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Studien zum Wirtschaftsstrafrecht – Neue Folge

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Strafrechtspflege Erinnerung an Joachim Vogel


Tiedemann/Sieber/Satzger/Burchard/Brodowski (Hrsg.)

Die Verfassung moderner


Strafrechtspflege

Die Verfassung moderner


Erinnerung an Joachim Vogel

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Nomos
ISBN 978-3-8487-3369-9

BUC_Tiedemann_3369-9_HC.indd 1 11.08.16 11:04


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Studien zum Wirtschaftsstrafrecht – Neue Folge

herausgegeben von
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Professor em. Dr. Dr. h.c. mult. Klaus Tiedemann,


Universität Freiburg i. Br.
Professor em. Dr. Dr. h.c. mult. Bernd Schünemann,
N

Ludwig-Maximilians-Universität München
Professor Dr. Thomas Rönnau,
©

Bucerius Law School Hamburg

Band 10

BUT_Tiedemann_3369-9_HC.indd 2 25.07.16 10:56


Klaus Tiedemann/Ulrich Sieber/Helmut Satzger/
Christoph Burchard/Dominik Brodowski (Hrsg.)

Die Verfassung moderner


Strafrechtspflege

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Erinnerung an Joachim Vogel
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Nomos

BUT_Tiedemann_3369-9_HC.indd 3 25.07.16 10:56


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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in
os
der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-8487-3369-9 (Print)
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ISBN 978-3-8452-7695-3 (ePDF)


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1. Auflage 2016
© Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2016. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte,
auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der
Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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“The Marriage of The Regulatory Process and The Criminal
Law” – Eine verfassungsrechtlich kritische Einführung

Jesús-María Silva Sánchez*

I. Einführung

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Ausgehend von der Unterscheidung Searles zwischen konstitutiven und
regulativen Regeln, 1 ließe sich das gesamte Strafrecht als regulativ verste-
hen (es schafft Regeln und verhängt Sanktionen). Tatsächlich lässt sich
aus einem bestimmten Blickwinkel heraus bestätigen, dass das Strafrecht
20
keine Rechtsstellungen definiert, sondern sich nur auf deren Schutz be-
schränkt. Nichtsdestotrotz kann der sekundäre oder akzessorische Charak-
ter des Strafrechts nicht dessen Autonomie bei der Auswahl seiner Schutz-
objekte leugnen. Beim Kern der Verbrechen mala in se ist es zutreffend,
os
dass das positive Strafrecht eine rein deklaratorische Rolle bei der Zuwei-
sung der Strafrechtswidrigkeit derjenigen Verhaltensweisen einnimmt, de-
nen eben diese kriminelle Natur inhärent ist. Diese Behauptung lässt je-
doch Nuancen zu, sobald man sich den Randbereichen der Straftaten mala
om

in se annähert. In seiner Peripherie nimmt das Strafrecht – mittels eines ei-


genständigen Strafwürdigkeits-, aber auch Strafbedürftigkeitsurteils – eine
ko-konstitutive Rolle des Objekts strafrechtlicher Sanktionen ein; ein Ob-
jekt, das den Wesenszügen des materiellen Straftatbegriffs zu entsprechen
N

hat. Dies gilt besonders im Falle der Delikte mala (quia) prohibita. In die-
sen Fällen kann die allgemeine Rechtswidrigkeit des entsprechenden Ver-
haltens einer strategischen oder Opportunitätsentscheidung des Verwal-
tungsgesetzgebers oder sogar staatlicher Agenturen im Zuge der Delegati-
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on geschuldet sein. Daher müssen die Überlegungen der Strafwürdigkeit


und der Strafbedürftigkeit eine zentrale Rolle bei der Entscheidung spie-
len, ob ein malum quia prohibitum Gegenstand strafrechtlicher Sanktionen
sein sollte oder eben nicht. Auch hier muss das Leitprinzip des materiellen

* Der erste Teil des Titels dieses Beitrags bezieht sich auf Larking Hofstra L. Rev. 42
(2014) 745 (746). Für die geleistete Hilfe bei der Übersetzungsarbeit bedanke ich
mich sehr herzlich bei Herrn Dr. Axel-Dirk Blumenberg, Abogado. Madrid.
1 Searle The Construction of Social Reality, 1995.

