazeutika,
Medizintechnik
Nahrungsmittel

2000 2001 2002 2003


Abb. 6. Der japanische Biotechnolgie in Billion Yen. Quelle: Japan Bioindustry
Association (2003): Report on Basic Survey of Bioindustry Creation, in: Jetro
(Hrsg.): Investitionen in Japan: 10 überzeugende Vorteile., S. 7

8.1.7 Literatur

GfW Nordrhein-Westfalen Global Business Partner (2005): NRW – Japan.


Länderinformationen. Wirtschaftsbeziehungen. Investitionschancen.
Erfolgsbeispiele.
Automobilindustrie in Japan 129

Japan External Trade Organization (2006): Attraktive Branchen. Biotech-


nologie.
Japanisches Patentamt (2001): Survey into Major Trends in Bio-tech-
nology, in: Jetro (Hrsg.): Investitionen in Japan: 10 überzeugende Vor-
teile, S. 7.
www.gfw-nrw.de/gfw/gfw.nsf/ContentByKey/E7DC41959DAE9EA0C1
2570D6004D1992/$FILE/NRW-Japan_2005_10.pdf, 4.04.2006.
AWO Branchenprofil Japan – Biotechnologie. http://portal.wko.at/wk/pub_
detail_file.wk?AngID=1&DocID=392421, 5.04.2006.

8.2 Automobilindustrie in Japan

Britta Mertens und Florian Mesch

8.2.1 Entwicklungsphasen der japanischen Automobilindustrie

Um die heutige Situation der japanischen Automobilindustrie zu verstehen,


ist es hilfreich, die Entwicklung der japanischen Automobilindustrie in
fünf Zeitphasen zu untergliedern. Der Anfang begann bereits vor dem 2.
Weltkrieg, wobei von 1925 bis 1936 die Automobilproduktion vorwiegend
in amerikanischer Hand lag. Im Rahmen des „Automobilindustriegesetzes“
wurde beschlossen, diesen Sektor staatlich zu fördern, jedoch mit dem
primären Fokus auf Nutzfahrzeugen.
Auch in der zweiten Phase, die von ca. 1945 bis 1960 andauerte, wurde
die Dominanz der Produktion von Nutzfahrzeugen weiter ausgebaut. In
dieser Periode lag der Anteil importierter Automobile bei ca. 70%. Als Teil
einer nationalen Industriepolitik wurde deshalb die „Verordnung zur Förde-
rung des nationalen Autosektors“ erlassen. Konsequent wurden Technolo-
gien und Managementtechniken aus den in diesem Sektor führenden USA
importiert. Kennzeichnend für diese Phase sind wachsende Investitionen in
eigene Produktionsanlagen und eine strenge Importprotektion.
Die Folgeperiode umfasste die Hochwachstumsphase der Jahre von
1960 bis zur Ölkrise 1973. Es wurden viele neue Automodelle entwickelt
und Kapital in Serienfertigungseinrichtungen investiert. So kam es, dass
von 1963 bis 1970 der inländische Absatz von ca. 1 Millionen Einheiten
auf knapp 4 Millionen Einheiten expandierte. Unterstützt wurde diese
Entwicklung von der graduellen Liberalisierung des Kapitaltransfers ab
130 Branchenanalysen

1967, was Allianzstrategien entstehen ließ. Zum Beispiel ging Mitsubishi


Motors eine Allianz mit Chrysler ein, General Motors mit Isuzu und Ford
mit Mazda. Ebenfalls kennzeichnend für diesen Zeitabschnitt ist die Tatsa-
che, dass im Jahr 1968 die Produktion privater Automobile die der Nutz-
fahrzeuge erstmalig überschritt.
In der Periode von der ersten Ölkrise (1973) bis 1990 zeichnete sich ei-
ne zunehmende Sättigung des Inlandsmarktes ab, was bei weiterer Auswei-
tung der Produktion steigende Exporte, vor allem in die USA erforderte. Die
Ölkrisen erzwangen auch neue Wege für die Zukunft: Kleine, spritsparende
PKWs waren die Lösung.
Seit ca. 1990 ist Japans Automobilindustrie regelrecht auf der Überhol-
spur. Grundlegender Erfolgsfaktor ist die überlegene Produktivität im in-
ternationalen Wettbewerbsvergleich.

8.2.2 Struktur heute

Die heutige Struktur des japanischen Automobilsektors wird stark beein-


flusst durch die vier Faktoren: Produktion, keiretsu, Vertrieb und Arbeit-
nehmer.
Toyota, das Vorzeigeunternehmen beim Thema lean production (auch
Toyatismus genannt), löste internationale Begeisterungswellen zu diesem
Stichwort aus. Bei japanischen Automobilherstellern werden die Ziele
der Wettbewerbssteigerung kontinuierlich auf den Prüfstand gestellt.
Kostensenkungen, optimale Kundenorientierung, hohe Qualitätsstandards
und der Abbau von Führungsebenen werden angestrebt und regelrecht
perfektioniert bei Toyota, dem erfolgreichsten Automobilhersteller Ja-
pans. Um diese plakativen Schlagwörter in die Tat umzusetzen, werden
verschiedenste Teams im Unternehmen konsequent organisiert, die
„Null-Fehler-Orientierung“ (TQM) angestrebt und konsequent nach Ver-
besserungen geforscht (Stichwort kaizen). In der Produktion werden Puf-
fer durch Just-in-Time- (Kanban-)Systeme vermieden sowie auf zu viel
Komplexität verzichtet. Ebenfalls werden vorbildlich die Zulieferer in
die Wertschöpfung mit einbezogen.
Der Erfolgsfaktor keiretsu ist ein spezifisches japanisches Phänomen. Es
handelt sich hier bekanntlich um Unternehmensgruppen, deren Einzelun-
ternehmen im juristischen Sinne unabhängig voneinander agieren, jedoch
durch ihre Verbundenheit Synergien nutzen. In der Automobilindustrie
finden sich primär vertikal organisierte Keiretsu (siehe Abbildung):
Automobilindustrie in Japan 131

Abb. 7. Arbeitsteilung in der Automobilwirtschaft

Merkmale dieser Keiretsu sind zum einen die Pyramidenform, die in meh-
rere Ebenen unterteilt ist, sowie andererseits die große Abhängigkeit vom
Mutterunternehmen. Die einzelnen Ebenen sind durch Aktienbeteiligungen
und Technologie- und Personaltransfer miteinander verbunden.
Die Distribution der Kraftfahrzeuge ist in Japan ebenfalls besonders an-
gelegt. Es gibt nur wenige, dafür aber große Kfz-Handelsunternehmen –
anders als in Europa und den USA. Das Vertriebskanalsystem basiert auf
einer Aufgliederung nach Märkten und Modellnamen, wobei sich ein
Händler auf ein Vertriebskanalsystem-Modell beschränkt. Als besondere
Merkmale einer Hersteller-Händler-Beziehung gelten Gleichberechtigung
und eine volle Identifikation mit dem Hersteller. Dadurch werden herstel-
lerspezifische Ziele erleichtert durchgesetzt, wobei die Händler in die
Konstruktion und Entwicklung integriert werden. Ein ständiger Informati-
onsaustausch wird nach beiden Seiten organisiert. „Rabattschleudereien“
wie sie beispielsweise in den USA üblich sind, werden vermieden.
Ein entscheidender Erfolgsfaktor für die heutige erfolgreiche Struktur
des japanischen Marktes sind nicht zuletzt die Arbeitnehmer. Diese arbei-
ten gruppenorientiert und nach dem Senioritätsprinzip organisiert. Ideal-
erweise werden die Arbeitnehmer als Stammarbeiter lebenslang beschäf-
tigt, obwohl dieser traditionelle Standard sichtbar zu bröckeln beginnt.
132 Branchenanalysen

Die heutige Situation auf dem japanischen Automobilmarkt ist jedoch


trotz der zuvor genannten Erfolgsfaktoren nicht unproblematisch. Dies ist
in der Aufwertung des Yen der vergangenen Jahre begründet, sowie die
Nachahmung japanischer Managementkonzepte durch die Konkurrenz.
Der Wettbewerb asiatischer Nachbarstaaten steigt unablässig, während die
inländische Nachfrage stagniert.
Um diese schwierige Situation zu meistern, werden Kosten eingespart,
besonders im F&E-Bereich, was zu einer Reduktion der Modellvielfalt und
verschiedenen Variationen führt. Es wird versucht, die Modellzyklen zu
verlängern und Entwicklungszeiten zu minimieren. Ebenfalls ist der Trend
deutlich, die Produktion ins Ausland zu verlagern. Die Nachbarstaaten in
Südostasien (besonders Thailand, Malaysia, Indonesien) sowie Südkorea
und China weisen hohe Wachstumsraten auf bei billigen Arbeits- und Lohn-
kosten. Somit kann nur dieser Schritt die Automobilhersteller weiter wett-
bewerbsfähig halten.
Heutige Hersteller in der japanischen Automobilindustrie sind:

Toyota Daihatsu Hino


Nissan Mazda
Honda Subaru
Mitsubishi Motors Fuso
Suzuki Isuzu

Von jenen elf formal unabhängigen Autobauern gehören zwei zur Toyota-
Gruppe: Daihatsu (51%) als Kleinwagenhersteller und Hino (50%) als
größter LKW-Produzent Japans. Der LKW-Hersteller Fuso ist Teil der
Mitsubishi Motors Gruppe.
Toyota und Honda überwanden die Krise der 90er Jahre aus eigener
Kraft. Dagegen benötigten Nissan (Renault), Mazda (Ford), Isuzu (GM),
Mitsubishi Motors und Fuso (Daimler) ausländische Kapital- und Mana-
gementhilfe. Während die Erfolgsgeschichte Carlos Ghosns in die ewigen
Annalen der glorreichen Sanierungsfallstudien eingehen wird, ist dies bei
den anderen eher unwahrscheinlich.
Im Fall Mazda war das Wirken der Sanierer von Ford durchaus erfolg-
reich, wenngleich weniger spektakulär. So war Mazda (vormals Toyo
Kogyo) 1994 dank einer Überexpansion und durch eine mit einer Vielzahl
Automobilindustrie in Japan 133

an Modellen wirre Markenstrategie (innovation run wild)8 mit 690 Milliar-


den Yen Schulden und 49 Milliarden Yen Verlusten eigentlich konkurs-
reif. Da entschloss sich Ford, seinen Anteil von 25% auf kontrollierende
33,4% aufzustocken. Das von Ford entsandte Management begann 1995
durch den Verkauf von Immobilien und des Anteils an dem koreanischen
Hersteller KIA die Schulden zu vermindern. Die sechs Hauptmodelle wur-
den auf drei reduziert. Das Personal wurde durch Frühpensionierungen um
10% abgebaut und senioritätsorientierte Beförderungen durch das Leis-
tungsprinzip ersetzt. Der Versuch, die japanischen Teilelieferanten mit in-
ternationalen Partnern zu „paaren“, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhö-
hen, scheiterte freilich an deren kooperations- und wettbewerbsresistentem
Widerstand9. Seit 2001 schreibt Mazda wieder solide schwarze Zahlen. Als
Probleme bleiben noch, wie bei vielen japanischen Firmen, ein unterfinan-
zierter Pensionsfonds und hohe Marketingkosten. So verkaufen in Japan
10.000 Verkäufer gerade einmal 350.000 Mazda-PKWs im Jahr. Dies sind
pro Mann drei Wagen im Monat. Seit September 2003 hat Mazda mit Hisa-
kazu Imaki wieder einen japanischen Firmenchef. Im Gegensatz zu Nissan-
Renault wechselten die Ford-Manager von 1995-2003 bei Mazda im Durch-
schnitt nach einem Jahr und neun Monaten und dies vor allem deshalb, weil
Ford selbst an erprobten Sanierungsmanagern Bedarf hatte10.
Die Sanierer um Rolf Eckrodt hatten bei Mitsubishi Motors (MMC) trotz
ihres Kapitalanteils von 37% (der 2000 um 2,1 Milliarden Euro aufgestockt
worden war und im April 2004 wieder auf 20% zurückgefahren wurde) von
Anfang an keine Chance. Denn Daimler hatte neben der maroden MMC den
ganzen hochmütigen Mitsubishi-Klan mitgeheiratet, der als privilegierter
Keiretsu-Lieferant gern seine überteuerten Rechnungen von Sindelfingen
beglichen sehen wollte. Die „Sanierung light“ scheiterte an der Unmöglich-
keit, in diesem eng vernetzten Machtbeziehungsgeflecht die Einkaufspreise
zu senken11. Zudem entdeckte man in Gestalt jahrelang vertuschter Quali-
tätsmängel bei Bremsen, Kupplungen und Radnaben beim LKW-Hersteller
Fuso und in den massenhaften Diskontkreditverkäufern an insolvente US-
Kunden durch die US-Tochter von MMC (mit 430 Millionen US-Dollar
Verlusten 2003) immer mehr unschöne Leichen im Keller. Als die Mitsubi-
shi Bank (MUFG) 2004 die große Entschuldung der 6 Milliarden Euro Alt-

8
Financial Times 10.7.1996.
9
Financial Times „Foreign Investment in Japan“ 19.10.1999.
10
Financial Times 17.9.2003.
11
„The Mitsubishi group: All in the family“ The Economist 29.5.2004.
134 Branchenanalysen

schulden von MMC verweigerte, war für Daimler der Moment gekommen,
dem bösen Spiel ein Ende zu setzen. Der von Edzard Reuter 1990 begonne-
nen und von Jürgen Schrempp als „Welt-AG“ fortgesetzten strategischen
Allianz blieb nur noch die diskrete und effiziente Abwicklung.
Auch General Motors zog sich aus seinen japanischen Beteiligungen
(49% bei Isuzu, je 20% bei Suzuki und dem Subaru-Hersteller Fuji Heavy
Industries) bis 2006 ganz zurück. Diesmal lagen die Gründe jedoch in sei-
nen eigenen Finanz- und Modellproblemen12.

8.2.3 Innovative Automobile

Ob Karaoke, Playstation Pocket oder Tamagotchi – die Japaner scheinen


einen gewissen technikverliebten Spieltrieb auch auf ihre Autos auszuwei-
ten. Auf der Tokyo Motor Show im Herbst 2005 konnte man sehen, mit
welcher Fantasie die Japaner ihre neuen Modelle kreieren. Sie bauten Autos
mit integrierten Hundekörbchen oder drehbaren Fahrgastzellen als durchaus
ernst gemeinte Überlegungen zum Thema Mobilität – Serienproduktion
nicht ausgeschlossen. Bei der Umsetzung neuer Ideen zum Thema Mobilität
schaffen es Produkte japanischer Fantasie schnell auf die Straße, die Ideen
der Europäer meist nur stark verzögert. Dies konnte man auch an den bereits
erhältlichen Hybridmotoren von Toyota und Honda beobachten.

8.2.3.1 Optimismus der deutschen Automobilhersteller


Es stellt sich die Frage nach den Erfolgen deutscher Automobilbauer auf
dem japanischen Markt. Trotz starker japanischer Expansionsvorhaben
deutscher Automobilhersteller wie Porsche, BMW, Audi, VW und Merce-
des werden deutsche Autos auch in Zukunft ihr Nischendasein auf dem
japanischen Markt nur schwer verlassen können. Laut B&D-Geschäfts-
führer13 Ferdinand Dudenhöfer werden westliche Anbieter auch in den
nächsten Jahren die Fremdlinge in Japan sein und zusammen nicht mehr
als fünf Prozent des Marktes einnehmen.14

12
Financial Times 31.3.2006.
13
B&D GmbH: Unternehmen, das Prognosen und Studien für die Automobilindust-
rie erstellt.
14
Nachdem die Verkäufe von Opel 2005 auf weniger als 1800 PKWs gefallen
sind, wird sind Opel ab Ende 2006 vom japanischen Markt ganz zurückziehen;
Handelsblatt 10.5.2006.
Automobilindustrie in Japan 135

Abb. 8. Absatzentwicklung europäischer Hersteller auf dem japanischen Markt

In Westeuropa haben japanische Hersteller im Jahr 2004 hingegen rund 13


Prozent des Marktes erobert und werden diese Zahl in Zukunft auch vergrö-
ßern können. So setzt der Kleinwagen und Motorradhersteller Suzuki allein
aus seiner Europazentrale in Bensheim an der Bergstraße alljährlich
200.000 Autos ab. Tendenz (auch bei Motorrädern und Außenbordmoto-
ren): stark steigend15. Auch in Osteuropa will man stärker vertreten sein.
Toyota beispielsweise hatte in Russland einen Verkaufsanstieg von 41
Prozent auf 64.102 Einheiten im Jahr 2005.
Die Japaner schotten ihren Heimatmarkt dagegen immer noch erfolg-
reich ab. Es ist heutzutage immer noch schwierig, Vertriebssysteme aufzu-
bauen. Dudenhöfer erklärt: „Die Regierung hat Japan-typische Fahrzeug-
und Steuerklassen etabliert, die wie Handelsschranken wirken“. So ge-
nannte Mini-Cars, die einen Hubraum von höchstens 660 Kubikzentimeter
und eine Breite von maximal 1,48 Meter haben dürfen, werden steuerlich
begünstigt und machen deshalb rund 30 Prozent des Marktes aus. Dagegen
rangiert das Premiumsegment, das die Importeure dominieren, nur bei vier
Prozent. Dennoch ist den Deutschen der Erfolg auf dem japanischen Markt
sehr wichtig. „Wer in diesem Service-intensiven Markt besteht und seine
Kunden zufrieden stellt, der wird auch weltweit erfolgreich sein“ meint
Audi-Vorstand Ralph Weyler.

15
Bergsträßer Anzeiger 21.2.2006.
136 Branchenanalysen

8.2.4 Zukunftstrends – Umweltschutz

Wegen zunehmender Sorgen um die Umwelt Japans haben die Autoher-


steller in den letzten zehn Jahren Autos entwickelt, die von Strom und
Benzin angetrieben werden. Mit diesen neuen Modellen, die auch erheb-
lich bessere Motoren besitzen, könnten sie zukünftig die erste Wahl für
Autofahrer in Japan und weltweit werden. Japans größter Automobilher-
steller, Toyota Motor Corporation, begann bereits 1997 mit dem Verkauf
des ersten Hybridautos in Massenfertigung, des Prius. Zwei Jahre später
folgte Honda Motor Co. mit der Einführung des Insight.
In Nordamerika und Europa begann der Verkauf von Hybridautos im
Jahr 2000. Seit diesem Zeitpunkt sind auch andere Automobilhersteller
darum bemüht, Hybridautos zu entwickeln und auf den Markt zu bringen.
Positive Berichterstattungen haben die Verkaufszahlen stark gefördert, so
dass der weltweite Verkauf von Hybridautos von Toyota im Oktober 2005
die Zahl von 500.000 überschritt.
Es dürfte sich für Automobilhersteller lohnen, in diese komplexe Tech-
nik zu investieren. Als die ersten Hybridautos auf den Markt kamen, wurde
zunächst behauptet, sie seien bei der Beschleunigung und anderen Leis-
tungsmerkmalen benzingetriebenen Autos unterlegen. Toyota hat sich da-
her gezielt darum bemüht, die grundlegende Leistungsfähigkeit weiter zu
verbessern, damit sie nicht nur umweltschonend sind, sondern das Fahren
auch Spaß macht.
Mit der Entwicklung eines revolutionären Hybridantriebs im Jahr 2003
namens THS II scheint dieses Ziel erreicht worden sein. Neben dem Toyota
Prius, der die Hybridwelle auslöste, rüsten die Japaner vor allem ihre
Luxusmodelle wie den Lexus mit der neuen Technik aus.
Für Kleinlaster hat Toyota das Antriebssystem THS-C sowie das E-Four-
System entwickelt, den weltweit ersten Stromgenerator für Autos mit Vier-
radantrieb.
Ein sehr wichtiges Merkmal des Hybridantriebs ist seine Fähigkeit, die
kinetische Energie der Abbremsung in Elektrizität umzuwandeln und die-
sen Strom dann für andere Zwecke zu verwenden.
Der Hybrid-Kleinlaster von Toyota kann eine große Menge von Strom
erzeugen. Mit einer 100 Volt-Wechselstromsteckdose im Innern des Fahr-
zeugs liefert der Kleinlaster bis zu 1.500 Watt. Nach Angaben von Toyota
reicht diese Menge aus, um Haushaltselektrogeräte wie Haartrockner oder
Mikrowellen zu versorgen oder sogar ein Fahrrad oder einen Rollstuhl mit
Elektroantrieb aufzuladen. Die Ausstattung von Fahrzeugen als mobile
Nahrungs- und Genussmittel, Nahrungsmittelmaschinen, Landwirtschaft 137

Büros mit Computern, Faxgeräten und anderen strombetriebenen Geräten


wird auch in Zukunft zunehmen.
Jedoch ist der Hybridantrieb nicht das einzige umweltschonende An-
triebssystem. Es findet ein regelrechter Wettlauf mit Brennstoffzellenautos
statt, die Wasserstoff verwenden.
Honda hat als erster Automobilhersteller Autos produziert, die von
Brennstoffzellen betrieben werden. Im Oktober 2005 hat Toyota ebenfalls
sein erstes Modell mit einem Brennstoffzellen-Hybridantrieb herausge-
bracht.
Diese Entwicklungen zeigen, dass die Automobilhersteller in Japan we-
gen der zunehmenden Sorgen um die Umwelt und der Verteuerung des
Benzins weiter an der Spitze der Entwicklung umweltfreundlicher Auto-
technologie stehen.

8.2.5 Literatur

www.auswaertiges-amt.de
www.automobilwoche.de
www.economist.com
www.jetro.de
www.manager-magazin.de
www.mckinseyquarterly.com

8.3 Nahrungs- und Genussmittel, Nahrungsmittel-


maschinen, Landwirtschaft

Japans Nahrungsmittelindustrie hat eine duale Struktur. Einerseits gibt es


eine Vielzahl an Kleinproduzenten traditioneller japanischer Lebensmit-
tel (Sake, Sojasoße, Reiscracker, Süßigkeiten, marinierte Gemüse usw.)
Andererseits besteht eine moderne, kapital- und umsatzstarke oligopolis-
tisch strukturierte Industrie, die zumeist Nahrung und Getränke westli-
chen Ursprungs herstellt: Bier, Whisky, Fruchtsäfte, Limonaden, Brot,
Süßwaren, Schokolade, Konserven und Tiefkühlkost, Milch- und Fleisch-
produkte etc. Während die traditionelle Fertigung oft noch auf dem Land
unter handwerklichen Bedingungen stattfindet und örtlich geerntete Pro-
dukte verarbeitet, befinden sich die Fabriken für die primäre und sekun-
däre Verarbeitung der „westlichen“ Lebensmittel nahe den großstädtischen
138 Branchenanalysen

Zentren des Massenabsatzes an Hafenstandorten, da die meisten der benö-


tigten Rohstoffe (Weizen, Zucker etc.) importiert werden müssen. Während
der traditionelle Sektor strukturell rückläufig ist, erfährt der moderne Sektor
weiter ein freilich sehr langsames Wachstum.
Diese strukturelle Unterscheidung ist wichtig für den Absatz europäi-
scher Nahrungsmittel und Getränke sowie für Nahrungsmittelmaschinen.
Es ist der zweite, moderne Sektor der japanischen Nahrungsmittelindust-
rie, der Wettbewerber, potentieller Partner und Kunde ist.
EU-Exporte von Nahrungsmittelmaschinen nach Japan betragen etwa
100 Millionen US-Dollar jährlich. Besonders wettbewerbstark sind sie in
der Milch- und Fleischverarbeitung, bei Getreidemühlen und in der Pasta-
und Süßwarenherstellung. Historisch haben natürlich alle jene Maschinen
ihren Ursprung in Europa. Doch wird jetzt 96% des Bedarfes von japani-
schen Maschinenbauern gedeckt. Nach dem 2. Weltkrieg haben die oft
mittelständischen japanischen Hersteller die westlichen Modelle adaptiert
und oft technologisch weiter als die europäischen Wettbewerber entwi-
ckelt. EU-Exporte finden deshalb hauptsächlich als Nischenprodukte und
Sonderanfertigungen nach Kundenspezifikationen statt. Da die japanische
Nahrungsmittelindustrie sehr innovativ ist und alljährlich eine Vielzahl
von Produkten auf den Markt bringt (und beim regelmäßigen Scheitern
wieder absetzt), ist der Lebenszyklus der Geräte relativ kurz und ihre Um-
rüstungsmöglichkeit für andere Optionen wichtig. Entscheidend für den
Verkaufserfolg ist die Geschwindigkeit bei der Lieferung und Installation
der Maschinen, die schnelle Adaptation auf die Spezifikationen des Kun-
den und eine verlässliche Wartung durch gut ausgebildete Techniker vor
Ort. Die Wahl eines gut motivierten, einschlägig aktiven Firmenvertreters
in Japan ist daher unabdingbar.
Zwei Messen sind für den direkten Kundenkontakt wichtig: die West
Japan Food Machinery Show, die alljährlich in Fukuoka im Mai stattfin-
det, und Foodtech 2000, die Japan International Food Engineering and
Industry Show, in Osaka im September.
Der Importmarkt für europäische Nahrungs- und Genussmittel ist mit
etwa 4 Milliarden US-Dollar jährlich (davon 300 Millionen US-Dollar
aus Deutschland) natürlich ungleich größer. Vier Hauptprodukte: däni-
sches Schweinefleisch, französische und deutsche Weine, Cognac und
Scotch allein machen 60% der europäischen Exporte in diesem Sektor
aus. Dies beweißt, dass man in diesem sehr schwierigen und anspruchs-
vollen japanischen Markt erfolgreich sein kann, vorausgesetzt man erfüllt
drei Bedingungen:
Nahrungs- und Genussmittel, Nahrungsmittelmaschinen, Landwirtschaft 139

1. die Produkte sind qualitativ hochwertig und für den japanischen


Markt geeignet.
2. die bestehenden Importbarrieren (Schutzzölle und nichttariffäre
Hindernisse, wie z.B. diskriminierende Steuern für Importspirituosen)
wurden von der Europäischen Kommission mit den japanischen Mi-
nisterien wegverhandelt;
3. Europäische Firmen machten langfristig angelegte Marketinginves-
titionen auf diesen Markt von 127 Millionen kaufkräftiger Kunden,
mit eigenen Niederlassungen vor Ort und möglicherweise eigenen
Vertriebssystemen.
Abgesehen von den Bestsellern Schweinefleisch, Wein und Spirituosen,
gibt es noch eine Reihe weiterer weniger spektakulärer europäischer Er-
folgsprodukte: Gebäck, Süßwaren, Schokoladen, Nudeln, löslicher Kaffee,
Fruchtsäfte, Marmeladen, Schinken, Wurstwaren, Geflügel, Käse, Malz,
Fischdosen, gefrorener Lachs, Patés, Gewürzmischungen, Olivenöl, Ge-
müse- und Obstkonserven, Trüffeln, Sekt, Sherry, Branntweine und Bier.
Europäische Nahrungs- und Genussmittel profitieren von einem ausge-
zeichneten Qualitäts- und Markenimage in Japan. Sie können, wenn sie
vernünftig vermarktet werden, im Einzelhandel Preise erzielen, die dreimal
über dem vergleichbaren Niveau in Europa liegen. Gewinnmargen sind
nicht umsonst hoch. Die Ansprüche der japanischen Verbraucher sind es
auch. Die Wünsche an die Verpackung sind außerordentlich, aus europäi-
scher Sicht exzessiv. Die Liste zulässiger Nahrungsmittelzusätze ist sehr
begrenzt. Das verlangt oft Sonderfertigungen mit neuen Rezepturen. Auch
ist der japanische Geschmack im Blick auf westliche Lebensmittel eigenar-
tig. Sie sollen weder zu scharf noch zu süß sein. Sie sollten nicht riechen
und keine dunkle Farbe haben und während eines langen Lebens auf den
Regalen im feuchtwarmen Sommerklima stets mild und frisch erscheinen.
Manche europäischen Herstellen sind zu stolz auf ihre etablierten Quali-
tätsmarken, um ihre Exportprodukte nach Fernost auf japanische Sonder-
wünsche umzustellen. Manchmal mag eine Sonderfertigung unter einem
neuen Namen für den Massenmarkt ratsam sein – ein harmloser Süßwein
wie die Liebfrauenmilch, ein geschmackloser Käse wie Babybell, eine milde
Whiskymischung – während das echte Hochqualitätsprodukt dem wachsen-
den Kennermarkt, der natürlich auch in Japan existiert, vorbehalten bleibt.
In jedem Fall verlangt Verkauf von Nahrungsmitteln und Getränken in
Japan besondere Vorbereitungen und Mehraufwand. Etikette müssen über-
setzt und das Produkt und sein Genuss erklärt werden. Manchmal müssen
140 Branchenanalysen

die Verpackungen geändert werden, denn der japanische Endverbraucher


mag es kleiner und eine Verpackungsschicht mehr als eigentlich nötig. Ver-
treter, Groß- und Einzelhändler benötigen ständige Überwachung und Schu-
lung. Sie nehmen diese auch gerne an. Bunte Hochglanzbroschüren über den
Hersteller, seine attraktiven Produkte und ihre Verwendung in japanischen
Küchen, Haushalten und Restaurants werden intensiv studiert, vorausgesetzt,
sie sind attraktiv gestaltet, informativ und auf Japanisch. Die Verteilung
solchen Materials ist für jeden japanischen Einkäufer ein deutliches Zeugnis
für die notwendige langfristige Japanorientierung des Herstellers. Letztend-
lich sollte jeder Exporteur, der auf dem zweitgrößten Nahrungsmittelmarkt
der Welt ernst genommen werden will, seine eigene Repräsentanz und Ver-
kaufsniederlassung in Tokyo oder Osaka errichten und mit der Leitung die-
ser Stelle einen seiner besseren, nicht nur fachlich beschlagenen, sondern
auch kulturell und sozial zugänglichen Kaufleute betrauen. Allerdings ver-
langt eine solche Niederlassung Geduld und einen langen finanziellen Atem.
Bis zu 5 Jahre kann es dauern, bis solche Vertretungen schwarze Zahlen
schreiben. Sind sie einmal etabliert und akzeptiert, steht bei einem hohen
Yenkurs satten Gewinnen eigentlich nichts mehr im Wege.
Geschäftsbeziehungen in Japan sind auf Langfristigkeit und gute per-
sönliche Kontakte zwischen dem europäischen Exporteur und seinen japa-
nischen Kunden begründet. Bestellungen erfolgen nicht aufgrund eines
hübschen Katalogs und Preislisten im Internet. Persönliche Treffen mit
allen an der Kaufentscheidung beteiligten Sachbearbeitern, ihren Gruppen-
und meist auch Abteilungsleitern sind vonnöten, manchmal auch wieder-
holte Treffen, um zwischendurch aufgetauchte Unklarheiten und Zweifel
bei allen auszuräumen. Denn keiner von ihnen will sich später vorwerfen
lassen müssen, durch Sorglosigkeit oder Faulheit einen teueren Fehler be-
gangen zu haben. Bei jenen endlosen Treffen geht es für den Verkäufer
darum, trotz der oft gleichen Fragen durch konsistente Höflichkeit, aus-
führliche Erklärungen sowie unvermeidliche Geschenke und Einladungen
„positive Gefühle“ beim Gegenüber zu erwecken. Japanische Einkäufer
machen mit niemandem Geschäfte, der ihnen durch aggressives Gehabe,
Arroganz oder Mangel an Seriosität auf die Nerven geht.
Bei der Wahl eines japanischen Partners für Gemeinschaftsunternehmen
ist eine sorgfältige Recherche vonnöten. Im Nahrungsmittelbereich hat der
europäische Partner stets den Vorteil, ein authentisches Qualitätsprodukt
zu bieten, das gegenüber der einheimischen Produktpalette durch Origina-
lität und Prestige hervorsticht. Komplementarität und ein echtes Marke-
tinginteresse des japanischen Partners sind aber wichtig. Sonst beliefert
das neue gemeinsame Unternehmen nur teuer Nischensegmente und be-
Nahrungs- und Genussmittel, Nahrungsmittelmaschinen, Landwirtschaft 141

kommt vom örtlich stärkeren japanischen Partner nur Verlustgeschäfte und


strafversetztes Personal zugeschoben. Ein gelungenes Beispiel ist etwa die
bereits erwähnte Kooperation zwischen Ajinomoto und Danone. Ajinomoto
befand, dass seine Lieferwagen und Fahrer, die allmorgendlich mit ihren
Fertigsoßen und Fertiggerichten zu allen Lebensmittelläden die Runde
machen, unausgelastet waren und deshalb gut Danone-Joghurts und Süß-
speisen als Beipack ohne Konkurrenz für eigene Produkte mitverteilen
konnten. So entstand eine jahrzehntelange Freundschaft.
Ausstellungen bei der Foodex, der größten Nahrungs- und Getränke-
messe im Fernen Osten, die alljährlich im März auf dem Messegelände
von Makuhari bei Tokyo abgehalten wird, sind natürlich ein Muss. Emp-
fehlenswert ist auch die Teilnahme an etlichen Regional- und Spezialmes-
sen wie z.B. Wine Japan. Nach einem solchen Messestand sollte der
betreuende Firmenvertreter nicht einfach abreisen, sondern bei sämtlichen
Einkaufsabteilungen die Runde machen, deren Vertreter für seine Produkte
mehr als nur ein kursorisches Interesse gezeigt haben. Die Diskussion von
Spezifikationen für den japanischen Markt sollte dabei nachdrücklich er-
mutigt werden. Wichtige Interessenten sollten auch zu einem Gegenbesuch
nach Europa eingeladen werden, um sich die Fertigungsstätten im Original
anzuschauen. In jedem Fall unabdingbar ist die Ernennung einer guten
Firmenvertretung (bevor man zur eigenen Niederlassung schreitet), die
noch klein genug ist, um motiviert zu sein, gleichzeitig aber gut verbunden
mit einem Zugang zu landesweiten Distributionsnetzen sein sollte. Es ist
sicher nicht immer völlig falsch, zu einem Keiretsu-Mitglied wie Mitsubi-
shi Shoji zu gehen, um als Partner jener sogo shosha Ehrenmitglied im
Mitsubishi-Keiretsu zu werden und im Idealfall von dessen Marktstärke zu
profitieren. Man sollte sich dann aber auch bewusst sein, dass man Produkt
Nummer 1735 der Verkaufsabteilung Nr. 23 darstellt und dass es etliche
konkurrierende Produkte mit möglicherweise interessanteren Margen im
Portfolio gibt oder dass eventuell die freundliche Offerte nur die Aufgabe
hat, den Absatz von anderen Mitsubishi-Firmen, wie z.B. Kirin Beer, Nip-
pon Meat Packers oder Nippon Flour zu schützen.
Eine Alternative des do it yourself ist der Direktvertrieb, wie ihn zum
Beispiel Pieroth Japan in 35 Jahren mühevoller und lohnender Kleinarbeit
aufgebaut hat. Mit 500 Mitarbeitern haben sie 250.000 Stammkunden rek-
rutiert – meist bei Großveranstaltungen wie der Osaka Expo 1990 oder
Aichi Expo 2005 mit Weinverköstigungen – und machen jetzt 70 Millio-
nen Euro Jahresumsatz in Japan.
Eine interessante und für Importprodukte lukrative Nische ist nicht zu-
letzt der berühmte japanische Geschenkmarkt. Zweimal jährlich zur Bonus-
142 Branchenanalysen

zeit im Juli und gegen Jahresende überhäufen Japaner ihre Freunde,


Verwandte, Bosse und Geschäftspartner zum Erhalt der Freundschaft mit
teuren und aufwendig verpackten Geschenken. Die wunderbar gepackten
Geschenkpacks enthalten normalerweise prestigereiche Verbrauchsartikel,
die von exotischen Fruchtsäften in Dosen, eingeschweißtem Schinken,
Teekistchen, und Früchtekörben bis zu Champagner- und VSOP Cognac-
Kisten reichen. Im Prinzip ist jedes Produkt geschenkfähig, selbst Seifen
und Handtücher, vorausgesetzt es sieht hübsch aus und hat einen Wert
als Markenartikel. Die meisten Geschenkpackungen sind zwischen 3000
Yen und 20000 Yen ausgepreist. Sie werden in der Regel von den Kauf-
häusern gepackt und vor Ort oder per Katalog bestellt und dem Begüns-
tigten vom Kaufhaus oder dem Postamt direkt mit einem Vermerk über
den netten Spender an die Wohnung zugestellt. Europäische Produkte
sind im Geschenkmarkt sehr häufig vertreten, da sie wegen der hohen
Vertriebskosten und Margen selten im Massenmarkt präsent sind. Da
hohe Preise die Geschenke für den Empfänger besonders wertvoll ma-
chen, sind die Margen des Sektors naturgemäß sehr attraktiv. Diese er-
freuliche Entdeckung hat aber, wie man sich vorstellen kann, leider kei-
nen großen Neuigkeitswert mehr.
In Summe ist der japanische Markt für Nahrungs- und Genussmittel sehr
innovativ, dynamisch, potentiell attraktiv und hochprofitabel. Als Faustre-
gel mag gelten, dass eine Firma, die erfolgreich im EU-Ausland und in
Nordamerika verkauft auch in Japan gewinnen kann, einmal mehr voraus-
gesetzt, sie ist zu Produktadaptionen und zu einer langfristig angelegten
Marktpräsenz bereit und wird nicht von den in diesem Sektor noch virulen-
ten protektionistischen Importbarrieren behindert.
Wie andernorts auch wird die Agrarprotektion mit dem durchsichtigen
Argument der „Nahrungsmittelsicherheit“ gerechtfertigt. Tatsächlich ist
die Landwirtschaft in Japan fast völlig von Energie- und Futtermittelzufuh-
ren aus dem Ausland abhängig. Mit durchschnittlichen Hofstellen von 1,6
ha – ein Ergebnis der von den Amerikanern 1945/6 veranstalteten Landre-
form – ist die Landwirtschaft außerhalb von Hokkaido nicht wettbewerbs-
fähig und erlaubt professionellen Vollzeitlandwirten nur selten ein Aus-
kommen16. So überwiegt die Feierabendlandwirtschaft durch Nebener-
werbslandwirte und Rentner. Sie sind mit technischem Gerät (Traktoren,
Mähdrescher, Pflanzmaschinen) überreich ausgestattet. Um die Erträge auf

16
Zur politisch verursachten Strukturkrise der japanischen Landwirtschaft siehe:
Albrecht Rothacher. Japan’s Agro-Food Sector. The Politics and Economics of
Excess Protection. London/New York. 1989.
Nahrungs- und Genussmittel, Nahrungsmittelmaschinen, Landwirtschaft 143

der knappen Fläche zu steigern, kommen auch Agrarchemikalien (Dünge-


mittel, Pestizide, Herbizide) reichlich zum Einsatz. Die Produktionskosten
sind deshalb hoch und machen eigentlich nur den hochsubventionierten
Reisanbau und die Intensivviehhaltung lohnend. Während in der Peripherie
die Landgemeinden veröden und sich nach und nach entvölkern17, werden
sie im Dunstkreis der Großstädte mehr und mehr zu Vorstädten mit der
Umwidmung des Ackerlandes für Supermärkte, Fabriken, Schlafstädte und
Parkplätze.
Oft wird das Land auch an die örtliche Agrargenossenschaft (nokyo) zur
Bewirtschaftung verpachtet. Sie übernimmt wichtige quasistaatliche Auf-
gaben in der Überwachung der Produktionskontrollen für Reis, Milch,
Geflügel und Mikan-Orangen, bei der Auszahlung der staatlichen Prämien
und Subventionen, mit einem Ankaufmonopol für Reis sowie wie ange-
sichts ihrer örtlichen Marktmacht für fast alle anderen Agrarerzeugnisse
(Milch, Gemüse, Obst).
Die Genossenschaften sind wie ihr Vorbild Raiffeisen auf Präfekturebene
und auf nationaler Ebene föderiert. Sie sind als zenno der nationale Wirt-
schaftsarm der Genossenschaften, als zenchu und politische Lobby dem
Bauernverband vergleichbar und als norinchukin die Agrarbank, in ihrer
Größe und Einfluss der französischen Credit Agricole als Grüner Riese
nicht unähnlich. Zenchu organisiert die Stimmen der Bauern und des
Landvolks für die Regierungspartei LDP und setzt dafür harte Forderungen
nach fortgesetztem Importschutz (die Zölle für Reis liegen bei 400%) und
weiterer Hochsubventionierung durch das Landwirtschaftsministerium
durch. Gleichzeitig verfolgt Zenno die Wirtschaftsinteressen der Genos-
senschaften auch bei den Importen durch seine Tochter Unicoop von Fut-
termitteln und von Fleisch für seine genossenschaftseigenen Großschlach-
tereien. Mit Snow Brand besitzt die Genossenschaftsbewegung auch den
größten Milchverarbeiter Japans, der allerdings 2002 nach Skandalen um
Subventionsschwindel bei Rindfleisch und nach Milchvergiftungen an den
Rand des Konkurses geriet. Dennoch wehrte sich die Agrarlobby erfolg-
reich gegen die Übernahme der Firma durch Nestle. Mit 8000 Direktoren
und 280.000 Beschäftigten ist der Nokyo-Apparat eine mit staatlichen
Subventionen und Marketingprivilegien gut gemästete Bürokratie. Es be-
darf einiger Anstrengungen, um wie die Nokyo in der Präfektur Kagoshima
in den Konkurs zu schlittern.

17
Zum Strukturwandel der Landwirtschaft und des ländlichen Raums siehe den
von mir herausgegebenen Band: Landwirtschaft und Ökologie in Japan. Mün-
chen 1992.
144 Branchenanalysen

Die hohen Erzeugerpreise werden direkt an die Verarbeiter weitergege-


ben. Sie schlagen durch Kartelle und Importprotektion geschützt voll auf
die Einzelhandelspreise durch. So kann dort ein einzeln schön verpackter
Apfel schon einmal € 5 kosten. Die in Japan praktizierte Hyperprotektion
hat zum Verlust der Wettbewerbsfähigkeit fast des gesamten vor- und
nachgeordneten Agrar- und Lebensmittelsektors geführt. Da auch für die
Regierungspartei LDP die städtischen Wählerstimmen immer wichtiger
werden, ist das Ende des Systems unter dem Druck der nächsten WTO-
Runde nur eine Frage der Zeit. Obwohl der japanische Markt dann in erster
Linie von den effizienten Agrarproduzenten der Region (USA, Australien,
Südostasien) mit Grundnahrungsmitteln und agrarischen Rohstoffen belie-
fert werden dürfte, liegen die Marktchancen der Europäer weiter bei hö-
herwertigen Verarbeitungsprodukten wie Wein, Spirituosen, Süßwaren,
Schokolade, Käse, Schinken, Konserven, Fertiggerichten, Tee und Kaffee.

8.4 Die Unterwelt: Die Yakuza als Wirtschaftsfaktor

Im Gegensatz zum organisierten Verbrechen im Rest der Welt gehen die


japanischen Gangster ihrem Gewerbe recht offen und, solange sie sich an
gewisse Regeln halten, auch von der Polizei unbehelligt nach. Deshalb
sollte man als ausländischer Wirtschaftstreibender über ihre vielfältigen
ökonomischen Rollen Bescheid wissen, sie rechtzeitig erkennen und ihnen
möglichst schnell großräumig ausweichen.
Nach den ziemlich präzisen Statistiken der nationalen Polizeiagentur
gibt es derzeit 81.300 Berufsverbrecher. Diese sind in 3000 Banden organi-
siert, von denen 77% mit den drei großen Syndikaten Yamaguchi-gumi,
Inagawa-kai und Sumiyoshi-kai affiliiert sind. Die Polizei schätzt ihre
Einnahmen vorsichtig auf 1300 Milliarden Yen. 80% ist illegalen Ur-
sprungs, 20% aus legalen Geschäften. Drogenschmuggel – hauptsächlich
der Import und Vertrieb von Aufputschsuchtgiften wie Metaamphetamin
aus Taiwan, China und Südostasien – ist der bei weitem lukrativste Ge-
schäftszweig, gefolgt von illegalem Glückspiel und Wetten, Zuhälterei,
Interventionen bei geschäftlichen und persönlichen Disputen (Eintreiben
überständiger Schulden, Wohnungsräumungen, Entschädigungszahlungen
bei Verkehrsunfällen etc.), Schutzgeldzahlungen und Erpressungen.
Selbst ein nur flüchtiger Besucher Japans und der großen Viertel des
Nachtlebens von Tokyo, Osaka, Nagoya, Sapporo etc. wird die massive
Präsenz der Gangster in ihren Territorien kaum übersehen können. Das
protzige Auftreten der Bosse und die bulligen Monturen ihrer Unterlinge
Die Unterwelt: Die Yakuza als Wirtschaftsfaktor 145

soll bewusst einschüchternd wirken: Die Opfer sollen am besten gleich


freiwillig nachgeben und zahlen, ohne dass es zu gewalttätigen Auseinan-
dersetzungen kommen muss. Eine gewisse Uniformierung macht die Herr-
schaften unverwechselbar: Ein gegelter kurzgeschnittener „Punchperm“-
Haarstil (alternativ der voll geschorene Schädel), dunkle Sonnengläser,
schwarz gestreifte oder weiße Anzüge mit Ausstellhosen, spektakulärer
Goldschmuck und teure Uhren, und für die Bosse: ein kugelsicherer weißer
oder schwarzer Cadillac oder Daimler als Stretch-Limo mit goldenen ex-
ternen Armaturen und Antenne auf dem Dach. Ihre unübersehbare Gegen-
wart signalisiert allen Beteiligten klar, wer Herr des Reviers ist. Das ver-
treibt die Konkurrenz und unerwünschte kleinkriminelle Freelancer und
demonstriert unzweideutig das Anrecht und den Anspruch auf Schutzgel-
der von allen Geschäften – legalen wie illegalen – des Territoriums.
Die exotischen Rituale des Yakuza werden vom Film und Fernsehen in
Japan weithin bekannt gemacht. Für ein westliches Publikum hat Ridley
Scott in seinem spannenden Film Black Rain das Milieu treffend darge-
stellt18. Zu den mittelalterlichen Ritualen zählen als Sühne abgeschnittene
Fingerkuppen, großflächige Oberkörpertätowierungen, feudalistische Ge-
folgschaftsbeziehungen und ein ziemlich unglaubwürdiger Samuraimythos
mit Normen von Tapferkeit, Gehorsam und männlichem Abenteuer, der
von einer einschlägigen Literatur vermarktet wird. Gelegentlich wird die-
ser Mythos neubelebt. So halfen die Angehörigen der Yamaguchi-gumi
selbstlos, umsichtig und wohlorganisiert bei den Bergungsarbeiten des
großen Kobe-Erdbebens von 1995, als die inkompetenten Behörden und
die nutzlose bürokratisierte Armee noch in endlosen Koordinationssitzun-
gen schwadronierten.
In ihrer sozialen Rolle stabilisieren die Yakuza die Gesellschaft: Sie
nehmen die Tunichtgute und Verlierer des hochgradig wettbewerbsorien-
tierten Bildungssystems auf. Wer aus der Mittel- und Oberschule ohne
Abschluss aussteigt und mit der Polizei als Mitglied von Motorradbanden
(bosozoku) wegen kleinkrimineller Delinquenz in Konflikt kommt, hat auf
dem Arbeitsmarkt kaum eine andere Chance als als unterbezahlter Tage-
löhner auf dem Bau oder in irgendwelchen ungelernten Dienstleistungen
zu malochen. Die Yakuza dagegen offerieren eine Laufbahn mit scheinbar
schnellem Geld, leichten Frauen und plötzlich erreichbaren Statussymbolen

18
Eine gute Quelle ist, wenn auch schon mittlerweile etwas historisch: David E.
Kaplan und Alec Dubro. Yakuza. The Explosive Account of Japan’s Criminal
Underworld. London 1987, das erst 1991 in japanischer Übersetzung veröffent-
licht werden konnte.
146 Branchenanalysen

des Reichtums. Nicht umsonst sind die Rekrutierungsbemühungen der


Yakuza in den Subkulturen koreanischer und chinesischer Einwanderer
und bei der weiter diskriminierten Unterkaste der Burakumin, die auf den
normalen Arbeitsmarkt meist schlechte Karten haben, relativ erfolgreich.
Die jungen Gangsterlehrlinge müssen – ähnlich wie ihre Kollegen in
den Großbetrieben – ganz unten anfangen. Sie müssen die strikte Disziplin
der Bande unter dem absolut geltenden Kommando des Bosses fraglos
akzeptieren und schlecht bezahlte Hilfsarbeiten verrichten. Die Hierarchie
funktioniert nach strengen Führer-Gefolgsmann-(oyabun-kobun) Prinzipien.
Wie im Firmenleben und in allen anderen Organisationen in Japan zählen
Seniorität und Loyalität. Gelegentlich müssen sie anstelle ihrer Chefs auch
Verbrechen gestehen und Gefängnisstrafen für Übeltaten antreten, die sie
gar nicht begangen haben. Erst nach langen Jahren treuer Dienste und etli-
chen Gefängnisjahren kann ein talentierter Gangster ins mittlere Manage-
ment als Boss einer Untergruppe aufsteigen.
Damit ist ein Gutteil der jungen Tunichtgute in der Obhut der Banden
aufgehoben. Gleichzeitig disziplinieren sie die Unterschichten Japans. In den
militanten Arbeitskämpfen der 50er und 60er Jahren wurden sie engagiert,
um Streikposten zu verprügeln. Im heutigen Alltag erledigen sie den Schul-
deneintrieb für die Kredithaie (sarakin). Oft werden als nicht mehr einklag-
bar angesehene Verbraucherkredite auch von seriösen Banken über Mittels-
männer an Unterweltfirmen weiterverkauft. Zahlungsunfähige Schuldner,
die oft Unterschichtler sind, werden dann so lange terrorisiert, bis sie doch
noch irgendwie zahlen. Typischerweise wird ihnen als erste Warnung die
Wohnungstür eingetreten und mit lautem Gebrüll aus dem Mobiliar Klein-
holz gemacht. Das soll den gerechten Zorn der ehrlichen Gangster verdeutli-
chen. So wurden Ende der 90er Jahre der 6700 Mann starken Sumiyoshi-kai
ausstehende Kundenkredite über einen Nominalwert von 1 Milliarde Yen für
200 Millionen Yen verkauft. Mit der Hilfe von Pfändungen und Bürgschaf-
ten von Verwandten trieb die Sumiyoshi-kai dann 400 Millionen Yen ein.19
Mancher Schuldner wurde mit diesen Methoden auch in den Selbstmord
getrieben. Gangster organisieren auch Tagelöhner für Baustellen, Löschar-
beiten im Hafen und andere ungelernte schwere Arbeiten, wobei sie einen
erklecklichen Prozentsatz der kärglichen Löhne selbst einstreichen.
Als positiven Beitrag zur japanischen Gesellschaft halten sie ihre Terri-
torien frei von Kleinkriminalität und Vandalismus – man wird im japani-
schen Nachtleben also nie grundlos beraubt oder zusammengeschlagen –
und lösen privatrechtliche Dispute unter den Einwohnern oder mit ihren

19
Financial Times 6.6.1998.
Die Unterwelt: Die Yakuza als Wirtschaftsfaktor 147

Kunden recht robust und schnell. Dieser Service ist für die Betroffenen
allerdings nicht billig.
Als im April 1989 Yoshinori Watanabe die Funktion des obersten Chefs
(kumicho) der Yamaguchi-gumi übernahm, wurde er zum absoluten Herr-
scher über 30.000 Gangster, die ihrerseits in etwa 800 Banden mit durch-
schnittlich 35 Mitgliedern organisiert sind. Der kumicho präsidiert einem
Vorstand, dem die 12 wichtigsten Regionalbosse angehören. Sie treffen sich
am 5. jeden Monats im Yamaguchi-gumi-Hauptquartier in Kobe, um das
laufende Geschäft auf höherer Ebene zu diskutieren und Territorialkonflikte
zwischen Mitgliedsbanden einvernehmlich zu regeln. Anschließend wird das
Treffen für Strategiesitzungen mit der Teilnahme von 92 Hauptleuten erwei-
tert, die Bandenformationen in Bataillonsstärke anführen. Alle müssen als
Mitgliedsbeitrag allmonatlich eine Million Yen an den kumicho abführen,
mit dem dieser die administrativen und sozialen Kosten des Hauptquartiers
begleicht. Nur wenn die Beiträge regelmäßig bezahlt und die Befehle des
kumicho gehorsam ausgeführt werden, dürfen die Gangster das furchterre-
gende Logo der Yamaguchi-Gumi an ihrem Vereinslokal anbringen, auf ihre
Visitenkarten drucken und am Revers als Nadel tragen.
Doch herrschen nicht immer Eintracht und Harmonie im Gangsterland.
Als Watanabes Vorgänger Kazuo Taoka 1981 nach 35jähriger Herrschaft
starb, kam es zu gewalttätigen Nachfolgekämpfen. In Auseinandersetzun-
gen mit der damals 13.500 Mann starken, abgespaltenen Ichiwa-kai, star-
ben mehr als 30 Menschen, etwa 100 wurden verletzt, davon die meisten
Gangster mit akuter Bleivergiftung, bis im April 1989 der Frieden nach
langen Verhandlungen wieder einkehrte und die Ichiwa-kai wieder in die
Arme der Yamaguchi-gumi zurückkehrte.
Seit den 80er Jahren erfährt die Gangsterszene eine deutliche Konzent-
ration und Konsolidierung, die mit einer deutlichen Professionalisierung
und steten – nie ganz gelungenen – Versuchen, eine gewisse Respektabili-
tät herzustellen, einherging. So ging die Gesamtzahl der yakuza von ihrem
Höchststand von 182.000 (1963) auf 81.300 (2002) zurück. Anfang der
80er Jahre betrug der Anteil der drei großen Syndikate (Yamaguchi-gumi
aus Kobe/Osaka, Sumiyoshi-kai aus Tokyo, und Inagawa-kai aus Yokoh-
ma) erst 22%. Heute liegt er bei 77%20. Kleinere regionale Banden werden
entweder übernommen oder zerstört. Als Franchisenehmer der größeren
Syndikate behalten sie in ihrem angestammten Revier im Rahmen der all-
gemeinen Bandenstrategie natürlich weiter eine gewisse Handlungsauto-
nomie für den üblichen verbrecherischen Broterwerb. Als Ergebnis der

20
Financial Times 27.2.2002.
148 Branchenanalysen

Konsolidierung sind die Bandenkriege stark rückläufig. Zählte die Polizei


1989 noch deren 150, so waren es 2001 nur noch 25. Das gute Betragen
lohnte sich. Wurden im Jahr 1989 noch 20.000 organisierte Gangster ver-
haftet, so halbierte sich diese Zahl seither.
Hauptmotiv der gangsterischen Tätigkeit ist natürlich, mit möglichst
wenig Aufwand maximale Gewinne als Risikoprämie zu erzielen. Es gibt
aber auch politische Rollen. Jeder Abgeordnete kennt den Gangsterboss
seines Wahlkreises, oft sogar etwas zu gut. Beziehungen zur konservativen
Regierungspartei LDP, zur stärksten Oppositionspartei, der DPJ, und zu
rechtsradikalen Gruppen sind gut dokumentiert21.
Oft machen die yakuza sich im Wahlkampf nützlich, in dem sie spen-
den, die Stimmen aus dem Hafen- oder Nachtklubviertel liefern oder kräf-
tige Wahlhelfer und Leibwächter abstellen. In manchen Vierteln lässt sich
die politische Konkurrenz dann lieber nicht blicken. Gelegentlich müssen
auch gewisse notwendige Aufgaben erledigt werden, von denen der Herr
Abgeordnete nachher besser nichts weiß. So können unwillkommene Re-
cherchen naseweiser Journalisten unterbunden, unwillkommene politische
Rivalen abgeschreckt oder ab und zu auch delinquente eigene Familien-
mitglieder auf den Pfad der Tugend zurückgeholt werden. Solch löbliches
staatsbürgerliches Engagement erfolgt jedoch nicht so sehr aus Gründen
des Altruismus, sondern in der nicht unbegründeten Erwartung des künfti-
gen Schutzes vor Nachstellungen der Polizei, des Staatsanwaltes und der
Steuerbehörden und des ungestörten weiteren Geschäftsbetriebs.
Natürlich ist der offene Umgang mit amtsbekannten Gangstern mittler-
weile auch für Spitzenpolitiker zum Karrierekiller geworden, weswegen
für beide Seiten strenge Diskretion ratsam ist. Noch stärker in der Grauzo-
ne befindet sich die Assoziation des organisierten Verbrechens mit rechts-
radikalen Gruppen. Gemeinsam ist ihnen ein strenger Autoritätsglaube, die
Verherrlichung von Gewalt und traditioneller japanischen Tugenden wie
dem Samuraikode bushido. Oft werden beide Seiten von dubiosen Strip-
penziehern (kuromaku), Machtfiguren mit guten Beziehungen in beiden
Lagern zusammengeführt. Ein berüchtigtes Beispiel war Ryoichi Sasaga-
wa, der seit dem Krieg die Motorbootrennen (ein lukratives, wenngleich
offen manipulatives Wettspiel) in Japan kontrollierte. Bis zu seinem Tod
1995 war er kurioserweise bestrebt, sich durch vielfältige öffentliche
Spenden den Friedensnobelpreis zu kaufen. Heute führt sein Sohn sein
Lebenswerk in der Nippon Foundation weiter.

