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Albrecht Rothacher
Die Rückkehr
der Samurai
Japans Wirtschaft nach der Krise
Mit 10 Abbildungen
123
Dr. Albrecht Rothacher
Argentinierstr. 26/10
1040 Wien
Österreich
albrecht.rothacher@ec.europa.eu
men. Doch bleibt Japan während der nächsten 15-20 Jahre ein ernsthafter
Wettbewerber1. Wenn zwischenzeitlich ein sektorieller Angriff erfolgt, ist
es für den Konkurrenten, der wie die amerikanische Automobilindustrie
seine Hausaufgaben vernachlässigt hat, zu spät.
Japans Wirtschaft ist weiterhin siebenmal größer als die des chinesi-
schen Milliardenvolkes. Sein nominelles Prokopfeinkommen liegt mit
$ 33.000 hundertzwanzigfach über dem chinesischen und 50% über dem
deutschen Durchschnitt. Es muss also noch sehr viel Wasser den Gelben
Fluss hinabschwimmen, bis der chinesische Markt in bestenfalls 30 Jahren
annähernd die Größe und Kaufkraft des japanischen Marktes erreicht hat,
und dies nur unter der denkbar unwahrscheinlichen Voraussetzung, dass
das aktuelle doppelstellige, von der Exportnachfrage und dem Zustrom
von Auslandskapital abhängige chinesische Wachstum sich in den nächs-
ten Jahrzehnten ungetrübt fortsetzen kann. Der japanische Markt bleibt
also bis auf weiteres der mit Abstand größte und wichtigste Asiens, und
die japanischen Unternehmen die weitaus härtesten und seriösesten
Wettbewerber und Partner auf den Weltmärkten. Deshalb bleibt es unab-
dingbar, die strategischen Absichten, das taktische Vorgehen, die sozio-
kulturellen Hintergründe und den Heimatmarkt seiner japanischen Gegner
und Freunde möglichst gut zu kennen und Fehleinschätzungen und Fehl-
verhalten vor Ort zu minimieren. Diesem nicht ganz unwichtigen Zweck
dient dieses Buch.
1
Malcolm Trever. „Japan: what international managers should know“ in: American
Management Association (Hg.) Managing New Horizons. Brüssel 1996.
Inhaltsverzeichnis
Im Jahr 2005 wuchs die japanische Wirtschaft um 2,8%. Für 2006 werden
vom IWF 2,75% und für 2007 2,0% Wachstum vorhergesehen1. Die offi-
zielle Arbeitslosigkeit sank von 5,4% (2002) auf 4,1% (2006). Die Regie-
rung erklärt die Krise für vorläufig beendet. Japan sei ein neues „Hoch-
wachstumsland“ jubelt pflichtgemäß ein Analyst von Meryll Lynch2. Der
Nikkei als Index der 225 führenden japanischen Aktienwerte stieg 2005/06
um 42%, und der TOPIX als erstes Segment der Tokyoter Börse um 50%.
70 Milliarden Euro legten ausländische Anleger binnen Jahresfrist in japa-
nischen Aktien an. Alles im Lot also angesichts solcher für europäische
Verhältnisse sagenhafter Zahlen?
Laut Akio Mikuni3 ist Japans Wirtschaftserholung keinesfalls Ausdruck
erfolgreicher Wirtschaftsreformen. Sie beruht ausschließlich auf der Ex-
portnachfrage aus den USA und China, sowie hoher Ersparnisse, die als
billiges Kapital mit niedriger Rendite für Industrieinvestitionen und dem
Staat für kreditfinanzierte Investitionsprogramme zur Verfügung stehen.
Das war vor dem Platzen der Spekulationsblase von 1991/92 nicht anders.
Man kann auch wie Richard Katz argumentieren, dass die massiven Real-
lohnkürzungen und die Zunahme prekärer Teilzeitbeschäftigungen die
Binnennachfrage weiter unterdrücken. Das Wachstum beruht also nur auf
der Exportnachfrage und den staatlichen Ausgabeprogrammen4. Weiter
kann man Anthony M. Millers Argument folgen, dass bei 0-0,25% Zinsen
die Banken und die Wirtschaft eigentlich so mit Liquidität geflutet sind,
dass wiederum das Kapital ineffizient investiert wird, zumal Banken- und
Unternehmensreformen mit dem Ziel der Verminderung von Überkapazitä-
ten nicht ernsthaft unternommen wurden5.
1
Financial Times 25.5.2006.
2
Jesper Koll zitiert in: Frankfurter Allgemeine 6.3.2006.
3
Akio Mikuni. „Party time as Japan goes into self-destruct mode“ Financial
Times 29.4.2004.
4
Richard Katz „Japan still waits for a turnaround“ Financial Times 1.12.2004.
5
Anthony M. Miller. „Deflation isn’t Japan’s Problem“ Wall Street Journal
28.2.2003.
2 Nachhaltiges Wachstum oder Strohfeuer in der Stagnationskrise?
Schon 1996 und 2000 hatte es mit 3,4% bzw. 2,8% Wachstum zwei
kurzfristige Erholungsphasen gegeben, die von der Politik und den Analys-
ten flugs zum endgültigen Aufschwung ernannt wurden, nur um jeweils im
Folgejahr einmal nach einer zweiprozentigen Erhöhung der Mehrwertsteu-
er (1997: von 3% auf 5% – der Berliner Politik steht diese Erfahrung 2007
noch bevor) und dann nach dem Platzen der IT-Blase von 2000/01 wieder
zum Minuswachstum zu schrumpfen. Dem aktuellen Wachstum könnte
angesichts der Strukturschwächen der Hauptexportmärkte Ähnliches blü-
hen. Die US-Nachfrage beruht auf der Verschuldung der US-Verbraucher
sowie der USA selbst mit ihrem von den asiatischen Exportländern finan-
zierten Handelbilanzdefizit. Die chinesische Nachfrage schließlich hängt
von einem ausschließlich vom Auslandskapital und von Exporten alimen-
tierten und vor der Überhitzung stehenden Boom ab, der eine vor dem
Platzen stehende Spekulationsblase eigener Art nährt, zumal die Rechtsun-
sicherheit in der kommunistischen Kaderdiktatur die Gewinnträchtigkeit
ausländischer Unternehmen deutlich beeinträchtigt. Von einer langfristig
nachhaltigen Exportnachfrage kann für Japans und Asiens Exportindust-
rien also keine Rede sein.
In Japan selbst hat die Zentralbank das Land seit Jahren mit billigem
Geld geflutet, um einer Neuauflage der Großen Depression zu entgehen.
Sie hatte die Leitzinsen jahrelang auf 0% gesetzt und nutzte ihre Rückla-
gen, um massiv Staatsanleihen und notleidende Wertpapiere der Banken
aufzukaufen. Der Staat hatte mit dem größten Deflationsprogramm der
Weltgeschichte seine Verschuldung von 69% (1992) auf 180% (2005) des
BIP, die in Summe 6.400 Milliarden Euro darstellt, hochgetrieben. Die
Mittel wurden zur Sanierung fauler Bankenschulden, hauptsächlich aber
für landesweite Infrastrukturprogramme ausgegeben. Um die aufgeblähte
Bauindustrie vor dem Absturz zu bewahren, beträgt das jährliche Haus-
haltsdefizit noch immer – 6,5% des BIP, mehr als das Doppelte des Stabili-
tätslimits von Maastricht. Der Schuldendienst des Staates umfasst schon
jetzt 130 Milliarden Euro im Jahr. Das sind 10% der öffentlichen Haushalte.
Eine Sanierung durch erhöhte Steuern ist nirgendwo in Sicht.
Die Einkommens- und Unternehmenssteuern sind mit 50% bzw. 40,9%
ohnehin schon hoch. Pläne zur Erhöhung der Mehrwertsteuer von derzeit
5% sind bis auf weiteres auf Eis. Die regierende LDP verkündet allen
Ernstes, das Wirtschaftswachstum würde über steigende Steuereinnahmen
das Schuldenproblem automatisch lösen.6
6
Financial Times 16.2.2006.
Nachhaltiges Wachstum oder Strohfeuer in der Stagnationskrise? 3
7
In Die Presse 15.12.2005.
8
Albrecht Rothacher. Im wilden Osten. Hinter den Kulissen des Umbruchs in
Osteuropa. Hamburg 2002.
4 Nachhaltiges Wachstum oder Strohfeuer in der Stagnationskrise?
9
Nihon Keizai Shimbun. How Canon Got its Flash back. Singapur 2004.
10
Newsweek 30.8.2004.
11
Andrew Morse. Twilight Zone. Far Eastern Economic Review 2.9.2004.
12
Gillian Tett. Saving the Sun: A Wall Street Gamble to Rescue Japan from its
Trillion Dollar Meltdown. New York. 2003.
Nachhaltiges Wachstum oder Strohfeuer in der Stagnationskrise? 5
1
Heute ist die Insel verlandet. Als ich sie im Jahre 1979 erstmals besuchte, war
dort ein Schrottplatz. In den 90er Jahren wurde ein aufwändiges, freilich ahisto-
risches „Oranda-mura“ (Holland-Dorf) als teures Wohnviertel und Touristen-
attraktion errichtet, das später in den Konkurs schlitterte.
8 Eine Wirtschaftsgeschichte
2
Herbert Scurla (Hg.). Reisen in Nippon. Berichte deutscher Forscher des 17.
und 19. Jahrhunderts aus Japan. Berlin 1969; Michael Henker e.a. (Hg.). Phi-
lipp Franz von Siebold. Ein Bayer als Mittler zwischen Japan und Europa.
München: 1993; Wolfgang Michel. Von Leipzig nach Japan. Der Chirurg und
Handelsmann Caspar Schamberger. München 1999.
Eine Wirtschaftsgeschichte 9
3
Interessant waren auch die Abenteuer deutscher Waffenhändler auf der Verlie-
rerseite des Bürgerkriegs: Holmer Stahncke. Die Brüder Schnell und der Bür-
gerkrieg in Nordjapan. Tokyo 1986.
4
W.G. Beasley. The Meiji Restauration. Stanford, CA 1972. S. 350ff.
10 Eine Wirtschaftsgeschichte
5
Horst Gründer. Geschichte der deutschen Kolonien. Paderborn 2000. S. 169ff.
6
Yujiro Hayami. A Century of Agricultural Growth. Tokyo 1975. S. 61.
Eine Wirtschaftsgeschichte 11
7
George Morgenstern. Pearl Harbour 1941. München 2001; Dirk Bavendamm.
Roosevelts Krieg. München 1998.
12 Eine Wirtschaftsgeschichte
8
Chalmers Johnson. MITI and the Japanese Miracle. Stanford CA 1975; Robert S.
Ozaki. The Control of Imports and Foreign Capital in Japan. New York 1971.
Eine Wirtschaftsgeschichte 13
9
Ryuichiro Inoue, Hirohasa Kohama and Shujiro Urata (Hg.). Industrial Policy
in East Asia. Tokyo 1993.
14 Eine Wirtschaftsgeschichte
Doch auch Japan hatte allzu offensichtlich die Kosten seines exportge-
leiteten Wachstums auf seine Handelspartner externalisiert. 1969 riss den
Amerikanern bei Textilien der Geduldsfaden. Sie belegten japanische Pro-
dukte mit engen Importquoten10 – zu einem Zeitpunkt freilich, an dem die
Fertigung in Japan schon rückläufig und seine Exporte kaum noch wett-
bewerbsfähig waren. Zwei Jahre kündigten die von den Kosten des Viet-
namkriegs und der Inflation gebeutelten USA über Nacht den für Japans
Exporte 23 Jahre lang so günstigen Yen-Kurs auf. Jener „Nixon-Schock“
von 1971 zwang die japanische Exportwirtschaft in der Folge zu höher-
wertigen Exporten. Der gestärkte Yenkurs und die Restrukturierung der
japanischen Wirtschaft weg von der Schwerindustrie ermöglichten es Ja-
pan, die Ölpreiskrisen von 1973/74 und 1978/79 deutlich besser zu ver-
kraften als die meisten Europäer, deren Inflation und industrielle Arbeits-
losigkeit massiv anstieg.
Da Japan mit seinen modernen Produktionskapazitäten munter weiter
gewaltige Exportüberschüsse produzierte und keine sichtbaren Anstren-
gungen unternahm, durch Importe von Fertigwaren die Wertschöpfung und
Arbeitsplatzbilanz seiner Partner zu unterstützen, erzwangen die Amerika-
ner im September 1985 in dem nach einem New Yorker Hotel benannten
„Plaza Accord“ die dauerhafte Aufwertung des Yen im Bezug zum Dollar.
Die japanische Zentralbank reagierte auf jene Yen-Teuerung (endaka),
dessen Außenwert sich in zwei Jahren verdoppelte, indem sie das Land,
um eine Rezession wegen der gebremsten Exporte zu vermeiden, mit Li-
quidität flutete. So sollte die Binnennachfrage angekurbelt werden. Die
Japaner sparten jedoch eisern weiter: Zu niedrig blieben ihre Pensionen
und zu eng die Wohnungen für neue Konsumsymbole. Das überschüssige
Kapital fand in den Börsenwerten und in Immobilien seine Anlage. Fast
täglich stiegen die Kurse auf neue historische Höchststände. Der Nikkei-
Index verdreifachte seinen Wert von 13.000 (1985) auf 39.000 (1989).
Manche Mittelständler gaben die wenig rentierliche Fertigung auf und
steckten ihr Betriebskapital lieber in das clevere zaitech, das als financial
engineering die Vervielfachung des Reichtums ohne körperliche oder geis-
tige Anstrengung versprach. Die mit Einlagen überreich gesegneten Banken
waren froh, wenn Spekulanten neues Kapital nachfragten. Sie akzeptierten
kritiklos überbewertete Aktienpakete und Immobilien als Sicherheiten.
Von 1985-90 stiegen die Immobilienpreise um das Vierfache. Rentabilitäts-
kriterien spielten bei Kaufentscheidungen keine Rolle mehr. Entscheidend
10
I.M. Destler. The Textile Wrangle – Conflict in Japanese American Relations
1969-1979. Ithaka, NY. 1979.
Eine Wirtschaftsgeschichte 15
Japans Wirtschaft ist dual geprägt: Der kleinen Zahl international bekann-
ter und global operierender Großkonzerne steht eine Masse von Klein- und
Mittelbetrieben gegenüber, die als Zulieferbetriebe oder für lokale Märkte
arbeiten. Profitabilität, Lohnniveaus und Arbeitsbedingungen sind meist
deutlich schlechter als bei den Großbetrieben. All jene vielbeschriebenen
Errungenschaften der 1992 zu Ende gegangenen Hochwachstumsphase der
japanischen Volkswirtschaft wie arbeitslebenslange Beschäftigungsver-
hältnisse, das Senioritätsprinzip bei Beförderungen und kollegiale Kon-
sensentscheidungen haben in jenen mittelständischen Betrieben im Famili-
eneigentum kaum je Gültigkeit gehabt. Immerhin ist es wichtig zu wissen,
dass jener KMU-Sektor mit zwei Dritteln aller Arbeitsplätze allen jenen
Arbeit und Brot gibt, die aus dem Hamsterrad der Großbetriebe neigungs-
oder altersbedingt ausgestiegen sind oder die, wie die meisten Berufsan-
fänger aufgrund nur durchschnittlicher Schulleistungen, dort nie eine An-
stellungschance hatten und nunmehr in den vielen Klein- und Mittelstädten
der Provinz ein vielleicht glücklicheres und sicher weniger stressvolles
Auskommen finden.
Als Ausländer hat man jedoch in aller Regel mit den Spitzenunter-
nehmen der japanischen Wirtschaft zu tun, die im Außenhandel, bei Aus-
landsinvestitionen, in der technologischen Innovation und in der Mas-
sengüterfertigung engagiert sind und meist mit Sitz in Tokyo an der
Börse gehandelt werden. Die meisten jener Spitzenunternehmen sind in
mehr oder minder enger Form als keiretsu organisiert, weswegen es sich
lohnt, sich diese Unikate der Weltwirtschaft – bei den koreanischen Chaebol
handelt es sich eher um Zaibatsu-Imitate – näher zu betrachten.
Bekanntlich hatte MacArthur 1945/46 die Besitzerfamilien der Zaibatsu,
die Iwasaki von Mitsubishi, die Barone Mitsui etc. enteignen lassen, ihre
Holdings aufgelöst und die Einzelfirmen gründlich zerschlagen lassen. So
wurden die Außenhandelsfirmen Mitsui Bussan in 140 und Mitsubishi
Shoji in 170 kleine Handelshäuser atomisiert. Nach dem Friedensvertrag
von 1951 fusionierten in dem souverän gewordenen Japan die Teilfirmen
von Konzerngruppen mit einer starken Unternehmenskultur wie Mitsubishi
18 Die Keiretsu-Konglomerate nach der Krise
und Sumitomo sehr bald wieder. Die konsolidierten Großfirmen der Grup-
pen formierten sich zu eng koordinierten keiretsu. Bei anderen, die wie
Mitsui bis 1945 hauptsächlich von der Eignerfamilie dominiert worden
waren, dauerte die Gruppenkonsolidierung bis Ende der 50er Jahre. Manche
ehemaligen Mitsui-Firmen wie Toshiba, Toyota, die Mineralölfirma General
Sekiyu und der Nahrungsmittelkonzern Toshoku hielten weiter Sicherheits-
abstand und beteiligten sich nur sehr selektiv an den Aktivitäten der Mitsui-
Familie1. In wieder anderen Firmen genoss das neue Management so sehr
seine neue Freiheit und Unabhängigkeit, dass sie sich höchstens auf ein loses
„Banken-Keiretsu“, einen besseren Hausbankenklub, einlassen wollten. Da-
zu zählten die ehemaligen Firmen der Yasuda und Asano-Zaibatsu (die dann
zum Fuyo Keiretsu der Fuji-Bank zählten) und die der Furukawa, Kawasaki,
Suzuki Shoten, Fujiyama und Meiji Zaibatsu (die sich meist dem keiretsu
der Daiichi Kangyo Bank, DKB, anschlossen).
Als horizontal organisierte Konzerngruppen hielten die Kernfirmen in
den Mitsubishi-, Mitsui- und Sumitomo-Konglomeraten jeweils unterein-
ander Aktienpakete (und eliminierten damit feindliche Übernahmerisiken
oder Aktionäre, die frech auf höheren Dividenden oder bei Hauptversamm-
lungen auf ernsthaften Antworten bestehen konnten), tauschten innerhalb
des keiretsu Manager aus und ließen ihre Vorstandsvorsitzenden, ihre
Stellvertreter, die Chefs ihrer Planungsabteilungen, sowie andere Füh-
rungskräfte sich allmonatlich regelmäßig treffen. So kommen die CEOs der
29 Mitsubishi-Kernfirmen jeden zweiten Freitag im Monat zum Präsiden-
tenklub (kinyukai) zusammen2. Dabei plaudern sie mutmaßlich nicht so
sehr über ihr Golf-Handicap, ihre letzten Auslandsreisen, oder wie Minoru
Makihara, der Chef von Mitsubishi Shoji meint, über Spenden und Spon-
soring3, als vielmehr über die Lage der Mitgliedsfirmen, gemeinsame strate-
gische Reaktionen und Projekte, größere Auslandsinvestitionen und poli-
tische Anliegen, die gegenüber den Fraktionen und führenden Parlamen-
tariern der Regierungspartei LDP und den Ministerien in Tokyo zu
artikulieren sind. Die Sekretariatsfunktionen werden jeweils von der Haus-
bank und der Außenhandelsgesellschaft (sogo shosha) der Gruppe wahr-
genommen. Diese gehören ebenso zum keiretsu wie Lebens- und Sachver-
sicherer, chemische und Mineralölfirmen, Stahlkocher, Brauereien, Groß-
1
John G. Roberts. Mitsui. Three Centuries of Japanese Business. New York. 1989.
2
Yasuo Mishima. The Mitsubishi. Its Challenge and Strategy. Greenwich, Conn.
1989.
3
The Economist 23.10.1999.
Die Organisation der Hochwirtschaft 19
4
Masafumi Matsuba. The Contemporary Japanese Economy. Tokyo 2001. S. 81ff.
20 Die Keiretsu-Konglomerate nach der Krise
5
Gelegentlich griffen bei tatsächlichen oder vermeintlichen Missständen „be-
freundete“ Keiretsu-Firmen auch energisch durch. So wurde nach öffentlich
ruchbar werdenden Selbstbereicherungs- und Begünstigungsaffären der Vor-
stand des traditionsreichen Mitsukoshi-Kaufhauses von Mitsui hinausgeworfen.
Der Nissan-Keiretsu verdrängte die ursprünglich Gründerfamilie Tsukatani aus
den Managementfunktionen seines Scheinwerfer- und Rückspiegelherstellers
Ichikoh, nachdem der Firmenerbe beim Nissan Management in Ungnade gefal-
len war (Financial Times 15.6.1991).
Die Organisation der Hochwirtschaft 21
6
Financial Times 17.2.2006.
7
Financial Times 20.2.2002.
8
„Marriage in name only“ The Economist 2.3.2002.
22 Die Keiretsu-Konglomerate nach der Krise
(UFJ), den anno 2002 erfolgten Zusammenschluss der Sanwa Bank und
der Tokai Bank.
Die Sumitomo Bank schluckte ihrerseits 2001 die Sakura („Kirschblü-
ten“) Bank, eine Fusion der Mitsui Bank mit der Taiyo Kobe Bank aus
dem Jahre 1990.
Die dritte große Bankengruppe nennt sich nunmehr Mizuho. Sie ent-
stand, wie erwähnt, durch die Übernahme der DKB und der Industrial
Bank (IBJ) durch die Fuji-Bank im Jahr 2002.
Schließlich gibt es dann noch die Resona Bank, die als eigentlich kon-
kursreif im März 2003 verstaatlicht werden musste9. Sie war eine Fusion
der Daiwa Bank, die nach Milliarden von Spekulationsverlusten in New
York 1995 auf das Niveau einer Regionalbank in Kansai zurückgestutzt
worden war, mit der Asahi Bank, die ihrerseits als Fusion der Kyowa mit
der Saitama Bank 1991 entstanden war.
Die Stagnationskrise Japans und die Serie der Bankenfusionen konnten
nicht ohne Folgen für die Organisation und den Zusammenhalt der keiretsu
bleiben. Zum einen konnten die angeschlagenen Banken und Versicherun-
gen ihren in Turbulenzen geratenen Mitgliedsfirmen, zumal der Bauwirt-
schaft, den Kaufhäusern und Broker, kaum noch zu Hilfe kommen. Viele
Firmen begannen auch, ihre wenig rentierlichen Aktienpakete entfernt be-
freundeter Keiretsu-Firmen zu verflüssigen. Damit reduzierten sich die Ü-
berkreuz-Beteiligungen, zumal der Banken-Keiretsu, deutlich. Insgesamt
sanken die gegenseitigen Beteiligungen an den Kernfirmen von 28% (1987)
auf 16,7% (2004). Noch dramatischer war der Effekt der Bankenfusionen.
Mitsubishi trotzte als Fels der widrigen Brandung. Es gelang dem Keiretsu
sogar, die ungeliebte Daimler-Beteiligung an Mitsubishi Motors zu reduzie-
ren und die Teilnahme von Rolf Eckrodt als erstem und mutmaßlich letzten
gaijin (Ausländer) am Mitsubishi-Präsidentenklub zu beenden. Die Sumito-
mo Bank schluckte nicht nur die Sakura- (Mitsui) Bank. Sumitomo-Firmen
übernahmen auch die Versicherungen, die Chemischen Industrien und die
Bauwirtschaft des Mitsui- Keiretsu, so dass, eine gute Verdauung vorausge-
setzt, das Sumitomo- Konglomerat heute – ebenso wie Mitsubishi – um-
satzmäßig stärker dasteht denn je.
Von den Banken-Keiretsu lässt sich dies kaum noch sagen. Der Sanwa
Keiretsu desintegrierte mit der Krise der Sanwa Bank. Als die Fuji Bank
schließlich die DKB und die IBJ als Mizuho übernahm, fusionierten nomi-
9
Schon früher war eine Regionalbank, die Ashikaga Bank aus der Tochigi-
Präfektur, wegen ihrer Bedeutung für die von der schlechten Binnenkonjunktur
getroffene Regionalwirtschaft nicht geschlossen, sondern verstaatlicht worden.
Die Organisation der Hochwirtschaft 23
nell zumindest die beiden großen Fuyo und DKB Keiretsu, sowie die klei-
nere IBJ Gruppe. Zwar gab die Bank den Vorsitz an die weniger belastete
Handelsfirma Marubeni und die Yasuda Versicherungen ab10, doch war
der Keiretsu einfach zu überdimensioniert geworden, um noch viel opera-
tive Bedeutung zu haben. So enthält er jetzt vier Außenhandelsgesellschaf-
ten (sogo shosha), drei Mineralölgesellschaften, vier Stahlfirmen11 etc., die
alle im Wettbewerb untereinander stehen. Großartige Gruppengefühle
kommen da nicht mehr auf, in Japan genauso wenig wie andernorts.
Wie erwähnt, waren die Außenhandelsgesellschaften stets Co-Manager
der klassischen Keiretsu. Zu Meiji-Zeiten waren sie privilegierte Kommissi-
onshändler mit dem unergründlichen Ausland gewesen, beschafften Roh-
stoffe, Energieträger und Patente, und besorgten im Gegenzug den Absatz
der japanischen Industrieexporte. Noch in den 70er Jahren organisierten sie
50% der Exporte und 66% der Importe Japans12. Doch bald fühlten sich die
PKW-, Kamera- und Elektronikhersteller selbst besser fähig, den Absatz, die
Finanzierung und das Marketing ihrer Produkte auf den Weltmärkten zu
bewerkstelligen als die generalistischen Außenhändler. In der umgekehrten
Richtung nahmen ausländische Exporteure zunehmend den Direktabsatz
ihrer Waren durch eigene Niederlassungen oder durch japanische Vertrags-
vertreter vor. Auch sank mit Japans diversifizierter Produktionsstruktur der
Anteil der von den sogo shosha weiter betriebenen Rohstoffimporte an den
japanischen Gesamtimporten. So wurden von ihnen im Jahr 2000 nur noch
17,8% der Exporte und 32,5% der Importe durchgeführt.
Auf ihre Existenzkrise reagierten die sogo shosha unterschiedlich. Über-
lebenskünstler wie Mitsubishi Shoji diversifizierten upstream in der Res-
sourcenerschließung als integrierter Rohstoffkonzern und downstream mit
Restaurant-Ketten wie Kentucky Fried Chicken und den Sutor Coffee
Shops am Ende der Wertschöpfungskette direkt an den Verbrauchern. Ito-
chu verkaufte seine Tochter Techno-Science rechtzeitig mit Megaprofiten,
bevor die IT-Blase krachte und trennte sich von den 10% hartnäckigen Ver-
lustbringern unter seinen 740 Töchtern13. Andere versuchten sich mit Ver-
tragsfertigungen, Entwicklungsprojekten auf (in der Regel stark überteuerte)
10
Financial Times 1.11.1999.
11
Später fusionierte ein Teil jener Stahlfirmen als „JFE Holdings“.
12
Max Eli „Die Bedeutung der Generalhandelshäuser für die Wirtschaft Japans“
in: Heide und Udo Simonis (Hg.). Japan: Wirtschaftswachstum und soziale
Wohlfahrt. Frankfurt 1974. S. 123-42.
13
The Economist 25.5.2002.
24 Die Keiretsu-Konglomerate nach der Krise
14
Max Eli. Japan – Gratwanderung einer Weltwirtschaftsmacht. Hamburg 2003.
S. 105.
Die Organisation der Hochwirtschaft 25
15
Chitoshi Yanaga. Big Business in Japanese Politics. New Haven 1968.
26 Die Keiretsu-Konglomerate nach der Krise
wechsels und der politischen Krise von 1993 wurden die Zahlungen dann
vorübergehend eingestellt.
Der Arbeitgeberverband Nikkeiren ist das Gegenstück des Gewerk-
schaftsdachverbandes Rengo, mit dem er allerdings nicht in direkte Ver-
handlungen tritt. Tarifverhandlungen zu Löhnen und Arbeitsbedingungen
finden in aller Regel auf Betriebsebene zwischen Unternehmensleitung
und Betriebsgewerkschaft statt, gelegentlich, wie bei den Seeleuten, auch
branchenweit. Nikkeiren versucht, diese Verhandlungen auf Arbeitgeber-
seite durch Studien zur Lohn/Preisentwicklung, Beratung der Mitglieds-
firmen und eine geeignete Öffentlichkeitsarbeit zu koordinieren. Er propa-
giert harmonische Arbeitsbeziehungen, wissenschaftliches Personalman-
agement, die Förderung arbeitslebenslanger Beschäftigungen, konsultative
Führungsstile, Qualitätszirkel und das betriebliche Vorschlagswesen. Nik-
keiren befürwortet auch eine Deregulierung der japanischen Wirtschaft, um
die Lebenshaltungskosten und damit die Lohnforderungen zu senken. Seit
1977 gab es keine großen Arbeitskämpfe mehr. Mit der Privatisierung und
Zerschlagung der Staatsbahn JNR 1985/86 in privatisierte regionale Eisen-
bahngesellschaften entfiel auch ersatzlos die strategische Rolle der Eisen-
bahnergewerkschaft als Trendsetter der „Frühjahrsoffensive“ (shunto) der
alljährlichen Tarifverhandlungen. Arbeitskämpfe finden eigentlich nur
noch in Einzelfällen, wie in schlecht geführten staatsnahen Unternehmen,
etwa Japan Airlines (JAL), statt.
Mit dieser positiven Bilanz wurde Nikkeiren gewissermaßen zum Opfer
des eigenen Erfolgs und mit der Schwäche der Gewerkschaftsbewegung
genauso überflüssig. Seine große politische Zeit war die Zerschlagung der
militanten kommunistischen Gewerkschaften in den 50er Jahren. Das ist
lange her. Nikkeirens Aufgehen in Keidanren war daher folgerichtig.
Auch Keizai Doyukai, der dritte im Bunde, zehrt vom Ruhm vergange-
ner Tage. In den 60er und 70er Jahren waren seine Studienzirkel und Emp-
fehlungen zur Industriepolitik tonangebend. Heute pflegt er eher soziale
Funktionen krisengestresster Führungskräfte.
Selbstverständlich gibt es in Japan auch zahlreiche Vereinigungen und
Wirtschaftsverbände, die nicht vom Keiretsu-Management und seinen In-
teressen bestimmt sind. Dazu zählen zum Beispiel nissho, die Industrie-
und Handelskammer, die die Interessen von 1,3 Millionen Klein- und Mit-
telbetrieben vertritt, oder zenchu, die die ländlichen Genossenschaften mit
5 Millionen Genossenschaftsbauern repräsentieren. Zur erlauchten Gesell-
schaft des alten Geldes der zaikai zählen sie freilich nicht.
Unternehmensporträt: Sumitomo Keiretsu 27
3.2.1 Unternehmensgeschichte
Die Geschichte von Sumitomo geht bis ins 17. Jahrhundert zurück, als
Masatomo Sumitomo (1585 – 1652) einen Buch- und Medizinladen in
Kyoto eröffnete. Er hinterließ seinen Nachkommen „Die Grundsätze des
Gründers“, in denen er detailliert erläutert, wie man Geschäfte abwickelt.
Seine Grundsätze werden auch heute noch als Basis der Sumitomo-
Unternehmenspolitik in Ehren gehalten.
Zur selben Zeit wie Masatomo entwickelte sein Schwager Riemon So-
ga (1572 – 1632), der eine Kupferschmelze namens Izumiya in Kyoto
betrieb, mit viel Einsatz ein Kupferschmelzverfahren, das Nanban-buki
heißt und Silber von Kupfer trennen kann. Tomomochi Sumitomo (1607
– 1662), der älteste Sohn von Riemon, wurde durch die Heirat einer
Tochter von Masatomo ein Familienmitglied des Sumitomo Hauses. Er
baute das Geschäft der Sumitomos und Sogas nach Osaka aus und mach-
te das Nanban-buki-Verfahren bekannt. Das Unternehmen Sumitomo/
Izumiya der beiden Familien wurde somit als das führende Unternehmen
für das nanban-buki angesehen und Osaka wurde führend in der Kupfer-
Raffination in Japan. In den kommenden Jahren verstand es das Haus
Sumitomo, sich auf seine Geschäfte zu konzentrieren und beispielsweise
ihre Besshi-Kupfermine nicht durch das Chaos der Meiji-Restauration
stören zu lassen. Das Unternehmen erwarb zügig Technologien aus dem
Ausland und erhöhte seine Produktivität erheblich. Später steigerte die
Besshi-Mine ihre Produktion nicht nur, sondern stieg in entfernte Bran-
chen ein wie den Maschinenbau, die Kohleförderung, die Herstellung
elektrischer Kabel und die Holzwirtschaft. Die namiai-gyo, der Finanz-
arm des Unternehmens, entwickelte sich zu einem Bankgeschäft. Das
Warenlagergeschäft, das ursprünglich ein Teil des Bankgeschäftes war,
wurde als Finanzgruppe eigenständig. Nach dem 2. Weltkrieg begannen
nach der Enteignung der Gründerfamilie alle Unternehmen der Sumitomo-
Gruppe ihren Weg zu gehen.
Trotz allem verbindet sie heute die Keiretsu-Organisation und die damit
verbundene Unternehmenspolitik der „Grundsätze des Gründers“.
28 Die Keiretsu-Konglomerate nach der Krise
3.2.2 Unternehmenspolitik
3.2.3 Verbundgruppen
16
Vgl. Sumitomo Corporation (2006), http://www.sumitomocorp.co.jp/english/
index.htm aufgerufen am 26.05.06.
Unternehmensporträt: Sumitomo Keiretsu 29
3.2.5 Metallprodukte
Sumitomo Metal Industries Ltd. wurde 1897 gegründet. Es ist heute ein
Netzwerk zahlreicher Verbundunternehmen aus den Bereichen Stahl, Ma-
schinenbau, Elektro- und Informationssysteme und weiterer Unternehmen
der Metallindustrie. Die Produkte des Sumitomo-Metal- Industries-
Netzwerks sind so vielseitig wie die einzelnen Unternehmen selbst. Neben
elektromagnetischen Eisenblechen, Stahlplatten, Konstruktionsmaterialien
für Wolkenkratzer (Stahlträger), Titanprodukten, Stahlrohren und -röhren
werden auch Eisenbahn-, Maschinen- und Automobilteile sowie Maschi-
nen für die Produktion von Computerchips produziert.18
Die bedeutungsvollsten Tochter- und Verbundunternehmen der Sumi-
tomo Metal Industries Verbundgruppe im Bereich Stahlproduktion
und Stahlverkauf sind:
1. Sumitomo Metals, Ltd. (ehem. Kokura Stahlwerke): Produktion
und Verkauf (P&V) Stahlstangen und Kabel, (27,000/100%) (Ka-
pital in Mio.Yen/Vernetzung des EK mit der Sumitomo Metal Indust-
ries, Ltd. in %)
2. Sumitomo Metals, Ltd. (ehemals Naoetsu Werke): P&V von rost-
freien Präzisionsrollprodukten und rostfreien geformten Stahl,
(5,500/100%)
3. Sumitomo Titanium Corporation: P&V Titanprodukte und Silikon
für Halbleiterprodukte sowie Solarzellen, (6,583/37%)
4. Sumitomo Pipe & Tube Co., Ltd.: P&V Röhren und Rohre,
(4,801/57%)
5. Sumitomo Metal Steel Products, Inc.: P&V Stahlprodukte haupt-
sächlich für Bauwesen, (7,496/98%)
6. Sumikin Steel & Shapes, Inc.: P&V H-Formen, (3,000/100%)
17
Vgl. Sumitomo Corporation (2006), http://www.sumitomocorp.co.jp/english/
section_e/kinzoku/index.shtml aufgerufen am 26.05.06.
18
Vgl. Sumitomo Metal Industries Ltd. (2006): http://www.sumitomometals.co.
jp/e/profile/network.html aufgerufen am 26.05.06.
Unternehmensporträt: Sumitomo Keiretsu 31
19
Vgl. Sumitomo Corporation (2006), http://www.sumitomometals.co.jp/e/profile/
network.html aufgerufen am 26.05.06.
32 Die Keiretsu-Konglomerate nach der Krise
20
Vgl. Sumitomo Corporation (2006), http://www.sumitomocorp.co.jp/english/
section_e/yusoki/index.shtml aufgerufen am 26.05.06.
21
Vgl. Sumitomo Corporation (2006), http://www.sumitomocorp.co.jp/english/
section_e/kiden/index.shtml aufgerufen am 26.05.06.
22
Vgl. Sumitomo Corporation (2006), http://www.sumitomocorp.co.jp/english/
section_e/joho/index.shtml aufgerufen am 26.05.06.