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Jesús-María Silva Sánchez

Straftatbegriffs ausschlaggebend sein. Allerdings zeigt die Entwicklung


der Strafgesetzgebung, dass nicht nach der beschriebenen Methode vorge-
gangen wird, sondern das genaue Gegenteil der Fall ist. Dies zeigt sich in
zweifacher Weise: (i) Subversion des Kriteriums der Strafbedürftigkeit;
und (ii) Verschwinden des Kriteriums der Strafwürdigkeit als eigenständi-
ges Element. Dies bedeutet in der Praxis, dass bei der gegenwärtigen Kon-
zeption des Verhältnismäßigkeitsprinzips lato sensu das Untermaßverbot
das Primat gegenüber dem Übermaßverbot übernommen hat.
Dieses Phänomen, dass in der Strafrechtslehre vor mehr als zwei Jahr-
zehnten – unabhängig von einer positiven oder negativen Wertung – be-

16
schrieben wurde, entsteht, wie im Folgenden ausgeführt wird. In der ga-
rantistischen Konzeption des Subsidiaritäts- oder ultima-ratio-Prinzips
(als Ausdruck der Strafbedürftigkeit) ist dieses auf einer sekundären Ana-
lyseebene verordnet, die mithin der ersten, von der Strafwürdigkeit einge-

20
nommenen, Ebene untergeordnet ist. Damit ist es zunächst angebracht, zu
bestimmen, ob ein Verhalten einer strafrechtlichen Sanktion würdig ist, al-
so ob diese Sanktion verhältnismäßig stricto sensu ist. Sollte das Ergebnis
dieser Abwägung negativ sein, so muss auch die Entscheidung über eine
os
mögliche Kriminalisierung vorbehaltlos negativ ausfallen; mit anderen
Worten lässt sich nicht aufgrund von noch so großer Strafbedürftigkeit
eine Strafe für ein Verhalten verhängen, das ihrer nicht würdig ist. Sollte
das Urteil über die Strafwürdigkeit hingegen positiv ausfallen, so muss die
om

Entscheidung über eine mögliche Kriminalisierung nicht notwendigerwei-


se gleichlauten. Nicht jedes strafwürdige Verhalten bedarf einer strafrecht-
lichen Sanktion. Und eine Strafsanktion gegenüber einem Verhalten zu
verhängen, das ihrer zwar würdig sein mag, aber ihrer nicht bedarf – weil
es auf außerstrafrechtlichem Wege wirksam unterbunden werden kann –
N

würde das Übermaßverbot verletzen. Das auf diese Weise verstandene


Subsidiaritätsprinzip impliziert, dass die Strafbedürftigkeit niemals aus
sich selbst heraus die Verhängung einer Strafe rechtfertigen kann; im Ge-
©

genteil, das Fehlen der Strafbedürftigkeit kann selbige ausschließen, auch


wenn das Verhalten noch so strafwürdig sein möge.
In der modernen, anti-garantistischen Konzeption des Subsidiaritäts-
oder ultima-ratio-Prinzips nimmt diese Strafbedürftigkeit die erste Prü-
fungsebene vor der Strafwürdigkeit ein. Lässt sich eine sozialschädliche
Handlung nicht auf befriedigende Weise durch den verwaltungsrechtlichen
Sanktionsapparat bekämpfen, so wird auf eine bestehende Strafbedürftig-
keit geschlossen. Und diese Strafbedürftigkeit aufgrund unzureichender
außerstrafrechtlicher Präventionsmechanismen muss notwendigerweise

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“The Marriage of The Regulatory Process and The Criminal Law”

zur Verhängung einer Strafe führen. Wenn ein Verhalten Strafe bedarf, so
spielt aus diesem Blickwinkel das Urteil der Strafwürdigkeit keine Rolle:
Insbesondere darf diese kein Ausschlussgrund für die Verhängung einer
Strafe sein, weil damit das Untermaßverbot unterlaufen würde. Wie be-
reits erwähnt, beraubt diese Konzeption das Strafrecht jeglicher Entschei-
dungsfreiheit in Bezug auf dessen Anwendungsbereich. Die alleinige Fest-
stellung der möglichen Unzulänglichkeit verwaltungsrechtlicher Schutz-
mechanismen genügt, um eo ipso auf das Strafrecht zurückzugreifen. Mei-
nes Erachtens liegt diese kriminalpolitische Überlegung den regulativen
Modellen des Strafrechts zugrunde, denen wir uns im Folgenden zuwen-

16
den.