21
Z.B. bei Kaplan und Dubro. Op. cit.
Die Unterwelt: Die Yakuza als Wirtschaftsfaktor 149

Unüberhörbar ist in Tokyo der Lärm rechtsradikal organisierter schwarzer


Lautsprecher-LKWs. Sie fahren gerne vor der russischen Botschaft vor,
wo sie mit laut dröhnender Marschmusik die Rückgabe der Südkurilen
fordern. Noch lieber aber bauen sie sich auch vor Firmenzentralen auf, die
ihren patriotischen Ärger erregt haben und machen so lange ohrenbetäu-
benden Krach, bis sie nach Erhalt einer als angemessen erachteten Sühne-
spende wieder abziehen. Die Polizei beobachtet und fotografiert solche
Nötigungen nur. Da die Meinungsfreiheit in Japan keine Dezibelgrenzen
kennt, darf sie nicht eingreifen.
Japans Rechtssystem ist so umständlich, teuer und langsam, dass zivil-
rechtliche Klagen für den Normalbürger und die meisten Firmen keine
realistische Option darstellen. Anwalts- und Gerichtsgebühren sind extrem
hoch. Räumungs- und Kündigungsklagen sind so gut wie chancenlos. Ver-
fahren können Jahrzehnte dauern und am Ende empfiehlt der Richter oh-
nehin meist einen außergerichtlichen Vergleich.
Japan ist sehr stolz darauf, nur knapp 20.000 Anwälte zu haben (im
Vergleich zu mehr als einer Million in den USA) und wertvolle Ressour-
cen nicht in unproduktiven Rechtshändeln zu vergeuden.
Das Versagen des Rechtssystems erlaubte die Rolle der Yakuza für
schnelle außergerichtliche Schiedssprüche. Nicht länger gewünschte Mie-
ter werden schnell geräumt. Bleibt die erste freundliche Warnung unbe-
rücksichtigt, liegt das Mobiliar bald auf der Straße. Zögerliche Hausbesit-
zer werden schnell überzeugt, ihr Häuschen einer Immobiliengesellschaft
zum Abriss zu verkaufen. Lassen sie sich zuviel Zeit, fährt plötzlich aus
Versehen ein Zementmischer in die Wohnküche. Auch Entschädigungs-
zahlungen bei Verkehrsunfällen und Kündigungen klärt der freundliche
Yakuza-Rechtsschutz. Ihre Rolle als freiwilliger Gerichtsvollzieher wurde
bereits erwähnt. Sie stellen auch sicher, dass die Kunden von Prostituierten
umstandslos zahlen, dass Spielschulden und Zechen in den Vergnügungs-
vierteln anstandslos beglichen werden. Das betrifft auch feucht-fröhliche
Ausländer. Selbst gegenüber kriegserprobten Angehörigen der US-Marine
können sich die Yakuza bei deren Hafenbesuchen durchsetzen. Diese
Schlichtungstätigkeit ist natürlich nicht unparteiisch. Sie erfolgt im Inte-
resse des Auftraggebers. Einsprüche und lange Diskussionen sind nicht
vorgesehen. Die verlangten Gebühren sind der Effizienz angemessen ent-
sprechend hoch.
Die wirtschaftliche Rolle der Yakuza ist klar: Sie bieten Dienstleistun-
gen und Waren zur Befriedigung von Kundenwünschen, deren legale Er-
füllung nicht möglich ist. So liefern sie Pornographie und Drogen und or-
ganisieren Prostitution und illegale Glückspiele. Waffen, meist Handfeuer-
150 Branchenanalysen

waffen, aber auch Schwerter für den eher traditionellen Geschmack, werden
eher für den Eigenbedarf eingeführt.
Bekanntlich haben Japans Gehaltsempfänger in ihrem arbeits- und fir-
menorientierten Lebenswandel, durch den sie oft ohne ihre Familien ver-
setzt oder von ihnen entfremdet werden, eine starke Neigung nach rest and
recreation in den ausgedehnten Vergnügungsvierteln, die in allen japani-
schen Städten die Nacht zum Tag werden lassen. Dort liefern die Yakuza
die eifrig nachgesuchten verbotenen Reize, kassieren aber auch gleichzei-
tig Schutzgelder von den Tausenden legaler Bars und Bierschwemmen.
Der fröhliche Zecher bezahlt dafür durch überhöhte Preise, kann aber rela-
tiv sicher sein, dass er auch voll alkoholisiert unbeschadet und unberaubt
den Heimweg antreten kann.
Die Yakuza haben mittlerweile ihre Operationen vermehrt in legale
Branchen ausgeweitet. Darunter sind die Bau- und Immobilienwirtschaft,
der Straßengütertransport, Hotel- und Restaurationsbetriebe, die Hafen-
wirtschaft und die Immobilienspekulation. Dabei zeigten sich etwas subop-
timale Synergieeffekte bei der Anwendung von Gangstermethoden in der
legalen Wirtschaft. Noch relativ harmlos war ihre Neigung zu betrügeri-
schen Bankrotten, wenn es ans Bezahlen höherer Rechnungen ging. Nicht
vermittelbar dagegen war den Syndikaten, dass sie bei Börsenspekulation
tatsächlich ihr gutes Geld verlieren würden oder dass ihnen gewährte
Bankkredite auch fällig werden könnten. So wurde ein Manager der Sumi-
tomo Bank, der für Pfändungen zuständig war und der Vizepräsident der
Hanwa Bank wegen Gangsterkrediten ermordet22. Deshalb ließ sich Susu-
mi Ishii, der kumicho von Inagawa-kai von Nomura und Nikko voll ent-
schädigen, als die Aktienmanipulationen des Eisenbahn- und Kaufhaus-
konzerns Tokyu, die sie auf seine Rechnung betrieben, unvorhergesehene
Verluste brachten. Bei seinen Tod 1991 hatte Ishii bei beiden Wertpapier-
häusern uneinbringliche Schulden in Höhe von 300 Millionen US-Dollar.
Häufig haben die Banken, die in der Hochkonjunktur Spitzenbetriebe
wie Toyota, Honda und Matsushita als Kreditkunden verloren, von sich
aus risikofreudige Spekulanten akquiriert, die den Yakuza als bekannte
legitime Frontorganisation (kigyo shatei) dienten. Diese Gelder sind nun
alle verloren: die Spekulationswerte sind dahin und die Kredite wegen des
Yakuza-Hintergrundes uneinbringlich. Raisuke Miyawaki, der frühere
Abteilungsleiter für organisiertes Verbrechen in der Nationalen Polizei-
agentur, schätzt diese Kredite auf 300/400 Milliarden US-Dollar, wovon
50 Milliarden US-Dollar auf US-Finanzmärkte verschoben worden seien.

22
Financial Times 12.12.1995.
Die Unterwelt: Die Yakuza als Wirtschaftsfaktor 151

Jene Gangsterinvolvierung verschärfe nun die Kosten der Bankenkrise und


verlängere die Rezession in Japan23, meinte er.
Normalerweise halten die meisten japanischen Firmen zu den Yakuza
einen deutlichen Sicherheitsabstand. Ein Geschäftszweig der Gangster, die
sokaiya, haben sich auf die Erpressung von Großunternehmen spezialisiert:
Sie drohen die Jahresversammlungen zu stören, Firmeneigentum zu be-
schädigen, Transaktionen zu sabotieren, Führungspersonal zu kidnappen,
Firmengeheimnisse und -skandale zu enthüllen oder die Produkte von
Nahrungsmittelfirmen zu vergiften. Sie werden von der Tatsache ermutigt,
dass trotz erheblicher Strafen die meisten Firmen bei solchen Erpressungen
nachgeben 24(und weiter erpressbar bleiben). So zahlte der Landmaschi-
nenbauer Kubota, der bei einem illegalen Kartell für Gas- und Wasserlei-
tungsbauten ertappt worden war, während 25 Jahren insgesamt 3 Millionen
US-Dollar an zwei Sokaiya25. Andere seit 1982 illegale Zahlungen an so-
kaiya wurden durch JAL, Kobe Steel, Daiwa, Fuji Photo, Ajinomoto
(US$ 90.000), Nomura (US$ 440.000), Kirin (US$ 400.000), Takashimaya
(US$ 1,4 Millionen), und Ito Yokado (US$ 230.000) bekannt26. Ein Fuji-
Manager wurde 1991 ermordet, als er sich weigerte, zu zahlen27. Typischer-
weise drohen die sokaiya die Jahreshauptversammlung durch Geschrei,
peinliche Fragen und Enthüllungen zu stören. Oft haben sie ihre Recher-
chen über veruntreute Gelder, Verschwendungen und Liebesaffären der
Firmenleitung gründlicher gemacht als die Buchprüfer oder irgendwelche
Journalisten. Für das harmonie- und gesichtsbedachte Management, das die
Hauptversammlung in einigen Minuten als applaudierte Formalie abwi-
ckeln will, ist es dann naheliegend, die drohenden stundenlangen Peinlich-
keiten durch einen Haufen brüllender Gangster mit Geld aus der Welt zu
schaffen. Man kauft sich den Sokaiya durch die von ihnen angebotenen
überteuerten Dienstleistungen, z.B. durch die Exklusivsubskription eines
inhaltslosen Informationsdienstes, durch das Schalten teurer Anzeigen in
ihren Clubzeitschriften oder die Lieferung von extravaganten Büropflanzen
und Schreibmaterial. Einmal bezahlt, sorgen dann die sokaiya dafür, dass
auch legitime Aktionärsfragen abgewürgt werden. Erst als Carlos Ghosn

23
Velisarios Kattoulas. The Yakuza Recession. Far Eastern Economic Review
17.1.2002; 12-20.
24
Nihon Keizai Shimbun 3.5.1991.
25
Financial Times 17.6.2000.
26
International Herald Tribune 29.4.1994, Financial Times 13.3. und 26.4. 1997.
27
„Everyone does it“ Financial Times 1.11.1997.
152 Branchenanalysen

sich weigerte, die sokaiya zu bezahlen und von ihnen 4 Stunden lang Fra-
gen und Beleidigungen wegen fünf Werksschließungen und 16.000 Ent-
lassungen bei Nissan über sich ergehen lassen musste und sie auch
mannhaft beantwortete28, da fiel auch bei anderen Firmenführungen der
Groschen, wie man mit etwas Zivilcourage und rhetorischer Stamina des
Problems Herr werden konnte.
Mittlerweile sind die Zahl der sokaiya deutlich rückläufig: von 6800
(1982) auf nur noch 400 (2000)29. Ursächlich ist die Tatsache, dass fast
alle Hauptversammlungen jetzt am gleichen Tag des Jahres abgehalten
werden und dass die Firmen sie mit Polizisten und kräftigen Angestellten
beschicken.
In dem in der Bauwirtschaft üblichen System abgesprochener Offerten
(dango) bei öffentlichen Ausschreibungen profitieren nicht nur die mit der
Bauwirtschaft und dem Infrastrukturministerium verbundenen Abgeordne-
ten (zoku), sondern auch die Yakuza. Ihre Funktion ist es, zu überwachen,
dass es keine unerwünschten Angebote dritter gibt, und dass sich niemand
allzu sehr für die Vorgänge interessiert. Als der frühere Bauminister Eichi
Nakao 1999 wegen der Vergabe eines öffentlichen Auftrags an die Baufirma
Wakachiku aufgrund des Erhalts von 30 Millionen Yen an Bestechungs-
geldern verhaftet wurde, wurde ruchbar, dass auch die Yamaguchi-gumi
bei der Vermittlung mit im Spiel gewesen war.
Als US-Fonds ab Ende der 90er Jahre begannen, für insgesamt 15 Milli-
arden US-Dollar reihenweise konkursreife japanische Unternehmen und
ihre Projekte von Golfplätzen bis zu Pachinko-Spielhöllen billig zu über-
nehmen, mussten sie bei ihren Hintergrundchecks nicht wie erwartet nur in
der Bauwirtschaft, der Unterhaltungsindustrie und im Straßengüterverkehr
die Beteiligung des organisierten Verbrechens feststellen, sondern selbst
bei Krankenhäusern und in der chemischen Industrie.
Auch früher bedrohten Yakuza die Aktivitäten ausländischer Investoren
und Geschäftsleute. So waren sie im Fleischimport aktiv und manipulier-
ten die Rindfleischimportauktionen zu ihren Gunsten und importierten
über den Hafen von Nagoya illegal taiwanesisches Schweinefleisch zu
niedrigeren Preisen als die legitimen dänischen Importe30. Aus China und
Russland importieren sie nicht nur illegale Immigranten, Prostituierte,
Drogen und Waffen, sondern auch gefälschte Markenartikel, die als schlecht

28
Financial Times 21.6.2000.
29
Financial Times 7.7.2000 und 28.6.2001.
30
Albrecht Rothacher. Japan’s Pork Import Market and the „Nagoya Connection“.
Berlin 1992.
Die Unterwelt: Die Yakuza als Wirtschaftsfaktor 153

verarbeitete Imitate im markenbewussten Japan die echten Qualitätspro-


dukte bedrohen.
Am dramatischsten war die Situation sicher in den japanischen Häfen,
deren 54.000 Schauerleute über ihre Gewerkschaften von der „Japan Har-
bour Transport Association“ (JHTA) als Monopolagentur eines gewissen
Shiro Takashima kontrolliert wurden31. Der mit der Yamaguchi-gumi eng
verbundene Takashima hatte sich als Chef der mafiosen Hafenarbeiterge-
werkschaft zum heimlichen Herrn aller japanischen Häfen hochgearbeitet.
Das willfährige Transportministerium, deren Pensionären er Jobs (amaku-
dari) in seiner reichen JHTA anbot, hatte ihm das Monopol für alle Lösch-
arbeiten und das alleinige Verhandlungsrecht für alle anfallenden Kosten
und Gebühren eingeräumt. Bald waren die japanischen Häfen die teuersten
und die ineffizientesten der entwickelten Welt. Ausländische Schifffahrts-
linien, die es wagten, ihre Container in Eigenregie zu löschen, wurden be-
droht, mit punktuellen Streiks schikaniert oder es fielen ihre Container aus
Versehen mal vom Kran ins Hafenbecken. Angesichts dieser Missbräuche,
die japanische Reeder, die mit Takashima Gemeinschaftsunternehmen
unterhielten, wenig störten, drohte die US-Regierung schließlich japani-
schen Schiffen mit Strafgeldern von je US$ 100.000 beim Anlanden in US-
Häfen, und die EU brachte eine WTO-Klage gegen Japan ein. Erst der Tod
des 83jährigen Paten der Hafenwirtschaft im Mai 1997 löste das Problem.
Mittlerweile hatten die japanischen Häfen auch schon genug Umschlag an
ihre asiatischen Mitbewerber verloren32.
Zweifellos war die Rezession schlecht für die Yakuza. Als risikofreudige
Spieler verloren sie trotz aller illegalen Entschädigungen durch die Wert-
papierhäuser Nomura und Nikko in den Deflationsjahren ein Gutteil ihrer
übel zusammengerafften Vermögen. Firmen, die knapp bei Kasse sind,
sind weniger leicht mit Schutzgeldern und Skandalgeschichten erpressbar.
Kunden, deren Arbeitsplatz bedroht ist, halten sich im Rotlichtmilieu, bei
Umtrünken, beim Glückspiel und Kredithaien zurück. Die ersten Jammer-
geschichten von arbeitslosen Gangstern, die sich den kleinen Finger mit
Silikon wieder anoperieren lassen, sind im Umlauf. Manche Banden
mussten gar zu stehlen anfangen, um ihre Mitgliedsgebühren bei ihren Syn-
dikaten bezahlen zu können. Mitleid ist fehl am Platze. Keine Sorge, es
wird die yakuza noch lange geben.

31
Andreas Gandow. „Erst der Tod des „Paten der Hafenwirtschaft“ ermöglichte
mehr Wettbewerb. Handelsblatt 20.10.1997.
32
„Japans Häfen geraten unter Deregulierungsdruck“. Frankfurter Allgemeine
23.4.2001.
9 Firmenportraits

9.1 Canon: Die Erfolgsgeschichte einer Sanierung aus


eigener Kraft

Als Fujio Mitarai, der Neffe des Firmengründers Takashi Mitarai, 1995
Canon als Vorstandsvorsitzender übernahm, war Canon einer jener überdi-
versifizierten japanischen Hochtechnologiekonzerne, die von Ingenieuren
geführt wurden, die auf der Markteinführung ihrer Neuentwicklungen be-
standen und denen die tatsächlichen Kundenbedürfnisse und die Gewinn-
entwicklung eher gleichgültig war. Als Ergebnis fehlte Canon der Fokus
auf profitable Kernkompetenzen. Es war überschuldet und schrieb seit
Jahren rote Zahlen. Wie die Führungen der anderen Elektronikkonzerne
hatte die vorige Canon-Leitung gehofft, durch magische Großtaten ihrer
emsig wurstelnden F&E würden neuentwickelte Wunderprodukte den
Marktdurchbruch eines Tages schon schaffen und die alte Gewinnträchtig-
keit und weiteres Firmenwachstum in immer neuen Produktsegmenten wie
in den guten alten Vorkrisenzeiten wiederherstellen. Weil man aber nicht
wissen konnte, aus welchen Abteilungen jene Neuentwicklungen wohl
kommen würden, beließ man alles möglichst ungestört beim alten.
Fujio Mitarai, der in 23 Jahren zuvor in Nordamerika Canon USA auf-
gebaut hatte, kam nach Japan zurück und tat, was zuvor noch kein anderer
japanischer Firmenchef gewagt hatte. Er beendete und verkaufte alle ver-
lustbringenden Produktlinien: PCs, Halbleiter, die Software-Herstellung,
elektrische Schreibmaschinen, optisch lesbare Datenkarten, photovoltai-
sche Batterien und Flachbildschirme. Während unreformierte Elektronik-
giganten wie NEC, Hitachi, Fujitsu und Toshiba immer noch von hohen
Schulden bedrückt rote Zahlen schreiben, wurde Canon zu einer Firma, der
das Gelddrucken wieder gelingt. Als Ergebnis kann Mitarai wieder die
Tugenden des japanischen Personalmanagements preisen: lebenslange
Beschäftigungen, Arbeit für das Gemeinwohl (kyosei), firmeninterne Rek-
rutierung des Managements und eine starke Firmenkultur. Restrukturie-
rungen und Kostenrechnung nach westlichem Muster, verbunden mit tradi-
tionellem japanischem Managementstil, das sei die Essenz der Wende bei
Canon, betont Mitarai, der wegen der Seltenheit dieser Erfolgskombination
156 Firmenportraits

mittlerweile zu einem der rar gewordenen bewunderten japanischen Wirt-


schaftsführer und Gurus aufgestiegen ist.
Canon wurde 1933 im Tokyoer Stadtteil Roppongi von dem Augenarzt
Takashi Mitarai als Laboratorium für optische Präzisionsgeräte (Seiki Ko-
gaku) gegründet: Nach dem Krieg wurde der Betrieb auf Canon, nach
Kwanon, der buddhistischen Göttin der Gnade, umgetauft. 1960 entwickelte
Canon eine Kamera für den Massenmarkt und brach das bis dahin in Japan
existierende Preiskartell für Kameras. Bald erreichten Canon und Nikon
nach heftigem Wettbewerb die Preisführerschaft über die bis dahin füh-
renden deutschen Hersteller. 1964 wurde ein erster Taschenrechner auf
den Markt gebracht (dessen Fertigung seit 1986 auf Taiwan durch Kinpo
Electronic stattfindet). 1965 folgten Kopiergeräte. Damals definierte Takes-
hi Mitarai als Firmenstrategie, jeweils hälftig sich auf Kameras und Büro-
maschinen zu konzentrieren1. Er bestand auch auf der Entwicklung von
Zusatzgeräten und Verbrauchsgütern wie Filmen, mit denen deutlich mehr
Geld zu verdienen war als mit Kameras allein.
Bei Kopiergeräten war das Hauptproblem, dass Xerox die meisten Pa-
tente für Papierkopierer hielt. Canon musste also eine Vielzahl neuer Pa-
tente entwickeln, um die geschützten Xerox-Erfindungen zu umschiffen.
Um ähnliche Probleme künftig zu vermeiden, entschied Ryuzaburo Kaku,
der in den 80er Jahren den Vorstandsvorsitz übernommen hatte, 10% des
Umsatzes für F&E zu verwenden. Als eine technologieorientierte Firma
wurde Canon von Ingenieuren in autonomen Hauptabteilungen geführt. An
Finanzen blieben sie weitgehend desinteressiert. Unverkaufte Lagerbe-
stände wurden einfach Tochterfirmen aufgedrückt, die die Verluste für den
diskontierten Absatz zu schlucken hatten. Als mit dem nach 1985 steigen-
den Yenkurs (endaka) die Exportpreise japanischer Produkte unablässig zu
steigen begannen, wuchsen auch die Verluste von Canon, vor allem bei
Kameras und optischem Gerät. Wie in den meisten anderen Firmen erga-
ben die Reform- und Verbesserungsbemühen, die bottom-up, d.h. von un-
ten nach oben gehend an der Produktionsbasis und im Endabsatz ihren
Ursprung hatten, nur sehr geringe Effizienzsteigerungen. Für Belegschaf-
ten und das Mittelmanagement waren verständlicherweise solche Restruk-
turierungsmaßnahmen und Abverkäufe tabu, die ihre eigenen Arbeitsplätze
und Karrieren bedrohen könnten. Angesichts eines mangelhaften Rech-
nungswesens waren den meisten die Verluste, die sie seit Jahren produzier-
ten, auch gar nicht bewusst.

1
Nihon Keizai Shimbun. How Canon got its Flash back. The innovative turna-
round tactics of Fujio Mitarai. Singapur. 2004. S. 17.
Canon: Die Erfolgsgeschichte einer Sanierung aus eigener Kraft 157

Kurzfristig übernahm Hajime Mitarai, der Sohn des Gründers, ein pro-
movierter Ingenieur, 1993-95 den Vorstand. Nach dessen überraschendem
Tod war der Neffe, Fujio Mitarai, der Jura studiert hatte, an der Reihe. Er
hatte mehr als zwei Jahrzehnte in den USA verbracht, wo er ab 1972 Ca-
non als Markenartikel eingeführt und die Verkaufsorganisation aufgebaut
hatte und seit 1985 von Canon Virginia Büroautomationsgeräte örtlich
fertigen ließ. Damit hatte er Canon USA mit 14.000 Beschäftigten zur
wichtigsten Tochter mit 2,6 Milliarden US-Dollar Umsatz gemacht. Nach
seiner Rückkehr nach Japan begann Mitarai nach amerikanischer Art mit
einem „Top-Down-Ansatz“ zur Restrukturierung und packte so Probleme
ohne Umschweife an. Dazu zählten die inadäquate und nichtkonsolidierte
Kostenrechnung, schlampige Forschungslaboratorien, die Autonomie der
Hauptabteilungen, Produktionsserien ohne vorherige Marktforschung, ega-
litäre Entlohnungssysteme und starre Fließbandfertigungen. Entwicklungs-
ingenieure und Techniker, die an unprofitablen Projekten arbeiteten, ließ er
versetzen und umschulen.
Als erste Schocktherapie beendete er schon im Januar 1996 die Existenz
der verlustreichen PC-Hauptabteilung, die in Kalifornien Firepower PCs
hergestellt und in Japan Apple-Rechner verkauft hatte. Nach einem hoff-
nungsfrohen Start 1974 folgte sie der Canon-Tradition, alle wichtigen
Technologien im eigenen Haus zu entwickeln, hatte dann aber die Orien-
tierung und die technologische Führung bei Mikroprozessoren an Intel
verloren. So endete die unglückliche Abteilung im Verkauf an Motorola.
Gegen den beträchtlichen Widerstand des technischen Managements wur-
den dann in Folge weitere verlustträchtige Operationen durch Verkauf oder
Schließung entsorgt. Dazu zählten die 1984-98 teuer entwickelten Flach-
bildschirme, ein Sektor, bei dem Sharp als schärfster Wettbewerber die
gleichen Qualitäten zu deutlich besseren Preisen anbieten konnte. Mit der
verbesserten Kostenrechnung wurden Verluste zuortbar. Abteilungen wur-
den gehalten, ihren Absatz selbstverantwortlich zu organisieren. Das alte
finanzielle „Affengeschäft“ (tobachi), Tochterbetrieben die unverkauften
Lagerbestände aufzudrücken, wurde mit den konsolidierten Buchführun-
gen beendet. Ein Reformausschuss des Managements mit acht Untergrup-
pen wurde eingesetzt, um Probleme zu identifizieren, Lösungen zu finden
und Hindernisse zu beseitigen. Gegen beträchtliche Widerstände ließ Mita-
rai die Fließbandfertigung beenden – eine Herstellungstechnik, auf deren
Beherrschung und Perfektion Japan so stolz ist – und ersetzte sie durch
Produktionszellen, in der eine Arbeitsgruppe das ganze Gerät zusammen-
setzt. Damit werden Platz, Bevorratung mit Teilen, Kosten für Ferti-
gungsmaschinen, Werkzeuge und Personal gespart, da die Fähigkeiten der
158 Firmenportraits

Mitarbeiter besser und umfassender genutzt werden können. Das neue Zel-
lensystem ermöglicht schnellere Reaktionen auf Änderungen in der Nach-
frage und berücksichtigt kleinere Auftragsvolumen. Überschüssige Produk-
tion und überflüssige Lagerbestände werden damit hinfällig. Gleichzeitig
wurde die Unordnung und Verschwendung in den Laboratorien angepackt.
Mitarai verbot Grundlagenforschung, die keinen langfristigen kommerziel-
len Nutzen versprach. Nach der Markteinführung neuer Produkte gab er
ihnen drei Jahre Zeit, binnen der sie Gewinne abzuwerfen hatten.
Canon war immer ein mitarbeiterorientierter Arbeitgeber gewesen. In
den 50er Jahren wurden allmonatlich die Geburtstagskinder des Monats
gefeiert und im Jahre 1963 ein Preis des Familienfriedens eingeführt, der
all jene auszeichnete, die in den letzten 5 Jahren nie verspätet zur Arbeit
gekommen waren, noch krank gefeiert hatten, auch wenn diese Indikatoren
nur sehr indirekt mit dem Familienfrieden der Betroffenen zu tun haben
dürften. Schon 1943 wurde während des Kriegs der tägliche Akkordlohn
durch ein Monatsgehalt ersetzt. Gleichzeitig wurde die Unterscheidung
von Angestellten (die durch den Vordereingang zur Arbeit kamen) und
Arbeitern (die den Hintereingang benutzen mussten) abgeschafft. 1946
wurde eine Firmengewerkschaft gegründet und schon 1967 die 5-Tage-
woche eingeführt. Kredite zum Hausbau und großzügige Geschenke zu
Firmenjubiläen waren und sind gängige Praxis.
Gleichzeitig wurden, wie Mitarai es ausdrückte, in der Planwirtschaft
Nachkriegsjapans, die von Bürokraten gelenkt und vor freien Märkten ge-
schützt war, Entlohnungssysteme nach Dienstalter eingeführt, die feste
Steigerungen unabhängig von der Einzel- und Firmenleistung vorsahen.
Dies führte zu einer „üblen Gleichmacherei“2. Mitarai bestand jedoch dar-
auf, das System der arbeitslebenslangen Beschäftigung bei Canon beizu-
behalten. Ingenieure, die von „nutzloser Arbeit“ befreit wurden, wurden
umgeschult und neuen Aufgaben zugeteilt. Sie wurden keinesfalls entlas-
sen. Gleichzeitig wurde das Senioritätssystem durch leistungsorientierte
Beförderungen und Gehaltssysteme ersetzt. Zulagen, die wie die Familien-
beihilfen, keinen Bezug zur Arbeitsleistung hatten, wurden als „paterna-
listisch“ abgeschafft. Das Beförderungsmindestalter für Abteilungsleiter
(kacho) wurde auf 32 Jahre und für Direktoren (bucho) auf 35 gesenkt: mit
der absehbaren Folge, dass diese nunmehr erstmalig ältere Untergebene
haben würden.
Um Facharbeiter in der Produktion zu motivieren, wurde ein System von
Industriemeistern für jene Vorarbeiter eingeführt, die jüngere Mitarbeiter in

2
Ibid. S. 109ff.
Canon: Die Erfolgsgeschichte einer Sanierung aus eigener Kraft 159

dem anspruchsvolleren Zellensystem auszubilden hatten. Solche Meister


erhalten großzügige Sonderprämien und das Angebot über die formale Pen-
sionierung (spätestens mit 60) hinaus bis zum 65. Lebensjahr im Stamm-
werk als Vertragsbediensteter arbeiten zu dürfen. Dauernde Fortbildung
wird von allen Mitarbeitern erwartet. Ihnen wird ein reicher Katalog an
Fortbildungskursen offeriert: Von Materialkunde über diverse Management-
fertigkeiten bis zum unvermeidlichen Wirtschaftsenglisch.
Bei chinesischen Jahresarbeitskosten von US$ 1000 pro Mitarbeiter
folgte auch Canon dem Weg seiner Wettbewerber zur Fertigung im Aus-
land. Schon 1970 wurden in einem Gemeinschaftsunternehmen auf Taiwan
Taschenrechner gebaut. Ab 1984 wurden Kopiergeräte, gefolgt von Daten-
lesegeräten, auf dem Festland gefertigt, später auch in Korea, Malaysien
und in den USA. Wenn Canon technologische Durchbrüche schafft, wie
bei Silikonwaffeln, „Systemen auf Chips“ und strategisch dünnen Dis-
plays, dann kann dies für Fertigungen in Japan immer nur einen Zeitge-
winn bedeuten. In Japan selbst will Canon dauerhaft nur jene technolo-
gisch aufwendigen Produktionen beibehalten, bei denen der Anteil der
Arbeitskosten nicht höher als 2% ist.
Ähnlich wie Sony will Mitarai bei Canon eine dreigliedrige Weltstruk-
tur schaffen, mit drei Zentralen in Tokyo, New York und London. Sie sol-
len jeweils für den Verkauf, die Produktion sowie die Forschung und Ent-
wicklung ihrer Region zuständig sein und die dortigen Tochterunter-
nehmen überwachen. Diese Struktur soll auch die Währungskursrisiken
zwischen den drei wichtigsten Umsatzregionen minimieren, die für Canon
als einer Firma, die 70% des Umsatzes durch Exporte erzielt, gravierende
Probleme schaffen können.
Canons aktuelles Hauptquartier soll dann nur noch Holdingfunktionen
haben: zum Beispiel Mitgliedsfirmen billiges Kapital zur Verfügung stel-
len, Spitzenmanager ernennen, und ihnen Investitionsanreize bieten. In
Japan selbst besteht Mitarai, der so erfolgreich amerikanisches Rech-
nungswesen und strategische Entscheidungen anwandte, auf Personalfüh-
rung im japanischen Stil. Dazu zählen arbeitslebenslange Beschäftigungs-
verhältnisse, die intensive innerbetriebliche horizontale Kommunikation
und Netzwerkförderung, dauernde Fortbildung und Personalbeurteilungen
und ein ausschließlich mit Japanern besetzter Vorstand, dessen Mitglieder
sämtlich im Unternehmen selbst aufgestiegen sind. In Mitarais Worten ist in
einem multinationalen Unternehmen ein Weltbürger kein Staatenloser3.

3
Ibid. S.193.
160 Firmenportraits

Eine starke motivierende Unternehmenskultur bleibt für Canon genauso


wichtig wie eine kraftvolle F&E für die Entwicklung neuer Produkte. Neu
ist der Nachdruck auf finanzieller Stärke und das Insistieren, nur solche
Produkte anzubieten, bei denen – auch mit Hilfe von Unternehmensauf-
käufen, Fusionen und Allianzen – die Welterstenposition möglich er-
scheint. Dies ist der Fall bei Kopierern, Computer- Nebengeräten wie Tin-
tenstrahldruckern und bei digitalen Kompaktkameras wie dem Ixus.
Mitarais Restrukturierungen haben Canons Umsatz um 30 Milliarden
Yen und seine Verluste um 10 Milliarden Yen reduziert. Sie haben auch
die Schulden des Unternehmens bis 2003 auf 60 Milliarden Yen halbiert.
Dank guter Absatzzahlen und reduzierter Kosten schreibt Canon seit 1996
wieder schwarze Zahlen. 2002 stieg der Gewinn auf 1,6 Milliarden US-
Dollar. Während die meisten japanischen Großfirmen vom kurzzeitigen
Schmerz der Unternehmensrestrukturierung zurückschreckten und später,
als es zu spät war, Massenentlassungen durchführen mussten, blieb Canon
dies erspart.

9.2 Toshiba: Heillos diversifiziert?

Toshiba, der Elektrogigant der zum Elektronikkonglomerat wurde, verlor


seine Orientierung mit der 1992 einsetzenden Japankrise und dem IT-
Crash von 2000/01. Seither steigen die Schulden und Verluste. Die Fir-
menprospekte, Webseiten und Presseaussendungen von Toshiba zeigen ein
Feuerwerk an neuen Hi-tech-Produkten und futuristischen F&E-Projekten,
die alle um digitales Fernsehen und einen tragbaren schnurlosen persönli-
chen Digitalassistenten (PDA) kreisen, der als Telefon, Kamera, Taschen-
computer und Internetzugang in einem funktionieren soll.
Gleichzeitig gibt es die laufenden Produktionen der etwa 20 halbauto-
nomen Hauptabteilungen, die als „In-House-Firmen“ fungieren und Geräte
der „alten Wirtschaft“ herstellen: elektrische Küchengeräte, Lokomotiven,
Turbinen, Elektropumpen, Glühbirnen und Röntgengeräte. Dennoch ist der
IT-Jargon des Toshiba Managements in allen öffentlichen Verlautbarungen
überwältigend.
Es scheint jedoch, als hätten einige mittlerweile die Schönheiten altmo-
discher, vernachlässigter Old-Economy-Produkte mit ihren geringen Ge-
winnmargen gegenüber den IT-Verlustbringern wiederentdeckt, in die To-
shiba die meisten seiner F&E und Kapitalinvestitionen gesteckt hat und die
für den Großteil seiner Schulden verantwortlich sind. Dennoch hat das
Spitzenmanagement von Toshiba die Hoffnung nicht aufgegeben, die
Toshiba: Heillos diversifiziert? 161

nächste Generation von IT-Produkten würde den Durchbruch bringen, der


es Toshiba wundersam ermöglichen würde, trotz der überfüllten IT-
Konkurrenz wieder profitabel zu werden. Der Glaube an Wunderwaffen ist
noch nicht ganz ausgestorben.
Toshiba wurde mit der Unterstützung der Meiji-Regierung vor 130 Jah-
ren 1875 gegründet. Es wurde anfangs von Hisahige Tanaka geführt, der
als „Japans Thomas Edison“ Wasserpumpen und Waffensysteme erfunden
hatte. Ursprünglich als Firma für Telegraphenausrüstungen gegründet,
stellte das Unternehmen bald eine Vielzahl anderer elektrischer Geräte und
Ausrüstungen her und spielte so eine entscheidende Rolle bei der Elektrifi-
zierung Japans. Nach einer Fusion 1939 wurde es als Tokyo Shibaura E-
lectric Works Teil des Mitsui zaibatsu. Während des Krieges betrieb To-
shiba etwa 100 Fabriken, auch in China und Korea. Als nach dem Krieg
100.000 dieser Arbeiter in Japan monatelang unbezahlt blieben, wurden sie
zu einem strategischen Agitationsziel der Japanischen KP und der von ihr
kontrollierten Gewerkschaften. Als die endlosen, oft sehr militant ausge-
tragenen Arbeitskämpfe das Überleben von Toshiba zu bedrohen began-
nen, machte die Mitsui Bank 1949 Taizo Ishizaki, der während des Krieges
die Versicherungsgesellschaft der Gruppe, Dai-ichi Life Insurance, mit
harter Hand geführt hatte, zum Vorstandschef. Ishizaki sperrte sogleich die
militanten Gewerkschaftler und Streikenden aus, schloss ein Abkommen
mit einer handzahmen Betriebsgewerkschaft und warf gleichzeitig das
bisherige inkompetente Personal- und Finanzmanagement hinaus. Um An-
schluss an die technologische Weltentwicklung zu bekommen, vereinbarte
er eine Kapitalbeteiligung und ein technisches Kooperationsabkommen mit
General Electric, das an die enge Vorkriegsverbindung zwischen beiden
Konzernen anknüpfte. Toshiba war dann am Wiederaufbau und Nach-
kriegswachstum Japans voll beteiligt. Ishizaki wurde im Jahr 1957 Vorsit-
zender des mächtigen Industrieverbandes Keidanren und galt im nächsten
Jahrzehnt als der „wirtschaftliche Premierminister“ Japans.
Als der von den Olympischen Spielen 1964 in Tokyo ausgelöste Boom
abklang, stellte sich heraus, dass Toshiba seine kreditfinanzierten Kapazi-
täten zu stark erweitert hatte und von akuter Überschuldung bedroht war.
Wiederum engagierte der Mitsui-Keiretsu einen hartgesottenen Außensei-
ter als Sanierungsmanager. Diesmal war es Toshio Doko, vormalig Chef
der Ishikawajima-Harima-Werften, der 1965 Toshiba restrukturierte, in-
dem er den Leitern der Fabriken stärkere Entscheidungsrechte gab und die
Bürokratisierung der Firmenzentrale mit ihren Senioritätsbeförderungen
einschränkte. 1973 wurde Doko seinerseits Vorsitzender des Keidanren.
162 Firmenportraits

Unter Shoichi Saba (1980-87) begann Toshiba sich ernsthaft im Elektro-


niksektor zu engagieren. Während seiner Zeit als Vorstand wurden die ers-
ten DRAM (1985) und tragbaren PCs entwickelt, damals in Gemeinschafts-
unternehmen mit Siemens und Motorola. Sabas Karriere endete, als bekannt
wurde, dass ein Toshiba-Tochterunternehmen, Toshiba Kikai, der sowjeti-
schen Marine lärmdämpfende Ausrüstungen für U-Boote verkauft hatte. Um
die Cocom-Kontrollen für diese verbotenen Exporte zu umgehen, hatte To-
shiba die Lieferpapiere gefälscht. Die Tatsache, dass ein japanischer Elekt-
ronikkonkurrent mit betrügerischen Methoden den sowjetischen Gegner
unterstützte und die Sicherheit der USA und ihrer Verbündeten willentlich
gefährdete, schlug im amerikanischen Kongress hohe Wellen. Etliche Abge-
ordnete besorgten sich große Vorschlaghämmer und nutzten die Gunst der
Stunde, um ihrer rechtschaffenen Empörung durch die öffentliche Zertrüm-
merung von Toshiba-Transistorradios vor dem Weißen Haus in den Abend-
nachrichten telegen Ausdruck zu verleihen4. Nach einer öffentlichen Ent-
schuldigung musste Saba, der vermutlich von dem unsauberen Geschäft
zuvor keine Kenntnis gehabt hatte, zurücktreten.
Toshiba war Wettbewerber in jenem überfüllten Kreis japanischer Groß-
hersteller von Elektrotechnik. Dazu zählten Hitachi, Matsushita, Mitsubishi
Electric, Fujitsu, NEC und Oki Electric. Nach dem Krieg kamen Sony,
Sanyo, Sharp und Canon dazu. Bis in die 80er Jahre wandte das Wirt-
schaftsministerium MITI auf diesen Sektor als Industriepolitik „kontrol-
lierten Wettbewerb“ an. Der Preis- und Qualitätswettbewerb wurde auf
dem Binnenmarkt ermutigt, während gleichzeitig die einheimische Industrie
vor Importen geschützt und durch Staatsaufträge gefördert wurde. Durch
die Zusammenarbeit mit General Electric hatte Toshiba einen guten Zu-
gang zu neuen technologischen Entwicklungen und innovativen Produk-
ten, die die Amerikaner auf den Markt brachten. Sein berühmtestes Pro-
dukt, den elektrischen Reiskocher, der das Leben aller ostasiatischen
Hausfrauen erleichtern sollte, erfand Toshiba 1955 selbst. Auch bei Ventila-
toren, Kühlschränken, Staubsaugern, Waschmaschinen und Röntgengeräten
sollte Toshiba jahrzehntelang in Japan Marktführer bleiben.
Während der Boom- und Spekulationsdekade der 80er Jahre steckte
Toshiba – ebenso wie der Rest der japanischen Elektrohersteller – seine
ganzen Gewinne und das billig geliehene Kapital in die Halbleiter- und IT-

4
Nach der deutschen Wiedervereinigung fand man heraus, dass Toshiba 1986/87
mit Hilfe von Mitsui Bussan auch illegal Halbleiter an die DDR geliefert hatte.
(Financial Times 18.12.1993). Den Untergang der DDR hat das freilich kaum
aufhalten können.
Toshiba: Heillos diversifiziert? 163

Entwicklung. Jedoch standen nach dem Crash die Höhe der Investitionen
und der Schulden im umgekehrten Verhältnis zu den Erträgen. Kurioser-
weise waren es gerade die in die Halbleiterherstellung gesteckten Riesen-
investitionen, ein Sektor, in dem Toshiba vergeblich nach der Weltmarkt-
führerschaft strebte, die die Entwicklung der Speicherchips behinderten
und es der koreanischen und taiwanesischen Konkurrenz ermöglichten,
aufzuholen. Die Japaner hatten es schlicht nicht wahrhaben wollen, dass
sie ihre teuren brandneuen Fabriken und ultramodernen Fertigungen nach
einigen Monaten schon wieder komplett umrüsten sollten5. Seit 2001 fährt
die Herstellung der DRAM gewaltige Verluste ein. Dennoch pumpte Toshiba
noch Mitte 2000, kurz vor dem IT-Zusammenbruch, 170 Milliarden Yen in
die Chipfertigung. Erst später dämmerte es, dass für die meisten Wettbe-
werber bei IT-Geräten und Ausstattungen die Innovation zu schnell und
der Wettbewerb zu hart waren, um Gewinne zu ermöglichen. Mit rapide
beschleunigten Produktzyklen konnten die Verbraucher alle sechs bis acht
Monate eine billigere und verbesserte Generation von PCs erwarten.
Toshiba hatte einige Erfolge bei der Entwicklung von Textverarbeitungs-
geräten für die japanische Sprache, bei automatischen Briefsortiermaschi-
nen, Point-of-sales-Systemen (POS) (die im Einzelhandel die Registrier-
kasse, die Buchhaltung und die Inventarkontrolle in einem wahrnehmen),
bei Flüssigkristallanzeigen und DVDs, wo es vor Sony 1995 die Weltstan-
dards setzte. Jedoch scheiterte Toshiba bei Bürocomputern und kam als
Spätentwickler bei Mobiltelefonen nie über Platz 10 hinaus. Der Absatz
seiner digitalen Fernseher kam auch nie recht in Gang. Bei PCs, Halbleitern
und Flüssigkristallanzeigen blieb die Nachfrage flach. Doch wie sucht-
krank in seinen diffusen Sciencefiction-Visionen erscheint das Unterneh-
men unfähig, Verlustbringer abzustoßen. Stets gibt es da die Verheißung
eines Verkaufsschlagers in der nächsten zu entwickelnden Generation wie
der schnurlose Server („3G-Telefon“), der digitales Fernsehen, Handy,
Rechner, Internetzugang und Kamerafunktionen kombiniert. Nach wie
vor verfolgt Toshiba dann der Ehrgeiz, alle diese Systeme im eigenen
Haus zu entwickeln und trennt sich folglich von keinem der Segmente.
Die Wahrscheinlichkeit, dass der schnurlose Server einem ähnlichen
Wettbewerbsdruck und kurzen Innovationszyklen unterworfen sein wird
wie seine Hightech-Vorgängersysteme und daher nur für den Marktführer
Gewinne und für den Rest nur Verluste bringen wird – zumal Motorola,
Nokia und Siemens bereits den Markt bearbeiten –, scheint hartnäckig
verdrängt zu werden.

5
Robert L. Cutts. Toshiba. London 2003. S. 105.
164 Firmenportraits

Toshibas F&E-Bemühungen sind legendär. Eintausend Wissenschaftler


betreiben Grundlagenforschung. Jede In-House-Firma (eigentlich: Haupt-
abteilung) hat ihr eigenes Entwicklungszentrum, das von einem Chefinge-
nieur geleitet wird. Jede Fabrik hat eine Entwicklungsabteilung, die sich
vor Ort um permanente Produktinnovationen und Prozessverbesserungen
(kaizen) kümmert. Toshiba hat mittlerweile die Mittel und das Personal für
den Forschungsaufwand etwas gekürzt, ist aber nach wie vor nicht bereit,
die Hauptachsen seiner Forschungsbemühen zu beschneiden. Dahinter
steht die Furcht, es könne damit nicht vorhersehbare Durchbrüche an einer
der vielen Fronten, an denen es engagiert ist, verpassen.
Doch selbst ein Großunternehmen wie Toshiba kann die gewaltigen
Kosten, die Grundlagen- und Entwicklungsforschungen in allen Elektro-
nikfeldern mit sich bringen, alleine längst nicht mehr leisten. Seit Jahren
nutzt es deshalb seine Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit GE in einer
langen Liste strategischer Allianzen für gemeinsame Entwicklungen und
Einkäufe und für geteilte Kosten und Risiken. Solche Allianzen bestehen
mit Elektrolux für Haushaltsgeräte (mit einem gemeinsamen Werk in Thai-
land), mit Sony zu LSIs und zu Spielkonsolen, mit Matsushita zu Flüssig-
kristallanzeigen und Schnurlostelefonen, mit Microsoft zu e-Büchern, mit
Samsung zu Wäschetrocknern, mit United Technologies zu Treibstoffzel-
len, mit Fujitsu zu DRAM-Verarbeitungen, und mit Time Warner zu Mul-
timedia-Inhalten. Gelegentlich endeten solche Allianzen wegen unverein-
barer Strategien und kommerzieller Dispute in Scheidungen, so mit Philips
zur DVD-Entwicklung (1993) und mit IBM zu Darstellungstechnologien
(2001), gefolgt meist von der Wiederheirat mit neuen Partnern.
Die Führung von Toshiba ist überzeugt, dass ihr polygamer Firmenle-
benswandel nur möglich ist, weil Toshiba durch eine Weltrolle im entspre-
chenden Technologiesegment attraktiv bleibt. Die Allianzen erlauben To-
shiba in der gesamten Produktentwicklung beteiligt zu bleiben und zu
vermeiden, zum Teilelieferanten abzugleiten, dessen Produkte dann un-
vermeidlich als commodities unter dauernden Preisdruck geraten würden.
Abgesehen von seinen überhohen und verlustreichen Investitionen im
Hightech-Bereich bleibt Toshiba überwiegend ein führender Produzent
von elektrischen Geräten und Maschinen im mittleren Technologieseg-
ment. Wie viele Produkte der „alten Ökonomie“ bringen sie nur niedrige
Gewinnmargen, da die zunehmend mächtigen japanischen Diskonter und
die koreanische und taiwanesische Konkurrenz, die auch auf dem japani-
schen Heimatmarkt auftaucht, auf die Endverkaufspreise drücken. Auf
dem japanischen Markt macht sich auch die Alterung der Bevölkerung
Toshiba: Heillos diversifiziert? 165

bemerkbar, denn mit der längeren Nutzungsdauer der Geräte verlängern


sich auch deutlich die Ersatzzyklen.
Da zwei Drittel des Absatzes von Toshiba auf dem Heimatmarkt statt-
finden, bleibt auch das Gros des Umsatzes seiner 20.000 Produkte zählen-
den Fertigung von Maschinen und Geräten mit starken Elektromotoren,
wie z.B. Motorpumpen, Kompressoren, Düsen, Einspritzmaschinen und
Klimaanlagen, von der stagnanten Nachfrage in Japan abhängig. Auch
Toshibas „Sozialinfrastruktursysteme“, unter denen man sich Elektrische
Busse, Lokomotiven, Radaranlagen, Wasserversorgungs- und Abwasser-
anlagen vorzustellen hat, hängen hauptsächlich von öffentlichen Aufträgen
in Japan ab und sind von den unvermeidlichen Sparprogrammen des über-
schuldeten Staatshaushalts gefährdet. Als Toshiba den Auftrag erhielt, eine
Art Shinkansen-Hochgeschwindigkeitszug von Taipeh quer durch den
Osten Taiwans nach Kaohsiung schlüsselfertig zu bauen, enthielt der Ver-
trag nicht nur den Gleisbau und die Lieferung der Wagengarnituren und
Lokomotiven, sondern auch die Errichtung und den Betrieb der Signalsys-
teme, Fahrzeugautomaten und Bahnhöfe und damit einen willkommenen
ständigen Strom an Einkünften.
Die gesamte Farbfernsehproduktion war bereits 2001 nach China verla-
gert worden, auf den am schnellsten wachsenden Fernsehermarkt der Welt.
Dort werden sie von Dalian Toshiba TV Co. gefertigt, ein Gemeinschafts-
unternehmen, das stets nur unter Mühen ausgeglichen bilanziert.
Für Toshibas umfangreiche Wärme- und Atomkraftwerke, mit denen es
ein Drittel des Marktes in Japan kontrolliert, liegt die Haupthoffnung auf
der Wiederbelebung der Kernenergiegewinnung in den USA, wo seit dem
Unfall von Three Mile Island von 1979 keines der alternden US-
Kraftwerke modernisiert oder gar ersetzt wurde. Jene potentiell gewaltige
Nachfrage harrt allerdings noch der Umsetzung – wie so häufig bei Zu-
kunftsplänen von Toshiba. Im Jahr 2006 kaufte Toshiba für 5,4 Milliarden
US-Dollar Westinghouse6, um mit seiner neuen amerikanischen Tochter
besser auf dem chinesischen AKW-Markt Fuß zu fassen. China plant bis
zum Jahr 2020 bekanntlich den Bau von 27-30 neuen AKWs zum Preis
von je 2 Milliarden US-Dollar mit Druckwasserreaktoren, die auch
Westinghouse verwendet.
Toshiba ist auch in der medizinischen Diagnostik prominent, bei Rönt-
gengeräten, Computertomographien, Ultraschall, Echographien und der

6
Financial Times 7.2.2006.
166 Firmenportraits

Nuklearmedizin. Für die Unternehmensführung dient ihre medizinische


Abteilung allerdings hauptsächlich der positiven Imagepflege7.
Während der 90er Jahre waren die Gewinne von Toshiba von 1 Milliar-
de US-Dollar jährlich bei einem Umsatz von 54 Milliarden US-Dollar nie
besonders beeindruckend. Seit 1999 werden jedoch rote Zahlen geschrie-
ben, die 2002 auf 1,5 Milliarden US-Dollar anwuchsen8. Die Reaktion der
Unternehmensführung war die in Japan übliche Mischung aus modischen
Slogans, halbherzigen Kostensenkungen, zaghaften Fokussierungsversuchen
sowie der Auslagerungen und der Produktionsverlagerungen nach China.
Einige Randprodukte wie Autoscheinwerfer, Geldautomaten und Heim-
klimaanlagen wurden verkauft oder in Tochterbetriebe verlagert. Die geld-
verschlingende DRAM-Herstellung wurde an Micron Electronics (US) ver-
kauft. Einige Hightech-Produkte sollten 2003 dann den Durchbruch bringen.
Eine ultraoptimistische Kapitalrendite von 14% wurde öffentlich verkün-
det – um prompt nach dem Wiedererscheinen roter Zahlen ins nächste Jahr
verschoben zu werden.
Als Restrukturierungsmaßnahme wurde die bereits erwähnte Struktur
von 20 halbautonomen In-Haus-Firmen geschaffen, die, um verwandte
Produktgruppen geschart, ihren eigenen Vorstand und separate Gewinn-
und Verlustrechnungen haben. Angesichts verschachtelter Buchhaltungen,
vielfacher Marketingkanäle und dem Zwischenhandel zahlreicher Tochter-
betriebe war dies eine beachtliche Errungenschaft.
Externe Konsulenten wurden in die Firma gebracht und es wurde ihnen
als Novum auch erstmals ernsthaft zugehört. Der übergroße Gesamtvor-
stand wurde von 34 Direktoren auf 13 reduziert. Säuberungen fanden aller-
dings nicht statt. Alle Spitzenmanager behielten ihre Abteilungen. Aller-
dings behauptet Toshiba, der Vorstand würde nicht, wie in der Vergangen-
heit, alle Investitionen und Projektpläne automatisch abnicken.
Mit einiger Verspätung entdeckte Präsident Tadashi Okamura 2001,
dass Toshiba sich während der letzten zwei Jahrzehnte zu stark auf den
drangvollen IT-Bereich konzentriert hatte9. Stattdessen sollten vernachläs-
sigte Sektoren wie elektrische Maschinen, die Wasser- und Stromversor-
gung und Haushaltsgeräte wieder gestärkt werden. Toshiba soll jetzt wieder
der „Stimme der Verbraucher“ lauschen und von einem ingenieurgeleiteten
Unternehmen zu einer Marketingkultur wechseln. Mit seinem mediokren

7
Cutts. Op.cit., S. 222.
8
Taiga Uranaka. Toshiba forecasts heavier losses. The Japan Times, 17.9.2003.
9
Cutts. Op. cit. S. 235.
Matsushita: Lebensglück durch Elektrogeräte 167

Markenimage – Toshiba liegt auf Rang 7 bei elektrischen und elektroni-


schen Produkten in Japan – erscheint dieser Wechsel überfällig.
Als die Verluste weiter wuchsen, war Toshiba gezwungen eine 10%ige
Reduktion seiner Belegschaft von 188.000 Mitarbeitern weltweit anzukün-
digen. Etwa 20.000 gingen dann entweder in die Frühverrentung oder in
schlechter bezahlende Tochterbetriebe, als ihre Arbeitsplätze nach China
wanderten.
Doch selbst für ein solches Krisenmanagement war eine einjährige Su-
che nach einem akzeptablen Konsens vonnöten, der dann in der Umset-
zung noch stark verwässert wurde. Zwar mag jene langwierige Suche sozi-
al verträglicher und ausgewogener erscheinen als die angloamerikanische
Variante des hire and fire, doch war sie für die Arbeitsatmosphäre, die
Berufszufriedenheit und das Firmenimage katastrophal. Für ein for-
schungsintensives Unternehmen, das die besten kreativen und die tüchtigs-
ten technisch versierten Geister halten, motivieren und rekrutieren soll,
kann die Methode der Endloskrise nur tödlich ausgehen.