34 Die Keiretsu-Konglomerate nach der Krise
3.2.6.3 Chemie
Die Hauptaktivitäten der Sumitomo-Chemicals-Gruppe bilden die Ent-
wicklung und der Handel mit inländischen und internationalen neuen
Materialien, Elektronik und Batterien, mit biotechnologischen Materialien,
Pharmazeutik und landwirtschaftlichen Chemikalien. Des weiteren handelt
die Gruppe mit inländischen und internationalen Kunststoffen, organischen
Chemikalien sowie mit artverwandten Geschäftszweigen.
Die Ursprünge von Sumitomo Chemical können bis in das Jahr 1913 zu-
rück verfolgt werden, als das Unternehmen Sulfur-Dioxid-Austritte aus der
Besshi-Kupfer-Mine in der japanischen Region Shikoku verwendete, um
Calcium-Superphosphat-Dünger zu produzieren und dabei die Luftver-
schmutzung der Mine reduzierte. Heute hält die Sumitomo Chemical
Group rund 100 Unternehmen, welche in den oben genannten sechs Ge-
schäftsbereichen weltweit arbeiten.
Mit Hilfe seines globalen Netzwerkes hat es das Unternehmen geschafft,
mit bestimmten Produkten und Dienstleistungen Marktführer auf verschie-
denen Kontinenten zu werden.23
Die Metall- und Bergbausparte wurde im Jahr 1590 gegründet. Heute hat
das Unternehmen 2,058 Mitarbeiter. Das Unternehmen ist in den Feldern
Bodenschätze, Metal, Elektronik und fortgeschrittene Materialien aktiv.24
23
Vgl. Sumitomo Corporation (2006), http://www.sumitomocorp.co.jp/english/
section_e/kagaku/index.shtml aufgerufen am 26.05.06.
24
Vgl. Sumitomo Corporation (2006), http://www.sumitomocorp.co.jp/english/
section_e/shigen/index.shtml aufgerufen am 26.05.06.
25
Willaim Dwakins „Vulnerable to catastrophe“ Financial Times 21.6.1996.
Unternehmensporträt: Sumitomo Keiretsu 35
26
Vgl. Sumitomo Corporation (2006), http://www.sumitomocorp.co.jp/english/
section_e/shizai/index.shtml aufgerufen am 26.05.06.
27
Vgl. Sumitomo Corporation (2006), http://www.sumitomocorp.co.jp/english/
section_e/shizai/index.shtml aufgerufen am 26.05.06.
36 Die Keiretsu-Konglomerate nach der Krise
28
Vgl. Sumitomo Corporation (2006), http://www.sumitomocorp.co.jp/english/
section_e/kinyu/index.shtml aufgerufen am 26.05.06.
Unternehmensporträt: Sumitomo Keiretsu 37
Anhang
29
Sumitomo Corporation (2006): Organisation, http://www.sumitomocorp.co.jp/
english/company_e/org/index.shtml, 18.05.2006.
38 Die Keiretsu-Konglomerate nach der Krise
Literatur
Websites
Sumitomo Corporation (2006): Message from the President & CEO,
http://www.Sumitomocorp.co.jp/english/company_e/message/index.sh
tml, 18.05.2006
Sumitomo Corporation (2006): Organisation, http://www.sumitomocorp.
co.jp/english/company_e/org/index.shtml, 18.05.2006
Sumitomo Corporation (2006), http://www.sumitomocorp.co.jp/english/
index.htm aufgerufen am 26.05.06
Sumitomo Corporation (2006), http://www.sumitomocorp.co.jp/english/
section_e/kinzoku/index.shtml aufgerufen am 26.05.06
Sumitomo Metal Industries Ltd. (2006): http://www.sumitomometals.co.
jp/e/profile/network.html aufgerufen am 26.05.06
Sumitomo Corporation (2006), http://www.sumitomocorp.co.jp/english/
section_e/yusoki/index.shtml aufgerufen am 26.05.06
Sumitomo Corporation (2006), http://www.sumitomocorp.co.jp/english/
section_e/kiden/index.shtml aufgerufen am 26.05.06
Sumitomo Corporation (2006), http://www.sumitomocorp.co.jp/english/
section_e/kagaku/index.shtml aufgerufen am 26.05.06
Sumitomo Corporation (2006), http://www.sumitomocorp.co.jp/english/
section_e/shigen/index.shtml aufgerufen am 26.05.06
Unternehmensporträt: Sumitomo Keiretsu 39
1
Zum Beispiel in meinem Buch: The Japanese Power Elite. Houndmills 2005
(1. Auflage 1993).
2
Professor Verena Blechinger von der FU Berlin sieht das eiserne Dreieck in
„nachhaltigen Turbulenzen“, siehe: Verena Blechinger „Political Reform in Ja-
pan“ in: Friederike Bosse, Patrick Köllner (Hg.). Reformen in Japan. Hamburg
2001, 89-110. S. 102f.
42 Wirtschaftliche und politische Machtstrukturen
3
Patrick Köllner. Informelle Parteistrukturen und institutioneller Wandel: Japa-
nische Erfahrungen nach den politischen Reformen des Jahres 1994. Politische
Vierteljahresschrift 46, 2005, 39=61.
4
Kwan Weng Kin “Land of the Rising Sons” Straits Times 9.11.2003 ; Verena
Blechinger. Politische Korruption in Japan. Hamburg 1998. S. 101ff.
Wirtschaftliche und politische Machtstrukturen 45
Spenden aller Art erkenntlich. Ins Geld geht auch die aussichtsreiche Plat-
zierung auf den regionalen Parteilisten, bei denen Regional- und Lokalpo-
litiker mit ihren eigenen teueren Wiederwahlbedürfnissen umworben wer-
den müssen. Auch erwarten sie von ihrem Abgeordneten in Tokyo Bau-
und andere Projekte für ihre Heimatdistrikte. In der Tat wird der Bezug auf
frühere, aktuelle und künftige öffentlich finanzierte Wohltaten für den
Wahlkreis von LDP-Abgeordneten als die effektivste Wahlwerbung ange-
sehen. Programmatische Parolen und schöne Reden zu Frieden, Wohlstand
und Gerechtigkeit, mit denen europäische Politiker ihre Wähler zu gewin-
nen suchen, gelten demgegenüber als wohlfeiles Gerede. Da könnte ja je-
der kommen.
Gerade in der abgelegenen wirtschaftlich benachteiligten Provinz sieht
man in öffentlichen Projekten, auch jenen der offensichtlich sinnlosesten
und überteuerten Art, einen gerechten Lastenausgleich, die von den arro-
ganten Hauptstädtern und den reichen Großfirmen für das rechtschaffene
Hinterland zu leisten ist.
In der Leistung dieser Transfers haben LDP-Abgeordnete aufgrund ihrer
jahrzehntelangen Regierungspraxis einen anerkannten Heimvorteil. Des-
halb erhält die Partei in den Wahlkreisen stets bessere Ergebnisse als bei
den Listenwahlen. Dank zersplitterter Oppositionsstimmen konnte die Par-
tei bei den Wahlen 1996-2003 mit 39-41% der Stimmen in den Wahlkrei-
sen 56-59% der Direktmandate erringen. Bei den Wahlen im September
2005 schließlich gewann die LDP mit 48% der dortigen Stimmen 73% der
Direktmandate. Dank der Stärke der Wahlkreisorganisationen (koenkai)
der LDP-Abgeordneten ist ein künftiger Machtverlust der Partei sehr un-
wahrscheinlich geworden.
Die Wahlkreisorganisationen der Abgeordneten begrenzen auch die Ein-
flussmacht der Parteiführung. Als Premier Koizumi 2005 37 LDP-Abge-
ordnete wegen ihrem Widerstand gegen die Postprivatisierung aus der Par-
tei werfen ließ und gegen sie „Killer-Kandidaten“ in ihren Wahlkreisen
aufstellte (einer davon war der später als Schwindler enttarnte Internet-
Unternehmer Takefumi Horie), gewannen die meisten Renegaten dank
ihrer loyalen Wähler unschwer die Wiederwahl als Unabhängige5.
Das Hauptinstrument der LDP für die Kontrolle der Ministerien ist das
Zoku („Stamm“-) System. Es handelt sich dabei um altgediente, regelmäßig
wiedergewählte und damit hochrangige Parlamentarier, die sich auf die
Politik, die Projekte und die Personalia eines Ministeriums spezialisiert
haben, auf dessen Entscheidungen sie als langjährige Fachausschussmit-
5
Asahi Shimbun 3.9.2005; Japan Times 7.9.2005.
46 Wirtschaftliche und politische Machtstrukturen
6
The Economist 16.1.2001.
Wirtschaftliche und politische Machtstrukturen 47
7
Kwan Wei Kin „Disgraced Suzuki on the brink of arrest“ Straits Times
18.6.2002; Kyodo 8.11.2004.
8
Financial Times 12.10.1993, 12.3.1994, 29.3.1996; Newsweek 5.4.1993.
9
Financial Times 16.7.2002.
10
Sebastian Moffett „Party politics“ Far Eastern Economic Review 20.11.2003 ;
Asia Times on-line 12.8.2005 ; Financial Times 15.11.2003.
48 Wirtschaftliche und politische Machtstrukturen
11
Uwe Schmidt „Mit aller Macht gegen Japans Bürokraten“ Frankfurter Allge-
meine 9.10.1996.
12
Jiro Yamaguchi „Result of Unfinished Reforms“ Friederike Bosse und Patrick
Köllner (Hg.) Reformen in Japan. Hamburg. 2001, 71-87. S. 71.
13
32.000 höhere Ministerialbeamte werden alljährlich Mitte 50 pensioniert. Ihre
knapp bemessene Pension erhalten sie erst ab 60, sie sind also weiter auf Er-
werbstätigkeit angewiesen; siehe: Taro Yayama. The present state of amakudari
in Japan. Asia 21. Juli 1999, 46-7.
Wirtschaftliche und politische Machtstrukturen 49
Die Liste von publik gewordenem Verwaltungsversagen ist lang, vor al-
lem seit die öffentliche Hand ab 1992 mit massiven Schulden umfangrei-
che Infrastrukturprogramme auflegte, für die eigentlich keine Nachfrage
bestand. Diese reichen von leeren, voll erschlossenen Industrieparks, neu-
en Fischereihäfen in von Fischern und Fischen verlassenen Küstenorten,
und unbenutzten Flughäfen bis zu Autobahnen, Tunneln und Brücken von
Nirgendwo nach Nirgendwo. Bei allen Notfällen schien der langwierige
Bürokratismus zu versagen: Rettungs- und Bergungsdienste setzten bei
dem Erdbeben von Kobe 1995 mit fataler Verspätung ein. Bei der wissent-
lichen Verbreitung von mit AIDS verseuchten Blutkonserven schritt das
Gesundheitsministerium nicht ein. Nuklearunfälle im Kernkraftwerk To-
kaimura wurden vertuscht. Frustrierte Spitzenbeamte schrieben Bestseller
über die Inkompetenz, den Bürokratismus und den Mangel an Professiona-
lität ihrer Ministerien14, die als ein Ergebnis stumpf gewordener politischer
Instrumente und demotivierender politischer Dauerinterventionen durch
die Zoku-Politiker erschienen. Indikativ für den sich verbreitenden Zynis-
mus war die fast universelle Annahme von Einladungen der Spitzen-
beamten zum Nachtleben, von Golfklubmitgliedschaften, Auslandsreisen,
Sportwagen und Bargeld von Seiten interessierter Geschäftskreise. So wurde
die Bankenaufsicht des MoF regelmäßig in Luxusrestaurants (ryotei) von
den zu kontrollierenden Finanzinstituten bewirtet. Das Ergebnis der Prüfun-
gen fiel entsprechend aus. Die für die Kontrolle der Mineralölmärkte zu-
ständigen MITI-Beamten wurden von Ölhändlern ebenso ausgehalten15. Die
Mittel der Entwicklungshilfe schließlich wurden im Außenministerium zur
Entwicklung des eigenen Vergnügens – für Freundinnen, Reitstunden, Pri-
vatreisen nach Übersee und Shopping im Mitsukoshi-Kaufhaus – verwen-
det16, mutmaßlich im sicheren Wissen, dass das Geld in Afrika und Latein-
amerika ohnehin verschwendet werden würde.
Mittlerweile mag das Arbeitsleben in den grauen Großraumbüros der
ministeriellen Betonbauten von Kasumigaseki freudloser und nüchterner
geworden sein. Sicher aber ist das weitgehende Ende der Amakudari-
Praxis für die Privatwirtschaft kein großer Verlust an unternehmerischen
Talenten. Die früher massenhafte Platzierung von pensionierten Beamten
des Finanzministerium und der Bank von Japan in Banken und Finanzinsti-
tutionen aller Art hatte nachweislich nicht die Qualität ihrer Kreditpolitik
14
Naoto Amaki. Saraba Gaimusho. Tokyo 2004; Masao Miyamoto. Straightja-
cket Society. Tokyo 1995.
15
Financial Times 28.12.1996.
16
Financial Times 27.1.2001 und 1.2.2002.
50 Wirtschaftliche und politische Machtstrukturen
17
Wolter Hassink und Adrian van Rixtel „Monitoring the Monitors. Amakudari
and the ex-post monitoring of the private banks” CEPR Discussion Paper 1785,
Januar 1998.
18
Jörg Mahlich. „Neue Entwicklungen in den Banken-Firmenbeziehungen“ in:
Manfred Pohl/Iris Wieczorek (Hg.) Japan 2004, Politik und Wirtschaft. Ham-
burg 2004, 243-64. S. 255.
19
Zum rechtlichen Hintergrund jener administrative guidance siehe: Wolfgang
Pape. Gyoseishido und das Anti-Monopol Gesetz. Köln 1980.
Wirtschaftliche und politische Machtstrukturen 51
Instrumente gewandelt. Längst teilen die Ministerien nicht mehr wie noch
in den 60er Jahren Kredite und Devisen nach den vorhersehbaren Export-
leistungen zu. Doch winken weiterhin staatliche Aufträge für die Bau- und
Rüstungswirtschaft, Forschungsförderungen von der Tiefseeexploration
bis zur Satellitentechnik, Entwicklungshilfemittel zu Nutz und Frommen
der Generalhandelshäuser, regulativer Schutz gegen allzu viel Wettbewerb
im Inneren wie von Außen, administrative Notbremsen gegen feindliche
Übernahmen und unerwünschte Auslandsinvestitionen sowie last but not
least der Einsatz von Steuergeldern bei der Rettung der Finanzwirtschaft
und leichtsinniger Großspekulanten.
Schließlich gibt es als ultima ratio bei hartnäckiger Unbotmäßigkeit von
Firmen auch immer noch den Lizenzentzug und die Steuerpolizei.
Als der Mineralölsektor 1999 dereguliert werden sollte, organisierte das
Wirtschaftsministerium (MITI) noch die Konsolidierung der Branche unter
Führung von Nippon Mitsubishi Oil20. Seit den Tagen von Premier Naka-
sone (1982-87) ist Deregulierung ein Evergreen in allen Regierungspro-
grammen. Die Ministerialbürokratie hat seither mit ihrer politischen Herr-
schaft, den zoku, eine unbestreitbare Meisterschaft in der Erfindung von
Deregulierungen entwickelt, die durch die Hintertür neue Regeln und Er-
messensentscheidungen wieder einführen. So erhalten beide ihren politi-
schen Einfluss und ihre administrative Ermessensmacht und die geschütz-
ten Wirtschaftssektoren ihre protektionsbedingtes Extra-Einkommen21. Zur
Not spielt die Bürokratie schlicht auf Zeit. Dies gelingt selbst bei so hoch-
politisierten Themen wie der Postprivatisierung. Obwohl sie seit den Wah-
len vom September 2005 mit Koizumis Erdrutschsieg beschlossene Sache
ist, findet sie erst im Jahre 2017 statt. Bis dahin kann das neue Innenminis-
terium (MIC) nach Gutdünken über die Postguthaben verfügen – etwa im
Ermessen, welche bedrängten regionalen und lokalen Haushalte durch
Kreditspritzen gerettet werden sollen, und welche nicht. Nach der Verwal-
tungsreform werden 80% der öffentlichen Ausgabenprogramme im Infra-
strukturministerium (MLIT) getroffen22: Auch dies ist eine gewaltige neue
Konzentration von Verwaltungsmacht.
20
Alexandra Harney und Michiyo Nakamoto „MITI: Protector turned facilitator“
Financial Times Survey: Foreign Investment in Japan 19.10.1999. S. ii.
21
Aurelia George Mulgan „The Politics of Deregulation and Japanese Agriculture“
in: T.J. Pempel u.a. (Hg.). The Politics of Economic Reform in Japan. Canberra
1997.
22
Andreas Gandow „Japan drängt die Bürokratie nur halbherzig zurück“ Han-
delsblatt 5.1.2001.
52 Wirtschaftliche und politische Machtstrukturen
23
Peter F. Drucker „In Defense of Japanese Bureaucracy“ Foreign Affairs 77,5,
1998, 68-80. S. 74 (meine Übersetzung).
5 Sozialbeziehungen in der Wirtschaft:
Gewerkschaften, Frauenarbeit, Demographie
Von den 60er bis in die 90er Jahre hielten sich mehr als 90% der Japaner
für zur Mittelschicht zugehörig. Die radikale Landreform und Enteignung
der großen Zaibatsu-Familien durch die Amerikaner, hohe Erbschaftssteu-
ern und eine starke Progressivität der Einkommenssteuern schuf bis Mitte
der 80er Jahre eine Vermögensverteilung, die nahezu skandinavische Di-
mensionen der Gleichheit aufwies. Auch die während der Spekulations-
phase von 1985-92 durch Aktien- und grosstädtischen Immobilienbesitz
geschaffenen eklatanten Disparitäten wurden seither wieder teilweise ein-
geebnet. Innerhalb der Betriebe beträgt die Disparität zwischen Einstiegs-
und Vorstandsgehältern gerade einmal 1:11 – ein gewaltiger Unterschied
zu dem in den USA praktizierten Usancen, Unsitten, die leider auch mitt-
lerweile bei manchen deutschen Konzernen um sich greifen. In Japan wäre
der Gedanke nicht vermittelbar, ein Vorstandssprecher leiste mehr als das
500fache eines Schalterbediensteten oder Kreditsachbearbeiters und müsse
das Entsprechende verdienen, wie dies z.B. bei der Deutschen Bank seit
einiger Zeit praktiziert wird. Frugale, arbeitsorientierte Lebensstile und
meritokratische, bildungsgangorientierte Lebensentwürfe finden weite
gesellschaftliche Akzeptanz und Umsetzung mit dem salaryman, dem fest
angestellten Gehaltsempfänger als erstrebenswerter Durchschnittsnorm.
Proletarische, kleinbäuerliche, gegenkulturelle oder elitäre Gegenentwürfe
existieren durchaus, finden auch genügend Publizität, bleiben jedoch abso-
lute Minderheitenprogramme. Gesellschaftliche Normen in Japan entmuti-
gen abweichendes Verhalten ohnehin. Reichtum (oder offene Armut) wird
deshalb nur selten zur Schau gestellt. Die alten Familien wissen dies ohne-
hin. Die Neureichen lernen es spätestens in der dritten Generation. Weit-
gehend gemeinsame Lebensentwürfe, die für alle gleich schweren Zulas-
sungsprüfungen in die besseren Mittel-, Oberschulen, Universitäten, Minis-
terien und Großbetriebe, dienen offenkundig dem nationalen Zusammen-
halt und dem sozialen Frieden. Alle Japaner hatten die gleichen Chancen,
jeder geistig und körperlich gesunde junge Mann die zumindest theoreti-
sche Option einer Spitzenkarriere.
Wer sie nicht wahrnahm, muss persönliche Ursachenforschung treiben,
kaum nach widrigen sozialen Verhältnissen suchen. Zweifellos gibt es in
54 Gewerkschaften, Frauenarbeit, Demographie
1
Financial Times 14.3.2006.
2
Financial Times 10.11.2004.
3
Frankfurter Allgemeine 14.3.2005.
Gewerkschaften, Frauenarbeit, Demographie 55
4
The Straits Times 25.3.2002.
5
„Death of a Salaryman“ Financial Times 12.11.1998.
6
The Economist 20.11.1999.
7
„Japanese sararimen at the crossroads“ The Economist 2.5.1992; Ana Goy Ya-
mamoto „Japanese Youth Consumption“ Asia Europe Journal 2, 2004, 271-82.
56 Gewerkschaften, Frauenarbeit, Demographie
8
Japan Institute for Labour Policy and Training. The Labour Situation in Japan
and Analysis 2004/5. Tokyo 2005. S. 58.
9
Financial Times 31.3.1994.
10
Labour Management Relations 34, 10. 1.10.1995.
Gewerkschaften, Frauenarbeit, Demographie 57
11
Andrew Gordon. The Wages of Affluence. Labour and Management in Postwar
Japan. Cambridge, Mass. 1999.
58 Gewerkschaften, Frauenarbeit, Demographie
12
Hugh Williamson. Coping with the Miracle. Japan’s Unions explore new inter-
national Relations. Boulder, Colorado 1994. S. 18ff.
Gewerkschaften, Frauenarbeit, Demographie 59
13
Die ungedeckten Pensionsverpflichtungen japanischer Unternehmen werden
auf 655 Milliarden US-Dollar geschätzt.
60 Gewerkschaften, Frauenarbeit, Demographie
14
Akira Kojima, in: Japan Economic Review 15.2.2004.
Gewerkschaften, Frauenarbeit, Demographie 61
es 26%15. Unter Studentinnen halten gerade einmal 12% eine Ehe noch für
erstrebenswert. Bei den Männern sind es immerhin noch 30%. Statt sich
mit Ehe-, Familien- und Berufspflichten abzumühen, scheint das von den
Medien und der Konsumwerbung propagierte Single-Dasein für die meis-
ten verlockender. Als „Moratoriums-Generation“ verschiebt man das ei-
genverantwortliche Erwachsenenwerden tunlichst, lebt weiter bei den ei-
genen Eltern und hat das ganze Einkommen für Modeartikel, Schönheit,
Dinieren, Reisen, Kultur und endloses Amüsement zur Verfügung. So war
die Großgruppe der weiblichen „parasitischen Singles“ die einzige, die
während der Deflationskrise ihre Konsumausgaben steigerte, weiter über-
teuerte Luxus- und Designerartikel kaufte und für modische Mini-Booms
wie für Hundesalons und Nagelstudios sorgte.
Bislang half die wachsende Lebenserwartung von 85,1 Jahren für Frau-
en und 77,9 Jahren für Männer (sie soll sich bis 2045 auf eigentlich sehr
erfreuliche 92,5 Jahre für Frauen und 83,7 Jahre für Männer steigern)
durch fallende Todesraten die sinkenden Geburtenraten aufzufangen und
so die freilich rapide alternde Gesamtbevölkerungszahl bei 127 Millionen
stabil zu halten. Dieser Trend ist offensichtlich nicht unendlich fortsetzbar.
Seit 2005 ist die Bevölkerung Japans mit minus 19.000 auch absolut rück-
läufig. Bis 2030 wird die Einwohnerzahl auf 121 Millionen und bis 2050
auf 109 Millionen sinken. Nur Russland wird einen noch drastischeren
Absturz erleiden: von derzeit 145 Millionen auf 119 Millionen (2030) und
101 Millionen (2050).
In Japan wird der Anteil der über 65jährigen von 17,3% (2000) auf
35,7% (2050) steigen. In Deutschland zum Vergleich von 16,4% auf 31%
im gleichen Zeitraum.
Woher aus einer überalterten, schrumpfenden Bevölkerung wirtschaftli-
che Wachstumsimpulse kommen sollen, bleibt schleierhaft. Man mag den
„Silbermarkt“ bedienen und Babynahrung zur Seniorenkost umetikettieren.
Der Markt wird in den Segmenten Pharma, medizinische Hilfsmittel und
Pflegedienste wachsen. Es werden bequemere Autos, Schuhe mit Klettver-
schluss, leichter bedienbare Elektronikprodukte, größere Druckbuchstaben,
Fertigessen in immer kleineren und fettfreien Portionen und klassische
Textilien als ewiger Freizeitlook angeboten werden. So werden jetzt schon
in Japan für jene 25%, die über 65 Jahre alt sind und über genügend Zeit
und über 53% aller Guthaben verfügen, erfolgreich nachgebaute Nostal-
giesportwagen wie der Nissan Fairlady verkauft. Yamaha vertreibt Musik-
instrumente mit Technologien zum Üben im Selbststudium. Als Club-
15
„Beschleunigter Geburtenrückgang in Japan“ Neue Zürcher Zeitung 7.2.2002.
66 Gewerkschaften, Frauenarbeit, Demographie
16
Financial Times. Special report: Investing in Japan. 29.3.2006.
6 Japanisches Management
In den 70er und 80er Jahren wurden die Elemente des konsensualen und
paternalistischen Managements in Japan – von arbeitslebenslangen Be-
schäftigungen bis hin zu minutiös geplanten Produktionsabläufen, Quali-
tätszirkeln und aggressiv konzertierten Absatzoffensiven – als Erfolgsre-
zepte zur Weltmarkteroberung gefeiert und gefürchtet. Seit der Krise der
90er Jahre gelten genau die gleichen Elemente als Synonyme für Ineffi-
zienz, Kapitalvernichtung und vorhersehbares Scheitern. Die Wahrheit liegt
wohl wie immer in der Mitte. Aber in welcher Mitte?
Es wäre naheliegend, die Ikonen des japanischen Unternehmertums, die
ihre Weisheiten und Einsichten zu Papier brachten, direkt zu konsultieren.
Konosuke Matsushita allein hat in 46 Büchern und Broschüren die Saga
vom Aufstieg seines Konzerns und sein Verständnis vom Weltfrieden,
Wohlstand und der Güte der Menschheit zu Papier gebracht1. Akio Morita2
und Soichiro Honda3 hielten sich ebenfalls mit ihren Einsichten zur Lage
der Menschheit, der angemessenen Rolle Japans in der Welt, der Größe
und Zukunft ihrer Firmen und ihrer richtigen Führung nicht zurück. Mitt-
lerweile ist die allseits verehrte Generation der großen Unternehmensgrün-
der auch in Japan nahezu vollständig abgetreten. Eine Ausnahme ist Kazuo
Inamori, der nach dem Krieg Kyocera (Kyoto Ceramics) als Spezialist für
Isolatoren und andere Industrieanwendungen keramischer Werkstoffe grün-
dete und seither sein Unternehmen erfolgreich in Telefondienstleistungen
(DDI und Nippon Iridium) diversifizierte. Doch auch seine Management-
weisheiten4 klingen eher nach: „Üb immer Treu und Redlichkeit …“, und:
„Wer immer strebend sich bemüht …“. Sie passen eher ins Poesiealbum,
1
Ein Beispiel: Konosuke Matsushita. My Management Philosophy. Kyoto 1978.
2
Akio Morita. Made in Japan: Akio Morita and Sony. New York. 1986.
3
Tetsuo Sakiya. Honda Motor: The Man, the Management, the Machines. New
York. 1982; Sol Sanders. Honda. The Man and his Machine. Boston 1975.
4
Kazuo Inamori. A Passion for Success. New York 1995.
68 Japanisches Management
der Welt, die von der Financial Times alljährlich zusammengestellt wer-
den, auftaucht wie irgendeine deutsche Institution5. Vielleicht kann eine
Volkswirtschaft ja auf gut ausgebildete MBAs ohne sichtbaren Schaden
verzichten.
Noch bis Anfang der 90er Jahre erstrebte das von kommerziellen Erfol-
gen, billigem Kapital, der Stärke des Yen und der Schwäche vieler auslän-
discher Wettbewerber beflügelte japanische Management die Weltmarkt-
führerschaft in Schlüsselsektoren, die auf technologie- und kapitalinten-
siven Massenfertigungen (Elektronik, Kraftfahrzeuge) beruhten. Dies
geschah weniger aus Allmachtsfantasien heraus als vielmehr aus der büro-
kratischen Logik und Hoffnung, von der Position der Marktführerschaft
die Weltpreis- und Produktentwicklungen besser steuern zu können. Durch
ein vorhersehbareres Unternehmensumfeld sollte ein langfristiges Überle-
ben und Wachstum gesichert werden. Das Umsatz- und Wachstumsziel
tendierte dazu, sich mit der wachsenden Irrelevanz tatsächlicher Gewinne
zu verselbständigen. Eine für Außenstehende kaum noch nachvollziehbare
Diversifizierung diente diesem Ziel. Folgen wir den Konzernliteraturen,
dann schien stets die Absicht entscheidend, irgendwo „Nummer eins“ zu
werden: beim Umsatz, dem Personalstand, dem Ausstoß, den Patentzahlen,
der Modellvielfalt etc.
Während die Strategie mit aggressiven Marktdominanzzielen und der
Organisationsdisziplin eher militärisch anmutet, sind Modus operandi,
Personalführung und Entscheidungsweise deutlich bürokratisch. Die Cha-
rakterisierung einer quasi-militarisierten Bürokratie bedarf der Erläute-
rung. Es wäre verlockend, auf den Geist der Samurai rekurrieren zu kön-
nen, aus deren Stand viele Firmengründer (und wenn man sie fragt, ein
Gutteil der aktuellen Manager) entsprangen. Allein der Geist des bushido
ist unter den konformistischen Firmen-Kriegern in ihren grauen Büroanzü-
gen nur mit einer Überdosis romantischer Fantasie zu erspähen. Tatsäch-
lich gibt es zwei quasi-militärische Elemente in den Großfirmen:
1. Die planvolle, systematisch angelegte Eroberung von Märkten und
Marktanteilen, die aggressive Verteidigung existierender Märkte,
der ständige Versuch Mitbewerber zu verdrängen, gefügig zu ma-
chen, zu marginalisieren, als Subunternehmen abhängig zu machen,
falls nützlich zu übernehmen, und, sofern nötig, zu vernichten.
5
Financial Times „Special report: Business education“ 30.1.2006.
70 Japanisches Management
6
Marc Loehr. „Zeitung machen in Japan“ in: Hilaria Gössmann und Franz Wal-
denberger (Hg.). Medien in Japan. Hamburg 2003, 195-212. S. 208.
72 Japanisches Management
7
David Pilling „How could a corporate sector that dominated the world a decade
ago have become so unproductive“ Financial Times 21.4.2003; „Business in
Japan“ The Economist 27.11.1999.
Führungsstile, Wirtschaftsethik, Unternehmensorganisation und Karrieren 73
8
James C. Abegglen und George Stalk. Kaisha. Das Geheimnis des japanischen
Erfolgs. Düsseldorf 1986. S. 11ff.
74 Japanisches Management
9
The Economist 27.11.1999.
Führungsstile, Wirtschaftsethik, Unternehmensorganisation und Karrieren 75
Problem. Wie bewertet man in der Abwesenheit klarer Kriterien den Wert
von Außenständen, Vorräten, Anlagen, Immobilien, Patenten, unverkauften
Lagerbeständen, wenn alles doch in der Erwartung der Kollegen und der
Führung von unschätzbarem Wert ist und das Ergebnis unbedingt positiv
erscheinen muss? Wertberichtigungen und Abschreibungen sind dann pein-
liche Eingeständnisse des Scheiterns10. Bei Verlusten muss der CEO bei
Bilanzpressekonferenzen weinen, die Öffentlichkeit um Vergebung bitten
und sein Gehalt halbieren. Das tut man ihm nur ungern an. Dazu kommt die
gleichfalls kulturell bedingte Knappheit qualifizierter externer Buchprüfer:
15.000 im Vergleich zu 330.000 in den USA11. Japanische Bilanzen sind
also weiter suspekt. Die jahrelang schön geschminkten Bilanzen von Kanebo
(„Schönheit für heute und morgen“) und ihre Gefälligkeitstestate durch die
Buchprüfer von Chuo Aoyama12 sind kein Einzelfall.
Investitionen in anwendungsbezogene Forschungs- und Entwicklungs-
projekte sind mit 3,3% des BIP seit Jahren höher als die der meisten ame-
rikanischen und europäischen Konkurrenten (Deutschland: 2,5%). Diese
Anstrengungen betreffen nicht nur Produktinnovationen, sondern in glei-
chem Maße auch Verbesserungen der Fertigungstechnologien. Systema-
tisch werden Erfindungen und Patente auf kommerzielle Anwendungen
überprüft. Nehmen wir die Zahl internationaler Patentanmeldungen als
rohen Indikator von Forschungseffizienz, dann liegt Japan schon seit
2 Jahrzehnten weltweit an der Spitze. Allerdings mussten gerade Firmen in
den früher erfolgsverwöhnten Elektronik-, Chemie- und Pharmabranchen
unter dem Eindruck wachsender roter Zahlen, oft schwer verkäuflicher,
überkomplizierter technischer Innovationen und ausbleibender Durchbrüche
in der Biotechnologie und erhoffter Wundermittel gegen Zivilisationskrank-
heiten aller Art, anfangen, ihre Forscherheere nach Aufwand- und Ertrags-
kriterien zu durchleuchten. Vieles hatten die Generalisten in der Konzern-
führung von dem, was ihnen an populärwissenschaftlicher Sciencefiction
von den Laboren erzählt wurde, in den Boomjahren gerne ungeprüft glau-
ben wollen. Bei kritischerer Überprüfung fand man viel Hokuspokus,
zweckfreie Forschung für die Wissenschaftsjournale, Doppelgleisigkeiten
durch akademische Eifersüchteleien und die aus Hochschulinstituten be-
kannten Schlampereien, wie unausgepacktes millionenteures Gerät, das in
den Kellern verstaubte. Bei inhaltlichen Neuausrichtungen ging man je-
10
David Pilling „The Hidden Japan“ Financial Times 30.8.2002.
11
Time 1.11.1999.
12
Nikkei net 8.6.2006.
Führungsstile, Wirtschaftsethik, Unternehmensorganisation und Karrieren 77
doch weiter sehr behutsam vor, galt es doch die sensiblen Forscherseelen
in ihrer Kreativität nicht zu frustrieren oder Projekte zu beschneiden, die
möglicherweise gerade vor dem entscheidenden Durchbruch standen.
Mit Kapital waren die japanischen Konzerne stets reichlich gesegnet.
Bei äußerst knapp bemessenen Altersrenten und staatlichen Sozialleis-
tungen sowie ungedeckten Firmenpensionen war und ist der japanische
Toshio-Normalverbraucher gut beraten, seine Sparquote auf 20% des
verfügbaren Einkommens hochzufahren und sie dort auch während der
Krise trotz aller Ausgabenappelle zu belassen, zumal seine enge Woh-
nung schon mit Gebrauchsgütern vollgestopft und sein Urlaub weiter
knapp bemessen ist.
Das Keiretsu-System hatte bis 1992 ohnehin reibungslos bei Mitglieds-
firmen für billiges Kapital gesorgt. Freundliche Hausbanken und Versiche-
rungsgesellschaften finanzierten mit den eingesammelten Einlagen gerne
unbesehen die Mitgliedsfirmen der ersten Liga wie jene Hundertschaften
im zweiten und dritten Glied. Dividenden hatten ohnehin nur symbolische
Bedeutung. Die Schulden der beliebten Wandelanleihen konnte man ange-
sichts steigender Aktienkurse stets zum Nulltarif in Kapitalbeteiligungen
umwandeln. Nach dem Crash von 1992 wurde die Nullzins-Politik der
Bank von Japan die neue Quelle des Kapitals zum Nulltarif. Denn die Ja-
paner – abgesehen von der Untergruppe weiblicher Singles – sparten, wie
erwähnt, aus guten Gründen eisern weiter, auch wenn ihnen selbst auf
langfristige Spareinlagen nur 0,1% Jahreszins geboten wurden. Da brauch-
te die Kapitalrendite der Wirtschaftsinvestitionen, um profitabel zu sein,
nur geringfügig darüber zu liegen. Man hat deshalb oft den Eindruck, als
sei Kapital in Japan weiter ein fast freies Gut, mit dem ebenso verschwen-
derisch umgegangen wird, wie seinerzeit im Staatssozialismus mit den
Faktoren Natur und Arbeit. Bei so niedrigen Kapitalkosten können die
Unternehmen dann auch ihre Preise entsprechend aggressiv mit geringeren
Gewinnspannen kalkulieren.
Dabei hilft weiter, dass Fertigungs- und Lagerkosten durch den intensi-
ven Gebrauch von abhängigen Subunternehmen, die mit geringeren Perso-
nalkosten operieren, niedrig gehalten werden können. Das famose Kanban-
(just in time) System reduziert das Lagerinventar auf ein absolutes Mini-
mum. Stattdessen warten die Kleinlastwagen der Zulieferbetriebe mit lau-
fendem Motor auf Nebenstrassen und benachbarten Parkplätzen auf ein
Pieps-Signal, um die für die neue Schicht benötigten Teile in die Ferti-
gungshallen des Hauptwerkes bringen zu dürfen. Die Kosten des einge-
sparten Lagers werden so externalisiert: auf den Lieferanten und die Öf-
fentlichkeit, deren Strassen mietfrei genutzt und verschmutzt werden.
78 Japanisches Management
13
Michiyo Nakamoto. „Brakes on at Toyota“ Financial Times 7.2.1997.