II. Das Strafrecht eines neuen Staatsmodells


20
Seit über zwei Jahrzehnten besteht Einigkeit darüber, dass wir uns vor
einem neuen Staatsmodell befinden. Einerseits bedeutet dies keine Rück-
kehr zum alten, der Gefahrenabwehr verschriebenen Polizeistaat bis-
os
marckscher Prägung. Anderseits scheint klar zu sein, dass damit das Ver-
schwinden des Wohlfahrtsstaats bzw. des Leistungsstaats einhergeht. Das
neue Staatsmodell – der Regulatory State2 - zeichnet sich formell durch
die Delegation der Macht zentraler staatlicher Institutionen auf aus Exper-
om

ten bestehende, unabhängige Regulierungsagenturen („independent regu-


latory agencies“) aus. Solche technokratischen Institutionen entscheiden
darüber, was und wie zu sanktionieren ist. Diese regulatorische Delegation
geht mit dem Rückgang direkter staatlicher Intervention in verschiedenen
Wirtschaftsbereichen einher. Diese „Verschlankung des Staates“ steht
N

stellvertretend in der öffentlich-rechtlichen Debatte für den Übergang vom


Leistungsstaat zum Gewährleistungsstaat,3 der soziale Leistungen durch
diejenigen erbringen lässt, die am besten (wegen seiner Erfahrung und
©

Kenntnisse) dazu im Stande sind: Private Dritte. Damit findet die Delega-
tion nicht nur auf staatliche Institutionen sondern auch auf den privaten

2 Vgl. Majone West European Politics 17 (1994), 77 ff.; ders. Journal of Public Poli-
cy 17 (1997), 139 ff. In den USA ist die Debatte über den Regulatory State und das
Bestehen von regulatory offences sehr viel älter.
3 Dieses Konzept lässt sich zurückführen auf Eifert Grundversorgung mit Telekom-
munikationsleistungen im Gewährleistungsstaat, 1998. Vgl. auch Schuppert Der
Gewährleistungsstaat – ein Leitbild auf dem Prüfstand, 2005.

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Jesús-María Silva Sánchez

Sektor oder auf ein Kooperationsmodell beider statt, sodass sowohl die
technische Regulierung als auch und vor allem die regulierte Selbstregu-
lierung das neue Staatsmodell prägen.4
Die moderne Option der Dezentralisierung von Kontrollstrukturen,
letztlich im Wege regulierter Selbstregulierung (und Selbstexekution),5
bildet ein dem Gewährleistungsstaat eigenes Konzept: Ein „beobachten-
der“ Staat, der im Kontext der Europäisierung und der Privatisierung die
Letztverantwortung für das Gemeinwohl trägt und gleichzeitig auf die
selbstregulatorischen Kräfte der Gesellschaft – insbesondere der Privat-
wirtschaft – vertraut. Dabei wird ein Netz privater Akteure geknüpft, das

16
die öffentlichen Verwaltungen unterstützt (mithin handelt es sich um
Amtsträger im weiteren Sinne, sei es auf freiwilliger oder verpflichtender
Basis).6
Das Grundgerüst dieser Konzeption wird durch die Schaffung eines re-

20
gulativen Rahmens definiert. Dieser Rahmen – letztlich durch die Kon-
trollinstanzen festgelegt – bildet ein Mehrebenensystem. Das supranatio-
nale Recht, sei es soft law bestehend aus Empfehlungen internationaler
Organisationen, oder hard law, europäisches Recht und – schlussendlich –
os
nationale Gesetzgebung in ihren verschiedenen Ausprägungen – inklusive
regulatorischer Institutionen –, beeinflussen die Ausgestaltung dieses Rah-
mens. Ist dieser einmal festgelegt, geht es um die Setzung einer Selbstre-
gulierung, die in der Lage ist, dessen Anforderungen zu erfüllen.
om