9.3 Matsushita: Lebensglück durch Elektrogeräte

Die japanische Variante des amerikanischen Tellerwäschermythos wird


sicher am besten von Konosuke Matsushita repräsentiert. Matsushita selbst
hat seine Lebensgeschichte in Dutzenden von „philosophischen“ Büchern
und Broschüren nacherzählt. Sein Unternehmen Matsushita Electric prak-
tiziert durchaus einen gewissen Personenkult um ihren Gründervater, des-
sen „wahre“ Persönlichkeit jedoch ohnehin faszinierend und in seinem
Lebenswerk eindrucksvoll genug ist. Bis zu seinem Tod 1989 hat er Ma-
tsushita Electric aus dem Nichts zu Japans größtem Elektronikunterneh-
men mit damals 100.000 Angestellten, die einen Umsatz von 42 Milliarden
US-Dollar jährlich erwirtschafteten, aufgebaut.
Konosuke Matsushita wurde 1894 in der ländlichen Wakayama-
Präfektur geboren10. Heute ist sie Teil des Hinterlandes der Metropole O-
saka. Zum Zeitpunkt seiner Geburt als jüngster Sohn eines Großgrundbe-
sitzers, der mit seinen 8 Kindern von der Pacht seiner Bauern auf 150ha
Besitz leben konnte, war die Welt noch in Ordnung. Das Unheil nahm sei-
nen Lauf, als sein Vater 1899 auf dem Optionsmarkt für Reis das gesamte
Familienvermögen verspielte. Ihr Land und Haus wurde verpfändet und

10
Ausführlich wird Matsushitas Lebens- und Firmengeschichte erzählt in: John P.
Kotter. Matsushita. Heidelberg. 2002.
168 Firmenportraits

die Familie musste ohne Status und mittellos in einen Dreizimmerver-


schlag in die Stadt Wakayama ziehen. Der vom Vater eröffnete Laden für
Holzsandalen (geta) musste bald mangels Kunden schließen. Um 1900
starben drei seiner Geschwister an Infektionskrankheiten, weil die Familie
die medizinische Behandlung nicht zahlen konnte. Konosuke selbst musste
nach 4 Schuljahren im Alter von 10 Jahren bei einem Handwerker für hi-
bachi (keramische Heizgefäße, die glühende Holzkohle enthalten) in die
Lehre gehen. Dort leistete er schwere Hilfsarbeiten im Gegenzug für freie
Kost, Logis und etwas Taschengeld. Später wechselte er zu einem Fahrrad-
laden, wo er die nächsten sechs Jahre arbeitete, lebte und lernte. Im Jahr
1906 starben mit dem Vater und zwei Schwestern erneut enge Familien-
mitglieder. 1910 kündigte er mit 16 Jahren seinem Fahrradladen, um in
einer Zementfabrik schwere Handlangerdienste zu leisten. Bald wechselte
Matsushita jedoch zu Osaka Light, einer jungen, schnell wachsenden Fir-
ma, die die Elektrifizierung der Stadt Osaka besorgte. In einem Trupp Ka-
belleger arbeitend wurde er schon nach drei Monaten vom Hilfsarbeiter
zum Vorarbeiter befördert. Mit 19 Jahren beaufsichtigte er schon die In-
stallation komplexer Beleuchtungssysteme, wie etwa die eines Theaters,
als Chef von einem Dutzend Arbeitern. Nachdem auch seine Mutter ge-
storben war, heiratete Matsushita mit 20 Jahren die 19jährige Mumeno Iue,
eine Verkäuferin, die von der Insel Awaji stammte. Mit acht Schuljahren
war ihre Schulbildung doppelt so lang wie die seinige.
Zwei Jahre später wurde Matsushita zum Inspektor befördert, eine Tä-
tigkeit, die hauptsächlich wenig produktive Kontrollen beinhaltete. Matsu-
shita nutzte die Zeit, um eine neue Glühbirnenhalterung zu entwerfen. Als
seine Vorgesetzten seine Erfindung nicht zu schätzen wussten, kündigte er,
um die Herstellung und Vermarktung selbst zu betreiben. Damals, im Jah-
re 1917 war Matsushita erst 22, hatte allerdings schon 13 Jahre Berufser-
fahrung! Er begann seine Firma mit 100 Yen an Ersparnissen (die 5 Mo-
natslöhnen von Osaka Light entsprachen) und mit fünf Angestellten,
darunter seine Frau und sein 14jähriger Schwager, in seiner angemieteten
Zweizimmerwohnung. Die Startschwierigkeiten wurden von der Tatsache
erschwert, dass niemand so recht wusste, wie die neuen Halterungen ei-
gentlich hergestellt werden konnten. Mit einem schwachen Produkt, knap-
pen Finanzen und geringer Nachfrage schrumpfte die Zahl seiner Mitarbei-
ter bald von fünf auf drei. Das Unternehmen wurde durch einen über-
raschenden Großauftrag für Isoliermaterial gerettet, den Matsushita, mit
einem kleinen Team ohne Pause monatelang arbeitend, dann pünktlich
ausführen konnte. Weitere Aufträge folgten, und 1918 konnte die Firma in
eine zweistöckige Werkstatt umziehen.
Matsushita: Lebensglück durch Elektrogeräte 169

Abgesehen von elektrischen Isolatoren und Glühbirnenfassungen stellte


sie auch Elektrostecker her. Mit seinen geringen Produktionskosten, die
auf Selbstausbeutung und sparsamsten Arbeitsbedingungen beruhten,
konnte Matsushita seine Wettbewerber um 30% unterbieten. Schließlich
kam als viertes Produkt ein Bestseller dazu: ein Doppelstecker. Er erlaubte
den Haushalten, an ihrer damals üblichen einzigen Stromquelle zwei Gerä-
te anzuschließen. Ende 1918 beschäftigte seine Firma 20 Mitarbeiter, dar-
unter einige Lehrlinge.
Schon damals entwickelte Matsushita einige der später weiter gültigen
Unternehmensprinzipien. Er stellte billigere – und manchmal auch bessere
– Produkte als die Konkurrenz her. Niedrigere Produktionskosten wurden
durch Sparsamkeit, geringe Neben- und Verwaltungskosten und lange Ar-
beitszeiten ermöglicht. Mitarbeiter wurden wie Familienangehörige be-
handelt. Die Produktpolitik bestand aus schnellen, flexiblen und innovati-
ven Reaktionen auf Kundenwünsche. Mit seinen bisherigen Erfahrungen
blieb Konosuke Matsushita ein bodenständiger Geschäftsmann mit einem
scharfen Auge für technische Details und tatsächliche Kundenbedürfnisse.
Entscheidend für den frühen Erfolg waren weniger intellektuelle Brillanz
oder das Charisma des Gründers als vielmehr seine konsequente Kunden-
orientierung und eine enorme Willenskraft zum Erfolg, die sowohl von der
Hoffnung wie auch von der Angst vor dem Scheitern genährt wurde.
Matsushita sparte Kosten, indem er auf Grundlagenforschung und eige-
ne Produktentwicklungen verzichtete. Statt dessen kopierte und verbesser-
te er die Produkte der Konkurrenz. Er investierte auch nicht in politische
Beziehungen und in Verbindungen zu den Wirtschaftsministerien. Als
kleine Neugründung überließ er diesen Part den etablierten politisch privi-
legierten zaibatsu.
In den Jahren 1919 und 1921 starben seine letzten überlebenden Schwes-
tern. Im Alter von 27 Jahren war Konosuke der letzte Überlebende einer
zehnköpfigen Familie. Da seine Auftragsbücher wuchsen, stürzte er sich
auf den Bau einer kleinen Fabrik, die 1922 Raum für dreißig Arbeitsplätze
bot. Eine neuentwickelte batteriebetriebene Fahrradlampe verkaufte sich
außerordentlich gut. Ihre Markteinführung war geglückt, weil Matsushita
anfangs Gratisexemplare an Fahrradhändler verteilen ließ, eine damals
unübliche Methode. Schon 1924 produzierte er 10.000 Lampen monatlich.
Für eine neue viereckige Fahrradlampe und ihre Batterien führte Matsushi-
ta Electric 1927 den Markennamen „National“ ein, den er mit einer massi-
ven, attraktiv gestalteten Werbekampagne unterstützte. Ein preiswertes
Bügeleisen folgte. Viel billiger als das der Konkurrenz, war es für den
Durchschnittsverdiener erschwinglich. Die entstehende Massennachfrage
170 Firmenportraits

erlaubte dann die Skalenerträge und Kostenersparnisse, die den ursprüng-


lich allzu niedrig kalkulierten Preis rechtfertigten.
1928 war Matsushita Electric mit 800 Mitarbeitern seinen Kinderjahren
entwachsen.
Matsushita selbst wurde 1920 eine Tochter, Saduko, geboren. Ein Sohn
starb 1927 in Alter von nur einem Jahr an einer ähnlich plötzlichen Krank-
heit wie Konosukes Geschwister und Eltern. Der Tod führte zur langsamen
Entfremdung von seiner Frau Mumeno, die ihm so umsichtsvoll und ener-
gisch in den frühen Jahren geholfen hatte, die Firma aufzubauen. Mit ihr
hatte er keine weiteren Kinder mehr. Aber mit einer Konkubine wurden
noch vier geboren. Er selbst litt häufig an einer nie diagnostizierten Lun-
genkrankheit, so dass er stets kränkelnd mit seinem plötzlichen Ableben
rechnen musste.
Matsushita Electric hatte 1929 gerade ein kreditfinanziertes neues Fabrik-
gebäude erstellt, als die Weltwirtschaftskrise sich nach Japan verbreitete und
die Nachfrage nach Elektrogeräten zusammenstürzte. Seine Manager rieten
ihm, die Produktion drastisch zu kürzen und die Belegschaft zu entlassen.
Doch Matsushita versetzte stattdessen die überflüssigen Mitarbeiter von der
Produktion in den Verkauf. Nach einigen Monaten waren die überschüssi-
gen Lagerbestände verkauft und die volle Produktion wiederaufgenommen.
Mit besseren Arbeitsbeziehungen, niedrigeren Kosten, einer größeren Kun-
denorientierung, kreativerem Marketing und einer aggressiveren Preisgestal-
tung schaffte das Unternehmen in den Vorkriegsjahren den Durchbruch.
1929/30 begann Matsushita Electric als Radiohersteller durch den Auf-
kauf einiger kleinerer Firmen. Als hartnäckige Qualitätsprobleme auf-
tauchten, befahl Matsushita ein systematisches Redesign. Die Probleme
verschwanden. 1942 beherrschte seine Marke „National“ mit einem Mo-
natsausstoß von 30.000 Apparaten 30% des japanischen Marktes. Regel-
mäßige Kostenkürzungen wurden in niedrigere Endverbraucherpreise um-
gesetzt und halfen Marktanteile gegenüber der Konkurrenz zu gewinnen.
Nach einigen Übernahmen wurde Matsushita in den 30er Jahren auch Ja-
pans größter Batteriehersteller.
Die Herstellung der etwa 200 verschiedenen Produkte war stark dezent-
ralisiert. Jede Abteilung war ihr eigenes Profitzentrum und hatte Gewinne
zu machen, auch ohne dass damals eine Managementliteratur dieses Re-
zept empfohlen hätte. Die Hauptabteilungen waren: Radios, Lampen und
Batterien, Elektroinstallationen und Isolierstoffe sowie elektrische Heizge-
räte. Alle hatten ihre eigenen Produktions- und Distributionszentren. Ihre
relative Unabhängigkeit motivierte die Kreativität und die Energie der
Abteilungsangehörigen. Innerhalb jeder Abteilung gab es halbautonome
Matsushita: Lebensglück durch Elektrogeräte 171

Arbeitsgruppen von 5 bis 15 Mitarbeitern, die auch für ihre Gewinne und
Produktqualität verantwortlich waren. Wenn positive Ergebnisse ausblie-
ben, würde Matsushita den zuständigen Manager einbestellen und ihn zur
Not auch anbrüllen, wenn vernünftige Erklärungen und befristete Verbes-
serungen nicht geliefert wurden.
Jene dezentrale Struktur erlaubte Matsushita Electric flexibel und reagi-
bel zu bleiben und Führungspersonal für eine Zukunft ohne Matsushita
auszubilden, dessen Abtreten bei seinem schlechten Gesundheitszustand
jederzeit möglich war.
Nach seinen privaten Tragödien und in der Suche nach Sinn in seinem
Geschäftserfolg wurde Matsushita von der buddhistischen Tenrikyo-Sekte
angezogen, die er seither unterstützte und deren Einfluss in seinen Unter-
nehmensvisionen und mission statements sichtbar ist. 1932 verkündete er
seinen damals 1100 Angestellten, der Zweck seines Unternehmens seien
nicht Profite oder Marktanteile, sondern das Glück der Menschheit durch
die Versorgung mit immer billigeren Qualitätsprodukten. Matsushita be-
stand darauf, dass alle seine Angestellte sich öffentlich zu diesem Ziel und
zu den Idealen von Ehrlichkeit, Fairness, Teamarbeit, dauernder Selbstver-
besserung, Höflichkeit, Bescheidenheit, Dankbarkeit und Fortschritt be-
kennen sollten. Diese edlen Selbstverpflichtungen mussten am Anfang
jeden Arbeitstages laut rezitiert werden. Jene sektenartige Tendenz ist seit-
her in Matsushitas öffentlichen Verlautbarungen und in den meisten Fir-
menveröffentlichungen sichtbar.
1932 wurde eine Exportabteilung eingerichtet. Bald wurde die Produk-
tion auf elektrische Lampen, Ventilatoren, Plattenspieler, Lautsprecher,
Uhren, Mikrophone und Haartrockner ausgeweitet. Die Zahl der Mitarbei-
ter wuchs von 1100 (1932) auf 9300 (1941). Matsushita richtete nun fir-
meninterne Ausbildungsstätten für kaufmännische und technische Fähig-
keiten ein.
Im 2. Weltkrieg wurde Matsushita befohlen, die Produktion für zivile
Zwecke einzuschränken und im Rahmen der Kriegswirtschaft das Militär
mit Elektrogeräten und Bajonetten zu versorgen. In den verzweifelten letz-
ten Kriegsjahren sollte Matsushita auch Holzflugzeuge und Holzschiffe
herstellen, die im feindlichen Radar unsichtbar sein würden. Schwager
Toshio Iue schaffte den Bau der ersten Holzschiffe im Dezember 1943. Es
wurden auch drei Holzflugzeuge gebaut. Es ist jedoch nicht überliefert, ob
sie je flogen oder Feindberührung gehabt haben.
Mit Japans militärischer Expansion waren Fabriken auch auf den Phi-
lippinen, in Indonesien, Taiwan, Korea und China errichtet worden. Als
der Krieg endete, war trotz aller Zerstörungen, Rationierungen und Beein-
172 Firmenportraits

trächtigungen Matsushita Electric mit 26000 Beschäftigten zu einem der


größten Elektrounternehmen Asiens geworden.
Im September 1945 befahl die US-Okkupation Matsushita die Einstel-
lung aller Wirtschaftsaktivitäten. Nach 6 Wochen durfte wieder für den
zivilen Bedarf produziert werden. Im Juni 1946 wurde Matsushita Electric
als zaibatsu definiert und Konosuke Matsushita die Ausübung jeglicher
Managementfunktion verboten. 17 Tochterunternehmen wurden zu unab-
hängigen Betrieben erklärt. Aller Auslandsbesitz wurde konfisziert. Alle
Schulden blieben bei Matsushita Electric als der Stammfirma. Sie wurden
jedoch von der Hyperinflation bald annulliert.
Die Zahl der Mitarbeiter fiel bis 1947 auf 8000. im Januar 1946 gründe-
ten die Matsushita-Arbeiter, wie überall sonst in Japan, ihre eigene Ge-
werkschaft. Die meisten waren damals kommunistisch beeinflusst, folgten
einer militant linken Linie und waren gegenüber den Firmenleitungen und
-eignern feindselig eingestellt. Ohne eingeladen zu sein, erschien Matsu-
shita auf der Gründungsversammlung. Ohne dass ihm das Wort erteilt
wurde, hielt er dann eine kurze Rede, in der er eine gute Zusammenarbeit
mit der neuen Gewerkschaft ankündigte, eine Rede, der zum Kummer der
linken Organisatoren von den Arbeitern stark applaudiert wurde. Als Er-
gebnis blieben die Arbeitsbeziehungen bei Matsushita harmonisch, im
Gegensatz zu den meisten Großbetrieben in Nachkriegsjapan.
Mit MacArthurs Säuberungen mussten Matsushita und seine Spitzen-
manager die Firma verlassen. Einer seiner Stellvertreter, sein Schwager
Toshio Iue, verließ das Unternehmen dauerhaft und gründete später Sanyo
als seine eigene Elektrofirma. Konosuke Matsushita arbeitete derweil un-
verdrossen an der Rehabilitation seiner selbst und seines Unternehmens.
Mit Unterstützung der Firmengewerkschaft wurde er im Mai 1947 offiziell
von den Besatzern „ent-säubert“ und durfte seine alte Funktion wieder
ausüben. 1949 wurde jedoch Matsushita Electronic von der damals neu
unternommenen Deflationspolitik hart betroffen: die Nachfrage wurde
stark gedrosselt, die Steuerschulden stiegen und die Kreditlinien wurden
nahezu überzogen. In jener Finanzkrise von 1950 musste Matsushita erst-
und letztmalig zu Entlassungen Zuflucht nehmen. Erst danach gelang die
Umkehr zu einer dauerhaften Gewinnträchtigkeit.
1951 machte Konosuke Matsushita seine erste Fahrt ins Ausland, eine
Studienreise nach New York. Fasziniert von seinen Entdeckungen in der
Wiege des modernen Kapitalismus, verlängerte er seinen Aufenthalt auf 3
Monate.
Nach seiner Rückkehr bekundete er öffentlich, dass Matsushita Electric
und Japan mit den USA in Bezug auf Lebensstil und Technologie aufholen
Matsushita: Lebensglück durch Elektrogeräte 173

sollten. Um Zugang zu westlichen Technologien zu erhalten, wurde mit


Philips ein Gemeinschaftsunternehmen begründet, bei dem Philips 30%
der Aktien hielt und die Technologien beisteuerte. Matsushita würde mit
70% der Aktien das Unternehmen führen und 1,5% des Umsatzes als Pro-
vision an Philips zahlen. Ab 1952 wurden dann in Osaka Fernsehröhren,
Lichtröhren und anderes elektrisches Zubehör produziert.
1953 errichte Matsushita sein eigenes Forschungslaboratorium in einer
Vorstadt von Osaka. Getreu der Firmentradition unternahm es weder
Grundlagenforschungen noch irgendwelche Neuentwicklungen, sondern
untersuchte vielmehr inkrementelle Verbesserungen existierender Geräte
wie Fernseher, Kühlschränke, Mikrowellen, Reiskocher, Waschmaschinen
etc. In den 50er Jahren war Matsushita gut als Anbieter preisgünstiger
Qualitätsprodukte für den Binnenmarkt positioniert. Später kam der Export
unter den Markennamen „National“ und „Panasonic“ dazu.
Ähnlich wie Honda und Sony, die ebenfalls von Gründerunternehmern
geprägte kraftvolle Unternehmenskulturen hatten, war Matsushitas Wachs-
tum seit den 50er Jahren explosiv. Im Gegensatz zu Sony und Honda je-
doch, die als ingenieurgeleitete Pioniere Produktinnovation betrieben, be-
schränkte sich Matsushita weiter aufs Kopieren und auf Produktver-
besserungen, und sparte an F&E-Kosten. Auch die Firmenchefs unter-
schieden sich deutlich. Während Honda sich am liebsten im Overall auf
seinen Motorrädern ablichten ließ, stellte Akio Morita seine weltläufige
Bildung und seine guten Beziehungen mit den Mächtigen und Stars und
Sternchen in Japan und dem Rest der Welt heraus. Konosuke Matsushita
dagegen hatte nur minimale Grundschulbildung (die zum Lesen einer Ta-
geszeitung kaum ausreichte), war in bitterer Armut aufgewachsen, weniger
charismatisch, oft krank und von persönlichen Schicksalsschlägen geprägt.
Je erfolgreicher seine Firmen wirtschafteten, desto mehr vergrub er sich in
seine selbstentwickelte Philosophie der Bescheidenheit und des selbstlosen
Dienstes an der Menschheit. Seine Mitarbeiter waren so gegen den Geist
der Arroganz und des größenwahnsinnigen Übermuts immunisiert, der das
japanische Wirtschaftsleben in den 80er Jahren zu prägen begann, bis die
Spekulationsblase unvermeidlich 1992 platzte.
Im Gegensatz zu den meisten anderen japanischen Firmen, war Matsu-
shita auch dem Wachstum durch Übernahmen nicht abhold. So erwarb er
den Kühlschrankhersteller Nakagawa Electric und Victor Company of
Japan, die Plattenspieler produzierte. Um den Wettbewerb und die Innova-
tion innerhalb seiner Firmengruppe zu beleben, beließ Matsushita das alte
Management und die Produktpalette der übernommenen Firmen intakt,
auch wenn sie mit den eigenen Erzeugnissen konkurrierte.
174 Firmenportraits

Auch im vorgerückten Alter war Matsushita noch für Überraschungen


gut. 1961 kündigte er seinen sprachlosen Mitarbeitern an, sie sollten den
Umsatz binnen 5 Jahren vervierfachen. Gleichzeitig versprach er ihnen als
erstem Großbetrieb in Japan die Fünftagewoche für das Jahr 1965. Matsu-
shita legte auch Wert darauf, dass die Gehälter seiner Mitarbeiter höher
waren als die der Konkurrenz.
Von 1961 bis 1977 war sein Schwiegersohn Masaharu Matsushita Vor-
standschef. Doch Konosuke lenkte die Firmengeschicke weiter hinter den
Kulissen. Erst 1973 trat er als Vorsitzender des Aufsichtrates zurück und
begann sich weniger um operative Details zu kümmern.
1977 ernannte Matsushita im Alter von 82 Jahren Toshihiko Yamashita,
den bisherigen Leiter des Klimaanlagenbaus, zum Vorstandsvorsitzenden
(1977-86). Damit wurden 24 dienstältere Abteilungsleiter übersprungen
und in die Pension geschickt. Yamashita hatte seine Abteilung wieder pro-
fitabel gemacht, zeigte Sinn für strategische Entscheidungen und sprach
mit dem Seniorchef offener und weniger unterwürfig als seine Kollegen.
Matsushitas Hauptinteresse richtete sich mehr und mehr auf sein PHP-
(„Friede und Glück durch Wohlstand“) Institut, das er 1946 begründet
hatte, mutmaßlich um die Amerikaner mit seinem Pazifismus zu beeindru-
cken. Nach 1950 war das PHP weitgehend inaktiv. Es publizierte lediglich
ein mäßig interessantes Monatsblatt, das unermüdlich die Vorteile von
Frieden und Wohlstand für Japan und die Welt propagierte. Als Matsushita
sich in das PHP zurückzog, wurde es plötzlich mit einem Feuerwerk an
Publikationen, Symposien und Managementseminaren aktiv. Zum Zeit-
punkt seines Todes 1989 waren 300 Leute dort beschäftigt. Die schlichten
Wahrheiten über den Frieden, Wohlstand und die Güte der Menschheit
wurden millionenfach auf Hochglanzpapier gedruckt und verteilt, hinter-
ließen aber unvermeidlich den Nachgeschmack einer möglichen versteck-
ten sektenartigen Agenda. Matsushitas Überzeugungen beruhten auf dem
Konzept von sunao. Darunter verstand er eine ungebundene Persönlichkeit
mit einem offenen Bewusstsein und einer ernsthaften Einstellung zum Le-
ben. Von diesem Leitbild deduzierte er ein „natürliches“ Managementkon-
zept, das vernünftig, gemäßigt, konsultativ und sozial verantwortlich sein
sollte. Zu diesem Thema und seinen Variationen ließ Matsushita in seinem
Namen 46 Bücher und Broschüren verfassen11. Teilweise mag jener Aus-
stoß das Bedürfnis eines Autodidakten nach Akzeptanz in einer von Bil-
dungsstatus geprägten konfuzianischen Gesellschaft gewesen sein. Haupt-
sächlich aber wurde Matsushita von der Stärke seiner persönlichen

11
Ein Beispiel: Konosuke Matsushita. My Management Philosophy. Kyoto 1978.
Das Duell Samsung versus Sony 175

Überzeugungen getrieben, die er nicht nur durch PHP-Publikationen son-


dern auch mit nennenswerten Spenden – 290 Millionen US-Dollar an eige-
nem Geld und 100 Millionen US-Dollar aus Firmenkonten – unterstützte.
Manche seiner Lieblingsideen erscheinen etwas exzentrisch. Etwa das
Konzept, Japans Nutzfläche zu verdoppeln, indem alle Berge ins Meer
gekippt werden; der Vorschlag, die Hälfte aller Universitäten zu schließen;
oder die Steuern abzuschaffen, indem die Staatsausgaben aus den Zinsen
eines aus Budgetüberschüssen geschaffenen Stiftungskapitals bestritten
werden. Um seine Ideen der Nachwelt zu überliefern, gründete er 1979 das
Matsushita Institut für Regierung und Management (MIGM). Seine Auf-
gabe ist es, das künftige politische Führungspersonal Japans zu identifizie-
ren, sie durch ungewöhnliche praktische Projekte im In- und Ausland aus-
zubilden und ihnen dabei die Matsushita-Philosophie nahezubringen. Nur
2% aller Bewerber werden für diese Postgraduiertenkurse akzeptiert.
Schon in den frühen 90er Jahren waren 15 Alumni des MIGM ins Unter-
haus gewählt worden. Die meisten gehörten zu den damals neuen konser-
vativen Oppositionsparteien, den heutigen „Demokraten“ (DPJ).

9.4 Das Duell Samsung versus Sony

Als der koreanische Mittelbetrieb Samsung 1969 ins Elektronikgeschäft


einstieg, begann er mit der Auftragsfertigung von Schwarz-Weiß-
Fernsehern für Sony und Sanyo. Es folgten Radios, Ventilatoren, billige
Haushaltsgeräte, Waschmaschinen, Klimaanlagen und Videogeräte. In den
achtziger Jahren wurde dieser „Bauchladen“ um Mikrowellen, Faxmaschi-
nen, Farbfernseher und die ersten PCs und Mikrochips erweitert. Als Lee
Kun-hee im Jahr 1987 den Betrieb seines verstorbenen Gründer-Vaters
übernahm, war Samsung eine jener 30 weitdiversifizierten Chaebol-
Konzerngruppen, die von Baumwollstoffen bis zu Containerschiffen alles
mögliche herstellten und mit im Ausland kopierten Technologien nur
aufgrund niedriger Löhne und überlanger Arbeitszeiten wettbewerbsfähig
waren. Nichts deutete auf eine künftige Weltrolle Samsungs in einer
Spitzentechnologie wie der Elektronik hin.
Lee ließ die Dinge eine Weile weiter treiben, bis er im Jahre 1993 sei-
nen verdutzten Angestellten eine Radikalkur verordnete. Sie sollten alles
ändern, außer Frau und Kindern, verkündete Lee aus heiterem Himmel.
Produkte mit niedriger Wertschöpfung wie Textilien und Radios wurden
eingestellt. Kostenrechnung, Qualitätskontrolle und Design hätten im Mit-
telpunkt zu stehen. Das war in koreanischen Betrieben bislang unüblich
176 Firmenportraits

gewesen. Sony sei das Vorbild für Samsung Electronics. In Schaukästen


wurde das eigene, meist schäbige Billigprodukt dem edlen Sony-Vorbild
gegenübergestellt, um den zu überbrückenden Qualitäts- und Designab-
stand zu verdeutlichen. 20.000 von 88.000 Samsung Mitarbeitern arbeiten
in den 15 weltweiten F&E-Zentren12. Durch eine systematische Markenpo-
litik sollten Samsungprodukte zu hochpreisigen Modeartikeln wie die von
Sony werden. Bis zu 1 Milliarde US-Dollar wird seither jährlich für geeigne-
te Werbung und Sponsoring ausgegeben. Und damit seine Firmenkrieger
auch auf neue Ideen kämen, befahl Lee ihnen eine Fünftagewoche, einen
frühen Arbeitsbeginn und ein tägliches Arbeitende um 16 Uhr. Die allabend-
lichen Saufereien im Kollegenkreis hätten zu unterbleiben. Lee will seine
175.000 Angestellte ausgeruht, mit frischen Ideen und voller Tatendrang.
Als 1996 die asiatische Finanzkrise auch die überexpandierten und über-
schuldeten koreanischen chaebol voll erwischte, ließ Lee mitleidslos sofort
alle Verlustbringer schließen, 40% der Mitarbeiter entlassen, die Manage-
mentstruktur verschlanken und alle Schulden bezahlen. Während die Hälfte
aller chaebol, darunter Daewoo und Hyundai mit ihren oft größenwahn-
sinnigen Eignern zusammenbrachen, überstand Samsung unbeschadet und
gekräftigt. Technologisch folgt Samsung, so wie früher die AEG und Ma-
tsushita, der Devise, andere die Grundlagenforschung betreiben zu lassen
und dann blitzartig mit verbesserten und zahlreicheren Versionen auf den
Markt zu kommen. Für den langjährigen Vorstandschef von Samsung E-
lectronics, Yun Jong-yong, ist dabei Geschwindigkeit alles. Denn, so meint
er unwiderlegbar, auch der teuerste Fisch würde am zweiten Tag billig. So
fertigt Samsung hundert neue Mobiltelefonvarianten im Jahr, viermal mehr
als der Marktführer Nokia. Waren früher in der Elektronik hässliche Plas-
tikkästen mit dicken Stummelantennen üblich, so produziert Samsung
mittlerweile preisgekrönte Mobiltelefone in Muschelform sowie Drucker
und PC-Flachbildschirme im Wohnzimmerdesign. Samsung war auch ein
Gewinner der digitalen Revolution. Es nutzte den Wechsel von analoger zu
digitaler Technologie, um sich von japanischer Technik aus zweiter Hand
unabhängig zu machen. Dabei deckt Samsung als bewusste Strategie die
gesamte Produktbreite und -tiefe im Sinne einer „digitalen Konvergenz“
(Yun) ab, die die Vernetzung der Systeme erleichtern soll. Dies beginnt bei
den Speicherchips und Halbleitern, bis zur breiten Palette der Endgeräte
wie PCs, Farbfernseher, Videokameras und Mobiltelefone mit ihren LCDs
und Flachbildschirmen. Durch diese Diversifizierung steht Samsung die
zyklischen Preis- und Absatzkrisen bei einzelnen Produktlinien auch leichter

12
„Special report: Samsung Electronics“ The Economist 15.1.2005.
Das Duell Samsung versus Sony 177

durch, während andere Wettbewerber, wie Siemens, die Nerven verlieren


und aussteigen, vermutlich so lange, bis sie sich zu Mittelständlern mit
überhöhten Vorstandsgehältern gesundgeschrumpft haben. Auch hilft eine
rigorose Kostenpolitik: Die Produktionskosten werden so niedrig gehalten,
um bei Abschwüngen länger als die Mitbewerber profitabel zu bleiben. Bei
Aufschwüngen sollen Profite maximiert werden und nicht, wie in Japan
üblich, die Marktanteile. Der benachbarte chinesische Markt spielt für
Samsung eine wichtige Rolle: Es ist dort schneller mit preisgünstigen Neu-
fertigungen präsent, während Wettbewerber wie Sony dort Ladenhüter
billig losschlagen und so den Firmennamen schädigen. Gleichzeitig ver-
langt der Wettbewerb in China eine Positionierung bei höherpreisigen
Qualitätsprodukten. Als Weltmarktführer bei Farbfernsehern, digitalen
Videokameras, Flüssigkristalltafeln und Speicherchips liegt Samsung da-
bei am besten im Rennen, unterstützt von einem starken zweiten Platz bei
Mobiltelefonen (hinter Nokia) und DVD-Spielern (knapp hinter Sony).
Das Ergebnis lässt sich sehen: 2002 und 2003 lag der Gewinn von Sam-
sung Electronics bei über 5 Milliarden US-Dollar, 2004 bei 10,3 Milliarden
US-Dollar. Das meiste wird in Produktionsanlagen für Flachbildschirme,
Chips und Mobiltelefone investiert. Die Bargeldreserve wird auf 10 Milli-
arden US-Dollar geschätzt. Der aktuelle Börsenwert beträgt 70 Milliarden
US-Dollar, das Doppelte des Unternehmenswertes von Sony.
Samsung Electronics ist Teil des Samsung-Chaebol, zu dem noch 26
andere Firmen, von Schiffswerften bis zu Lebensversicherern, sowie ein
Mitte der 90er Jahre verunglückter Ausflug in die PKW-Herstellung gehö-
ren. Die wichtigsten Konzernfirmen sind freilich die Elektronik, Finanzen
und Dienstleistungen, so dass der Samsung-Chaebol, der 30% des Bör-
senwertes und 20% der Exporte Koreas darstellt, General Electric sehr
stark ähnelt. Zu den koreanischen Eigenheiten zählt, dass Konzernchef Lee
Samsung Electronics nur zu 1,7% direkt und über Firmenbeteiligungen zu
weiteren 10% kontrolliert, sein Wort dort aber absolut gilt, – obwohl Sam-
sung Electronics, ebenso wie übrigens Sony, zu 50% in Auslandsbesitz ist.
Allerdings beschränkt sich Lee (64), im Gegensatz zu den meisten anderen
Chaebol-Bossen, auf strategische Entscheidungen und überlässt das Mik-
romanagement seinen getreuen Gefolgsleuten. Derweil wird denn auch
sein Sohn Lee Jae-yong (37) als Nachfolger aufgebaut, unabhängig davon,
ob dies den ausländischen Minderheiteneignern und ihren Fondsmanagern
gefällt oder nicht.
Gelegentlich wird auch ein Teil der so reichlich sprudelnden Gewinne
von Samsung Electronics an über Kreuzbeteiligungen verbundene Chae-
bol-Schwestern, etwa dem Kundenkreditinstitut Samsung Card oder an
178 Firmenportraits

Privatunternehmen der Lees transferiert. Anfang 2006 wurde ruchbar und


in Korea mit großer öffentlicher Empörung aufgenommen, dass Samsung,
das immerhin 15% des koreanischen BIP kontrolliert, den Präsidialwahl-
kampf von 1997 durch illegale politische Spenden beeinflusst hatte. Auch
wurde bekannt, dass Lee Jae-yong von der Konzernholding Samsung Ever-
land zum Diskontpreis Konzernanleihen erworben hatte. Um die politische
Erregung und staatsanwaltliche Untersuchungen zu besänftigen, entschul-
digte sich der krebskranke Chaebol-Chef Lee Senior öffentlich und spen-
dete aus eigenen und Firmenguthaben 1 Milliarde US-Dollar für wohltätige
Zwecke.13
Das kann beim einstigen Technologieführer Sony nicht mehr passieren.
Erstens weil dort ein Ausländer, Sir Howard Stringer, seit April 2005 das
Sagen hat, und zweitens, weil es nichts mehr zu verteilen gibt.
Auch Sony ist ein relativ junges Unternehmen. Es wurde 1946 von Akio
Morita und Masaru Ibuka in den Ruinen von Tokyo gegründet. Die beiden
hatten schon 1944 zusammengearbeitet, um für die Kriegsmarine neuartige
Geschosse zu entwickeln. Nach dem Krieg begannen sie mit der Reparatur
von Radioapparaten und mit dem Bau von Kathoden, die Ibuka erfunden
hatte. Es folgte die Fertigung von Tonbändern und Tonbandgeräten, die
Grundig und Telefunken im Krieg entwickelt hatten. Die Partnerschaft
zwischen Ibuka, einem genialen Tüftler, Erfinder und Ingenieur, und Morita,
einem studierten Physiker, der ein einzigartiges Talent für Marketing, Or-
ganisation und Selbstdarstellung hatte, hielt lebenslang. 1957 wurden
Transistorradios die ersten Verkaufsschlager. 1968 folgten Trinitron-
Farbfernseher. Als Sony 1980 die Betamax-Schlacht um die Standards für
Videorekorder gegen VHS von Matsushita verlor, retteten der Walkman
und die 8mm-Videokamera die Firma.
Ibuka war schon 1976 in Pension gegangen und schrieb bis zu seinem
Tod 1997 Bestseller zur technischen Kindererziehung. Morita führte Sony
nun bis 1993, als er einen schweren Schlaganfall erlitt, als autokratischer
Alleinherrscher. Er setzte einerseits brillante Ideen wie den Walkman
durch. Andererseits warf er 1987 beim Erwerb von CBS Records und 1989
beim mit 5 Milliarden US-Dollar völlig überteuerten Kauf der Columbia
Film Studios unbesehen sehr viel Geld zum Fenster heraus. Damals war
Morita überzeugt, Sony hätte das Betamax-Desaster nicht erleiden müssen,
hätte es seinerzeit eine umfängliche Filmbibliothek, wie die von Columbia,
im richtigen Format verfügbar gehabt. Wiewohl stolzes traditionelles
Oberhaupt eines 300jährigen Geschlechtes von Sakebrauern in Nagoya,

13
Financial Times 8. und 9.2.2006.
Das Duell Samsung versus Sony 179

gefiel sich Morita auch in der Rolle eines Studiobosses und sah sich gerne
in Begleitung von Stars und Sternchen auf den Hochglanzseiten der Promi-
nentenblätter abgelichtet. Als der Kauf der abgewirtschafteten amerikani-
schen Ikonen Columbia und CBS Records öffentliche Proteste auslöste, be-
schlossen die erschreckten Japaner, dem einheimischen Management freie
Hand zu lassen. Der Sony-Biograph John Nathan beschreibt sehr anschau-
lich, wie die Amerikaner dies als Einladung zur Selbstbedienung begriffen,
sich selbst die Verträge schrieben und mit beiden Händen in die Studiokas-
sen griffen14. Erfolgsfilme blieben jedoch weiter aus.
1982 ernannte Morita Norio Ohga zum Vorstandschef. Ohga hatte in
den 50er Jahren in Berlin Musik studiert und machte seine Studienstadt zur
Zentrale von Sony Europa. Als die Überreste des Hotels Esplanade mit den
Bauplänen von Sony am Potsdamer Platz kollidierten, wurden sie bekannt-
lich kurzerhand um 75 Meter verschoben. Geld war damals kein Thema.
Das aus sentimentalen Gründen errichtete Sony-Centrum sollte übrigens
die einzige größere japanische Investition im wiedervereinigten Deutsch-
land bleiben. Als Nachfolger Ohgas wurde 1995 wieder ein Intellektueller,
der Waseda-Absolvent Nobuyuki Idei ernannt. Er interessierte sich mehr
für Inhalte wie Musik und Filme als für die Geräte, die er alle mit dem
VAIO-Computer zu vernetzen hoffte, der Fernseher, Rechner, Telefon und
Stereoanlage in einem sein sollte. Anscheinend hatte Idei bei seinen Kun-
den noch nie eine Häkeldecke auf dem Fernseher gesehen. Gerne verkün-
dete Idei bei öffentlichen Auftritten stets wechselnde futuristische Visio-
nen, die eher als leicht beklemmende Sciencefiction denn als operative
Handlungsanleitungen tauglich waren. So verschlief Sony ausgerechnet
unter Ideis Regentschaft entscheidende technologische Durchbrüche. Hatte
Morita bis Ende der 80er Jahre mit jähen Geistesblitzen und eisernem
Durchgriff das Management in Angst und Schrecken gehalten, so hatte
sich bei Sony nach seinem Abgang – er starb 1999 ohne nach seinem
Schlaganfall je wieder gehen oder sprechen zu können – eine bürokrati-
sche Clubatmosphäre breitgemacht. Als oberste Entscheidungsebene lehn-
ten 30 Bedenkenträger den schon 1999 selbstentwickelten MP3-Spieler ab
– in der begründeten Angst, die firmeneigenen Musikprogramme könnten
im Internet gratis heruntergeladen werden. Statt dessen nahm Apple mit
seinem iPod den jugendlichen Musikmarkt im Sturm. Der kalifornische
Computerhersteller erfreut sich seither der Sony entgangenen Riesenge-
winne und eines 60%igen Marktanteils. Sonys Walkman ist nun tot und
seine Disk-Spieler schwer angeschlagen.

14
John Nathan. Sony: The Private Life. London 2000. S. 61ff.
180 Firmenportraits

Sony hielt ähnlich an seiner Bildröhrentechnik fest und verschlief die


Entwicklung zu Flachbildschirmen. Als Technologieführer der analogen
Ära hatte Sony als Geheimnis seines Erfolges die damals beste Technolo-
gie in stets kleinere, attraktivere Verpackungen gepackt, so wie dies einst
Schweizer Uhrmacher mit ihrer Mechanik taten. Mit digitalen Technolo-
gien, die alle bisherigen Entwicklungen und Investitionen entwerteten, tat
sich Sony schwer. Vor den von Samsung gesponserten Olympischen Som-
merspielen von Athen hatten 2004 alle Elektronikhersteller neue Fernseher-
modelle herausgebracht, um die dann erfahrungsgemäß erhöhte Nachfrage
zu nutzen. Denn Fernseher machen nach wie vor die Hälfte des 95 Milliar-
den US-Dollar schweren Weltelektronikmarktes aus. Nur bei Sony blieben
die Regale für die Neuentwicklungen diesmal leer. Langsam aber sicher
begann Sony seither seines „Premium“-Status, dank dessen es für gleichwer-
tige Produkte mit dem Sony-Logo deutlich höhere Preise verlangen konnte,
verlustig zu gehen. Für eingeführte Elektronikprodukte sind jährliche Preis-
nachlässe von 20% üblich. Dieser Preiswettbewerb traf Sony nun voll.
Die IT-Spekulationsblase war gerade geplatzt, da wurde Sony einmal
mehr von einem ungeplanten Produkt gerettet, gegen das das japanische
Management erhebliche Vorbehalte gehabt hatte: Die Playstation und sein
Nachfolgeprodukt PS2. Ken Kutaragi, musste als Projektleiter das Elektro-
spielzeug von amerikanischen Teams im verspielten Südkalifornien entwi-
ckeln lassen, zumal die Konsole als geschlossenes System nicht in die So-
ny-Philosophie der Internet-Vernetzung passt. Ob sich die auf das Frühjahr
2007 verschobene PS3-Version gegen die Konkurrenz von Microsoft und
Nintendo durchsetzen kann, muss sich noch zeigen. Mit solchen Kultfil-
men wie Spiderman und Men in Black verdiente Sony auch vorübergehend
Geld mit seinen Studios.
Ab 2002 ließ sich jedoch der Einbruch bei der Konsumelektronik nicht
länger verleugnen. Die Gewinnrate war auf 1,5% gefallen. Für Neuent-
wicklungen begann das Geld zu fehlen.
Idei verkündete im Herbst 2003 einen Sanierungsplan, der 20.000 Stel-
lenstreichungen vorsah. Das verlustträchtige Musikgeschäft mit alternden
Stars wie Barbara Streisand, Bruce Springsteen und Michael Jackson wur-
de ausgelagert und mit Bertelsmann (BGM) fusioniert, die Mobiltelefone
mit Ericsson. Die Flachbildschirmtechnologie wurde für Milliardenbeträge
von Samsung eingekauft. Der unter Führung von Samsung entwickelte
Flachbildschirmfernseher „Bravia“ verkaufte sich 2005 vor allem in den
USA sehr gut.
Für Ideis Führung und die Konzernbilanz kam dieser Teilerfolg zu spät.
Als sich Anfang 2005 das zwei Jahre zuvor angekündigte Gewinnziel von
Toyota: Weltkonzern wider Willen 181

10% immer noch nicht einstellen wollte, Sony vielmehr mit 75 Millionen
Euro in die roten Zahlen rutschte, trat Idei mit dem gesamten Vorstand,
einschließlich des seither beförderten Playstation-Heldes Kutaragi, im
März zurück.
Ideis Wahl als Nachfolger fiel auf Sir Howard Stringer (63), einen ge-
bürtigen Waliser mit US-Pass, der nach seinem Geschichtsstudium in Ox-
ford zwei Jahre in Vietnam gekämpft und anschließend als Fernsehjourna-
list bei CBS Karriere gemacht hatte. Für Sony hatte der energische
Medienmann das US-Geschäft saniert und Musikmogule wie Tommy Mot-
tola herausgeworfen. Stringers neuer Sanierungsplan sieht noch einmal
10.000 Entlassungen unter den 150.000 verbliebenen Angestellten, elf
Werksschließungen, die Reorganisation der chaotischen Zentrale und den
Verkauf von Randgeschäftsbereichen vor. Produktionen sollen in großem
Stil aus Japan, Nordamerika und Europa nach China und Südostasien ver-
lagert werden15. Bis 2007 soll Sony wieder gewinnträchtiger Weltmarkt-
führer werden, verkündete Stringer, der Sony meist von New York aus
leitet. Nach kurzer Begeisterung über die Berufung des unkonventionellen
Außenseiters reagierte die Börse skeptisch. Ohne serienreife neue Produk-
tionen blüht Sony das Schicksal eines elektronischen Spielzeugmachers.
Die Netzseite des Unternehmens bietet prominent im Mai 2006 nur einen
niedlichen Hunderoboter an. Der Wauwau soll vereinsamte Rentner trösten
und sie mit menschlichen Tönen an die Einnahme ihrer Pillen erinnern.
Sony, vor einem Jahrzehnt noch Japans innovativste Großfirma, ist auf
dem Weg ins Seniorenheim. Es scheint seine Zukunft hinter sich zu haben.

9.5 Toyota: Weltkonzern wider Willen

Lim Jia Woon16

Toyota Motor Corporation wurde von der Familie Toyoda 1937 gegründet.
Mit 8 Millionen verkaufter Fahrzeuge überholte Toyota 2004 Ford als
zweitgrößter Automobilhersteller. Möglicherweise wird Toyota schon 2007,
pünktlich zum 70jährigen Firmenjubiläum, General Motors auf Platz 1 über-
runden, den GM schon seit den 20er Jahren innehat. Strategisch versucht

15
Stephan Finsterbusch. „Sony – ferngesteuert“, Frankfurter Allgemeine 3.5.2006.
16
Vom Herausgeber übersetzte und aktualisierte Studienarbeit, die im Rahmen
des von ihm geleiteten Graduiertenseminars „Comparative Business Cultures“
an der National University of Singapore 2003 entstand.
182 Firmenportraits

Toyota seinen Weltmarktanteil von 10% (2002) auf 15% (2010) zu stei-
gern17.
In Japan galt Toyota immer als der innovativste Automobilhersteller in
der Prozesstechnologie und als der effektivste in der Produktentwicklung.
Dagegen war Toyota in seiner überseeischen Produktion und in der Ein-
richtung regionaler Hauptquartiere im Ausland vergleichsweise zurück-
geblieben18. Toyota suchte lange die Risiken von Auslandsinvestitionen zu
minimieren. Der Heimatmarkt wurde stets bevorzugt. Als ursprünglich
traditionell organisierter japanischer Familienbetrieb verfolgte Toyota lan-
ge ein ultrakonservatives Finanz- und Personalmanagement. Erst als Hiro-
shi Okuda, der als erster Nicht-Toyoda 1996 Vorstandschef wurde, änderte
sich dies19, da damals die Marktanteile Toyotas in Japan auf 39% gefallen
waren, und statt weiterer Selbstzufriedenheit eine Restrukturierung und die
Auslandsexpansion angesagt waren20.
Neben der Automobilindustrie engagiert sich Toyota auch in anderen
Segmenten. Dazu zählen automatische Fertigungsanlagen, Gabelstapler,
Halbleiter, die Herstellung von vorgefertigten Fertighäusern, Finanzdienst-
leistungen, Sportboote, IT-Geschäfte und die Telekommunikation. Wie alle
japanischen Firmen hat Toyota ein schönes Motto. Es betont den gesell-
schaftlichen Überfluss und den verbesserte Lebensqualität durch das Auto-
mobil. Toyota bemüht sich auch ein guter corporate citizen sein, indem es
Geld in 5 Bereiche des Sponsoring spendet: Bildung, internationaler Aus-
tausch, die Umwelt, Kunst und Kultur und örtliche Gemeinschaften.
Sakichi Toyoda, der Sohn eines armen Zimmermanns, gründete 1926
die Toyoda Mechanischen Webstuhlwerke. Er wurde auch als „König der
Erfinder“ berühmt, hatte er doch 84 seiner Erfindungen patentieren lassen.
Sein Sohn Koichiro Toyoda studierte Mechanisches Ingenieurwesen und
entdeckte bei Auslandsreisen, wie populär PKWs in den USA und in Eu-
ropa waren. Deshalb gründete er 1937 seine eigene Autofirma, die er mit
dem Verkauf der Rechte des Webstuhls seines Vaters an die britische Fir-
ma Platt Brothers finanzierte. Bald wurde der erste Prototyp hergestellt,
ein Modell A1 Personenkraftwagen.