Führungsstile, Wirtschaftsethik, Unternehmensorganisation und Karrieren 79
14
Michiyo Nakamoto „When Culture Masks Communication“ Financial Times
23.10.2000.
80 Japanisches Management
15
Dieser ehrenvolle Karrierestart wurde dem Autor anno 1982 von Seibu De-
partment Stores in Aussicht gestellt, die als erste japanische Firma Ausländer in
Sogo-Shoku-Positionen rekrutierte. Er ging statt dessen lieber zur Deutschen
Bank nach Berlin.
Führungsstile, Wirtschaftsethik, Unternehmensorganisation und Karrieren 81
16
Für einen anschaulichen Bericht siehe: Al Alletzhauser. The House of Nomura.
London 1990. S. 183ff.
82 Japanisches Management
17
Helmut Demes. „Determinanten des Entgeltes in Japan“ in: Deutsche Industrie-
und Handelskammer in Japan (Hg.) Personalwesen in Japan. Tokyo 1991; 71-
91. S. 83.
84 Japanisches Management
18
Nihon Keizai Shimbun. How Canon got its Flash back. Singapur 2004. S. 193.
19
Ibid. S. 116. Meine Übersetzung.
20
Financial Times 22.7.1996.
Führungsstile, Wirtschaftsethik, Unternehmensorganisation und Karrieren 85
21
Jack Schmuckli. Interview in Wirtschaftswoche, 13.8.1992.
22
Nihon Keizai Shimbun. Op. cit. S. 116.
23
Joachim Reinhart. Interview in Der Spiegel 24.5.2004.
86 Japanisches Management
6.2.1 Einleitung
Schon bald nach dem zweiten Weltkrieg gab es erste Überlegungen, ob
Japan neue Strategien entwickeln könnte, um auf dem Weltmarkt konkur-
renzfähiger zu werden. Angetrieben wurden diese Überlegungen durch die
Angst Japans, dass nach der Niederlage im Pazifischen Krieg die Ressour-
cen zu knapp werden könnten. Es wurde nach Möglichkeiten gesucht, Ver-
schwendungen bei der Produktion zu vermeiden. Zu dieser Zeit konnte der
Materialfluss noch nicht mit Computern unterstützt werden.24 Generell
wurden immer höhere Anforderungen an die Produktion eines Unterneh-
mens gestellt.
Das 1937 gegründete Automobilunternehmen Toyota hatte Mitte der
fünfziger Jahre noch weitere Probleme: Das Unternehmen war damals zu
klein, um Massenproduktionen einzuführen und hatte Schwierigkeiten, sich
im internationalen Markt aufgrund der starken Konkurrenz zu etablieren.
Der heimische Markt bot dem Unternehmen nur begrenzte Möglichkeiten.25
Taiichi Ohno, der 1975 Executive Vice President bei Toyota wurde,
formulierte seine Lösung dieser wachsenden Problemen folgendermaßen:
„Es müsste doch möglich sein, den Materialfluss in der Produktion nach
dem Supermarktprinzip zu organisieren. Das heißt, ein Verbraucher ent-
nimmt aus dem Regal Waren bestimmter Spezifikation und Menge. Die
Lücke wird bemerkt und wieder aufgefüllt.“26 Damit wurde das japanische
Kanban-System erfunden, ein Produktionssystem, das durch einen bench-
mark an einem Supermarkt adaptiert wurde.
Toyota implementierte das neue System, das sich zu einem äußerst erfolg-
reichen Produktionskonzept in den nächsten Jahren entwickelte. Seitdem hat
sich die japanische Automobilindustrie gegenüber vielen westlichen Kon-
zernen wie z. B. General Motors einen wesentlichen Vorsprung erarbeitet.27
24
Vgl. Gienke, H./Kämpf, R. (2005): Praxishandbuch Produktion, Innovatives
Produktionsmanagement: Organisation, Konzepte, Controlling, München/Wien.
25
Vgl. Nixdorf, A. (2005): Operative Excellenz, Am Anfang war die Not, in:
McK Wissen 05, Hamburg, S. 8 – 15.
26
Ohno, T. (o. J.), in: Ünal, C. L. (2005): Logistik & Supply Chain Management,
in: Operations & Supply Chain Management, München, S. 11.
27
Vgl. Enright, M. J. (2003), Buyer-Supplier Relationships, Hong Kong, S. 2 – 3.
Das Kanban-System bei Toyota 87
wird, erkennt dies das System und leitet an die produzierende Stelle die
Mitteilung weiter, dass das Material wieder aufgefüllt werden muss.28 Dieser
Prozess wird im Folgenden dargestellt:
Das Kanban-System stellt somit als erstes System eine Umsetzung des
Pull-Prinzipes dar:30
Das bedeutet, dass jede Produktionsstufe exakt die Anzahl von Einheiten
herstellt, die die nachfolgende Produktionsstufe auch wirklich benötigt (Pro-
duktion auf Abruf). Dadurch reduziert sich der Materialbestand deutlich.
Als Informationsinstrument führte der japanische Automobilhersteller
die so genannte Kanban-Karte ein. Diese erhält die Information, wie viele
Einheiten (über den definierten Mindestbestand) die nachfolgende Produk-
tionsstufe produzieren soll. Durch das Kanban-System wird somit die ur-
sprünglich sehr aufwendige Produktionssteuerung in einen sich selbst steu-
ernden Regelkreislauf umgewandelt. So werden zusätzlich die gesamten
Prozesszusammenhänge transparenter. Die folgende Darstellung veran-
schaulicht den Ablauf der Kanban-Einzelprozesse.
28
Vgl. Straube, F. (2005): Trends und Strategien in der Logistik. Ein Blick auf die
Agenda des Logistik-Managements 2010, Hamburg.
29
Ünal, C. L. (2005): Logistik & Supply Chain Management, in: Operations &
Supply Chain Management, München, S. 13.
30
Vgl. Tempelmeier, G. (2004), Produktion und Logistik, 6. Aufl., Berlin, Hei-
delberg, New York.
Das Kanban-System bei Toyota 89
Vor der Implementierung des Systems müssen jedoch Ziele definiert wer-
den. Ein mögliches Ziel könnte z. B. die Reduzierung der Durchlaufzeiten
sein. Hierbei muss eine genaue Messzahl festgesetzt werden. Grundlage
für die korrekte Ableitung der Messziele sollten dabei die übergeordneten
Unternehmensziele sein.
Bei der Implementierung eines Kanban-Systems müssen bestimmte Re-
geln eingehalten werden:
31
Ünal, C. L. (2005), S. 11.
90 Japanisches Management
32
Geiger, G./Hering, E./Kummer, K. (2003): Kanban – Optimale Steuerung von
Prozessen, 2. Aufl., München, Wien.
33
Vgl. McCutcheon, Duff (2003): On the right track.
34
Vgl. Mercedes Benz Brazil (2005): Operations, Total Preventive Maintenance.
Das Kanban-System bei Toyota 91
35
Vgl. Kanban Consult (2006): Der Meister… und sein bester Schüler.
36
Vgl. Geiger, G./Hering, E./Kummer, K. (2003).
92 Japanisches Management
37
Vgl. Gienke, H./Kämpf, R. (2005).
Das Kanban-System bei Toyota 93
6.2.4 Ausblick
Wie sich aus Erfahrungen vieler Unternehmen gezeigt hat, ist es möglich,
durch den Einsatz des japanischen Kanban-Systems wesentliche Einspa-
rungspotenziale zu nutzen. Bei der Überlegung, ob das System in einem
Unternehmen eingeführt werden sollte, ist es unumgänglich alle Unter-
nehmensspezifika genau zu prüfen. Dabei werden die im dritten Abschnitt
beschriebenen Voraussetzungen geprüft und die aufgeführten Punkte der
Reihe nach abgearbeitet.
Die einmalige Einführung des Systems ist jedoch langfristig nicht aus-
reichend. Eine ständige Verbesserung der Prozesse und eine Weiterent-
wicklung des Systems sind vielmehr gefragt. Dabei müssen Fehler und
Lücken des Systems erkannt und überarbeitet werden.
An Bedeutung gewinnt wohl in Zukunft das elektronische Kanban,
welches Kanban in das PPS-System38 eines Unternehmens integriert.
Dadurch können alle wichtigen Daten von den verschieden Abteilungen
(Finanzdaten, Materialdaten, Produktionsdaten, Vertriebsdaten und Per-
sonaldaten) in das System eingebunden werden und von jeder Stelle ab-
gerufen werden. Außerdem können auch externe Lieferanten besser in
38
PPS-System: Produktionsplanungs- und Steuerungssystem; Ein aus Computer-
programmen bestehendes System das bei der Produktionsplanung- und Steue-
rung eingesetzt wird.
94 Japanisches Management
den Prozess eingebunden werden, weil sie mit Hilfe des Internets selb-
ständig die Kanban-Karten einsehen können und nach Bedarf deren Sta-
tus verändern können (z. B. den Status „voll“ einstellen, wenn eine Lie-
ferung gebracht wurde).39
Die japanische Automobilindustrie hat sich in der Vergangenheit einen
Vorsprung durch die Entwicklung des Kanban-Systems erarbeitet. Diesen
gilt es zu halten und auszubauen. Wettbewerber wie zum Beispiel General
Motors führen mittlerweile ebenfalls komplette Produktionssanierungen
durch Lean-Production-Systeme durch.40 Darin besteht durchaus eine po-
tentielle Gefahr für die japanische Automobilindustrie. Denn im heutigen
globalen Wettbewerbsumfeld bedeutet Stillstand Rückschritt.
6.2.5 Literatur
39
Vgl. Geiger, G./Hering, E./Kummer, K. (2003).
40
Vgl. Enright, M. J. (2003), S. 2 – 3.
Akio Moritas Unternehmensphilosophie 95
„It’s a Sony!“ – Wenn Sie sich in ihrem Haushalt umsehen, werden Sie
sehen, dass dieser Werbeslogan wirklich zutrifft. Egal ob Fernseher, Ra-
dioempfänger, Videorecorder oder Walkman – der Name Sony steht für
eine der bekanntesten Marken der Unterhaltungselektronik und einen
weltweit führenden Hersteller von Audio-, Video-, Kommunikations- und
Informationstechnologie im Heim- und Profisegment. Die Firma mit ihrem
Hauptsitz in Tokyo beschäftigte im März 2002 168.000 Menschen auf der
ganzen Welt. Im Jahr 1946, als sich Masaru Ibuka und Akio Morita, beides
Elektroingenieure, dazu entschlossen, ihre eigene Firma aufzubauen, be-
gannen sie mit 20 Angestellten.
Es gibt viele Beispiele von Firmen, die ein Imperium aus dem Nichts
aufgebaut haben. Doch nur wenigen gelingt es, diese Spitzenposition zu
halten. Sony ist ein gutes Beispiel dafür, was man mit der richtigen Strate-
gie erreichen kann. Die beeindruckende Geschichte weltweiten Erfolgs
war nur möglich durch eine einzigartige Vision, die stark von der japani-
schen Lebensweise und Kultur geprägt ist.
Was ist so besonders an diesem Japanese Way? Was macht die japanische
Unternehmensphilosophie aus und wie schaffte es die Firma Sony und Fir-
mengründer Akio Morita, der unzweifelhaft die Seele des Unternehmens
darstellte, den japanischen Management-Stil auf die weltweiten Niederlas-
sungen zu übertragen?
96 Japanisches Management
Japans Kultur wurde von jeher stark von ausländischen Einflüssen geprägt.
Morita schreibt dazu: „We often joke that most Japanese are born Shinto,
live a Confucian life, get married Christian-style, and have a Buddhist fu-
neral. We have our rites and customs and festivals steeped in centuries of
religious traditions, but we are not bound by taboos and feel free to try
everything and seek the best and most practical ways of doing things.“41
Besonders nach dem zweiten Weltkrieg imitierten die Japaner europä-
isch-westlichen Lebensstil. Auch Morita erlebte die Zeit, in der die Leute
bewusst europäische Gesellschaftstänze besuchten, europäische Kleider-
ordnungen und Esskultur übernahmen.42
Die Familie hatte in Japan schon immer eine sehr wichtige Rolle ge-
spielt. Japanische Familien sind groß – traditionell leben drei Generatio-
nen, Großeltern, Eltern und Kinder in einem Haus. Auch Morita lebte so,
allerdings mit dem Privileg eines hohen Lebensstandards. Er lebte in ei-
nem großen Herrschaftshaus, in einer rich man’s street wie die Leute sie
nannten.43 Die Familie besaß seit Generationen eine Sojasoßen-Fabrik.
Deshalb half Morita schon früh seinem Vater bei den Geschäften. In Groß-
familien mit mehreren Kindern werden die ältesten Söhne oft bevorzugt
behandelt, da diese als Nachfolger für den Familienbetrieb bestimmt wer-
den. Morita hatte deshalb große Zweifel, ob es eine gute Idee sei, selbst
eine eigene Firma zu gründen und somit seinen Vater im Stich zu lassen.
Zum Glück unterstützte schließlich der Vater die Idee seines Sohnes und
gab sogar gelegentlich Kredite. An der Reaktion des Vaters ist sichtbar,
dass die strikte Disziplin in den japanischen Familien in der Nachkriegs-
zeit abnahm.44
Neben der Disziplin existiert auch ein harter Konkurrenzkampf im Ge-
schäftsleben und im Sozialleben Japans. Deshalb legen japanische Eltern
besonderen Wert auf die erstklassige Ausbildung ihrer Kinder.
Nur die besten Studenten werden zu den guten Universitäten zugelassen
und müssen dafür sehr schwierige Zugangsprüfungen bestehen, die noch
schwerer als das nachfolgende Studium sind. Morita kritisiert in diesem
41
Morita (1988): S. 251 f.
42
Vgl. Morita (1988): S. 10.
43
Morita (1988): S. 7.
44
Vgl. Blanpain, R., Hanami, T. (1993): Industrial Relations and Human Res-
source Management in Japanese Enterprises in Europe, Baden Baden, S. 27 f.
Akio Moritas Unternehmensphilosophie 97
Japan ist wohl eines der wenigen Länder, in denen Individualismus und
Kollektivismus in den unterschiedlichsten Bereichen des täglichen Lebens
gleichermaßen wichtig sind.
In Familie, Schule, Militär oder berufliche Bildung wird jeder dazu er-
zogen, sich seiner individuellen Stärken und Schwächen bewusst zu wer-
den, um als Individuum erfolgreich zu sein und Ehre und Respekt zu ver-
dienen. Der ehrenvollste Status ist der des ichiban, der „Nummer Eins“, im
Unterricht, Sport oder Geschäftsleben. In Moritas Schule saßen zum Bei-
spiel die Schüler in der Reihenfolge ihrer Leistungen aufgereiht, um den
Wettbewerb zu verstärken. Nichts wird jedoch als ehrenvoller angesehen
als das Oberhaupt einer glücklichen Familie und gleichzeitig ein erfolgrei-
cher Geschäftsmann zu sein.
Einer der am besten gehüteten Schätze Japans ist die Ehre des Einzelnen.
Die Angst, sein Gesicht zu verlieren, ist so groß, dass davon das Sozial-
verhalten und das Denken maßgeblich beeinflusst werden. Genau so
schrecklich wie sein Gesicht zu verlieren, ist es, jemanden in eine Situation
zu bringen, in der er sich selbst entehren könnte, indem er sein Gesicht
verliert.
45
Vgl. Morita (1988): S. 245 f.
46
Vgl. Morita (1988): S. 149 f.
47
Morita (1988): S. 252.
98 Japanisches Management
6.3.4 Kollektivismus
48
Morita (1988): S. 116 f.
Akio Moritas Unternehmensphilosophie 99
Der Stolz der Japaner auf ihre Nation, Nippon oder Nihon genannt, ist au-
ßergewöhnlich. Die Japaner feiern Statistiken, die ihr Land vor anderen
zeigen. Autoren, die Bücher mit Titeln wie „Japan als Nummer eins“
schreiben, finden sich regelmäßig auf den obersten Plätzen der Bestseller-
Listen wieder. Da es das Hauptziel jedes Einzelnen ist, ichiban zu sein,
kann jeder dieses Ziel erreichen, der produktives Mitglied der „Japan-AG“
ist49. Weil alle Unternehmen Mitglied der Japan-AG sind, ist die Firma für
einen japanischen Angestellten nicht nur sein Arbeitgeber. Der Arbeit-
nehmer sieht sich selbst als Teil der ganzen Gemeinschaft. Er begreift sich
sogar als ein Teil, der die gesamte Gemeinschaft zum Erfolg führen kann.
Wegen dieser Hingabe nennen Japaner, wenn sie sich Fremden gegenüber
vorstellen, zuerst den Namen der Firma, für die sie arbeiten und dann erst
ihren eigenen Namen.50
Im Vergleich zu Deutschland ist die Bereitschaft eines japanischen An-
gestellten, sich für seinen Arbeitgeber aufzuopfern, ein Vielfaches höher.
Deutsche arbeiten in der Regel so lange, wie es ihnen ihr Arbeitsvertrag,
der sich oftmals auf einen Tarifvertrag stützt, vorschreibt. Ein Japaner
würde die Arbeitszeit als die Zeit beschreiben, die notwendig ist, um die
Aufgabe zu erfüllen.
In Japan wird die Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer
eher als familiäre Beziehung betrachtet, nicht zuletzt deshalb, da der Ar-
beitnehmer Zulagen vom Arbeitgeber erhält um seine Familie zu versor-
gen. Im Gegenzug für seine Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber genießt
der Angestellte den Vorzug, von Managern nicht als Werkzeug betrachtet
zu werden, sondern als jemand, der dem Unternehmen hilft, seine Visionen
und Ziele zu erreichen. Dies wird von Morita so beschrieben51:
„Management must consider a good return for the investor,
but he also has to consider the employees…, who must help
him to keep the company alive and he must reward their
work. The worker’s mission is to contribute to the company’s
welfare, and his own, every day all of his working life. He is
really needed.“
Morita beschreibt weiter, dass die Leistung eines Managers daran gemessen
wird, wie gut er eine große Anzahl von Leuten koordinieren kann und wie
49
Vgl. Sachwald, F. (1995): Japanese Firms in Europe, Luxemburg, S. 17 – 18.
50
Vgl. Blanpain / Hanami (1993): S. 77.
51
Vgl. Morita (1988): S. 158.
100 Japanisches Management
52
Vgl. Morita (1988): S. 171.
53
Vgl. Morita (1988): S. 235.
54
Vgl. Morita (1988): S. 235.
Akio Moritas Unternehmensphilosophie 101
55
Morita (1988): S. 160.
56
Blanpain / Hanami (1993): S. 29.
102 Japanisches Management
57
Def.: ständig im Ausland lebende Entsandtkraft der Stammfirma.
58
Blanpain / Hanami (1993): S. 74.
Akio Moritas Unternehmensphilosophie 103
Akio Morita war, wie erwähnt, bereits 1953 in die USA gereist und hat-
te das Land damals für so groß und hochentwickelt gehalten, dass er nicht
einmal darüber nachzudenken wagte, seine Erfindungen dort zu verkaufen
– geschweige denn dort eine Niederlassung zu eröffnen.59 Doch schon in
diesen frühen Jahren hielt er Augen und Ohren offen und analysierte das
Land und seine Märkte. Morita wollte unabhängig bleiben und sich nicht
von anderen Japanern, die bereits länger in Amerika Geschäfte betrieben,
helfen lassen. Dies begründete er damit, dass diese ebenso wie er Fremde
in diesem Land waren. Er begann stattdessen selbständig, Kontakte zu
amerikanischen Geschäftsleuten aufzubauen, darunter auch viele einfluss-
reiche Anwälte.60 Als 1960 die Sony Corporation of America als erste
Auslandsniederlassung weltweit eröffnet wurde, war diese mit Hilfe von
weitreichenden Beziehungen und auf einem profunden eigenen Wissen
über das Land erbaut worden.
Um der Dauerbelastung von ständigen Reisen in die USA zu entgehen,
beschloss Morita 1963 mit seiner Frau und seinen zwei Kindern von To-
kyo nach New York zu ziehen. Dieser große Schritt half Morita und Sony,
noch tiefere Einblicke in den amerikanischen Markt zu gewinnen. Durch
seine Kinder, die beide amerikanische Schulen besuchten, wurde er mit
vielen amerikanischen Traditionen vertraut.
Morita versuchte, dem Personal der Zweigniederlassungen, das gerade
in den Anfängen noch hauptsächlich aus Japanern bestand, eine Philoso-
phie der Integration zu vermitteln. Ein gutes Beispiel ist die Wahl des
Standortes für die deutsche Niederlassung. Da Morita nicht wollte, dass
sein Unternehmen und dessen Belegschaft ständige und ausschließliche
Verbindungen mit der japanischen Gemeinde unterhielt, die sich in Düs-
seldorf konzentrierte, wählte er Köln als Standort für die Sony Deutsch-
land GmbH, damit das Personal dort hauptsächlich mit Deutschen zu tun
haben würde und nicht dauernd mit japanischen expatriates.61
Für die Besetzung von Managementpositionen in Auslandsniederlas-
sungen verließ sich Sony hauptsächlich auf Versetzungen aus der japani-
schen Firmenzentrale. Morita blieb in diesem Punkt eher konservativ und
lehnte die amerikanische Art des Managements ab, bei der Außenstehende
59
Morita (1988): S. 72.
60
Morita (1988): S. 99.
61
Morita (1988): S. 141.
Akio Moritas Unternehmensphilosophie 105
62
Morita (1988): S. 198.
63
Morita (1988): S. 199.
64
Morita (1988): S. 159.
106 Japanisches Management
6.3.7 Zusammenfassung
65
Vgl. o.V., (2004): Staatssekretariat für Wirtschaft, Standort: Schweiz, Tatsachen,
http://www.standortschweiz.ch/imperia/md/content/download2004/107.pdf, S. 64.
Akio Moritas Unternehmensphilosophie 107
6.3.8 Literatur
Bücher
Morita, Akio; Reingold, Edwin M.; Shimomura, Mitsuko: Made in Japan –
Akio Morita and Sony, New York, 1988
Blanpain, Roger; Hanami, Tadashi: Industrial Relations and Human Res-
source Management in Japanese Enterprises in Europe, Baden Baden,
1993
Sachwald, Frédérique: Japanese Firms in Europe, Luxemburg, 1995
Schneidewind, Dieter: Markt und Marketing in Japan, München, 1998
Kikuchi, Makoro: Japanese Electronics, Tokyo, 1982
Internetquellen
Staatssekretariat für Wirtschaft, Standort: Schweiz, Tatsachen, http://www.
standortschweiz.ch/imperia/md/content/download2004/107.pdf, S. 64,
2004, (Abgerufen: 29.05.2006)
Sony Overview, http://www.sony.net/SonyInfo/Environment/environment/
communication/report/2005/qfhh7c00000692jb-att/CSR2005E-P4-9.pdf,
2005, (Abgerufen: 18.05.2006)
UNCTAD's Division on Investment, Technology and Enterprise Develop-
ment, FDI report, http://stats.unctad.org/fdi/, ohne Jahr, (Abgerufen:
14.05.2006)
Sony History, Ibuka’s first visit to the United Status, http://www.sony.net/
Fun/SH/1-4/h1.html, ohne Jahr, (Abgerufen: 29.04.2006)
Sonstige Quellen
Microsoft, Microsoft Encarta Enzyklopädie 2001, 2000
7 Vertriebssysteme
Der japanische Markt ist geprägt von zwei Variablen: vielen Läden auf
kleinem Raum und einem großen Ausstoß an Produkten. Beide Faktoren
sind zwar tendenziell rückläufig, prägen aber im Prinzip weiterhin das
tradierte Distributionssystem, ohne dessen Kenntnis auch aktuelle Neue-
rungen nicht verstanden werden können und kaum erfolgreich importiert
werden kann. Es gibt auch deutliche Anzeichen, dass bald der seit 1990
eingetretene Liberalisierungsprozess, der die Eröffnung großflächiger Su-
permärkte und Einkaufszentren und damit eine Rationalisierung des Groß-
handelssystems eingeleitet hatte, wieder gesetzlich eingebremst werden
wird. So soll die Errichtung neuer Geschäfte ab 10.000m² Verkaufsfläche
zum Schutz der etablierten Einzelhändler wieder erschwert werden1.
Der traditionelle Verbraucher erwartet Einzelhandelsgeschäfte für Waren
des täglichen Bedarfs in seiner Nachbarschaft, in denen er bzw. meistens
sie zum Teil mehrfach am Tag kleine Mengen frisch einkaufen geht. Oft
wird ein Klappfahrrad benutzt, in dessen Einkaufskorb nicht allzu viel
passt. Japanische Kühlschränke sind ebenfalls klein, die Küchen beengt
und Vorratsräume und Keller nicht vorhanden. Der alte übervolle Tante-
Emma-(Mom & Pa) Gemischtwarenladen mit seinen minimalen Umsätzen
ist zwar mittlerweile fast überall auf der gleichen gedrängten Fläche den oft
24 Stunden lang geöffneten, voll computerisierten (point of sale) conve-
nience stores gewichen, doch sind, obzwar modernisiert, die Geschäfts-
grundlagen die gleichen: Kleine Mengen, frische, tadellose Qualität, makel-
lose Aufmachung und Verpackung, stets freundlicher Service, Gratis-
lieferungen nach Hause, Installation technischer Geräte beim Kunden und
ausführliche technische Erklärungen, unbefragte Rücknahmen, ein totaler
Kundendienst – für den auch klaglos höhere Preise in Kauf genommen
werden. Umgekehrt erwartet der Einzelhändler, der über keinerlei Lager-
haltung und Stauraum verfügt, mindestens einmal, wenn nicht mehrfach
tägliche Lieferungen und Regalpflege durch seinen Grossisten, plus bei
langlebigen Konsumgütern die Begleichung der Rechnung erst nach dem
1
Financial Times 29.3.2006.
110 Vertriebssysteme
2
Erich Batzer, Helmut Laumer. Marketing Strategies and Distribution Channels
for Foreign Companies in Japan. Boulder CO. 1989, S. 83.
Marketing und Vertrieb, Groß- und Einzelhandel 111
wie das Who is Who der deutschen Exportwirtschaft: BASF, Bayer, BMW,
Beiersdorf, Boehringer Ingelheim, Bosch, Braun ….Sie betreffen meist die
Fertigung und den Vertrieb in Japan. So hatten schon in den 80er Jahren
Braun-Rasierer einen Marktanteil von 30% erreicht, Wella Haarpflegemit-
tel 15% – beide wurden und werden von den Verbrauchern als japanische
Produkte angesehen – und Siemens bei medizinischem Gerät 6% (als es
solche Geräte noch herstellte). Bei über 50% lagen die Marktanteile von
Procter & Gamble-Einwegwindeln, Knorr-Fertigsuppen, Warner-Lambert-
Rasierklingen, löslichem Nestle-Kaffee, Dunlop-Golfbällen, Coca-Cola-
Limonaden und bei Boeing-Flugzeugen3.
Jede Vertriebsstufe schlägt seine eigenen Margen auf den Produktpreis,
bei Markenartikeln je etwa 30/50%. Bei Importwaren sind nach überseei-
schen Transportkosten, Zoll und Importeurmargen die Verkaufspreise im
Einzelhandel dann doppelt bis vierfach so hoch wie im Herkunftsland.
Preissensible Produkte für den Massenbedarf haben da in der Regel keine
Chance. Es gehen bei Verbrauchsartikeln eigentlich nur Luxusgüter, auf-
wändig verpackte Geschenkartikel oder Spezialitäten für den gehobenen
Bedarf. Häufig werden diese Waren über die teuren Kaufhäuser abgesetzt,
an deren Warenangebot Importe immerhin 10% ausmachen. Doch sind die
Margen der Kaufhäuser bei Luxusgütern besonders hoch – bis zu 70% –
und ihr Umsatz ist seit dem Beginn der Krisenjahre aus nachvollziehbaren
Gründen deutlich rückläufig. Etliche jener aufwändigen Konsumtempel –
das einstige Flagschiff Seibu Ginza zählte 47 Eingänge, 8000 Verkäufer
auf 75.000m² Verkaufsfläche und 63 Restaurants – schlitterten wie z.B.
Sogo mit 16 Milliarden US Dollar Schulden in den Konkurs4. Die anderen
großen Namen: Mitsukoshi, Matsuzakaya, Takashimaya, Isetan und Dai-
maru retteten sich mühsam und treiben trotz Kostensenkungen (wie zum
Beispiel den Schließungen der meisten Auslandsgeschäfte von Paris bis
Singapur oder vermehrter Teilzeitarbeit) den alten Personalaufwand mit
bemannten Aufzugbegleitungen, allmorgendlichen Verbeugungen vor den
ersten Kunden und ähnliche Höflichkeiten weiter.
Angesichts der attraktiven Margen und der Vielzahl eigener Produkte –
Matsushita allein stellte 1989 noch 72 verschiedene Reiskochertypen her
(mittlerweile sind es nur noch 38) – lag es nahe, dass viele Hersteller ihren
eigenen Direktabsatz organisierten. Dies vor allem bei Produkten mit hohem
Beratungsbedarf wie bei PKWs, der Haushaltselektronik, Kosmetika und
3
Ibid., S. 26.
4
Financial Times 12.7.2000.
112 Vertriebssysteme
5
The Economist 6.2.1993.
Marketing und Vertrieb, Groß- und Einzelhandel 113
6
Hendrik Meyer-Ohle. „Revolution in Japanese Retailing?“ AMA Conference on
Japanese Distribution Strategy, Honolulu 22.11.1998.
7
Far Eastern Economic Review 25.9.2003.
8
Financial Times 24.3.2004.
9
Katharina Osmers. „Neue Wege im japanischen Einzelhandel“. Deutsch-Japa-
nischer Wirtschaftskreis AGB-News Nr. 3/2004.
114 Vertriebssysteme
10
Financial Times 28.6.1995.
11
Financial Times 15.7.1997.
Marketing und Vertrieb, Groß- und Einzelhandel 115
12
The Economist. Special Report Japan, 25.9.2004.
13
The Economist 16.6.1990.
14
Bundesagentur für Außenwirtschaft. „Japans Einzelhandel durchläuft wichtige
Umbruchsphase“ 16.2.2006, www.bfai.de.
116 Vertriebssysteme
1974, als die Japaner sich nicht mit Möbeln zum Selberbasteln anfreunden
wollten)15. Auch hat sich Carrefour von seinen acht Großeinkaufszentren
nach dem Verkauf an Aeon wieder getrennt. Der japanische Gesetzgeber
will jedoch der Zersiedelung der Landschaft, den Verkehrsstaus der Shop-
per und der Verödung vieler Innenstädte, in denen die ältere Bevölkerung
unter sich bleibt, durch eine neue Re-Regulierung einen Riegel vorschie-
ben. Die existierenden Einzelhandelsketten haben nichts dagegen16. Sie
haben angekündigt etwa 1000 städtische Filialen renovieren zu wollen,
wenn die ausländische Invasion wieder abgewehrt wird.
Für Importeure gibt es durch die Erschütterung und die Aufkündigung
vieler alter Loyalitäten in dem bis in die 80er Jahre versteinerten Distribu-
tionssystem neue Chancen und Möglichkeiten, auch solche kostengünsti-
ger Abkürzungen der langen Distributionskanäle17. Die Generalhandelsge-
sellschaften (sogo shosha) und die Grossisten suchen neue Produkte zum
Überleben. Lagerflächen werden frei. Einzelhändler brauchen neue Ni-
schenangebote. Die Kontrolle der Hersteller über Vertriebskanäle ist gelo-
ckert. Damit könnte der verstärkte Eigenvertrieb, der bislang aus Kosten-
gründen und Umsatzschwäche nicht in Frage kam, auch für importierte
Konsumgüter wieder eine Option werden. Für Kapitalgüterexporte, deren
Absatz schon immer weniger kompliziert verlief, war eine Vertriebstochter
mit genügend technisch versiertem Personal und dem Direktverkauf an
Industriekunden ohnehin schon lang gängige Praxis. Die anderen klassi-
schen Instrumente des Japanabsatzes: Gemeinschaftsunternehmen, Spezi-
alimporteure und sogo shosha bleiben als weitere Möglichkeiten.
15
Financial Times 24.3.2004.
16
Financial Times 29.3.2006.
17
„Cracking the Japanese Market“ The McKinsey Quarterly 1995, no. 3.
Seven-Eleven Japan Co. 117
in den USA. Zwischen 1984 und 2005 konnte Seven-Eleven ein unglaubli-
ches Wachstum erzielen. Die Anzahl der Läden wurde von 2.299 auf
27.727, der Umsatz von 386 Mrd. Yen auf 2,45 Bill. Yen, der Profit von 9
Mrd. Yen auf 96 Mrd. Yen mehr als verzehnfacht. Der ROE (return on
equity) lag die letzten 10 Jahre meist über 20%. Heutzutage ist Seven-
Eleven gemessen am operativen Gewinn und der Anzahl an Läden Japans
größter Einzelhändler.
1999 besuchten mehr als 1,8 Milliarden Kunden Seven-Eleven. Das be-
deutet, dass jeder Durchschnittsjapaner 15 mal im Jahr bei Seven-Eleven
einkaufen ging!
bei. Seven Eleven ist gemessen am Gewinn der größte Einzelhändler Ja-
pans und die größte Convenience-Kette Japans.
In Japan hat jeder einzelne Laden eine durchschnittliche Größe von 100 m².
Das ist ungefähr ein Drittel der Fläche der meisten Seven-Eleven-Läden in
den USA. In jedem Laden werden durchschnittlich Umsätze von über
700.000 Yen (ca. 8.000 €) verbucht, das Doppelte eines US-Ladens.
Die einzelnen Geschäfte können aus mehr als 5.000 Artikeln auswählen
und diese vertreiben. Die meisten haben bis zu 3.000 Produkte im Ange-
bot, welche nach der Nachfrage in der bestimmten Nachbarschaft ausge-
wählt werden. Jeder Laden verkauft Lebensmittel, Getränke, Magazine,
Zeitungen und Haushaltsmittel wie Seife, Putzmittel, etc. Fast 90% der
Seven-Eleven Läden in Japan haben 24 Stunden geöffnet. Manche machen
bis zu 40% ihres Umsatzes mit alkoholischen Getränken.
Die Lebensmittel können nach Art der Lagerung in folgende vier Kate-
gorien unterteilt werden:
1. Kühlschranktemperatur (5˚C) wie z.B. für Sandwiches, Delikatessen
oder Milch;
2. Warme Temperatur (20˚C) wie z.B. Mittagessen zum Mitnehmen,
Reis und frisches Brot;
3. Tiefgekühlte Produkte (-20˚C) wie z.B. Eis und Tiefkühlkost und
4. Raumtemperatur für Salate und Dosen.
Frisches Essen und Fast Food der ersten beiden Kategorien waren die Ver-
kaufsschlager in allen Läden. Ende 2003 feierte Seven-Eleven seinen 30.
Geburtstagsverkauf mit einer speziellen Verkaufsaktion. Für preisorientier-
te Kunden wurden Produkte wie frisches Essen und Schnellimbisse verbil-
ligt angeboten. Dadurch erhöhte sich der Verkauf 2004 um 12,6% für
Reisgerichte und 10,5% für Sandwiches. 2004 machten die Umsätze mit
frischem Essen und Fast Food fast 40% des totalen Umsatzes jeden Ladens
aus. Allein Reisgerichte und -snacks (z.B. Sushi und gefüllte Reisbälle
120 Vertriebssysteme
(Onigiri)) verkauften sich im Wert von 409 Milliarden Yen im Jahre 2004.
Das bedeutete den gleichen Umsatz, den die größte Schnellimbisskette in
Japan erreichte.
Auf dem Getränkemarkt können aufgrund behördlicher Beschränkungen
nicht alle Läden alkoholische Getränke verkaufen, sondern nur Soft
Drinks. Da in Japan kürzlich der Verkauf von alkoholischen Getränken
weiter liberalisiert wurde, setzte Seven-Eleven in 41% seiner Läden auch
diesen Markt erfolgreich um. Private Handelsmarken bei alkoholischen
Getränken (Seven-Eleven plant ein solches privates Label u.a. mit Philipp
Morris) versprechen weitere Umsatzsteigerungen.
Für Kunden, die es bevorzugen, monatlich ihre Einkaufsrechnungen zu
begleichen, gibt es bei Seven-Eleven ein speziell ausgerichtetes Rech-
nungssystem. Daher hat Seven-Eleven ein Abbuchungssystem entwickelt,
das so einfach und schnell geht, dass Millionen von Kunden zusätzlich
gewonnen werden konnten. Dieser Service begann schon im Jahre 1987.
Seither wurden bereits mehr als 60 Millionen Monatsrechnungen damit
beglichen.