Das Modell zeigt Probleme sowohl auf oberer als auch auf unterer Ebe-
ne auf: Auf oberer Ebene, weil der Rahmen nationaler Regulierung durch
supranationale Organisationen und den europäischen „Gesetzgeber“ be-
stimmt werden. Damit nimmt das nationale Gesetz, „das unter Beachtung
der angeordneten Bindungswirkung von Rahmenbeschlüssen erlassen
N
©

4 Folgen wir den im Übrigen überzeugenden Ausführungen Braithwaites, so handelt


es sich nicht um eine neoliberale Deregulierung, sondern stattdessen um eine regu-
latorische Dichte neuerer Prägung. Daher zieht es der Autor vor, anstatt von „Regu-
latory State“ von „Regulatory Capitalism“ zu sprechen. Vgl. Braithwaite Neoliber-
alism or Regulatory Capitalism, 2005; ders. Regulatory Capitalism: How it Works,
Ideas for Making it Work Better, 2008.
5 Regulierte Selbstregulierung als Steuerungskonzept des Gewährleistungsstaates: Er-
gebnisse des Symposiums aus Anlaß des 60. Geburtstages von Wolfgang Hoff-
mann-Riem, Die Verwaltung Beiheft 4, 2001.
6 Vgl. Kadelbach/Günther (Hrsg.) Recht ohne Staat? Zur Normativität nichtstaatli-
cher Rechtsetzung, 2011, S. 9 ff.

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“The Marriage of The Regulatory Process and The Criminal Law”

wird“, die seltsame Stellung eines „mechanischen Kopiervorgangs“ ein.7


Weil außerdem das demokratische Defizit der europäischen Regulierung
derzeit weiterhin unbehoben ist,8 lässt sich feststellen, dass der obere Rah-
men der Regulierung immer noch dem weit vom Standard eines demokra-
tischen Parlamentsgesetzes (das wiederum Defizite wie Büro- oder Parti-
tokratie aufweist) entfernten Modell „gubernativer Rechtsetzung“9 ent-
spricht. Wie Habermas aufzeigt, genügt dabei nicht einmal eine Verfas-
sung: Es wäre vielmehr notwendig, von einer Übereinkunft zwischen sou-
veränen Staaten zu einem System europäischer Parteien und einer europä-
ischen Zivilgesellschaft mit transnationalen Kommunikationsmedien über-

16
zugehen.10 Dies fordert auch Braum: Eine in der Praxis effektive Verfas-
sung bedarf eines „Kommunikationssystems“.11 Aber in Europa gibt es
immer noch weder eine öffentliche Meinung noch eine echte Verfassung,
die der Souveränität eines kulturell integrierten Volkes entspricht. Es do-
20
minieren selektive Diskurse von Experten und Interessengruppen, wäh-
rend der Gedanke einer die Gesamtheit betreffenden res publica als politi-
sches Konzept Zukunftsmusik bleibt.12
Auf einer Zwischenebene verweist die nationale Gesetzgebung – in
os
einem vorher festgelegten Rahmen – auf Expertenagenturen, beinahe ohne
eine politische Entscheidung, die den Übergang von einer Expertenebene
auf die nächste begleiten würde.13 Auf der unteren Ebene wird die Selbst-
regulierung in diesem dreifachen Rahmen Privaten überlassen. Das Gesetz
om

des demokratischen Staates mündet aufgrund seines komplexen Quellen-


systems in ein Meer von Prozessen der Entstaatlichung, Entgesetzlichung
und Privatisierung.
N

7 Schünemann GA 2004, 193 (201).


8 Näher zu demokratischen und verfassungsrechtlichen Defiziten der Europäischen
Union, Bastida La soberanía borrosa: la democracia, in: Fundamentos. Cuadernos
©

monográficos de teoría del Estado, Derecho público e Historia constitucional, 1/


1998 (Soberanía y constitución), 381, 392 f.
9 von Bogdandy Gubernative Rechtsetzung: eine Neubestimmung der Rechtsetzung
und des Regierungssystems unter dem Grundgesetz in der Perspektive gemeineu-
ropäischer Dogmatik, 2000.
10 Habermas Journal of Democracy, 14/4, October 2003, 86 (98). Dabei wird auch
die Notwendigkeit hervorgehoben, Entscheidungen nicht nur auf Kompromissen,
sondern auf anerkannten intersubjektiven Normen und Werten basieren zu lassen
(S. 99 Fn. 7).
11 Braum Europäische Strafgesetzlichkeit, 2003, S. 570 f.
12 Braum (Fn. 11), S. 571.
13 Vogel, in: FS Jakobs, 2007, S. 731 (733 ff.).