17
Far Eastern Economic Review 2.10.2003.
18
Kumon H. „Overseas Production Activities of Toyota Motor“ in: Mirza H
(Hg.). Global Competitive Activities in the new World Economy. Cheltenham
1998.
19
The Wall Street Journal 11.1.1999.
20
Financial Times 13.1.1997.
Toyota: Weltkonzern wider Willen 183

Nach dem Zweiten Weltkrieg war Toyota wegen der hohen Inflation
vom Konkurs akut bedroht und suchte die Hilfe der Filiale Nagoya der
Bank von Japan. Teil des Sanierungspakets war die Abtrennung der Ver-
kaufsabteilung zu einer unabhängigen Firma als Toyota Motor Sales. Erst
1982 wurden beide wieder in der Toyota Motor Corporation zusammenge-
führt. Wegen den von der Bank erzwungenen Massenkündigungen kam es
1950 zu einem zweimonatigen Streik.
Als sich Toyota durch die gestiegene Nachfrage während des Koreakriegs
erholt hatte, begannen erste Exporte. 1957 schon wurde in den USA eine
eigene Vertriebstochter, Toyota Motor Sales USA, gegründet. In Japan
selbst unterstützte Toyota seinen Absatz durch eigene Fahrschulen wie
die Chubu Nippon Drivers School, da die Fahrprüfungen sehr schwierig
waren. Wer seinen Führerschein mit Toyota Autos erworben hatte, wurde
dann natürlich ein dankbarer und loyaler Erstkunde des Unternehmens.
Autorennen und Autoshows waren ähnlich erfolgreiche Vehikel, um die
damaligen Toyotas als verlässliche und ansehnliche Autos ins öffentliche
Bewusstsein zu bringen.
Toyota hat als konservative, konfuzianisch geprägte Firmenkultur Über-
nahmen und Firmenkäufe stets abgelehnt und ist nur aus eigener Kraft
gewachsen. Die heute zum Toyota-Keiretsu zählende und von Toyota
mehrheitlich kontrollierte Daihatsu als Kleinwagenhersteller und Hino als
LKW-Produzent, blieben weiter formal unabhängige Unternehmen. So
meinte Okuda 1999, er sehe keinen Grund, warum sich Toyotas Firmen-
kultur mit fremden Einflüssen vermengen sollte, wenn die japanische Effi-
zienz genauso gut sei21.
Auch als Weltkonzern operiert Toyota als traditioneller Familienbe-
trieb. In seinem Vorstand von 58 Direktoren gibt es keine Ausländer,
keine Frauen und niemand, der außerhalb der Firma gearbeitet hat. Auch
die Aktieneigner interessieren wenig, denn 40% der Aktien werden von
japanischen Banken und Finanzhäusern gehalten, an denen Toyota selbst
beträchtliche Anteile hält. Deshalb ist das Spitzenmanagement nur sich
selbst und der Gründerfamilie Rechenschaft pflichtig. Allerdings ist die
Firmenstruktur so stark vertikal segmentiert, dass oft die firmeninterne
Koordination an vorhersehbaren Spannungen, Frustrationen und Effizienz-
verlusten leidet.
Dabei ist der Produktionsprozess selbst einzigartig rationalisiert. Toyota
ist sehr stolz auf seine Meisterung der Prozesstechnologie. Dazu zählen

21
Muzuki Kasuya. „Toyotas Competitive Strategies“ Asia 21. September 1999. 59-
62. S. 60.
184 Firmenportraits

das Just-in-time-Produktionssystem, bei dem aller Ressourceneinsatz mi-


nimiert und dauernd im Gebrauch ist. Das System besteht aus drei Kom-
ponenten: kan-ban, heijunka und jidoka. Sie erlauben einen funktional
flexiblen Einsatz der Arbeitskräfte und Werkzeuge, nachfrageorientierte
Produktionsabläufe und kurze Arbeitszyklen und Qualitätsprüfungen. Kan-
ban ist der Prozess, bei dem Material und Teile genau zu dem Zeitpunkt
ans Fließband geliefert werden, an dem sie für die Fertigung gebraucht
werden. Dies hilft Verschwendung und Lagerkosten für nicht gebrauchte
Teile zu minimieren. Heijunka ist der ständig fließende Produktionsfluss.
Jidoka schließlich benennt automatisierte Produktionsprozesse, die null
Fehlerquoten anstreben.
Es gibt allerdings Probleme in dem Just-in-time-System, das gegenüber
Verspätungen und bei Defekten sehr verwundbar ist. So wurde die Arbeit so
stark intensiviert, dass die Verschnaufpausen der Toyotaarbeiter von 75 auf
45 Sekunden reduziert wurden. Oft müssen auch viele Funktionen simultan
ausgeübt werden (multi-tasking). Das System kann ohnehin nur dann funkti-
onieren, wenn Gewerkschaften und Unternehmensleitung an einem Strang
ziehen. Nach dem Streik der Nachkriegszeit haben die Gewerkschaften bei
Toyota die Interessen ihrer Mitglieder stets den Unternehmensinteressen
untergeordnet22. Unter den Fließbandarbeitern herrscht bei Toyota ein star-
ker Gruppendruck, mit der Bandgeschwindigkeit Schritt zu halten, da beim
Nichteinhalten der Produktionsquote alle Arbeiter unbezahlte Überstunden
machen müssen und Gefahr laufen, dass ihre Produktionszulage gekürzt
wird. Sie wird nach der Menge des Arbeitsaufwandes berechnet, die für eine
Arbeitsgruppe zum Erreichen ihres Produktionsziels nötig ist. Tatsächlich
überleben in der Produktion nur die härtesten und angepasstesten Arbeiter,
die aus einem Reservoir junger Kräfte aus dem ländlichen Raum, vor allem
Südjapans, rekrutiert werden23
Auch Qualitätszirkel und das innerbetriebliche Vorschlagswesen erhö-
hen bei Toyota die Autonomie der Arbeiter nicht, da das Management wei-
ter alle Entscheidungen trifft und auch die Agenden für die Qualitätszirkel
festsetzt. Die Hauptvorteile, Fließbandarbeiter bei Toyota zu sein, liegen in
der Beschäftigungssicherheit der lebenslangen Anstellung, in den über-
durchschnittlichen Gehältern, den hohen Bonuszahlungen (die bis zu 50%

22
Sachs, B. Reorganising Work: The Evaluation of Work Changes in the Japanese
and Swedish Automobile Industries. New York und London. 1994.
23
Oyama Yoichi (Hg.) Kyodai Kigyo to Rodosha: Toyota no Jirei (Großbetriebe
und Arbeiter: Eine Studie von Toyota). Tokyo 1985.
Toyota: Weltkonzern wider Willen 185

der normalen Monatsgehälter ausmachen können), und der Firmenpension


– die allerdings verloren geht, sollte der Arbeitnehmer die Firma wechseln.
Lange bestand Toyotas internationale Strategie darin, die besten Ver-
triebskanäle für den Exportabsatz und gute örtliche Verkaufsorganisatio-
nen und Vertreter zu finden. Nur zögerlich und mit großen Vorbehalten
begann Toyota mit der Internationalisierung seiner Produktion.
In den USA wurde Toyota durch den protektionistischen Zwang der
Amerikaner, der euphemistisch „freiwillige Exportzurückhaltung“ genannt
wurde, zu seinem Glück gezwungen. Marktwachstum war nur noch durch
Fertigungen mit wachsender Wertschöpfung in den USA möglich. Um die
Unwägbarkeiten der Produktion in einer fremden Rechtsordnung mit
fremden Arbeitern und ohne sein vertrautes Keiretsu-Netzwerk von 210
Lieferanten zu bewältigen, begann Toyota mit einem 50:50-Gemein-
schaftsunternehmen mit General Motors. Es wurde New United Motor
Manufacturing Inc (NUMMI) genannt, mit 200 Millionen US-Dollar kapita-
lisiert und in Fremont (Kalifornien) beheimatet. NUMMI begann dann
recht erfolgreich japanische Arbeitsbeziehungen nach den USA zu expor-
tieren, als da sind: die Betonung von Gruppenarbeit, vertrauensvolle Bezie-
hungen zwischen Arbeitnehmern und Firmenleitung, Großraumbüros,
eine gemeinsame Kantine und ein gemeinsamer Parkplatz für alle Be-
schäftigten. Sogar das Just-in-time-System wurde eingeführt. Im Januar
1986 gründete Toyota die Toyota Motor Manufacturing USA (TMMU)
und Toyota Motor Manufacturing Canada (TMMC) als Töchter im Eigen-
besitz, die in der Folge vier weitere Automobilwerke errichteten. 1989
wurde der Lexus als Luxusprodukt in den USA eingeführt, auch um das
Qualitäts- und Preisimage von Toyota zu erhöhen. Für dieses Segment
bemühte sich Toyota um ein Maximum an technologischem, Qualitäts-
und Dienstleistungsaufwand. Die Reaktion der US-Verbraucher war (im
Gegensatz zu Europa, wo der Lexus scheiterte) überwältigend24. 1998
wurden mehr als 150.000 dieser Wagen verkauft, mehr als von Honda,
Nissan und BMW. Unter den Standardprodukten wurde der Camry 1997
und 1998 der bestverkaufte Wagentyp in den USA überhaupt. Mit den
steigenden Ölpreisen ab 2000 setzte er als Benzinsparmodell seinen Sie-
geszug fort. Die US-Produzenten Ford und GM hatten dem nichts entge-
genzusetzen. Mit dem Prius und seinem aus einem kombinierten Elektro-
Dieselmotor bestehenden Hybridantrieb wurde 2005 das Nachfolgemo-
dell erfolgreich eingeführt.

24
Financial Times 2.3.2004.
186 Firmenportraits

Auf den anspruchsvollen europäischen Markt kam Toyota erst spät.


Auch hier waren es protektionistische Drohungen, verbunden mit den
Verheißungen des integrierten EU-Binnenmarktes von 1992, die Toyota
zu Produktionsstätten vor Ort veranlassten. Diese wurden eher in der
Peripherie, in Großbritannien, Portugal, sowie in der Türkei, Polen und
Tschechien, errichtet.
In die Tschechische Republik investierte Toyota erst 1999, als der Frei-
handelsvertrag mit der EU unter Dach und Fach und der EU-Vollbeitritt
(2004) in Sichtweite war. Trotz relativ hoher Löhne war Toyota von der
hohen Produktivität der tschechischen Arbeiter angetan (die sie bei
Volkswagen/Skoda in Jungbunzlau seit 1991 hatten beobachten können).
Als Toyota das mittelböhmische Kolin an der Elbe als neue Fertigungsstät-
te ins Auge fasste, offerierte die tschechische Regierung außerordentlich
großzügige Investitionsanreize: 5-15% des Investitionsvolumens als Sub-
vention, den Baugrund für einen symbolischen Preis, die Infrastruktur um-
sonst und die Befreiung von Unternehmenssteuern für die nächsten 10
Jahre25. 2001 begann Toyota gemeinsam mit PSA Peugeot Citroën darauf
den Bau einer Fabrik für Kleinwagen in Kolin. Mit einem Aufwand von
1,35 Milliarden US-Dollar war es die größte Investition auf der grünen
Wiese, die in Tschechien bisher stattgefunden hatte. 2005 wurde hier mit
der Jahresproduktion von 300.000 Kleinwagen namens Verso begonnen,
die alle unter US$ 7500 (der Hälfte des Verkaufspreises des bis dato bil-
ligsten Toyota-Wagens, des Yaris) ausgepreist sein sollen26. Dieses
Gemeinschaftsunternehmen war für Toyota ein strategischer Schritt, um
Marktanteile, die damals erst bei 4% lagen, in Europa aus eigenen Wachs-
tumsschüben zu erobern und weiter Akquisitionen und Übernahmen zu
vermeiden, die die Firmenleitung weiter strikt ablehnt. In dem gemeinsa-
men Unternehmen werden die Investitionskosten geteilt. Die Expertise
beider in den Motoren- und Emissionstechnologien wird gemeinsam ge-
nutzt. Toyota ist für die Produktion verantwortlich und PSA Peugeot für
das Marketing.
Toyotas Ziel ist es, das Design, die Herstellung und das Marketing so
zu europäisieren, dass es in Europa als einheimischer Hersteller gesehen
wird, ähnlich wie die GM-Tochter Opel. Als Fabrik auf der grünen Wie-
se konnte das Werk in Kolin sofort und umstandslos alle Produktionsan-
forderungen von Toyota berücksichtigen. Japanische Schlüssellieferanten

25
CTK Business Wire und Global News Wire 7.1.2002.
26
Business Week 15.4.2002.
Toyota: Weltkonzern wider Willen 187

siedelten sich in der Umgebung an: TRCZ, Tris und Aoyama Seisakusho
und schufen damit natürlich neue Arbeitsplätze und industrielle Ausbil-
dungen für die Region.
Neben der Endfertigung in Kolin hat Toyota ein Werk für Gangschal-
tungen und Getriebe in Waldenburg (Niederschlesien) für 400 Millionen
Euro und ein Motorenwerk in Jeltsch-Laskowitz bei Breslau für 200 Milli-
onen Euro errichtet, deren Produktion zur Endmontage nach Böhmen ge-
bracht wird. Die unterschiedlichen, nicht allzu weit entfernten Produkti-
onsstandorte erlauben eine bessere Nutzung der örtlichen Arbeitsmärkte
(und unausgesprochen auch der im Wettbewerb stehenden Subventions-
und Steuersparpotentiale von Tschechien und Polen) ohne allzu große
Transportkosten.
Die ersten Auslandsfertigungen von Toyota hatten in Südostasien be-
gonnen, deren Regierungen in den 60er und 70er Jahren Importsubstituti-
onspolitiken zur Entwicklung ihrer Industrialisierung verfolgten. Zunächst
bekamen sie nur Fabrikationsstätten, die die auseinandergenommenen Ex-
portmodelle wieder zusammenschraubten und marginalen Mehrwert, wie
Sitzpolster und Gummibeläge, örtlich schufen. Erst unter dem Eindruck
der Yen-Aufwertungen in den 90er Jahre erhöhte Toyota die regionale
Fertigungstiefe deutlich. Im ASEAN-Verbund gründete es vier Produkti-
onsgesellschaften mit arbeitsteiligen Aufgaben: Die Getriebe wurden in
den Philippinen gefertigt, die Steuersysteme in Malaysien und die Diesel-
motoren und die Endmontage in Thailand. Jene Endmontagefabrik gilt mit
der Herstellung von einem Auto alle zwei Minuten als eine der effizientes-
ten im ganzen Toyota-Reich (das mittlerweile 47 Werke in 26 Ländern
umfasst)27. In Singapur schließlich wurde mit Borneo Motors der regionale
Vertrieb angesiedelt.
Es bleibt das noch zu erschließende Potential des chinesischen Marktes.
Hier muss Toyota, wie alle anderen Auslandsinvestoren des Sektors, mit
regionalen Staatsbetrieben zusammenarbeiten. Die Ergebnisse lassen, wie
zu erwarten, noch deutlich zu wünschen übrig.
Als Hiroshi Okuda 1996 den Vorstand übernahm, war der Marktanteil
von Toyota in Japan mit einfallslosen Modellen auf 39% gefallen. Der
einheimische Kostendruck und die Stärke des Yen machte einen Rationali-
sierungs-, Innovations- und Internationalisierungskurs unabdingbar. So ließ
er beim Ipsum die Zeit von der Entwicklung bis zur Serienreife auf 15
Monate verkürzen. Weitere Verknappungen dürften die menschliche Leis-

27
The Straits Times 18.1.2003.
188 Firmenportraits

tungsfähigkeit überschreiten28. Die Beschleunigung des Produktzyklus war


für Okuda eine Methode, um die langsamen, konsensorientierten Entschei-
dungsprozesse und die Abteilungsautonomien durch massiven Zeit- und
Leistungsdruck zu knacken. Die Auslagerung und Steigerung der Produk-
tion weg vom saturierten japanischen Markt in die Wachstumsmärkte
Nordamerikas (wo die US-Hersteller viele Segmente kampflos räumten),
Asiens und Osteuropas wurde bereits beschrieben.
Intern wurde eine Business-Reform- (BR) Kampagne ausgerufen, die
vor allem die ineffizienten Angestelltenränge betraf. Wie alle japanischen
Großkonzerne hatte Toyota über die Jahre wachsende Tausendschaften von
Hochschulabsolventen rekrutiert, die nun, in die Jahre gekommen, sich im
Mittelmanagement stauten und in überflüssigen Zwischenebenen Ent-
scheidungen und den schnellen Informationsfluss behinderten. Da ihre
weiteren Aufstiegschancen auch für die Betroffenen einsichtig gegen Null
tendierten, waren jene nach Jahrzehnten treuer Dienste müde gewordenen
Firmenkrieger ein potentielles Frustrations- und Problempotential. Toyota
entschied sich neue Rekrutierungen zurückzufahren und seine Angestell-
tenarmee um 20% auszudünnen. Niemandem wurde gekündigt. Doch es
wurden attraktive Frühpensionierungspakete geschnürt, die es, verbunden
mit dem in japanischen Firmen starken sozialen Druck, den Betroffenen
schwer machten, nein zu sagen, wenn ihnen die mächtige Personalabtei-
lung auf die Schulter tippte. Um ihrer Umorientierung zu helfen (und um
Kosten zu sparen), wurde die Arbeitszeit verkürzt und die Belegschafts-
mitglieder gezwungen, ihre Urlaubsansprüche zu nehmen. Die früher re-
gelmäßigen Überstunden wurden nur noch in seltenen Ausnahmenfällen
genehmigt. Jährliche Gehaltserhöhungen und Boni wurden entweder ge-
strichen oder drastisch reduziert. Als überflüssig eingeschätzte Mitarbei-
ter, die noch nicht für die Frühpensionierung in Frage kamen, wurden in
sogenannte Business-Reformgruppen versetzt. Sie erhielten Sonderauf-
gaben (– nicht das Fegen der Firmenparkplätze, wie man meinen könnte -
), aus denen neue Produkte und Geschäftszweige sich entwickeln sollten.
Etliche wurden auch an ausländische Werke versetzt, zum Beispiel nach
China, Südostasien und Osteuropa. Die BR-Methode brachte sicher indivi-
duelle Härten mit sich, war aber weniger brutal als das Vorgehen solcher
Großfirmen wie Nissan, Mazda, Toshiba, der Kaufhäuser, Versicherungen
und der Großbanken, die in der Krise den arbeitslebenslangen Beschäfti-
gungsvertrag kühl und kalt aufkündigten und zehntausende ihrer jahrzehnte-
langen, kaum noch vermittelbaren Mitarbeiter auf die Straße warfen.

28
Business Week 7.4.1997.
Honda: Von der Tüftler-AG zum Weltkonzern 189

Okuda wurde nach dem gelungenen Sanierungsmanöver von Fujio Cho


(1999-2005) abgelöst, unter dessen Regentschaft Ford weltweit überholt
wurde29. Aktuell ist Katsuaki Watanabe (2005- ) dabei, die gleiche Operation
mit General Motors zu wiederholen, zumal GM alles tut, um ihm die Aufga-
be zu erleichtern. Sein Stellvertreter wurde im gleichen Jahr Akio Toyoda
(48), der sich vordem im Chinageschäft bewährt hatte. In einigen Jahren
werden die Geschicke des dann mit Abstand größten Automobilkonzerns der
Welt wieder von der Gründerfamilie geleitet werden. Bei Toyota gehen die
Uhren des Zeitgeistes offensichtlich anders, aber nicht ohne Erfolg.

9.6 Honda: Von der Tüftler-AG zum Weltkonzern

Herbert Pang und Shen Hong30

Mit 3,4 Millionen Fahrzeugen ist Honda heute Japans zweitgrößter Auto-
mobilhersteller nach Toyota. Seine 114.000 Mitarbeiter erzielten 2005
einen Erlös von 78 Milliarden Euro und einen Betriebsgewinn von 5,5
Milliarden Euro31. Bei umweltfreundlichen Autos mit ausgereiften (Die-
sel/Elektro) Hybridmotoren behauptet Honda eine weltweite Marktführer-
schaft. Mit einer Fertigungspräsenz in den wichtigsten Märkten sucht Honda
seinen Absatz auf 4 Millionen PKWs im Jahr 2007 zu steigern32. Neben
jener erstaunlichen Leistungsfähigkeit ist die Firma auch wegen ihres ein-
zigartigen Managementstils und ihrer jungen Firmengeschichte interessant.
Als Sohn eines armen Schmieds und Fahrradflickers wurde Soichiro
Honda 1906 geboren33. Von klein auf faszinierten ihn Motoren. So soll
seine Lieblingsbeschäftigung in jungen Jahren gewesen sein, einer benzin-
betriebenen Reismühle bei der Arbeit zuzuschauen. Nach achtjährigem
Schulbesuch wurde Soichiro 1922 Lehrling bei einer Autoreparaturwerk-

29
Stephan Finsterbusch „Generationenwechsel bei Toyota“ Frankfurter Allge-
meine 10.2.2005, und: „Der Steuermann“ Frankfurter Allgemeine 11.5.2006.
30
Vom Herausgeber übersetzte und aktualisierte Studienarbeit, die im Rahmen
des von ihm geleiteten Graduiertenseminars „Comparative Business Cultures“
an der National University of Singapore 2004 entstand.
31
Frankfurter Allgemeine 27.4.2006.
32
Financial Times 18.5.2006.
33
Für Details von Biografie und Firmengeschichte siehe: Tetsuo Sakiya. Honda
Motor: The Men, The Management, The Machines. Tokyo 1982.
190 Firmenportraits

stätte namens Art Shokai in Tokyo. Seine Hauptaufgabe war zunächst, das
Kind seines Lehrherrn zu babysitten. Nur wenn in der Werkstätte mehr
Betrieb war, durfte er auch richtig arbeiten. Als 1923 ein Erdbeben Tokyo
verwüstete, wurde auch Art Shokai zerstört. In den Trümmern arbeiteten
Honda und ein Geselle wochenlang weiter an der Reparatur beschädigter
Autos. Als Belohnung ermöglichte der Besitzer von Art Shokai Honda
nach dem Wiederaufbau, einen Rennwagen in seiner Freizeit zu bauen.
Dieser erste Rennwagen entstand in Selbsthilfe aus einem Curtis Wright
Flugzeugmotor mit 100 Pferdestärken und 1400 Umdrehungen pro Minute.
1928 wurde Honda mit der Leitung einer Außenstelle von Art Shokai in
der Stadt Hamamatsu in der Präfektur Shizuoka betraut. Dort konnte er
seiner Leidenschaft für den Bau immer ausgereifterer Rennwagen unge-
stört nachgehen. 1936 nahm er an dem alljapanischen Geschwindigkeits-
rennen teil und schaffte auch einen Streckenrekord von 120 km/h, der die
nächsten 20 Jahre überdauern sollte. Er wurde jedoch bei einem Unfall bei
einem Boxenstop schwer verletzt, was ihn den Sieg kostete und die aktive
Teilnahme an weiteren Rennen unmöglich machte.
Im nächsten Jahr gründete Honda eine Firma, Tokai Seiki Heavy In-
dustry, die Kolbenringe herstellen sollte. Kolbenringe waren damals sehr
teuer und Honda glaubte, sie seien in einem Druckgussverfahren einfach
herzustellen. Die Fabrikation der Kolbenringe stellte sich jedoch als schwie-
riger heraus als ursprünglich angenommen, denn die ersten Ringe waren
inelastisch und deshalb nutzlos. Er bat die Besitzer benachbarter Gießereien
vergebens um Hilfe. Sie zeigten sich nicht bereit, ihre Produktionsgeheim-
nisse gegenüber einem Außenseiter zu lüften. Obwohl Honda gegenüber
formaler Bildung skeptisch war und verkündet hatte: „Wenn Theorien zu
Erfindungen führen, dann müssten alle Schullehrer große Erfinder sein“,
suchte er nach dem Scheitern eigener Tüfteleien Professor Yoshinobu Fujii
von der Fachschule für Technologie in Hamamatsu um Hilfe auf. Ihm wurde
erklärt, seine Kolbenringe enthielten zu wenig Silikon. Zur Behebung seiner
technischen Wissenslücken besuchte Honda dann neun Monate lang die
Fachschule, bis ihm erste Prototypen gelangen.
Während des Zweiten Weltkriegs hatte die Firma wegen der steigen-
den Nachfrage nach Maschinen und Maschinenteilen genügend Aufträge.
Weil mehr und mehr Männer zum Kriegsdienst eingezogen und durch
Frauen in der Produktion ersetzt wurden, entwickelte Honda Prozessau-
tomaten und Produktionshilfen, um körperlich schwere Arbeiten zu me-
chanisieren und zu erleichtern. Honda erfand auch eine neue Methode
und Werkzeuge, um die Herstellung von Flugzeugpropellern von einer
Woche auf eine halbe Stunde zu reduzieren. Nach dem Krieg verkaufte
Honda: Von der Tüftler-AG zum Weltkonzern 191

Honda Tokai Seiki an Toyota Motor für 450.000 Yen und legte eine kre-
ative Pause ein. Doch schon im Oktober 1946 gründete er das Honda
Technische Forschungsinstitut. Die neue Geschäftsidee war, Fahrräder
mit Kleinmotoren auszustatten, die für militärische Zwecke gefertigt nun
nicht länger benötigt wurden.
Sein neuer Kompagnon in diesem Unternehmen wurde Takeo Fujisawa.
Fujisawa wurde 1910 als Sohn des Besitzers einer damals noch gutgehen-
den Werbeagentur geboren. Während der Depression der 20er Jahre ver-
armte seine Familie jedoch. Fujisawa musste sich nach der Oberschule
1928 als Lohnschreiber und Kalligraph mit einem Gehalt von 45 Yen im
Monat durchschlagen. Nach seinem Wehrdienst wurde Fujisawa 1934
Verkäufer bei einer kleinen Stahlhandelsfirma namens Mitsuwa Shokai.
Sein Anfangsgehalt betrug nur 15 Yen monatlich. Doch am Ende des
zweiten Jahrs erhielt er als bester Verkäufer der Firma 150 Yen. Als der
Besitzer von Mitsuwa Shokai zum Kriegsdienst 1937 an die chinesische
Front einberufen wurde, übernahm der damals 27jährige Fujisawa die Ge-
schäftsleitung. Nach einigen Monaten schon verdiente die Firma 200.000
Yen monatlich. Die sich verschärfenden kriegswirtschaftlichen Preiskon-
trollen verminderten jedoch bald die Gewinnspannen des Handels. Deshalb
entschied sich Fujisawa mit 10.000 Yen, die er als Gründungskapital von
Mitsuwa auslieh, seine eigene Fabrik zu gründen, die er Japan Machine
Tool Research Institute nannte.
Mit dem Besitzer von Mitsuwa geriet Fujisawa in Streit, als er für seine
Mitarbeiter wegen der Härten der Kriegszeit um eine Gehaltserhöhung
ansuchte und diese verweigert wurde. Nach der Rückkehr des Eigners
kündigte Fujisawa, bekam als Abfindung sein ausgeliehenes Gründungs-
kapital übereignet und widmete sich hinfort seiner eigenen Firma. Dort
fertigte er Werkzeugmaschinen von guter Qualität, die sich auch in Kriegs-
zeiten profitabel verkaufen ließen. Um seine Mitarbeiter zu motivieren,
zahlte er auch gute Löhne. Wegen der wachsenden US-Bombenangriffe
übersiedelte er seine Fabrik aus Tokyo ins nordjapanische Fukushima.
Als Fujisawa nach dem Krieg seinen Betrieb nach Tokyo zurückholte,
traf er dort auf den Erfinder Honda, der damals nach einem langfristigen
Geldgeber Ausschau hielt. Fujisawa war zwar auch nicht liquide, doch
fusionierten sie 1948 beide Betriebe. 1949 wurde aus den Fahrrädern mit
Hilfsmotor das erste Motorrad mit 98 ccm entwickelt und auf den Markt
gebracht. Honda spielte die Rolle des technischen Genies, des Erfinders
und Herrschers über die Produktion. Fujisawa war für die Organisation,
die Finanzen und das Marketing zuständig. Dies war nicht zufällig eine
ähnlich komplementäre und erfolgreiche Paarung wie bei Sony, der anderen
192 Firmenportraits

großen Nachkriegsfirma Japans, mit Masaru Ibuka und Akio Morita, ein
genialer Tüftler der eine, ein begnadeter Verkäufer der andere. Der einzig
große Unterschied zwischen beiden Unternehmerpaaren war, dass Morita
sich selbst als „Mr. Sony“ verkaufte, während der selbstlosere Fujisawa den
Honda-Mythos schuf, in dem sein Partner im Rampenlicht stand.
Ähnlich wie Sony (oder Siemens) wurde Honda eine vom Ingenieur-
geist geprägte Gründung. Das Gründungsmotto der Firma für ihre Mitar-
beiter war:
„Seid originell. Verlasst euch nicht auf die Regierung. Arbeitet um der
Arbeit selbst willen“. Von Anfang an lehnte Honda das bei anderen japani-
schen Firmen beliebte Kopieren ausländischer Produkte und Prozesse ab
und bestand auf Eigenentwicklungen. Kopieren würde nur kurzfristige
Kostenvorteile bringen. Als langfristiger Erfahrungs- und Lerngewinn wür-
den sich die Erkenntnisse der eigenen F&E für das Unternehmen immer
auszahlen. Honda suchte auch nie um Regierungssubventionen an. Pensio-
nierte Ministerialbürokraten (amakudari) wurden nie, wie bei den Wett-
bewerbern üblich, als gutbezahlte Konsulenten (komon) angestellt. Die
Distanz zur Regierung hatte seinen Preis: Als Honda 1961 in die PKW-
Produktion einstieg, wurde dies vom Industrieministerium MITI vehement
mit dem Argument bekämpft, Japan habe schon zuviel Automobilherstel-
ler. 1962 stellte Honda dann unbeeindruckt den ersten Leichtlastkraftwa-
gen und den Prototyp eines Sportwagens der Öffentlichkeit vor.
Die Leitsätze für die Beschäftigten folgen den eklektischen Neigungen
der beiden autodidaktischen Gründer: „Folge Deinen Träumen und bleibe
jung im Herzen“, „Respektiere Theorien, neue Ideen und Zeit“, „Liebe
deine Arbeit und mach deinen Arbeitsplatz hell und positiv“, „Stelle einen
reibungslosen Arbeitsfluss sicher“ und: „Mache täglich eine ernsthafte
Anstrengung in der Forschung“34.
Um den Wettbewerb in den F&E-Abteilungen zu beleben, lässt Honda
verschiedene Forscherteams selbständig an Lösungen des gleichen Prob-
lems arbeiten. Sie werden dann regelmäßig über den Stand der Arbeiten
ihrer Kollegen unterrichtet.
Auch bei der Organisation der Fließbandarbeit kann die Bandgeschwin-
digkeit (free flow) an die Bedürfnisse der Arbeitsteams angepasst werden.
Damit konnte die Häufigkeit von defekten Fertigungen noch weiter ver-
mindert werden.

34
Setsuo Mito. The Honda Book of Management: A Leadership Philosophy for
High Industrial Success. London 1990.
Honda: Von der Tüftler-AG zum Weltkonzern 193

Um die Jugendlichkeit der Firma zu erhalten, gingen Honda und Fujisawa


beide gleichzeitig 1973 in den Ruhestand. Im Gegensatz zu anderen Grün-
derunternehmern verzichteten sie jedoch darauf, hinter den Kulissen weiter
auf die Unternehmenspolitik und die Auswahl des Führungspersonals Ein-
fluss zu nehmen. Honda selbst vergnügte sich nach seiner Pensionierung in
Regierungsausschüssen, bei örtlichen Wohltätigkeitsinitiativen und in inter-
nationalen Freundschaftsvereinen35.
Um möglichen autokratischen Tendenzen und der kommunikations-
feindlichen Parzellisierung seiner Nachfolger vorzubeugen, erfand Fujisa-
wa vor seinem Abgang noch das Konzept des Joint Boardroom (JBR),
eines Großraumbüros für die Chefetage, das heute noch der Vorstandsvor-
sitzende mit 30 Direktorenkollegen teilt36 Dies soll die Zusammenarbeit
zwischen den Abteilungen, einen ständigen Informationsaustausch und
stetige Konsensentscheidungen beflügeln. Dabei soll das Spitzenmanage-
ment den Großteil ihrer Arbeitszeit nicht im Büro zubringen, sondern in
der Firmenuniform (weißer Drillich und grüne Arbeitsmütze) auf der Tour
durch Fabriken und Schauräume.
Als Geschäftsprinzip pflegt Honda zum Risikoausgleich eine duale
Komplementarität. Einmal durch zwei Produkte, Motorräder und PKWs,
deren Nachfragezyklen z.B. auf dem amerikanischen Hauptmarkt Hondas
häufig gegenläufig sind. Auch werden Einzelteile immer von zwei ver-
schiedenen Lieferanten bezogen, um Preise und Qualitäten im Wettbewerb
vergleichen zu können. Als Führungsteams werden nach dem Vieraugen-
prinzip (das auch jahrzehntelang bei der Deutschen Bank praktiziert wur-
de, AR) Konservative und Innovatoren, risikofreudige und vorsichtige
Charaktere unter den Managern gepaart. Auch wird versucht, die hohe
Abhängigkeit vom US-Markt (53% der Umsätze) durch Steigerungen in
anderen Weltteilen (Japan: 30%, Europa 7%, Asien 10%) zu mindern37.
Vor allem China gilt als Hoffnungsmarkt für Honda. Vor allem China gilt
als Hoffnungsmarkt für Honda. Wie in Vietnam38 oder Südostasien könnten
Zweiräder den Markt für die Vierräder vorbereiten. Das Währungsrisiko
wird durch eine hohe örtliche Wertschöpfung – in den USA allein beträgt
sie 80% – in 110 Fertigungsstätten in 30 Ländern stark reduziert.

35
Robert Thomson. „Obituary: Soichiro Honda. A symbol of Japan’s industrial
rise“ Financial Times 6.8.1991.
36
Wieland Wagner „David aus Nippon“ Der Spiegel 27.2.2002.
37
Financial Times 14.7.2003.
38
Financial Times 30.9.2002.
194 Firmenportraits

Tatsächlich trat nach dem Tod Fujisawas (1988) und Hondas (1991)
durch das Konsensverfahren bedingt eine starke Bürokratisierung des Unter-
nehmens ein. Die ingenieurtechnischen Standards sanken und der unter-
nehmerische Schwung schwand. Shoichiro Irimajiri trat nach dem Scheitern
seiner Entbürokratisierungsbemühungen als Vorstandschef 1992 zurück.
Sein Nachfolger Nobuhiko Kawamoto bemühte sich den von Fujisawa
kunstvoll geschaffenen Hondamythos zu entzaubern39 und die Firma von
einem exzentrischen Nischenproduzenten zu einem effektiv organisierten
internationalen Massenhersteller umzubauen. Dank Hondas starker Firmen-
kultur wurde die Reform aus eigener Kraft ein voller Erfolg. Im Gegensatz
zu Nissan (Renault), Mazda (Ford) und Mitsubishi Motors (zeitweise Daim-
ler) blieb Honda unabhängig und erfolgreich. Der seit 2003 amtierende Vor-
standschef Takeo Fukui stammt als Ingenieur aus der Motorenentwicklung
und leitete lange die Rennsportmannschaft und das größte Stammwerk des
Konzerns in Hamamatsu. Er steht damit einerseits für ingenieurtechnische
Innovation, hatte andererseits als Präsident von Honda America in Ohio mit
Rekordgewinnen genügend Beweise seiner erfolgreichen Marketingfähig-
keiten erbracht40. Damit dürfte Honda als ideosynkratische Erfolgsgeschich-
te weiter den Stoff für zur Nachahmung empfohlener Fallstudien geben.

9.7 Nissan: Auferstanden aus Ruinen

Christoph Gutjan, Loreen Kaufer und Irina Dmitrischenko

9.7.1 Die historische Entwicklung


Mit einem Produktionsvolumen von 20.000 Einheiten jährlich wird im
Jahre 1933 eine Firma ins Leben gerufen, die später als Nissan einen welt-
bekannten Markennamen prägen sollte. Damals gründeten die Nikon San-
gyo Co. und die Tobata Imono Co. gemeinsam die Jidosha-Seido Ltd. Unter
der Führung des brillanten Managers Yoshisuke Aikawa übernimmt die
Firma die komplette Herstellung der Datsun-Automobile. Bereits 1934 wird
die Nikon Sangyo Co. alleinige Inhaberin der Firma und nennt sie in Nissan
Motor Co., Ltd. um. Im Jahr darauf rollt in der Fabrik in Yokohama der erste
Datsun-Kompaktwagen vom Band. Die Produktion von Nissan-Pkws, Lkws
und Bussen für den Massenmarkt war offiziell eingeläutet.

39
Maasaki Sato. The Honda Legend. After the Gurus Death. Tokyo 1996.
40
Stephan Finsterbusch. „Der Ingenieur geht in ein neues Rennen“ Frankfurter
Allgemeine 30.7.2003.
Nissan: Auferstanden aus Ruinen 195

Eine Zäsur in der Entwicklung erfuhr die Firma zweifellos durch den 2.
Weltkrieg. Die Produktion kam mit der Ausweitung des Kriegs auf den
pazifischen Raum zum Erliegen. Allerdings erholte sich Nissan sehr
schnell von den kriegsbedingten Rückschlägen und entwickelte in den
folgenden Jahren einige seiner legendärsten Modelle. Nach der Wieder-
aufnahme der Produktion der Datsun-PKWs im Jahre 1947 dauerte es noch
weitere 4 Jahre, bis anno 1951 ein Fahrzeug, das heute Kultstatus genießt,
gebaut wurde. Sämtliche aus der Herstellung von Militärfahrzeugen ge-
wonnenen Erfahrungen bündelte Nissan in einem herausragenden Off-
Roader – dem Patrol. Dieses Allradfahrzeug mit 6-Zylinder-Motor und
85 PS übertraf zu dieser Zeit sogar den amerikanischen Willis Jeep, welcher
bis dato als das Nonplusultra galt.
Das Wachstum des Unternehmens wurde in den weiteren Jahren stark
vorangetrieben, nur unterbrochen durch einen 100tägigen Streik zwi-
schen Arbeitnehmern und dem Management. Diese Auseinandersetzung
im Jahre 1953 war schwer zu lösen und fügte dem Unternehmen einigen
Schaden zu. Allerdings sind seit der Beilegung dieses schweren Kon-
flikts die Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern harmo-
nisch geblieben.
Den Sprung ins Bewusstsein der internationalen Automobilwelt schaffte
Nissan im Jahre 1958 durch den Titelgewinn bei dem „Mobilgas Trial a-
round Australia“. Mit dem Sieg eines Datsun 210 bei diesem prestigeträch-
tigen Wettbewerb steigerte Nissan das öffentliche Interesse an der Marke
erheblich. Unter dem Namen Datsun lief der Export ins Ausland an. Zwei
Jahre später etablierte sich Nissan durch die Gründung der Nissan Motor
Corporation USA (NMC) erstmals offiziell im Ausland, und zwar in Kali-
fornien. 1962 wurde der Export auf den europäischen Markt ausgeweitet.
Es dauerte weitere elf Jahre, bis die Nissan Motor Deutschland GmbH den
Vertrieb von Datsun-Fahrzeugen in Deutschland übernahm.
Während der Ölkrise von 1973 steigerte sich die Popularität speziell in
den USA. Diese entsprang der Spitzenposition, die der Nissan Sunny beim
Kraftstoffverbrauchtest der US-Umweltbehörde belegte.
Ein weiterer Meilenstein in der Geschichte von Nissan war die Ent-
scheidung, die Exportfahrzeuge ab dem Jahr 1983 nunmehr unter dem
Markennamen Nissan statt Datsun zu vertreiben. Dies wurde durch die
gestiegene Markenbekanntheit und das hohe Markenvertrauen möglich. In
den folgenden Jahren etablierte sich Nissan weltweit immer mehr und
konnte sich über eine Reihe von Auszeichnungen und Preisen freuen.
In den späten neunziger Jahren allerdings wendete sich das Blatt und
Nissan stand, wie im folgenden Abschnitt noch detaillierter erkennbar wird,
196 Firmenportraits

kurz vor der Insolvenz. Die spätere, schnelle Rettung wird ausschließlich
mit dem Namen Carlos Ghosn verbunden. Der Nissan Präsident und CEO
verhalf seiner Firma durch den NRP (Nissan Revival Plan) zu neuem Auf-
schwung. Auf diese Rettungsphase wird auf den folgenden Seiten eben-
falls gesondert eingegangen.
Die offiziellen Zahlen aus dem Jahre 2004 bestätigen Nissan wieder als
einen der profitabelsten Automobilhersteller der Welt. Mit einem Be-
triebsgewinn von 6,3 Mrd. Euro und einer Umsatzrendite von 11,1 % er-
rang es erneut eine starke Position auf dem Automobilmarkt.41

9.7.2 Die Krise auf dem japanischen Automobilmarkt

Bedingt durch die globalen Veränderungen, den sich abzeichnenden neuen


Märkten in den früheren sozialistischen Staaten und dem Platzen der
„Bubble“, begann ab 1991 eine neue Phase der japanischen Industriege-
schichte. Diese Phase hatte auch für die Automobilindustrie eine Krise
zur Folge.
Die internationale Konkurrenz auf dem globalen Automobilmarkt hat-
te durch Innovationen, Kostenmanagement, Modelloffensiven und ver-
änderte Produktionssysteme seit Anfang der 1990er Jahre zu den japani-
schen Produzenten aufgeschlossen. Somit verloren die japanischen
Automobilhersteller ihre Vormachtstellung auf dem Gebiet des technolo-
gischen und produktionstechnischen Fortschritts – und damit verbunden
Marktanteile.
Zudem hatte das Platzen der „Seifenblasenwirtschaft“ den Yen erneut
stetig steigen lassen und damit japanische Exporte auf dem Weltmarkt
noch einmal verteuert. Seit der „Bubble“ steckte die japanische Volkswirt-
schaft zudem in einer tiefen Rezession, was einen schwachen Binnenmarkt
auch für den PKW-Absatz zur Folge hatte.42
In dieser Zeit haben die japanischen Produzenten ihre Produktionen im
Inland im Bereich PKW mäßig – und im Nutzfahrzeugbereich dramatisch
stark – reduziert. Dagegen hatte die Bedeutung der Auslandsproduktion
stark zugenommen: Fast die Hälfte aller japanischen PKWs wurde außer-
halb Japans gefertigt. Somit verlor die japanische Automobilindustrie ihre

41
vgl. http://www.nissan.de/inside-nissan/history/index.html.
42
Bosse, Friederike (1997): Wirtschaftliche Strukturen. In: Bundeszentrale für
politische Bildung (Hrsg.): Informationen zur politischen Bildung: Themenheft
Japan (Heft 255 – Seiten 32-37) – Bonn.
Nissan: Auferstanden aus Ruinen 197

Kapazitäten im doppelten Maße: Zum einen durch die gesunkene Nachfrage


nach japanischen PKWs im Inland, zum anderen durch die Auslagerung
der Produktion ins Ausland.43
Ab 1990 verringerte sich die japanische Fahrzeugproduktion um 22%
von 13,5 Millionen Fahrzeuge auf nur noch 10,3 Millionen Fahrzeuge pro
Jahr in 2003. Im Jahr 1995 sank der Export von PKWs zwischenzeitlich
gar von 4,5 Millionen auf nur noch 3 Millionen Fahrzeuge pro Jahr44. Nis-
sans Weltmarktanteil fiel von 6,6% (1991) auf 4,9% (1999). Mit 30 ver-
schiedenen Modellen und zu kurzen Produktzyklen fuhr Nissan 1999 einen
Verlust von 7,6 Milliarden Euro ein. Mit einem Schuldenstand, der 270%
des Eigenkapitals ausmachte, war Nissan völlig überschuldet und nach
allen Kriterien am Rand einer Insolvenz. Der Fuyo-Keiretsu, dem Nissan
angehörte, war ebenfalls zu schwach, um das Unternehmen zu retten.

9.7.3 Renault und Carlos Ghosn – Die Wendegeschichte der


Nissan Motor Corp.

Die Wende für Nissan begann mit der Gründung der Allianz zwischen
Nissan und Renault am 27. März 1999. Die Allianz, einzigartig in ihrer
Form unter Mitwirkung von japanischen und französischen Firmen, ist
essentieller Baustein für den Wiederaufstieg der Nissan Motor Corp. in die
Weltliga der Spitzenspieler der Autoindustrie.
Die Allianz wird durch die gegenseitige Achtung der formalen Eigen-
ständigkeit der Unternehmen und ein gemeinsames Streben nach Optimie-
rung und Fortschritt bestimmt. Um die gemeinsamen Aktivitäten voranzu-
treiben, wurde bereits im Juni 1999 eine strategische Plattform ins Leben
berufen, die gemeinsame Forschungs- und Entwicklungsprojekte fördern
sollte und unter der mittlerweile der größte Teil der Entwicklungsarbeit
beider Firmen gemeinsam durchgeführt wird.
Ein weiteres Hauptaugenmerk wird auf den gemeinsamen Einkauf auf
dem Weltmarkt gelegt, um dort durch economies of scale und eine stärkere
Marktmacht Kostenvorteile generieren zu können.

43
Vgl. Japan Automobile Manufacturers Association: http://www.jama.org;
03.05.06.
44
Organisation Internationale des Constructeurs d’Automobiles (OICA): World
motor vehicle production by manufacturer. World ranking 2003; http://www.
oica.net/htdocs/Main.htm, 03.05.06.
198 Firmenportraits

44.3%

50% 50%
RENAULT-NISSAN bv
RENAULT

NISSAN
Carlos Goshn (President)
Patrick Blain, Patrick Pélata, Jean-Lous Ricaud,
Toshiguki Shiga, Tadao Takahasi, Mitsuhiko Yamashita

100%

Joint companies
RNPO (Renault-Nissan Purchasing Organization)
RNIS (Renault-Nissan Information Services)

15%
Abb. 9. Die Struktur der Allianz nach einer Grafik der Nissan Global Commu-
nications45

Die Allianz wird zu gleichen Teilen von Renault und Nissan getragen,
wobei Renault mit 44,3% einen de facto kontrollierenden Einfluss auf die
Nissan Motor Corp. erhält und Nissan im Gegenzug mit 15% an Renault
beteiligt ist. Renaults Teilübernahme beinhaltete eine dringend benötigte
Kapitalspritze von 5 Milliarden Euro für Nissan.

9.7.3.1 Die Wende


Nachdem Nissan, damals zweitgrößter Automobilhersteller Japans, jahre-
lang kontinuierlich auf Talfahrt befindlich einen empfindlichen Schulden-
berg in Höhe von 13 Milliarden US-Dollar angehäuft hatte, wurde als Teil
des Rettungsplans eine Allianz zwischen Nissan und Renault beschlossen,
die 1999 auch die Ernennung eines neuen CEOs bei Nissan Motor Corp.
umfasste: Carlos Ghosn. Ghosn ist libanesischer Herkunft, wurde in Brasi-

45
http://www.nissan-global.com/EN/COMPANY/ALLIANCE/BASICS/index.html
Nissan: Auferstanden aus Ruinen 199

lien geboren, und besitzt einen französischen Pass. In Japan eilte ihm der
Spitzname le cost cutter als energischer Sanierer für hoffnungslose Fälle
voraus. Ghosn musste bei Nissan jedoch mehr tun, als nur die Kosten zu
stutzen.
Nachdem Nissan ohne durchgreifende Änderungen und möglichst zeit-
nahe Erfolge akut von der Insolvenz bedroht war, kündigte Carlos Ghosn
noch im gleichen Jahr den NRP (Nissan Revival Plan) an.

9.7.3.2 Der Nissan Revival Plan


Als Ghosn 1999 zu Nissan kam, waren weder die Management-Strukturen
noch die Produkt-Entwicklung effektiv aufgestellt. Das Unternehmen stand
vor dem Ruin. Die Mitarbeiter waren demotiviert und an althergebrachte
Abläufe und Rituale gewöhnt. Wichtigstes Ziel von Ghosn war es deshalb
zunächst einmal, den Mitarbeitern den Ernst der Lage vor Augen zu führen.
Durch Kompetenzgerangel, Mangel an Kommunikation zwischen den Regi-
onal-Vorständen, vor allem zwischen den USA, Europa und Japan, waren
jahrelang viele Probleme vertuscht oder „wegdelegiert“ worden. Durch ei-
nen Umbau des Management-Systems zu einem Board nach amerikani-
schem Vorbild, bei dem Ghosn als Vorstand des Executive Committee den
Regional-Vorständen übergeordnet ist und direkten Einfluss und Einblick in
deren Arbeit behalten kann, wird dies nun sichergestellt.46
Ghosns Führungsstil, der Transparenz, klare Aufgaben- und Verant-
wortungszuweisungen und offene Diskussion statt der bisher üblichen
langwierigen, unübersichtlichen Prozesse betont, hat dies erst möglich
gemacht.
Man muss der Fairness halber darauf hinweisen, dass diese Maßnahmen
von einem internen Manager kaum durchführbar gewesen wären. Obwohl
der Anteil an ausländischen Führungskräften in Top-Positionen in Japan
sehr gering ist, ist der Respekt vor der Leistung dieser Manager – haben
sie sich einmal erfolgreich durchgesetzt – sehr groß. Da externe Manager
nicht in gleichem Maße dem sehr rigiden japanischen Gesellschafts- und
Wirtschaftskodex unterliegen, haben sie somit wesentlich mehr Möglich-
keiten mit den festgefahrenen Strukturen zu brechen als japanische Füh-
rungskräfte dies in dem Unternehmen vermögen, in dem sie mit ihrer
Alterskohorte gemeinsam aufgestiegen sind. So liefern diese Exoten der
japanischen Wirtschaftswelt auf Grund ihrer Popularität auch indirekt

46
http://www.businessweek.com/bwdaily/dnflash/oct2005/nf20051019_4845_db
039.htm?campaign_id=search.
200 Firmenportraits

Denkanstöße für die Adaption unternehmungsbezogener Werte in japani-


schen Unternehmen und neuer Managementstile in Japan insgesamt, be-
dingt durch ihren Ausländerstatus, und „unter Ausnutzung der bestehenden
Verunsicherung in vielen japanischen Unternehmungen aufgrund der wirt-
schaftlich angespannten Situation, können diese Manager unternehmungs-
kulturelle Tabus brechen, die Japanern in vergleichbaren Führungspositio-
nen wegen des hohen internen Kohäsionsdrucks als unantastbar gelten“.47
Durch strenge Kostenkontrolle, die Schließung von Werken und Ver-
kleinerung der Belegschaften sowie eine Offensive in der Produkt-Neuent-
wicklung konnten innerhalb von nur zwei Jahren immense Fortschritte
erzielt werden. Wichtig war dabei von Anfang an die Konzentration auf
die Entwicklung einer konkurrenzfähigen neuen Produktlinie. Diese wurde
durch den Start von mehreren verschiedenen neuen Designs wie dem
Altima, Murano oder dem besonders publikumswirksamen 350Z effektiv
umgesetzt. Die neuen Designs haben maßgeblich zum langfristigen Erfolg
der Marke Nissan beigetragen.
Als Außenseiter hatte Ghosn wenig Skrupel, überflüssiges Personal zu
entlassen oder traditionelle Lieferanten unter Druck zu setzen oder abzu-
schalten. So befahl er ihnen Preiskürzungen um 20% und halbierte in der
Folge ihre Zahl von 1200 auf 600. 21.000 von 140.000 Arbeitsplätzen
wurden bei Nissan gestrichen. Fünf Werke wurden in Japan geschlossen,
um Überkapazitäten abzubauen. Doch ein PKW-Hersteller lebt bekannt-
lich von attraktiven Modellen, nicht von verminderten Kosten. Ghosn ließ
von ausländischen Designern den langweiligen Nissan-Modellen, wie er-
wähnt, neue, flottere Designs verpassen und gründete eine neue Marke-
tingabteilung. Mit einer Vielzahl neuer Modelle konnte schon 2000 ein
Gewinn von 1,7 Milliarden Euro erwirtschaftet werden. 2005 wurden mit
3,4 Millionen weltverkaufter Autos Gewinne von 3,8 Milliarden Euro er-
zielt. Das entspricht mehr als 1000 Euro pro Wagen
Carlos Ghosn konnte deshalb bereits 2002 Analysten mit seiner Ankün-
digung überraschen, dass die Ziele des Nissan Revival Plans schon ein
Jahr früher als geplant erreicht würden. Der nächste Drei-Jahres-Plan, Nis-
san 180, wurde zur gleichen Zeit vorgestellt.
Als weiterer Schritt in Richtung kontinuierlicher Produkterneuerungen
wurde 2003 in London das europäische Design-Center von Nissan eröffnet.
Zu dieser Zeit konnte Nissan für das im März 2003 abgelaufene Geschäfts-
jahr 2002 einen Rekord-Betriebsgewinn von 6,25 Mrd. Euro und eine

47
http://www.personal.euv-frankfurt-o.de/de/personal/lehre/veranstaltungen/aktu-
ell/Japan/Working%20paper.pdf.
Nissan: Auferstanden aus Ruinen 201

Umsatzrendite von 10,8 % vermelden. Mit dieser Umsatzrendite war es


weltweit Spitzenführer. Die Nettoverschuldung der Nissan Automobilspar-
te wurde vollständig eliminiert.
Für das Geschäftsjahr 2003 konnte eine Umsatzrendite von 11,1 % er-
zielt werden. Nissan behauptete so seinen Spitzenplatz als einer der profi-
tabelsten Automobilhersteller der Welt.48
Ab 2008 soll mit dem „Infiniti“ im Luxussegment der Angriff auf
Daimler, BMW und Audi rollen. Dagegen bremst Renault in Europa das in
Nordamerika und Asien massive Massenmarketing von Nissan Mittelklas-
sewagen. Dieser Markt ist in Europa für Renault selbst reserviert. VW,
Opel und Fiat dürfen aufatmen.