Die Stärke von Seven-Eleven ist sein Logistiksystem mit dem es mit hoher
Effizienz die Produkte an Ort und Stelle bringt. Alle Produkte und Katego-
rien sind miteinander in einer Nachschubkette verbunden. Damit war Se-
ven-Eleven auf diesem Gebiet ein Vorreiter und wurde zum Vorbild für
viele Ketten außerhalb Japans. Das Distributionscenter von Seven-Eleven
und sein Informationsnetzwerk spielten eine außerordentlich wichtige Rol-
le. Die Zusammenarbeit ist perfekt aufeinander eingestellt und dadurch
sehr effizient. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Verfolgung des konkre-
ten Absatzes. Damit kann man genau feststellen, wo sich ein spezielles
Produkt zu welchem Zeitpunkt aufhält und wann es verkauft wurde. Im
Prinzip kann so sofort eine gleiche Ware nachgeschoben werden. Dies
vereinfacht die Arbeit für den Einzelhändler und für das Seven-Eleven-
Vertriebszentrum. Dieses System wurde von z.B. SAP aufgegriffen und
verbessert. SAP wurde nicht zuletzt deshalb zu einer der heute größten IT-
Software-Firmen der Welt.
Seven-Eleven bietet jeder Filiale dreimal täglich Lieferungen von Reis-
gerichten an (die am meisten verkauft werden). Brot und frisches Essen
werden zweimal angeboten und geliefert. Das System ist so flexibel, um
im Prinzip auf die Wünsche von jedem einzelnen Kunden eingehen zu
können. Lieferungen können auch ausgesetzt oder verschoben werden.
Seven-Eleven Japan Co. 121
Zum Beispiel wird Eis im Sommer einmal täglich geliefert, im Winter aber
nur dreimal wöchentlich, so lange der Abnehmer nichts anderes wünscht.
Wenn ein Kunde Extrabestellungen von frischem Essen oder Fast Food
wünscht, kann es innerhalb von 10 Stunden an jeden Laden von Japan ge-
liefert werden.
Der Ladenbesitzer bestellt alle Produkte via Internet. Dann bekommt
nicht nur der Hersteller sondern auch das Vertriebszentrum von Seven-
Eleven Nachricht. Der Hersteller stellt die Produktionsmenge her, um lie-
fern zu können. Er schickt alsbald die Ware mit einem Lastwagen zum
Vertriebszentrum. Die Bestellungen der einzelnen Läden werden getrennt
von einander verpackt, damit das Vertriebszentrum schnell und einfach die
Ladung in den richtigen Lastwagen für jeden Laden verteilen kann. Dieses
System wurde „Combined Delivery System“ genannt und galt bei seiner
Erfindung als einzigartig. Im Verteilungszentrum werden Lieferungen von
verschiedenen Herstellern wie z.B. von Milch und Sandwiches direkt in
Kühllastwagen geladen. Hierbei wird wieder in die erwähnten vier Katego-
rien unterschieden, eisgekühlte Produkte, kalte Produkte, Raumtemperatur,
und warme Temperaturen. Jeder dieser Lastwagen beliefert mehrere Filia-
len. Die Zahl der belieferten Filialen pro Lastwagen hängt von der Größe
der Bestellungen ab. Die Lieferungen werden nur während der Zeit ge-
macht, in der große Kundenmengen nicht erwartet werden. Das heißt zur
Frühstückszeit, mittags und abends. Die Lieferungen werden im Laden
durch einen Scanner gegeben. Damit kann verfolgt werden, wann wie viel
geliefert worden ist. Das System läuft auf Vertrauensbasis. Das bedeutet,
dass der Lieferant nicht beim Einscannen der Lieferung präsent sein muss.
Das verkürzt die Zeit erheblich, die ein Lieferant braucht, um alle Läden
zu befahren.
Dieses Vertriebssystem erlaubt es Seven-Eleven, die Anzahl seiner
Lastwagen zu reduzieren, die sonst für die täglichen Lieferungen an die
Läden benötigt werden würden. 1974 mussten 70 Kleinlastwagen pro Tag
einen Laden beliefern. Heute sind gerade 11 nötig, um die gleichen oder
größere Mengen zu verteilen. Das hat zu einer extremen Kostenreduzie-
rung und zu einer effizienteren Belieferung, insbesondere von frischen
Lebensmitteln geführt.
8 Branchenanalysen
8.1 Biotechnologie
8.1.1 Marktüberblick
Der japanische Markt hatte im Jahr 2003 ein Volumen von 1,66 Billionen
Yen, wodurch er sich nach den USA als zweitgrößter Biotechnologiemarkt
der Welt platzierte.1 Hinsichtlich der Patentanmeldungen liegt Japan mit
seiner Anzahl an Patenten im Biotechnologiebereich weltweit nach den
USA und Europa auf dem dritten Platz.2
Aufgrund der zunehmenden Alterung der Gesellschaft sowie des wach-
senden Gesundheitsbewusstseins gewinnt die Biotechnologiebranche an
Bedeutung, so dass für das Jahr 2010 ein Gesamtmarktvolumen von rund
25 Billion Yen (entsprechend 185 Milliarden Euro) prognostiziert wird.
Dies entspräche einem Wachstum um das 19-fache.
Die Chancen für hohe Umsätze und Gewinne sind in den Bereichen der
regenerativen Medizin, der Proteinanalyse und der funktionalen Ernährung
besonders hoch.3
Durch die Deregulierung des japanischen Marktes für medizinische Ge-
räte sind in diesem Sektor sehr gute Ergebnisse für den Absatz ausländi-
scher Produkte zu erwarten. Die Unternehmensberatung Mc Kinsey Inc.
Japan prognostiziert in dieser Sparte ein Wachstum von rund 30 Milliarden
Euro bis zum Jahr 2007.
1
Japan External Trade Organization (2006): Attraktive Branchen. Biotechnolo-
gie, S. 4 ff.
2
Japanisches Patentamt (2001): Survey into Major Trends in Bio-technology, in:
Jetro (Hrsg.): Investitionen in Japan: 10 überzeugende Vorteile., S. 7.
3
GfW Nordrhein-Westfalen Global Business Partner (2005): NRW – Japan.
Länderinformationen. Wirtschaftsbeziehungen. Investitionschancen. Erfolgs-
beispiele., S. 13 f, www.gfw-nrw.de/gfw/gfw.nsf/ContentByKey/E7DC41959D
AE9EA0C12570D6004D1992/$FILE/NRW-Japan_2005_10.pdf, 4.04.2006.
124 Branchenanalysen
4
AWO Branchenprofil Japan – Biotechnologie, http://portal.wko.at/wk/pub_
detail_file.wk?AngID=1&DocID=392421, 5.04.2006.
5
Japan External Trade Organization (2006): Attraktive Branchen. Biotechnologie,
S. 4 ff.
Biotechnologie 125
kamente auf den Markt bringen zu können. So kommen seit 2001 immer
mehr ausländische Arzneimittelhersteller auf den japanischen Markt.6
Für Investoren wurde ein zusätzlicher Steueranreiz durch die Erhöhung
der von der Steuer abzugsfähigen F&E-Ausgaben geschaffen. Seit dem
Jahr 2003 sind 10% bis 12 % aller F&E-Aufwendungen abzugsberechtigt.
Hinsichtlich des bürokratischen Aufwands ist festzuhalten, dass der all-
gemeine Genehmigungsvorgang für neue Medikamente und medizinische
Geräte im Rahmen der Revision des Arzneimittelgesetzes beschleunigt
wurde. Dies gilt insbesondere für solche Produkte, die im Ausland bereits
zugelassen sind und deren Wirksamkeit bereits bewiesen worden ist.
6
GfW Nordrhein-Westfalen Global Business Partner (2005): NRW – Japan.
Länderinformationen. Wirtschaftsbeziehungen. Investitionschancen. Erfolgs-
beispiele., S. 13, www.gfw-nrw.de/gfw/gfw.nsf/ContentByKey/E7DC41959D
AE9EA0C12570D6004D1992/$FILE/NRW-Japan_2005_10.pdf, 4.04.2006.
126 Branchenanalysen
8.1.4 Schlüsselsektoren
In der Biotechnologie ist Japan hauptsächlich bei der Einführung von in-
novativen Technologien und neuen Geschäftsmodellen tätig. Dabei haben
sich in den vergangenen Jahren verschiedene regionale „Bio-Cluster“ her-
ausgebildet, die durch die Ausnutzung lokaler Stärken und Vorteile effi-
zient auf dem Markt tätig sind. Attraktive Geschäftsmöglichkeiten für Un-
ternehmen ergeben sich beispielsweise in der Region Kansai, die sich
durch die Ansammlung zahlreicher Hochschulen und damit durch bedeu-
tende Humanressourcen auszeichnet. Aber auch der Markt in der Region
Kanto zieht zahlreiche Unternehmen aus der Biotech-Branche an. Speziell
um Tokyo hat sich ein Cluster aus modernsten Forschungseinrichtungen
und Biotech-Unternehmen gebildet.
Als Best-Practice-Beispiel kann das Unternehmen Invitrogen Japan
K.K. angeführt werden. Der amerikanische Konzern wurde 1983 gegrün-
det und ist tätig in der Auftragsforschung, der Produktion von Reagenzien
und Apparaturen mit hoher Wertschöpfung sowie in der Softwareentwick-
lung für die Forschung im Bereich Life Sciences und Biotechnologie. Zu-
sätzlich betreibt Invitrogen Importe und den Vertrieb der Produkte.
Das unternehmenseigene Research Center wurde in den Räumen des „Y-
okohama Kanazawa High-Tech Center“ eingerichtet, das als Standort für
diverse staatliche und privatwirtschaftliche biotechnologische Forschungsin-
stitute fungiert. In der näheren Umgebung befinden sich weitere branchen-
bezogene Institute. Die Präfektur Yokohama bietet Firmen verschiedene
Vorteile für eine Ansiedlung. Dazu gehören Subventionen, z.B. für das Lea-
sing von Geschäftsräumen, Einrichtungen für die Geschäftsunterstützung
und eine attraktive Lebensumgebung in der weltoffenen Hafenmetropole für
die Mitarbeiter mit kurzen Anfahrtswegen und Pendlerdistanzen.
7
Japan External Trade Organization (2006): Attraktive Branchen. Biotechnologie,
S. 10f.
Biotechnologie 127
8.1.5.1 Arzneimittelentwicklung
Besonders der Bereich der Biomedikamente wird sich in den nächsten Jah-
ren weiter positiv entwickeln. Gegenwärtig machen Biomedikamente ei-
nen Anteil von 5 bis 10 % aller zugelassenen Arzneimittelprodukte auf
dem japanischen Markt aus. Dieser Anteil wird Prognosen zufolge bis
2010 auf bis zu 30 % ansteigen.
8.1.5.3 Bioservices
Dieses Marktsegment hatte im Jahr 2003 einen Umfang von ca. 32,6 Mrd.
Yen. Dabei bildeten Ausbildung und Humanressourcen mit 43 % den
größten Sektor. Ein großes Wachstumspotenzial wird auch dem Markt für
speziell angepasste DNA-Chips zugeschrieben.
8.1.6 Anhang
Sonstiges
Medizin,
4,5 4,5 4,7 4,8 Pharmazeutika,
Medizintechnik
Nahrungsmittel
8.1.7 Literatur
Merkmale dieser Keiretsu sind zum einen die Pyramidenform, die in meh-
rere Ebenen unterteilt ist, sowie andererseits die große Abhängigkeit vom
Mutterunternehmen. Die einzelnen Ebenen sind durch Aktienbeteiligungen
und Technologie- und Personaltransfer miteinander verbunden.
Die Distribution der Kraftfahrzeuge ist in Japan ebenfalls besonders an-
gelegt. Es gibt nur wenige, dafür aber große Kfz-Handelsunternehmen –
anders als in Europa und den USA. Das Vertriebskanalsystem basiert auf
einer Aufgliederung nach Märkten und Modellnamen, wobei sich ein
Händler auf ein Vertriebskanalsystem-Modell beschränkt. Als besondere
Merkmale einer Hersteller-Händler-Beziehung gelten Gleichberechtigung
und eine volle Identifikation mit dem Hersteller. Dadurch werden herstel-
lerspezifische Ziele erleichtert durchgesetzt, wobei die Händler in die
Konstruktion und Entwicklung integriert werden. Ein ständiger Informati-
onsaustausch wird nach beiden Seiten organisiert. „Rabattschleudereien“
wie sie beispielsweise in den USA üblich sind, werden vermieden.
Ein entscheidender Erfolgsfaktor für die heutige erfolgreiche Struktur
des japanischen Marktes sind nicht zuletzt die Arbeitnehmer. Diese arbei-
ten gruppenorientiert und nach dem Senioritätsprinzip organisiert. Ideal-
erweise werden die Arbeitnehmer als Stammarbeiter lebenslang beschäf-
tigt, obwohl dieser traditionelle Standard sichtbar zu bröckeln beginnt.
132 Branchenanalysen
Von jenen elf formal unabhängigen Autobauern gehören zwei zur Toyota-
Gruppe: Daihatsu (51%) als Kleinwagenhersteller und Hino (50%) als
größter LKW-Produzent Japans. Der LKW-Hersteller Fuso ist Teil der
Mitsubishi Motors Gruppe.
Toyota und Honda überwanden die Krise der 90er Jahre aus eigener
Kraft. Dagegen benötigten Nissan (Renault), Mazda (Ford), Isuzu (GM),
Mitsubishi Motors und Fuso (Daimler) ausländische Kapital- und Mana-
gementhilfe. Während die Erfolgsgeschichte Carlos Ghosns in die ewigen
Annalen der glorreichen Sanierungsfallstudien eingehen wird, ist dies bei
den anderen eher unwahrscheinlich.
Im Fall Mazda war das Wirken der Sanierer von Ford durchaus erfolg-
reich, wenngleich weniger spektakulär. So war Mazda (vormals Toyo
Kogyo) 1994 dank einer Überexpansion und durch eine mit einer Vielzahl
Automobilindustrie in Japan 133
8
Financial Times 10.7.1996.
9
Financial Times „Foreign Investment in Japan“ 19.10.1999.
10
Financial Times 17.9.2003.
11
„The Mitsubishi group: All in the family“ The Economist 29.5.2004.
134 Branchenanalysen
schulden von MMC verweigerte, war für Daimler der Moment gekommen,
dem bösen Spiel ein Ende zu setzen. Der von Edzard Reuter 1990 begonne-
nen und von Jürgen Schrempp als „Welt-AG“ fortgesetzten strategischen
Allianz blieb nur noch die diskrete und effiziente Abwicklung.
Auch General Motors zog sich aus seinen japanischen Beteiligungen
(49% bei Isuzu, je 20% bei Suzuki und dem Subaru-Hersteller Fuji Heavy
Industries) bis 2006 ganz zurück. Diesmal lagen die Gründe jedoch in sei-
nen eigenen Finanz- und Modellproblemen12.
12
Financial Times 31.3.2006.
13
B&D GmbH: Unternehmen, das Prognosen und Studien für die Automobilindust-
rie erstellt.
14
Nachdem die Verkäufe von Opel 2005 auf weniger als 1800 PKWs gefallen
sind, wird sind Opel ab Ende 2006 vom japanischen Markt ganz zurückziehen;
Handelsblatt 10.5.2006.
Automobilindustrie in Japan 135
15
Bergsträßer Anzeiger 21.2.2006.
136 Branchenanalysen
8.2.5 Literatur
www.auswaertiges-amt.de
www.automobilwoche.de
www.economist.com
www.jetro.de
www.manager-magazin.de
www.mckinseyquarterly.com
16
Zur politisch verursachten Strukturkrise der japanischen Landwirtschaft siehe:
Albrecht Rothacher. Japan’s Agro-Food Sector. The Politics and Economics of
Excess Protection. London/New York. 1989.
Nahrungs- und Genussmittel, Nahrungsmittelmaschinen, Landwirtschaft 143
17
Zum Strukturwandel der Landwirtschaft und des ländlichen Raums siehe den
von mir herausgegebenen Band: Landwirtschaft und Ökologie in Japan. Mün-
chen 1992.
144 Branchenanalysen
18
Eine gute Quelle ist, wenn auch schon mittlerweile etwas historisch: David E.
Kaplan und Alec Dubro. Yakuza. The Explosive Account of Japan’s Criminal
Underworld. London 1987, das erst 1991 in japanischer Übersetzung veröffent-
licht werden konnte.
146 Branchenanalysen
19
Financial Times 6.6.1998.
Die Unterwelt: Die Yakuza als Wirtschaftsfaktor 147
Kunden recht robust und schnell. Dieser Service ist für die Betroffenen
allerdings nicht billig.
Als im April 1989 Yoshinori Watanabe die Funktion des obersten Chefs
(kumicho) der Yamaguchi-gumi übernahm, wurde er zum absoluten Herr-
scher über 30.000 Gangster, die ihrerseits in etwa 800 Banden mit durch-
schnittlich 35 Mitgliedern organisiert sind. Der kumicho präsidiert einem
Vorstand, dem die 12 wichtigsten Regionalbosse angehören. Sie treffen sich
am 5. jeden Monats im Yamaguchi-gumi-Hauptquartier in Kobe, um das
laufende Geschäft auf höherer Ebene zu diskutieren und Territorialkonflikte
zwischen Mitgliedsbanden einvernehmlich zu regeln. Anschließend wird das
Treffen für Strategiesitzungen mit der Teilnahme von 92 Hauptleuten erwei-
tert, die Bandenformationen in Bataillonsstärke anführen. Alle müssen als
Mitgliedsbeitrag allmonatlich eine Million Yen an den kumicho abführen,
mit dem dieser die administrativen und sozialen Kosten des Hauptquartiers
begleicht. Nur wenn die Beiträge regelmäßig bezahlt und die Befehle des
kumicho gehorsam ausgeführt werden, dürfen die Gangster das furchterre-
gende Logo der Yamaguchi-Gumi an ihrem Vereinslokal anbringen, auf ihre
Visitenkarten drucken und am Revers als Nadel tragen.
Doch herrschen nicht immer Eintracht und Harmonie im Gangsterland.
Als Watanabes Vorgänger Kazuo Taoka 1981 nach 35jähriger Herrschaft
starb, kam es zu gewalttätigen Nachfolgekämpfen. In Auseinandersetzun-
gen mit der damals 13.500 Mann starken, abgespaltenen Ichiwa-kai, star-
ben mehr als 30 Menschen, etwa 100 wurden verletzt, davon die meisten
Gangster mit akuter Bleivergiftung, bis im April 1989 der Frieden nach
langen Verhandlungen wieder einkehrte und die Ichiwa-kai wieder in die
Arme der Yamaguchi-gumi zurückkehrte.
Seit den 80er Jahren erfährt die Gangsterszene eine deutliche Konzent-
ration und Konsolidierung, die mit einer deutlichen Professionalisierung
und steten – nie ganz gelungenen – Versuchen, eine gewisse Respektabili-
tät herzustellen, einherging. So ging die Gesamtzahl der yakuza von ihrem
Höchststand von 182.000 (1963) auf 81.300 (2002) zurück. Anfang der
80er Jahre betrug der Anteil der drei großen Syndikate (Yamaguchi-gumi
aus Kobe/Osaka, Sumiyoshi-kai aus Tokyo, und Inagawa-kai aus Yokoh-
ma) erst 22%. Heute liegt er bei 77%20. Kleinere regionale Banden werden
entweder übernommen oder zerstört. Als Franchisenehmer der größeren
Syndikate behalten sie in ihrem angestammten Revier im Rahmen der all-
gemeinen Bandenstrategie natürlich weiter eine gewisse Handlungsauto-
nomie für den üblichen verbrecherischen Broterwerb. Als Ergebnis der
20
Financial Times 27.2.2002.
148 Branchenanalysen
21
Z.B. bei Kaplan und Dubro. Op. cit.
Die Unterwelt: Die Yakuza als Wirtschaftsfaktor 149
waffen, aber auch Schwerter für den eher traditionellen Geschmack, werden
eher für den Eigenbedarf eingeführt.
Bekanntlich haben Japans Gehaltsempfänger in ihrem arbeits- und fir-
menorientierten Lebenswandel, durch den sie oft ohne ihre Familien ver-
setzt oder von ihnen entfremdet werden, eine starke Neigung nach rest and
recreation in den ausgedehnten Vergnügungsvierteln, die in allen japani-
schen Städten die Nacht zum Tag werden lassen. Dort liefern die Yakuza
die eifrig nachgesuchten verbotenen Reize, kassieren aber auch gleichzei-
tig Schutzgelder von den Tausenden legaler Bars und Bierschwemmen.
Der fröhliche Zecher bezahlt dafür durch überhöhte Preise, kann aber rela-
tiv sicher sein, dass er auch voll alkoholisiert unbeschadet und unberaubt
den Heimweg antreten kann.
Die Yakuza haben mittlerweile ihre Operationen vermehrt in legale
Branchen ausgeweitet. Darunter sind die Bau- und Immobilienwirtschaft,
der Straßengütertransport, Hotel- und Restaurationsbetriebe, die Hafen-
wirtschaft und die Immobilienspekulation. Dabei zeigten sich etwas subop-
timale Synergieeffekte bei der Anwendung von Gangstermethoden in der
legalen Wirtschaft. Noch relativ harmlos war ihre Neigung zu betrügeri-
schen Bankrotten, wenn es ans Bezahlen höherer Rechnungen ging. Nicht
vermittelbar dagegen war den Syndikaten, dass sie bei Börsenspekulation
tatsächlich ihr gutes Geld verlieren würden oder dass ihnen gewährte
Bankkredite auch fällig werden könnten. So wurde ein Manager der Sumi-
tomo Bank, der für Pfändungen zuständig war und der Vizepräsident der
Hanwa Bank wegen Gangsterkrediten ermordet22. Deshalb ließ sich Susu-
mi Ishii, der kumicho von Inagawa-kai von Nomura und Nikko voll ent-
schädigen, als die Aktienmanipulationen des Eisenbahn- und Kaufhaus-
konzerns Tokyu, die sie auf seine Rechnung betrieben, unvorhergesehene
Verluste brachten. Bei seinen Tod 1991 hatte Ishii bei beiden Wertpapier-
häusern uneinbringliche Schulden in Höhe von 300 Millionen US-Dollar.
Häufig haben die Banken, die in der Hochkonjunktur Spitzenbetriebe
wie Toyota, Honda und Matsushita als Kreditkunden verloren, von sich
aus risikofreudige Spekulanten akquiriert, die den Yakuza als bekannte
legitime Frontorganisation (kigyo shatei) dienten. Diese Gelder sind nun
alle verloren: die Spekulationswerte sind dahin und die Kredite wegen des
Yakuza-Hintergrundes uneinbringlich. Raisuke Miyawaki, der frühere
Abteilungsleiter für organisiertes Verbrechen in der Nationalen Polizei-
agentur, schätzt diese Kredite auf 300/400 Milliarden US-Dollar, wovon
50 Milliarden US-Dollar auf US-Finanzmärkte verschoben worden seien.
22
Financial Times 12.12.1995.
Die Unterwelt: Die Yakuza als Wirtschaftsfaktor 151
23
Velisarios Kattoulas. The Yakuza Recession. Far Eastern Economic Review
17.1.2002; 12-20.
24
Nihon Keizai Shimbun 3.5.1991.
25
Financial Times 17.6.2000.
26
International Herald Tribune 29.4.1994, Financial Times 13.3. und 26.4. 1997.
27
„Everyone does it“ Financial Times 1.11.1997.
152 Branchenanalysen
sich weigerte, die sokaiya zu bezahlen und von ihnen 4 Stunden lang Fra-
gen und Beleidigungen wegen fünf Werksschließungen und 16.000 Ent-
lassungen bei Nissan über sich ergehen lassen musste und sie auch
mannhaft beantwortete28, da fiel auch bei anderen Firmenführungen der
Groschen, wie man mit etwas Zivilcourage und rhetorischer Stamina des
Problems Herr werden konnte.
Mittlerweile sind die Zahl der sokaiya deutlich rückläufig: von 6800
(1982) auf nur noch 400 (2000)29. Ursächlich ist die Tatsache, dass fast
alle Hauptversammlungen jetzt am gleichen Tag des Jahres abgehalten
werden und dass die Firmen sie mit Polizisten und kräftigen Angestellten
beschicken.
In dem in der Bauwirtschaft üblichen System abgesprochener Offerten
(dango) bei öffentlichen Ausschreibungen profitieren nicht nur die mit der
Bauwirtschaft und dem Infrastrukturministerium verbundenen Abgeordne-
ten (zoku), sondern auch die Yakuza. Ihre Funktion ist es, zu überwachen,
dass es keine unerwünschten Angebote dritter gibt, und dass sich niemand
allzu sehr für die Vorgänge interessiert. Als der frühere Bauminister Eichi
Nakao 1999 wegen der Vergabe eines öffentlichen Auftrags an die Baufirma
Wakachiku aufgrund des Erhalts von 30 Millionen Yen an Bestechungs-
geldern verhaftet wurde, wurde ruchbar, dass auch die Yamaguchi-gumi
bei der Vermittlung mit im Spiel gewesen war.
Als US-Fonds ab Ende der 90er Jahre begannen, für insgesamt 15 Milli-
arden US-Dollar reihenweise konkursreife japanische Unternehmen und
ihre Projekte von Golfplätzen bis zu Pachinko-Spielhöllen billig zu über-
nehmen, mussten sie bei ihren Hintergrundchecks nicht wie erwartet nur in
der Bauwirtschaft, der Unterhaltungsindustrie und im Straßengüterverkehr
die Beteiligung des organisierten Verbrechens feststellen, sondern selbst
bei Krankenhäusern und in der chemischen Industrie.
Auch früher bedrohten Yakuza die Aktivitäten ausländischer Investoren
und Geschäftsleute. So waren sie im Fleischimport aktiv und manipulier-
ten die Rindfleischimportauktionen zu ihren Gunsten und importierten
über den Hafen von Nagoya illegal taiwanesisches Schweinefleisch zu
niedrigeren Preisen als die legitimen dänischen Importe30. Aus China und
Russland importieren sie nicht nur illegale Immigranten, Prostituierte,
Drogen und Waffen, sondern auch gefälschte Markenartikel, die als schlecht
28
Financial Times 21.6.2000.
29
Financial Times 7.7.2000 und 28.6.2001.
30
Albrecht Rothacher. Japan’s Pork Import Market and the „Nagoya Connection“.
Berlin 1992.
Die Unterwelt: Die Yakuza als Wirtschaftsfaktor 153
31
Andreas Gandow. „Erst der Tod des „Paten der Hafenwirtschaft“ ermöglichte
mehr Wettbewerb. Handelsblatt 20.10.1997.
32
„Japans Häfen geraten unter Deregulierungsdruck“. Frankfurter Allgemeine
23.4.2001.
9 Firmenportraits
Als Fujio Mitarai, der Neffe des Firmengründers Takashi Mitarai, 1995
Canon als Vorstandsvorsitzender übernahm, war Canon einer jener überdi-
versifizierten japanischen Hochtechnologiekonzerne, die von Ingenieuren
geführt wurden, die auf der Markteinführung ihrer Neuentwicklungen be-
standen und denen die tatsächlichen Kundenbedürfnisse und die Gewinn-
entwicklung eher gleichgültig war. Als Ergebnis fehlte Canon der Fokus
auf profitable Kernkompetenzen. Es war überschuldet und schrieb seit
Jahren rote Zahlen. Wie die Führungen der anderen Elektronikkonzerne
hatte die vorige Canon-Leitung gehofft, durch magische Großtaten ihrer
emsig wurstelnden F&E würden neuentwickelte Wunderprodukte den
Marktdurchbruch eines Tages schon schaffen und die alte Gewinnträchtig-
keit und weiteres Firmenwachstum in immer neuen Produktsegmenten wie
in den guten alten Vorkrisenzeiten wiederherstellen. Weil man aber nicht
wissen konnte, aus welchen Abteilungen jene Neuentwicklungen wohl
kommen würden, beließ man alles möglichst ungestört beim alten.
Fujio Mitarai, der in 23 Jahren zuvor in Nordamerika Canon USA auf-
gebaut hatte, kam nach Japan zurück und tat, was zuvor noch kein anderer
japanischer Firmenchef gewagt hatte. Er beendete und verkaufte alle ver-
lustbringenden Produktlinien: PCs, Halbleiter, die Software-Herstellung,
elektrische Schreibmaschinen, optisch lesbare Datenkarten, photovoltai-
sche Batterien und Flachbildschirme. Während unreformierte Elektronik-
giganten wie NEC, Hitachi, Fujitsu und Toshiba immer noch von hohen
Schulden bedrückt rote Zahlen schreiben, wurde Canon zu einer Firma, der
das Gelddrucken wieder gelingt. Als Ergebnis kann Mitarai wieder die
Tugenden des japanischen Personalmanagements preisen: lebenslange
Beschäftigungen, Arbeit für das Gemeinwohl (kyosei), firmeninterne Rek-
rutierung des Managements und eine starke Firmenkultur. Restrukturie-
rungen und Kostenrechnung nach westlichem Muster, verbunden mit tradi-
tionellem japanischem Managementstil, das sei die Essenz der Wende bei
Canon, betont Mitarai, der wegen der Seltenheit dieser Erfolgskombination
156 Firmenportraits
1
Nihon Keizai Shimbun. How Canon got its Flash back. The innovative turna-
round tactics of Fujio Mitarai. Singapur. 2004. S. 17.
Canon: Die Erfolgsgeschichte einer Sanierung aus eigener Kraft 157
Kurzfristig übernahm Hajime Mitarai, der Sohn des Gründers, ein pro-
movierter Ingenieur, 1993-95 den Vorstand. Nach dessen überraschendem
Tod war der Neffe, Fujio Mitarai, der Jura studiert hatte, an der Reihe. Er
hatte mehr als zwei Jahrzehnte in den USA verbracht, wo er ab 1972 Ca-
non als Markenartikel eingeführt und die Verkaufsorganisation aufgebaut
hatte und seit 1985 von Canon Virginia Büroautomationsgeräte örtlich
fertigen ließ. Damit hatte er Canon USA mit 14.000 Beschäftigten zur
wichtigsten Tochter mit 2,6 Milliarden US-Dollar Umsatz gemacht. Nach
seiner Rückkehr nach Japan begann Mitarai nach amerikanischer Art mit
einem „Top-Down-Ansatz“ zur Restrukturierung und packte so Probleme
ohne Umschweife an. Dazu zählten die inadäquate und nichtkonsolidierte
Kostenrechnung, schlampige Forschungslaboratorien, die Autonomie der
Hauptabteilungen, Produktionsserien ohne vorherige Marktforschung, ega-
litäre Entlohnungssysteme und starre Fließbandfertigungen. Entwicklungs-
ingenieure und Techniker, die an unprofitablen Projekten arbeiteten, ließ er
versetzen und umschulen.
Als erste Schocktherapie beendete er schon im Januar 1996 die Existenz
der verlustreichen PC-Hauptabteilung, die in Kalifornien Firepower PCs
hergestellt und in Japan Apple-Rechner verkauft hatte. Nach einem hoff-
nungsfrohen Start 1974 folgte sie der Canon-Tradition, alle wichtigen
Technologien im eigenen Haus zu entwickeln, hatte dann aber die Orien-
tierung und die technologische Führung bei Mikroprozessoren an Intel
verloren. So endete die unglückliche Abteilung im Verkauf an Motorola.
Gegen den beträchtlichen Widerstand des technischen Managements wur-
den dann in Folge weitere verlustträchtige Operationen durch Verkauf oder
Schließung entsorgt. Dazu zählten die 1984-98 teuer entwickelten Flach-
bildschirme, ein Sektor, bei dem Sharp als schärfster Wettbewerber die
gleichen Qualitäten zu deutlich besseren Preisen anbieten konnte. Mit der
verbesserten Kostenrechnung wurden Verluste zuortbar. Abteilungen wur-
den gehalten, ihren Absatz selbstverantwortlich zu organisieren. Das alte
finanzielle „Affengeschäft“ (tobachi), Tochterbetrieben die unverkauften
Lagerbestände aufzudrücken, wurde mit den konsolidierten Buchführun-
gen beendet. Ein Reformausschuss des Managements mit acht Untergrup-
pen wurde eingesetzt, um Probleme zu identifizieren, Lösungen zu finden
und Hindernisse zu beseitigen. Gegen beträchtliche Widerstände ließ Mita-
rai die Fließbandfertigung beenden – eine Herstellungstechnik, auf deren
Beherrschung und Perfektion Japan so stolz ist – und ersetzte sie durch
Produktionszellen, in der eine Arbeitsgruppe das ganze Gerät zusammen-
setzt. Damit werden Platz, Bevorratung mit Teilen, Kosten für Ferti-
gungsmaschinen, Werkzeuge und Personal gespart, da die Fähigkeiten der
158 Firmenportraits
Mitarbeiter besser und umfassender genutzt werden können. Das neue Zel-
lensystem ermöglicht schnellere Reaktionen auf Änderungen in der Nach-
frage und berücksichtigt kleinere Auftragsvolumen. Überschüssige Produk-
tion und überflüssige Lagerbestände werden damit hinfällig. Gleichzeitig
wurde die Unordnung und Verschwendung in den Laboratorien angepackt.
Mitarai verbot Grundlagenforschung, die keinen langfristigen kommerziel-
len Nutzen versprach. Nach der Markteinführung neuer Produkte gab er
ihnen drei Jahre Zeit, binnen der sie Gewinne abzuwerfen hatten.
Canon war immer ein mitarbeiterorientierter Arbeitgeber gewesen. In
den 50er Jahren wurden allmonatlich die Geburtstagskinder des Monats
gefeiert und im Jahre 1963 ein Preis des Familienfriedens eingeführt, der
all jene auszeichnete, die in den letzten 5 Jahren nie verspätet zur Arbeit
gekommen waren, noch krank gefeiert hatten, auch wenn diese Indikatoren
nur sehr indirekt mit dem Familienfrieden der Betroffenen zu tun haben
dürften. Schon 1943 wurde während des Kriegs der tägliche Akkordlohn
durch ein Monatsgehalt ersetzt. Gleichzeitig wurde die Unterscheidung
von Angestellten (die durch den Vordereingang zur Arbeit kamen) und
Arbeitern (die den Hintereingang benutzen mussten) abgeschafft. 1946
wurde eine Firmengewerkschaft gegründet und schon 1967 die 5-Tage-
woche eingeführt. Kredite zum Hausbau und großzügige Geschenke zu
Firmenjubiläen waren und sind gängige Praxis.
Gleichzeitig wurden, wie Mitarai es ausdrückte, in der Planwirtschaft
Nachkriegsjapans, die von Bürokraten gelenkt und vor freien Märkten ge-
schützt war, Entlohnungssysteme nach Dienstalter eingeführt, die feste
Steigerungen unabhängig von der Einzel- und Firmenleistung vorsahen.
Dies führte zu einer „üblen Gleichmacherei“2. Mitarai bestand jedoch dar-
auf, das System der arbeitslebenslangen Beschäftigung bei Canon beizu-
behalten. Ingenieure, die von „nutzloser Arbeit“ befreit wurden, wurden
umgeschult und neuen Aufgaben zugeteilt. Sie wurden keinesfalls entlas-
sen. Gleichzeitig wurde das Senioritätssystem durch leistungsorientierte
Beförderungen und Gehaltssysteme ersetzt. Zulagen, die wie die Familien-
beihilfen, keinen Bezug zur Arbeitsleistung hatten, wurden als „paterna-
listisch“ abgeschafft. Das Beförderungsmindestalter für Abteilungsleiter
(kacho) wurde auf 32 Jahre und für Direktoren (bucho) auf 35 gesenkt: mit
der absehbaren Folge, dass diese nunmehr erstmalig ältere Untergebene
haben würden.
Um Facharbeiter in der Produktion zu motivieren, wurde ein System von
Industriemeistern für jene Vorarbeiter eingeführt, die jüngere Mitarbeiter in
2
Ibid. S. 109ff.
Canon: Die Erfolgsgeschichte einer Sanierung aus eigener Kraft 159
3
Ibid. S.193.
160 Firmenportraits
4
Nach der deutschen Wiedervereinigung fand man heraus, dass Toshiba 1986/87
mit Hilfe von Mitsui Bussan auch illegal Halbleiter an die DDR geliefert hatte.
(Financial Times 18.12.1993). Den Untergang der DDR hat das freilich kaum
aufhalten können.
Toshiba: Heillos diversifiziert? 163
Entwicklung. Jedoch standen nach dem Crash die Höhe der Investitionen
und der Schulden im umgekehrten Verhältnis zu den Erträgen. Kurioser-
weise waren es gerade die in die Halbleiterherstellung gesteckten Riesen-
investitionen, ein Sektor, in dem Toshiba vergeblich nach der Weltmarkt-
führerschaft strebte, die die Entwicklung der Speicherchips behinderten
und es der koreanischen und taiwanesischen Konkurrenz ermöglichten,
aufzuholen. Die Japaner hatten es schlicht nicht wahrhaben wollen, dass
sie ihre teuren brandneuen Fabriken und ultramodernen Fertigungen nach
einigen Monaten schon wieder komplett umrüsten sollten5. Seit 2001 fährt
die Herstellung der DRAM gewaltige Verluste ein. Dennoch pumpte Toshiba
noch Mitte 2000, kurz vor dem IT-Zusammenbruch, 170 Milliarden Yen in
die Chipfertigung. Erst später dämmerte es, dass für die meisten Wettbe-
werber bei IT-Geräten und Ausstattungen die Innovation zu schnell und
der Wettbewerb zu hart waren, um Gewinne zu ermöglichen. Mit rapide
beschleunigten Produktzyklen konnten die Verbraucher alle sechs bis acht
Monate eine billigere und verbesserte Generation von PCs erwarten.