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Jesús-María Silva Sánchez

So formuliert es Collins:14
“In scholarly examinations of regulatory techniques, a contrast is frequently
drawn between [‘]command and control’ styles of regulation and ‘responsive’
(or reflexive) regulation. The former style of regulation approximates to crim-
inal law. The rules are imposed by the regulator (or parliament): inspectors
monitor compliance; and courts or specialist tribunals impose deterrent sanc-
tions against breach of regulations. In contrast, responsive regulation seeks to
achieve the collaboration and co-operation of those subject to regulation. In
setting the standards, it favours the use of self-regulation, so that within a
broad requirement fixed by legislation the participants can settle through
negotiation the detailed rules to govern transactions.”

16
Die paradigmatischen Verstöße, um die es hier geht, sind folgende: Die
Nichteinhaltung des regulatorischen Rahmens sowohl aufgrund fehlender
oder unzureichender Selbstregulierung als auch aufgrund Überschreitung
des festgelegten Rahmens; die fehlende Kollaboration mit den Regulie-

der Selbstregulierung selbst. 20


rungsagenturen; und schließlich die Verletzung der Vorgaben des Modells

Aber die Kernfrage bleibt, ob und warum diese als strafrechtliche Ver-
stöße zu werten und folglich gegenüber den Tätern Kriminalsanktionen zu
os
verhängen sind.15 Das Strafrecht, so wie wir es verstehen, mit seinen Nu-
ancen aufgrund von Blankettgesetzen und normativen Elementen, zeichnet
sich gerade durch seine Verbindung zum zentralen Kern staatlicher Ge-
setzgebung aus.16 Sobald private Experten – m.a.W. der Stand der Technik
om

– ins Spiel kommen, geht diese Verbindung verloren, es sei denn, die en-
gen Grenzen staatlicher Regulierung werden eingehalten.
Die Dinge haben sich, wie Lacey betont, gewandelt:
“[A]t the level of criminal justice practices – policing, punishment, prosecut-
N

ing and so on – there are many signs of a more indirect and diffuse style of
regulation emerging in the governance of the public authorities which carry
out these activities and of the private bodies to whom many aspects of the ac-
tivities are increasingly delegated. And in areas such as business regulation,
©

environmental protection, health and safety, there have certainly been moves
towards using criminalisation as the peripheral or last-resort framework un-

14 Collins Regulation Contracts, 1999, S. 65, zitiert nach Lacey Oxford Legal Studies
Research Paper No. 50 (2004), abrufbar unter http://ssrn.com/abstract=2126521
(17.9.2015), S. 7 f.
15 Kritisch Brown Journal of Law, Economics and Policy 7 (2010–2011) 657 ff.
16 Vgl. Montaner Fernández La Ley Nr. 7418, 7. Juni 2010, 1 ff., mit einer negativen
Bilanz.

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“The Marriage of The Regulatory Process and The Criminal Law”

derpinning practices of self-regulation which include elements of standard-


setting as well as monitoring”.17
Die Antwort auf die Frage nach dem Rollenwechsel des Strafrechts gestal-
tet sich relativ einfach. Im Rahmen eines so verstandenen Modells korre-
spondiert der Rückgriff auf das Strafrecht mit der Notwendigkeit der Ver-
stärkung bestehender Anreize zur Vermeidung von Verstößen.18 Wie be-
reits erörtert, basiert die strafrechtliche Intervention als staatliche Stütze
der regulierten Selbstregulierung auf der Strafbedürftigkeit, verstanden als
utilitaristische Begründung der Kriminalisierung von Verhaltensweisen
unter völliger Außerachtlassung der Strafwürdigkeit. Die Logik der Ver-