9.7.3.3 Entwicklung zum profitabelsten Volumenhersteller der Welt


Nissan wurde nach dem Zusammenschluss schneller als erwartet gewinn-
trächtig. Die Marke ist derzeit sogar der profitabelste Automobil-Volu-
menhersteller der Welt. Seit 2001 steuern die Japaner einen großen Anteil
zum Gewinn von Renault bei.
Ein derart hohes Leistungsniveau innerhalb von nur fünf Jahren zu er-
zielen, war nur durch das uneingeschränkte Engagement der Mitarbeiter
beider Unternehmen der Allianz möglich. Gemeinsam gelingt es den
Renault- und Nissan-Mitarbeitern, über eine Entfernung von 10.000 Kilo-
metern in einer Sprache, die nicht ihre Muttersprache ist – Englisch –, in
gegenseitigem Vertrauen und Respekt zu kommunizieren und zusammen-
zuarbeiten.
Kern dieses Erfolgs ist die klar definierte Plattformstrategie, die drei
wichtige Parameter berücksichtigt:

• Anzahl der produzierten Einheiten für jede Plattform,


• regionale Marktanforderungen und
• Flexibilität.
Die Plattformstrategie der Allianz beruht auf dem Einsatz gemeinsamer
Komponenten, der Einrichtung und dem Ausbau einer gemeinsamen „Aggre-
gaten-Bank“ für die Aggregate, die von allen Fahrzeugen mit der gleichen
Plattform genutzt werden können, und der Vereinheitlichung der Ferti-
gungsprozesse, um die gemeinsame Nutzung der Produktionskapazitäten

48
http://www.nissan.de/inside-nissan/history/0e2e46b5db7f2010VgnVCM100000
c4300a0aRCRD.html.
202 Firmenportraits

sicherzustellen. Fahrzeuge, die auf derselben Plattform basieren, können


demnach marktnah sowohl in Renault- als auch in Nissan-Werken gebaut
werden.49
Nach einem erneuten Rekordergebnis im vergangenen Geschäftsjahr,
das in Japan traditionell im März endet, wurde ein neuer Dreijahresplan
mit Gültigkeit bis zum Geschäftsjahr 2009 kommuniziert. Der Fahrzeug-
absatz soll in diesem Zeitraum von derzeit 3,4 Millionen verkaufter Fahr-
zeuge auf 4,2 Millionen gesteigert werden. Dabei solle Nissan „weiterhin
eine Spitzenposition bei der Marge einnehmen“, so Ghosn.50
Um die Marge in Zukunft zu halten, will Nissan künftig noch mehr
Konzentration auf die Nutzung von Synergien mit dem Allianz-Partner
Renault legen. „Ghosn hat nun den Überblick über beide Firmen. Ich bin
sicher, er wird noch einiges entdecken“, so Analysten51. Das werde beiden
Unternehmen bei der Profitabilität Fortschritte bringen. Sukzessive sollen
mehr Plattformen und Komponenten geteilt werden. „Wichtig ist dabei,
dass die Identität der Marken nicht verloren geht.“52

9.8 Yamaha: Motorräder und Musik

Sven Claes und Benjamin von Reitzenstein

Die Firma Yamaha wurde im Jahre 1897 von Torakusu Yamaha unter dem
Namen Nippon Gakki Co., Ltd. gegründet. Sie wurde ab der Jahrhundert-
wende unter dem Namen Yamaha weitergeführt. Torakusu Yamaha war
ursprünglich ein Experte auf dem Gebiet der Reparatur medizinischer Ge-
räte und kam durch Zufall (ein Harmonium in einer Grundschule fiel aus)
zu den Tasteninstrumenten. 1887 baute er sein erstes Harmonium und
nahm weitere Aufträge an. Anfang des 20. Jahrhunderts wurden auch qua-
litativ hochwertige Möbel produziert.
1930 eröffnet Yamaha das weltweit erste akustische Forschungszent-
rum. Ab dem Jahre 1953 begann Yamaha damit, seine Märkte zu erweitern

49
http://pressetext.at/pte.mc?pte=040329020.
50
http://www.lycos.de/startseite/auto/news_service/show_news.html,,i_265__p
_2/fünf-jahre-renault-nissan-allianz-feiert-jubilaeum.html.
51
http://www.handelsblatt.de/pshb/fn/relhbi/sfn/buildhbi/cn/GoArt!205910,300636,
959280/ grid_id/0/artpage/1/SH/0/depot/0/index.html.
52
Ebenda.
Yamaha: Motorräder und Musik 203

und begann mit dem Bau von Hi-Fi-Spielern und Motorrädern (1954).
Damals wurde auch die Yamaha Music School gegründet. 1958 begann die
weltweite Expansion mit einer Niederlassung in Mexiko. 1959 eröffneten
die Yamaha Technical Laboratories. Die erste Niederlassung in den USA
folgte im Jahre 1960. 1965 begann man mit dem Bau von Blasinstrumen-
ten und im Jahre 1966 wurde in Richtung Europa expandiert und die Ya-
maha Europe GmbH in Deutschland gegründet. 1975 wagte sich Yamaha
zum ersten Mal in den Sportbereich und begann mit der Produktion von
Tennisschlägern. Ende der 70er Jahre wurden diverse Ateliers für Blasin-
strumente eröffnet, z.B. in Tokyo und Hamburg. 1982 wurde das Portfolio
im Sportbereich weiter ausgedehnt und die ersten Yamaha-Golfschläger
produziert. Außerdem begann man mit der Herstellung von CD-Playern.
Das gesamte Know-how wurde 1984 verwandt, um den ersten Industriero-
boter zu bauen. Ein Jahr später eröffnete das Yamaha R&D-Studio in To-
kyo. Im Jahre 1987 feierte das Unternehmen sein 100-jähriges Bestehen
und ändert den Namen offiziell in „Yamaha Corporation“.
1989 bringt man den weltweit ersten CD-Recorder auf den Markt. 1996
folgen die ersten „Silent Session Drums“, Instrumente, die keinen Klang
verursachen und vom Benutzer über Kopfhörer gehört werden können. Im
Jahre 2000 wagt man sich auf den Handy-Ton-Markt und vertreibt Klin-
geltöne für Handys in Japan und Taiwan. In den Folgejahren wird weiter
an der Entwicklung von „Silent Instruments“ gearbeitet und man bringt die
Silent Viola und Silent Guitar auf den Markt. Ab 2003 zieht sich Yamaha
aus dem CD-R/RW Geschäft zurück.53

9.8.1 Firmenlogo

Abb. 10. Das Yamaha-Firmenlogo

53
www.yamaha.com.
204 Firmenportraits

Das unternehmenseigene Firmenlogo von Yamaha besteht aus drei sich


kreuzenden Stimmgabeln, welche die kooperative Zusammenarbeit zwi-
schen den drei Geschäftsbereichen Yamahas – Technologie, Produktion
und Verkauf repräsentiert. Neben dieser angestrebten Symbolik des Logos
sollen außerdem auch die drei musikalischen Elemente Melodie, Harmonie
und Rhythmus durch das Logo symbolisiert werden.

9.8.2 Portfolioübersicht

Yamaha hat ein sehr differenziertes Produktportfolio. Im Bereich Musik


produziert Yamaha Pianos, Streichinstrumente und Schlagzeuge. Des Wei-
teren werden digitale Instrumente wie Synthesizer sowie Aufnahmegeräte
für Musikstudios angeboten. Speziell für die breite Masse der Konsumen-
ten bietet Yamaha in dieser Sparte Audio- und Videosysteme an, wie z.B.
PCs, Fernseher und Stereoanlagen.
Das zweite große Standbein des Konzerns ist die Motorenbranche. Ya-
maha produziert Motorräder der verschiedensten Arten, onroad und offro-
ad. Dazu zählen sogenannte Utility ATV’s, vierrädrige Geländemotorräder,
die sowohl im militärischen Bereich eingesetzt werden können, als auch
als Spaßauto für den Strand oder das Gelände. Das Motorradportfolio wird
abgerundet durch verschiedene Rollertypen. Im Spaß-Motor-Sektor ste-
chen Jet-Skis und Schneemobile hervor.54

9.8.3 Tochterunternehmen

Yamaha hat verschiedene Tochtergesellschaften:


Die Yamaha Fine Technologies Co., Ltd. ist in den Bereichen Präzisi-
onsmaschinen, Roboter, Messgeräte, Metallbearbeitung und Plastikbear-
beitung tätig. Die Yamaha Livingtech Corporation fertigt Wohnungsein-
richtungen (Badezimmer, Küchen etc.). Die Yamaha Metanix Corpora-
tion produziert Metalllegierungen sowie elektronische Bauteile. Am
wichtigsten ist die Yamaha Motor Corp. Ltd., die Motorräder, Boote und
Roboter herstellt.

54
www.yamaha.com.
Yamaha: Motorräder und Musik 205

9.8.4 Markenpolitik

In Bezug auf die Markenpolitik ist Yamaha ein Paradebeispiel einer Unter-
nehmung, die eine konsequente Diversifikationsstrategie verfolgt hat. Dies
erscheint als typisch für japanische Unternehmen dieser Größe. Dabei weist
Yamahas Produktportfolio auch in vielen Produktgruppen starke Synergien
auf. So kann das Unternehmen von bestehenden Synergien und Wissens-
transfers, beispielsweise im Bereich Motorenbau (Yamaha Motor Corp.
Ltd.) oder auch im Bereich Präzisionsmaschinen (Yamaha Fine Technolo-
gies Co., Ltd.) profitieren. Die konsequente Ausnutzung von firmeninter-
nem Wissen und dessen Transfer zwischen den einzelnen Tochterfirmen
verschafft Yamaha einen starken strategischen Markenauftritt.
Am bemerkenswertesten an der Marke Yamaha ist, dass diese nur Pro-
dukte birgt, die in Zusammenhang mit hohem Anspruch und hoher Leistung,
stehen. Gerade im Bereich der Herstellung von Motorrädern zählt Yamaha
zu den führenden Anbietern auf dem Markt. Durch hohe Investitionen, die
das Unternehmen gerade für Forschung und Entwicklung, also Innovation,
tätigt, gelingt es dem Unternehmen stets zu den weltweit führenden Anbie-
tern der hergestellten Produkte zu gehören. Weiter engagiert sich das Unter-
nehmen stark im internationalen Rennsport (vor allem in verschiedenen Mo-
torradrennserien, sowie in einigen Powermotorbootserien) und versucht
hierbei, die stetig gewonnen Erkenntnisse aus dem Rennsport in die Produk-
tion von serienmäßigen Motoren umzusetzen.
Yamaha ist gleichzeitig einer der besten Anbieter von Musikinstrumenten
wie Klavieren, Streichinstrumenten und Schlagzeugen sowie von hochwer-
tigen elektronischen musikalischen Geräten und Aufnahmestudioanlagen.55
Gerade Klaviere und Schlagzeuginstrumente gehören zu den weltweit am
meisten verkauften Yamaha-Instrumenten. Auch in diesem Bereich setzt die
Unternehmung höchste Ansprüche in seine Produkte, welche sich durch ein
Höchstmaß an Leistungsfähigkeit und Klang auszeichnen. Aus diesem
Grund ist die Marke Yamaha auch international bei vielen Kreativen aus der
Musik-, Audio- oder Medienbranche eine bevorzugte Marke. So ist Yamaha
auch instrumentaler Ausrüster von vielen internationalen Stars aus der
Musikbranche. Bis heute ist es Yamaha gelungen, über 6 Millionen seiner
hochwertigen Klaviere und Pianos zu verkaufen.
In seiner konsequenten Markenpolitik wurde Yamaha von Genichi Ka-
wakami geprägt. Sein Vater hatte Yamaha 1927 als Präsident geführt. Ge-

55
http://www.yamaha-europe.com/yamaha_europe/switzerland/service/020_com-
pany/010KANDO_YAMAHA_NEWS/Titelstory_Wie_Yamaha_die_Welt_er-
oberte.pdf.
206 Firmenportraits

nichi Kawakami leitete Yamaha drei Jahrzehnte lang. Nachdem sein Sohn
Hiromi 1983 die Leitung übernahm, führte Genichi bis zu seinem Tod
2002 weiter als ungekrönter „Kaiser“ von Yamaha weiter das Kommando
aus dem Hintergrund56. Er war von der Idee besessen, bei gleicher Klang-
qualität für seine Yamahas den Status eines Steinway zu erreichen. Dies
Ziel bliebt unerreicht, doch gelang es stattdessen Ende der 80er Jahre
Weltmarktführer für Musikinstrumente zu werden und in Japan trotz der
Enge der Wohnungen und der nötigen Schallisolierungen einen substan-
tiellen Markt mit einem Marktanteil von 55% für Yamaha aufzubauen.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass das Unternehmen
schon seit seiner Gründung eine sehr durchdachte, gut umgesetzte und
exzellent kontrollierte Markenstrategie, basierend auf einer weitgehenden
Diversifikationsstrategie, betreibt. Selbstverständlich hat auch Yamaha
stärkere und schwächere Unternehmensbereiche. Insgesamt gelingt es aber
dem Unternehmen, gute Zahlen zu erwirtschaften und seine Markenpolitik
stetig nach dem Markt auszurichten.

9.8.5 Strategische Ausrichtung

In der strategischen Ausrichtung Yamahas ist ein stetiges und nachhaltiges


Wachstum des Unternehmens das primäre Unternehmensziel. Die Firma
versucht kontinuierlich seinen Anteil am Weltmarkt in den einzelnen Be-
reichen zu steigern und hat ambitionierte Ziele für die kommenden Ge-
schäftsjahre. Eine deutliche Expansionsstrategie von Yamaha geht in Län-
der mit hohem Entwicklungspotential wie z.B. Indonesien. Sie wird
angestrebt, da sich im japanischen Heimatmarkt die Nachfrage abschwächt
und in Europa und anderen reifen Märkten die Marktsituation für Yamaha
schwieriger wird.
Die unternehmensspezifische strategische Ausrichtung wird von größeren
Umbrüchen oder Kursänderungen wahrscheinlich verschont werden. Denn
was das Unternehmen Yamaha so erfolgreich macht, ist in erster Linie der
Tatbestand, dass es sich schon immer auf seine unternehmenseigenen, teil-
weise schon historisch bedingten Kernkompetenzen beruft. Für Yamaha
muss Kompetenz in seiner Marke spürbar sein.57 Yamaha stellt nahezu aus-
schließlich Produkte her, die in die absoluten Kernkompetenzen der Unter-
nehmung fallen. Weiter werden massive Investitionen in Forschung und

56
Obituary: Genichi Kawakami. The Economist 8.6.2002.
57
http://www.fronius.com/weld.vision/01_2003/deutsch/der_staerkste_gewinnt_
ohne_ zu_kaempfen.htm.
Yamaha: Motorräder und Musik 207

Entwicklung getätigt, um nachhaltig den Unternehmenserfolg und die stra-


tegischen Wettbewerbsvorteile zu sichern. Fachliche Kompetenz, Knowhow
und beste Qualitätssicherung helfen diese Strategie umzusetzen. Der wesent-
lichste Punkt ist möglicherweise, dass Yamaha-Produkte immer performan-
ce driven sind, d.h. mit einem absoluten Anspruch an Leistungsfähigkeit und
Lebenserwartung gefertigt werden. Aus diesem Grund kommt der For-
schung und Entwicklung auch ein besonders hoher Stellenwert zu.
Die absolute Zufriedenstellung der Kunden ist eine Maxime des Unter-
nehmens. Deswegen befindet sich Yamaha auch immer im Dialog mit den
Kunden, bzw. hat ein Auge auf die neusten Trends und versucht diese mit-
zuentwickeln. Die regional-strategische Ausrichtung ist auch heute noch
sehr nach Europa und den USA gerichtet. Denn gerade hier macht Yamaha
einen hohen Teil seiner Umsätze. Die wesentlichsten Standbeine der Firma
werden auch in Zukunft der Motorenbau und die Herstellung von Instru-
menten, Audioanlagen und Audiogeräten bleiben.

9.8.6 Aktuelle Aussichten

Die aktuellen Aussichten der Firmengruppe Yamaha können durchaus als


positiv bewertet werden. Die Aktie des Unternehmens ist im Jahr 2003 aus
ihrem Seitwärtstrend ausgebrochen und in einen Aufwärtstrend überge-
gangen.58 Dieser positive und nachhaltige Trend verwunderte jedoch Ana-
lysten nicht. Denn das Unternehmen konnte in den vergangenen vier Jah-
ren nicht nur den Umsatz immer dynamischer steigern, sondern auch die
Gewinnentwicklung verbessern.
Diese Entwicklung kommt auch den Aktionären der Yamaha-Gruppe zu
Gute. Allein im vergangenen Geschäftsjahr (2005) legte der Umsatz im
Vergleich mit dem Vorjahr um knapp 36 Prozent auf 1,38 Billionen Yen
zu. Der Gewinn je Aktie konnte um satte 64 Prozent auf 224,4 Yen gestei-
gert werden.59 Mit beiden Werten übertraf das Unternehmen die eigenen
Erwartungen und auch die des Marktes. Der Nettogewinn in den zwölf
Monaten bis Ende Dezember 2005 übertraf die eigene Prognose Yamahas
von 60 Milliarden Yen um 6,7 Prozent.
Für 2006 wird im internationalen Geschäft mit einer leicht überpropor-
tionalen Entwicklung gerechnet, was den leichten Rückgang im Inland
mehr als wettmachen soll. Für die laufenden zwölf Monate des Jahres
rechnet Yamaha mit einem Nettogewinn von 65 Milliarden Yen. Das sind

58
www.faz.net.
59
www.faz.net.
208 Firmenportraits

1,5 Prozent mehr als im Jahr 2005. Der Umsatz dürfte um 5,4 Prozent an-
ziehen auf 1,45 Billionen. Yen. Der Betriebsgewinn wird voraussichtlich
um 11 Prozent auf 115 Milliarden Yen klettern.
Mit Kurs-Gewinnverhältnissen von 12,9 und 12,1 auf Basis der Ge-
winnschätzungen für das laufende und das kommende Geschäftjahr ist die
Aktie noch sehr vernünftig bewertet.
Die Kursentwicklung lässt sich auch logisch erklären. Denn das Unter-
nehmen konnte den Umsatz in den vergangenen zehn Jahren im Trend
immer weiter steigern. In der zweiten Hälfte von 2005 hat sich offensicht-
lich auch die Profitabilität deutlich verbessert. Denn die Gewinne zogen
überdurchschnittlich an.
2004 waren vor allem in Südostasien die Zweiräder des Unternehmens
gefragt, während in Europa der Umsatz mit Außenbordmotoren anzog. Die
Unternehmung, zu dessen größten Konkurrenten Honda Motor und Suzuki
Motor zählen, will vor allem in Südostasien, Nordamerika und Europa
weiter wachsen. Dadurch soll der Anteil am Weltmarkt von 10 Prozent
vom Jahr 2004 bis 2007 auf 12 Prozent ausgebaut werden. Yamaha ver-
kaufte in den ersten sechs Monaten des Geschäftsjahres 2006 1,8 Millio-
nen Einheiten, 1,2 Millionen oder 67 Prozent davon in Asien außerhalb
Japans. In Japan konnten 86.000 und in den Vereinigten Staaten 114.000
Maschinen verkauft werden. Das allein zeigen schon die Relationen. Ex-
perten rechnen vor allem in Staaten wie Indonesien, Thailand, Indien und
auch in Vietnam mit stark anziehender Nachfrage.
Die Nummer zwei der Motorradhersteller weltweit begründet die gute
Entwicklung mit der zunehmenden Nachfrage in Asien. Um ein sich abfla-
chendes Wachstum in Japan und schwieriger werdende Marktbedingungen
in Europa zu kompensieren, expandiert das Unternehmen in den Ländern
Südostasiens.
Zusammenfassend erscheinen die gute Unternehmensführung und die
stetige Gewinnsteigerung Yamahas nachhaltig. Jedoch rechnen Experten
ab 2006 mit einer möglichen Relativierung des Gewinns. Diese Probleme
führen sie auf die Steigerung der Produktionskosten auf Grund steigender
Rohstoffpreise und auf den immer intensiver werdenden Wettbewerb zu-
rück. Denn auch Konkurrenten wie Honda versuchen, vom sich abzeich-
nenden Boom bei Motorrädern zu profitieren und weiten ihre Produktions-
kapazitäten aus. Dies könnte laut Analysten zu einer Situation führen, in
der es zu einem Preiswettbewerb zu Lasten der Margen kommt und folg-
lich die Gewinne aller Marktteilnehmer sinken könnten.60

60
www.manager-magazin.de.
Nomura: Das dritte Leben eines Wertpapierhauses 209

9.9 Nomura: Das dritte Leben eines Wertpapierhauses

Skandale und eine schlechte Presse sind nichts Neues für Nomuras hart-
gesottene Broker. Seit Jahrzehnten fangen sie ihre Laufbahnen mit dem
Klinkenputzen an, um bei Hausbesuchen Kaufaufträge für Wertpapiere
zu ergattern und immer höhere Zielvorgaben zu erreichen. In diesem sehr
unjapanischen Überlebenskampf erreichen nur die härtesten Verkäufer
die Unternehmensspitze. Die Krieger von Nomura schafften es selbst an
der Wall Street, die wahrlich kein Platz für Zartbesaitete ist, einen nach-
haltig schlechten Eindruck zu hinterlassen. Das will einiges heißen. Des-
halb sollte es wenig überraschen, dass Nomuras Aufstieg zu Japans größ-
tem Wertpapierhaus von jeder Menge an Skandalen gepflastert ist, die
von Vorwürfen des Insiderhandels, der Unterstützung von Erpressungen
(greenmail), dem Umgang mit Gangstern und übelbeleumundeten Politi-
kern61 bis hin zum Plündern von Unternehmen im postkommunistischen
Tschechien reichen.
Tokushichi Nomura, der Gründer des Hause Nomura, wurde 1850 als
unehelicher Sohn eines der führenden Samurai von Osaka, dem Herrn der
Burg Osaka, geboren. Im Alter von 10 Jahren wurde er Lehrling bei einem
Geldwechsler und Reisbroker in Osaka, das zu diesem Zeitpunkt Japans
führendes Wirtschafts- und Handelszentrum war. Seine Branche galt zwar
als außerordentlich lukrativ, doch in der besseren Gesellschaft als anrü-
chig. Nach seiner Adoption durch seinen Lehrherrn erbte der junge Nomu-
ra 1872 das Geschäft, das er in Nomura Shoten umbenannte. 1878 wurde
er als Händler an der Börse von Osaka zugelassen. Damals – ebenso wie
noch 100 Jahre später – dienten Bankkredite und Anleihen als die Hauptfi-
nanzierung der Unternehmen. Der Aktienmarkt dagegen wurde als Kasino
tricksender Reishändler angesehen.
Tokushichi Senior selbst blieb dem Aktienmarkt als bessere Spielhölle
weitgehend fern. Sein 1878 geborener Sohn hatte weniger Hemmungen. Er
begann 1898 als Lehrling bei Yasuhiro Shoten, einem neuen Broker, der
von seinem Schwager gegründet worden war. Damals war gerade der Höhe-
punkt des Aktienbooms nach dem siegreichen ersten Sino-Japanischen
Krieg erreicht. Für den jungen Tokushichi war der Reiz schnellen Reich-
tums bald überwältigend. Er nahm 500 Yen, damals ein kleines Vermögen,
aus dem Safe der Firma und kaufte hochspekulative Aktien. Prompt verlor
er alles, auch seine Lehrstelle.

61
Al Alletzhauser. The House of Nomura. London 1990. S. 272.
210 Firmenportraits

Er verkaufte dann Aktien für die Firma seines Vaters, indem er Kunden
in Osaka mit dem Fahrrad besuchte und ihnen brandneue Nachrichten von
der Börse berichtete. Leider stellten sich einige von ihnen als falsch her-
aus, und Tokushichi Senior musste die wütenden Kunden seines Sohnes
entschädigen. Nichtsdestotrotz sollten aggressive Verkaufstaktiken für
Nomura im nächsten Jahrhundert zum Markenzeichen werden. Nachdem
er drei Jahre seines Wehrdienstes bei der Pioniertruppe geleistet hatte,
wurde Tokushichi schließlich 1902 diszipliniert entlassen und wurde als
Prokurist in der Firma seines Vaters für seine Leidenschaft, die Aktienana-
lyse und den Effektenhandel, zuständig. Sein Bruder Jitsusaburo handelte
mit Kupfer, Silber und Gold. Nach ihrer Einschätzung hatte der Geldwech-
sel, der mehr und mehr von Banken geleistet wurde, keine Zukunft für die
Firma. Während des Russisch-Japanischen Kriegs von 1904/05, der einen
neuen Aktienboom auslöste, überredete Tokushichi Junior seinen skepti-
schen, oft betrunkenen Vater, Nomuras Umwandlung in einen Aktienbro-
ker zuzustimmen. Nomura spezialisierte sich bald darauf, Insiderinforma-
tionen von Mitsui Bussan, dem Handelsarm des Mitsui Zaibatsu und von
Nippon Yusen, seiner Schifffahrtstochter, zu erhalten. Dies half Nomuras
neuer Forschungsabteilung sichere Gewinner vorherzusagen. Während der
Aktienkrise von 1907 verbreitete sich der Ruhm von Nomuras analyti-
schen Gaben landesweit. Im Ersten Weltkrieg sah Nomura korrekt eine
Unmenge alliierter Rüstungskäufe in Japan voraus und investierte massiv
in japanische Schifffahrtslinien. 1918 wurde die Osaka Nomura Bank ge-
gründet, die als Daiwa Bank bis 1995 zu einiger internationaler Größe
wuchs (und seither als Teil der Resona Bank halbverstaatlicht ums Überle-
ben kämpft). Die Firma kaufte 1917 auch eine Gummiplantage auf Borneo
und errichtete Verkaufsbüros von Hanoi bis Singapur.
1922 gründete Tokushichi Jr. eine Holding im Familienbesitz, Nomura
Gomei, um im Stil eines Zaibatsu die Bank, die Handelsfirma Nomura
East Indies und andere Beteiligungen zu kontrollieren. Nach dem Wall-
street Crash von 1927 verbreitete sich die Bankenpanik auch nach Japan
und führte dort zum Zusammenbruch des überschuldeten Suzuki Zaibatsu.
Als schließlich wegen grundloser Gerüchte auch seine Osaka Nomura
Bank von einem run bedroht wurde, verflüssigte Tokushichi einen Teil
seines persönlichen Besitzes, um mit seinem Bargeld seine Bankkunden zu
befriedigen, bis sich die Situation wieder beruhigt hatte. In Folge der Krise
nutzte Nomura, ebenso wie Mitsubishi und Mitsui, die Gunst der Stunde,
um den Besitz schwer angeschlagener Zaibatsu wie die Bergwerke, Eisen-
bahnen, Wälder und Versicherungen des Fujita Zaibatsu, preisgünstig zu
erwerben. Mit den Einlagen seiner Bank kaufte er ihre daniederliegenden
Nomura: Das dritte Leben eines Wertpapierhauses 211

Aktien auf, die er nach ihrem Kursanstieg wieder als Sicherheiten für Kre-
dite zu weiteren Käufen nutzte.
In den Zwischenkriegsjahren war die japanische Wirtschaft bekanntlich
von den großen Zaibatsu wie Mitsui, Mitsubishi, Sumitomo und Yasuda
beherrscht. Da ihr Geld älteren Ursprungs war, sahen sie auf die neurei-
chen Parvenüs wie Nomura herab, die ihr Vermögen erst während der Ak-
tienspekulationen des Ersten Weltkriegs verdient hatten. Dennoch wurde
Tokushichi 1928 im Alter von 50 Jahren von Kaiser Hirohito in das Ober-
haus ernannt, vermutlich weil er einer der besten Steuerzahler Japans war.
Während die meisten Zaibatsu sehr interessiert daran waren, in die japa-
nischen Eroberungen in China zu investieren und davon zu profitieren, war
Nomura gegen die militärische Expansion, behielt jedoch tunlichst ein
niedriges Profil. Stattdessen zog es Nomura East Indies eher zu tropischen
Produkten.
Im Prinzip aber blieb Nomura sehr kansai-zentrisch, in sicherer Entfer-
nung von den Korridoren der Macht in Kanto. Sogar heute haben die
Nachfolgerfirmen der Teilunternehmen des einstigen Nomura zaibatsu –
Resona Bank, Cosmo Securities, Osaka Gas, Nomura Construction und
Shikobo – ihre Zentrale in Osaka.
Wie in vielen Elitefamilien mit ihren schellen, abwechslungsreichen Le-
bensstilen, kam es oft zu tragischen Unfällen. So starb Bruder Jitsusaburo
1919 an einer Lungenentzündung. Tokushichis zweiter Sohn wurde bei
einem jener raren Zusammenstöße zwischen Auto und Eisenbahn getötet.
Zusammen mit Daisuke Kuhara, dem Erben des Nissan Zaibatsu, wurden
sie 1928 an einem Bahnübergang im Wagen von einem Zug erfasst. Zwei
Jahre später wurde Jitsusaburos ältester Sohn beim Schifahren in den japa-
nischen Alpen von einer Lawine getötet. Yoshitaro, sein ältester und einzig
überlebender Sohn, hatte eher kulturelle Neigungen und gab sich nach
einem einjährigen Studium in Großbritannien vollzeitlich den kultivierten
Freizeitvertreiben der englischen Oberschicht hin. Er richtete den Nomura
Club ein, in dem Zaibatsu-Direktoren die Sitten und Gebräuche eines der
besseren Londoner Clubs in Tokyo nachleben konnten.
Obwohl alle überlebenden und fähigen männlichen Familienmitglieder
in Spitzenfunktionen befördert worden waren, musste Nomura schon in
der Vorkriegszeit sich zunehmend auf angestellte Manager verlassen. Die
beiden einflussreichsten waren Tsunao Okumura, ein freundlicher Lebens-
künstler, und Minoru Segawa, ein harter, ergebnisorientierter Choleriker.
Beide bauten Nomura Securities nach dem Krieg wieder auf und führten
ihren Wachstumskurs bis in die 70er Jahre an.
212 Firmenportraits

Während der Kriegs selbst verdiente Nomura mit dem Verkauf von
Kriegsanleihen. Es führte auch anfänglich erfolgreiche Aktienfonds ein.
Nomuras Gummi- und Palmölplantagen und -raffinerien in Borneo und
Sumatra mussten nach den unwirtschaftlichen Vorgaben militärischer Auf-
träge betrieben werden. Während des Kriegs brachten sie keine finanziel-
len Erträge. Danach wurden sie durch alliierte Beschlagnahmungen dauer-
haft verloren.
Japans Militärplaner waren von der Idee von Skalenerträgen beherrscht
und wollten in der Kriegswirtschaft zwangsweise Fusionen in allen Wirt-
schaftsektoren durchsetzen. Nomura Securities konnte seine Unabhängig-
keit nur knapp verteidigen. Nach der kriegsentscheidenden Seeschlacht
von Midway 1942 sah die Forschungsabteilung von Nomura in aller Ver-
traulichkeit Japans Niederlage vorher und die Firma begann in aller Heim-
lichkeit, sich auf die Eventualitäten dieser Katastrophe vorzubereiten, un-
ter anderem durch den diskreten Verkauf entsprechend gefährdeter Aktien.
Der kriegsbedingte Stress begann auch bei privilegierten Zivilisten seine
Opfer zu fordern. Im Januar 1945 starb Tokushichi an einem Herzinfarkt.
Nachdem sein Haus in Kobe bei einem Bombenangriff zerstört worden
war, starb sechs Monate später auch sein ältester Sohn nach längerer
Krankheit. Darauf wurde Fumihide Nomura, dessen 12jähriger Sohn, für
einige Monate nomineller Chef des Zaibatsu und des Familienklans. Als
der Krieg endete, kontrollierte sein Zaibatsu Japans achtgrößte Bank (No-
mura Bank). Nomura Life Insurance war unter den Lebensversicherern auf
Platz 5, Nomura Trust and Banking auf Platz 6. Nomura Securities war der
größte Fundmanager, Osaka Gas einer der größten Energieversorger.
Im festen Kinderglauben an die eigene Propaganda, die das japanische
Großkapital und die Großgrundbesitzer – eine Variation des KPD-Themas
„Schlotbarone und Krautjunker“ –, für den Ausbruch des Pazifikkrieges
und seine Kriegsverbrechen verantwortlich machte, befahlen die US Be-
satzer, wie erwähnt, die Entflechtung und Enteignung der 14 führenden
Zaibatsu, sowie die Säuberung der Eignerfamilien aus allen Führungsposi-
tionen und die Beschlagnahme ihres persönlichen Besitzes. Wegen der
Komplexität der Zaibatsu-Strukturen und ihres versteckten Kapitals, wurde
die Umsetzung jener vulgärmarxistischen Instruktion den Japanern selbst
überlassen. So gelang es den meisten Zaibatsu-Familien z.B. ihren Wald-
besitz zu behalten, den die US Offiziere für wertlos hielten.
Bald begannen die früheren Zaibatsu-Firmen, gegenseitig die Aktien
aufzukaufen, um sich gegen Übernahmen zu schützen und ihre Zusammen-
arbeit in einem Gruppen-System (Keiretsu-System) der Überkreuzbeteili-
gungen zu erneuern, das für Japans zeitgenössischen Kapitalismus so
Nomura: Das dritte Leben eines Wertpapierhauses 213

prägend werden sollte. Die Fragmente des persönlichen Besitzes der Nomu-
ra wurden heimlich in Nomura Construction gesammelt. Dennoch gelang
es nicht, wie im Fall von Sumitomo oder Mitsubishi, den gesamten ehe-
maligen Nomura Zaibatsu wieder als Keiretsu zu vereinen. Daiwa Bank
wurde von einer auf ihrer Unabhängigkeit bestehenden Leitung kontrol-
liert. Sie richtete ihren eigenen Banken-Keiretsu ein, der bis in die 90er
Jahre Bestand haben sollte. Auch Osaka Gas und Nomura Life (jetzt: Tokyo
Mutual Life Insurance) gingen eigene Wege.
Für die Rekonstruktion von Nomura Securities waren die politischen
Kontakte des neuen Vorstandes, Tsunao Okumura (1948-59), hilfreich, vor
allem seine Freundschaft und Sonderbehandlung von Premier Shigeru
Yoshida und von Finanzminister (und späteren Premier) Hayato Ikeda,
die von Okumura selbst in Zeiten der rationierten Knappheiten zu Geisha-
parties in Kyoto und zu Flaschen von edlem Whisky in Tokyo eingeladen
wurden. Mutmaßlich noch wichtiger hat er ihnen ihre Wahlkämpfe finan-
zieren helfen. Das Ergebnis war ein unbesteuerter und ziemlich unregulier-
ter Markt für Wertpapiere in Japan, in dem die einheimischen Wertpapier-
häuser gut leben konnten, oft mit Hilfe von Insiderwissen und auf Kosten
ihrer Kunden.
1953 konnte Nomura sein 1936 in New York geschlossenes Büro wieder
eröffnen. Es konnte bald Toshiba-Aktien, die General Electric abstoßen
wollte, in freundliche japanische Hände platzieren. Ebenso ein Aktien-
paket der Mitsui Bank. Ansonsten hatte Nomuras Brückenkopf an der
Wallstreet in jenen frühen Jahren Schwierigkeiten schwarze Zahlen zu
schreiben. Amerikanische Angestellte verließen die Firma bald, nachdem
sie entdeckten, dass Karrierechancen für Ausländer bei Nomura ziemlich
begrenzt waren.
1982 begann Nomura ausländische MBA von prestigiösen amerikani-
schen und britischen Business Schools für ihre Managementlaufbahn (sogo
shoku) einzustellen. Doch anstelle ihnen verantwortliche Jungmanagerauf-
gaben zu geben, wie dies jungdynamische MBAs gerne erwarten, wurden
sie statt dessen auf japanische Art in Nomuras abgewohnten Wohnheimen
in Funabashi, einer industriellen Vorstadt im Norden Tokyos eingesperrt,
und der üblichen Mischung von Militärlager und Vorlesungen unterzogen.
Bald begann der hoffnungsvolle Führungsnachwuchs zu rebellieren, sah
seinen Aufenthalt in Japan als bezahlten Urlaub an und funktionierte sein
Wohnheim zum Partykeller um. Auch diszipliniertere spätere Generationen
verließen Nomura bald.
Wie in den Tagen von Tokushichi Nomura Senior vor 100 Jahren wird
der Aktienverkauf an Endkunden in Japan durch Klinkenputzen und
214 Firmenportraits

Kundenbesuche im Stil von Tupperware und Yakult betrieben (in Japan


bringen 50.000 Yakult-Ladies auf allmorgendlichen Fahrradtouren die
bakteriellen Milchbecher ihren Kunden zum Frühstück). Das ist so unge-
wöhnlich nicht, wenn man sich an das Wachstum des Bertelsmann Imperi-
ums durch Buchklubdrückerkolonnen und von Allianz durch Vertreterbe-
suche erinnert.
Eine aggressive – oder oft einfach verzweifelte – Verkäufertruppe ist
weiter in der Lage, fast jede Kaufempfehlung des Monats bei ihren 200.000
Firmenkunden und 5 Millionen Individualkunden durchzusetzen. Damit
werden die Ersparnisse der Japaner wieder effektiv der Wirtschaft zugeführt.
Die Verkaufsleistung der einzelnen Verkäufer und ihrer Büros wird fort-
laufend eng überwacht. Neue Verkaufsziele orientieren sich an Bestleis-
tungen und liegen stets über den Verkaufsleistungen der Vergangenheit.
Alle drei Jahre wird das gesamte Personal ohne Vorwarnung befördert,
degradiert oder versetzt. Die Bezahlung bei Nomura gilt als sehr gut. In
den 80er Boomjahren war die Firma trotz ihrer etwas dubiosen Reputation
bis 1992 unter den beliebtesten Arbeitgebern der jungen Hochschulabsol-
venten. Nach den Motto „rau aber herzlich“ werden die frischen Rekruten
bald ins tiefe Wasser geworfen. Knapp angelernt, bekommen sie den Auf-
trag eine Quote von Visitenkarten von Neukunden zu sammeln und diese
mit Telefonaten für Kaufaufträge umzusetzen. Oft wird ihnen gesagt, sie
bräuchten nicht ins Büro oder ihre Wohnheimstelle zurückkommen, solan-
ge die Quote nicht erfüllt ist. In ihrer Verzweiflung bearbeiten viele ihre
Verwandtschaft. Es gibt jedoch auch in Japan für nette Onkels Grenzen,
wie oft sie ihr Depot nach den Empfehlungen ihrer 22jährigen Neffen um-
wälzen. Nachdem sie drei Jahre Börsenseminare und Lektionen im Haus-
türverkauf in der Business School des richtigen Lebens überlebt haben,
sehen sich die Nomura Trainees nach und nach in selbstbewusste abgehär-
tete Verkaufsprofis transformiert, die fähig und willens sind, die Regeln
der harten Arbeit und des harten Vergnügens der japanischen Geschäfts-
welt effektiv zu spielen.
Nomura rekrutiert auch Frauen. Aber ihre Aufgabe ist hauptsächlich,
hübsch und verständnisvoll zu sein, grünen Tee zu servieren, Fotokopien
zu machen und die müden Firmenkrieger aufzumuntern, bis sie schließlich
einen von ihnen heiraten. In jedem Fall wird von ihr dann erwartet, dass sie
für die lange Zeit, die er für die Arbeit und die Kundenbesuche aufwenden
muss, stets liebevolle Nachsicht zeigt.
Verlässliche Informationen, vor allem dann, wenn sie aus Insiderquellen
stammen, sind ein wertvolles Gut im Aktienhandel. Bei Nomura werden
sie von dem mächtigen Chefhändler kontrolliert. Laut Alletzhauser werden
Nomura: Das dritte Leben eines Wertpapierhauses 215

todsichere Tipps zuerst dem eigenen Spitzenmanagement zugespielt, damit


es im Namen von engen Freunden und Verwandten kaufen und verkaufen
kann62. Sodann werden einflussreiche Politiker und befreundete Institutio-
nen versorgt, bis die Nachricht schließlich den Nomura-Verkäufer auf der
Straße erreicht. Gelegentlich bekommen auch Unterweltfiguren einen hilf-
reichen Tipp. Dies ist nicht ohne Risiko. Denn Yakuza zeigen sich bei
Börsenverlusten außerordentlich ungehalten. So schlugen sie einmal ihren
unglücklichen Nomura-Kundenbetreuer tot. In jedem Fall bestehen sie auf
voller Verlustentschädigung.
Als Nomura 1981 mit einem Marktanteil von 15% an eine gewisse Decke
stieß, deren Erhöhung immer mühsamer und teurer wurde, gründete es als
Tochtergesellschaft Kokusai Securities als nominellen Mitwettbewerber und
faktisch abhängigen Bundesgenossen. Kokusai hatte den zusätzlichen Vor-
teil als Endlagerstätte für ausgebranntes Verkaufspersonal und zweitrangiges
Management. Es war deshalb keine Überraschung, als die Gewinne und
Dividenden von Kokusai ärmlich blieben. Seine Hauptaufgabe war es No-
muras Gesamtmarktanteil auf über 20% zu heben. An jedem Montag erhiel-
ten Kokusai und andere kleinere mit Nomura verbundene Wertpapierhäuser
wie World, Itogui, Takagi, Ichiyoshi, Taisei, Nichiei und Sanyo Securities
Instruktionen, welche Aktien und Sektoren Nomura beflügelt sehen wollte –
wobei Nomura stets den Anfangsvorteil wahrnahm. Seine Kauf-/Verkaufs-
empfehlungen wurden damit damals fast zu sich selbsterfüllenden Prophe-
zeiungen – zumindest für den beabsichtigten Zeitraum. Während der 80er
Jahre, als man an der Tokyoter Börse eigentlich nichts falsch machen konnte,
wuchsen die Gewinne auch von Kokusai gewaltig als Kommissionsein-
kommen von immer inflationierteren Wertpapierpreisen. Nach 1992 war das
Erwachen und der Absturz in die roten Zahlen umso herber. Nachdem
Kokusai von der Finanzaufsicht FAS und der Börsenaufsicht mit je über
50 Millionen Yen Strafzahlungen wegen lügenhafter Auskünfte abgestraft
wurde, fusionierte es 2002 mit Tokyo Mitsubishi Securities.
Neben seiner Rolle als Wertpapierhaus führte Nomura noch andere Rol-
len in der oft undurchschaubaren Schattenwelt der japanischen Hochfinanz
aus. So versuchten Anfang der 80er Jahre Shintaro Sasaki, der Besitzer von
Japan Sightseeing, und sein Sohn Eitaro Itoyama, ein LDP-Abgeordneter,
mit Hilfe von Ryoichi Sasagawa, dem Paten des Motorbootrenngeschäfts,
Japans größte Tageszeitung Yomiuri Shimbun zu übernehmen. Nomura
kam der befreundeten Zeitung zu Hilfe und zahlte in einer Form von green-
mail die unerwünschten, dubios reputierten Übernahmeaspiranten aus.

62
Ibid., S. 206.
216 Firmenportraits

Noch schlimmer wurde 1985 aktenkundig, dass Nomura nicht zum ers-
ten-, und sicher nicht zum letzten Mal erpresserische sokaiya bezahlt hatte.
Politisches Wohlwollen wurde (und wird) üblicherweise gekauft, indem
auf Rechnung befreundeter Politiker Aktienpakete gekauft werden, die
dann durch Kaufempfehlungen hochgejubelt und schnell genug verkauft
werden, bevor das Strohfeuer wieder erlischt. Während des Sommers 1991
wurde öffentlich, dass Nomura während des beginnenden Kurseinbruches
49 Firmenkunden, darunter etliche Unterweltfirmen, für Kursverluste mit
Beträgen in Höhe von 220 Millionen US-Dollar entschädigt hatte63. Als
Sühne traten Aufsichtsratschef Setsuya Tabuchi (Nomura-Vorstand von
1978-85) und Vorstand Yoshihara Tabuchi (1985-91) zurück. Setsuya Ta-
buchi musste auch seinen Vizevorsitz im Wirtschaftsverband Keidanren
räumen64. Der neue Nomura-Vorstand Hideo Sakamaki gelobte feierlich,
Nomura würde sich ändern und hinfort aufhören, das organisierte Verbre-
chen zu sponsern.
Sechs Jahre später im Mai 1997 wurde er verhaftet, weil er fast seit dem
Tag seiner Amtsübernahme genau jene verbotene Praxis fortgesetzt hatte.
Ryuichi Koike, ein einflussreicher sokaiya, hatte dank eines großzügigen
Großkredits von der damals größten Bank Japans und der Welt, der Daii-
chi Kangyo Bank (DKB), Aktienpakete der führenden Wertpapierhäuser
erworben. Er kündigte Sakamaki an, als Großaktionär werde er die nächste
Jahrsversammlung durch unangenehme Fragen stören, ein alptraumartiger
Gesichtsverlust für die hasenfüßige Chefetage. Im April 1992 trafen sich
die beiden persönlich. Als Ergebnis verlief die Hauptversammlung in
wundersamer Harmonie. Daraufhin zahlte Nomura 3 Millionen US-Dollar
auf ein Sonderkonto von Koike65.
Zwei Jahre später gab es einen erneuten Rückfall. Nomura war gezwun-
gen, seinen ersten Jahresverlust zu verkünden. Gleichzeitig wollte man die
beiden Tabuchi rehabilitieren, indem man sie in den Aufsichtsrat kooptier-
te. Koike wurden daraufhin 400.000 US-Dollar gezahlt, damit er mit sei-
nen Leuten eine ruhige Hauptversammlung gewährleistete. Als Nomuras
Rückfall und Sakamakis Verhaftung (er erhielt später eine Bewährungs-
strafe) bekannt wurden, verließ die Kundschaft im In- wie Ausland das
anrüchige Wertpapierhaus in Scharen. „Als Reaktion ist das kaum überra-

63
Japan Times 18.7.1991.
64
Japan Times 2.7.1991.
65
Kenji Hanyu. TBS News/Foreign Press Centre 16.6.1997.
Nomura: Das dritte Leben eines Wertpapierhauses 217

schend, wenn man herausfindet, dass der eigene Broker seinen Gewinn mit
Gangstern teilt“, wurde ein Investmentmanager in Hongkong zitiert66.
Gleichzeitig begannen amerikanische und europäische Wettbewerber in
Nomuras ureigenstes Territorium einzudringen, so beim Verkauf der Nip-
pon Credit Bank, des Aktiengangs von NTT Docomo, und etlicher Unter-
nehmensübernahmen in Japan67. Der Zugriff der Ausländer auf Japans 10
Trillionen US-Dollar privater Ersparnisse und 2 Trillionen US-Dollar Pen-
sionskassen schien in Reichweite. Zu diesem Zweck kaufte etwa Merill
Lynch 1998 die zusammengebrochenen Yamaichi Securities und ihr
Netzwerk an Zweigstellen. Damals verkündete die Daiwa Bank, Nomuras
Stiefschwester, reumütig, sie würde alle internationalen Operationen ein-
stellen und wieder zu ihrer angestammten Rolle als Regionalbank in Kan-
sai zurückkehren68. Sie hatte vorher Finanzgeschichte gemacht, als ein
unkontrollierter Währungshändler, Toshihide Iguchi, 1,1 Milliarden US-
Dollar an ihrer New Yorker Filiale verlor. Wegen des Versuchs, die Affai-
re zu vertuschen (auch dies ein instinktiver japanischer Managementre-
flex), musste Daiwa (die jetzt als Teil der Resona Bank verschwunden ist)
der US-Finanzaufsicht 340 Millionen US-Dollar Strafe zahlen.
In der Zwischenzeit kaufte Nomura im März 1998 billig eine Aktien-
mehrheit in der großen, aber schlecht geführten Investitions- und Postbank
(IPB) in Prag. Man hatte den Tschechen versprochen, dass man die Bank
restrukturieren, die Angestellten schulen und die unbedienten Schulden
aussortieren und entsorgen würde. In Wahrheit war Nomura nur an den
umfangreichen industriellen Beteiligungen der IPB interessiert: unter ande-
rem die großen Radegast- und Pilsener-Urquell-Brauereien sowie Luxus-
hotels in Prag, die es nach Art einer feindlichen Übernahme teuer einzeln
verkaufte, während es die unterkapitalisierte Bank gegen die Wand laufen
ließ69. Nach einem massiven run von Einlegern auf die Bank renationali-
sierte der tschechische Staat die IPB und beendete sein teures Abenteuer
mit Nomura. Die Financial Times nannte Nomuras Verhalten, als „unter
den Standards, die man von einer Großbank erwartet“70.
Als Gerüchte über eine ausländische Übernahme Nomuras immer lauter
wurden, wählte Nomura als Vorstand den damals 51jährigen Junichi Ujiie,

66
Asiaweek 21.3.1997.
67
„The Eclipse of Nomura“ Financial Times 1.7.1999.
68
BBC News 25.10.1998.
69
Ausführlicher in: Albrecht Rothacher. Im wilden Osten. Hamburg 2002. S. 209.
70
Financial Times 22.6.2000.
218 Firmenportraits

der an der Universität Chicago promoviert hatte und den Großteil seines
Arbeitslebens bei Nomura in New York und in Zürich verbracht hatte –
und damit kein typischer Führungsnachwuchs war. Zunächst als machtlo-
ser Intellektueller abgeschrieben, schaffte er den Umschwung gegen alle
Widrigkeiten. Die aggressive Unternehmenskultur des Geschäfts um jeden
Preis wurde modifiziert. Sokaiya-verdächtige Verbindungen und Konten
wurden beendet. Langsam kehrte öffentliches Vertrauen zurück. Bei Un-
ternehmenskäufen und -übernahmen, als Investmentbanker und bei Akti-
enfonds ist Nomura in Japan wieder Marktführer, zumal ausländische
Wettbewerber sich wieder zurückziehen. Auch seine Haustürgeschäfte
wurden wieder profitabel, da die japanischen Sparer in ihrer Verzweiflung
über den in Japan gebotenen Nullzins die von Nomura angebotenen US-
amerikanischen und australischen Anleihen zu zeichnen begannen71. Als
Ergebnis konnte Ujiies Nachfolger Nobuyuki Kaga wieder internationale
Expansionspläne schmieden72.
Nomuras aggressiver Aufstieg aus bescheidenen Verhältnissen, sein
zweimaliger Hochmut und Fall 1945 und 1997 und sein geläuterter Wie-
deraufstieg seither, hat sicher die Elemente einer moralischen Parabel.
Diese hilft aber auch die Stärken und Schwächen des japanischen Mana-
gements in Siegen und Niederlagen deutlich zu machen.

9.10 Kikkoman: Soßen für die Welt

Kikkoman ist heute der größte Sojasoßenhersteller der Welt, der mit
6500 Mitarbeitern einen Jahresumsatz von 3 Milliarden US-Dollar in 100
Ländern erwirtschaftet. Es ist damit die erfolgreichste unter den wenigen
japanischen Firmen des Nahrungs- und Getränkesektors, die international
in nennenswertem Maße aktiv sind. Es gelang Kikkoman dabei, seine
Sojasoßen zu Würzmitteln der Weltküche zu machen, die über die tradi-
tionellen Anwendungen in chinesischen und japanischen Gerichten weit
hinausgehen.
Der Gründungsmythos von Kikkoman besagt, dass die Herstellung der
Soße in Noda am Edo-Fluss nahe Tokyo begonnen wurde, als Shige Maki,
die tüchtige Urmutter des Klans, nach einem knappen Entkommen aus der
belagerten Burg von Osaka in den Bürgerkriegswirren des 17. Jahrhun-
derts sich dort als Heimatvertriebene ansiedelte. In jedem Fall ist gut do-

71
Businessweek 7.4.2003.
72
Bloomberg 31.7.2003.
Kikkoman: Soßen für die Welt 219

kumentiert, dass ab 1661 der Mogi-Takanashi-Klan in Noda, damals eine


Kleinstadt in der ländlichen Chiba-Präfektur, shoyu (natürliche Sojasoße)
zu brauen begann73. Es war eines jener typischen Gewerbe, die sich im
Japan der Tokugawa-Ära zu ländlichen Industrien entwickeln begannen,
als die Urbanisierung den Bedarf für halb-industriell gefertigte Textilien,
Töpferwaren und verarbeitete Lebensmittel stark steigen ließ. Das nahe
Tokyo war schon im 18. Jahrhundert zur größten Stadt der Welt geworden.
Jedoch blieben die Produktionsmethoden unübersehbar vormodern. Bis zur
Meiji-Zeit (die 1868 einsetzte) übten die Mogi als Eigner kaum je Mana-
gementfunktionen aus. Vorarbeiter betreuten die dezentralen handwerkli-
chen Produktionsvorgänge und überwachten die Tagelöhner, die je nach
Arbeitsanfall kurzfristig eingestellt wurden. Eine separate Verwaltung
machte die Abrechnungen und den Verkauf. Diese halbautonome und nur
lose koordinierte Struktur überdauerte bis Anfang des 20. Jahrhunderts.
Ein erster Schritt in Richtung eines konsolidierten Managements durch
die Eigner wurde 1887 getan, als ein örtliches Kartell, die Noda-Shoyu-
Brauervereinigung, als Reaktion auf die Überversorgung und den exzessi-
ven Wettbewerb auf dem Markt von Kanto gegründet wurde. Dort hielten
die Produzenten aus Noda einen Anteil von 5-10%. Das Kartell würde
während der nächsten 30 Jahre gemeinsame An- und Verkaufspreise, Löh-
ne und Transportmodalitäten nach Tokyo, ihrem Hauptabsatzmarkt, ver-
einbaren. 1911 baute das Kartell einen Eisenbahnanschluss nach Noda und
erschloss damit den Zugang zum gesamtjapanischen Markt.
Mittlerweile erkannte der Mogi-Takanashi Klan, dass der Einsatz von
moderner Fermentationstechnologie, die einen größeren Ausstoß und ge-
ringere Produktionskosten ermöglichte, eine effektivere Koordination und
hohe Betriebsinvestitionen benötigte. Deshalb verließen die neun Klanfa-
milien 1917 das Kartell, fassten die verschiedenen saisonal arbeitenden
handwerklichen Produktionsanlagen in einer dauerhaft produzierenden
Fabrik zusammen, gründeten ihre eigene „Noda Shoyu Corporation“ und
wählten Kikkoman als die erfolgreichste Shoyu-Sorte unter den verschie-
denen Familienprodukten zum Markenführer der neuen Firma aus. Die
Fusion schuf den damals bei weitem größten Sojasoßenhersteller in Japan.
Seine Aktien und Direktorenstellen wurden ausschließlich unter den
Hauptfamilien des Klans verteilt, die alle seit Jahrhunderten durch Zwi-
schenheiraten eng miteinander verwandt waren.