Toshiba hatte einige Erfolge bei der Entwicklung von Textverarbeitungs-
geräten für die japanische Sprache, bei automatischen Briefsortiermaschi-
nen, Point-of-sales-Systemen (POS) (die im Einzelhandel die Registrier-
kasse, die Buchhaltung und die Inventarkontrolle in einem wahrnehmen),
bei Flüssigkristallanzeigen und DVDs, wo es vor Sony 1995 die Weltstan-
dards setzte. Jedoch scheiterte Toshiba bei Bürocomputern und kam als
Spätentwickler bei Mobiltelefonen nie über Platz 10 hinaus. Der Absatz
seiner digitalen Fernseher kam auch nie recht in Gang. Bei PCs, Halbleitern
und Flüssigkristallanzeigen blieb die Nachfrage flach. Doch wie sucht-
krank in seinen diffusen Sciencefiction-Visionen erscheint das Unterneh-
men unfähig, Verlustbringer abzustoßen. Stets gibt es da die Verheißung
eines Verkaufsschlagers in der nächsten zu entwickelnden Generation wie
der schnurlose Server („3G-Telefon“), der digitales Fernsehen, Handy,
Rechner, Internetzugang und Kamerafunktionen kombiniert. Nach wie
vor verfolgt Toshiba dann der Ehrgeiz, alle diese Systeme im eigenen
Haus zu entwickeln und trennt sich folglich von keinem der Segmente.
Die Wahrscheinlichkeit, dass der schnurlose Server einem ähnlichen
Wettbewerbsdruck und kurzen Innovationszyklen unterworfen sein wird
wie seine Hightech-Vorgängersysteme und daher nur für den Marktführer
Gewinne und für den Rest nur Verluste bringen wird – zumal Motorola,
Nokia und Siemens bereits den Markt bearbeiten –, scheint hartnäckig
verdrängt zu werden.
5
Robert L. Cutts. Toshiba. London 2003. S. 105.
164 Firmenportraits
6
Financial Times 7.2.2006.
166 Firmenportraits
7
Cutts. Op.cit., S. 222.
8
Taiga Uranaka. Toshiba forecasts heavier losses. The Japan Times, 17.9.2003.
9
Cutts. Op. cit. S. 235.
Matsushita: Lebensglück durch Elektrogeräte 167
10
Ausführlich wird Matsushitas Lebens- und Firmengeschichte erzählt in: John P.
Kotter. Matsushita. Heidelberg. 2002.
168 Firmenportraits
Arbeitsgruppen von 5 bis 15 Mitarbeitern, die auch für ihre Gewinne und
Produktqualität verantwortlich waren. Wenn positive Ergebnisse ausblie-
ben, würde Matsushita den zuständigen Manager einbestellen und ihn zur
Not auch anbrüllen, wenn vernünftige Erklärungen und befristete Verbes-
serungen nicht geliefert wurden.
Jene dezentrale Struktur erlaubte Matsushita Electric flexibel und reagi-
bel zu bleiben und Führungspersonal für eine Zukunft ohne Matsushita
auszubilden, dessen Abtreten bei seinem schlechten Gesundheitszustand
jederzeit möglich war.
Nach seinen privaten Tragödien und in der Suche nach Sinn in seinem
Geschäftserfolg wurde Matsushita von der buddhistischen Tenrikyo-Sekte
angezogen, die er seither unterstützte und deren Einfluss in seinen Unter-
nehmensvisionen und mission statements sichtbar ist. 1932 verkündete er
seinen damals 1100 Angestellten, der Zweck seines Unternehmens seien
nicht Profite oder Marktanteile, sondern das Glück der Menschheit durch
die Versorgung mit immer billigeren Qualitätsprodukten. Matsushita be-
stand darauf, dass alle seine Angestellte sich öffentlich zu diesem Ziel und
zu den Idealen von Ehrlichkeit, Fairness, Teamarbeit, dauernder Selbstver-
besserung, Höflichkeit, Bescheidenheit, Dankbarkeit und Fortschritt be-
kennen sollten. Diese edlen Selbstverpflichtungen mussten am Anfang
jeden Arbeitstages laut rezitiert werden. Jene sektenartige Tendenz ist seit-
her in Matsushitas öffentlichen Verlautbarungen und in den meisten Fir-
menveröffentlichungen sichtbar.
1932 wurde eine Exportabteilung eingerichtet. Bald wurde die Produk-
tion auf elektrische Lampen, Ventilatoren, Plattenspieler, Lautsprecher,
Uhren, Mikrophone und Haartrockner ausgeweitet. Die Zahl der Mitarbei-
ter wuchs von 1100 (1932) auf 9300 (1941). Matsushita richtete nun fir-
meninterne Ausbildungsstätten für kaufmännische und technische Fähig-
keiten ein.
Im 2. Weltkrieg wurde Matsushita befohlen, die Produktion für zivile
Zwecke einzuschränken und im Rahmen der Kriegswirtschaft das Militär
mit Elektrogeräten und Bajonetten zu versorgen. In den verzweifelten letz-
ten Kriegsjahren sollte Matsushita auch Holzflugzeuge und Holzschiffe
herstellen, die im feindlichen Radar unsichtbar sein würden. Schwager
Toshio Iue schaffte den Bau der ersten Holzschiffe im Dezember 1943. Es
wurden auch drei Holzflugzeuge gebaut. Es ist jedoch nicht überliefert, ob
sie je flogen oder Feindberührung gehabt haben.
Mit Japans militärischer Expansion waren Fabriken auch auf den Phi-
lippinen, in Indonesien, Taiwan, Korea und China errichtet worden. Als
der Krieg endete, war trotz aller Zerstörungen, Rationierungen und Beein-
172 Firmenportraits
11
Ein Beispiel: Konosuke Matsushita. My Management Philosophy. Kyoto 1978.
Das Duell Samsung versus Sony 175
12
„Special report: Samsung Electronics“ The Economist 15.1.2005.
Das Duell Samsung versus Sony 177
13
Financial Times 8. und 9.2.2006.
Das Duell Samsung versus Sony 179
gefiel sich Morita auch in der Rolle eines Studiobosses und sah sich gerne
in Begleitung von Stars und Sternchen auf den Hochglanzseiten der Promi-
nentenblätter abgelichtet. Als der Kauf der abgewirtschafteten amerikani-
schen Ikonen Columbia und CBS Records öffentliche Proteste auslöste, be-
schlossen die erschreckten Japaner, dem einheimischen Management freie
Hand zu lassen. Der Sony-Biograph John Nathan beschreibt sehr anschau-
lich, wie die Amerikaner dies als Einladung zur Selbstbedienung begriffen,
sich selbst die Verträge schrieben und mit beiden Händen in die Studiokas-
sen griffen14. Erfolgsfilme blieben jedoch weiter aus.
1982 ernannte Morita Norio Ohga zum Vorstandschef. Ohga hatte in
den 50er Jahren in Berlin Musik studiert und machte seine Studienstadt zur
Zentrale von Sony Europa. Als die Überreste des Hotels Esplanade mit den
Bauplänen von Sony am Potsdamer Platz kollidierten, wurden sie bekannt-
lich kurzerhand um 75 Meter verschoben. Geld war damals kein Thema.
Das aus sentimentalen Gründen errichtete Sony-Centrum sollte übrigens
die einzige größere japanische Investition im wiedervereinigten Deutsch-
land bleiben. Als Nachfolger Ohgas wurde 1995 wieder ein Intellektueller,
der Waseda-Absolvent Nobuyuki Idei ernannt. Er interessierte sich mehr
für Inhalte wie Musik und Filme als für die Geräte, die er alle mit dem
VAIO-Computer zu vernetzen hoffte, der Fernseher, Rechner, Telefon und
Stereoanlage in einem sein sollte. Anscheinend hatte Idei bei seinen Kun-
den noch nie eine Häkeldecke auf dem Fernseher gesehen. Gerne verkün-
dete Idei bei öffentlichen Auftritten stets wechselnde futuristische Visio-
nen, die eher als leicht beklemmende Sciencefiction denn als operative
Handlungsanleitungen tauglich waren. So verschlief Sony ausgerechnet
unter Ideis Regentschaft entscheidende technologische Durchbrüche. Hatte
Morita bis Ende der 80er Jahre mit jähen Geistesblitzen und eisernem
Durchgriff das Management in Angst und Schrecken gehalten, so hatte
sich bei Sony nach seinem Abgang – er starb 1999 ohne nach seinem
Schlaganfall je wieder gehen oder sprechen zu können – eine bürokrati-
sche Clubatmosphäre breitgemacht. Als oberste Entscheidungsebene lehn-
ten 30 Bedenkenträger den schon 1999 selbstentwickelten MP3-Spieler ab
– in der begründeten Angst, die firmeneigenen Musikprogramme könnten
im Internet gratis heruntergeladen werden. Statt dessen nahm Apple mit
seinem iPod den jugendlichen Musikmarkt im Sturm. Der kalifornische
Computerhersteller erfreut sich seither der Sony entgangenen Riesenge-
winne und eines 60%igen Marktanteils. Sonys Walkman ist nun tot und
seine Disk-Spieler schwer angeschlagen.
14
John Nathan. Sony: The Private Life. London 2000. S. 61ff.
180 Firmenportraits
10% immer noch nicht einstellen wollte, Sony vielmehr mit 75 Millionen
Euro in die roten Zahlen rutschte, trat Idei mit dem gesamten Vorstand,
einschließlich des seither beförderten Playstation-Heldes Kutaragi, im
März zurück.
Ideis Wahl als Nachfolger fiel auf Sir Howard Stringer (63), einen ge-
bürtigen Waliser mit US-Pass, der nach seinem Geschichtsstudium in Ox-
ford zwei Jahre in Vietnam gekämpft und anschließend als Fernsehjourna-
list bei CBS Karriere gemacht hatte. Für Sony hatte der energische
Medienmann das US-Geschäft saniert und Musikmogule wie Tommy Mot-
tola herausgeworfen. Stringers neuer Sanierungsplan sieht noch einmal
10.000 Entlassungen unter den 150.000 verbliebenen Angestellten, elf
Werksschließungen, die Reorganisation der chaotischen Zentrale und den
Verkauf von Randgeschäftsbereichen vor. Produktionen sollen in großem
Stil aus Japan, Nordamerika und Europa nach China und Südostasien ver-
lagert werden15. Bis 2007 soll Sony wieder gewinnträchtiger Weltmarkt-
führer werden, verkündete Stringer, der Sony meist von New York aus
leitet. Nach kurzer Begeisterung über die Berufung des unkonventionellen
Außenseiters reagierte die Börse skeptisch. Ohne serienreife neue Produk-
tionen blüht Sony das Schicksal eines elektronischen Spielzeugmachers.
Die Netzseite des Unternehmens bietet prominent im Mai 2006 nur einen
niedlichen Hunderoboter an. Der Wauwau soll vereinsamte Rentner trösten
und sie mit menschlichen Tönen an die Einnahme ihrer Pillen erinnern.
Sony, vor einem Jahrzehnt noch Japans innovativste Großfirma, ist auf
dem Weg ins Seniorenheim. Es scheint seine Zukunft hinter sich zu haben.
Toyota Motor Corporation wurde von der Familie Toyoda 1937 gegründet.
Mit 8 Millionen verkaufter Fahrzeuge überholte Toyota 2004 Ford als
zweitgrößter Automobilhersteller. Möglicherweise wird Toyota schon 2007,
pünktlich zum 70jährigen Firmenjubiläum, General Motors auf Platz 1 über-
runden, den GM schon seit den 20er Jahren innehat. Strategisch versucht
15
Stephan Finsterbusch. „Sony – ferngesteuert“, Frankfurter Allgemeine 3.5.2006.
16
Vom Herausgeber übersetzte und aktualisierte Studienarbeit, die im Rahmen
des von ihm geleiteten Graduiertenseminars „Comparative Business Cultures“
an der National University of Singapore 2003 entstand.
182 Firmenportraits
Toyota seinen Weltmarktanteil von 10% (2002) auf 15% (2010) zu stei-
gern17.
In Japan galt Toyota immer als der innovativste Automobilhersteller in
der Prozesstechnologie und als der effektivste in der Produktentwicklung.
Dagegen war Toyota in seiner überseeischen Produktion und in der Ein-
richtung regionaler Hauptquartiere im Ausland vergleichsweise zurück-
geblieben18. Toyota suchte lange die Risiken von Auslandsinvestitionen zu
minimieren. Der Heimatmarkt wurde stets bevorzugt. Als ursprünglich
traditionell organisierter japanischer Familienbetrieb verfolgte Toyota lan-
ge ein ultrakonservatives Finanz- und Personalmanagement. Erst als Hiro-
shi Okuda, der als erster Nicht-Toyoda 1996 Vorstandschef wurde, änderte
sich dies19, da damals die Marktanteile Toyotas in Japan auf 39% gefallen
waren, und statt weiterer Selbstzufriedenheit eine Restrukturierung und die
Auslandsexpansion angesagt waren20.
Neben der Automobilindustrie engagiert sich Toyota auch in anderen
Segmenten. Dazu zählen automatische Fertigungsanlagen, Gabelstapler,
Halbleiter, die Herstellung von vorgefertigten Fertighäusern, Finanzdienst-
leistungen, Sportboote, IT-Geschäfte und die Telekommunikation. Wie alle
japanischen Firmen hat Toyota ein schönes Motto. Es betont den gesell-
schaftlichen Überfluss und den verbesserte Lebensqualität durch das Auto-
mobil. Toyota bemüht sich auch ein guter corporate citizen sein, indem es
Geld in 5 Bereiche des Sponsoring spendet: Bildung, internationaler Aus-
tausch, die Umwelt, Kunst und Kultur und örtliche Gemeinschaften.
Sakichi Toyoda, der Sohn eines armen Zimmermanns, gründete 1926
die Toyoda Mechanischen Webstuhlwerke. Er wurde auch als „König der
Erfinder“ berühmt, hatte er doch 84 seiner Erfindungen patentieren lassen.
Sein Sohn Koichiro Toyoda studierte Mechanisches Ingenieurwesen und
entdeckte bei Auslandsreisen, wie populär PKWs in den USA und in Eu-
ropa waren. Deshalb gründete er 1937 seine eigene Autofirma, die er mit
dem Verkauf der Rechte des Webstuhls seines Vaters an die britische Fir-
ma Platt Brothers finanzierte. Bald wurde der erste Prototyp hergestellt,
ein Modell A1 Personenkraftwagen.
17
Far Eastern Economic Review 2.10.2003.
18
Kumon H. „Overseas Production Activities of Toyota Motor“ in: Mirza H
(Hg.). Global Competitive Activities in the new World Economy. Cheltenham
1998.
19
The Wall Street Journal 11.1.1999.
20
Financial Times 13.1.1997.
Toyota: Weltkonzern wider Willen 183
Nach dem Zweiten Weltkrieg war Toyota wegen der hohen Inflation
vom Konkurs akut bedroht und suchte die Hilfe der Filiale Nagoya der
Bank von Japan. Teil des Sanierungspakets war die Abtrennung der Ver-
kaufsabteilung zu einer unabhängigen Firma als Toyota Motor Sales. Erst
1982 wurden beide wieder in der Toyota Motor Corporation zusammenge-
führt. Wegen den von der Bank erzwungenen Massenkündigungen kam es
1950 zu einem zweimonatigen Streik.
Als sich Toyota durch die gestiegene Nachfrage während des Koreakriegs
erholt hatte, begannen erste Exporte. 1957 schon wurde in den USA eine
eigene Vertriebstochter, Toyota Motor Sales USA, gegründet. In Japan
selbst unterstützte Toyota seinen Absatz durch eigene Fahrschulen wie
die Chubu Nippon Drivers School, da die Fahrprüfungen sehr schwierig
waren. Wer seinen Führerschein mit Toyota Autos erworben hatte, wurde
dann natürlich ein dankbarer und loyaler Erstkunde des Unternehmens.
Autorennen und Autoshows waren ähnlich erfolgreiche Vehikel, um die
damaligen Toyotas als verlässliche und ansehnliche Autos ins öffentliche
Bewusstsein zu bringen.
Toyota hat als konservative, konfuzianisch geprägte Firmenkultur Über-
nahmen und Firmenkäufe stets abgelehnt und ist nur aus eigener Kraft
gewachsen. Die heute zum Toyota-Keiretsu zählende und von Toyota
mehrheitlich kontrollierte Daihatsu als Kleinwagenhersteller und Hino als
LKW-Produzent, blieben weiter formal unabhängige Unternehmen. So
meinte Okuda 1999, er sehe keinen Grund, warum sich Toyotas Firmen-
kultur mit fremden Einflüssen vermengen sollte, wenn die japanische Effi-
zienz genauso gut sei21.
Auch als Weltkonzern operiert Toyota als traditioneller Familienbe-
trieb. In seinem Vorstand von 58 Direktoren gibt es keine Ausländer,
keine Frauen und niemand, der außerhalb der Firma gearbeitet hat. Auch
die Aktieneigner interessieren wenig, denn 40% der Aktien werden von
japanischen Banken und Finanzhäusern gehalten, an denen Toyota selbst
beträchtliche Anteile hält. Deshalb ist das Spitzenmanagement nur sich
selbst und der Gründerfamilie Rechenschaft pflichtig. Allerdings ist die
Firmenstruktur so stark vertikal segmentiert, dass oft die firmeninterne
Koordination an vorhersehbaren Spannungen, Frustrationen und Effizienz-
verlusten leidet.
Dabei ist der Produktionsprozess selbst einzigartig rationalisiert. Toyota
ist sehr stolz auf seine Meisterung der Prozesstechnologie. Dazu zählen
21
Muzuki Kasuya. „Toyotas Competitive Strategies“ Asia 21. September 1999. 59-
62. S. 60.
184 Firmenportraits
22
Sachs, B. Reorganising Work: The Evaluation of Work Changes in the Japanese
and Swedish Automobile Industries. New York und London. 1994.
23
Oyama Yoichi (Hg.) Kyodai Kigyo to Rodosha: Toyota no Jirei (Großbetriebe
und Arbeiter: Eine Studie von Toyota). Tokyo 1985.
Toyota: Weltkonzern wider Willen 185
24
Financial Times 2.3.2004.
186 Firmenportraits
25
CTK Business Wire und Global News Wire 7.1.2002.
26
Business Week 15.4.2002.
Toyota: Weltkonzern wider Willen 187
siedelten sich in der Umgebung an: TRCZ, Tris und Aoyama Seisakusho
und schufen damit natürlich neue Arbeitsplätze und industrielle Ausbil-
dungen für die Region.
Neben der Endfertigung in Kolin hat Toyota ein Werk für Gangschal-
tungen und Getriebe in Waldenburg (Niederschlesien) für 400 Millionen
Euro und ein Motorenwerk in Jeltsch-Laskowitz bei Breslau für 200 Milli-
onen Euro errichtet, deren Produktion zur Endmontage nach Böhmen ge-
bracht wird. Die unterschiedlichen, nicht allzu weit entfernten Produkti-
onsstandorte erlauben eine bessere Nutzung der örtlichen Arbeitsmärkte
(und unausgesprochen auch der im Wettbewerb stehenden Subventions-
und Steuersparpotentiale von Tschechien und Polen) ohne allzu große
Transportkosten.
Die ersten Auslandsfertigungen von Toyota hatten in Südostasien be-
gonnen, deren Regierungen in den 60er und 70er Jahren Importsubstituti-
onspolitiken zur Entwicklung ihrer Industrialisierung verfolgten. Zunächst
bekamen sie nur Fabrikationsstätten, die die auseinandergenommenen Ex-
portmodelle wieder zusammenschraubten und marginalen Mehrwert, wie
Sitzpolster und Gummibeläge, örtlich schufen. Erst unter dem Eindruck
der Yen-Aufwertungen in den 90er Jahre erhöhte Toyota die regionale
Fertigungstiefe deutlich. Im ASEAN-Verbund gründete es vier Produkti-
onsgesellschaften mit arbeitsteiligen Aufgaben: Die Getriebe wurden in
den Philippinen gefertigt, die Steuersysteme in Malaysien und die Diesel-
motoren und die Endmontage in Thailand. Jene Endmontagefabrik gilt mit
der Herstellung von einem Auto alle zwei Minuten als eine der effizientes-
ten im ganzen Toyota-Reich (das mittlerweile 47 Werke in 26 Ländern
umfasst)27. In Singapur schließlich wurde mit Borneo Motors der regionale
Vertrieb angesiedelt.
Es bleibt das noch zu erschließende Potential des chinesischen Marktes.
Hier muss Toyota, wie alle anderen Auslandsinvestoren des Sektors, mit
regionalen Staatsbetrieben zusammenarbeiten. Die Ergebnisse lassen, wie
zu erwarten, noch deutlich zu wünschen übrig.
Als Hiroshi Okuda 1996 den Vorstand übernahm, war der Marktanteil
von Toyota in Japan mit einfallslosen Modellen auf 39% gefallen. Der
einheimische Kostendruck und die Stärke des Yen machte einen Rationali-
sierungs-, Innovations- und Internationalisierungskurs unabdingbar. So ließ
er beim Ipsum die Zeit von der Entwicklung bis zur Serienreife auf 15
Monate verkürzen. Weitere Verknappungen dürften die menschliche Leis-
27
The Straits Times 18.1.2003.
188 Firmenportraits
28
Business Week 7.4.1997.
Honda: Von der Tüftler-AG zum Weltkonzern 189
Mit 3,4 Millionen Fahrzeugen ist Honda heute Japans zweitgrößter Auto-
mobilhersteller nach Toyota. Seine 114.000 Mitarbeiter erzielten 2005
einen Erlös von 78 Milliarden Euro und einen Betriebsgewinn von 5,5
Milliarden Euro31. Bei umweltfreundlichen Autos mit ausgereiften (Die-
sel/Elektro) Hybridmotoren behauptet Honda eine weltweite Marktführer-
schaft. Mit einer Fertigungspräsenz in den wichtigsten Märkten sucht Honda
seinen Absatz auf 4 Millionen PKWs im Jahr 2007 zu steigern32. Neben
jener erstaunlichen Leistungsfähigkeit ist die Firma auch wegen ihres ein-
zigartigen Managementstils und ihrer jungen Firmengeschichte interessant.
Als Sohn eines armen Schmieds und Fahrradflickers wurde Soichiro
Honda 1906 geboren33. Von klein auf faszinierten ihn Motoren. So soll
seine Lieblingsbeschäftigung in jungen Jahren gewesen sein, einer benzin-
betriebenen Reismühle bei der Arbeit zuzuschauen. Nach achtjährigem
Schulbesuch wurde Soichiro 1922 Lehrling bei einer Autoreparaturwerk-
29
Stephan Finsterbusch „Generationenwechsel bei Toyota“ Frankfurter Allge-
meine 10.2.2005, und: „Der Steuermann“ Frankfurter Allgemeine 11.5.2006.
30
Vom Herausgeber übersetzte und aktualisierte Studienarbeit, die im Rahmen
des von ihm geleiteten Graduiertenseminars „Comparative Business Cultures“
an der National University of Singapore 2004 entstand.
31
Frankfurter Allgemeine 27.4.2006.
32
Financial Times 18.5.2006.
33
Für Details von Biografie und Firmengeschichte siehe: Tetsuo Sakiya. Honda
Motor: The Men, The Management, The Machines. Tokyo 1982.
190 Firmenportraits
stätte namens Art Shokai in Tokyo. Seine Hauptaufgabe war zunächst, das
Kind seines Lehrherrn zu babysitten. Nur wenn in der Werkstätte mehr
Betrieb war, durfte er auch richtig arbeiten. Als 1923 ein Erdbeben Tokyo
verwüstete, wurde auch Art Shokai zerstört. In den Trümmern arbeiteten
Honda und ein Geselle wochenlang weiter an der Reparatur beschädigter
Autos. Als Belohnung ermöglichte der Besitzer von Art Shokai Honda
nach dem Wiederaufbau, einen Rennwagen in seiner Freizeit zu bauen.
Dieser erste Rennwagen entstand in Selbsthilfe aus einem Curtis Wright
Flugzeugmotor mit 100 Pferdestärken und 1400 Umdrehungen pro Minute.
1928 wurde Honda mit der Leitung einer Außenstelle von Art Shokai in
der Stadt Hamamatsu in der Präfektur Shizuoka betraut. Dort konnte er
seiner Leidenschaft für den Bau immer ausgereifterer Rennwagen unge-
stört nachgehen. 1936 nahm er an dem alljapanischen Geschwindigkeits-
rennen teil und schaffte auch einen Streckenrekord von 120 km/h, der die
nächsten 20 Jahre überdauern sollte. Er wurde jedoch bei einem Unfall bei
einem Boxenstop schwer verletzt, was ihn den Sieg kostete und die aktive
Teilnahme an weiteren Rennen unmöglich machte.
Im nächsten Jahr gründete Honda eine Firma, Tokai Seiki Heavy In-
dustry, die Kolbenringe herstellen sollte. Kolbenringe waren damals sehr
teuer und Honda glaubte, sie seien in einem Druckgussverfahren einfach
herzustellen. Die Fabrikation der Kolbenringe stellte sich jedoch als schwie-
riger heraus als ursprünglich angenommen, denn die ersten Ringe waren
inelastisch und deshalb nutzlos. Er bat die Besitzer benachbarter Gießereien
vergebens um Hilfe. Sie zeigten sich nicht bereit, ihre Produktionsgeheim-
nisse gegenüber einem Außenseiter zu lüften. Obwohl Honda gegenüber
formaler Bildung skeptisch war und verkündet hatte: „Wenn Theorien zu
Erfindungen führen, dann müssten alle Schullehrer große Erfinder sein“,
suchte er nach dem Scheitern eigener Tüfteleien Professor Yoshinobu Fujii
von der Fachschule für Technologie in Hamamatsu um Hilfe auf. Ihm wurde
erklärt, seine Kolbenringe enthielten zu wenig Silikon. Zur Behebung seiner
technischen Wissenslücken besuchte Honda dann neun Monate lang die
Fachschule, bis ihm erste Prototypen gelangen.
Während des Zweiten Weltkriegs hatte die Firma wegen der steigen-
den Nachfrage nach Maschinen und Maschinenteilen genügend Aufträge.
Weil mehr und mehr Männer zum Kriegsdienst eingezogen und durch
Frauen in der Produktion ersetzt wurden, entwickelte Honda Prozessau-
tomaten und Produktionshilfen, um körperlich schwere Arbeiten zu me-
chanisieren und zu erleichtern. Honda erfand auch eine neue Methode
und Werkzeuge, um die Herstellung von Flugzeugpropellern von einer
Woche auf eine halbe Stunde zu reduzieren. Nach dem Krieg verkaufte
Honda: Von der Tüftler-AG zum Weltkonzern 191
Honda Tokai Seiki an Toyota Motor für 450.000 Yen und legte eine kre-
ative Pause ein. Doch schon im Oktober 1946 gründete er das Honda
Technische Forschungsinstitut. Die neue Geschäftsidee war, Fahrräder
mit Kleinmotoren auszustatten, die für militärische Zwecke gefertigt nun
nicht länger benötigt wurden.
Sein neuer Kompagnon in diesem Unternehmen wurde Takeo Fujisawa.
Fujisawa wurde 1910 als Sohn des Besitzers einer damals noch gutgehen-
den Werbeagentur geboren. Während der Depression der 20er Jahre ver-
armte seine Familie jedoch. Fujisawa musste sich nach der Oberschule
1928 als Lohnschreiber und Kalligraph mit einem Gehalt von 45 Yen im
Monat durchschlagen. Nach seinem Wehrdienst wurde Fujisawa 1934
Verkäufer bei einer kleinen Stahlhandelsfirma namens Mitsuwa Shokai.
Sein Anfangsgehalt betrug nur 15 Yen monatlich. Doch am Ende des
zweiten Jahrs erhielt er als bester Verkäufer der Firma 150 Yen. Als der
Besitzer von Mitsuwa Shokai zum Kriegsdienst 1937 an die chinesische
Front einberufen wurde, übernahm der damals 27jährige Fujisawa die Ge-
schäftsleitung. Nach einigen Monaten schon verdiente die Firma 200.000
Yen monatlich. Die sich verschärfenden kriegswirtschaftlichen Preiskon-
trollen verminderten jedoch bald die Gewinnspannen des Handels. Deshalb
entschied sich Fujisawa mit 10.000 Yen, die er als Gründungskapital von
Mitsuwa auslieh, seine eigene Fabrik zu gründen, die er Japan Machine
Tool Research Institute nannte.
Mit dem Besitzer von Mitsuwa geriet Fujisawa in Streit, als er für seine
Mitarbeiter wegen der Härten der Kriegszeit um eine Gehaltserhöhung
ansuchte und diese verweigert wurde. Nach der Rückkehr des Eigners
kündigte Fujisawa, bekam als Abfindung sein ausgeliehenes Gründungs-
kapital übereignet und widmete sich hinfort seiner eigenen Firma. Dort
fertigte er Werkzeugmaschinen von guter Qualität, die sich auch in Kriegs-
zeiten profitabel verkaufen ließen. Um seine Mitarbeiter zu motivieren,
zahlte er auch gute Löhne. Wegen der wachsenden US-Bombenangriffe
übersiedelte er seine Fabrik aus Tokyo ins nordjapanische Fukushima.
Als Fujisawa nach dem Krieg seinen Betrieb nach Tokyo zurückholte,
traf er dort auf den Erfinder Honda, der damals nach einem langfristigen
Geldgeber Ausschau hielt. Fujisawa war zwar auch nicht liquide, doch
fusionierten sie 1948 beide Betriebe. 1949 wurde aus den Fahrrädern mit
Hilfsmotor das erste Motorrad mit 98 ccm entwickelt und auf den Markt
gebracht. Honda spielte die Rolle des technischen Genies, des Erfinders
und Herrschers über die Produktion. Fujisawa war für die Organisation,
die Finanzen und das Marketing zuständig. Dies war nicht zufällig eine
ähnlich komplementäre und erfolgreiche Paarung wie bei Sony, der anderen
192 Firmenportraits
großen Nachkriegsfirma Japans, mit Masaru Ibuka und Akio Morita, ein
genialer Tüftler der eine, ein begnadeter Verkäufer der andere. Der einzig
große Unterschied zwischen beiden Unternehmerpaaren war, dass Morita
sich selbst als „Mr. Sony“ verkaufte, während der selbstlosere Fujisawa den
Honda-Mythos schuf, in dem sein Partner im Rampenlicht stand.
Ähnlich wie Sony (oder Siemens) wurde Honda eine vom Ingenieur-
geist geprägte Gründung. Das Gründungsmotto der Firma für ihre Mitar-
beiter war:
„Seid originell. Verlasst euch nicht auf die Regierung. Arbeitet um der
Arbeit selbst willen“. Von Anfang an lehnte Honda das bei anderen japani-
schen Firmen beliebte Kopieren ausländischer Produkte und Prozesse ab
und bestand auf Eigenentwicklungen. Kopieren würde nur kurzfristige
Kostenvorteile bringen. Als langfristiger Erfahrungs- und Lerngewinn wür-
den sich die Erkenntnisse der eigenen F&E für das Unternehmen immer
auszahlen. Honda suchte auch nie um Regierungssubventionen an. Pensio-
nierte Ministerialbürokraten (amakudari) wurden nie, wie bei den Wett-
bewerbern üblich, als gutbezahlte Konsulenten (komon) angestellt. Die
Distanz zur Regierung hatte seinen Preis: Als Honda 1961 in die PKW-
Produktion einstieg, wurde dies vom Industrieministerium MITI vehement
mit dem Argument bekämpft, Japan habe schon zuviel Automobilherstel-
ler. 1962 stellte Honda dann unbeeindruckt den ersten Leichtlastkraftwa-
gen und den Prototyp eines Sportwagens der Öffentlichkeit vor.
Die Leitsätze für die Beschäftigten folgen den eklektischen Neigungen
der beiden autodidaktischen Gründer: „Folge Deinen Träumen und bleibe
jung im Herzen“, „Respektiere Theorien, neue Ideen und Zeit“, „Liebe
deine Arbeit und mach deinen Arbeitsplatz hell und positiv“, „Stelle einen
reibungslosen Arbeitsfluss sicher“ und: „Mache täglich eine ernsthafte
Anstrengung in der Forschung“34.
Um den Wettbewerb in den F&E-Abteilungen zu beleben, lässt Honda
verschiedene Forscherteams selbständig an Lösungen des gleichen Prob-
lems arbeiten. Sie werden dann regelmäßig über den Stand der Arbeiten
ihrer Kollegen unterrichtet.
Auch bei der Organisation der Fließbandarbeit kann die Bandgeschwin-
digkeit (free flow) an die Bedürfnisse der Arbeitsteams angepasst werden.
Damit konnte die Häufigkeit von defekten Fertigungen noch weiter ver-
mindert werden.
34
Setsuo Mito. The Honda Book of Management: A Leadership Philosophy for
High Industrial Success. London 1990.
Honda: Von der Tüftler-AG zum Weltkonzern 193
35
Robert Thomson. „Obituary: Soichiro Honda. A symbol of Japan’s industrial
rise“ Financial Times 6.8.1991.
36
Wieland Wagner „David aus Nippon“ Der Spiegel 27.2.2002.
37
Financial Times 14.7.2003.
38
Financial Times 30.9.2002.
194 Firmenportraits
Tatsächlich trat nach dem Tod Fujisawas (1988) und Hondas (1991)
durch das Konsensverfahren bedingt eine starke Bürokratisierung des Unter-
nehmens ein. Die ingenieurtechnischen Standards sanken und der unter-
nehmerische Schwung schwand. Shoichiro Irimajiri trat nach dem Scheitern
seiner Entbürokratisierungsbemühungen als Vorstandschef 1992 zurück.
Sein Nachfolger Nobuhiko Kawamoto bemühte sich den von Fujisawa
kunstvoll geschaffenen Hondamythos zu entzaubern39 und die Firma von
einem exzentrischen Nischenproduzenten zu einem effektiv organisierten
internationalen Massenhersteller umzubauen. Dank Hondas starker Firmen-
kultur wurde die Reform aus eigener Kraft ein voller Erfolg. Im Gegensatz
zu Nissan (Renault), Mazda (Ford) und Mitsubishi Motors (zeitweise Daim-
ler) blieb Honda unabhängig und erfolgreich. Der seit 2003 amtierende Vor-
standschef Takeo Fukui stammt als Ingenieur aus der Motorenentwicklung
und leitete lange die Rennsportmannschaft und das größte Stammwerk des
Konzerns in Hamamatsu. Er steht damit einerseits für ingenieurtechnische
Innovation, hatte andererseits als Präsident von Honda America in Ohio mit
Rekordgewinnen genügend Beweise seiner erfolgreichen Marketingfähig-
keiten erbracht40. Damit dürfte Honda als ideosynkratische Erfolgsgeschich-
te weiter den Stoff für zur Nachahmung empfohlener Fallstudien geben.
39
Maasaki Sato. The Honda Legend. After the Gurus Death. Tokyo 1996.
40
Stephan Finsterbusch. „Der Ingenieur geht in ein neues Rennen“ Frankfurter
Allgemeine 30.7.2003.
Nissan: Auferstanden aus Ruinen 195
Eine Zäsur in der Entwicklung erfuhr die Firma zweifellos durch den 2.
Weltkrieg. Die Produktion kam mit der Ausweitung des Kriegs auf den
pazifischen Raum zum Erliegen. Allerdings erholte sich Nissan sehr
schnell von den kriegsbedingten Rückschlägen und entwickelte in den
folgenden Jahren einige seiner legendärsten Modelle. Nach der Wieder-
aufnahme der Produktion der Datsun-PKWs im Jahre 1947 dauerte es noch
weitere 4 Jahre, bis anno 1951 ein Fahrzeug, das heute Kultstatus genießt,
gebaut wurde. Sämtliche aus der Herstellung von Militärfahrzeugen ge-
wonnenen Erfahrungen bündelte Nissan in einem herausragenden Off-
Roader – dem Patrol. Dieses Allradfahrzeug mit 6-Zylinder-Motor und
85 PS übertraf zu dieser Zeit sogar den amerikanischen Willis Jeep, welcher
bis dato als das Nonplusultra galt.
Das Wachstum des Unternehmens wurde in den weiteren Jahren stark
vorangetrieben, nur unterbrochen durch einen 100tägigen Streik zwi-
schen Arbeitnehmern und dem Management. Diese Auseinandersetzung
im Jahre 1953 war schwer zu lösen und fügte dem Unternehmen einigen
Schaden zu. Allerdings sind seit der Beilegung dieses schweren Kon-
flikts die Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern harmo-
nisch geblieben.