73
Siehe: Mark W. Fruin. Kikkoman: Company, Clan and Community. Cambridge,
Mass. 1993.
220 Firmenportraits

1925 wurde das System der traditionellen Vorarbeiter abgeschafft und


durch formalisierte industrielle Arbeitsstrukturen ersetzt, bei denen frisch
rekrutierte Manager strenge Kontrollen und Arbeitsdisziplin einführten.
Diese Zeit des Systemwandels fiel mit der Entwicklung der Gewerk-
schaftsbewegung zusammen, die sich damals auf die Nahrungsmittelin-
dustrie als Japans zweitgrößtem Industriesektor konzentrierte. In der noch
größeren Textilindustrie arbeiteten hauptsächlich junge Näherinnen, die
abends in Firmenwohnheimen eingesperrt waren, zu denen die Gewerk-
schaftssekretäre keinen Zugang hatten. Die Shoyu-Brauer von Noda wur-
den von Sodomei, einer sozialdemokratischen Gewerkschaft, organisiert.
Weil sie die aggressive Modernisierung ablehnten, kam es 1923 zu einem
einmonatigen Streik, der vom Gouverneur von Chiba mit einem für beide
Seiten gesichtswahrenden Kompromiss beendet werden konnte. Vier Jahre
später sollte der große Streik von Noda in Japan Sozialgeschichte machen.
Die Sodomei-Gewerkschaftsleitung von Noda, die 1500 von 2000 Arbei-
tern rekrutiert und eine umfangreiche Streikkasse aufgefüllt hatte, fühlte
sich von radikaleren Gewerkschaftlern herausgefordert und von den
Lohnkürzungen der Mogi-Firmenleitung provoziert. Der Streik dauerte
218 Tage und endete in einer totalen Niederlage. Der Gewerkschaft war
das Geld ausgegangen, während die Firmenleitung es schaffte, durch
Auftragsproduktionen in nichtgewerkschaftlich organisierten Betrieben
und durch die Einstellung neuer Arbeitskräfte den Ausstoß von shoyu
unverändert zu halten. Die Lohnforderungen wurden zurückgezogen, die
Gewerkschaft aufgelöst und die meisten ausgesperrten Arbeiter nicht
wieder eingestellt.
Erst nach dem Ende dieses Streiks – und als die neue nationalistische
Regierung von General Tanaka die Einheit der Volksgemeinschaft be-
schwor – begann das Mogi-Management eine bewusste „Firmenfamilien-
Politik“. In den 30er Jahren wurden für die Stammarbeiter paternalisti-
sche Fürsorgeeinrichtungen und senioritätsorientierte Lohnsysteme ein-
geführt. In jenen Jahren hatte sich die Noda Shoyu Corporation in eine
Art ländlichen zaibatsu entwickelt. Er wurde von einer klanbeherrschten
Holding geleitet, enthielt eine örtliche Bank, eine Transportfirma, eine
Eisenbahn, Fabriken in Korea und der Mandschurei, exportierte nach
Hawaii und die US-Westküste und dominierte das Städtchen Noda als
ihrem Firmensitz mit damals 20.000 Einwohnern. Während des Krieges
produzierte das Unternehmen weiter und konnte seinen Klanbesitzern
sogar weiter Dividenden zahlen.
Nach dem Krieg erzwang die Anti-Zaibatsu-Politik der US-Besatzer
den Verkauf der Holding, nahm den Chefs der Klans die Möglichkeit ihre
Kikkoman: Soßen für die Welt 221

strengen Klanregeln gegenüber Familienmitgliedern länger durchzusetzen,


und brachte der Firma eine neue Gewerkschaft. Dennoch schaffte es der
Klan, einige der neuen Regeln elegant zu umgehen. Als die Fair Trade
Commission als Wettbewerbsbehörde die Firma wegen Preisabsprachen
als Kartellführer schuldig sprach, reagierte sie, indem sie ihr gesamtes Ver-
triebssystem aufkaufte und die Preise innerbetrieblich regelte. Die Firmen-
leitung wird weiter ausschließlich durch Mitglieder des Mogi-Takanashi-
Klans ausgeübt, die 25% der Aktien halten. Weitere 20% werden von
freundlichen Unternehmen wie der Mitsubishi Bank und der Nihon Seimei
Versicherung kontrolliert. Nur die Beziehungen zur Firmengewerkschaft
entwickelten sich für die Nachkriegszeit unüblich. Sie begann 1946 als
eine vom Management kontrollierte Firmengewerkschaft, wurde 1949 je-
doch sozialistisch und blieb es während der nächsten Jahrzehnte. In den
frühen 60er Jahren gelang es der Gewerkschaft und der örtlichen sozialisti-
schen Partei sogar die Bürgermeisterwahlen von Noda zu gewinnen. Damit
trennten sich die Wege der Stadt und der Firma, die sich 1964 in „Kikko-
man Shoyu“ und 1980 in „The Kikkoman Corporation“ umbenannte und
heute die meisten Geschäfte von Tokyo aus leitet.
Mit der Verwestlichung der japanischen Essgewohnheiten begann die
Nachfrage nach Sojasoße und ihr Prokopfverbrauch abzunehmen. Bis 1962
reagierte die Firmenleitung, indem sie in dem kontraktierenden Markt ein-
fach konkurrierende Produzenten und ihre Marktanteile aufkaufte. Dann
übernahmen adoptierte Söhne den Vorstand und verfolgten eine innovati-
vere Strategie für das Überleben des Unternehmens. Sie förderten den ü-
berseeischen Absatz an nichtjapanische Verbraucher mit dem strategischen
Ziel eine internationale Allzweck-Würzsauce durchzusetzen und sicherten
die US-Marktversorgung durch die Eröffnung einer Produktionsstätte in
Wisconsin 1972. Das neue Management diversifizierte sowohl in traditio-
nelle japanische Produkte wie sake (Reiswein), shochu (einen wodkaarti-
gen klaren Schnaps), ume-shu (Pflaumenweine) und andere Würzsoßen,
als auch in den Vertrieb importierter Markenartikel wie Ketchups, Säfte,
Fertigsuppen, Weine und Weinbrände. Anfang der 80er Jahre stammten
60% des Umsatzes immer noch von Shoyu (bei dem Kikkoman einen
Marktanteil von 40% in Japan hielt).
Für eine effektive Exportstrategie war Kikkoman (ebenso wie der Rest
der Nahrungsmittelindustrie) von dem hohen Protektionsniveau, das die
agrarischen Rohstoffe in Japan enorm verteuerte, und den Liefermonopo-
len der Agrargenossenschaften (nokyo) behindert. Deshalb wurde 1969
JFC International mit Sitz in San Francisco gekauft, das dort mit 8500
Produkten eine nahezu komplette Palette aller asiatischen Nahrungsmittel
222 Firmenportraits

verarbeitet und unter dem Markennamen Dynasty vertreibt. Seit 1963 ist
Kikkoman Importagent für Del Monte in Japan. 1990 erwarb es die Ver-
triebsrechte für alle Del-Monte-Produkte im ganzen Ostasien-Pazifik-Raum
(außer den Philippinen). Damit wurde Kikkoman stark bei Fruchtsäften,
Ananas- und Pfirsichkonserven, Tomatenketchup und Rosinen. Im Gegen-
satz zu vielen japanischen Firmen blieben Kikkomans Diversifikationen auf
den eigenen Sektor, Nahrungsmittel und Getränke, beschränkt. Seine inter-
nationale Expansion erfolgte graduell während etlicher Jahrzehnte und ver-
mied damit das teuere Lehrgeld vieler schlecht vorbereiteter Mitbewerber in
den Boomjahren vor 1992, die ziel- und sinnlos überteuerte Auslandsunter-
nehmen aufkauften und unverbunden zu sammeln begannen74.
Als die Spekulationsblase schließlich platzte, überlebte Kikkoman unbe-
schadet, hatte es doch ein frühes Warnsignal erleiden müssen, aus dem die
Firma jedoch rechtzeitig die richtigen Konsequenzen zog. Mitte der 80er
Jahre verkaufte es in Japan seine Weinmarke „Mann’s Wine“ als teuren
Qualitätswein in der sicheren und nicht ganz unbegründeten Erwartung,
dass es mit den Weinkenntnissen seiner zahlungskräftigen Kundschaft
nicht allzuweit her war. Unglücklicherweise wurde damals das Frost-
schutzmittel Glykol in vermeintlich edlen österreichischen Spätlesen
entdeckt, die mit Gänsewein gewinnträchtig gestreckt worden waren.
Peinlicherweise fand sich Glykol dann auch in den teuren Mann’s Wei-
nen, die sich dann als das herausstellten, was sie wirklich waren: billige
Mischungen vom importierten Fassweinen, die bei dubiosen Händlern
zusammengekauft, in Japan gesüßt in aufwendig etikettierte Flaschen
abgefüllt worden waren.
Darauf führte Kikkoman (ähnlich wie die Österreicher) strenge Quali-
tätskontrollen ein, ließ eine Reihe von Mogi-Managern zur Buße zurück-
treten (was die Verjüngung der Firmenleitung erleichterte) und baute
schließlich Mann’s wieder zu einem trinkbaren anständigen Tafelwein auf.
Aktuell gilt als strategische Orientierung das Wort des Vorstandes Yu-
zaboru Mogi: „Wir wollen unsere weltweite Expansion durch neue Ferti-
gungsstätten stärken, die uns erlauben unsere Produkte effizienter zu den
Kunden zu bringen, während wir weitere strategisch vielversprechende
Märkte suchen“75.

74
Albrecht Rothacher „Japanese Expansion: Threat or Benefit“ in: Food Europe.
Sommer 1992, 18-22; und ders. „Japan’s Food Industry – International Fare“
in: Journal (American Chamber of Commerce in Japan) Februar 1991, 15-6.
75
http://www.kikkoman.com/company/com.message.html.
Hello Kitty: Das reiche Kätzchen von Sanrio 223

Kikkomans über Jahrzehnte geduldig und systematisch verfolgter An-


satz war, die Verwendung seines Kernproduktes, shoyu, durch Rezept-
wettbewerbe, Kochschulen, Fernsehsendungen und Artikel in einschlägi-
gen Zeitschriften und Zeitungsseiten, in nichttraditionellen, westlichen
Gerichten wie bei Hamburgern, Fleischeintöpfen und Salaten zu propagie-
ren. Diese Strategie bestand aus harter Arbeit, denn unsere Geschmacks-
nerven sind naturgemäß konservativ. Doch sie zahlte sich aus. Heute
wächst die Nachfrage nach Sojasaucen und Teriyakisaucen ausschließlich
außerhalb Japans: in Nordamerika, Europa und in Südostasien. Entspre-
chend konnte Kikkoman den Ausstoß seiner Werke in Wisconsin, Singa-
pur und in Nordholland massiv erweitern. In dem Segment Würzsoßen und
Restaurantbelieferungen erscheint Kikkoman global gut positioniert. Da-
mit ist das seit zehn Generationen ausgeübte Familienmanagement der
Mogi eine außerordentliche Erfolgsgeschichte, die ihresgleichen sucht.

9.11 Hello Kitty: Das reiche Kätzchen von Sanrio

Hello Kitty ist sicher der ultimative kommerzielle Siegeszug des Kindi-
schen, der in diesem Fall auch in Japan seinen Ursprung hat. Jenes mund-
lose, gerundete, in Pastellfarben gehaltene Katzensymbol ist nicht nur in
Japan selbst ein Megaerfolg. Es hat sich als Symbol der femininen Kauf-
kultur über ganz Ostasien und für die präpubertäre Weiblichkeit in Spu-
renelementen auch nach Europa und Nordamerika verbreitet. Von 1 Milli-
arde US-Dollar Jahresumsatz der Sanrio Corporation erwirtschaftet Hello
Kitty die Hälfte. Die andere Hälfte müssen sich 400 ebenso synthetische
Figuren wie „My Melody“, „Baby Cinnamon“, „Twin Star“ etc. teilen.
Hello Kitty ist ein Kätzchen ohne Maul, ist „klein, sanft, infantil, an-
schmiegsam, rund, asexuell, stumm, unsicher, hilflos und verwirrt“76. Das
Katzentier ist eine reine Projektion. Es wird keine Geschichte oder Bot-
schaft mitgeliefert. Als Teil einer „Kultur des Niedlichen“ (kawai bunka)
liegt seine Attraktion ausschließlich im Auge des Betrachters: Eine Prin-
zessin der Reinheit für die Jungmädchen, eine unschuldige Spielfigur für
die Teenagerin, eine Kindheitserinnerung für junge Frauen oder einfach
nett aufgemachter Verpackungsmüll für den Rest der Menschheit.
Im Gegensatz zu amerikanischen Zeichentrickfiguren haben die Sanrio-
Gestalten subtilere Formen, rundere Gliedmaßen und sanftere Farben. Der

76
Ken Belson und Brian Bremner. Hello Kitty. The Remarkable Story of Sanrio
and the Billion Dollar Feline Phenomenon. Singapur 2004. S. 11.
224 Firmenportraits

Hauptmarketingfokus des 17 Milliarden US-Dollar starken Figurinenmark-


tes in Japan sind die 15-19jährigen Mädchen. Es schließt sich aber das
Segment der bis zu 34 Jahre alten Frauen an, die – insgesamt 17 Millionen
stark – zunehmend die Eheschließung hinausschieben und, im Gegensatz
zum Westen, kaum sozialen Druck spüren, endlich erwachsen zu werden.
Japanische Teenager finden es cool (kawai), kindisch zu schauspielern,
quieksige Stimmen zu intonieren, und absichtsvoll hilflos und desorientiert
zu erscheinen. Während in Europa und in den USA Kinder ab 12 Jahren
von ihren Altersgenossen (und gelegentlich von ihren lieben Eltern) Druck
erfahren, kindische Umgangsformen abzulegen, gibt es das nicht in Japan.
Junge Frauen können kawai, unterwürfig und schwach bis in ihre späten
20er Jahre agieren. Als Sanrio ansetzte, dieses Phänomen kommerziell
auszubeuten, begann eine der bemerkenswertesten Geschichten der mo-
dernen Markenartikelentwicklung.
Shinatoro Tsuji, der Gründer der Firma, wurde in der mitteljapanischen
Präfektur Yamanashi 1927 geboren. Als er 13 war, starb seine Mutter und
sein Vater verschwand in den Kriegswirren. In dem harten Überlebens-
kampf im Japan der Kriegsjahre, die auch für andere Unternehmensgrün-
der prägend wurde – und der heute natürlich fehlt – , lebte er vom Verkauf
selbstgemachter Seife auf dem Schwarzmarkt.
Mit einem Diplom in Chemie von einer lokalen Uni bekam er 1947 einen
Verwaltungsjob bei der Präfekturregierung von Yamanashi. Doch schon in
den 50er Jahren wurde der umtriebige Jüngling beauftragt, das Verbin-
dungsbüro der Präfektur in Tokyo zu leiten. Weil ihn die Verwaltungsar-
beit nicht auslastete, gründete er 1960 mit öffentlichen Geldern in Tokyo
das Yamanashi Silk Centre als eine privat verfasste Firma. 1962 diversifi-
zierte er in Nichtseideprodukte wie Gummisandalen. Um sie besser ver-
kaufen zu können, schmückte er seine Schlappen mit Früchtedesigns. Am
besten gingen dabei Erdbeeren. Nach diesem Erfolg ließ er seine Früchte
auch auf Kaffeetassen, Teller und anderes Geschirr anbringen.
Dann sah er sich bei ausländischen Designs um und erwarb in den spä-
ten 60er Jahren die Lizenz, um die Snoopy-Figur von Charles Schultz in
Japan zu vermarkten. Er kaufte auch die Lizenzen für den Vertrieb von
Hallmark-Grußkarten und von Barbiepuppen. Jedoch stellten sich die Pup-
pen als zu teuer auf dem Markt der vielen Imitate heraus. Auch machten
die Japaner keine Anstalten, die US-Sitte zu übernehmen, sich gegenseitig
teure Weihnachtskarten zu schicken. Dagegen verkauften sich niedliche
Designs auf Schulheften, Tagebüchern für Schulmädchen und anderen
Schulartikeln sehr gut.
Hello Kitty: Das reiche Kätzchen von Sanrio 225

Da Tsuji einen Hund (Snoopy) und einen Bär (Winnie the Pooh) schon
besaß, druckte er als Katze Hello Kitty auf Notizhefte, Kugelschreiber und
Handtaschen und verkaufte sie als billige Geschenkartikel für den Ju-
gendmarkt. Mit ihrem kommerziellen Erfolg entwickelte er eigene „Gift-
gate Shops“, die später zu einer Kette expandierte. 1973 kaufte er die An-
teile seiner Mitbesitzer aus Yamanashi auf und nannte die Firma in
„Sanrio“ um, was auf japanisch-spanisch „drei Flüsse“ heißen soll.
In den späten 70er Jahren begann Sanrio mit Teenagerzeitschriften und
produzierte selbst in Hollywood einen Zeichentrickfilm, der Tsuji zwar
einen Oskar, aber sonst nur Verluste einbrachte. Als in Japan der Wahn
nach Themenparks umging, ließ er 1990 einen Park namens „Puroland“,
das Disneyland überdacht imitieren sollte, in der Tokyoer Vorstadt Tama
eröffnen. 1991 folgte ein „Harmonyland“ im ländlichen Oita auf Kyushu.
Diese Themenparks sollen die Sanrio-Figuren fördern. Neben Hello Kitty
und ihren Verwandten Chococat und Pandapple sind dies ähnlich sterile
Charaktere wie zum Beispiel: Strawberry King, Cheery Bum, Button Nose
und der Affe Chi Chai Monchan. Jugendfreie Bühnenshows und Tanz-
wettbewerbe sollen das Publikum locken. Der 80jährige Tsuji besucht sie
wöchentlich für dauernd neue Verbesserungen und um aus erster Hand
Besucherreaktionen zu erleben. Doch bleiben diese Themenparks weiter
ein verlässlicher Verlustbringer.
Erste Marketingversuche in den USA scheiterten. Der amerikanische
Verbraucher war von Produkten wie etwa Puppen, die im heißen
Badewasser die Farbe wechseln, nicht sonderlich beeindruckt. Er ließ
sich auch nicht zu teurem Geschenkaustausch nach japanischem Muster
überreden und kauft weiter lieber billige T-Shirts als teure Handtaschen
als Mitbringsel. In den 80er Jahren musste Sanrios Büro in New York wie-
der schließen.
In der Zwischenzeit hatte der Wahn des zaitech, des financial enginee-
ring, das ohne Anstrengung viel Geld versprach, auch Tsuji selbst infiziert.
Auf dem Scheitelpunkt der japanischen Spekulationsblase hatte er sage
und schreibe 170 Milliarden Yen an Firmengeldern und Krediten in Akti-
en, Immobilien und Tokkin-Hedgefonds gesteckt, die sich nach 1992 im
freien Fall befanden. Als klassisches Seifenblasenphänomen fielen Mitte
der 90er Jahre Sanrios Aktienkurse um 93%. Während 1994-98 musste die
Firma Spekulationsverluste in Höhe von 400 Millionen US-Dollar ab-
schreiben77.

77
Asiaweek 19.3.1999.
226 Firmenportraits

Es war Hello Kittys überraschende Wiedergeburt um 1999/2000 die


Sanrio erlaubte, Schulden abzubauen und wieder eine Dividende auszu-
schütten. Doch wurde Tsuji im Jahr 2001 wieder Opfer seiner Neigung zur
Aktienspekulation, als die Dotcom-Blase platzte.
Sanrio wurde einmal mehr von Hello Kitty gerettet. Alle möglichen japa-
nischen Popstars bekundeten plötzlich ihre Bewunderung und Abhängigkeit
von der Ikone. In jener Rezessionsphase waren es nur junge Frauen, die
freizügig mit dem Geld umgingen – und gaben es meist für eskapistische
Konsumartikel aus, die ihnen die Illusion bestätigten noch Kinder zu sein.
Hello Kitty wurde zu einem Identifikationssymbol für diese Moratoriums-
generation. Allgemeiner formuliert dienten jene Markenartikel dazu, etwas
Ablenkung und Spaß in eine zunehmend entpersönlichte Massenkonsumge-
sellschaft zu bringen. Mit einigem Erfolg: Mittlerweile sind typische japani-
sche Familienhaushalte vollgestopft mit niedlich dekorierten Gebrauchsarti-
keln, von den Kühlschränken bis zu den Toilettenbürsten.
Kulturell ist die Popularität von Piktogrammen in Japan nicht überra-
schend. Der Markt für manga allein beträgt 6 Milliarden US Dollar jähr-
lich. Die japanischen Hersteller von Videospielen (Sega, Nintendo und
Sony) beherrschen deutlich die Weltmärkte. Als Vorläufer von Pokemon
und Super Mario beruhen Hello Kitty und ähnliche Figuren ursprünglich
auf Märchenfiguren (und Monstern), die schon lange in der japanischen
Folklore herumspuken, ähnlich wie Walt Disney Grimms Märchen für
seine schlichten Stories plünderte und kannibalisierte.
Die Wiedergeburt von Hello Kitty funktionierte in Europa und den USA
nicht – trotz des Einsatzes von Naomi Campbell, die sich mit ihren Hand-
taschen ablichten ließ – wohl aber in Ostasien, vor allem in Korea, Taiwan,
Hongkong und Singapur, wo die Popularität und die öffentlich bekundeten
Neigungen japanischer Popdivas die zahlreichen jugendlichen Fans der
japanischen Popszene zu überzeugen vermögen78. 17% des Umsatzes von
Sanrio findet heute außerhalb Japans statt, zumeist in den nicht umsonst
ebenfalls vom Schriftbild her piktografisch orientierten Kulturen Ost-
asiens. Seit 2004 bemüht sich Sanrio verstärkt um den chinesischen Markt.
Die Sorge ist nicht unbegründet, dass die zarte Ikone nicht die Unsterb-
lichkeit der Mickey Maus hat und den nächsten Modewechsel nicht über-
stehen könnte. Denn mit ihrer Ablichtung auf 6000 Sanrio-Produkten (meist
im Ausland auf Kommissionsbasis hergestellt) und auf 16000 Lizenz-
produkten (die Lizenz kostet 3% des Verkaufspreises) gibt es deutliche

78
Ana M Goy-Yamamoto. Japanese Youth Consumption. Asia-Europe Journal 2,
2004, 271-82. S. 279.
Der Aufstieg und Fall von Seibu 227

Zeichen der Überdehnung des Symbols. Hello Kitty prangt nicht nur auf
Briefpapier, Fertignudeln und Kreditkarten, sondern auch auf Karaoke-
Bars, Staubsaugern und Daihatsu-Autos. In ihrer Heimat in Asien sind
Imitate zuhauf im Umlauf. In Schanghai allein wird der Anteil der Pro-
duktpiraterie für Hello Kitty auf 95% geschätzt.
Sanrios Erfolg beruht weiter weniger auf Marktforschung als auf den In-
stinkten des Gründers Tsuji. Jedes Jahr werden drei neue Figuren in Um-
lauf gebracht, darunter auch ab und zu niedliche Monster. Andere werden
still pensioniert. Gleichzeitig ist der Markt für kindliche Ikonen unter un-
übersehbarem demografischem Druck. Seit 1989 ist die Zahl der Ober-
schüler um 25% (um 500.000 von ursprünglich 2 Millionen) pro Jahrgang
gefallen. Das ist der Preis, der zu zahlen ist, wenn man den Infantilismus
unter jungen Frauen kultiviert. Ohne Frage enden die meisten Figurenpro-
dukte wenig benutzt bald auf Müllhalden. Sie dienen in erster Linie der
spontanen Bedürfnisbefriedigung, dem ständigen Wunsch nach Neuem
und einer Verpackungskultur, die – wie in Japan – Form für wichtiger hält
als den Inhalt. Es wäre schon mehr als ein Wunder, wenn eine Firma, die
diese Werte verfolgt, selbst allzu lang überleben würde.

9.12 Der Aufstieg und Fall von Seibu

Wie von den Buddenbroocks erinnerlich ruiniert normalerweise erst die


dritte Generation ein Familienunternehmen. Die Brüder Tsutsumi haben
das schon in der zweiten Generation geschafft.
Seiji Tsutsumi baute sein separates Seibu-Season Kaufhaus- und Su-
permarktunternehmen sogar mehr oder minder selbst in zwei Jahrzehnten
als Phänomen der Spekulationswirtschaft auf und zerstörte es bis 2000
auch selbst. Sein Halbbruder Yoshiaki Tsutsumi, der den Großteil des Ei-
senbahn- und Hotelimperiums ihres Vaters geerbt hatte und 1987-90 mit
16 Milliarden US-Dollar zu den reichsten Männern der Welt zählte, konnte
sich nach seinen Vermögensverlusten und dem Kauf der Olympischen
Winterspiele 1998 nach Nagano noch etwas länger halten, endete 2005
aber wegen Bilanzfälschungen, Börsenbetrug, Insiderhandel und Steuer-
hinterziehung im Gefängnis79. Bruder Seiji dagegen, der eine kleine Stif-
tung retten konnte, dichtet nunmehr im Hauptberuf.
Am Anfang der Seibu-Saga steht überlebensgroß als Gründervater und
Patriarch Yasujiro Tsutsumi (1889-1965) mit seinen drei Frauen und

79
Angela Köhler. Shogun auf Talfahrt. Berliner Zeitung 11.3.2005.
228 Firmenportraits

zahllosen Mätressen80. Als Bauernsohn wuchs er in der ländlichen Präfek-


tur Shiga auf und verlor seine Eltern früh. Nachdem er die Hauptschule
und eine Militärakademie besucht hatte, verpfändete er das Erbe seines
Großvaters, um schon als junger Familienvater an der privaten Waseda-
Universität studieren zu können. Mit einer Reihe erfolgreicher Spekulati-
onsgeschäfte gelang es ihm bald, seine knappen Mittel zu multiplizieren.
Seine Interessen an der elitären Waseda, die damals eine Kaderschmiede
nationalistischer Reformpolitiker war, waren jedoch weniger akademischer
Art. Noch als Student wurde Yasujiro Sekretär von Shigenobu Okuma,
der später Premierminister werden sollte. In jener für Immobilienent-
wickler in Japan typischen engen Verquickung von wirtschaftlichen und
politischen Beziehungen suchte er schon früh seine persönlichen und
politischen Kontakte für seine jungen Geschäftsinteressen zu nutzen.
Schon als Student kaufte er billig Öd- und Weideland in der Nähe des
beliebten vornehmen Bergkurortes Karuizawa auf, auf das er dann Ferien-
häuser und Freizeiteinrichtungen bauen ließ. Bis zum Ende des Ersten
Weltkriegs hatte er die Grundlagen seines künftigen postindustriellen
Freizeitimperiums geschaffen.
Da er seine eigenen Baufirmen gegründet hatte, konnte Yasujiro auch
von dem Bau- und Wiederaufbauboom, der dem Kanto-Erdbeben von
1923 folgte, profitieren. Ein Jahr später wurde er in seiner Heimat Shiga
ins Parlament nach Tokyo gewählt. Abgesehen von der Zeit der Säuberun-
gen durch die US-Besatzer (1945-51) sollte er diesen Sitz bis zu seinem
Tod 1965 innehaben. Als Mitglied der militärfreundlichen, kriegsbefür-
wortenden Demokratischen Partei wurde er schon 1932-34 parlamentari-
scher Vizeminister. Doch blieb er an ideologischen Fragen desinteressiert
und nutzte seine politische Arbeit fast ausschließlich für geschäftliche
Zwecke, etwa indem er Land frühzeitig aufkaufte, das zur späteren Ent-
wicklung als Bauland vorgesehen war oder indem er zwei eigentlich im
Wettbewerb stehende Bahnlinien im Westen Tokyos, die Musashino- und
Seibu-Linien, günstig erwarb. Transportverträge zur Lieferung von Muni-
tion an das japanische Heer waren ebenfalls profitabel. Seine Angst, von
den siegreichen Amerikanern als Kriegsgewinnler enteignet zu werden,
blieb unbegründet. Stattdessen kaufte Yasujiro günstig ausgebombte
Trümmergrundstücke, die an den Endstationen seiner Eisenbahnlinien in
Tokyo lagen, auf. Er erwarb auch billig das Land verarmter Aristokraten,
die die von den Amerikanern zu Enteignungszwecken eingeführten hohen

80
Zu den Details der Familiensaga siehe: Lesley Downer. Die Brüder Tsutsumi:
Die Geschichte der reichsten Familie Japans. München 1997.
Der Aufstieg und Fall von Seibu 229

Steuern nicht mehr zahlen konnten. Er ließ ihre Residenzen abreißen und
baute an ihrer Stelle Hotels, die er sinnigerweise Prince Hotels nannte. An
seinen Eisenbahnlinien in West-Tokyo ließ er auch drei aufwendige neue
Vorstädte bauen, die gut angenommen und in der Folge sehr teuer und
trendsetzend wurden.
Als Höhepunkt seiner politischen Karriere wurde Yasujiro Tsutsumi
1953-55 Präsident des Unterhauses, eine Position, die seinen hohen Status
unter den Neureichen in Nachkriegsjapan anerkannte. Seine offene Poly-
gamie und sein despotischer Führungsstil – wegen seiner rauen Geschäfts-
methoden und der Geschwindigkeit, mit der er unbotmäßigen Untergebenen
kündigte, wurde er „Pistole“ genannt – waren allgemein bekannt, störten
aber damals niemand. Er überlebte auch einen gut dokumentierten Skandal
um gekaufte Wählerstimmen. Nach seinem plötzlichen Tod 1965 wurde er
mit allen Ehren auf einem Friedhof beigesetzt, den er nicht untypisch
selbst hatte anlegen lassen.
Yasujiros Reich wurde unter seinen ungleichen Söhnen ungleich aufge-
teilt. Seiji, der ältere Sohn, wurde von einer Dichterin geboren, die Yasuji-
ro kurzfristig geheiratet hatte. Er war ein kultivierter Intellektueller, der als
Student in den Nachkriegsjahren mit der KPJ sympathisierte, dann aber als
Linksabweichler ausgeschlossen wurde und später als verlorener Sohn zu
seinem Vater, der damals Parlamentspräsident war, als politischer Sekretär
zurückkehrte. Aus dem Besitz des Vaters sollte er aber nur ein abgewirt-
schaftetes Kaufhaus erben, das sich am Endpunkt einer Eisenbahnlinie in
Ikebukoro in Tokyo befand.
Die wesentlich wertvolleren Eisenbahnlinien, Hotels, der Immobilienbe-
sitz und die touristischen Standorte gingen alle auf seinen Halbbruder Yo-
shiaki über, der als Sohn seiner Lieblingsmätresse auch die ruppigen Ge-
schäftsmethoden und den autokratischen Stil des Vaters geerbt hatte.
Ähnlich wie Yasujiro nutzte er seine Studentenzeit, um privatfinanzierte
Schwimmbäder und Eisstadien zu bauen. Innerhalb von zwei Jahrzehnten
expandierte er das Erbe seines Vaters zu Japans führendem Hotel-, Skiort-
und Golfplatzentwickler und -betreiber. Diese Geschäftslinie half auch, mit
den Bauexperten (zoku), die die mächtige Takeshita/Kanemaru-Fraktion
der regierenden LDP dominierten, in enger Tuchfühlung zu bleiben. Yasu-
jiros Wahlkreis wurde von einem engen Freund, Ganri Yamashita, über-
nommen, der später Verteidigungsminister werden sollte.
Der Bau von Ferien- und Hotelanlagen als resorts erfolgt in Japans öko-
logisch empfindlicher Bergwelt meist auf eine bemerkenswert brutale Art.
Unverbaute, kaum berührte ländliche Bezirke werden billig aufgekauft.
Dann werden alle Wälder abgeholzt und die Landschaft von Planierraupen-
230 Firmenportraits

kolonnen umgestaltet, um Golfplätze, Skipisten, Parkplätze und Hotelanla-


gen zu schaffen. Yoshiaki stellte dabei stets sicher, dass die nötigen Infra-
strukturinvestitionen von der öffentlichen Hand geleistet und finanziert
wurden.
Dieses Muster wendete er auch ziemlich offen an, als er die Olympischen
Winterspiele von 1998 als Präsident des japanischen Olympischen Komitees
nach Zahlungen an IOC-Präsident Juan Samaranch nach Nagano holte81.
Yoshiakis Seibu-Gruppe (die später in Kokudo-Gruppe umbenannt wurde)
besaß dort schon die meisten Hotels, Skipisten, Einkaufszentren und ein
Eissportzentrum. Die Olympischen Spiele brachten eine öffentlich finanzier-
te Autobahn und eine Shinkansen-Linie nach Nagano, die die Entfernung
nach Tokyo auf 90 Minuten abkürzten und nach dem Großereignis einen
ständigen Strom an Kurzzeitskifahrern in diese fragile Alpenregion sicher-
stellten. Der Bau der olympischen Einrichtungen zerstörte die in einem ei-
gentlich geschützten Nationalpark gelegenen Habitats bedrohter Tierarten,
machte aus Gebirgsbächen einzementierte Kanäle und aus Naturwäldern,
Weiden und Kleinbauernstellen Wüsteneien aus Asphalt und Schotter.
Die Olympischen Spiele halfen, den Anteil der Kokudo-Gruppe am
jährlich 8 Milliarden US-Dollar betragenden Wintersportgeschäft beträcht-
lich zu erweitern. Sie brachten aber auch unwillkommene internationale
Publizität für Yoshiakis Geschäftsmethoden. Es waren nicht nur unethi-
sche ökologische Praktiken und der Geruch politischer Privilegierung,
sondern auch die Eigenheiten von Yoshiakis Managementmethoden. So
schrieb die Japan Times:
„Er ist von Sparsamkeit besessen und hasst es, von der Unterstützung
politischer Freunde abgesehen, Geld für irgend jemand oder irgend etwas
zu spenden. Er überfliegt das Land per Hubschrauber, um sein Hotelreich
zu inspizieren, bellt Befehle und schüchtert sein Personal ein („Ich brauche
keine Angestellte mit hochgestochenen Diplomen, sondern welche, die tun
können, was ich ihnen sage“, meinte er einmal), um sicher zu stellen, dass
nichts verschwendet wird. So werden Handtücher ein Jahr länger benützt
und später als Putzlumpen verwendet.“
Die Wiederverwendung alter Handtücher half wenig, um das Schrumpfen
von Yoshiakis Immobilien- und Firmenwerten aufzuhalten. Bis zum Jahr
2001 hatte er 13 Milliarden US-Dollar verloren und war laut Forbes netto
nur noch 2,8 Milliarden US-Dollar wert. Noch besaß er die Seibu-Eisen-
bahnen, die Prince-Kette mit 81 Hotels, 36 Skiferienanlagen, 52 Golfplätze

81
Kathleen Morikawa. Celebrations are over for Nagano. Asahi Evening News
6.7.1991; Shukan Bunshun 27.6.1991.
Der Aufstieg und Fall von Seibu 231

und das Baseballstadium der Seibu Lions, nebst Mannschaft. Als Präsident
des Ski- und des Eishockeyverbandes spielte er weiter eine öffentliche
Rolle. Als schließlich ruchbar wurde, dass er entgegen den Bestimmungen
des japanischen Aktienrechts 88% der Aktien von Seibu-Eisenbahnen teil-
weise über Strohmänner kontrollierte – offiziell besaß er nur 64% – wurden
im Jahr 2005 gründlichere Untersuchungen eingeleitet. In deren Folge –
zwei seiner Manager begingen Selbstmord – kam heraus, dass er unter ande-
rem seit zwei Jahrzehnten systematisch die Bilanzen hatte fälschen lassen.
Seit 7 Jahren hatte der Aufsichtsrat nicht mehr getagt. Der Kurs von Seibu
Railways fiel um 95%. Die Aktie wurde vom Kurszettel der Tokyoter Börse
gestrichen82. Für Yoshiaki war die Partie Monopoly vorbei.
Sein Halbbruder Seiji hatte, wie erwähnt, nur ein etwas abgewirtschaftetes
Kaufhaus in dem damals nicht sonderlich angesehenen Ikebukuro geerbt.
Dort führte er schon in den 50er Jahren die Produkte damals unbekannter
junger Designer wie Yves Saint Laurent und Issey Miyake ein. Er begann
zu expandieren und zu modernisieren. So wurden seine Läden schon in
den 60er Jahren frühe Symbole einer status- und erfolgsorientierten Ver-
braucherkultur, die von jungen, zahlungskräftigen Käufern, nachdem das
Elend und die Härten der Nachkriegszeit überwunden waren, begierig
angenommen wurden. Oft war es Seiji allein, der künftige Verbraucher-
trends in Japans konservativem und konformistischem Einzelhandel vor-
ausahnte und umsetzte. 1963 begründete er die später sehr profitable Seiyu-
Supermarktkette. 1968 erbaute er mit Seibu Shibuya den trendsetzenden
Konsumtempel für die Generation der Babyboomer. Ihm folgte mit Parco
ein Konzept der Shop-in-Shop-Boutiquen für modebewusste, flüssige Tee-
nager. Im goldenen Zeitalter des japanischen Konsumrausches der 80er
Jahre veranstaltete Seiji ein Feuerwerk an innovativen Geschäftsideen, von
denen die meisten in Japan neu waren. So führte er die Seibu Season Card
1982 ein, weil respektable Banken nicht im Traum daran dachten, un-
seriösen Teenangern Kreditlinien zum Kauf von Modeartikeln einzuräumen.
Es folgten das Angebot umfangreicher Finanzdienstleistungen in den
Kaufhäusern, wie die Seibu All State Life Insurance, exklusive Ver-
triebsabkommen mit westlichen Markenartiklern und die Gründung der
ersten Kette von convenience stores („Family Mart“), die rund um die
Uhr geöffnet hatten.
Die Seibu-Kaufhäuser (depaatos) waren berühmt für ihre Kunstausstel-
lungen, ihre modischen Restaurants, Cafes, Theater, Kinos und Konzert-

82
Bernd Weiler. Japans Investoren haben ein Recht auf mehr Transparenz. Die
Welt 17.2.2005.
232 Firmenportraits

hallen. In den 70er und 80er Jahren waren Seibu und Parco die am
schnellsten expandierenden und modernsten unter Japans altmodischen
und überteuerten Kaufhausketten. Als Sponsor von Avantgarde-Theater,
auch von schwierigen Stücken wie von Kobo Abe, und von zeitgenössischer
Kunst, die im Seibu Museum of Modern Art ausgestellt wurde, kultivierte
Seiji das Bild einer liberalen intellektuellen Modernität, die sich nicht nur
wohltuend von der ruppigen Raffgier seines ungeliebten Halbbruders Yoshi-
aki abhob, sondern, noch wichtiger, gut mit der Botschaft einer luxusorien-
tierten Zivilisation in Japans neuem Reichtum harmonisierte, die von seinen
modischen Edelkaufhäusern den im Spekulationsboom (neu-)reich gewor-
denen und jenen die auf Kreditkarte lebten, angeboten wurde.
Wie der Lebensstil der meisten seiner Kunden, so war Seijis eigenes
schnell expandierendes Reich auf Kredit gebaut. Der hohe Umsatz seiner
Läden resultierte in nur geringe Gewinne, da der hohe Schuldendienst den
cash flow fraß. Solange in den 80ern ständig steigende Aktien- und Immo-
bilienwerte es ermöglichten, Anleihen stets in Kapitalbeteiligungen um-
zuwandeln, war dies problemfrei. So expandierte und diversifizierte Seiji
frohgemut in alle Himmelsrichtungen weiter und erklärte in der wirren
Logik der Boomjahre als Strategie: Seine Gruppe würde alle Facetten des
Lebens bedienen wollen. Er gründete ein Baugesellschaft namens Seiyo,
die in die Geschäftssegmente seines Bruders eindrang und anspruchsvolle
Einkaufszentren, Freizeiteinrichtungen, Hotels und Apartmentkomplexe zu
bauen begann83. In einer spontanen Entscheidung kaufte Seiji 1983 für 2,2
Milliarden US-Dollar die weltweit operierende Intercontinental Kette von
Grand Metropolitan. Sie hatte damals 98 Hotels, die er bald auf 187 aus-
weitete, einschließlich eines Hotels der Superluxusklasse auf der Ginza,
das für Kunden wie Elizabeth Taylor gedacht war. Ob jener ausschließlich
kreditfinanzierte Expansionskurs je wirtschaftlich war, bleibt unklar. In
jedem Fall aber nahm sich die 81 Häuser starke Prinzenkette von Bruder
Yoshiaki nun sehr klein aus.
Seijis Seibu-Season-Gruppe kollabierte nicht über Nacht. Aber seine
Botschaften des ewigen Lebensstil-Konsumerismus und überteuerter Ein-
kaufsreize wirkten ab 1992 in dem rezessionsgeplagten Japan unüberseh-
bar deplatziert, als die meisten Japaner wieder die Tugenden ihrer traditio-
nellen Sparsamkeit zu entdecken begannen.
Seine Einzelhandelsoperationen hätten sicher für sich überleben können.
Aber auch sie wurden von der Schuldenlast niedergedrückt, die für Immo-
bilienentwicklungen, Golfplätze und Freizeitparks verschwendet worden

83
„The Tsutsumi Family: Brotherly Hate“. The Economist 8.10.1988.
Der Aufstieg und Fall von Seibu 233

waren, für die nun keine Nachfrage mehr bestand. 1991 trat Seiji förmlich
als Vorstand zurück. Da er die Gruppe allein geleitet hatte, driftete sie nur
noch mit halbherzigen Sanierungsprogrammen weiter. Gelegentliche Ver-
käufe halfen wenig. Im Juli 2001 ging Seiyo, der Immobilienarm von Sei-
bu Season, mit 5 Milliarden US-Dollar Schulden in Konkurs84. Seiji wurde
gezwungen, die meisten seiner Aktienbeteiligungen abzutreten. Die Inter-
continental Hotels wurden an das britische Brauhaus Bass für 2,9 Milliar-
den US-Dollar verkauft. Der gesamte Erlös musste für den Schuldendienst
verwendet werden. Mizuho Bank als Hauptkreditgeber erzwang dann die
Entlassung von 40% der 9000 Mitarbeiter der Seibu-Kaufhäuser. Im Jahr
2003 wurden sie mit den ebenfalls bankrotten Sogo-Kaufhäusern unter
neuem Management zu der neuen Millenium-Kette fusioniert, die nicht
länger die Avantgarde von irgend etwas ist, sondern Mühe hat, bescheidene
Gewinne einzufahren85. Die Seiyu-Supermärkte wurden ihrerseits von Wal-
Mart geschluckt. Statt Glamour nur noch billiger Jakob.

84
The Japan Times 19.7.2000.
85
Asahi Evening News 28.2.2003.
10 Regionalportraits

10.1 Kansai

Kansai, der zweite große Wirtschaftsraum im Westen, ist das industrielle


Herz Japans. Es besteht aus sechs Präfekturen: Osaka, Hyogo, Kyoto, Nara,
Wakayama und Shiga. Manchmal werden auch als ländliches Hinterland
die Präfekturen Fukui, Tsu und Tokushima (das eigentlich auf der Insel
Shikoku liegt) dazugezählt. Prägend sind die Handelsmetropole Osaka, der
Welthafen von Kobe sowie die beiden historischen Hauptstädte Kyoto und
Nara.
Traditionell ist in Kansai die metallverarbeitende, die Textil- und Bau-
industrie stark. Konzerne wie Sumitomo, das Finanzhaus Nomura, die
Elektronikhersteller Matsushita, Sanyo und Sharp, die Hightech-Firmen
Kyocera und Shimadzu, Nidec-Kleinmotoren, Wacoal-Unterwäsche,
Nintendo-Videospiele, der Baukonzern Obayashigumi und die Pharmaher-
steller Takeda, Shiogi und Fujisawa haben hier ihren Ursprung, ihre Fabri-
ken und teilweise auch noch ihre Firmenzentralen, sofern diese nicht nach
Tokyo abgewandert sind. Sinnige Erfindungen wie cup noodles, karaoke,
Sushi-Selbstbedienungsrestaurants mit Fließbandbetrieb und Kapselhotels
wurden in Kansai gemacht. Die Einheimischen halten sich deshalb für
besonders kreativ, umtriebig, geschäftstüchtig und ungeduldig. Die Anrede
mokkari makka? (Hast Du schon Geld verdient?) gilt als üblicher Morgen-
gruß. Die Region ist stolz auf ihren eigenen Dialekt, den Osaka-ben, und
die Hanshin Tigers als Baseballmannschaft.
Kansai produziert mit 24 Millionen Einwohnern 20 % des japanischen
BIP, also 770 Milliarden US-Dollar. Seine Wirtschaft ist damit größer als
die Spaniens oder Kanadas. Mit seiner industrieorientierten Wirtschafts-
struktur traf die Stagnationskrise Japans und das Aufkommen der chinesi-
schen Exportindustrie Kansai – im Gegensatz zum Verwaltungs- und
Dienstleistungszentrum Tokyo – besonders hart. So halbierte sich die Be-
schäftigung bei der Schuhherstellung seit 1994 (damals 6500 Arbeitneh-
mer). Ebenso verringerte sich die Zahl der Weber von Seidenkimonos in
Nishijin auf weniger als 20.000. In Higashi- (Ost-) Osaka, einer Industrie-
vorstadt, die sich am Ostufer der Bucht von Osaka endlos hinzieht und als
deren größte Konzentration in Japan 20.000 KMU beheimatet, die bei
236 Regionalportraits

Schrauben und Muttern angefangen so gut wie alle Fertigungsteile herstel-


len, gab es alljährlich 170-200 Konkurse. Neben dem Konjunktureinbruch
wurde Kansai von einer doppelten Abwanderung betroffen: der industriel-
len Abwanderung nach China und der Verlagerung vieler Firmensitze nach
Tokyo, wo Leerstände die Mieten sinken ließen, bzw. der kostenbedingten
Schließung von Zweithauptquartieren in Osaka. Die Arbeitslosigkeit lag
deshalb mit 7,2% (2002) deutlich über dem nationalen Durchschnitt. Mit
der langsamen Erholung der regionalen Wirtschaft ist sie mit 5% (2005)
wieder rückläufig.
Am 17.1.1995 wurde die Hafenstadt Kobe vom großen Hanshin-
Erdbeben heimgesucht. 6000 Menschen starben. 35.000 wurden verletzt.
600.000 Gebäude wurden zerstört oder beschädigt. Der Schaden wurde auf
6800 Milliarden Yen geschätzt. Obwohl die Eisenbahnlinien nach 5 Mona-
ten wieder repariert waren, dauerte der Wiederaufbau der wichtigsten Ver-
kehrsader, der auf Stelzen gestellten Hanshin Expressway, deren Einsturz
die Medienbilder der Katastrophe geprägt hatte, bis September 1996. Das
blieb nicht ohne Folgen. Schon vorher war die industriell geprägte Wirt-
schaft angeschlagen gewesen. Der Hafen, der 1978 noch der drittgrößte
der Welt war, hatte im Laufe der Jahre Fracht an andere asiatische und
japanische Häfen verloren und war 2002 auf Platz 27 gelandet.1 Die städti-
schen Industrien: Gummi, Stahl, Maschinenbau und Werften hatten alle
Schwierigkeiten. So wanderten nach dem Erdbeben 100.000 Einwohner ab.
1,5 Millionen blieben.
Natürlich hatte neben dem Wiederaufbau Kobes auch die Region Kansai
ihren Anteil an den großen öffentlich finanzierten Infrastrukturprojekten.
Dazu zählt die mit 2km Länge größte Hängebrücke der Welt, die die Insel
Awaji in der Inlandsee mit dem Festland von Honshu verbindet: sehr teuer
(3,6 Milliarden US-Dollar Baukosten), sehr spektakulär, doch wegen kräf-
tiger Winde stark schwankend eher selten benutzt. Dann die vom Tele-
kommunikationsministerium mit den Einlagen der Postsparbücher am
Schnittpunkt der Präfekturen Kyoto, Nara und Osaka in einem Gebirge
gebaute 15.000 ha große Science City. Häufig stehen solche Denkmäler im
Grünen dann leer. Hier aber wurden 70 Forschungsinstitute angesiedelt,
darunter eines von Bayer Yakuhin. Leer steht dagegen ein Großteil des
aufwendigen Osaka Business Park, die künstliche Rokko Insel und die
neue Rinku Town am neuen internationalen Flughafen. Dieser wurde einem
riesigen Flugzeugträger ähnelnd auf einer künstlichen Insel in der Bucht
von Osaka gebaut und ist nur mit einer Brücke mit dem Festland verbunden.

1
Financial Times 27.4.2004.
Kansai 237

Im Gegensatz zum richtigen Flugzeugträger sinkt der Flughafen unter dem


hohen Gewicht des Schüttmaterials und der Aufbauten alljährlich um 1m
in die Tiefe. Das verzögerte 1994 die Fertigstellung um 18 Monate und
verlangt weitere Betoneinspritzungen und höhere Außenschutzmauern.
Wegen der hohen Kosten erhöhte die Flughafengesellschaft sogleich die
Landegebühr auf 1 Million Yen, löste damit Narita als teuersten Flughafen
der Welt ab und wunderte sich, als die Flüge ausblieben. Nachdem die
Gebühren etwas angepasst wurden, gibt es mittlerweile von 51 Fluglinien
683 Flüge wöchentlich, mit 1,2 Millionen Passagieren im Jahr. Eigentlich
sollte der neue Flughafen dem Zeitgewinn dienen. Dieser wird jedoch dann
hinfällig, wenn, wie gewöhnlich, nur zwei oder drei Ankunftsschalter für
die Passkontrollen geöffnet haben und der Reisende dann in den Warte-
schlangen zwei Stunden Muße hat, die von Renzo Piano geschaffene Halle
zu bewundern.
Die alten Kaiserstädte Kyoto und Nara sind Hauptattraktionen für den
Fremdenverkehr. 1000 Tempel und 400 Schreine warten auf den Besucher.
Nicht alle haben Weltruhm wie der Goldene Pavillon, die Residenz der
Tokugawa in der Nijo-Burg, oder die Steingärten der Zen-Klöster. 38 Mil-
lionen Besucher kommen jährlich. Die meisten sind Schulklassen beim
Pflichtprogramm. Der Ausländeranteil beträgt 1,5%. Seit 2000 ist das Tou-
rismusaufkommen stagnant. Schuld sind nicht nur der hohe Yen-Kurs und
die Konkurrenz anderer Attraktionen in Asien, wie das Disneyland von
Hongkong, der Themenpark der Universal Studios in Schanghai oder die
Olympischen Spiele von Peking. Kyoto, das (ähnlich wie Heidelberg) von
amerikanischen Fliegerbomben bewusst verschont wurde, hat mittlerweile
in großen Teilen sich selbst verschandelt. An drei Seiten von hohen Ber-
gen eingezwängt war die Bodenspekulation 1987/91 besonders intensiv:
Die Bodenpreise verdreifachten sich (und halbierten sich 1992/94 wieder).
Der Boom reichte jedoch aus, um historische Viertel abzureißen und häss-
liche Kaufhäuser, Hotelkästen und Firmenhochhäuser, darunter die 100m
hohen Zentralen von Nidec und Kyocera hochzuziehen und die Silhouette
der Stadt dauerhaft zu verschandeln. Für den Bahnhof hatten sich die Pla-
ner eine besondere Scheußlichkeit einfallen lassen: Er wurde zu einem
400m breiten und 58m hohen Einkaufs- und Hotelkomplex ausgeweitet,
der mit seinen runden Formen wie ein gestrandeter Riesenwal auf den
Gleisen des Shinkansen ruht.
Um die Ansiedlung ausländischer Firmen bemühen sich Kansai Part-
nership (KPS) als Service der regionalen Wirtschaftsföderation Kankeiren
und die Wirtschaftsabteilungen der jeweiligen Präfekturen und Stadtver-
waltungen. Je nach Statistik gibt es zwischen 160 und 280 ausländische
238 Regionalportraits

Firmen in Kansai, darunter als größte Eli Lilly und Abbott. Die Subventio-
nen des Osaka Business Investment Council fließen besonders reichlich im
Fall technologisch interessanter Investitionen, etwa im Bereich der Medi-
zin, Biotechnik, Telekom, Nanotechnik, bei Robotern und im Design. Da-
zu locken Mieten, die um 40% unter den von Tokyo liegen und die geball-
te Intelligenz von 270 Universitäten sowie nicht zuletzt die Deutsche
Schule Kobe.
Den tatsächlichen – zaghaften – Wiederaufschwung von Kansai leiste-
ten nicht Hochtechnologieinvestitionen, staatliche Bauaufträge oder der
Tourismus, sondern die boomende Nachfrage aus China für Stahl, Chemie,
Halbleiter, Maschinenteile und Werkzeugmaschinen. Schließlich ist Kan-
sai der China am nächsten gelegene Großwirtschaftsraum Japans. Aller-
dings ist man bei allen Exporten und Auslandsfertigungen sehr sorgfältig
bedacht, eigene Spitzentechnologien angesichts der in China grassierenden
Produktpiraterie nur als geschützte black box zu liefern.