Den Sprung ins Bewusstsein der internationalen Automobilwelt schaffte
Nissan im Jahre 1958 durch den Titelgewinn bei dem „Mobilgas Trial a-
round Australia“. Mit dem Sieg eines Datsun 210 bei diesem prestigeträch-
tigen Wettbewerb steigerte Nissan das öffentliche Interesse an der Marke
erheblich. Unter dem Namen Datsun lief der Export ins Ausland an. Zwei
Jahre später etablierte sich Nissan durch die Gründung der Nissan Motor
Corporation USA (NMC) erstmals offiziell im Ausland, und zwar in Kali-
fornien. 1962 wurde der Export auf den europäischen Markt ausgeweitet.
Es dauerte weitere elf Jahre, bis die Nissan Motor Deutschland GmbH den
Vertrieb von Datsun-Fahrzeugen in Deutschland übernahm.
Während der Ölkrise von 1973 steigerte sich die Popularität speziell in
den USA. Diese entsprang der Spitzenposition, die der Nissan Sunny beim
Kraftstoffverbrauchtest der US-Umweltbehörde belegte.
Ein weiterer Meilenstein in der Geschichte von Nissan war die Ent-
scheidung, die Exportfahrzeuge ab dem Jahr 1983 nunmehr unter dem
Markennamen Nissan statt Datsun zu vertreiben. Dies wurde durch die
gestiegene Markenbekanntheit und das hohe Markenvertrauen möglich. In
den folgenden Jahren etablierte sich Nissan weltweit immer mehr und
konnte sich über eine Reihe von Auszeichnungen und Preisen freuen.
In den späten neunziger Jahren allerdings wendete sich das Blatt und
Nissan stand, wie im folgenden Abschnitt noch detaillierter erkennbar wird,
196 Firmenportraits
kurz vor der Insolvenz. Die spätere, schnelle Rettung wird ausschließlich
mit dem Namen Carlos Ghosn verbunden. Der Nissan Präsident und CEO
verhalf seiner Firma durch den NRP (Nissan Revival Plan) zu neuem Auf-
schwung. Auf diese Rettungsphase wird auf den folgenden Seiten eben-
falls gesondert eingegangen.
Die offiziellen Zahlen aus dem Jahre 2004 bestätigen Nissan wieder als
einen der profitabelsten Automobilhersteller der Welt. Mit einem Be-
triebsgewinn von 6,3 Mrd. Euro und einer Umsatzrendite von 11,1 % er-
rang es erneut eine starke Position auf dem Automobilmarkt.41
41
vgl. http://www.nissan.de/inside-nissan/history/index.html.
42
Bosse, Friederike (1997): Wirtschaftliche Strukturen. In: Bundeszentrale für
politische Bildung (Hrsg.): Informationen zur politischen Bildung: Themenheft
Japan (Heft 255 – Seiten 32-37) – Bonn.
Nissan: Auferstanden aus Ruinen 197
Die Wende für Nissan begann mit der Gründung der Allianz zwischen
Nissan und Renault am 27. März 1999. Die Allianz, einzigartig in ihrer
Form unter Mitwirkung von japanischen und französischen Firmen, ist
essentieller Baustein für den Wiederaufstieg der Nissan Motor Corp. in die
Weltliga der Spitzenspieler der Autoindustrie.
Die Allianz wird durch die gegenseitige Achtung der formalen Eigen-
ständigkeit der Unternehmen und ein gemeinsames Streben nach Optimie-
rung und Fortschritt bestimmt. Um die gemeinsamen Aktivitäten voranzu-
treiben, wurde bereits im Juni 1999 eine strategische Plattform ins Leben
berufen, die gemeinsame Forschungs- und Entwicklungsprojekte fördern
sollte und unter der mittlerweile der größte Teil der Entwicklungsarbeit
beider Firmen gemeinsam durchgeführt wird.
Ein weiteres Hauptaugenmerk wird auf den gemeinsamen Einkauf auf
dem Weltmarkt gelegt, um dort durch economies of scale und eine stärkere
Marktmacht Kostenvorteile generieren zu können.
43
Vgl. Japan Automobile Manufacturers Association: http://www.jama.org;
03.05.06.
44
Organisation Internationale des Constructeurs d’Automobiles (OICA): World
motor vehicle production by manufacturer. World ranking 2003; http://www.
oica.net/htdocs/Main.htm, 03.05.06.
198 Firmenportraits
44.3%
50% 50%
RENAULT-NISSAN bv
RENAULT
NISSAN
Carlos Goshn (President)
Patrick Blain, Patrick Pélata, Jean-Lous Ricaud,
Toshiguki Shiga, Tadao Takahasi, Mitsuhiko Yamashita
100%
Joint companies
RNPO (Renault-Nissan Purchasing Organization)
RNIS (Renault-Nissan Information Services)
15%
Abb. 9. Die Struktur der Allianz nach einer Grafik der Nissan Global Commu-
nications45
Die Allianz wird zu gleichen Teilen von Renault und Nissan getragen,
wobei Renault mit 44,3% einen de facto kontrollierenden Einfluss auf die
Nissan Motor Corp. erhält und Nissan im Gegenzug mit 15% an Renault
beteiligt ist. Renaults Teilübernahme beinhaltete eine dringend benötigte
Kapitalspritze von 5 Milliarden Euro für Nissan.
45
http://www.nissan-global.com/EN/COMPANY/ALLIANCE/BASICS/index.html
Nissan: Auferstanden aus Ruinen 199
lien geboren, und besitzt einen französischen Pass. In Japan eilte ihm der
Spitzname le cost cutter als energischer Sanierer für hoffnungslose Fälle
voraus. Ghosn musste bei Nissan jedoch mehr tun, als nur die Kosten zu
stutzen.
Nachdem Nissan ohne durchgreifende Änderungen und möglichst zeit-
nahe Erfolge akut von der Insolvenz bedroht war, kündigte Carlos Ghosn
noch im gleichen Jahr den NRP (Nissan Revival Plan) an.
46
http://www.businessweek.com/bwdaily/dnflash/oct2005/nf20051019_4845_db
039.htm?campaign_id=search.
200 Firmenportraits
47
http://www.personal.euv-frankfurt-o.de/de/personal/lehre/veranstaltungen/aktu-
ell/Japan/Working%20paper.pdf.
Nissan: Auferstanden aus Ruinen 201
48
http://www.nissan.de/inside-nissan/history/0e2e46b5db7f2010VgnVCM100000
c4300a0aRCRD.html.
202 Firmenportraits
Die Firma Yamaha wurde im Jahre 1897 von Torakusu Yamaha unter dem
Namen Nippon Gakki Co., Ltd. gegründet. Sie wurde ab der Jahrhundert-
wende unter dem Namen Yamaha weitergeführt. Torakusu Yamaha war
ursprünglich ein Experte auf dem Gebiet der Reparatur medizinischer Ge-
räte und kam durch Zufall (ein Harmonium in einer Grundschule fiel aus)
zu den Tasteninstrumenten. 1887 baute er sein erstes Harmonium und
nahm weitere Aufträge an. Anfang des 20. Jahrhunderts wurden auch qua-
litativ hochwertige Möbel produziert.
1930 eröffnet Yamaha das weltweit erste akustische Forschungszent-
rum. Ab dem Jahre 1953 begann Yamaha damit, seine Märkte zu erweitern
49
http://pressetext.at/pte.mc?pte=040329020.
50
http://www.lycos.de/startseite/auto/news_service/show_news.html,,i_265__p
_2/fünf-jahre-renault-nissan-allianz-feiert-jubilaeum.html.
51
http://www.handelsblatt.de/pshb/fn/relhbi/sfn/buildhbi/cn/GoArt!205910,300636,
959280/ grid_id/0/artpage/1/SH/0/depot/0/index.html.
52
Ebenda.
Yamaha: Motorräder und Musik 203
und begann mit dem Bau von Hi-Fi-Spielern und Motorrädern (1954).
Damals wurde auch die Yamaha Music School gegründet. 1958 begann die
weltweite Expansion mit einer Niederlassung in Mexiko. 1959 eröffneten
die Yamaha Technical Laboratories. Die erste Niederlassung in den USA
folgte im Jahre 1960. 1965 begann man mit dem Bau von Blasinstrumen-
ten und im Jahre 1966 wurde in Richtung Europa expandiert und die Ya-
maha Europe GmbH in Deutschland gegründet. 1975 wagte sich Yamaha
zum ersten Mal in den Sportbereich und begann mit der Produktion von
Tennisschlägern. Ende der 70er Jahre wurden diverse Ateliers für Blasin-
strumente eröffnet, z.B. in Tokyo und Hamburg. 1982 wurde das Portfolio
im Sportbereich weiter ausgedehnt und die ersten Yamaha-Golfschläger
produziert. Außerdem begann man mit der Herstellung von CD-Playern.
Das gesamte Know-how wurde 1984 verwandt, um den ersten Industriero-
boter zu bauen. Ein Jahr später eröffnete das Yamaha R&D-Studio in To-
kyo. Im Jahre 1987 feierte das Unternehmen sein 100-jähriges Bestehen
und ändert den Namen offiziell in „Yamaha Corporation“.
1989 bringt man den weltweit ersten CD-Recorder auf den Markt. 1996
folgen die ersten „Silent Session Drums“, Instrumente, die keinen Klang
verursachen und vom Benutzer über Kopfhörer gehört werden können. Im
Jahre 2000 wagt man sich auf den Handy-Ton-Markt und vertreibt Klin-
geltöne für Handys in Japan und Taiwan. In den Folgejahren wird weiter
an der Entwicklung von „Silent Instruments“ gearbeitet und man bringt die
Silent Viola und Silent Guitar auf den Markt. Ab 2003 zieht sich Yamaha
aus dem CD-R/RW Geschäft zurück.53
9.8.1 Firmenlogo
53
www.yamaha.com.
204 Firmenportraits
9.8.2 Portfolioübersicht
9.8.3 Tochterunternehmen
54
www.yamaha.com.
Yamaha: Motorräder und Musik 205
9.8.4 Markenpolitik
In Bezug auf die Markenpolitik ist Yamaha ein Paradebeispiel einer Unter-
nehmung, die eine konsequente Diversifikationsstrategie verfolgt hat. Dies
erscheint als typisch für japanische Unternehmen dieser Größe. Dabei weist
Yamahas Produktportfolio auch in vielen Produktgruppen starke Synergien
auf. So kann das Unternehmen von bestehenden Synergien und Wissens-
transfers, beispielsweise im Bereich Motorenbau (Yamaha Motor Corp.
Ltd.) oder auch im Bereich Präzisionsmaschinen (Yamaha Fine Technolo-
gies Co., Ltd.) profitieren. Die konsequente Ausnutzung von firmeninter-
nem Wissen und dessen Transfer zwischen den einzelnen Tochterfirmen
verschafft Yamaha einen starken strategischen Markenauftritt.
Am bemerkenswertesten an der Marke Yamaha ist, dass diese nur Pro-
dukte birgt, die in Zusammenhang mit hohem Anspruch und hoher Leistung,
stehen. Gerade im Bereich der Herstellung von Motorrädern zählt Yamaha
zu den führenden Anbietern auf dem Markt. Durch hohe Investitionen, die
das Unternehmen gerade für Forschung und Entwicklung, also Innovation,
tätigt, gelingt es dem Unternehmen stets zu den weltweit führenden Anbie-
tern der hergestellten Produkte zu gehören. Weiter engagiert sich das Unter-
nehmen stark im internationalen Rennsport (vor allem in verschiedenen Mo-
torradrennserien, sowie in einigen Powermotorbootserien) und versucht
hierbei, die stetig gewonnen Erkenntnisse aus dem Rennsport in die Produk-
tion von serienmäßigen Motoren umzusetzen.
Yamaha ist gleichzeitig einer der besten Anbieter von Musikinstrumenten
wie Klavieren, Streichinstrumenten und Schlagzeugen sowie von hochwer-
tigen elektronischen musikalischen Geräten und Aufnahmestudioanlagen.55
Gerade Klaviere und Schlagzeuginstrumente gehören zu den weltweit am
meisten verkauften Yamaha-Instrumenten. Auch in diesem Bereich setzt die
Unternehmung höchste Ansprüche in seine Produkte, welche sich durch ein
Höchstmaß an Leistungsfähigkeit und Klang auszeichnen. Aus diesem
Grund ist die Marke Yamaha auch international bei vielen Kreativen aus der
Musik-, Audio- oder Medienbranche eine bevorzugte Marke. So ist Yamaha
auch instrumentaler Ausrüster von vielen internationalen Stars aus der
Musikbranche. Bis heute ist es Yamaha gelungen, über 6 Millionen seiner
hochwertigen Klaviere und Pianos zu verkaufen.
In seiner konsequenten Markenpolitik wurde Yamaha von Genichi Ka-
wakami geprägt. Sein Vater hatte Yamaha 1927 als Präsident geführt. Ge-
55
http://www.yamaha-europe.com/yamaha_europe/switzerland/service/020_com-
pany/010KANDO_YAMAHA_NEWS/Titelstory_Wie_Yamaha_die_Welt_er-
oberte.pdf.
206 Firmenportraits
nichi Kawakami leitete Yamaha drei Jahrzehnte lang. Nachdem sein Sohn
Hiromi 1983 die Leitung übernahm, führte Genichi bis zu seinem Tod
2002 weiter als ungekrönter „Kaiser“ von Yamaha weiter das Kommando
aus dem Hintergrund56. Er war von der Idee besessen, bei gleicher Klang-
qualität für seine Yamahas den Status eines Steinway zu erreichen. Dies
Ziel bliebt unerreicht, doch gelang es stattdessen Ende der 80er Jahre
Weltmarktführer für Musikinstrumente zu werden und in Japan trotz der
Enge der Wohnungen und der nötigen Schallisolierungen einen substan-
tiellen Markt mit einem Marktanteil von 55% für Yamaha aufzubauen.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass das Unternehmen
schon seit seiner Gründung eine sehr durchdachte, gut umgesetzte und
exzellent kontrollierte Markenstrategie, basierend auf einer weitgehenden
Diversifikationsstrategie, betreibt. Selbstverständlich hat auch Yamaha
stärkere und schwächere Unternehmensbereiche. Insgesamt gelingt es aber
dem Unternehmen, gute Zahlen zu erwirtschaften und seine Markenpolitik
stetig nach dem Markt auszurichten.
56
Obituary: Genichi Kawakami. The Economist 8.6.2002.
57
http://www.fronius.com/weld.vision/01_2003/deutsch/der_staerkste_gewinnt_
ohne_ zu_kaempfen.htm.
Yamaha: Motorräder und Musik 207
58
www.faz.net.
59
www.faz.net.
208 Firmenportraits
1,5 Prozent mehr als im Jahr 2005. Der Umsatz dürfte um 5,4 Prozent an-
ziehen auf 1,45 Billionen. Yen. Der Betriebsgewinn wird voraussichtlich
um 11 Prozent auf 115 Milliarden Yen klettern.
Mit Kurs-Gewinnverhältnissen von 12,9 und 12,1 auf Basis der Ge-
winnschätzungen für das laufende und das kommende Geschäftjahr ist die
Aktie noch sehr vernünftig bewertet.
Die Kursentwicklung lässt sich auch logisch erklären. Denn das Unter-
nehmen konnte den Umsatz in den vergangenen zehn Jahren im Trend
immer weiter steigern. In der zweiten Hälfte von 2005 hat sich offensicht-
lich auch die Profitabilität deutlich verbessert. Denn die Gewinne zogen
überdurchschnittlich an.
2004 waren vor allem in Südostasien die Zweiräder des Unternehmens
gefragt, während in Europa der Umsatz mit Außenbordmotoren anzog. Die
Unternehmung, zu dessen größten Konkurrenten Honda Motor und Suzuki
Motor zählen, will vor allem in Südostasien, Nordamerika und Europa
weiter wachsen. Dadurch soll der Anteil am Weltmarkt von 10 Prozent
vom Jahr 2004 bis 2007 auf 12 Prozent ausgebaut werden. Yamaha ver-
kaufte in den ersten sechs Monaten des Geschäftsjahres 2006 1,8 Millio-
nen Einheiten, 1,2 Millionen oder 67 Prozent davon in Asien außerhalb
Japans. In Japan konnten 86.000 und in den Vereinigten Staaten 114.000
Maschinen verkauft werden. Das allein zeigen schon die Relationen. Ex-
perten rechnen vor allem in Staaten wie Indonesien, Thailand, Indien und
auch in Vietnam mit stark anziehender Nachfrage.
Die Nummer zwei der Motorradhersteller weltweit begründet die gute
Entwicklung mit der zunehmenden Nachfrage in Asien. Um ein sich abfla-
chendes Wachstum in Japan und schwieriger werdende Marktbedingungen
in Europa zu kompensieren, expandiert das Unternehmen in den Ländern
Südostasiens.
Zusammenfassend erscheinen die gute Unternehmensführung und die
stetige Gewinnsteigerung Yamahas nachhaltig. Jedoch rechnen Experten
ab 2006 mit einer möglichen Relativierung des Gewinns. Diese Probleme
führen sie auf die Steigerung der Produktionskosten auf Grund steigender
Rohstoffpreise und auf den immer intensiver werdenden Wettbewerb zu-
rück. Denn auch Konkurrenten wie Honda versuchen, vom sich abzeich-
nenden Boom bei Motorrädern zu profitieren und weiten ihre Produktions-
kapazitäten aus. Dies könnte laut Analysten zu einer Situation führen, in
der es zu einem Preiswettbewerb zu Lasten der Margen kommt und folg-
lich die Gewinne aller Marktteilnehmer sinken könnten.60
60
www.manager-magazin.de.
Nomura: Das dritte Leben eines Wertpapierhauses 209
Skandale und eine schlechte Presse sind nichts Neues für Nomuras hart-
gesottene Broker. Seit Jahrzehnten fangen sie ihre Laufbahnen mit dem
Klinkenputzen an, um bei Hausbesuchen Kaufaufträge für Wertpapiere
zu ergattern und immer höhere Zielvorgaben zu erreichen. In diesem sehr
unjapanischen Überlebenskampf erreichen nur die härtesten Verkäufer
die Unternehmensspitze. Die Krieger von Nomura schafften es selbst an
der Wall Street, die wahrlich kein Platz für Zartbesaitete ist, einen nach-
haltig schlechten Eindruck zu hinterlassen. Das will einiges heißen. Des-
halb sollte es wenig überraschen, dass Nomuras Aufstieg zu Japans größ-
tem Wertpapierhaus von jeder Menge an Skandalen gepflastert ist, die
von Vorwürfen des Insiderhandels, der Unterstützung von Erpressungen
(greenmail), dem Umgang mit Gangstern und übelbeleumundeten Politi-
kern61 bis hin zum Plündern von Unternehmen im postkommunistischen
Tschechien reichen.
Tokushichi Nomura, der Gründer des Hause Nomura, wurde 1850 als
unehelicher Sohn eines der führenden Samurai von Osaka, dem Herrn der
Burg Osaka, geboren. Im Alter von 10 Jahren wurde er Lehrling bei einem
Geldwechsler und Reisbroker in Osaka, das zu diesem Zeitpunkt Japans
führendes Wirtschafts- und Handelszentrum war. Seine Branche galt zwar
als außerordentlich lukrativ, doch in der besseren Gesellschaft als anrü-
chig. Nach seiner Adoption durch seinen Lehrherrn erbte der junge Nomu-
ra 1872 das Geschäft, das er in Nomura Shoten umbenannte. 1878 wurde
er als Händler an der Börse von Osaka zugelassen. Damals – ebenso wie
noch 100 Jahre später – dienten Bankkredite und Anleihen als die Hauptfi-
nanzierung der Unternehmen. Der Aktienmarkt dagegen wurde als Kasino
tricksender Reishändler angesehen.
Tokushichi Senior selbst blieb dem Aktienmarkt als bessere Spielhölle
weitgehend fern. Sein 1878 geborener Sohn hatte weniger Hemmungen. Er
begann 1898 als Lehrling bei Yasuhiro Shoten, einem neuen Broker, der
von seinem Schwager gegründet worden war. Damals war gerade der Höhe-
punkt des Aktienbooms nach dem siegreichen ersten Sino-Japanischen
Krieg erreicht. Für den jungen Tokushichi war der Reiz schnellen Reich-
tums bald überwältigend. Er nahm 500 Yen, damals ein kleines Vermögen,
aus dem Safe der Firma und kaufte hochspekulative Aktien. Prompt verlor
er alles, auch seine Lehrstelle.
61
Al Alletzhauser. The House of Nomura. London 1990. S. 272.
210 Firmenportraits
Er verkaufte dann Aktien für die Firma seines Vaters, indem er Kunden
in Osaka mit dem Fahrrad besuchte und ihnen brandneue Nachrichten von
der Börse berichtete. Leider stellten sich einige von ihnen als falsch her-
aus, und Tokushichi Senior musste die wütenden Kunden seines Sohnes
entschädigen. Nichtsdestotrotz sollten aggressive Verkaufstaktiken für
Nomura im nächsten Jahrhundert zum Markenzeichen werden. Nachdem
er drei Jahre seines Wehrdienstes bei der Pioniertruppe geleistet hatte,
wurde Tokushichi schließlich 1902 diszipliniert entlassen und wurde als
Prokurist in der Firma seines Vaters für seine Leidenschaft, die Aktienana-
lyse und den Effektenhandel, zuständig. Sein Bruder Jitsusaburo handelte
mit Kupfer, Silber und Gold. Nach ihrer Einschätzung hatte der Geldwech-
sel, der mehr und mehr von Banken geleistet wurde, keine Zukunft für die
Firma. Während des Russisch-Japanischen Kriegs von 1904/05, der einen
neuen Aktienboom auslöste, überredete Tokushichi Junior seinen skepti-
schen, oft betrunkenen Vater, Nomuras Umwandlung in einen Aktienbro-
ker zuzustimmen. Nomura spezialisierte sich bald darauf, Insiderinforma-
tionen von Mitsui Bussan, dem Handelsarm des Mitsui Zaibatsu und von
Nippon Yusen, seiner Schifffahrtstochter, zu erhalten. Dies half Nomuras
neuer Forschungsabteilung sichere Gewinner vorherzusagen. Während der
Aktienkrise von 1907 verbreitete sich der Ruhm von Nomuras analyti-
schen Gaben landesweit. Im Ersten Weltkrieg sah Nomura korrekt eine
Unmenge alliierter Rüstungskäufe in Japan voraus und investierte massiv
in japanische Schifffahrtslinien. 1918 wurde die Osaka Nomura Bank ge-
gründet, die als Daiwa Bank bis 1995 zu einiger internationaler Größe
wuchs (und seither als Teil der Resona Bank halbverstaatlicht ums Überle-
ben kämpft). Die Firma kaufte 1917 auch eine Gummiplantage auf Borneo
und errichtete Verkaufsbüros von Hanoi bis Singapur.
1922 gründete Tokushichi Jr. eine Holding im Familienbesitz, Nomura
Gomei, um im Stil eines Zaibatsu die Bank, die Handelsfirma Nomura
East Indies und andere Beteiligungen zu kontrollieren. Nach dem Wall-
street Crash von 1927 verbreitete sich die Bankenpanik auch nach Japan
und führte dort zum Zusammenbruch des überschuldeten Suzuki Zaibatsu.
Als schließlich wegen grundloser Gerüchte auch seine Osaka Nomura
Bank von einem run bedroht wurde, verflüssigte Tokushichi einen Teil
seines persönlichen Besitzes, um mit seinem Bargeld seine Bankkunden zu
befriedigen, bis sich die Situation wieder beruhigt hatte. In Folge der Krise
nutzte Nomura, ebenso wie Mitsubishi und Mitsui, die Gunst der Stunde,
um den Besitz schwer angeschlagener Zaibatsu wie die Bergwerke, Eisen-
bahnen, Wälder und Versicherungen des Fujita Zaibatsu, preisgünstig zu
erwerben. Mit den Einlagen seiner Bank kaufte er ihre daniederliegenden
Nomura: Das dritte Leben eines Wertpapierhauses 211
Aktien auf, die er nach ihrem Kursanstieg wieder als Sicherheiten für Kre-
dite zu weiteren Käufen nutzte.
In den Zwischenkriegsjahren war die japanische Wirtschaft bekanntlich
von den großen Zaibatsu wie Mitsui, Mitsubishi, Sumitomo und Yasuda
beherrscht. Da ihr Geld älteren Ursprungs war, sahen sie auf die neurei-
chen Parvenüs wie Nomura herab, die ihr Vermögen erst während der Ak-
tienspekulationen des Ersten Weltkriegs verdient hatten. Dennoch wurde
Tokushichi 1928 im Alter von 50 Jahren von Kaiser Hirohito in das Ober-
haus ernannt, vermutlich weil er einer der besten Steuerzahler Japans war.
Während die meisten Zaibatsu sehr interessiert daran waren, in die japa-
nischen Eroberungen in China zu investieren und davon zu profitieren, war
Nomura gegen die militärische Expansion, behielt jedoch tunlichst ein
niedriges Profil. Stattdessen zog es Nomura East Indies eher zu tropischen
Produkten.
Im Prinzip aber blieb Nomura sehr kansai-zentrisch, in sicherer Entfer-
nung von den Korridoren der Macht in Kanto. Sogar heute haben die
Nachfolgerfirmen der Teilunternehmen des einstigen Nomura zaibatsu –
Resona Bank, Cosmo Securities, Osaka Gas, Nomura Construction und
Shikobo – ihre Zentrale in Osaka.
Wie in vielen Elitefamilien mit ihren schellen, abwechslungsreichen Le-
bensstilen, kam es oft zu tragischen Unfällen. So starb Bruder Jitsusaburo
1919 an einer Lungenentzündung. Tokushichis zweiter Sohn wurde bei
einem jener raren Zusammenstöße zwischen Auto und Eisenbahn getötet.
Zusammen mit Daisuke Kuhara, dem Erben des Nissan Zaibatsu, wurden
sie 1928 an einem Bahnübergang im Wagen von einem Zug erfasst. Zwei
Jahre später wurde Jitsusaburos ältester Sohn beim Schifahren in den japa-
nischen Alpen von einer Lawine getötet. Yoshitaro, sein ältester und einzig
überlebender Sohn, hatte eher kulturelle Neigungen und gab sich nach
einem einjährigen Studium in Großbritannien vollzeitlich den kultivierten
Freizeitvertreiben der englischen Oberschicht hin. Er richtete den Nomura
Club ein, in dem Zaibatsu-Direktoren die Sitten und Gebräuche eines der
besseren Londoner Clubs in Tokyo nachleben konnten.
Obwohl alle überlebenden und fähigen männlichen Familienmitglieder
in Spitzenfunktionen befördert worden waren, musste Nomura schon in
der Vorkriegszeit sich zunehmend auf angestellte Manager verlassen. Die
beiden einflussreichsten waren Tsunao Okumura, ein freundlicher Lebens-
künstler, und Minoru Segawa, ein harter, ergebnisorientierter Choleriker.
Beide bauten Nomura Securities nach dem Krieg wieder auf und führten
ihren Wachstumskurs bis in die 70er Jahre an.
212 Firmenportraits
Während der Kriegs selbst verdiente Nomura mit dem Verkauf von
Kriegsanleihen. Es führte auch anfänglich erfolgreiche Aktienfonds ein.
Nomuras Gummi- und Palmölplantagen und -raffinerien in Borneo und
Sumatra mussten nach den unwirtschaftlichen Vorgaben militärischer Auf-
träge betrieben werden. Während des Kriegs brachten sie keine finanziel-
len Erträge. Danach wurden sie durch alliierte Beschlagnahmungen dauer-
haft verloren.
Japans Militärplaner waren von der Idee von Skalenerträgen beherrscht
und wollten in der Kriegswirtschaft zwangsweise Fusionen in allen Wirt-
schaftsektoren durchsetzen. Nomura Securities konnte seine Unabhängig-
keit nur knapp verteidigen. Nach der kriegsentscheidenden Seeschlacht
von Midway 1942 sah die Forschungsabteilung von Nomura in aller Ver-
traulichkeit Japans Niederlage vorher und die Firma begann in aller Heim-
lichkeit, sich auf die Eventualitäten dieser Katastrophe vorzubereiten, un-
ter anderem durch den diskreten Verkauf entsprechend gefährdeter Aktien.
Der kriegsbedingte Stress begann auch bei privilegierten Zivilisten seine
Opfer zu fordern. Im Januar 1945 starb Tokushichi an einem Herzinfarkt.
Nachdem sein Haus in Kobe bei einem Bombenangriff zerstört worden
war, starb sechs Monate später auch sein ältester Sohn nach längerer
Krankheit. Darauf wurde Fumihide Nomura, dessen 12jähriger Sohn, für
einige Monate nomineller Chef des Zaibatsu und des Familienklans. Als
der Krieg endete, kontrollierte sein Zaibatsu Japans achtgrößte Bank (No-
mura Bank). Nomura Life Insurance war unter den Lebensversicherern auf
Platz 5, Nomura Trust and Banking auf Platz 6. Nomura Securities war der
größte Fundmanager, Osaka Gas einer der größten Energieversorger.
Im festen Kinderglauben an die eigene Propaganda, die das japanische
Großkapital und die Großgrundbesitzer – eine Variation des KPD-Themas
„Schlotbarone und Krautjunker“ –, für den Ausbruch des Pazifikkrieges
und seine Kriegsverbrechen verantwortlich machte, befahlen die US Be-
satzer, wie erwähnt, die Entflechtung und Enteignung der 14 führenden
Zaibatsu, sowie die Säuberung der Eignerfamilien aus allen Führungsposi-
tionen und die Beschlagnahme ihres persönlichen Besitzes. Wegen der
Komplexität der Zaibatsu-Strukturen und ihres versteckten Kapitals, wurde
die Umsetzung jener vulgärmarxistischen Instruktion den Japanern selbst
überlassen. So gelang es den meisten Zaibatsu-Familien z.B. ihren Wald-
besitz zu behalten, den die US Offiziere für wertlos hielten.
Bald begannen die früheren Zaibatsu-Firmen, gegenseitig die Aktien
aufzukaufen, um sich gegen Übernahmen zu schützen und ihre Zusammen-
arbeit in einem Gruppen-System (Keiretsu-System) der Überkreuzbeteili-
gungen zu erneuern, das für Japans zeitgenössischen Kapitalismus so
Nomura: Das dritte Leben eines Wertpapierhauses 213
prägend werden sollte. Die Fragmente des persönlichen Besitzes der Nomu-
ra wurden heimlich in Nomura Construction gesammelt. Dennoch gelang
es nicht, wie im Fall von Sumitomo oder Mitsubishi, den gesamten ehe-
maligen Nomura Zaibatsu wieder als Keiretsu zu vereinen. Daiwa Bank
wurde von einer auf ihrer Unabhängigkeit bestehenden Leitung kontrol-
liert. Sie richtete ihren eigenen Banken-Keiretsu ein, der bis in die 90er
Jahre Bestand haben sollte. Auch Osaka Gas und Nomura Life (jetzt: Tokyo
Mutual Life Insurance) gingen eigene Wege.
Für die Rekonstruktion von Nomura Securities waren die politischen
Kontakte des neuen Vorstandes, Tsunao Okumura (1948-59), hilfreich, vor
allem seine Freundschaft und Sonderbehandlung von Premier Shigeru
Yoshida und von Finanzminister (und späteren Premier) Hayato Ikeda,
die von Okumura selbst in Zeiten der rationierten Knappheiten zu Geisha-
parties in Kyoto und zu Flaschen von edlem Whisky in Tokyo eingeladen
wurden. Mutmaßlich noch wichtiger hat er ihnen ihre Wahlkämpfe finan-
zieren helfen. Das Ergebnis war ein unbesteuerter und ziemlich unregulier-
ter Markt für Wertpapiere in Japan, in dem die einheimischen Wertpapier-
häuser gut leben konnten, oft mit Hilfe von Insiderwissen und auf Kosten
ihrer Kunden.
1953 konnte Nomura sein 1936 in New York geschlossenes Büro wieder
eröffnen. Es konnte bald Toshiba-Aktien, die General Electric abstoßen
wollte, in freundliche japanische Hände platzieren. Ebenso ein Aktien-
paket der Mitsui Bank. Ansonsten hatte Nomuras Brückenkopf an der
Wallstreet in jenen frühen Jahren Schwierigkeiten schwarze Zahlen zu
schreiben. Amerikanische Angestellte verließen die Firma bald, nachdem
sie entdeckten, dass Karrierechancen für Ausländer bei Nomura ziemlich
begrenzt waren.
1982 begann Nomura ausländische MBA von prestigiösen amerikani-
schen und britischen Business Schools für ihre Managementlaufbahn (sogo
shoku) einzustellen. Doch anstelle ihnen verantwortliche Jungmanagerauf-
gaben zu geben, wie dies jungdynamische MBAs gerne erwarten, wurden
sie statt dessen auf japanische Art in Nomuras abgewohnten Wohnheimen
in Funabashi, einer industriellen Vorstadt im Norden Tokyos eingesperrt,
und der üblichen Mischung von Militärlager und Vorlesungen unterzogen.
Bald begann der hoffnungsvolle Führungsnachwuchs zu rebellieren, sah
seinen Aufenthalt in Japan als bezahlten Urlaub an und funktionierte sein
Wohnheim zum Partykeller um. Auch diszipliniertere spätere Generationen
verließen Nomura bald.
Wie in den Tagen von Tokushichi Nomura Senior vor 100 Jahren wird
der Aktienverkauf an Endkunden in Japan durch Klinkenputzen und
214 Firmenportraits
62
Ibid., S. 206.
216 Firmenportraits
Noch schlimmer wurde 1985 aktenkundig, dass Nomura nicht zum ers-
ten-, und sicher nicht zum letzten Mal erpresserische sokaiya bezahlt hatte.
Politisches Wohlwollen wurde (und wird) üblicherweise gekauft, indem
auf Rechnung befreundeter Politiker Aktienpakete gekauft werden, die
dann durch Kaufempfehlungen hochgejubelt und schnell genug verkauft
werden, bevor das Strohfeuer wieder erlischt. Während des Sommers 1991
wurde öffentlich, dass Nomura während des beginnenden Kurseinbruches
49 Firmenkunden, darunter etliche Unterweltfirmen, für Kursverluste mit
Beträgen in Höhe von 220 Millionen US-Dollar entschädigt hatte63. Als
Sühne traten Aufsichtsratschef Setsuya Tabuchi (Nomura-Vorstand von
1978-85) und Vorstand Yoshihara Tabuchi (1985-91) zurück. Setsuya Ta-
buchi musste auch seinen Vizevorsitz im Wirtschaftsverband Keidanren
räumen64. Der neue Nomura-Vorstand Hideo Sakamaki gelobte feierlich,
Nomura würde sich ändern und hinfort aufhören, das organisierte Verbre-
chen zu sponsern.
Sechs Jahre später im Mai 1997 wurde er verhaftet, weil er fast seit dem
Tag seiner Amtsübernahme genau jene verbotene Praxis fortgesetzt hatte.
Ryuichi Koike, ein einflussreicher sokaiya, hatte dank eines großzügigen
Großkredits von der damals größten Bank Japans und der Welt, der Daii-
chi Kangyo Bank (DKB), Aktienpakete der führenden Wertpapierhäuser
erworben. Er kündigte Sakamaki an, als Großaktionär werde er die nächste
Jahrsversammlung durch unangenehme Fragen stören, ein alptraumartiger
Gesichtsverlust für die hasenfüßige Chefetage. Im April 1992 trafen sich
die beiden persönlich. Als Ergebnis verlief die Hauptversammlung in
wundersamer Harmonie. Daraufhin zahlte Nomura 3 Millionen US-Dollar
auf ein Sonderkonto von Koike65.
Zwei Jahre später gab es einen erneuten Rückfall. Nomura war gezwun-
gen, seinen ersten Jahresverlust zu verkünden. Gleichzeitig wollte man die
beiden Tabuchi rehabilitieren, indem man sie in den Aufsichtsrat kooptier-
te. Koike wurden daraufhin 400.000 US-Dollar gezahlt, damit er mit sei-
nen Leuten eine ruhige Hauptversammlung gewährleistete. Als Nomuras
Rückfall und Sakamakis Verhaftung (er erhielt später eine Bewährungs-
strafe) bekannt wurden, verließ die Kundschaft im In- wie Ausland das
anrüchige Wertpapierhaus in Scharen. „Als Reaktion ist das kaum überra-
63
Japan Times 18.7.1991.
64
Japan Times 2.7.1991.
65
Kenji Hanyu. TBS News/Foreign Press Centre 16.6.1997.
Nomura: Das dritte Leben eines Wertpapierhauses 217
schend, wenn man herausfindet, dass der eigene Broker seinen Gewinn mit
Gangstern teilt“, wurde ein Investmentmanager in Hongkong zitiert66.