10.2 Hokkaido

Die moderne Siedlungsgeschichte der Nordinsel Hokkaido beträgt erst


140 Jahre. Sie ähnelt daher in vielem dem Westen Kanadas und dem
Nordwesten der USA. Mit 84 Mio km² hat Hokkaido die Größe der Nie-
derlande und Dänemarks zusammengenommen. Doch seit mehr als zwei
Jahrzehnten stagniert das Bevölkerungswachstum bei 5,7 Millionen.
Zwar ist die Urbanisierung (73%) und die Konzentration auf den Groß-
raum Sapporo mit seinen 1,6 Mio Einwohnern sehr weit fortgeschritten,
doch bleibt das koloniale Erbe in Gestalt traditioneller Stärken in der
Primärwirtschaft und Schwächen in der industriellen Verarbeitung frap-
pant. So ist Hokkaido weiter Rohmateriallieferant (Agrarprodukte, Fische,
Holz, Kohle und andere Bodenschätze), zu denen sich in den 50er Jahren
gewisse Schwerindustrien (Stahl, Schiffbau), die Pulp- und Papierher-
stellung und Nahrungsmittelindustrien gesellten. Der Strukturwandel der
japanischen Wirtschaft in Richtung technologieintensiver Verbrauchs-
güterindustrien (Fahrzeugbau, Elektronik, Feinmechanik, Chemie, Pharma-
zie) fand auf Hokkaido nicht statt. Lediglich die Primär- und Schwerin-
dustrie wurde rückläufig. Der Kohleabbau wurde nach langen Jahren der
Subventionierung fast gänzlich eingestellt. Exportindustrien siedelten sich
aber nicht an. Stattdessen wandern die jüngeren und besser ausgebildeten
Arbeitskräfte, darunter die Mehrheit der Hochschulabsolventen, in die
Metropolen des Südens ab.
Hokkaido 239

Wiewohl rückläufig spielt der Primärgütersektor für die Gesamtwirt-


schaft der Insel und für die außerhalb der Hauptstadt Sapporo gelegenen
Regionalwirtschaften eine wichtige Rolle. So gelten Asahigawa als Zent-
rum der Holzverarbeitung; Nemuro, Kushiro und Hakodate als wichtige
Fischereihäfen; Obihiro als Zentrum des Agrarhandels und der Nahrungs-
mittelverarbeitung sowie der Bezirk Sorachi mit den Städten Bibai, Ashi-
betsu und Yubari als vom ehemaligen Kohlebergbau geprägt. Im Zuge der
Yen-Aufwertungen haben fast alle jener in Japan geförderten Primärgüter
ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit verloren und stehen seither unter
stetem Importdruck.
Zwar scheint die Landwirtschaft Hokkaidos2 verglichen mit Restjapan als
großflächig und modern arbeitend, doch leidet auch sie unter hohen Produk-
tions- und Kapitalkosten, ungenügender Weiterverarbeitung, mangelndem
Direktmarketing sowie unter den landesweiten Produktionsbeschränkungen,
die von Tokyo aus zum Schutz der mikroskopischen Agrarstruktur Restja-
pans angeordnet wurde. Als „Ersatz“ werden aus Steuermitteln aufwendige
Bodenmeliorationsprogramme durchgeführt und eine umfangreiche Genos-
senschafts- und Agrarbürokratie am Leben erhalten, – mit nur sehr margina-
lem Nutzen für professionell arbeitende Landwirte.
Die von Hokkaido aus operierende Hochseeflotte musste sich mit den 200
Seemeilenzonen der USA, Russlands und Koreas mit starken Einschränkun-
gen ihrer Fanggründe abfinden. In Hokkaidos eigenem Wirtschaftsraum
bedrohten das Überfischen (so bleiben mittlerweile wie seinerzeit in der
Ostsee die Heringsschwärme aus) und mangelhafte Ressourcenpflege das
Überleben der Küstenfischerei. Inzwischen wird versucht, durch Aquakul-
tur, dem Schaffen künstlicher Riffe und dem Aussetzen von Jungfischen
(z.B. Lachs) und mit massiver staatlicher Förderung diesen Wirtschafts-
zweig, der unter Nachwuchsmangel leidet, am Leben zu erhalten.
Mit 5,6 Mio ha hat Hokkaido ein Fünftel der forstwirtschaftlichen Nutz-
fläche Japans.
Aus unerfindlichen Gründen ist die Holzwirtschaft Hokkaidos mit Im-
portstämmen aus Nordamerika, Sibirien und Malaysien nicht nur für die
Pulp- und Papierherstellung an der Küste, ja selbst bei der Möbelindustrie
im Binnenland um Asahikawa nicht länger wettbewerbsfähig.
Bis Mitte der 50er Jahre war der Kohlebergbau der Hauptwirtschafts-
zweig Hokkaidos. Selbst als das Öl schon billiger für die Verstromung

2
Für eine ausführlichere Darstellung der Landwirtschaft Hokkaidos, siehe mei-
nen Aufsatz: Hokkaido – Probleme einer Kornkammer. In: A. Rothacher (Hg.)
Landwirtschaft und Ökologie in Japan. München. 1992. S. 253-75.
240 Regionalportraits

geworden war, arbeiteten in 40 Kohlegruben noch 500.000 Kumpel unter


Tage. Im Februar 2002 wurde der Abbau in der letzten Grube beendet.
Jetzt dient sie nur noch der Ausbildung vietnamesischer und chinesischer
Kumpel, deren Kohle zu einem Drittel der japanischen Förderkosten im-
portiert wird. Die meisten der ehemaligen Bergbaustädte ähneln heute
Geisterdörfern. Nur an den Terrassierungen der Berghänge sieht man die
Spuren der abgerissenen Stadtviertel.
Hokkaido stellt nur 2% der japanischen Industrieproduktion her, ein Indi-
kator mehr für die Unterentwicklung des sekundären Sektors. Zwei Drittel
des Umsatzes entstammen der Leichtindustrie, zumeist der Nahrungsmittel-
verarbeitung (38% der Gesamtproduktion): Käse und andere Milchprodukte
(meist „Snow Brand“), Zucker, Gemüsekonserven, Obstsäfte, Kartoffel-
stärke, Fischprodukte, Sojasoße, Marmeladen, (Sapporo-) Bier, shochu (ein
wodkaartiger Schnaps) und sake (Reiswein). Bei dem Großteil der Herstel-
lung auf Hokkaido handelt es sich jedoch nur um die erste Transformation
der geernteten Rohstoffe. So wird Rübenzucker raffiniert und Milchpulver
getrocknet. Doch erst auf Honshu werden die vom Verbraucher erworbenen
Endprodukte als Joghurts, Speiseeis, Konfitüren und Süßwaren hergestellt.
Auch verlässt ein Gutteil der Schlachttiere Hokkaido noch lebend für die
Schlachthöfe und Wurstfabriken von Tokyo und Osaka.
12% der industriellen Fertigung wird von Ölraffinerien geleistet, die an
der Küste in den Industriestädten Muroran und West-Tomakomai angesie-
delt sind. In Tomakomai befindet sich auch das Zentrum der Pulp-, Pappe-
und Papierherstellung (10%), die sich mittlerweile hauptsächlich auf Im-
porthölzer stützt. Die Papierrollen werden dann per Seefracht in die papier-
fressenden Metropolen Zentralhonshus verbracht.
Seit 1907 ist Nippon Steel (Japan Steel Works) in Muroran. Nach der
Stilllegung der meisten Hochöfen wird Schrott zu Spezialstahl für die Au-
toindustrie verhüttet. Damit fehlt auch die Schlacke für die Zementindust-
rie, die nunmehr ihre Rohstoffe aus Honshu per Schiff beziehen muss.
Traditionell spielten auch die Werften – vor allem in Hakodate an der
Südspitze Hokkaidos – eine wichtige Rolle. Die Krise der Weltschifffahrt,
das Schrumpfen von Japans Fangflotten und die Konkurrenz Koreas und
anderer Schwellenländer signalisieren auch hier den sicheren Niedergang.
Wie erwähnt, hat sich in Hokkaido seit den schwerindustriell geprägten
60er Jahren kein neuer Industriezweig angesiedelt – weder der Fahrzeugbau,
noch die Elektronik oder die chemische Industrie. Isuzu, das Motorblöcke
in einem einsamen Werk im Grünen der Industriezone Ost-Tomakomai
vollautomatisch herstellt, lässt alle Komponenten von seinen traditionellen
Zulieferbetrieben aus der Kanagawa-Präfektur herstellen. Der fertige
Hokkaido 241

Motorblock geht dann postwendend per Schiff zurück ins alte beengte
Stammhaus von Kawasaki zur Montage in die Chassis. Das gleiche gilt für
die benachbart gefertigten Gangschaltungen von Toyota.
Mit seiner Unfähigkeit, integrierte industrielle Fertigungen aufzubauen,
ist es Hokkaido nicht gelungen, aus der absehbar zum Abstieg verurteilten
Rolle des Rohstofflieferanten und Primärverarbeiters zu entrinnen. Nach-
dem die zweite industrielle Revolution voll verschlafen wurde, richtet sich
wie in der gesamten japanischen Provinz die Hoffnung aller Amtsträger
auf die Produkte der dritten Revolution: Software und Biotechnologie. So
hat fast jedes Dorf mittlerweile ein aufwendiges Biotech-Zentrum, wo
Zentrifugen geheimnisvoll wackeln und grüne Algensammlungen in Glas-
kühlschränken herumstehen. Ein sichtbarer produktiver wirtschaftlicher
Nutzen steht allerdings noch aus.
Im tertiären Sektor ist Hokkaido sehr stolz auf sein Verkehrssystem. In
der Tat sind Häfen und Flughäfen sehr gut ausgebaut. Allerdings werden die
meisten Provinzflughäfen nur ein- oder zweimal täglich angeflogen. Als
internationaler Flughafen sollte Chitose bei Sapporo mit seiner zweiten Lan-
debahn und seiner neuen Abfertigungshalle (Kostenpunkt: 60 Milliarden
Yen) nebst Quarantänestation als Frachtflughafen das überlastete Narita
entlasten3. Allerdings schlössen sich für eilige Luftfrachten dann noch 16
Stunden Eisenbahntransport (zuzüglich Kosten) nach Tokyo an. Auch weil
die Polarroute nach Europa seit 15 Jahren nicht mehr genutzt wird, ist auch
Chitose eher untergenutzt. Auslandsflüge finden nur noch nach Asien statt.
Fischereihäfen werden auch da, wo sowohl die Fische als auch die Fi-
scher schon ausgestorben scheinen, unverdrossen weiter gebaut. Der Ha-
fenbau hat den Vorteil, dass kein Geld und Anstrengungen für den Grund-
erwerb verwendet werden müssen und die öffentlichen Mittel alle direkt
der Tiefbauindustrie zugute kommen können. Alle großen Naturhäfen in
Hokkaido: Muroran, Hakodate, Otaru, Kushiro, Wakkanai und Nemuro
leiden unter ungenutzten Überkapazitäten (und sind deshalb bei Angel-
sportlern sehr beliebt). Nichtsdestotrotz wurden auch in Ost-Tomakomai
und in der Ishikari-Bucht neue künstliche Tiefseehäfen angelegt, die von
Otaru und Muroran zusätzlich Seefracht abzogen.
Das Straßenverkehrssystem Hokkaidos wird von einer Ost/West-,
Nord/Süd-Autobahndoppelachse geprägt, die sich selbstverständlich im
Zentrum der Insel, d.h. im Stadtzentrum Sapporos kreuzt. So hat der Auto-
fahrer das Vergnügen, sich wie in Tokyo zu fühlen, wenn er zu Stoßzeiten

3
The Economist 27.11.1993.
242 Regionalportraits

stundenlang im Stau steht. Bei Schnee ist die Autobahn ohnehin meist ge-
sperrt. Das ist bei dem sibirischen Winterwetter nicht gerade selten.
1988 wurde zwischen Hokkaido und Honshu, genauer zwischen den Städ-
ten Hakodate und Aomori nach 15 Jahren Bauzeit und 8 Milliarden Euro
Kosten ein 54km langer Eisenbahntunnel fertiggestellt. Er verkürzte die
Fahrzeit Tokyo-Sapporo von 14 auf 12 Stunden (während die Flugzeit 1,5
Stunden beträgt), und wird daher im Personenverkehr nur regional genutzt.
Erst mit der Verlängerung der Shinkansenlinie nach Sapporo, die die Fahr-
zeit auf 5 Stunden verkürzen würde, könnte der Personenverkehr wirksam
von der Luft auf die Schiene zurückverlagert werden. Nach 30jährigen Pla-
nungen wurde der Baubeginn mit dem Ziel der Fertigstellung im Jahr 2015
unlängst beschlossen. Das Eisenbahnnetz Hokkaidos ist mit 1400km Haupt-
linien zwar auf dem Papier sehr gut entwickelt, ist aber angesichts fehlender
Modernisierungen und ausgedünnter Fahrpläne kaum noch leistungsfähig.
Eigenes Kapital konnte die JR Hokkaido seit ihrer Privatisierung nicht er-
wirtschaften. Investitionen bleiben daher weitgehend aus.
Hokkaido Electrical Power übt das regionale Elektrizitätsmonopol aus.
Durch den Rückgang der teuren Kohleverstromung und den Einsatz des
AKWs Tomari konnten die Strompreise auf das Niveau von Honshu abge-
senkt werden.
Der Tourismus ist der große Hoffnungsträger des tertiären Bereichs. 9
Nationalparks allein hat Hokkaido aufzuweisen – eine weitläufige, weitge-
hend noch unverdorbene und oft atemberaubend schöne und wilde Natur
mit Urwäldern, Bergseen, zerklüfteten, unerschlossenen Gebirgen, in de-
nen Wölfe und Bären noch zugange sind. Hokkaido hat ein mildes, regen-
armes Sommerwetter (Juni-Oktober) und liefert angesichts der kalten Winter
(Dezember-März) verlässliche Möglichkeiten zum Wintersport, die durch
die Winterspiele von Sapporo 1972 weltweit publiziert wurden. Etwa 4
Millionen japanische Kurzurlauber kommen jährlich4. Dieses touristische
Potential hat über Japan hinaus auch in Südostasien und im Pazifik Attrak-
tivität. Bislang ist die touristische Infrastruktur im wesentlichen (abgese-
hen von den großstädtischen Hotels in Sapporo) auf Tourhotels und eine
Handvoll hochpreisiger, erst in den Boomzeiten der 80er Jahre entwickel-
ten resorts, wie Club Med Sahoro, Tomamu und Yubari für den pauschal-
buchenden Kurzzeiturlauber beschränkt.
Seit den Kolonisierungsinitiativen der späten Meiji-Zeit gibt es eine
aufwendige Entwicklungsplanung und eine umfängliche staatliche Ent-
wicklungsförderung in Hokkaido, die jedoch nach dem Ende der Hoch-

4
The Economist 11.12.2004.
Hokkaido 243

wachstumsphase der 60er Jahre sich zum Lobbyieren für unverbundene


Einzelprojekte, die aus den Fördertöpfen verschiedener Tokyoer Ministe-
rien finanziert wurden, erschöpften. Dazu zählen längst vergessene Flops
wie ein Weltraumzentrum in Tokachi und ein Maglev-Bahnprojekt zwi-
schen Sapporo und Chitose5. Eine integrierte, ökonomisch stimmige Ent-
wicklungsstrategie gibt es weiter nicht, nur jede Menge wohlklingender,
nichtssagender Slogans und Wehklagen über die Globalisierung und die
chinesische Konkurrenz. Als im Jahr 1997 nach längerem Todeskampf die
größte Regionalbank, die Hokkaidoer Entwicklungsbank (Takugin) mit
mehr als 8 Milliarden US-Dollar fauler Immobilienschulden zusammen-
brach6, reagierte die Zentralregierung mit einer massiven Aufstockung des
öffentlichen Bauhaushaltes in Hokkaido, der auf 12 Milliarden US-Dollar
jährlich aufgebläht wurde, mit der Folge, dass 1999 für den Bau sinnloser
Brücken und Häfen die Bauarbeiter knapp zu werden begannen7. So wurde
der Wirtschaft Hokkaidos durch die zunehmende Abhängigkeit von öffent-
lichen Bauaufträgen für die 28.000 Baufirmen die letzten Reste des alten
Pioniergeistes ausgetrieben. Doch ist diese Subventionsstrategie weder
vom Bedarf noch von der Finanzierung her nachhaltig. Die Präfektur hat
ihre Schulden zwischen 1995/99 allein auf 4000 Milliarden Yen verdop-
pelt. Der übliche Traum der öffentlichen Schuldenmacher, eine Nachfra-
gebelebung werde für die Tilgung sorgen, bewahrheitet sich natürlich
nicht. Die seit April 2003 gewählte tüchtige neue Gouverneurin Harumi
Takahashi, eine ehemalige Spitzenbeamtin des Wirtschaftsministeriums
METI, bemüht sich jetzt im direkten Antichambrieren in den Firmenzent-
ralen Honshus um vermehrte Industrieansiedlungen in Hokkaido8.
Für solche Industrieansiedlungen werden von allen Instanzen scheinbar
großzügige Hilfen in Aussicht gestellt: Bis zu 3,7 Milliarden Yen an Kapi-
talhilfen und Niedrigzinskrediten sowie zusätzlichen Steuerbefreiungen
werden für die richtige Neuansiedlung (hochtechnologisch und beschäfti-
gungsintensiv soll sie sein) am richtigen Ort (nahe aussterbender Kohle-
und Agrarstädtchen) in Aussicht gestellt.
70.000ha voll erschlossenes Industriegelände in 80 Industrieparks ver-
schiedener Größe wartet auf die Investoren – zum Teil schon seit langer Zeit.
Die Bodenpreise in diesem Industriepark, die sich zwischen 2000Yen/m²

5
Financial Times 10.7.1995.
6
Große Teile des Zweigstellennetzes und die gesunden Kredite wurden von der
North Pacific Bank (Hokuyo) übernommen.
7
Financial Times 1.4.1999.
8
Business Link Hokkaido Nr. 25, 2005/3.
244 Regionalportraits

(Yubari) und 20.000Yen/m² (Ishikari) bewegen, liegen weit unter den ver-
gleichbaren Preisen in den Ballungszentren. Als Standortvorteile gibt es die
günstige Nutzung der Primärgüter aus Landwirtschaft, Fischerei und Fors-
ten; saubere Luft, klares Wasser, niedrige Luftfeuchtigkeit, geringer Küh-
lungsbedarf bei Produktion und Lagerung; eine sichere Energieversorgung,
relativ einfache Transport- (einschließlich Luftfracht) und Kommunikati-
onsmöglichkeiten; Anschluss an Kläranlagen; die Möglichkeit junge Tech-
niker und Ingenieure zu rekrutieren (die Lohnkosten liegen bei 90% des
japanischen Durchschnitts); Hokkaido als Markt mit 5,6 Millionen Einwoh-
nern; schließlich der Freizeitwert Hokkaidos mit seinen milden Sommern,
Naturparks, Sportmöglichkeiten (Ski, Golf, Wandern, Fischen, Schwimmen),
verbunden mit den großstädtischen Qualitäten Sapporos (Gesundheits-
fürsorge, Schulen, Bankdienstleistungen, allen Einkaufs- und kulturellen
Möglichkeiten, mit der Universität Hokkaidos [Hokudai] als eine der besten
Hochschulen Japans sowie in Susukino eines ausgedehnten Nachtlebens mit
4500 Bars) und – in wesentlich geringerem Maße – den Qualitäten der Pro-
vinzstädte. In der Tat siedeln sich japanische Industrien auf Hokkaido nur im
begünstigten Großraum Sapporo (mit seinen Industrieparks Chitose-Rinku
und Sapporo Techno Park) an. So werden die innerjapanischen Entwick-
lungsgefälle auf Hokkaido zwischen seiner blühenden Hauptstadt und der
absterbenden Peripherie der Insel noch einmal reproduziert.

10.3 Okinawa

Carina Simon und Stefanie Gleitsmann

Seit Jahrhunderten gilt die südjapanische Präfektur Okinawa als kulturelle


und ethnische Schnittstelle, die auf ihre zentrale geografische Lage zurück-
zuführen ist. Vor mehr als 120 Jahren erhielt Okinawa den Status eines Teils
Japans, als seine Bürger noch nach national identitätsstiftenden Kriterien
suchten.

10.3.1 Aufteilung und Verwaltung Okinawas

Die Insel Okinawa, die als Geburtsstätte der Kampfkünste Karate-Do, Tode
und Kobudo gilt, liegt zwischen Japan und Taiwan im Pazifischen Ozean. 9
Der Name „Okinawa“ (wörtlich: „Tau im offenen Meer“) spiegelt Okinawas

9
Vgl. Wikipedia (2006): Okinawa, http://de.wikipedia.org/wiki/Okinawa, 07.05.06.
Okinawa 245

Lage unter den Inseln des Ryukyu-Archipels wider, da sie sich ungefähr in
der Mitte dieser Inselkette befindet. Okinawa ist nicht nur der Name der
47. Präfektur Japans (Okinawa Ken) sondern auch der Name einer Insel
(Okinawa Shima oder Okinawa Honto). Diese war früher Mittelpunkt des
Ryukyu-Königreiches. Die Präfektur Okinawas liegt im südwestlichsten
Teil Japans und besteht neben der Okinawa-Insel ebenfalls aus dem Ryu-
kyu Archipel, der aus 49 bewohnten und 110 unbewohnten Inseln be-
steht.10 Diese Inseln teilen sich in drei Hauptinselgruppen (von Norden
nach Süden): Okinawa, Miyako und Yaeyama. Die letzten beiden Inseln
werden auch oft zusammengefasst und als Inselgruppe Sakishima bezeich-
net. Außerdem gibt es weitere Inseln, die zu keiner dieser drei Inselgrup-
pen gehören, wie z.B. die 110 Kilometer nördlich gelegene Insel Iotoris-
hima, die drei Inseln der 350 km südöstlich gelegenen Inselgruppe Daito
oder auch die unbewohnte Inselgruppe Senkaku, die sowohl von Japan, als
auch von China und Taiwan beansprucht wird. Die größten Inseln sind
Okinawa Island, Iriomote Island und Ishigaki Island, gefolgt von acht wei-
teren Inseln, die von bedeutender Größe sind. Die gesamten Inseln erstre-
cken sich auf ein Areal von ca. 1000 km von West nach Ost und 400 km
von Norden nach Süden; 500 Kilometer südlich der japanischen Hauptin-
sel Kyushu liegt Okinawa Island Die Insel Yonaguni ist nur circa 125 km
von Taiwan entfernt und ist bei gutem Wetter sogar in Sichtweite.
Die Anzahl der Bewohner aller Inseln beträgt rund 1.350.000 Menschen.
Die Hauptstadt der Präfektur und Sitz der Präfekturverwaltung ist die Stadt
Naha. Sie befindet sich auf Okinawa Honto, der Hauptinsel der Inselgruppe
und hat 312.000 Einwohner. Außerdem gibt es 10 größere Städte, zum
Beispiel Okinawa mit 126.000 Einwohnern, Uruma mit 114.000 oder auch
Urasoe mit 106.000 Einwohnern. Die Einwohnerzahl aller anderen Ge-
meinden liegt bei unter 100.000.

10.3.2 Geschichte

Die 140 Inseln Okinawas waren im 12. bis 14. Jhd. ein selbstständiges
Königreich, das im 15. Jhd. zur Herrschaft der Sho-Dynastie gehörte und
als Blütezeit Okinawas empfunden wird. Jedoch übernahm 1609 der japa-
nische Satsuma-Klan von Süd-Kyushu aus die diktatorische Herrschaft
über Okinawa, bis sie 1879 eine Präfektur Japans wurde.

10
Prefecture Okinawa (2005): Outline of Okinawa prefecture, http://www.pref.
okinawa.jp/overview.html, 14.05.2006.
246 Regionalportraits

Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges fielen die Amerikaner in einer der
schlimmsten Schlachten im Asien-Pazifik-Krieg auf Okinawa ein und er-
oberten nach drei Monaten die Insel.11 Die Schlacht um Okinawa (1.4. bis
30.6.1945) war ein wichtiger strategischer Zug der Amerikaner im Asien-
Pazifik-Krieg. Das Ziel war die Eroberung der Industriezentren der japani-
schen Hauptinseln.12 In dieser Schlacht im Jahre 1945 starben mehr Men-
schen als beim Atombombenangriff auf Hiroshima und Nagasaki. 13 Insge-
samt wurden mehr als 12.000 Amerikaner getötet, 38.000 verletzt. Rund
110.000 Japaner, darunter 1.900 Kamikaze-Piloten sowie Soldaten aus Oki-
nawa, fielen. 100.000 Zivilisten, ein Viertel der damaligen Inselbevölke-
rung, wurden getötet.
Mitte März 1945 machten sich 1.300 amerikanische Schiffe auf den
Weg zum Angriff. Die ersten Kamikaze-Attacken auf die US-Marine be-
gannen im April 1945. Ihnen gelang es aber nur 26 meist kleinere US-
Schiffe zu versenken. Obwohl auf Okinawa mehr als 130.000 japanische
Truppen stationiert waren, beschlossen die Japaner nicht wie sonst üblich
die Küstenregion zu verteidigen, um dort sinnlose Verluste durch die
Schiffsartillerie und die Bombenangriffe der Alliierten zu vermeiden.
Stattdessen wurde die Verteidigung tiefgestaffelt in Dschungelfestungen
im Inselinneren geführt.
Die Eroberung Okinawas begann im Osten und setzte sich im Norden
der Insel fort. Anschließend wurden die umliegenden Inseln angegriffen
und zuletzt die ausgiebige Tunnellandschaft der gutausgebauten Gebirgs-
festung Shuri in langwierigen, auf beiden Seiten mit großer Härte, Tapfer-
keit und Grausamkeit geführten Kämpfen gestürmt. Nach der Kapitulation
des Hauptteils der wenigen überlebenden japanischen Truppen am 30. Juni
1945 setzten versprengte Truppenteile noch ihren Partisanenkampf fort.
Bald verwandelten amerikanische Ingenieure und Konstrukteure die In-
sel – lange bevor die Kämpfe endeten – Okinawa in den Hauptstützpunkt
für die geplante Invasion der japanischen Hauptinseln, der die japanische
Kapitulation zuvorkam.
Durch den Friedensvertrag von San Francisco 1951 erhielt die Insel den
Status einer „Republic of the Ryukyus“ unter amerikanischer Besatzung.

11
Vgl. GlobalSecurity.org (2006): Battle of Okinawa, http://www.globalsecu-
rity.org/military/facility/okinawa-battle.htm, 07.05.06.
12
Vgl. Lacey, Laura (2003): Battle of Okinawa, http://www.militaryhistory-
online.com/wwii/okinawa/default.aspx, 07.05.06.
13
Vgl. GlobalSecurity.org (2006): Battle of Okinawa, http://www.globalsecu-
rity.org/military/facility/okinawa-battle.htm, 07.05.06.
Okinawa 247

Im Januar 1972 verhandelten der Premierminister Sato und der amerikani-


sche Präsident Nixon über die Rückgabe Okinawas an Japan. Die Regie-
rung der Ryukyu-Inseln gründete ein „People’s Council on Restoration
Issues“, um die japanische Regierung zu beraten. Kurz darauf wurde die
Einigung vom Parlament abgesegnet, und Okinawa gehört seit dem 15 Mai
1972 nach 25 Jahren unter der Herrschaft Amerikas wieder zu Japan. Trotz
der Tatsache, dass die Einwohner Okinawas eigentlich nicht gefragt wur-
den, wurde die Angliederung an Japan akzeptiert. Die Lebensstandards der
Einwohner Okinawas stiegen nach dem Anschluss deutlich. Als eine der
ersten Maßnahmen stellte die japanische Regierung die örtliche Währung
von Dollar auf Yen um, zahlte allerdings Entschädigungen für den schlech-
ten Wechselkurs. Ebenso wurde ein öffentlicher Fond gegründet, um die
Straßen, Häfen und Flugplätze auszubauen und instand zu halten. Auch die
Verkehrsregeln wurden angepasst. So wurde von nun an auf der linken und
nicht länger auf der rechten Seite der Straße gefahren.
Trotz allem sind dennoch ungefähr ein Fünftel der Fläche der Ryukyu-
Inseln bis heute weiter US-Stützpunkte wie zum Beispiel die Kadena Air
Base und Camp Foster, die eine wichtige strategische Rolle für die US-
Militärpräsenz im Westpazifik spielen. Aus diesem Grund wird die Insel,
auf der noch fast 12.000 Infanteristen stationiert sind, gelegentlich „unver-
senkbarer Flugzeugträger“ genannt. Auch wirtschaftlich spielen die vielen
Militärbasen eine große Rolle für Okinawa. Dies wird im folgenden Teil
über die Wirtschaft Okinawas genauer erläutert.

10.3.3 Geografie und Infrastruktur

Okinawa hat eine hervorragende Lage im ostasiatischen Raum. Die wich-


tigsten und größten asiatischen Städte (Taipeh, Shanghai, Hongkong, Seoul,
Manila, Osaka und Tokyo) liegen in einem Radius von rund 1.500 Kilo-
metern um Okinawa. In neunzig Minuten erreicht man mit dem Flugzeug
sowohl Shanghai als auch Taiwan und in zweieinhalb Stunden ist man in
Tokyo, Seoul, Peking, Hongkong oder Manila. Somit ist Okinawa das südli-
che Eingangstor Japans zu China, Südost-Asien und Ozeanien. Diesen geo-
grafischen Vorteil nutzte Okinawa bereits im vierzehnten und sechzehnten
Jahrhundert besonders für den Übersee-Handel mit China und Südost-Asien
und dominierte damals sogar fast den ostasiatischen Seehandel. Auch heute
noch ist Okinawa eine südjapanische Drehscheibe für den Verkehr, Handel
und kulturellen Austausch mit der umliegenden Region.
In Okinawa selbst wurde besonders in den letzten Jahren viel in die In-
frastruktur investiert und das Verkehrsnetz weitreichend ausgebaut. So ist
248 Regionalportraits

der Flughafen von Naha ein wichtiger Standort. Es gibt vier ständige inter-
nationale Routen sowie diverse Flüge innerhalb Japans und der Präfektur
Okinawas. Ein weiterer wichtiger Faktor für die Wirtschaft in Okinawa
sind die Häfen mit den großen Anlegestellen für Schiffe bis zu 40.000
Tonnen. Die größten Häfen sind in Naha, Nakagusuku Bay, Unten, Hirara,
Ishigaki und in der Kin Bay. Das Straßennetz in Okinawa wurde auch auf
Grund des steigenden Tourismus in dieser Region in den vergangenen Jah-
ren weiter ausgebaut. So erreicht man alle Teile Okinawas über drei
Hauptwege, die National Route 329 an der Ostküste, die National Route 58
an der Westküste und den Okinawa Expressway, der alle großen und wich-
tigen Städte miteinander verbindet. Zu der Special Free Trade Zone (im
folgenden näher beschrieben) und den Industry Development Districts
führen weitere ausgebaute Hauptstraßen, die diese Zonen auch mit dem
Flughafen in Naha verbinden.

10.3.4 Wirtschaft

Die Wirtschaft Okinawas hängt hauptsächlich vom Tourismus, Dienstleis-


tungen, der Bauwirtschaft und Investitionen von öffentlicher Seite ab.14
Ein wichtiger zusätzlicher Faktor für die Wirtschaft ist natürlich auch das
Vorhandensein der Militärbasen der USA in denen ein Großteil der 50.000
in Japan stationierten US-Soldaten lokalisiert ist. Den in Japan stationier-
ten US-Militärs und anderen ausländischen Unternehmen offeriert Oki-
nawa verschiedenste Geschäfts- und attraktive Freizeitmöglichkeiten,
zum Beispiel in der Hotellerie und im Tourismus, etwa zum Tauchen,
Bootsausflüge, Fischen, etc.
Besonders auf den südlichen Inseln Miyako und Ishigaki, aber auch in
den anderen Teilen Okinawas wurde in den letzten Jahren von der Präfek-
turverwaltung verstärkt in die einschlägige Infrastruktur investiert, um den
Tourismus nachhaltig zu fördern. Ein neuer Flughafen ist auf der Insel
Ishigaki geplant. Es wurden bereits erstklassige Clubanlagen gebaut, um
auf die wechselnden Bedürfnisse der Touristen zu reagieren. Denn nicht
zuletzt das subtropische Klima, der smaragdgrüne Ozean und die feinen
Sandstrände machen Okinawa wohl zu der beliebtesten Ferienregion der
Japaner, locken aber auch viele ausländische Touristen an. Umgeben von
dem Kuroshio Meeresstrom, kann Okinawa mit fantastischen Landschaften

14
Vgl. Governor of Okinawa Prefecture (2002): Greetings from the governor,
http://www.pref.okinawa.jp/english/business/images/english.pdf, 14.05.2006.
Okinawa 249

aufwarten. So gibt es unberührte Korallenriffe, die zu den schönsten der


Welt zählen, herausragende Strände, beeindruckende Küstenlinien und
eine wunderschöne, farbenfrohe Flora. Das angenehme subtropische Klima
lässt die Temperatur über das Jahr relativ gleich bleiben. So beträgt die
Durchschnittstemperatur 22,7 Grad Celsius. All diese Faktoren tragen dazu
bei, dass jährlich rund 4.500.000 Touristen in die Präfektur Okinawa strö-
men, um ihren Urlaub dort zu genießen und den Tourismus auf Okinawa
zu einem der bedeutendsten Wirtschaftsträger zu machen.
Bekannt ist Okinawa auch für die traditionellen Güter, die hauptsächlich
auf die japanischen Hauptinseln exportiert werden, wie zum Beispiel Oki-
nawa-Sake, Shamisen, traditionelle Kimonos und Nahrungsmittel wie Fi-
sche, Rohrzucker und tropische Früchte.

10.3.4.1 Die Besondere Freihandelszone SFTZ


Um die Wirtschaft Okinawas anzukurbeln und mehr Unternehmen in diese
Region zu locken, hat die Regierung in Tokyo entschieden, über eine Peri-
ode von zehn Jahren rund 100 Milliarden US-Dollar in die wirtschaftliche
Vermarktung Nord-Okinawas zu investieren. Dieses Geld dient zum Bei-
spiel dazu, sogenannte „Besondere Freihandelszonen“ zu finanzieren. Sie
wurden mit dem Zweck gegründet, Unternehmen zu ermutigen, Filialen,
Unternehmenszweige oder Tochtergesellschaften auf Okinawa aufzubauen
und den Handel zu fördern. Dies geschieht unter anderem durch Steuerbe-
günstigungen für Investoren im Handel, der Informationstechnologie und
der Telekommunikation. Das der Freihandelszone zu Grunde liegende
Gesetz ist das „Okinawa Promotional Special Measures Law“.
Seit April 2002 bietet das Okinawa Industrial Development Center den
Unternehmen der SFTZ eine Reihe von Dienstleistungen: die Bereitstel-
lung von Informationen, Unterstützung bei Behördenkontakten und För-
deranträgen und Beratungsgespräche. Um ein Grundstück in diesen Frei-
handelszonen zu erwerben, sind vor allem zwei Qualifikationen zu
erfüllen: Der Bewerber muss ein bereits etabliertes Unternehmen sein und
einen Business Plan aufgestellt haben, der einen ausführlichen Finanzie-
rungsplan enthält.
Autorisierte Unternehmen in der SFTZ genießen verschiedene Vorteile,
wie zum Beispiel:15

15
Vgl. Governor of Okinawa Prefecture (2002): Greetings from the governor,
http://www.pref.okinawa.jp/english/business/images/english.pdf, 14.05.2006.
250 Regionalportraits

1. Ihre Güter sind von den Zöllen und der domestic consumption tax,
d.h. der Mehrwertsteuer von 5%, befreit, wenn die weiterverarbeite-
ten Güter re-exportiert werden.
2. Ihnen ist es gestattet, die importierten Güter zu lagern, während die
Einfuhrzölle und die domestic consumption tax erst dann fällig wer-
den, wenn die Güter auf den japanischen Markt transportiert werden.
3. Importierte Güter sind auch dann von Zöllen und der Steuer befreit,
wenn sie wieder exportiert oder in der SFTZ verbraucht werden.
Auch gibt es weitere großzügige Vergünstigungen in Bezug auf die natio-
nalen Steuern. So können Unternehmen, die in der Fertigung, Montage
oder Lagerhaltung tätig sind, zwischen drei verschiedenen Vergünstigun-
gen wählen: 1. bei der Einkommenssteuer, 2. bei der Investitionssteuer
oder 3. durch besondere Abschreibungen. Bei den Zöllen gibt es ebenfalls
verschiedene Möglichkeiten. So können Unternehmen der Fertigungsin-
dustrie entscheiden, ob sie die Zölle auf das Rohmaterial oder auf das
Endprodukt zahlen wollen, je nachdem, was für sie günstiger ist. Des Wei-
teren ist die Genehmigungsgebühr um versicherte Lagerstätten zu errich-
ten, um fünfzig Prozent reduziert. Auch bei lokalen Steuern gibt es Ver-
günstigungen bei den Unternehmenssteuern, der Grunderwerbssteuer,
sowie der Steuer auf Anlagevermögen.
In der SFTZ gibt es überwiegend Unternehmen der Fertigungs- und
Montageindustrie, der Lagerhaltung, des internationalen Frachthandels und
des Großhandels. Die durchschnittliche Größe eines Grundstückes beträgt
18 Hektar bei einem Preis von ca. 26.700 Yen pro Quadratmeter. Aller-
dings gibt es auch die Möglichkeit, Fabrikgebäude bzw. Grundstücke zu
pachten. Diese Variante wurde geschaffen, um die besonders anfangs be-
stehenden Finanzierungshürden für neue Unternehmen zu minimieren. 16
Neben der „Besonderen Freihandelszone“ gibt es noch die sogenannten
Industrial Development Districts. Diese fallen ebenfalls unter das Okinawa
Promotional Special Measures Law. Auch hier gelten besondere Steuerbe-
günstigungen. Von diesen Entwicklungsbezirken gibt es mehrere in Oki-
nawa. Im Norden sowie im Zentrum Okinawas gibt es Industrial Deve-
lopment Districts in folgenden Städten bzw. Regionen: Ishikawa, Gushi-
kawa, Nago, Okinawa Stadt, Kin, Yonashiro, Katsuren und Yomitan. Im
Süden befinden sich diese Distrikte in Naha, Ginowan, Urasoe, Itoman,

16
Governor of Okinawa Prefecture (2002): Greetings from the governor,
http://www.pref.okinawa.jp/english/business/images/english.pdf, 14.05.2006.
Die regionale Wirtschaftsförderung 251

Tomigusuku, Nishihara sowie Haebaru. Unternehmen, die sich hier nieder-


lassen wollen müssen in speziellen Bereichen tätig sein.17
1. Fertigung, Verpackungsindustrie, Lagerhaltung, Fracht, Großhandel,

2. Beratungsfirmen, Werbeagenturen, Immobilienverwaltung, For-
schung & Entwicklung, …
Natürlich gibt es auch in diesen Industrial Development Districts besonde-
re Anreize, um Unternehmen in die entsprechenden Regionen zu locken.
Im Bereich der nationalen Steuern gibt es Vergünstigungen bei den Inves-
titionssteuern und bei den besonderen Abschreibungen. Bei den lokalen
und präfekturalen Steuern gibt es Vorteile bei der Gewerbesteuer, der
Grunderwerbssteuer sowie bei Steuern bezüglich des Anlagevermögens.

10.3.5 Literatur
GlobalSecurity.org (2006): Battle of Okinawa,
http://www.globalsecurity.org/military/facility/okinawa-battle.htm
Governor of Okinawa Prefecture (2002): Greetings from the governor,
http://www.pref.okinawa.jp/english/business/images/english.pdf
Japan heute und morgen (2000): G8-Gipfeltreffen in Kyushu und Okinawa,
http://www.at.emb-japan.go.jp/JHM082000/j_a2_082000.htm
Lacey, Laura (2003): Battle of Okinawa,
http://www.militaryhistoryonline.com/wwii/okinawa/default.aspx
Prefecture Okinawa (2005): Outline of Okinawa prefecture,
http://www.pref.okinawa.jp/overview.html
Wikipedia (2006): Okinawa, http://de.wikipedia.org/wiki/Okinawa

10.4 Die regionale Wirtschaftsförderung

Wer je die japanische Provinz in offizieller oder geschäftlicher Mission


bereist, wird schnell mit bunten Broschüren, wohleinstudierten Vorträgen,
generösen Empfängen und leidenschaftlichen Plädoyers örtlicher Würden-
träger für mehr Auslandsinvestitionen in ihrer Gegend geflutet. Es ist
schwierig, sich dieser Offensive der Freundlichkeit zu entziehen.

17
Governor of Okinawa Prefecture (2002): Greetings from the governor,
http://www.pref.okinawa.jp/english/business/images/english.pdf, 14.05.2006.
252 Regionalportraits

Im kalten Licht des Morgens danach macht man eine frappante Entde-
ckung: Der Vergleich zwischen den verschiedenen Förderangeboten all
jener notleidenden japanischen Präfekturen zeigt eine erstaunliche Ähn-
lichkeit. Alle umwerben sie die gleiche Zielgruppe (High tech, Bio- und
Umweltindustrien) und bieten in Summe, rechnet man die komplexen Nu-
ancen gegeneinander auf, auch ziemlich die gleichen Anreize. Das in Eu-
ropa und Nordamerika beliebte Pokerspiel um die besten Förderpakete
zwischen Ländern, Regionen und Standorten bei Neuansiedlungen, kann
also in Japan kaum gespielt werden. Im Zentralstaat Japan wacht das Wirt-
schaftsministerium METI, dass es zum Subventionswettlauf nicht kommt.
Die Präfekturen sind in ihren Ausgaben ohnehin zu zwei Dritteln von Zu-
weisungen Tokyos abhängig. Wenn überhaupt, dann fördern sie mit ihren
knappen Mitteln lieber die einheimische Wirtschaft.
In der Tat erscheint die Großzügigkeit der offerierten Wohltaten be-
grenzt (vor allem dann wenn man sie mit den Begünstigungen vergleicht,
die japanische Investoren in Europa oder den USA erwarten!). Dies gilt für
alle vier Hauptelemente: Steuervorteile und Sonderabschreibungen, Direkt-
subventionen, bezuschusste Darlehen, und die Dienstleistungen der staat-
lichen Japan Regional Development Corporation (JRDC) und der örtlichen
und Präfekturverwaltung.
Als steuerliche Anreize können bis zu 3 Jahre lang die Unternehmens-
steuern in Höhe von 5-10% des Gewinns erlassen werden, ebenso wie die
Grunderwerbsteuer in Höhe von 4% des Kaufpreises und eine örtliche
Steuer von 1,4% des Immobilienwertes. Bei einer Ansiedlung in einer der
leerstehenden Technopoles winken Sonderabschreibungen von 30% auf
das Gerät und 15% auf die Gebäude im ersten Jahr. Die Subventionen für
industrielle Neueinstellungen in sich entvölkernden Gegenden bewegen
sich zwischen 50% und 150% des Monatsgehaltes pro eingestelltem Ar-
beitnehmer. Langfristige öffentliche Kredite werden von der Japan Deve-
lopment Bank vergeben. Die Zinssubvention ist im Nullzinsland Japan
nicht gerade umwerfend. Die staatliche Kreditvergabe hilft aber bei der
Vergabe anderer Kredite durch kommerzielle Banken.
Die JRDC hat jede Menge leerer, gut erschlossener Industrieparks im
Angebot. Dabei gilt der wenig überraschende Grundsatz: je leerer und
hoffnungsloser der Standort, desto billiger der Verkaufspreis. Manche je-
ner Industrieparks wurden wie in Tomakomai in Picknickgründe umge-
wandelt, immerhin gibt es genügend Toiletten und Parkplätze, oder wie in
Nagasaki zu normalem Bauland für Einfamilienhäuser18. Eine positive

18
„Japan’s land that time forgot“ Financial Times 22.8.1995.
Die regionale Wirtschaftsförderung 253

Einstellung der örtlichen Politik und Verwaltung ist sicher hilfreich für die
Bewältigung der zahlreichen Behördengänge und Genehmigungsverfah-
ren, bei denen japanische Beamte einen weiten Ermessensspielraum
bezüglich der für nötig befundenen Zeit und Gründlichkeit ihrer Untersu-
chungen und der gewünschten Dokumentationen haben. Ein positives
öffentliches Klima hilft auch bei der Rekrutierung des Personals für Finan-
zen, Geschäftskontakte und die Bereitstellung der nötigen Infrastruktur.
Insgesamt aber gilt: Je ferner ein Standort von dem metropolen Küsten-
streifen des Pazifik entfernt ist, desto höher sind seine Transport- und
Kommunikationskosten. Damit ist der Vorteil des billigen Grunderwerbs
und der frischen Luft schnell aufgezehrt. Nicht umsonst wandert die japa-
nische Industrie zuallererst aus ihren Einödstandorten und aus der Provinz
nach China ab. Es sind die Kosten jener Standorte, nicht der Mangel an
Patriotismus. Auch wenn die Banketts und die Freundlichkeiten der Gou-
verneure dort weniger generös sind, empfiehlt sich für Betriebsansiedlun-
gen doch eher die nähere Peripherie der metropolen Lagen: das nördliche
Kanto, die Gegend zwischen Tokyo und Nagoya und das Umland von
Kansai. Hier könnten die Vorteile des noch relativ preisgünstigen Grund-
erwerbs und leicht reduzierter Arbeitskosten mit deutlich verminderten
Kommunikations- und Transportkosten kombiniert werden.19

19
Albrecht Rothacher. Investment Incentives in Japan’s Regions. Rivista Interna-
zionale di Scienze Economiche e Commerciali. 39, 1992, 1015-23.
11 Japan, Europa und die EU

Mangels Kontroverse nimmt heute kaum noch jemand von den bilateralen
Gipfeltreffen Notiz. Im Mai 2005 trafen sich Premier Koizumi, Kommissi-
onspräsident Barroso und der damalige luxemburgische Ratspräsident Jun-
cker und gaben eine achtseitige Pressestellungsnahme heraus. Sie verkün-
deten, sie wollten „eine effektive Partnerschaft schaffen, die internationale
Schlüsselprobleme anspricht, zusammenarbeitet, um das multilaterale Sys-
tem zu stärken, und eine starke und effektive bilaterale Beziehung auf-
baut“. Der Rest der Stellungnahme besteht aus rhetorischem Süßholz, das
zwei Bürokratien, die des japanischen Außenministeriums und die der Eu-
ropäischen Kommission, raspeln und sich gegenseitig gratulieren, wie
wunderbar sie gemeinsam diese Welt und ihre Probleme managen. Dage-
gen ist nichts einzuwenden. Es tut auch niemandem weh. Irgendwie muss
jemand gemerkt haben, dass der Rest der Welt nicht allzu viel Notiz nahm.
Deshalb wurde auf Seite 8 noch schnell als letzter Punkt angefügt, die
Völker und Kulturen Europa und Asiens müssten einander näher gebracht
werden. Das ist auch in Ordnung.
Die Beziehungen zwischen Europa und Japan haben sich sicher enorm
entwickelt mit vielen Höhen und Tiefen. Während der letzten 400 Jahren
waren sie meistens – aber nicht immer – freundschaftlich. Wenn sie auf
Tiefpunkten waren, wie während der beiden Weltkriege, lag dies daran,
dass die europäischen Nationen sich gegenseitig bürgerkriegsähnlich
bekämpften und Japan Partei nahm. Im Ersten Weltkrieg gegen Deutsch-
land und im Zweiten gegen England. Produktiver dagegen war der ge-
genseitige intellektuelle Austausch während jener Jahrhunderte1.
Nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs brauchten Europa und
Japan einige Zeit, um die Verbindungen wiederherzustellen. Im ersten
Nachkriegsjahrzehnt betrug der bilateralen Handel mit jedem der künftigen
EWG- (EU-) Staaten gerade einige Millionen Dollar. Typische japanische
Exporte waren damals Spielzeuge, Keramik, Ferngläser, Nähmaschinen
und Textilen. Das ist offensichtlich eine Weile her.

1
Siehe: George Sansom. The Western World and Japan. Tokyo 1977, und: En-
dymion Wilkinson. Misunderstanding. Europe versus Japan. Tokyo 1981.
256 Japan, Europa und die EU

In dem Maße, in dem in Europa und in Japan der Wiederaufbau und das
Nachkriegswachstum in Schwung kam, entwickelte sich der Handel und
die bilateralen Beziehungen stürmisch – und bald sehr asymmetrisch zu-
gunsten Japans. Dies führte ab den 70er Jahren zu viel öffentlichem Lärm
und Drohungen mit Handelskriegen, die sich freilich als zahnlos heraus-
stellten. In den 90er Jahren begannen beide Wirtschaften zu stagnieren.
Reife und abgeklärte Weisheit prägte nun die bilateralen Beziehungen, so
wie es sich für alternde Gesellschaften und überschuldete Regierungen
geziemt, die sich von aggressiven Emporkömmlingen wie China und In-
dien bedroht fühlen.
Genauer lassen sich vier Phasen der Nachkriegsbeziehungen zwischen
Japan und EU-Europa unterscheiden2:
1. Bis 1975: Japan entwickelte sich schnell und eroberte seine Markt-
anteile in Europa mit neomerkantilistischen Exportoffensiven. Aus
Ignoranz und Arroganz nahmen die EG-Mitgliedstaaten Japan nicht
ernst. Die deutsche Automobilindustrie verkündete lauthals, die Ja-
paner würden nie in der Lage sein, vernünftige Autos zu bauen. Die
Europäische Kommission hatte enorme Schwierigkeiten, von den
Mitgliedstaaten ein Verhandlungsmandat mit Japan zu bekommen.
Es gelang daher nicht, damals Japans weitgehend geschlossene
Märkte rechtzeitig zu öffnen. Typisch für die europäische Einstel-
lung war ein Kommentar von Charles de Gaulle, der anno 1964 den
ihn besuchenden japanischen Premier Ikeda abschätzig einen „Tran-
sistor-Verkäufer“ nannte. Ikeda hatte in den Gesprächen mit de
Gaulle versucht, den französischen Markt für japanische Radios zu
öffnen, während de Gaulle nur am großen strategischen Diskurs über
die Weltlage interessiert war.
2. 1975-85: Von den beiden Ölkrisen ausgelöst beginnen japanische
Exportoffensiven Schlüsselsektoren der EU-Wirtschaft ernsthaft zu
beschädigen. Dazu zählen die Automobilindustrie, der Schiffsbau,
Stahl, Kugellager und die Unterhaltungselektronik. Die meisten euro-
päischen Hersteller von Motorrädern, Uhren, Radios und Kameras
sind bereits tot. Weil der japanische Markt in fast allen für die euro-
päische Industrie interessanten Sektoren geschlossen bleibt, ist das
Handelsungleichgewicht gewaltig. Trotz der Versuche eines gewissen
Inselstaates, die gemeinsame Handelspolitik gegenüber Japan im

2
Für Details zu den ersten zwei Phasen siehe: Albrecht Rothacher. Economic
Diplomacy between the European Community and Japan. Aldershot. 1983.
Japan, Europa und die EU 257

Gegenzug für japanische Investitionen zu blockieren, gelingt es der


Kommission, ein Mandat für Handelsverhandlungen von den Mit-
gliedstaaten zu erhalten. Leider war die gemeinsam vereinbarte
Politik zunächst hauptsächlich defensiv. Es wurde versucht, Japan
zu temporären Exportzurückhaltungen zu bewegen und Mindestim-
portpreise einzuhalten. Bei deren Wirkungslosigkeit wurden Anti-
Dumpingzölle angedroht, sollten japanische Hersteller, was niemand
bezweifelte, unter den Gestehungskosten ihre Produkte in Europa
anbieten. Auch in den USA wurden japanische Importe und ihr un-
fairer Außenhandel für die wirtschaftliche Malaise nach den Ölkri-
sen verantwortlich gemacht. Berühmt wurde damals ein internes
Kommissionspaper, das 1979 die Japaner als Arbeitssüchtige (work-
aholics) qualifizierte, die in Kaninchenställen wohnten und wie Sol-
daten aus einer Festung Ausfälle unternähmen, um in der europäi-
schen Industrie Verwüstungen anzurichten.
3. 1985-91: Die EU-Handelspolitik wird konstruktiver. Es geht in ers-
ter Linie um die Förderung von EU-Exporten nach Japan und um
den Versuch die Marktzugangsbarrieren für europäische Produkte
und Dienstleistungen in Japan zu reduzieren. Es gibt noch eine ein-
drucksvolle Liste an nichttarifären Hindernissen (NTBs), die den
Marktzugang potentiell wettbewerbsstarker EU-Exporte behindern.
Sie betreffen EU-Nahrungsmittel, Spirituosen, Weine, Arzneimittel,
Chemikalien, aber auch Marktzugangsprobleme für industrielle
Dienstleistungen (Finanzen, Versicherungen, Straßen- und Schiffs-
transporte, Werbung), verschärft durch die Tendenz japanischer
Kunden, solche Dienstleistungen nur innerhalb des eigenen keiretsu
zu suchen. Berühmt waren Argumente wie: „Japanischer Schnee ist
anders“, weswegen österreichische Skibindungen nicht zugelassen
wurden; „Japanische Gedärme sind anders“, um ausländisches Rind-
fleisch abzulehnen; „Japanische Blattläuse sind anders“, um nieder-
ländische Schnittblumenimporteure zum Begasen ihrer Blumen nach
ihrer Luftfracht in Narita zu zwingen (und damit die Blumen zu
zerstören). Auch durften aus England zum Beispiel keine Früchte
importiert werden. Der Grund: Die Insel wird in Japan als Verbrei-
tungsgebiet der Mittelmeerfruchtfliege angesehen. Im Jahr 1941
wurde die letzte dort lebend gesichtet. 1000 Gründe fand die fleißige
japanische Bürokratie, um ihre Märkte mit mehr oder minder intel-
ligenten Ausreden zu schützen. Einer nach dem anderen musste
in mühseligen technischen Unterredungen wegverhandelt werden.
258 Japan, Europa und die EU

Ich selbst war 1987-91 bei den Ministerien für Landwirtschaft, Ge-
sundheit, Transport, Finanzen und Wirtschaft im Dauereinsatz. Da-
mals war die japanische Wirtschaft auf dem Höhepunkt ihrer Stärke,
nachdem die Bank von Japan die Unternehmen mit billigem Kapital
nach der Yen-Aufwertung von 1985 geflutet hatte. Japanische Fir-
men schienen die Welt aufzukaufen (und schauten dabei nicht auf
die Preisschilder): das Rockefeller Center, MCA, CBS Records, Co-
lumbia Pictures, Intercontinental Hotels, halb Hawaii, jede Menge
Weingüter in Bordeaux, Schlösser am Rhein, Golfclubs und impres-
sionistische Gemälde. Die japanische Managementkunst wurde als
Vorbild für die Welt gepriesen3. Als Daimler Benz noch in der Ära
Reutter eine strategische Allianz mit Mitsubishi vereinbarte, träum-
ten einige, die beiden könnten nun die US-Hegemonie in der Luft-
und Raumfahrt brechen4. Wir wissen, was dann passierte. Schon
1989 meinte mein damaliger Chef, der frühere niederländische Pre-
mier Andries Van Agt seherisch: „Die industrielle Zusammenarbeit
zwischen der EU und Japan funktioniert nicht, aber es wird mehr
davon geben“.
4. Seit 1991: 1991 wurde eine großartige Deklaration zwischen der EU
und Japan verabschiedet. Sie wurde nach dem hochrangigen Bot-
schafter Owada benannt (dessen tüchtige Tochter später den japani-
schen Kronprinzen ehelichen sollte und jetzt als Kaiserin sehr trau-
rig aussieht), und besagt im Wesentlichen: Lasst uns wieder Freunde
werden und alle bilateralen und Weltprobleme durch Dialog lösen
und nicht länger nach Art der Amerikaner hart und ergebnisorien-
tiert verhandeln. Als der Frieden ausbrach, platzte rein zufällig auch
die japanische Spekulationsblase, und für Japan und einige große
europäische Länder – Deutschland, Italien und Frankreich haupt-
sächlich – begann eine lange Dekade der strukturellen Stagnation.
Japan und die kranken Männer Europas verschuldeten sich auf Kosten
der nächsten Generation massiv: die Japaner für die Rettung ihrer
maroden Banken und für Bauprogramme, die Europäer für ihren
aufgeblähten Sozialstaat. Die demographische Situation ist für bei-
de Seiten katastrophal, freilich ohne dass dies irgend jemanden zu

3
Ezra F. Vogel. Japan as Number One: Lessons for America. Cambridge MA.
1979.
4
Reinhard Büscher und Jochen Homann. Japan und Deutschland: Die späten
Sieger. Zürich 1990. S. 53ff.
Japan, Europa und die EU 259

seriösem Handeln veranlassen würde. Eine Koalition der Verlierer


also? Es ist ein beliebter Zeitvertreib von Publizisten den Aufstieg
und Fall von Nationen zu diagnostizieren. Manche beschreiben jetzt
Japan und Europa beim Abstieg und China und Indien im Kom-
men5. Dennoch macht deren BIP zusammengenommen nur 7% der
Welt aus (während sie knapp die Hälfte der Menschheit stellen). Ja-
pan und die EU leisten mit weniger als 10% der Weltbevölkerung
weiter 40% der Weltwirtschaft. In China und Indien muss also noch
sehr viel im Bildungssystem, in der Rechtssicherheit, in der öffentli-
chen Verwaltung und Infrastruktur passieren, bis an ein langfristiges
Aufholen ernsthaft zu denken ist.
Was also sind die Themen der zeitgenössischen Zusammenarbeit und des
politischen Dialogs zwischen der EU und Japan? Da gibt es bilaterale
Themen, multilaterale Themen, und solche die mit dem Rest der Welt zu
tun haben6. Aktuell besprochene internationale Themen sind die Situation
in China, Nordkorea, Russland, Iran, Irak, Afghanistan, Palästina und auf
dem Westbalkan. Multilaterale Themen sind die aktuellen WTO-Agenden,
die Implementierung des Kyoto-Protokolls, die nachhaltige Forstwirt-
schaft, der Erhalt der Biodiversivität, kulturelle Vielfalt, die Nichtverbrei-
tung von Atomwaffen, die Terrorismusbekämpfung, und der interkontinen-
tale Dialog, so wie er von dem informellen Asien-Europa-Treffen (ASEM)
geführt wird7.
Bilaterale Themen sind die Förderung von Investitionen in beide Rich-
tungen, regulative Reformen, um noch bestehende nichttarifäre Hindernisse
auf beiden Seiten abzuschaffen, die Zusammenarbeit des Zolls, die indus-
trielle Zusammenarbeit, Transportsicherheit, die Deregulierung von Finanz-
dienstleistungen, der Schutz geistigen Eigentums, und nicht zuletzt der Kon-
takt zwischen den Menschen (people to people), so wie er 2005 im „EU-
Japan Jahr“, das hoffentlich jeder mitbekommen hat, praktiziert wurde. Jetzt
gibt es noch zu jedem Tagesordnungspunkt einen Handlungsplan, um zu
vermeiden, dass jener Dialog ein folgenloses diplomatisches Blabla bleibt,
so wie es dies gelegentlich in der Vergangenheit der Fall gewesen sein soll.
Regelmäßig gibt es aber noch Überdosen an Rhetorik. So verkündete
der japanische Außenminister Kono im Januar 2000 die „Europa-Japan
Millenium-Partnerschaft“, die im Juli 2001 zur „Dekade der Japan-Europa-

5
Z.B. Karl Pilny. Das asiatische Jahrhundert. Frankfurt 2005.
6
Siehe als offizielle Quelle: http://europa.eu.int/comm/external_relations/japan.
7
Michael Reiterer. Asia-Europe. Do they meet? Singapur 2002.
260 Japan, Europa und die EU

Kooperation“ schrumpfte. Doch in dem Maße, wie die bilateralen Bezie-


hungen wegen der ausgeglicheneren Handels- und Investitionsströme un-
problematisch wurden, haben beide Seiten erstaunliche Übereinstimmungen
in ihren strategischen Interessen und potentielle Synergien in der koordi-
nierten Anwendung ihrer jeweiligen „Soft-Power-Instrumente“ der Au-
ßenpolitik gefunden. Im Gegensatz zu ihrem amerikanischen Verbündeten,
der an militärische Macht glaubt und darin auch einzigartig gut geworden
ist, operieren Europa und Japan mit Instrumenten wie Entwicklungs- und
Finanzhilfen, Handelskonzessionen, technischer Ausbildung, Bildung und
multilateraler und Bürgerdiplomatie. Beide haben große Nachbarn wie
Russland und China, die intern instabil und damit extern potentiell gefähr-
lich sind, solange sie nicht weitgehend demokratisierte Rechtstaaten ge-
worden sind. In der unmittelbareren Zukunft ist die Sicherheit beider von
gescheiterten Staaten bedroht. Oft sind dies frühere kommunistische Dikta-
turen in Asien oder Osteuropa und abgewirtschaftete Staaten in Afrika, die
Terroristen und das organisierte Verbrechen, wie Al Qaida unter den Taliban
in Afghanistan, beherbergen können. Weiter gibt es natürlich das Risiko,
dass Verbrecherstaaten wie Nordkorea wieder staatsterroristisch aktiv werden
und nukleare Erpressungen veranstalten. Gegenüber diesen Herausforde-
rungen braucht man offenkundig eine gut koordinierte soft power (und
gelegentlich eine gut gezielte hard power), um Verschwendungen, Dupli-
zierungen und Korruption in der Außenpolitik zu vermeiden.
Institutionell sind die bilateralen Beziehungen gut organisiert. Jedes Jahr
findet ein Gipfeltreffen zwischen dem japanischen Premier und den Präsi-
denten der Europäischen Kommission und des Europäischen Rates statt.
Zweimal jährlich treffen sich die Außenminister und ihre Politischen Di-
rektoren für die politische Zusammenarbeit. Die Treffen anderer höherer
Beamte und Parlamentarier sind noch zahlreicher.
In Summe ist es unwahrscheinlich geworden, dass Europa und Japan
als reife Volkswirtschaften je wieder die von neomerkantilistischen Ex-
portoffensiven ausgelösten bilateralen Handelskonflikte erleben werden.
Eher werden beide Opfer aggressiver Neuankömmlingen im globalisier-
ten Wettbewerb werden. Deshalb dürften die seit mehr als einem Jahr-
zehnt positiven bilateralen Beziehungen weiter anhalten. Die Frage ist
nur, ob sie zu langweiligen bürokratischen Routineveranstaltungen wer-
den, bei denen desinteressierte Minister von ihren Beamten zu nichtssa-
genden Kommuniqués und Fototerminen geschleift werden oder der Dia-
log mit realer wirtschaftlicher Bedeutung und echter politischer Substanz
gefüllt werden kann.
12 Sozialverhalten im Wirtschaftsleben.
Die Freuden und Leiden der Expats

Zu einer für die japanischen Zuschauer witzigsten Serie auf einem Privat-
fernsehkanal zählte lange eine Komödie, bei der sich ein komischer Aus-
länder (henna gaijin) in japanischen Wohnungen stets gründlich daneben
benahm. Nicht nur marschierte er nach Art von James Bond („Man lebt
nur zweimal“) durch die Papiertüren. Er küsste die Hausfrau zur Begrü-
ßung ab, marschierte mit Schuhen aufs tatami, sprang eingeseift ins Bade-
wasser, räumte ungefragt den Kühlschrank leer, ließ sich aufs Sofa plump-
sen, das prompt zusammenbrach, goss die Tonkatsu-Soße über die Sushi
und fraß die Mandarinen vom Ahnenaltar. Nicht mehr können vor Lachen.
Keine Frage, man wird in Japan immer Fehler machen1. Doch Japaner
erwarten von einem Ausländer nichts anderes. Haben sie selbst im Ausland
nicht auch dauernd Schwierigkeiten mit unerfindlichen fremden Sitten und
Gebräuchen? Zum Beispiel mit schmutzigen Schuhen in fremde Wohnun-
gen gebeten zu werden oder in Hotelzimmern eingeseift das saubere Ba-
dewasser verschmutzen zu sollen.
Der unvermeidliche faux pas wird schnell vergeben, vorausgesetzt der
Ausländer macht sichtbare Bemühungen, sich an manche Landesgewohn-
heiten anzupassen und hält die Mindestregeln der universal gültigen Nor-
men des Anstands und der Redlichkeit ein.
Japanische Regeln sind durchaus sinnhaft. Sie sind das Ergebnis des
notwendigerweise disziplinierten Zusammenlebens unter überfüllten, be-
engten Bedingungen, beim Wohnen, in der U-Bahn und im Großraumbüro.
Deshalb ist strikte Sauberkeit ein Muss. Niemand möchte in der Bahn
stundenlang gegen Zeitgenossen gepresst werden, die sich seit zwei Wochen
nicht geduscht haben. Arbeiter ziehen jeden Morgen ihren frisch gewa-
schenen, gebügelten Blaumann an. Keiner käme auf die Idee, die schmut-
zigen T-Shirts und Jeans von gestern anzulegen. Selbst die Obdachlosen in
ihren Zeltstädten sind sauber und hängen ihre ärmliche Wäsche in den

1
Für einen detaillierteren Knigge zum richtigen Benimm im japanischen Alltags-
leben, bei förmlichen Anlässen und Festen, und auf Reisen siehe: Albrecht
Rothacher. Japanese Customs and Etiquette. A Practical Handbook. Selangor/
Singapur 2005.
262 Sozialverhalten im Wirtschaftsleben. Die Freuden und Leiden der Expats

Stadtparks auf die Leine. Auch die Lärmbeschallung der Mitmenschen ist
tunlichst reduziert. In öffentlichen Verkehrmitteln wird nicht telefoniert,
sondern eifrigst SMS-Botschaften verschickt. Unterhaltungen laufen halb-
laut ab. Gebrüll und öffentliche Temperamentsausbrüche gelten als uner-
zogen und als peinliche Zeugnisse mentaler Unreife. Jeder Japaner weiß,
wie er sich zu benehmen hat. Selbst Gangster sind höflich zu ihren Bossen
und die wüsten Teenager von Harajuku werden bei Job-Interviews plötz-
lich adrett und sanft wie die Lämmer.
Die Grundregeln des japanischen Benimm sind keine Mysterien des
Orients. Sie sind leicht erlernbar. Es gibt fünf strikte Njets (iie):

• Keine Schuhe auf Tatami-Matten.


• Niemanden anniesen.
• Keine Schuhe nach Texanerart auf Tische oder Stühle.
• Kein Kaugummi beim Reden.
• Keine Küsse oder Umarmungen außer für Babies oder unter Lieb-
habern.
Alles andere wird vergeben.
Aller Anfang des interkulturellen Verständnisses beginnt mit der Begrü-
ßung. Je nach hierarchischer Einschätzung des Gegenübers fällt die Tiefe
der Verbeugung aus. Gegenüber Unterlingen aus dem eigenen Haus, Ver-
käufern oder Lieferanten reicht ein leichtes Kopfnicken. Gegenüber richti-
gen Firmenbossen, dem Premierminister oder Seiner Kaiserlichen Hoheit
ist eine Verbeugung um 45° angesagt. Wer wissen will, wie das aussieht,
besuche die allmorgendliche Öffnung eines reputierlichen Kaufhauses, wo
sich das Verkaufspersonal vor den ersten Kunden verbeugt. Für alle Ränge
dazwischen gibt es Variationen des Neigungswinkels. Im Zweifelsfall geht
man eine Nuance tiefer, um die Beleidigung des hierarchisch unbekannten
Gegenüber auszuschließen. Eine Komplikation erfolgt durch den westli-
chen Handschlag. Als Ausländer wird einem bei der Verbeugung mit die
Hand gereicht, was zu einer potentiell gefährlichen Verengung des inter-
personalen Abstands führen kann. Bevor man mit den Köpfen zusammen-
stößt, sollte man die meist mit dem Nachdruck eines nassen Handtuchs
gereichte Rechte sanft schütteln. Bitte nicht männlich herzlich drücken,
dass die Knochen knacken!
Wie nun aber erkennt der Zeitgenosse den so überaus entscheidenden
Rang und die wichtige Stellung seines Gegenüber? Dunkle Anzüge tragen
alle und Goldkettchen nur Gangster. Das Geheimnis wird durch die rituelle
Sozialverhalten im Wirtschaftsleben. Die Freuden und Leiden der Expats 263

gegenseitige Überreichung der Visitenkarte gelüftet. Dort stehen, neben


Namen und den üblichen Kontaktanschriften, am wichtigsten: die Firma
und der Rang. Je größer, angesehener und erfolgreicher die Firma, die U-
niversität oder das Ministerium, desto besser. Die Mitsubishi Bank ist da
natürlich eine andere Liga als die Landwirtschaftliche Genossenschafts-
bank von Asahigawa. Dito selbstredend der Dienstgrad. Deshalb ist es für
die eigene (tunlichst ins japanische übersetzte). blütenreine und unver-
knickte Visitenkarte wichtig, dass der Titel stimmt. Also nicht: „Assistant,
International Sales Department“ sondern: „Marketing Director, Far East“.
Auch wenn der Job und die Bezahlung gleich bleiben, ist der hierarchische
Zugang und die eigene Effektivität beim Verhandeln damit deutlich ver-
bessert. Die mit beiden Händen feierlich mit einer Verbeugung überreichte
Visitenkarte (meishi) steckt man nicht etwa achtlos in die Gesäßtasche
weg, sondern studiert sie sorgfältig mit demonstrativem Respekt (immer-
hin stehen die wichtigsten Biodaten des Gegenübers drauf: seine Firma
und sein Titel) und auf der Suche nach Gemeinsamkeiten: „Ah, Sie arbei-
ten für Matsushita. Wir von Siemens haben ein sehr gutes Gemeinschafts-
unternehmens mit euch in Deutschlandsberg“ Und schon ist das Eis gebro-
chen. Dabei redet man seinen Partner weiter mit dem Nachnahmen, als
Herr Yamashita (Yamashita-san – das „i“ bleibt stumm) oder mit dem Ti-
tel an, z.B. Herr Abteilungsleiter (kacho-san). Vornamen bitte nur nach
ausdrücklicher Aufforderung, oder wenn man Präsident der Vereinigten
Staaten von Amerika ist, verwenden. Bei förmlichen Unterredungen breitet
man die meishi seiner Gegenüber sorgsam vor sich aus, entweder nach der
Sitzordnung oder der Hierarchie (Chefs nach oben) geordnet. Das hat den
Vorteil, dass man bei der Vielzahl der wechselnden Partner immer weiß,
wer gerade mit einem spricht. Auf der Rückseite der meishi, von denen man
an einem vollen Kundenbesuchstag gut drei Dutzend einsammeln kann,
mag man dann diskret vermerken, ob es sich lohnt sich mit diesem oder
jenem noch einmal zu treffen.
Die Anzugordnung ist für alle formalen Gelegenheiten, von der Ge-
schäftsbesprechung bis zum Abendempfang, eindeutig konservativ. Dunk-
ler Anzug, dezente Krawatte, schwarze Schuhe für den Herrn, Kostüm
oder Anzug für die Dame. Legere Freizeitkleidung gilt als Zeichen man-
gelnden Respekts. Durch underdressing fühlt man sich sofort unbehaglich
und fehl am Platze.
Kommunikation in Japan hat in erster Linie den Zweck, harmonische
Beziehungen herzustellen. Die persönliche Meinung wird, wenn über-
haupt, nur indirekt angedeutet. Sie wird deutlich nur dann geäußert, wenn
man sich sicher ist, dass der Partner sie teilt oder wenn er hierarchisch so
264 Sozialverhalten im Wirtschaftsleben. Die Freuden und Leiden der Expats

niedrig steht, dass er besser der gleichen Meinung ist. Small talk erfolgt
mit vorhersehbaren Themen und Antworten. Es wird nach den Erfahrun-
gen der Anreise gefragt, nach dem Vertragen japanischen Essens, und dass
Deutschland gutes Bier, gute Soldaten, gute Fußballer und gute Druckma-
schinen hat. Dieses halbstündige Palaver wird gnadenlos vor allen Ge-
schäftsverhandlungen durchgezogen. Es dient dem gegenseitigen Kennen-
lernen und versucht auszuloten, ob der fremde Partner seriös ist, gute
Manieren hat, und – am wichtigsten – ob er sympathisch ist und man mit
ihm dauerhaft Geschäfte machen könnte. Der Versuch, das Ganze im Sin-
ne einer wohlverstandenen Zeitökonomie abzukürzen, gilt als Zeichen von
Ungeduld und schlechten Manieren. Bei jeder Unterhaltung gilt, dass
freundliches Lächeln, Nicken oder Ja-sagen (hai, hai) keine Zustimmung
ausdrückt, sondern höfliches Interesse: Ja, Ja. Ich verstehe, höre zu, fahren
Sie fort. Schweigen ist nicht peinlich, sondern gilt als Verstehen ohne
Worte. Eine Gedankenpause vor der Antwort ist Ausdruck des reiflichen
Überlegens einer seriösen Fragestellung. Keinesfalls ist Schweigen das
Signal zum Aufbruch. Erst der Blick des Gegenübers auf die Uhr ist es, bei
dem er sich für den Besuch und das wertvolle Gespräch bedankt. Da die
Japaner die direkte Konfrontation scheuen, bemühen sie sich, negative
Antworten zu vermeiden. Ohnehin werden Entscheidungen nicht, wie in
Deutschland, während der Geschäftsbesprechungen getroffen und nach
und nach festgeklopft, sondern erst in langwierigen internen Konsultatio-
nen danach. Wenn Japaner von Anfang an desinteressiert sind, merkt man
dies am niedrigen Rang der Gegenüber, den kursorischen Fragen und der
Kürze der Unterredung ohnehin schnell. Wenn das Interesse ernsthaft ist,
wird man von Abteilung zu Abteilung herumgereicht, überall mit dem
gleichen small talk und ähnlichen Fragen traktiert – deren hoffentlich glei-
che Antworten nachher verglichen werden. Wichtig ist, dass man selbst
auch Fragen über das Unternehmen auf Lager hat und sich die Antworten
brav notiert. Schließlich ist ein seriöser Eindruck unabdingbar.
Das eigene Englisch sollte möglichst simpel (speak easy) sein. Australi-
scher Wortwitz und elaboriertes Oxbridge kommen schlecht an. Der Aus-
länder läuft ohnehin für die meisten Japaner wie eine lebendige Sprachprü-
fung herum, die ihn an übelste Oberschultests erinnert und bei der er
ständig Angst haben muss, durch Fehler das Gesicht zu verlieren. Auch
wenn man etwas Japanisch kann, wird die Antwort unweigerlich ein
schwer verständliches Höflichkeitsjapanisch (keigo) sein. Wenn man etwa
im Kaufhaus nach der Toilette fragt, wird geantwortet, der Hochwohlgebo-
rene Herr Kunde (o-kyaku-sama) möge sich bitte, falls es beliebt, in jener
Sozialverhalten im Wirtschaftsleben. Die Freuden und Leiden der Expats 265

Richtung in Bewegung setzen. Man folgt dann, ohne viel verstanden zu


haben, am besten der Handbewegung.
Japaner essen und trinken leidenschaftlich gerne und gut. Sie lassen sich
auch von Geschäftsfreunden gerne einladen. Sofern es das eigene, hoffent-
lich großzügig dotierte Spesenkonto erlaubt, überlässt man ihnen am bes-
ten auch die Wahl des Lokals. Von informellen Straßenständen zum
schnellen Bier oder Snack auf dem Heimweg bis hin zum extravaganten
traditionellen ryotei ist die Auswahl überreich. Dank der in Europa mitt-
lerweile zahlreichen Sushi- und Asienrestaurants ist die Gelegenheit zum
Übungsessen mit Stäbchen und zum Einschmecken in die Varianten der
japanischen Küche allenthalben gegeben. Bei formellen traditionellen Re-
staurants gilt beim Essen in Tatami-Zimmern natürlich: Schuhe aus (und
Socken ohne Löcher). Weil man die nächsten drei Stunden im Schneider-
sitz verbringt, empfehlen sich lockere Kleidung und nicht zu kurze Röcke.
Es ziemt sich, möglichst alles zu essen, was serviert wird, Delikatessen –
und seien es frittierte Heuschrecken, rohes Walfleisch oder fermentierte
Sojabohnen – immer wieder aufs neue verzückt zu genießen, dabei freund-
liche Toasts und netten small talk nicht vergessen, dem Tischnachbarn den
sake oder das Bier nachschenken und die Essabfälle nachher auf dem Tab-
lett möglichst sauber deponieren. Diätvorschriften sollten tunlichst vorher
dem Organisator vermeldet worden sein. Wenn das leckere Wagyu-Steak
serviert wird, ist das Bekenntnis zum Vegetariertum denkbar unpassend.
Einladungen nach Hause werden sehr selten ausgesprochen. Man sollte
sie aber zum Kennenlernen der japanischen Lebensart unbedingt wahr-
nehmen oder einen jener homestays buchen, die in allen Großstädten für
ein, zwei Nächte angeboten werden. Die meisten Japaner leben beengt in
kleinen Einzelhäusern in den Vorstädten. Sie haben dort weder Gästezim-
mer noch Dienstmädchen. Deshalb ist der Aufwand an Arbeit und Vorbe-
reitung für die Gastgeberin sehr hoch. Motive für solche Einladungen
können vielfältig sein. Sei es, dass sie eine Einladung erwidern, über das
Herkunftsland mehr erfahren oder ihren Kindern vorführen wollen, dass
man gesprochenes Englisch im wirklichen Leben gelegentlich braucht. Vor-
her sollte man über ein geeignetes Geschenk Erkundungen eingezogen
haben: Ein Flasche Whisky, ein Bildband, oder ein Kistchen Pralinen, alles
möglichst perfekt verpackt. Für das von der Hausfrau mühevoll vorbereitete
Essen gilt auch, dass Diätvorschriften und Neigungen (zum Beispiel: kein
sashimi [roher Fisch]) vorher rechtzeitig mitgeteilt sein sollten und nach-
her alles gut zu schmecken hat und die Teller nach alter Väter Sitte ohne
Reste leergegessen werden. In der Küche sollte man ungefragt weder hel-
fen noch sich selbst bedienen. Denn das ist das Reich der Frau. Grüner Tee
266 Sozialverhalten im Wirtschaftsleben. Die Freuden und Leiden der Expats

ist dann das Aufbruchssignal. Man wird nach dutzenden Verbeugungen


und gegenseitigen Danksagungen zum Taxi, zur U-Bahn oder zum nächs-
ten Bahnhof sicher ins Hotel zurück verfrachtet.
Bleibt man über Nacht, wird man meist in einem Jugendzimmer des
beim Studium oder auf Reisen befindlichen Nachwuchses untergebracht.
Meist schläft man sehr gesund im futon auf Tatami-Matten. Beim Bad ist
es wichtig, dass man sich außerhalb des Bades einseift und abwäscht und
in das heiße saubere Badewasser danach nur zum Genuss und zur Ent-
spannung einsteigt. Denn das gleiche Badewasser wird von den anderen
Familienmitgliedern danach auch noch benützt. Deshalb unter keinen Um-
ständen verschmutzen. Wenn das Wasser für einen zu heiß sein sollte, soll-
te man vorab vereinbaren, entgegen des Ehrenrituals als letzter das Bad
benutzen zu dürfen. Für das Frühstück sollte man vorher signalisieren, ob
man es lieber „westlich“ (Toast mit Pressschinken und Marmelade) oder
Japanisch (washoku) haben will. Es ist nicht jedermanns Geschmack, nach
einem Abend voller japanischer Delikatessen und Alkohol am nächsten
Morgen einem kalten gegrillten Fisch ins Auge zu sehen.
Etikette bestimmt natürlich auch das Geschäftsleben. Hier gilt: Man ver-
letzt sie vorsätzlich nicht ungestraft. Wer ohne Einführung und Voranmel-
dung spontan Geschäftstermine wahrnehmen will, wird höflich angehört
und dann zum Ausgang geleitet: „Sie werden von uns hören“. Das glaubt
man besser nicht. Wer auf sofortigen Entscheidungen besteht, nötigt seine
Partner und provoziert dann nur eine Entscheidung, und die ist negativ.
Wer einen Mitarbeiter unbeherrscht anbrüllt, kann auf dessen Zuarbeit in
Hinkunft verzichten. Da passiert nichts mehr.
Es kommt also auf richtige Einführungen, möglichst über die europäi-
sche Repräsentanz des Unternehmens, den eigenen Agenten vor Ort, ein
befreundetes Unternehmen, die deutsche Industrie- und Handelskammer in
Japan o.ä. an. Ein erfolgversprechender Besuch will auf beiden Seiten
sorgfältig vorbereitet sein. Dokumentationen, Firmenprospekte, Visiten-
karten sollten ins Japanische übersetzt und in ausreichender Anzahl (das
heißt dem Dreifachen dessen, was man eigentlich für nötig hält) vorhanden
sein. Geschenke sollten sorgsam und zielgerichtet ausgewählt sein und
nicht nur die Chefetage sondern auch die Arbeitsebene, die die Entschei-
dungen und den Besuch vorbereitet, berücksichtigen. Ein sachkundiger
Übersetzer ist unabdingbar. Falls es sich dabei um eine hübsche. wohler-
zogene Dame handelt, ist das ein deutliches Plus. Vielleicht will Ihr Ge-
genüber nicht so sehr Sie wiedersehen, sondern eher mit ihr in Kontakt
bleiben. Das erleichtert das follow-up außerordentlich. Ein nicht zu knappes
Budget für Einladungen sollte gleichfalls verfügbar sein.
Sozialverhalten im Wirtschaftsleben. Die Freuden und Leiden der Expats 267

Das erste Muss ist, pünktlich zu sein. Japanische Arbeitstage sind – vor
allem bei den höheren Dienstgraden – minutiös verplant. Verspätungen
bringen ihn unentschuldbar durcheinander. Verkehrsstaus und die unbe-
kannte Geographie Tokyos sind keine Entschuldigungen. Man bricht dann
30 Minuten früher auf und sondiert die Lokalität vorher. Japaner tun das
auch. Vor wichtigen Besuchen werden vorher sogar die Toiletten inspi-
ziert. Man lässt sich von der Empfangsdame melden und wird dann in die
Sitzecke eines Großraumbüros oder in ein steriles Besprechungszimmer
geleitet. Das Besuchsprogramm mit den verschiedenen Terminen und Be-
sichtigungen bei der Firma wird ausführlich vorgestellt, auch wenn man es
schon längst per Fax erhalten hat. Der unvermeidliche small talk: Wie
gefällt Ihnen Japan, japanisches Essen, japanische Frauen? Sehr heiß/kalt/
regnerisch heute. Typisch/untypisch für die Jahreszeit. Deutschland schönes
Land. War schon in Düsseldorf/Heidelberg/München/Hannover. Gutes Bier
(Heineken?), Fußball, Riesling, Beethoven, Druckmaschinen … Dann sollte
man auch etwas Intelligentes über Japan sagen. Aber bitte nicht gleich mit
dem Walfang, dem Yasukuni-Schrein und dem Massaker von Nanking
anfangen. Etwas Bildung wäre gut. Yukio Mishima (seppuku!), Yanusari
Kawabata (Nobelpreis!), Haruki Murakami als Schriftsteller, oder Yasujiro
Ozu, Kenji Mizoguchi, und Akira Kurosawa (Die sieben Samurai) als
klassische Filmregisseure. Wichtig ist, nicht nur über die eigenen Produkte
und Firmengeschichte Bescheid zu wissen, sondern sich auch schon vorher
gewisse Grundkenntnisse japanischer Kultur, Geographie, Geschichte und
Politik angelesen zu haben. Die Lektüre eines Reiseführers im Flugzeug
hilft nicht sehr weit. Bei der Diskussion von Zeitvertreiben muss man sich
vergegenwärtigen, dass Japaner für ihre Firma leben, nicht für ihre Hob-
bies. Die meisten haben sie in ihrer Studentenzeit gepflegt. Jetzt schlafen
sie am Sonntag lieber aus. Sie haben schlicht keine Zeit für lange Aus-
landsurlaube, Rafting und Bergsteigen. Es bleibt etwas Golf, gelegentliche
Konzerte oder den Sohn zum Baseball zu fahren.
Wie erwähnt, erfolgen dann mit allen Abteilungen, deren Mitarbeiter
involviert sind, ähnliche Fragen, alle mit der Tonalität: Ist man ein ernst-
hafter Anbieter mit langfristigem Japaninteresse, der an alle Eventualitäten
schon gedacht und auf sie vorbereitet ist? Erfolgsgeschichten spontanen
Improvisierens beeindrucken wenig. Schließlich werden alle, die eine posi-
tive Entscheidung zur Zusammenarbeit mitgetragen haben, später bei auf-
tretenden Problemen intern verantwortlich gemacht. Da hilft es, wenn man
alle Eventualitäten schon vorher nachweislich eruiert hat. Wird man der
Direktorenebene vorgestellt, sind das zumeist reine Höflichkeitsveranstal-
tungen. Wenn es sich nicht gerade um eine strategische Entscheidung
268 Sozialverhalten im Wirtschaftsleben. Die Freuden und Leiden der Expats

höchster Tragweite handelt, werden die meisten Entscheidungsfindungen


an die Mitarbeiter delegiert. Manchmal wird die gewünschte Richtung
angedeutet, manchmal nicht. Unwahrscheinlich, dass ein japanischer Chef
– es sei denn er ist der Unternehmenseigner – sich gegen den Konsens und
die Expertenmeinung seiner Mitarbeiter durchsetzten will. Insofern ent-
spricht das japanische System eher dem deutschen als dem amerikanischen
oder gar französischen Führungsstil. Ist nach scheinbar endlos langer Zeit
endlich ein Übereinkommen erzielt, gilt zunächst das gesprochene Wort.
Bitte nicht den amerikanischen Griff zum Anwalt und zur Rechtsabteilung
bemühen. Eng fixierte Vertragsbestimmungen sind denkbar unbeliebt.
Japaner lieben eher vage Vereinbarungen, die auf einem längerfristig ange-
legten Vertrauensverhältnis beruhen, von denen beide Seiten profitieren
(win-win) und niemand über den Tisch gezogen wird.
Keine Frage: Vor dem Nachtleben gibt es kein Entkommen. Es gibt aber
sauber sortierte Stadien, nach deren Ende man stets die – zunehmend rat-
same – Möglichkeit hat, sich höflich zu verabschieden und die eigenen vier
Wände leicht alkoholisiert ohne Sünde aufzusuchen. Stadium Nummer 1
sind Empfänge, office parties oder formelle Abendessen, die in der Regel
zwischen 18.00 Uhr und 20.00 Uhr stattfinden. Darauf lockt der Aufenthalt
in einer relativ billigen Bierschwemme, für einen echten Germanen ohne-
hin ein Pflichttermin, bei dem man alle Biersorten und Wurstarten kennt-
nisreich möglichst positiv zu bewerten hat. Danach könnte man mit der
nötigen Bettschwere schon nach Hause gehen, denn als die nächste Station
droht das sangesfreudige Karaoke. Dort wird man mit Sicherheit mindes-
tens einmal zum Auftritt genötigt. Peinlich ist, dass die japanischen Freunde
die Texte und Melodien deutschen Sangesguts meist besser intus haben als
man selbst. Der Teleprompter am Mikrofon hilft da wenig, denn er zeigt
die Liedtexte nur auf Katakana an. Wenn man sich einmal blamiert hat,
reicht das, denn die Japaner wollen am liebsten natürlich selber singen, vor
allem dann, wenn sie die Zeche auch bezahlen. Die nächste Station ist die
berühmte mama-san, zu der ein jeder japanischer Gehaltsempfänger eine
sublime erotische Beziehung pflegt. Sie schenkt Whisky-Soda aus den
personalisierten Flaschen ihrer Stammkunden aus, ist selbst eine schon
etwas reifere Persönlichkeit, die ihren Kunden, den abgekämpften Firmen-
kriegern, seelische Tröstungen, geduldiges Zuhören, Rat und Tat und Er-
munterung in allen Lebenslagen verspricht, und über alte Witze lacht, die
die eigene Ehefrau schon längst nicht mehr hören kann. Assistiert wird die
mama-san von einigen jungen Damen, die zumindest im Dämmerlicht sehr
reizvoll wirken, jede Gästegruppe betreuen und regelmäßig nachschenken.
Auch ihre Funktion ist nicht Sex, sondern Animation und Seelentröstung.
Sozialverhalten im Wirtschaftsleben. Die Freuden und Leiden der Expats 269

Verabredungen außerhalb des Lokals sind nicht zulässig. Am Ende des


Abends wird man dann mit stark erleichterter Geldbörse fürsorglich in
Taxis verfrachtet – die Fahrer werden bei Ausländern immer über den
Zielort besonders gebrieft – und hat einen wunderbar langen, wenn auch
nicht ganz billigen Tag und Abend verbracht.
Schließlich gibt es dann noch die Rotlichtbezirke. Es handelt sich um
Yakuza-Country. Das sind nicht die netten, höflichen salarymen, die man
bisher erlebt hat. Deshalb, wenn überhaupt, die Lokalitäten nur in sprach-,
orts-, und sachkundiger japanischer Begleitung aufsuchen. Der Seinszweck
dieser Reviere ist weniger das unbeschwerte Amüsement als der tiefe Griff
in die Geldbörse. Wer ohne ausreichende Sprachkenntnisse alle möglichen
Dienstleistungen bucht, der erlebt beim Begleichen der mutmaßlich astro-
nomischen Rechnung ein Kulturerlebnis der eher unangenehm-unvergess-
lichen Art, wenn der lokale Unter-Gangster auf rabattfreier Barzahlung
besteht. Da diese Erfahrung durchaus entbehrlich ist, empfiehlt sich eher
ein unverbindlicher und im Übrigen völlig ungefährlicher Abendspazier-
gang durch das entsprechende Viertel. Man hat dann ohnehin gesehen, was
zu sehen ist, und kann von dem Rest unbeschwert und gratis träumen.
Das Leben als Expatriate-Manager: Wunderbar, das Gehalt verdoppelt
sich. Ein Apartment in Roppongi. Sportwagen in der Garage. Fernflüge in
der business-class. Attraktive japanische Assistentin. Die Zentrale weit weg.
Der Yen-Kurs hoch, der Absatz als Selbstläufer. Wintersport auf Hokkaido,
wunderbares Frühlings- und Herbstwetter, Sommer am Strand von Okinawa
(zur Not auch auf Guam oder Hawaii). Das Paradies auf Erden? Wenn der
Firmenchef aus Europa kommt, ihn im Imperial Hotel ein Bier und ein
Sandwich bestellen lassen. Was, 30 Euro, wie können Sie hier leben?
Schon ist die nächste Gehaltserhöhung fällig.
Bei den verschiedenen Berufsprofilen für Expatriates in Japan gibt es
deutliche Unterschiede in der Lebens- und Berufsqualität. Am härtesten ist
sicher die des Verkäufers, denn er ist in der japanischen Hackordnung
ziemlich weit unten angesiedelt und muss auf alle Narreteien und Sadis-
men seiner so verehrten Kunden geduldig eingehen, bis er sich durch eine
umfangreiche Rechnung für alles erlittene Ungemach entschädigen kann.
Der Ko-Leiter eines Gemeinschaftsunternehmen dagegen genießt zwar alle
Statussymbole eines big chief in Japan, hat aber jede Menge täglichen Är-
gers, weil sein japanischer Partner alle Kosten und jede Menge redundan-
ten Problempersonals dem ach so geliebten gemeinsamen Unternehmen
aufdrückt und alle lukrativen Geschäfte diskret seinem Stammhaus zu-
schiebt. Weil es sein Land ist, hat er zufällig trotz 50:50 bei allen Alltags-
entscheidungen auch die besseren Karten. Der venture capitalist: Noch
270 Sozialverhalten im Wirtschaftsleben. Die Freuden und Leiden der Expats

wunderbarer. Man kaufe billigst eine in den Bubble-Jahren entstandene


milliardenschwere havarierte Schnapsidee, zum Beispiel einen überdach-
ten beheizten Badestrand („Ocean Dome“) namens Seagaja in der Mitte
von nirgendwo auf Kyushu für ein paar Millionen. Aber leider, leider das
Schnäppchen will auch zum Nulltarif keinen Gewinn abwerfen. OK, man
wird selbständig, übernimmt – das kaufmännische und japanologische
Rüstzeug ist gelernt und praktisch geübt – die Vertretung für griechischen
Wein in Yokohama, für französische Juwelen in Osaka, wird Konsulent
für venture Kapitalisten, die 20% Rendite suchen, oder für biotechnologi-
sche Patentjäger. Mit solchen Jobs auf Abruf ist es ratsam, sich auf die
folgenden mageren Jahre rechtzeitig zu wappnen. Am schönsten sind sicher
öffentliche, halböffentliche oder privatwirtschaftliche Stellen der Markt-
beobachtung und Repräsentanz. Da ist zum Beispiel der Wein- und Spiri-
tuosensektor sehr zu empfehlen. Schließlich bleibt noch die Ich-AG gna-
denloser Selbstausbeutung. Das ist der freie Zeitungskorrespondent, der
seine Artikel einzeln verkaufen muss, der Organisator fremdsprachiger
Lehranstalten in der Provinz, der freie Repräsentant für Kekse, Bier und
Elektropumpen, oder die Dame, die interkulturellen Dialog bei Tee- und
Blumensteckzeremonien veranstaltet. Noch erfolgloser sind eigentlich nur
amerikanische Missionare, die in Englischkursen getarnt das Evangelium
zu vermitteln suchen. Solche Existenzen sind mühsam und von begrenz-
tem Wohlstand. Es reicht aber zum Überleben. Zur Not spielt man einen
amerikanischen Kriegsverbrecher fürs Fernsehen.
Es gibt natürlich auch die Option als Ausländer für japanische Firmen
zu arbeiten. Im Ausland ist dies relativ unproblematisch, da sich die Japaner
meist an die örtlichen Gepflogenheiten halten. Gelegentlich werden auch
Mittelmanagement- und rarissime – Spitzenfunktionen an Einheimische
vergeben. Meist wird jedoch die Auslandstochter weiter in Mikroman-
agement per Fax aus der Zentrale von Tokyo geleitet. Diese Kommunika-
tion läuft auf japanisch ab. Deshalb, helas, sind fast alle Führungsfunk-
tionen japanischen Endsandkräften vorbehalten. Der Fairness halber sollte
erwähnt werden, dass oft manuelle Arbeiter in japanisch geführten Betrie-
ben hohe Zufriedenheitsgrade bekunden. Dies ist vor allem in solchen
Ländern der Fall, wo sie vom landsmännischen Management traditionell
schlecht behandelt werden (Großbritannien, Frankreich…). Karrieregelüste
sollte man sich in japanischen Unternehmen als Ausländer oder Frau je-
doch tunlichst abschminken oder rechtzeitig nach einigen Jahren kündigen.
Die Erfahrungen bei Nomura wurden bereits berichtet. Lost in translation
ist ein schöner Film, der die Probleme bei gut bezahlten Gelegenheitsjobs
in Japan darstellt. Noch spannender sind die Erfahrungen ihrer japanischen
Sozialverhalten im Wirtschaftsleben. Die Freuden und Leiden der Expats 271

Berufspraxis, die Amelie Nothomb, Erfolgsschriftstellerin und Tochter


eines belgischen Botschafters in Tokyo, witzig und satirisch überspitzt
beschreibt. Als Fachübersetzerin engagiert endet sie schließlich nach kaf-
kaeskem Mobbing als Toilettenfrau auf dem Firmenklo, wo sie endlich
Zuneigung und Erfüllung findet2.
Das Thema Japanischlernen läßt sich sicher abendfüllend diskutieren.
Keine Frage, wer in Japan wirksam verhandeln und sich wirtschaftlich und
im richtigen Leben effektiv orientieren will, muss wie in allen Kulturnati-
onen der Welt, die Landessprache beherrschen. Natürlich wird man immer
auf Zeitgenossen treffen, die nach 20 Jahren in Japan noch immer über ein
ohaiyo gozaimasu (das letzte „u“ bleibt stumm: „Guten Morgen“) nicht
hinausgekommen sind und ihre feste Überzeugung lauthals bekunden, dies
genüge vollauf und würde von den Japanern auch nicht anders goutiert. In
Ordnung. Ein Ausländer, der in Deutschland oder Österreich kein Wort
deutsch versteht, bekommt auch nicht viel mit.
Vor den Preis haben die Götter den Schweiß gesetzt. Der Nürnberger
Trichter harrt noch der Erfindung. Ein Jahr Vollzeitstudium vor Ort („total
immersion“) ist sicher nötig. Es gibt Sprachgenies, die dies abkürzen
können, oder die ein photografisches Gedächtnis besitzen, bei dem ein
konzentrierter Blick auf die kanji (die auch in China nützlich sind) genügt,
um sie auf ewig abzulichten und zu speichern. Diese Zeitgenossen sind
leider eher selten gestreut. Für normale Zeitgenossen ist, wie erwähnt, ein
Jahr intensiven Sprachstudiums (10 Stunden täglich) ohne berufliche
Ablenkungen das Minimum, nicht etwa die lockeren Diskussionsrunden
deutscher Japanologieseminare oder der übliche Zweistundenflirt mit einer
hübschen Japanischlehrerin (die dann oft geheiratet wird, aber das ist ein
anderes Kapitel). Eine gute Tausendschaft europäischer Geschäftsleute
(darunter dieser Autor) hat in den letzten 20 Jahren das sehr verdienstvolle
Executive Training Programme (ETP) der Europäischen Kommission in
Japan durchlaufen. Es bestand aus 12 Monaten Intensivsprachkurs, gefolgt
von 6 Monaten Praktika in japanischen Unternehmen. Nach diesem urlaubs-
freien Stressprogramm waren die meisten Beteiligten linguistisch und
landeskundlich fit, manchmal topfit3. Allerdings wurde seit 2005 aus uner-
findlichen Gründen der Sprachanteil auf 4 Monate verkürzt. Das sind min-
destens 8 Monate zu wenig. Das Firmenpraktikum beträgt auch nur noch
drei Monate.

2
Amelie Nothomb. Mit Staunen und Zittern. Zürich 2000. Der Roman gewann
den Grand Prix der Academie francaise.
3
Das gleiche Programm gibt es auch für Korea.
272 Sozialverhalten im Wirtschaftsleben. Die Freuden und Leiden der Expats

Es empfiehlt sich bei Geschäftsverhandlungen allerdings noch weiter


mit Dolmetscher zu arbeiten – allein um linguistisch nicht in die Defensive
zu geraten (man kämpft mit der Grammatik, während die andere Seite sich
auf die Inhalte konzentrieren kann) und um die üblichen nachträglichen
Missverständnisse zu minimieren. Es ist auch hilfreich, sich Antworten wäh-
rend des Übersetzens noch einmal zu überlegen und kurz durchzuatmen,
bevor man aus der Hüfte schießt und Schaden anrichtet. Von der geschäft-
lichen Kommunikation und den verbesserten zwischenmenschlichen Be-
ziehungen im Büro abgesehen, wird das Leben auch so angenehmer und
praktisch einfacher. Beim Einkaufen kann man plötzlich die Rasierkreme
von der Zahnpaste unterscheiden und das Geschirrspülmittel vom Scham-
poo. Menükarten verlieren ihre Überraschungen, und in der Provinz er-
schließen sich Bahnfahrpläne und Übersichtskarten. Die Abendnachrichten
haben plötzlich Nachrichtenwert. Kurzum, die Lebensqualität erreicht eine
neue Dimension. Nicht zuletzt sind auch hochrangige Besucher aus der
Zentrale auch von den harmlosesten Demonstrationen sprachlicher Fort-
schritte machtvoll beeindruckt. Auf einem weltweiten Arbeitsmarkt, auf
den alljährlich über 100.000 neue dynamische MBAs strömen, sind die
aktive Beherrschung des Japanischen und der japanischen Geschäfts-
usancen ein deutliches Plus, das für sich genommen als Führungsqualifika-
tion Fernost nicht hinreichend sein mag, aber in Summe mit anderen Qua-
lifikationen, Berufserfahrungen und positiven Persönlichkeitsvariablen für
Managementfunktionen mit Japanbezug verbesserte Anstellungschancen
und einen nachdrücklichen Karriereschub verspricht. Die Karriereverläufe
der meisten bisherigen ETP-Absolventen belegen dies eindrücklich.4
Für ausländische Frauen gilt Japan nach wie vor als eine Art Härteposten.
Vor allem für Ehefrauen ohne eigene berufliche Rolle mögen sich die Reize
von Blumensteckkursen (ikebana), Kabuki-Vorstellungen und Tempel-
besuchen bald erschöpft haben, während der tägliche Stress um Besorgun-
gen und Haushaltsführung in den überfüllten, sprachlich fremden Metro-
polen aufs Gemüt schlägt. Gleichzeitig nehmen die Arbeitszeit, die abend-
lichen Überstunden, Geschäftsempfänge und Pflichtumtrünke des Gatten
sehr schnell japanische Dimensionen an. Gesellschaftliche Veranstaltungen
sind meist nur für Berufstätige gedacht. Die Ehepartner werden in Japan so
gut wie nie mit eingeladen. Wenn dann noch berufliche Wochenendexkur-
sionen in die Provinz dazukommen, steigt die Tendenz, zu einem ausge-
dehnten Heimaturlaub solo aufzubrechen. In diesem nicht sehr seltenen
Fall mag die hübsche Assistentin/Sprachlehrerin als Trösterin des verein-

4
ETP Association. ETP Alumni Directory. Tokyo 2005.
Sozialverhalten im Wirtschaftsleben. Die Freuden und Leiden der Expats 273

samten, unverstandenen Gatten ins Spiel kommen … Nach anekdotischen


Eindrücken überlebt rund die Hälfte aller Ehen eine Versetzung nach
Japan nicht. Die besten Überlebenschancen sind gegeben, wenn die Gattin
selbst eine sie fordernde berufliche Rolle findet, sie Japanisch lernt und
damit im Land orientierungssicher wird (womöglich mehr als der Ehe-
mann), oder die Kinder in dem im Übrigen sehr kinderfreundlichen Land in
einem Alter sind, in dem sie ihre volle Aufmerksamkeit und Zuneigung
verlangen.
Im Geschäftsleben selbst tun sich Japaner mit Chefinnen in den eigenen
Großbetrieben noch schwer. Selten werden dort Frauen mehr als Gruppen-
leiterin in einer Bank oder Versicherung. Bei ausländischen Firmen oder in
Kleinbetrieben innovativer Branchen werden sie aber mittlerweile als frei-
lich gewöhnungsbedürftige Geschäftspartnerinnen akzeptiert. Es empfiehlt
dann aber – wie für die Männerwelt auch – nicht allzu forsch und aggres-
siv aufzutreten.
Auch die Beziehung des westlichen expatriates mit seiner japanischen
Freundin ist nicht frei von interkulturellen Missverständnissen. Während
der westliche Mann für sie oft die emanzipierende Befreiung von den kon-
servativen sozialen Konventionen der japanischen Rollenverteilung ver-
spricht, wird er von ihrem sich scheinbar unterordnenden, stets freundlich-
aufmerksamem Verhalten angezogen. Beim näheren Abgleich der unter-
schiedlichen Erwartungen (sofern sie denn je von der japanischen Seite
offen artikuliert werden) sind schon viele Beziehungen in die Brüche ge-
gangen. Zwischen japanischen Männern und westlichen Frauen sollten die
unterschiedlichen Rollenerwartungen eigentlich von Anfang an klar sein
und Missverständnisse ausschließen. Es gibt sie aber trotzdem.
50% aller gaijin (westlichen Ausländer) scheinen in Japan stets tod-
unglücklich zu sein. Wenn man ihren Klagen lauscht, scheint es nur ein
Frage der Zeit, wann sie sich wie viele Japaner vor die Yamanote-sen, die
U-Bahn im Kreisverkehr von Tokyo-Mitte, werfen werden. Das Gejammer
vollbringt aber eine wichtige reinigende Funktion: Man muss Meckern, um
sich nachher besser zu fühlen. Kein respektabler temporär deprimierter
Expat würde sich je vor die ratternde Yamanote-sen werfen. Tatsächlich
erlebt jedermann den Prozess des Kulturschocks, der typische Stadien
durchläuft: Zunächst die kurzfristige Euphorie, dass man eine völlig frem-
de Kultur, die einen zum Analphabeten gemacht hat, trotz aller Widrigkei-
ten mit Anstand gemeistert hat. Dann – oft schon 14 Tage später – der
Eindruck, dass einem der sinnlose Konformismusdruck, die dauernden
Komplikationen des privaten und öffentlichen Lebens, und der kleinliche
Formalismus des Landes unerträglich furchtbar auf die Nerven geht, und
274 Sozialverhalten im Wirtschaftsleben. Die Freuden und Leiden der Expats

dass die ach so höflichen Japaner es doch nicht schätzen, wenn man sich
unausgesetzt über sie beschwert.
Schließlich überwindet man jenen Kulturschock, oder man tut es nicht.
Im zweiten Fall sollte man so bald wie möglich den Heimflug buchen,
bevor man endgültig verbittert. Das keine Frage persönlichen Scheiterns,
sondern nur eine Schlussfolgerung, aus der vernünftige Konsequenzen zu
ziehen sind. Im ersten Fall gilt es, das neue Leben, die harte Arbeit und die
ständigen professionellen und intellektuellen Herausforderungen möglichst
in vollen Zügen zu genießen. Woanders bekommt man das nämlich in die-
ser Intensität nirgendwo geboten.

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