Gleichzeitig begannen amerikanische und europäische Wettbewerber in
Nomuras ureigenstes Territorium einzudringen, so beim Verkauf der Nip-
pon Credit Bank, des Aktiengangs von NTT Docomo, und etlicher Unter-
nehmensübernahmen in Japan67. Der Zugriff der Ausländer auf Japans 10
Trillionen US-Dollar privater Ersparnisse und 2 Trillionen US-Dollar Pen-
sionskassen schien in Reichweite. Zu diesem Zweck kaufte etwa Merill
Lynch 1998 die zusammengebrochenen Yamaichi Securities und ihr
Netzwerk an Zweigstellen. Damals verkündete die Daiwa Bank, Nomuras
Stiefschwester, reumütig, sie würde alle internationalen Operationen ein-
stellen und wieder zu ihrer angestammten Rolle als Regionalbank in Kan-
sai zurückkehren68. Sie hatte vorher Finanzgeschichte gemacht, als ein
unkontrollierter Währungshändler, Toshihide Iguchi, 1,1 Milliarden US-
Dollar an ihrer New Yorker Filiale verlor. Wegen des Versuchs, die Affai-
re zu vertuschen (auch dies ein instinktiver japanischer Managementre-
flex), musste Daiwa (die jetzt als Teil der Resona Bank verschwunden ist)
der US-Finanzaufsicht 340 Millionen US-Dollar Strafe zahlen.
In der Zwischenzeit kaufte Nomura im März 1998 billig eine Aktien-
mehrheit in der großen, aber schlecht geführten Investitions- und Postbank
(IPB) in Prag. Man hatte den Tschechen versprochen, dass man die Bank
restrukturieren, die Angestellten schulen und die unbedienten Schulden
aussortieren und entsorgen würde. In Wahrheit war Nomura nur an den
umfangreichen industriellen Beteiligungen der IPB interessiert: unter ande-
rem die großen Radegast- und Pilsener-Urquell-Brauereien sowie Luxus-
hotels in Prag, die es nach Art einer feindlichen Übernahme teuer einzeln
verkaufte, während es die unterkapitalisierte Bank gegen die Wand laufen
ließ69. Nach einem massiven run von Einlegern auf die Bank renationali-
sierte der tschechische Staat die IPB und beendete sein teures Abenteuer
mit Nomura. Die Financial Times nannte Nomuras Verhalten, als „unter
den Standards, die man von einer Großbank erwartet“70.
Als Gerüchte über eine ausländische Übernahme Nomuras immer lauter
wurden, wählte Nomura als Vorstand den damals 51jährigen Junichi Ujiie,
66
Asiaweek 21.3.1997.
67
„The Eclipse of Nomura“ Financial Times 1.7.1999.
68
BBC News 25.10.1998.
69
Ausführlicher in: Albrecht Rothacher. Im wilden Osten. Hamburg 2002. S. 209.
70
Financial Times 22.6.2000.
218 Firmenportraits
der an der Universität Chicago promoviert hatte und den Großteil seines
Arbeitslebens bei Nomura in New York und in Zürich verbracht hatte –
und damit kein typischer Führungsnachwuchs war. Zunächst als machtlo-
ser Intellektueller abgeschrieben, schaffte er den Umschwung gegen alle
Widrigkeiten. Die aggressive Unternehmenskultur des Geschäfts um jeden
Preis wurde modifiziert. Sokaiya-verdächtige Verbindungen und Konten
wurden beendet. Langsam kehrte öffentliches Vertrauen zurück. Bei Un-
ternehmenskäufen und -übernahmen, als Investmentbanker und bei Akti-
enfonds ist Nomura in Japan wieder Marktführer, zumal ausländische
Wettbewerber sich wieder zurückziehen. Auch seine Haustürgeschäfte
wurden wieder profitabel, da die japanischen Sparer in ihrer Verzweiflung
über den in Japan gebotenen Nullzins die von Nomura angebotenen US-
amerikanischen und australischen Anleihen zu zeichnen begannen71. Als
Ergebnis konnte Ujiies Nachfolger Nobuyuki Kaga wieder internationale
Expansionspläne schmieden72.
Nomuras aggressiver Aufstieg aus bescheidenen Verhältnissen, sein
zweimaliger Hochmut und Fall 1945 und 1997 und sein geläuterter Wie-
deraufstieg seither, hat sicher die Elemente einer moralischen Parabel.
Diese hilft aber auch die Stärken und Schwächen des japanischen Mana-
gements in Siegen und Niederlagen deutlich zu machen.
Kikkoman ist heute der größte Sojasoßenhersteller der Welt, der mit
6500 Mitarbeitern einen Jahresumsatz von 3 Milliarden US-Dollar in 100
Ländern erwirtschaftet. Es ist damit die erfolgreichste unter den wenigen
japanischen Firmen des Nahrungs- und Getränkesektors, die international
in nennenswertem Maße aktiv sind. Es gelang Kikkoman dabei, seine
Sojasoßen zu Würzmitteln der Weltküche zu machen, die über die tradi-
tionellen Anwendungen in chinesischen und japanischen Gerichten weit
hinausgehen.
Der Gründungsmythos von Kikkoman besagt, dass die Herstellung der
Soße in Noda am Edo-Fluss nahe Tokyo begonnen wurde, als Shige Maki,
die tüchtige Urmutter des Klans, nach einem knappen Entkommen aus der
belagerten Burg von Osaka in den Bürgerkriegswirren des 17. Jahrhun-
derts sich dort als Heimatvertriebene ansiedelte. In jedem Fall ist gut do-
71
Businessweek 7.4.2003.
72
Bloomberg 31.7.2003.
Kikkoman: Soßen für die Welt 219
73
Siehe: Mark W. Fruin. Kikkoman: Company, Clan and Community. Cambridge,
Mass. 1993.
220 Firmenportraits
verarbeitet und unter dem Markennamen Dynasty vertreibt. Seit 1963 ist
Kikkoman Importagent für Del Monte in Japan. 1990 erwarb es die Ver-
triebsrechte für alle Del-Monte-Produkte im ganzen Ostasien-Pazifik-Raum
(außer den Philippinen). Damit wurde Kikkoman stark bei Fruchtsäften,
Ananas- und Pfirsichkonserven, Tomatenketchup und Rosinen. Im Gegen-
satz zu vielen japanischen Firmen blieben Kikkomans Diversifikationen auf
den eigenen Sektor, Nahrungsmittel und Getränke, beschränkt. Seine inter-
nationale Expansion erfolgte graduell während etlicher Jahrzehnte und ver-
mied damit das teuere Lehrgeld vieler schlecht vorbereiteter Mitbewerber in
den Boomjahren vor 1992, die ziel- und sinnlos überteuerte Auslandsunter-
nehmen aufkauften und unverbunden zu sammeln begannen74.
Als die Spekulationsblase schließlich platzte, überlebte Kikkoman unbe-
schadet, hatte es doch ein frühes Warnsignal erleiden müssen, aus dem die
Firma jedoch rechtzeitig die richtigen Konsequenzen zog. Mitte der 80er
Jahre verkaufte es in Japan seine Weinmarke „Mann’s Wine“ als teuren
Qualitätswein in der sicheren und nicht ganz unbegründeten Erwartung,
dass es mit den Weinkenntnissen seiner zahlungskräftigen Kundschaft
nicht allzuweit her war. Unglücklicherweise wurde damals das Frost-
schutzmittel Glykol in vermeintlich edlen österreichischen Spätlesen
entdeckt, die mit Gänsewein gewinnträchtig gestreckt worden waren.
Peinlicherweise fand sich Glykol dann auch in den teuren Mann’s Wei-
nen, die sich dann als das herausstellten, was sie wirklich waren: billige
Mischungen vom importierten Fassweinen, die bei dubiosen Händlern
zusammengekauft, in Japan gesüßt in aufwendig etikettierte Flaschen
abgefüllt worden waren.
Darauf führte Kikkoman (ähnlich wie die Österreicher) strenge Quali-
tätskontrollen ein, ließ eine Reihe von Mogi-Managern zur Buße zurück-
treten (was die Verjüngung der Firmenleitung erleichterte) und baute
schließlich Mann’s wieder zu einem trinkbaren anständigen Tafelwein auf.
Aktuell gilt als strategische Orientierung das Wort des Vorstandes Yu-
zaboru Mogi: „Wir wollen unsere weltweite Expansion durch neue Ferti-
gungsstätten stärken, die uns erlauben unsere Produkte effizienter zu den
Kunden zu bringen, während wir weitere strategisch vielversprechende
Märkte suchen“75.
74
Albrecht Rothacher „Japanese Expansion: Threat or Benefit“ in: Food Europe.
Sommer 1992, 18-22; und ders. „Japan’s Food Industry – International Fare“
in: Journal (American Chamber of Commerce in Japan) Februar 1991, 15-6.
75
http://www.kikkoman.com/company/com.message.html.
Hello Kitty: Das reiche Kätzchen von Sanrio 223
Hello Kitty ist sicher der ultimative kommerzielle Siegeszug des Kindi-
schen, der in diesem Fall auch in Japan seinen Ursprung hat. Jenes mund-
lose, gerundete, in Pastellfarben gehaltene Katzensymbol ist nicht nur in
Japan selbst ein Megaerfolg. Es hat sich als Symbol der femininen Kauf-
kultur über ganz Ostasien und für die präpubertäre Weiblichkeit in Spu-
renelementen auch nach Europa und Nordamerika verbreitet. Von 1 Milli-
arde US-Dollar Jahresumsatz der Sanrio Corporation erwirtschaftet Hello
Kitty die Hälfte. Die andere Hälfte müssen sich 400 ebenso synthetische
Figuren wie „My Melody“, „Baby Cinnamon“, „Twin Star“ etc. teilen.
Hello Kitty ist ein Kätzchen ohne Maul, ist „klein, sanft, infantil, an-
schmiegsam, rund, asexuell, stumm, unsicher, hilflos und verwirrt“76. Das
Katzentier ist eine reine Projektion. Es wird keine Geschichte oder Bot-
schaft mitgeliefert. Als Teil einer „Kultur des Niedlichen“ (kawai bunka)
liegt seine Attraktion ausschließlich im Auge des Betrachters: Eine Prin-
zessin der Reinheit für die Jungmädchen, eine unschuldige Spielfigur für
die Teenagerin, eine Kindheitserinnerung für junge Frauen oder einfach
nett aufgemachter Verpackungsmüll für den Rest der Menschheit.
Im Gegensatz zu amerikanischen Zeichentrickfiguren haben die Sanrio-
Gestalten subtilere Formen, rundere Gliedmaßen und sanftere Farben. Der
76
Ken Belson und Brian Bremner. Hello Kitty. The Remarkable Story of Sanrio
and the Billion Dollar Feline Phenomenon. Singapur 2004. S. 11.
224 Firmenportraits
Da Tsuji einen Hund (Snoopy) und einen Bär (Winnie the Pooh) schon
besaß, druckte er als Katze Hello Kitty auf Notizhefte, Kugelschreiber und
Handtaschen und verkaufte sie als billige Geschenkartikel für den Ju-
gendmarkt. Mit ihrem kommerziellen Erfolg entwickelte er eigene „Gift-
gate Shops“, die später zu einer Kette expandierte. 1973 kaufte er die An-
teile seiner Mitbesitzer aus Yamanashi auf und nannte die Firma in
„Sanrio“ um, was auf japanisch-spanisch „drei Flüsse“ heißen soll.
In den späten 70er Jahren begann Sanrio mit Teenagerzeitschriften und
produzierte selbst in Hollywood einen Zeichentrickfilm, der Tsuji zwar
einen Oskar, aber sonst nur Verluste einbrachte. Als in Japan der Wahn
nach Themenparks umging, ließ er 1990 einen Park namens „Puroland“,
das Disneyland überdacht imitieren sollte, in der Tokyoer Vorstadt Tama
eröffnen. 1991 folgte ein „Harmonyland“ im ländlichen Oita auf Kyushu.
Diese Themenparks sollen die Sanrio-Figuren fördern. Neben Hello Kitty
und ihren Verwandten Chococat und Pandapple sind dies ähnlich sterile
Charaktere wie zum Beispiel: Strawberry King, Cheery Bum, Button Nose
und der Affe Chi Chai Monchan. Jugendfreie Bühnenshows und Tanz-
wettbewerbe sollen das Publikum locken. Der 80jährige Tsuji besucht sie
wöchentlich für dauernd neue Verbesserungen und um aus erster Hand
Besucherreaktionen zu erleben. Doch bleiben diese Themenparks weiter
ein verlässlicher Verlustbringer.
Erste Marketingversuche in den USA scheiterten. Der amerikanische
Verbraucher war von Produkten wie etwa Puppen, die im heißen
Badewasser die Farbe wechseln, nicht sonderlich beeindruckt. Er ließ
sich auch nicht zu teurem Geschenkaustausch nach japanischem Muster
überreden und kauft weiter lieber billige T-Shirts als teure Handtaschen
als Mitbringsel. In den 80er Jahren musste Sanrios Büro in New York wie-
der schließen.
In der Zwischenzeit hatte der Wahn des zaitech, des financial enginee-
ring, das ohne Anstrengung viel Geld versprach, auch Tsuji selbst infiziert.
Auf dem Scheitelpunkt der japanischen Spekulationsblase hatte er sage
und schreibe 170 Milliarden Yen an Firmengeldern und Krediten in Akti-
en, Immobilien und Tokkin-Hedgefonds gesteckt, die sich nach 1992 im
freien Fall befanden. Als klassisches Seifenblasenphänomen fielen Mitte
der 90er Jahre Sanrios Aktienkurse um 93%. Während 1994-98 musste die
Firma Spekulationsverluste in Höhe von 400 Millionen US-Dollar ab-
schreiben77.
77
Asiaweek 19.3.1999.
226 Firmenportraits
78
Ana M Goy-Yamamoto. Japanese Youth Consumption. Asia-Europe Journal 2,
2004, 271-82. S. 279.
Der Aufstieg und Fall von Seibu 227
Zeichen der Überdehnung des Symbols. Hello Kitty prangt nicht nur auf
Briefpapier, Fertignudeln und Kreditkarten, sondern auch auf Karaoke-
Bars, Staubsaugern und Daihatsu-Autos. In ihrer Heimat in Asien sind
Imitate zuhauf im Umlauf. In Schanghai allein wird der Anteil der Pro-
duktpiraterie für Hello Kitty auf 95% geschätzt.
Sanrios Erfolg beruht weiter weniger auf Marktforschung als auf den In-
stinkten des Gründers Tsuji. Jedes Jahr werden drei neue Figuren in Um-
lauf gebracht, darunter auch ab und zu niedliche Monster. Andere werden
still pensioniert. Gleichzeitig ist der Markt für kindliche Ikonen unter un-
übersehbarem demografischem Druck. Seit 1989 ist die Zahl der Ober-
schüler um 25% (um 500.000 von ursprünglich 2 Millionen) pro Jahrgang
gefallen. Das ist der Preis, der zu zahlen ist, wenn man den Infantilismus
unter jungen Frauen kultiviert. Ohne Frage enden die meisten Figurenpro-
dukte wenig benutzt bald auf Müllhalden. Sie dienen in erster Linie der
spontanen Bedürfnisbefriedigung, dem ständigen Wunsch nach Neuem
und einer Verpackungskultur, die – wie in Japan – Form für wichtiger hält
als den Inhalt. Es wäre schon mehr als ein Wunder, wenn eine Firma, die
diese Werte verfolgt, selbst allzu lang überleben würde.
79
Angela Köhler. Shogun auf Talfahrt. Berliner Zeitung 11.3.2005.
228 Firmenportraits
80
Zu den Details der Familiensaga siehe: Lesley Downer. Die Brüder Tsutsumi:
Die Geschichte der reichsten Familie Japans. München 1997.
Der Aufstieg und Fall von Seibu 229
Steuern nicht mehr zahlen konnten. Er ließ ihre Residenzen abreißen und
baute an ihrer Stelle Hotels, die er sinnigerweise Prince Hotels nannte. An
seinen Eisenbahnlinien in West-Tokyo ließ er auch drei aufwendige neue
Vorstädte bauen, die gut angenommen und in der Folge sehr teuer und
trendsetzend wurden.
Als Höhepunkt seiner politischen Karriere wurde Yasujiro Tsutsumi
1953-55 Präsident des Unterhauses, eine Position, die seinen hohen Status
unter den Neureichen in Nachkriegsjapan anerkannte. Seine offene Poly-
gamie und sein despotischer Führungsstil – wegen seiner rauen Geschäfts-
methoden und der Geschwindigkeit, mit der er unbotmäßigen Untergebenen
kündigte, wurde er „Pistole“ genannt – waren allgemein bekannt, störten
aber damals niemand. Er überlebte auch einen gut dokumentierten Skandal
um gekaufte Wählerstimmen. Nach seinem plötzlichen Tod 1965 wurde er
mit allen Ehren auf einem Friedhof beigesetzt, den er nicht untypisch
selbst hatte anlegen lassen.
Yasujiros Reich wurde unter seinen ungleichen Söhnen ungleich aufge-
teilt. Seiji, der ältere Sohn, wurde von einer Dichterin geboren, die Yasuji-
ro kurzfristig geheiratet hatte. Er war ein kultivierter Intellektueller, der als
Student in den Nachkriegsjahren mit der KPJ sympathisierte, dann aber als
Linksabweichler ausgeschlossen wurde und später als verlorener Sohn zu
seinem Vater, der damals Parlamentspräsident war, als politischer Sekretär
zurückkehrte. Aus dem Besitz des Vaters sollte er aber nur ein abgewirt-
schaftetes Kaufhaus erben, das sich am Endpunkt einer Eisenbahnlinie in
Ikebukoro in Tokyo befand.
Die wesentlich wertvolleren Eisenbahnlinien, Hotels, der Immobilienbe-
sitz und die touristischen Standorte gingen alle auf seinen Halbbruder Yo-
shiaki über, der als Sohn seiner Lieblingsmätresse auch die ruppigen Ge-
schäftsmethoden und den autokratischen Stil des Vaters geerbt hatte.
Ähnlich wie Yasujiro nutzte er seine Studentenzeit, um privatfinanzierte
Schwimmbäder und Eisstadien zu bauen. Innerhalb von zwei Jahrzehnten
expandierte er das Erbe seines Vaters zu Japans führendem Hotel-, Skiort-
und Golfplatzentwickler und -betreiber. Diese Geschäftslinie half auch, mit
den Bauexperten (zoku), die die mächtige Takeshita/Kanemaru-Fraktion
der regierenden LDP dominierten, in enger Tuchfühlung zu bleiben. Yasu-
jiros Wahlkreis wurde von einem engen Freund, Ganri Yamashita, über-
nommen, der später Verteidigungsminister werden sollte.
Der Bau von Ferien- und Hotelanlagen als resorts erfolgt in Japans öko-
logisch empfindlicher Bergwelt meist auf eine bemerkenswert brutale Art.
Unverbaute, kaum berührte ländliche Bezirke werden billig aufgekauft.
Dann werden alle Wälder abgeholzt und die Landschaft von Planierraupen-
230 Firmenportraits
81
Kathleen Morikawa. Celebrations are over for Nagano. Asahi Evening News
6.7.1991; Shukan Bunshun 27.6.1991.
Der Aufstieg und Fall von Seibu 231
und das Baseballstadium der Seibu Lions, nebst Mannschaft. Als Präsident
des Ski- und des Eishockeyverbandes spielte er weiter eine öffentliche
Rolle. Als schließlich ruchbar wurde, dass er entgegen den Bestimmungen
des japanischen Aktienrechts 88% der Aktien von Seibu-Eisenbahnen teil-
weise über Strohmänner kontrollierte – offiziell besaß er nur 64% – wurden
im Jahr 2005 gründlichere Untersuchungen eingeleitet. In deren Folge –
zwei seiner Manager begingen Selbstmord – kam heraus, dass er unter ande-
rem seit zwei Jahrzehnten systematisch die Bilanzen hatte fälschen lassen.
Seit 7 Jahren hatte der Aufsichtsrat nicht mehr getagt. Der Kurs von Seibu
Railways fiel um 95%. Die Aktie wurde vom Kurszettel der Tokyoter Börse
gestrichen82. Für Yoshiaki war die Partie Monopoly vorbei.
Sein Halbbruder Seiji hatte, wie erwähnt, nur ein etwas abgewirtschaftetes
Kaufhaus in dem damals nicht sonderlich angesehenen Ikebukuro geerbt.
Dort führte er schon in den 50er Jahren die Produkte damals unbekannter
junger Designer wie Yves Saint Laurent und Issey Miyake ein. Er begann
zu expandieren und zu modernisieren. So wurden seine Läden schon in
den 60er Jahren frühe Symbole einer status- und erfolgsorientierten Ver-
braucherkultur, die von jungen, zahlungskräftigen Käufern, nachdem das
Elend und die Härten der Nachkriegszeit überwunden waren, begierig
angenommen wurden. Oft war es Seiji allein, der künftige Verbraucher-
trends in Japans konservativem und konformistischem Einzelhandel vor-
ausahnte und umsetzte. 1963 begründete er die später sehr profitable Seiyu-
Supermarktkette. 1968 erbaute er mit Seibu Shibuya den trendsetzenden
Konsumtempel für die Generation der Babyboomer. Ihm folgte mit Parco
ein Konzept der Shop-in-Shop-Boutiquen für modebewusste, flüssige Tee-
nager. Im goldenen Zeitalter des japanischen Konsumrausches der 80er
Jahre veranstaltete Seiji ein Feuerwerk an innovativen Geschäftsideen, von
denen die meisten in Japan neu waren. So führte er die Seibu Season Card
1982 ein, weil respektable Banken nicht im Traum daran dachten, un-
seriösen Teenangern Kreditlinien zum Kauf von Modeartikeln einzuräumen.
Es folgten das Angebot umfangreicher Finanzdienstleistungen in den
Kaufhäusern, wie die Seibu All State Life Insurance, exklusive Ver-
triebsabkommen mit westlichen Markenartiklern und die Gründung der
ersten Kette von convenience stores („Family Mart“), die rund um die
Uhr geöffnet hatten.
Die Seibu-Kaufhäuser (depaatos) waren berühmt für ihre Kunstausstel-
lungen, ihre modischen Restaurants, Cafes, Theater, Kinos und Konzert-
82
Bernd Weiler. Japans Investoren haben ein Recht auf mehr Transparenz. Die
Welt 17.2.2005.
232 Firmenportraits
hallen. In den 70er und 80er Jahren waren Seibu und Parco die am
schnellsten expandierenden und modernsten unter Japans altmodischen
und überteuerten Kaufhausketten. Als Sponsor von Avantgarde-Theater,
auch von schwierigen Stücken wie von Kobo Abe, und von zeitgenössischer
Kunst, die im Seibu Museum of Modern Art ausgestellt wurde, kultivierte
Seiji das Bild einer liberalen intellektuellen Modernität, die sich nicht nur
wohltuend von der ruppigen Raffgier seines ungeliebten Halbbruders Yoshi-
aki abhob, sondern, noch wichtiger, gut mit der Botschaft einer luxusorien-
tierten Zivilisation in Japans neuem Reichtum harmonisierte, die von seinen
modischen Edelkaufhäusern den im Spekulationsboom (neu-)reich gewor-
denen und jenen die auf Kreditkarte lebten, angeboten wurde.
Wie der Lebensstil der meisten seiner Kunden, so war Seijis eigenes
schnell expandierendes Reich auf Kredit gebaut. Der hohe Umsatz seiner
Läden resultierte in nur geringe Gewinne, da der hohe Schuldendienst den
cash flow fraß. Solange in den 80ern ständig steigende Aktien- und Immo-
bilienwerte es ermöglichten, Anleihen stets in Kapitalbeteiligungen um-
zuwandeln, war dies problemfrei. So expandierte und diversifizierte Seiji
frohgemut in alle Himmelsrichtungen weiter und erklärte in der wirren
Logik der Boomjahre als Strategie: Seine Gruppe würde alle Facetten des
Lebens bedienen wollen. Er gründete ein Baugesellschaft namens Seiyo,
die in die Geschäftssegmente seines Bruders eindrang und anspruchsvolle
Einkaufszentren, Freizeiteinrichtungen, Hotels und Apartmentkomplexe zu
bauen begann83. In einer spontanen Entscheidung kaufte Seiji 1983 für 2,2
Milliarden US-Dollar die weltweit operierende Intercontinental Kette von
Grand Metropolitan. Sie hatte damals 98 Hotels, die er bald auf 187 aus-
weitete, einschließlich eines Hotels der Superluxusklasse auf der Ginza,
das für Kunden wie Elizabeth Taylor gedacht war. Ob jener ausschließlich
kreditfinanzierte Expansionskurs je wirtschaftlich war, bleibt unklar. In
jedem Fall aber nahm sich die 81 Häuser starke Prinzenkette von Bruder
Yoshiaki nun sehr klein aus.
Seijis Seibu-Season-Gruppe kollabierte nicht über Nacht. Aber seine
Botschaften des ewigen Lebensstil-Konsumerismus und überteuerter Ein-
kaufsreize wirkten ab 1992 in dem rezessionsgeplagten Japan unüberseh-
bar deplatziert, als die meisten Japaner wieder die Tugenden ihrer traditio-
nellen Sparsamkeit zu entdecken begannen.
Seine Einzelhandelsoperationen hätten sicher für sich überleben können.
Aber auch sie wurden von der Schuldenlast niedergedrückt, die für Immo-
bilienentwicklungen, Golfplätze und Freizeitparks verschwendet worden
83
„The Tsutsumi Family: Brotherly Hate“. The Economist 8.10.1988.
Der Aufstieg und Fall von Seibu 233
waren, für die nun keine Nachfrage mehr bestand. 1991 trat Seiji förmlich
als Vorstand zurück. Da er die Gruppe allein geleitet hatte, driftete sie nur
noch mit halbherzigen Sanierungsprogrammen weiter. Gelegentliche Ver-
käufe halfen wenig. Im Juli 2001 ging Seiyo, der Immobilienarm von Sei-
bu Season, mit 5 Milliarden US-Dollar Schulden in Konkurs84. Seiji wurde
gezwungen, die meisten seiner Aktienbeteiligungen abzutreten. Die Inter-
continental Hotels wurden an das britische Brauhaus Bass für 2,9 Milliar-
den US-Dollar verkauft. Der gesamte Erlös musste für den Schuldendienst
verwendet werden. Mizuho Bank als Hauptkreditgeber erzwang dann die
Entlassung von 40% der 9000 Mitarbeiter der Seibu-Kaufhäuser. Im Jahr
2003 wurden sie mit den ebenfalls bankrotten Sogo-Kaufhäusern unter
neuem Management zu der neuen Millenium-Kette fusioniert, die nicht
länger die Avantgarde von irgend etwas ist, sondern Mühe hat, bescheidene
Gewinne einzufahren85. Die Seiyu-Supermärkte wurden ihrerseits von Wal-
Mart geschluckt. Statt Glamour nur noch billiger Jakob.
84
The Japan Times 19.7.2000.
85
Asahi Evening News 28.2.2003.
10 Regionalportraits
10.1 Kansai
1
Financial Times 27.4.2004.
Kansai 237
Firmen in Kansai, darunter als größte Eli Lilly und Abbott. Die Subventio-
nen des Osaka Business Investment Council fließen besonders reichlich im
Fall technologisch interessanter Investitionen, etwa im Bereich der Medi-
zin, Biotechnik, Telekom, Nanotechnik, bei Robotern und im Design. Da-
zu locken Mieten, die um 40% unter den von Tokyo liegen und die geball-
te Intelligenz von 270 Universitäten sowie nicht zuletzt die Deutsche
Schule Kobe.
Den tatsächlichen – zaghaften – Wiederaufschwung von Kansai leiste-
ten nicht Hochtechnologieinvestitionen, staatliche Bauaufträge oder der
Tourismus, sondern die boomende Nachfrage aus China für Stahl, Chemie,
Halbleiter, Maschinenteile und Werkzeugmaschinen. Schließlich ist Kan-
sai der China am nächsten gelegene Großwirtschaftsraum Japans. Aller-
dings ist man bei allen Exporten und Auslandsfertigungen sehr sorgfältig
bedacht, eigene Spitzentechnologien angesichts der in China grassierenden
Produktpiraterie nur als geschützte black box zu liefern.
10.2 Hokkaido
2
Für eine ausführlichere Darstellung der Landwirtschaft Hokkaidos, siehe mei-
nen Aufsatz: Hokkaido – Probleme einer Kornkammer. In: A. Rothacher (Hg.)
Landwirtschaft und Ökologie in Japan. München. 1992. S. 253-75.
240 Regionalportraits
Motorblock geht dann postwendend per Schiff zurück ins alte beengte
Stammhaus von Kawasaki zur Montage in die Chassis. Das gleiche gilt für
die benachbart gefertigten Gangschaltungen von Toyota.
Mit seiner Unfähigkeit, integrierte industrielle Fertigungen aufzubauen,
ist es Hokkaido nicht gelungen, aus der absehbar zum Abstieg verurteilten
Rolle des Rohstofflieferanten und Primärverarbeiters zu entrinnen. Nach-
dem die zweite industrielle Revolution voll verschlafen wurde, richtet sich
wie in der gesamten japanischen Provinz die Hoffnung aller Amtsträger
auf die Produkte der dritten Revolution: Software und Biotechnologie. So
hat fast jedes Dorf mittlerweile ein aufwendiges Biotech-Zentrum, wo
Zentrifugen geheimnisvoll wackeln und grüne Algensammlungen in Glas-
kühlschränken herumstehen. Ein sichtbarer produktiver wirtschaftlicher
Nutzen steht allerdings noch aus.
Im tertiären Sektor ist Hokkaido sehr stolz auf sein Verkehrssystem. In
der Tat sind Häfen und Flughäfen sehr gut ausgebaut. Allerdings werden die
meisten Provinzflughäfen nur ein- oder zweimal täglich angeflogen. Als
internationaler Flughafen sollte Chitose bei Sapporo mit seiner zweiten Lan-
debahn und seiner neuen Abfertigungshalle (Kostenpunkt: 60 Milliarden
Yen) nebst Quarantänestation als Frachtflughafen das überlastete Narita
entlasten3. Allerdings schlössen sich für eilige Luftfrachten dann noch 16
Stunden Eisenbahntransport (zuzüglich Kosten) nach Tokyo an. Auch weil
die Polarroute nach Europa seit 15 Jahren nicht mehr genutzt wird, ist auch
Chitose eher untergenutzt. Auslandsflüge finden nur noch nach Asien statt.
Fischereihäfen werden auch da, wo sowohl die Fische als auch die Fi-
scher schon ausgestorben scheinen, unverdrossen weiter gebaut. Der Ha-
fenbau hat den Vorteil, dass kein Geld und Anstrengungen für den Grund-
erwerb verwendet werden müssen und die öffentlichen Mittel alle direkt
der Tiefbauindustrie zugute kommen können. Alle großen Naturhäfen in
Hokkaido: Muroran, Hakodate, Otaru, Kushiro, Wakkanai und Nemuro
leiden unter ungenutzten Überkapazitäten (und sind deshalb bei Angel-
sportlern sehr beliebt). Nichtsdestotrotz wurden auch in Ost-Tomakomai
und in der Ishikari-Bucht neue künstliche Tiefseehäfen angelegt, die von
Otaru und Muroran zusätzlich Seefracht abzogen.
Das Straßenverkehrssystem Hokkaidos wird von einer Ost/West-,
Nord/Süd-Autobahndoppelachse geprägt, die sich selbstverständlich im
Zentrum der Insel, d.h. im Stadtzentrum Sapporos kreuzt. So hat der Auto-
fahrer das Vergnügen, sich wie in Tokyo zu fühlen, wenn er zu Stoßzeiten
3
The Economist 27.11.1993.
242 Regionalportraits
stundenlang im Stau steht. Bei Schnee ist die Autobahn ohnehin meist ge-
sperrt. Das ist bei dem sibirischen Winterwetter nicht gerade selten.
1988 wurde zwischen Hokkaido und Honshu, genauer zwischen den Städ-
ten Hakodate und Aomori nach 15 Jahren Bauzeit und 8 Milliarden Euro
Kosten ein 54km langer Eisenbahntunnel fertiggestellt. Er verkürzte die
Fahrzeit Tokyo-Sapporo von 14 auf 12 Stunden (während die Flugzeit 1,5
Stunden beträgt), und wird daher im Personenverkehr nur regional genutzt.
Erst mit der Verlängerung der Shinkansenlinie nach Sapporo, die die Fahr-
zeit auf 5 Stunden verkürzen würde, könnte der Personenverkehr wirksam
von der Luft auf die Schiene zurückverlagert werden. Nach 30jährigen Pla-
nungen wurde der Baubeginn mit dem Ziel der Fertigstellung im Jahr 2015
unlängst beschlossen. Das Eisenbahnnetz Hokkaidos ist mit 1400km Haupt-
linien zwar auf dem Papier sehr gut entwickelt, ist aber angesichts fehlender
Modernisierungen und ausgedünnter Fahrpläne kaum noch leistungsfähig.
Eigenes Kapital konnte die JR Hokkaido seit ihrer Privatisierung nicht er-
wirtschaften. Investitionen bleiben daher weitgehend aus.
Hokkaido Electrical Power übt das regionale Elektrizitätsmonopol aus.
Durch den Rückgang der teuren Kohleverstromung und den Einsatz des
AKWs Tomari konnten die Strompreise auf das Niveau von Honshu abge-
senkt werden.
Der Tourismus ist der große Hoffnungsträger des tertiären Bereichs. 9
Nationalparks allein hat Hokkaido aufzuweisen – eine weitläufige, weitge-
hend noch unverdorbene und oft atemberaubend schöne und wilde Natur
mit Urwäldern, Bergseen, zerklüfteten, unerschlossenen Gebirgen, in de-
nen Wölfe und Bären noch zugange sind. Hokkaido hat ein mildes, regen-
armes Sommerwetter (Juni-Oktober) und liefert angesichts der kalten Winter
(Dezember-März) verlässliche Möglichkeiten zum Wintersport, die durch
die Winterspiele von Sapporo 1972 weltweit publiziert wurden. Etwa 4
Millionen japanische Kurzurlauber kommen jährlich4. Dieses touristische
Potential hat über Japan hinaus auch in Südostasien und im Pazifik Attrak-
tivität. Bislang ist die touristische Infrastruktur im wesentlichen (abgese-
hen von den großstädtischen Hotels in Sapporo) auf Tourhotels und eine
Handvoll hochpreisiger, erst in den Boomzeiten der 80er Jahre entwickel-
ten resorts, wie Club Med Sahoro, Tomamu und Yubari für den pauschal-
buchenden Kurzzeiturlauber beschränkt.
Seit den Kolonisierungsinitiativen der späten Meiji-Zeit gibt es eine
aufwendige Entwicklungsplanung und eine umfängliche staatliche Ent-
wicklungsförderung in Hokkaido, die jedoch nach dem Ende der Hoch-
4
The Economist 11.12.2004.
Hokkaido 243
5
Financial Times 10.7.1995.
6
Große Teile des Zweigstellennetzes und die gesunden Kredite wurden von der
North Pacific Bank (Hokuyo) übernommen.
7
Financial Times 1.4.1999.
8
Business Link Hokkaido Nr. 25, 2005/3.
244 Regionalportraits
(Yubari) und 20.000Yen/m² (Ishikari) bewegen, liegen weit unter den ver-
gleichbaren Preisen in den Ballungszentren. Als Standortvorteile gibt es die
günstige Nutzung der Primärgüter aus Landwirtschaft, Fischerei und Fors-
ten; saubere Luft, klares Wasser, niedrige Luftfeuchtigkeit, geringer Küh-
lungsbedarf bei Produktion und Lagerung; eine sichere Energieversorgung,
relativ einfache Transport- (einschließlich Luftfracht) und Kommunikati-
onsmöglichkeiten; Anschluss an Kläranlagen; die Möglichkeit junge Tech-
niker und Ingenieure zu rekrutieren (die Lohnkosten liegen bei 90% des
japanischen Durchschnitts); Hokkaido als Markt mit 5,6 Millionen Einwoh-
nern; schließlich der Freizeitwert Hokkaidos mit seinen milden Sommern,
Naturparks, Sportmöglichkeiten (Ski, Golf, Wandern, Fischen, Schwimmen),
verbunden mit den großstädtischen Qualitäten Sapporos (Gesundheits-
fürsorge, Schulen, Bankdienstleistungen, allen Einkaufs- und kulturellen
Möglichkeiten, mit der Universität Hokkaidos [Hokudai] als eine der besten
Hochschulen Japans sowie in Susukino eines ausgedehnten Nachtlebens mit
4500 Bars) und – in wesentlich geringerem Maße – den Qualitäten der Pro-
vinzstädte. In der Tat siedeln sich japanische Industrien auf Hokkaido nur im
begünstigten Großraum Sapporo (mit seinen Industrieparks Chitose-Rinku
und Sapporo Techno Park) an. So werden die innerjapanischen Entwick-
lungsgefälle auf Hokkaido zwischen seiner blühenden Hauptstadt und der
absterbenden Peripherie der Insel noch einmal reproduziert.
10.3 Okinawa
Die Insel Okinawa, die als Geburtsstätte der Kampfkünste Karate-Do, Tode
und Kobudo gilt, liegt zwischen Japan und Taiwan im Pazifischen Ozean. 9
Der Name „Okinawa“ (wörtlich: „Tau im offenen Meer“) spiegelt Okinawas
9
Vgl. Wikipedia (2006): Okinawa, http://de.wikipedia.org/wiki/Okinawa, 07.05.06.
Okinawa 245
Lage unter den Inseln des Ryukyu-Archipels wider, da sie sich ungefähr in
der Mitte dieser Inselkette befindet. Okinawa ist nicht nur der Name der
47. Präfektur Japans (Okinawa Ken) sondern auch der Name einer Insel
(Okinawa Shima oder Okinawa Honto). Diese war früher Mittelpunkt des
Ryukyu-Königreiches. Die Präfektur Okinawas liegt im südwestlichsten
Teil Japans und besteht neben der Okinawa-Insel ebenfalls aus dem Ryu-
kyu Archipel, der aus 49 bewohnten und 110 unbewohnten Inseln be-
steht.10 Diese Inseln teilen sich in drei Hauptinselgruppen (von Norden
nach Süden): Okinawa, Miyako und Yaeyama. Die letzten beiden Inseln
werden auch oft zusammengefasst und als Inselgruppe Sakishima bezeich-
net. Außerdem gibt es weitere Inseln, die zu keiner dieser drei Inselgrup-
pen gehören, wie z.B. die 110 Kilometer nördlich gelegene Insel Iotoris-
hima, die drei Inseln der 350 km südöstlich gelegenen Inselgruppe Daito
oder auch die unbewohnte Inselgruppe Senkaku, die sowohl von Japan, als
auch von China und Taiwan beansprucht wird. Die größten Inseln sind
Okinawa Island, Iriomote Island und Ishigaki Island, gefolgt von acht wei-
teren Inseln, die von bedeutender Größe sind. Die gesamten Inseln erstre-
cken sich auf ein Areal von ca. 1000 km von West nach Ost und 400 km
von Norden nach Süden; 500 Kilometer südlich der japanischen Hauptin-
sel Kyushu liegt Okinawa Island Die Insel Yonaguni ist nur circa 125 km
von Taiwan entfernt und ist bei gutem Wetter sogar in Sichtweite.
Die Anzahl der Bewohner aller Inseln beträgt rund 1.350.000 Menschen.
Die Hauptstadt der Präfektur und Sitz der Präfekturverwaltung ist die Stadt
Naha. Sie befindet sich auf Okinawa Honto, der Hauptinsel der Inselgruppe
und hat 312.000 Einwohner. Außerdem gibt es 10 größere Städte, zum
Beispiel Okinawa mit 126.000 Einwohnern, Uruma mit 114.000 oder auch
Urasoe mit 106.000 Einwohnern. Die Einwohnerzahl aller anderen Ge-
meinden liegt bei unter 100.000.
10.3.2 Geschichte
Die 140 Inseln Okinawas waren im 12. bis 14. Jhd. ein selbstständiges
Königreich, das im 15. Jhd. zur Herrschaft der Sho-Dynastie gehörte und
als Blütezeit Okinawas empfunden wird. Jedoch übernahm 1609 der japa-
nische Satsuma-Klan von Süd-Kyushu aus die diktatorische Herrschaft
über Okinawa, bis sie 1879 eine Präfektur Japans wurde.
10
Prefecture Okinawa (2005): Outline of Okinawa prefecture, http://www.pref.
okinawa.jp/overview.html, 14.05.2006.
246 Regionalportraits
Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges fielen die Amerikaner in einer der
schlimmsten Schlachten im Asien-Pazifik-Krieg auf Okinawa ein und er-
oberten nach drei Monaten die Insel.11 Die Schlacht um Okinawa (1.4. bis
30.6.1945) war ein wichtiger strategischer Zug der Amerikaner im Asien-
Pazifik-Krieg. Das Ziel war die Eroberung der Industriezentren der japani-
schen Hauptinseln.12 In dieser Schlacht im Jahre 1945 starben mehr Men-
schen als beim Atombombenangriff auf Hiroshima und Nagasaki. 13 Insge-
samt wurden mehr als 12.000 Amerikaner getötet, 38.000 verletzt. Rund
110.000 Japaner, darunter 1.900 Kamikaze-Piloten sowie Soldaten aus Oki-
nawa, fielen. 100.000 Zivilisten, ein Viertel der damaligen Inselbevölke-
rung, wurden getötet.
Mitte März 1945 machten sich 1.300 amerikanische Schiffe auf den
Weg zum Angriff. Die ersten Kamikaze-Attacken auf die US-Marine be-
gannen im April 1945. Ihnen gelang es aber nur 26 meist kleinere US-
Schiffe zu versenken. Obwohl auf Okinawa mehr als 130.000 japanische
Truppen stationiert waren, beschlossen die Japaner nicht wie sonst üblich
die Küstenregion zu verteidigen, um dort sinnlose Verluste durch die
Schiffsartillerie und die Bombenangriffe der Alliierten zu vermeiden.
Stattdessen wurde die Verteidigung tiefgestaffelt in Dschungelfestungen
im Inselinneren geführt.
Die Eroberung Okinawas begann im Osten und setzte sich im Norden
der Insel fort. Anschließend wurden die umliegenden Inseln angegriffen
und zuletzt die ausgiebige Tunnellandschaft der gutausgebauten Gebirgs-
festung Shuri in langwierigen, auf beiden Seiten mit großer Härte, Tapfer-
keit und Grausamkeit geführten Kämpfen gestürmt. Nach der Kapitulation
des Hauptteils der wenigen überlebenden japanischen Truppen am 30. Juni
1945 setzten versprengte Truppenteile noch ihren Partisanenkampf fort.
Bald verwandelten amerikanische Ingenieure und Konstrukteure die In-
sel – lange bevor die Kämpfe endeten – Okinawa in den Hauptstützpunkt
für die geplante Invasion der japanischen Hauptinseln, der die japanische
Kapitulation zuvorkam.
Durch den Friedensvertrag von San Francisco 1951 erhielt die Insel den
Status einer „Republic of the Ryukyus“ unter amerikanischer Besatzung.
11
Vgl. GlobalSecurity.org (2006): Battle of Okinawa, http://www.globalsecu-
rity.org/military/facility/okinawa-battle.htm, 07.05.06.
12
Vgl. Lacey, Laura (2003): Battle of Okinawa, http://www.militaryhistory-
online.com/wwii/okinawa/default.aspx, 07.05.06.
13
Vgl. GlobalSecurity.org (2006): Battle of Okinawa, http://www.globalsecu-
rity.org/military/facility/okinawa-battle.htm, 07.05.06.
Okinawa 247
der Flughafen von Naha ein wichtiger Standort. Es gibt vier ständige inter-
nationale Routen sowie diverse Flüge innerhalb Japans und der Präfektur
Okinawas. Ein weiterer wichtiger Faktor für die Wirtschaft in Okinawa
sind die Häfen mit den großen Anlegestellen für Schiffe bis zu 40.000
Tonnen. Die größten Häfen sind in Naha, Nakagusuku Bay, Unten, Hirara,
Ishigaki und in der Kin Bay. Das Straßennetz in Okinawa wurde auch auf
Grund des steigenden Tourismus in dieser Region in den vergangenen Jah-
ren weiter ausgebaut. So erreicht man alle Teile Okinawas über drei
Hauptwege, die National Route 329 an der Ostküste, die National Route 58
an der Westküste und den Okinawa Expressway, der alle großen und wich-
tigen Städte miteinander verbindet. Zu der Special Free Trade Zone (im
folgenden näher beschrieben) und den Industry Development Districts
führen weitere ausgebaute Hauptstraßen, die diese Zonen auch mit dem
Flughafen in Naha verbinden.
10.3.4 Wirtschaft
14
Vgl. Governor of Okinawa Prefecture (2002): Greetings from the governor,
http://www.pref.okinawa.jp/english/business/images/english.pdf, 14.05.2006.
Okinawa 249
15
Vgl. Governor of Okinawa Prefecture (2002): Greetings from the governor,
http://www.pref.okinawa.jp/english/business/images/english.pdf, 14.05.2006.
250 Regionalportraits
1. Ihre Güter sind von den Zöllen und der domestic consumption tax,
d.h. der Mehrwertsteuer von 5%, befreit, wenn die weiterverarbeite-
ten Güter re-exportiert werden.
2. Ihnen ist es gestattet, die importierten Güter zu lagern, während die
Einfuhrzölle und die domestic consumption tax erst dann fällig wer-
den, wenn die Güter auf den japanischen Markt transportiert werden.
3. Importierte Güter sind auch dann von Zöllen und der Steuer befreit,
wenn sie wieder exportiert oder in der SFTZ verbraucht werden.
Auch gibt es weitere großzügige Vergünstigungen in Bezug auf die natio-
nalen Steuern. So können Unternehmen, die in der Fertigung, Montage
oder Lagerhaltung tätig sind, zwischen drei verschiedenen Vergünstigun-
gen wählen: 1. bei der Einkommenssteuer, 2. bei der Investitionssteuer
oder 3. durch besondere Abschreibungen. Bei den Zöllen gibt es ebenfalls
verschiedene Möglichkeiten. So können Unternehmen der Fertigungsin-
dustrie entscheiden, ob sie die Zölle auf das Rohmaterial oder auf das
Endprodukt zahlen wollen, je nachdem, was für sie günstiger ist. Des Wei-
teren ist die Genehmigungsgebühr um versicherte Lagerstätten zu errich-
ten, um fünfzig Prozent reduziert. Auch bei lokalen Steuern gibt es Ver-
günstigungen bei den Unternehmenssteuern, der Grunderwerbssteuer,
sowie der Steuer auf Anlagevermögen.
In der SFTZ gibt es überwiegend Unternehmen der Fertigungs- und
Montageindustrie, der Lagerhaltung, des internationalen Frachthandels und
des Großhandels. Die durchschnittliche Größe eines Grundstückes beträgt
18 Hektar bei einem Preis von ca. 26.700 Yen pro Quadratmeter. Aller-
dings gibt es auch die Möglichkeit, Fabrikgebäude bzw. Grundstücke zu
pachten. Diese Variante wurde geschaffen, um die besonders anfangs be-
stehenden Finanzierungshürden für neue Unternehmen zu minimieren. 16
Neben der „Besonderen Freihandelszone“ gibt es noch die sogenannten
Industrial Development Districts. Diese fallen ebenfalls unter das Okinawa
Promotional Special Measures Law. Auch hier gelten besondere Steuerbe-
günstigungen. Von diesen Entwicklungsbezirken gibt es mehrere in Oki-
nawa. Im Norden sowie im Zentrum Okinawas gibt es Industrial Deve-
lopment Districts in folgenden Städten bzw. Regionen: Ishikawa, Gushi-
kawa, Nago, Okinawa Stadt, Kin, Yonashiro, Katsuren und Yomitan. Im
Süden befinden sich diese Distrikte in Naha, Ginowan, Urasoe, Itoman,
16
Governor of Okinawa Prefecture (2002): Greetings from the governor,
http://www.pref.okinawa.jp/english/business/images/english.pdf, 14.05.2006.
Die regionale Wirtschaftsförderung 251
10.3.5 Literatur
GlobalSecurity.org (2006): Battle of Okinawa,
http://www.globalsecurity.org/military/facility/okinawa-battle.htm
Governor of Okinawa Prefecture (2002): Greetings from the governor,
http://www.pref.okinawa.jp/english/business/images/english.pdf
Japan heute und morgen (2000): G8-Gipfeltreffen in Kyushu und Okinawa,
http://www.at.emb-japan.go.jp/JHM082000/j_a2_082000.htm
Lacey, Laura (2003): Battle of Okinawa,
http://www.militaryhistoryonline.com/wwii/okinawa/default.aspx
Prefecture Okinawa (2005): Outline of Okinawa prefecture,
http://www.pref.okinawa.jp/overview.html
Wikipedia (2006): Okinawa, http://de.wikipedia.org/wiki/Okinawa
17
Governor of Okinawa Prefecture (2002): Greetings from the governor,
http://www.pref.okinawa.jp/english/business/images/english.pdf, 14.05.2006.
252 Regionalportraits
Im kalten Licht des Morgens danach macht man eine frappante Entde-
ckung: Der Vergleich zwischen den verschiedenen Förderangeboten all
jener notleidenden japanischen Präfekturen zeigt eine erstaunliche Ähn-
lichkeit. Alle umwerben sie die gleiche Zielgruppe (High tech, Bio- und
Umweltindustrien) und bieten in Summe, rechnet man die komplexen Nu-
ancen gegeneinander auf, auch ziemlich die gleichen Anreize. Das in Eu-
ropa und Nordamerika beliebte Pokerspiel um die besten Förderpakete
zwischen Ländern, Regionen und Standorten bei Neuansiedlungen, kann
also in Japan kaum gespielt werden. Im Zentralstaat Japan wacht das Wirt-
schaftsministerium METI, dass es zum Subventionswettlauf nicht kommt.
Die Präfekturen sind in ihren Ausgaben ohnehin zu zwei Dritteln von Zu-
weisungen Tokyos abhängig. Wenn überhaupt, dann fördern sie mit ihren
knappen Mitteln lieber die einheimische Wirtschaft.
In der Tat erscheint die Großzügigkeit der offerierten Wohltaten be-
grenzt (vor allem dann wenn man sie mit den Begünstigungen vergleicht,
die japanische Investoren in Europa oder den USA erwarten!). Dies gilt für
alle vier Hauptelemente: Steuervorteile und Sonderabschreibungen, Direkt-
subventionen, bezuschusste Darlehen, und die Dienstleistungen der staat-
lichen Japan Regional Development Corporation (JRDC) und der örtlichen
und Präfekturverwaltung.
Als steuerliche Anreize können bis zu 3 Jahre lang die Unternehmens-
steuern in Höhe von 5-10% des Gewinns erlassen werden, ebenso wie die
Grunderwerbsteuer in Höhe von 4% des Kaufpreises und eine örtliche
Steuer von 1,4% des Immobilienwertes. Bei einer Ansiedlung in einer der
leerstehenden Technopoles winken Sonderabschreibungen von 30% auf
das Gerät und 15% auf die Gebäude im ersten Jahr. Die Subventionen für
industrielle Neueinstellungen in sich entvölkernden Gegenden bewegen
sich zwischen 50% und 150% des Monatsgehaltes pro eingestelltem Ar-
beitnehmer. Langfristige öffentliche Kredite werden von der Japan Deve-
lopment Bank vergeben. Die Zinssubvention ist im Nullzinsland Japan
nicht gerade umwerfend. Die staatliche Kreditvergabe hilft aber bei der
Vergabe anderer Kredite durch kommerzielle Banken.
Die JRDC hat jede Menge leerer, gut erschlossener Industrieparks im
Angebot. Dabei gilt der wenig überraschende Grundsatz: je leerer und
hoffnungsloser der Standort, desto billiger der Verkaufspreis. Manche je-
ner Industrieparks wurden wie in Tomakomai in Picknickgründe umge-
wandelt, immerhin gibt es genügend Toiletten und Parkplätze, oder wie in
Nagasaki zu normalem Bauland für Einfamilienhäuser18. Eine positive
18
„Japan’s land that time forgot“ Financial Times 22.8.1995.
Die regionale Wirtschaftsförderung 253
Einstellung der örtlichen Politik und Verwaltung ist sicher hilfreich für die
Bewältigung der zahlreichen Behördengänge und Genehmigungsverfah-
ren, bei denen japanische Beamte einen weiten Ermessensspielraum
bezüglich der für nötig befundenen Zeit und Gründlichkeit ihrer Untersu-
chungen und der gewünschten Dokumentationen haben. Ein positives
öffentliches Klima hilft auch bei der Rekrutierung des Personals für Finan-
zen, Geschäftskontakte und die Bereitstellung der nötigen Infrastruktur.
Insgesamt aber gilt: Je ferner ein Standort von dem metropolen Küsten-
streifen des Pazifik entfernt ist, desto höher sind seine Transport- und
Kommunikationskosten. Damit ist der Vorteil des billigen Grunderwerbs
und der frischen Luft schnell aufgezehrt. Nicht umsonst wandert die japa-
nische Industrie zuallererst aus ihren Einödstandorten und aus der Provinz
nach China ab. Es sind die Kosten jener Standorte, nicht der Mangel an
Patriotismus. Auch wenn die Banketts und die Freundlichkeiten der Gou-
verneure dort weniger generös sind, empfiehlt sich für Betriebsansiedlun-
gen doch eher die nähere Peripherie der metropolen Lagen: das nördliche
Kanto, die Gegend zwischen Tokyo und Nagoya und das Umland von
Kansai. Hier könnten die Vorteile des noch relativ preisgünstigen Grund-
erwerbs und leicht reduzierter Arbeitskosten mit deutlich verminderten
Kommunikations- und Transportkosten kombiniert werden.19
19
Albrecht Rothacher. Investment Incentives in Japan’s Regions. Rivista Interna-
zionale di Scienze Economiche e Commerciali. 39, 1992, 1015-23.
11 Japan, Europa und die EU
Mangels Kontroverse nimmt heute kaum noch jemand von den bilateralen
Gipfeltreffen Notiz. Im Mai 2005 trafen sich Premier Koizumi, Kommissi-
onspräsident Barroso und der damalige luxemburgische Ratspräsident Jun-
cker und gaben eine achtseitige Pressestellungsnahme heraus. Sie verkün-
deten, sie wollten „eine effektive Partnerschaft schaffen, die internationale
Schlüsselprobleme anspricht, zusammenarbeitet, um das multilaterale Sys-
tem zu stärken, und eine starke und effektive bilaterale Beziehung auf-
baut“. Der Rest der Stellungnahme besteht aus rhetorischem Süßholz, das
zwei Bürokratien, die des japanischen Außenministeriums und die der Eu-
ropäischen Kommission, raspeln und sich gegenseitig gratulieren, wie
wunderbar sie gemeinsam diese Welt und ihre Probleme managen. Dage-
gen ist nichts einzuwenden. Es tut auch niemandem weh. Irgendwie muss
jemand gemerkt haben, dass der Rest der Welt nicht allzu viel Notiz nahm.
Deshalb wurde auf Seite 8 noch schnell als letzter Punkt angefügt, die
Völker und Kulturen Europa und Asiens müssten einander näher gebracht
werden. Das ist auch in Ordnung.
Die Beziehungen zwischen Europa und Japan haben sich sicher enorm
entwickelt mit vielen Höhen und Tiefen. Während der letzten 400 Jahren
waren sie meistens – aber nicht immer – freundschaftlich. Wenn sie auf
Tiefpunkten waren, wie während der beiden Weltkriege, lag dies daran,
dass die europäischen Nationen sich gegenseitig bürgerkriegsähnlich
bekämpften und Japan Partei nahm. Im Ersten Weltkrieg gegen Deutsch-
land und im Zweiten gegen England. Produktiver dagegen war der ge-
genseitige intellektuelle Austausch während jener Jahrhunderte1.
Nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs brauchten Europa und
Japan einige Zeit, um die Verbindungen wiederherzustellen. Im ersten
Nachkriegsjahrzehnt betrug der bilateralen Handel mit jedem der künftigen
EWG- (EU-) Staaten gerade einige Millionen Dollar. Typische japanische
Exporte waren damals Spielzeuge, Keramik, Ferngläser, Nähmaschinen
und Textilen. Das ist offensichtlich eine Weile her.
1
Siehe: George Sansom. The Western World and Japan. Tokyo 1977, und: En-
dymion Wilkinson. Misunderstanding. Europe versus Japan. Tokyo 1981.
256 Japan, Europa und die EU
In dem Maße, in dem in Europa und in Japan der Wiederaufbau und das
Nachkriegswachstum in Schwung kam, entwickelte sich der Handel und
die bilateralen Beziehungen stürmisch – und bald sehr asymmetrisch zu-
gunsten Japans. Dies führte ab den 70er Jahren zu viel öffentlichem Lärm
und Drohungen mit Handelskriegen, die sich freilich als zahnlos heraus-
stellten. In den 90er Jahren begannen beide Wirtschaften zu stagnieren.
Reife und abgeklärte Weisheit prägte nun die bilateralen Beziehungen, so
wie es sich für alternde Gesellschaften und überschuldete Regierungen
geziemt, die sich von aggressiven Emporkömmlingen wie China und In-
dien bedroht fühlen.
Genauer lassen sich vier Phasen der Nachkriegsbeziehungen zwischen
Japan und EU-Europa unterscheiden2:
1. Bis 1975: Japan entwickelte sich schnell und eroberte seine Markt-
anteile in Europa mit neomerkantilistischen Exportoffensiven. Aus
Ignoranz und Arroganz nahmen die EG-Mitgliedstaaten Japan nicht
ernst. Die deutsche Automobilindustrie verkündete lauthals, die Ja-
paner würden nie in der Lage sein, vernünftige Autos zu bauen. Die
Europäische Kommission hatte enorme Schwierigkeiten, von den
Mitgliedstaaten ein Verhandlungsmandat mit Japan zu bekommen.
Es gelang daher nicht, damals Japans weitgehend geschlossene
Märkte rechtzeitig zu öffnen. Typisch für die europäische Einstel-
lung war ein Kommentar von Charles de Gaulle, der anno 1964 den
ihn besuchenden japanischen Premier Ikeda abschätzig einen „Tran-
sistor-Verkäufer“ nannte. Ikeda hatte in den Gesprächen mit de
Gaulle versucht, den französischen Markt für japanische Radios zu
öffnen, während de Gaulle nur am großen strategischen Diskurs über
die Weltlage interessiert war.
2. 1975-85: Von den beiden Ölkrisen ausgelöst beginnen japanische
Exportoffensiven Schlüsselsektoren der EU-Wirtschaft ernsthaft zu
beschädigen. Dazu zählen die Automobilindustrie, der Schiffsbau,
Stahl, Kugellager und die Unterhaltungselektronik. Die meisten euro-
päischen Hersteller von Motorrädern, Uhren, Radios und Kameras
sind bereits tot. Weil der japanische Markt in fast allen für die euro-
päische Industrie interessanten Sektoren geschlossen bleibt, ist das
Handelsungleichgewicht gewaltig. Trotz der Versuche eines gewissen
Inselstaates, die gemeinsame Handelspolitik gegenüber Japan im
2
Für Details zu den ersten zwei Phasen siehe: Albrecht Rothacher. Economic
Diplomacy between the European Community and Japan. Aldershot. 1983.
Japan, Europa und die EU 257
Ich selbst war 1987-91 bei den Ministerien für Landwirtschaft, Ge-
sundheit, Transport, Finanzen und Wirtschaft im Dauereinsatz. Da-
mals war die japanische Wirtschaft auf dem Höhepunkt ihrer Stärke,
nachdem die Bank von Japan die Unternehmen mit billigem Kapital
nach der Yen-Aufwertung von 1985 geflutet hatte. Japanische Fir-
men schienen die Welt aufzukaufen (und schauten dabei nicht auf
die Preisschilder): das Rockefeller Center, MCA, CBS Records, Co-
lumbia Pictures, Intercontinental Hotels, halb Hawaii, jede Menge
Weingüter in Bordeaux, Schlösser am Rhein, Golfclubs und impres-
sionistische Gemälde. Die japanische Managementkunst wurde als
Vorbild für die Welt gepriesen3. Als Daimler Benz noch in der Ära
Reutter eine strategische Allianz mit Mitsubishi vereinbarte, träum-
ten einige, die beiden könnten nun die US-Hegemonie in der Luft-
und Raumfahrt brechen4. Wir wissen, was dann passierte. Schon
1989 meinte mein damaliger Chef, der frühere niederländische Pre-
mier Andries Van Agt seherisch: „Die industrielle Zusammenarbeit
zwischen der EU und Japan funktioniert nicht, aber es wird mehr
davon geben“.
4. Seit 1991: 1991 wurde eine großartige Deklaration zwischen der EU
und Japan verabschiedet. Sie wurde nach dem hochrangigen Bot-
schafter Owada benannt (dessen tüchtige Tochter später den japani-
schen Kronprinzen ehelichen sollte und jetzt als Kaiserin sehr trau-
rig aussieht), und besagt im Wesentlichen: Lasst uns wieder Freunde
werden und alle bilateralen und Weltprobleme durch Dialog lösen
und nicht länger nach Art der Amerikaner hart und ergebnisorien-
tiert verhandeln. Als der Frieden ausbrach, platzte rein zufällig auch
die japanische Spekulationsblase, und für Japan und einige große
europäische Länder – Deutschland, Italien und Frankreich haupt-
sächlich – begann eine lange Dekade der strukturellen Stagnation.
Japan und die kranken Männer Europas verschuldeten sich auf Kosten
der nächsten Generation massiv: die Japaner für die Rettung ihrer
maroden Banken und für Bauprogramme, die Europäer für ihren
aufgeblähten Sozialstaat. Die demographische Situation ist für bei-
de Seiten katastrophal, freilich ohne dass dies irgend jemanden zu
3
Ezra F. Vogel. Japan as Number One: Lessons for America. Cambridge MA.
1979.
4
Reinhard Büscher und Jochen Homann. Japan und Deutschland: Die späten
Sieger. Zürich 1990. S. 53ff.
Japan, Europa und die EU 259
5
Z.B. Karl Pilny. Das asiatische Jahrhundert. Frankfurt 2005.
6
Siehe als offizielle Quelle: http://europa.eu.int/comm/external_relations/japan.
7
Michael Reiterer. Asia-Europe. Do they meet? Singapur 2002.
260 Japan, Europa und die EU
Zu einer für die japanischen Zuschauer witzigsten Serie auf einem Privat-
fernsehkanal zählte lange eine Komödie, bei der sich ein komischer Aus-
länder (henna gaijin) in japanischen Wohnungen stets gründlich daneben
benahm. Nicht nur marschierte er nach Art von James Bond („Man lebt
nur zweimal“) durch die Papiertüren. Er küsste die Hausfrau zur Begrü-
ßung ab, marschierte mit Schuhen aufs tatami, sprang eingeseift ins Bade-
wasser, räumte ungefragt den Kühlschrank leer, ließ sich aufs Sofa plump-
sen, das prompt zusammenbrach, goss die Tonkatsu-Soße über die Sushi
und fraß die Mandarinen vom Ahnenaltar. Nicht mehr können vor Lachen.
Keine Frage, man wird in Japan immer Fehler machen1. Doch Japaner
erwarten von einem Ausländer nichts anderes. Haben sie selbst im Ausland
nicht auch dauernd Schwierigkeiten mit unerfindlichen fremden Sitten und
Gebräuchen? Zum Beispiel mit schmutzigen Schuhen in fremde Wohnun-
gen gebeten zu werden oder in Hotelzimmern eingeseift das saubere Ba-
dewasser verschmutzen zu sollen.
Der unvermeidliche faux pas wird schnell vergeben, vorausgesetzt der
Ausländer macht sichtbare Bemühungen, sich an manche Landesgewohn-
heiten anzupassen und hält die Mindestregeln der universal gültigen Nor-
men des Anstands und der Redlichkeit ein.
Japanische Regeln sind durchaus sinnhaft. Sie sind das Ergebnis des
notwendigerweise disziplinierten Zusammenlebens unter überfüllten, be-
engten Bedingungen, beim Wohnen, in der U-Bahn und im Großraumbüro.
Deshalb ist strikte Sauberkeit ein Muss. Niemand möchte in der Bahn
stundenlang gegen Zeitgenossen gepresst werden, die sich seit zwei Wochen
nicht geduscht haben. Arbeiter ziehen jeden Morgen ihren frisch gewa-
schenen, gebügelten Blaumann an. Keiner käme auf die Idee, die schmut-
zigen T-Shirts und Jeans von gestern anzulegen. Selbst die Obdachlosen in
ihren Zeltstädten sind sauber und hängen ihre ärmliche Wäsche in den
1
Für einen detaillierteren Knigge zum richtigen Benimm im japanischen Alltags-
leben, bei förmlichen Anlässen und Festen, und auf Reisen siehe: Albrecht
Rothacher. Japanese Customs and Etiquette. A Practical Handbook. Selangor/
Singapur 2005.
262 Sozialverhalten im Wirtschaftsleben. Die Freuden und Leiden der Expats
Stadtparks auf die Leine. Auch die Lärmbeschallung der Mitmenschen ist
tunlichst reduziert. In öffentlichen Verkehrmitteln wird nicht telefoniert,
sondern eifrigst SMS-Botschaften verschickt. Unterhaltungen laufen halb-
laut ab. Gebrüll und öffentliche Temperamentsausbrüche gelten als uner-
zogen und als peinliche Zeugnisse mentaler Unreife. Jeder Japaner weiß,
wie er sich zu benehmen hat. Selbst Gangster sind höflich zu ihren Bossen
und die wüsten Teenager von Harajuku werden bei Job-Interviews plötz-
lich adrett und sanft wie die Lämmer.
Die Grundregeln des japanischen Benimm sind keine Mysterien des
Orients. Sie sind leicht erlernbar. Es gibt fünf strikte Njets (iie):
niedrig steht, dass er besser der gleichen Meinung ist. Small talk erfolgt
mit vorhersehbaren Themen und Antworten. Es wird nach den Erfahrun-
gen der Anreise gefragt, nach dem Vertragen japanischen Essens, und dass
Deutschland gutes Bier, gute Soldaten, gute Fußballer und gute Druckma-
schinen hat. Dieses halbstündige Palaver wird gnadenlos vor allen Ge-
schäftsverhandlungen durchgezogen. Es dient dem gegenseitigen Kennen-
lernen und versucht auszuloten, ob der fremde Partner seriös ist, gute
Manieren hat, und – am wichtigsten – ob er sympathisch ist und man mit
ihm dauerhaft Geschäfte machen könnte. Der Versuch, das Ganze im Sin-
ne einer wohlverstandenen Zeitökonomie abzukürzen, gilt als Zeichen von
Ungeduld und schlechten Manieren. Bei jeder Unterhaltung gilt, dass
freundliches Lächeln, Nicken oder Ja-sagen (hai, hai) keine Zustimmung
ausdrückt, sondern höfliches Interesse: Ja, Ja. Ich verstehe, höre zu, fahren
Sie fort. Schweigen ist nicht peinlich, sondern gilt als Verstehen ohne
Worte. Eine Gedankenpause vor der Antwort ist Ausdruck des reiflichen
Überlegens einer seriösen Fragestellung. Keinesfalls ist Schweigen das
Signal zum Aufbruch. Erst der Blick des Gegenübers auf die Uhr ist es, bei
dem er sich für den Besuch und das wertvolle Gespräch bedankt. Da die
Japaner die direkte Konfrontation scheuen, bemühen sie sich, negative
Antworten zu vermeiden. Ohnehin werden Entscheidungen nicht, wie in
Deutschland, während der Geschäftsbesprechungen getroffen und nach
und nach festgeklopft, sondern erst in langwierigen internen Konsultatio-
nen danach. Wenn Japaner von Anfang an desinteressiert sind, merkt man
dies am niedrigen Rang der Gegenüber, den kursorischen Fragen und der
Kürze der Unterredung ohnehin schnell. Wenn das Interesse ernsthaft ist,
wird man von Abteilung zu Abteilung herumgereicht, überall mit dem
gleichen small talk und ähnlichen Fragen traktiert – deren hoffentlich glei-
che Antworten nachher verglichen werden. Wichtig ist, dass man selbst
auch Fragen über das Unternehmen auf Lager hat und sich die Antworten
brav notiert. Schließlich ist ein seriöser Eindruck unabdingbar.
Das eigene Englisch sollte möglichst simpel (speak easy) sein. Australi-
scher Wortwitz und elaboriertes Oxbridge kommen schlecht an. Der Aus-
länder läuft ohnehin für die meisten Japaner wie eine lebendige Sprachprü-
fung herum, die ihn an übelste Oberschultests erinnert und bei der er
ständig Angst haben muss, durch Fehler das Gesicht zu verlieren. Auch
wenn man etwas Japanisch kann, wird die Antwort unweigerlich ein
schwer verständliches Höflichkeitsjapanisch (keigo) sein. Wenn man etwa
im Kaufhaus nach der Toilette fragt, wird geantwortet, der Hochwohlgebo-
rene Herr Kunde (o-kyaku-sama) möge sich bitte, falls es beliebt, in jener
Sozialverhalten im Wirtschaftsleben. Die Freuden und Leiden der Expats 265
Das erste Muss ist, pünktlich zu sein. Japanische Arbeitstage sind – vor
allem bei den höheren Dienstgraden – minutiös verplant. Verspätungen
bringen ihn unentschuldbar durcheinander. Verkehrsstaus und die unbe-
kannte Geographie Tokyos sind keine Entschuldigungen. Man bricht dann
30 Minuten früher auf und sondiert die Lokalität vorher. Japaner tun das
auch. Vor wichtigen Besuchen werden vorher sogar die Toiletten inspi-
ziert. Man lässt sich von der Empfangsdame melden und wird dann in die
Sitzecke eines Großraumbüros oder in ein steriles Besprechungszimmer
geleitet. Das Besuchsprogramm mit den verschiedenen Terminen und Be-
sichtigungen bei der Firma wird ausführlich vorgestellt, auch wenn man es
schon längst per Fax erhalten hat. Der unvermeidliche small talk: Wie
gefällt Ihnen Japan, japanisches Essen, japanische Frauen? Sehr heiß/kalt/
regnerisch heute. Typisch/untypisch für die Jahreszeit. Deutschland schönes
Land. War schon in Düsseldorf/Heidelberg/München/Hannover. Gutes Bier
(Heineken?), Fußball, Riesling, Beethoven, Druckmaschinen … Dann sollte
man auch etwas Intelligentes über Japan sagen. Aber bitte nicht gleich mit
dem Walfang, dem Yasukuni-Schrein und dem Massaker von Nanking
anfangen. Etwas Bildung wäre gut. Yukio Mishima (seppuku!), Yanusari
Kawabata (Nobelpreis!), Haruki Murakami als Schriftsteller, oder Yasujiro
Ozu, Kenji Mizoguchi, und Akira Kurosawa (Die sieben Samurai) als
klassische Filmregisseure. Wichtig ist, nicht nur über die eigenen Produkte
und Firmengeschichte Bescheid zu wissen, sondern sich auch schon vorher
gewisse Grundkenntnisse japanischer Kultur, Geographie, Geschichte und
Politik angelesen zu haben. Die Lektüre eines Reiseführers im Flugzeug
hilft nicht sehr weit. Bei der Diskussion von Zeitvertreiben muss man sich
vergegenwärtigen, dass Japaner für ihre Firma leben, nicht für ihre Hob-
bies. Die meisten haben sie in ihrer Studentenzeit gepflegt. Jetzt schlafen
sie am Sonntag lieber aus. Sie haben schlicht keine Zeit für lange Aus-
landsurlaube, Rafting und Bergsteigen. Es bleibt etwas Golf, gelegentliche
Konzerte oder den Sohn zum Baseball zu fahren.
Wie erwähnt, erfolgen dann mit allen Abteilungen, deren Mitarbeiter
involviert sind, ähnliche Fragen, alle mit der Tonalität: Ist man ein ernst-
hafter Anbieter mit langfristigem Japaninteresse, der an alle Eventualitäten
schon gedacht und auf sie vorbereitet ist? Erfolgsgeschichten spontanen
Improvisierens beeindrucken wenig. Schließlich werden alle, die eine posi-
tive Entscheidung zur Zusammenarbeit mitgetragen haben, später bei auf-
tretenden Problemen intern verantwortlich gemacht. Da hilft es, wenn man
alle Eventualitäten schon vorher nachweislich eruiert hat. Wird man der
Direktorenebene vorgestellt, sind das zumeist reine Höflichkeitsveranstal-
tungen. Wenn es sich nicht gerade um eine strategische Entscheidung
268 Sozialverhalten im Wirtschaftsleben. Die Freuden und Leiden der Expats
2
Amelie Nothomb. Mit Staunen und Zittern. Zürich 2000. Der Roman gewann
den Grand Prix der Academie francaise.
3
Das gleiche Programm gibt es auch für Korea.
272 Sozialverhalten im Wirtschaftsleben. Die Freuden und Leiden der Expats
4
ETP Association. ETP Alumni Directory. Tokyo 2005.
Sozialverhalten im Wirtschaftsleben. Die Freuden und Leiden der Expats 273
dass die ach so höflichen Japaner es doch nicht schätzen, wenn man sich
unausgesetzt über sie beschwert.
Schließlich überwindet man jenen Kulturschock, oder man tut es nicht.
Im zweiten Fall sollte man so bald wie möglich den Heimflug buchen,
bevor man endgültig verbittert. Das keine Frage persönlichen Scheiterns,
sondern nur eine Schlussfolgerung, aus der vernünftige Konsequenzen zu
ziehen sind. Im ersten Fall gilt es, das neue Leben, die harte Arbeit und die
ständigen professionellen und intellektuellen Herausforderungen möglichst
in vollen Zügen zu genießen. Woanders bekommt man das nämlich in die-
ser Intensität nirgendwo geboten.