16
hältnismäßigkeit im engeren Sinne oder die Kriterien des materiellen
Straftatbegriffs fehlen völlig. Es geht um die Verbesserung des law en-
forcement system, oder, wenn man so möchte, der deterrence theory equa-
tion.19
20
Das Modell scheint keine anderen Legitimationskriterien zuzulassen.
Aus diesem Grund bestehen gleichzeitig keine Hemmungen, demjenigen
Bürger Strafbefreiung zuzugestehen, der nach Tatbegehung mit der
Rechtspflege oder mit der Verwaltung kollaboriert; es ist nicht einmal aus-
os
geschlossen, Dritte wirtschaftlich zu prämieren, die mit der Verwaltung
zusammenarbeiten und für die Strafverfolgung wichtige Informationen lie-
fern.20 Aus diesen Gründen ist dem regulativen Modell das Opportunitäts-
prinzip inhärent. Auf gleiche Weise ist ihm die Konvertierung von Privat-
om

personen in Amtsträger zu eigen, auch wenn dies nur durch den Anreiz
einer möglichen Belohnung geschieht.21 Instrumentalisierung und Flexibi-
lisierung des Strafrechts sind damit, so scheint es zumindest, gewünschte
Effekte – oder zumindest Nebeneffekte – der regulativen Modelle. Aus der
N

Sicht des Strafrechts findet das Phänomen einer maximalen Ausdehnung


des dezentralisierten Netzwerks von Leistung und Kontrolle bei gleichzei-
©

17 Lacey (Fn. 14), S. 27.


18 Vogel, in: FS Jakobs, 2007, S. 731 (735, 736): „In dieser Begrifflichkeit stellen
Strafrecht und Strafrechtspflege nur eines der vielen Instrumente der Rechtsdurch-
setzung dar, um die Einhaltung des Rechts, also rechtmäßiges Handeln, zu erzwin-
gen“.
19 Zutreffend Nieto Martín Revista penal 2007, 120, im Besonderen 134.
20 Engstrom Theoretical Inquiries in Law 15 (2014) 605 ff., abrufbar unter http://
ssrn.com/abstract=2341808 (17.9.2015).
21 Vogel, in: FS Jakobs, 2007, S. 731 (742 ff.).

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Jesús-María Silva Sánchez

tig maximaler Dichte statt bei der Umfunktionierung juristischer Personen


in Präventionsbeauftragte für unternehmensinterne Straftaten.22

III. Verfassungsrechtliche Kritik und dogmatischer Umgang mit den


regulativen Strafrechtsmodellen

Das gegenwärtige Konzept und die Reichweite des Begriffs Strafgesetz-


lichkeit unterscheiden sich stark von denen des 19. und beinahe des gan-
zen 20. Jahrhunderts. Der Wesenshorizont der modernen Sicht der Gesetz-

16
lichkeit ist nicht die direkte Motivation des Bürgers durch den Inhalt der
Gesetze; dies ist mit Blick auf die Nuancen der Straftatbestände unmög-
lich. Mit der Forderung nach Strafgesetzlichkeit wird eine Interaktion zwi-
schen Legislative und Judikative bezweckt, die in legitimen und verlässli-

Rechtsauffassungen schaffen soll. 20


chen richterlichen Auslegungen münden und mithin voraussehbare

So verstanden fordert das Gesetzlichkeitsprinzip vom Gesetzgeber ei-


nerseits eine demokratische Legitimation und anderseits eine höchstmögli-
che Bestimmtheit.23 Gleichzeitig zeigt die demokratische Dimension zwei
os
Wesenselemente: Einerseits öffentliche Repräsentation und Diskussion,
die sich in der Schaffung von Mehrheiten widerspiegelt, die die Grundlage
für Gesetze bilden (deliberative Demokratie) und anderseits Anpassung an
om

Prinzipien und Grundrechte (konstitutionelle Demokratie).24


Das Gesetzlichkeitsprinzip verlangt vom Richter die Einhaltung des
Gesetzeswortlauts, sowie die Einhaltung des axiologischen Kanons der
Verfassung, Schlüsselelemente der demokratischen Legitimation von Ur-
teilen. Hinzu kommen die Gesetzesauslegung und -anwendung im Ein-
N

klang mit den Methoden der Rechtswissenschaft, was ebenfalls zur


Rechtssicherheit beiträgt.
Die vorherigen Ausführungen betrachten das Gesetzlichkeitsprinzip aus
©

der Perspektive strafrechtlicher Garantien nullum crimen sine lege und


nulla poena sine lege. Die Strafgesetzlichkeit umfasst jedoch ebenso sehr

22 Vogel, in: FS Jakobs, 2007, S. 731 (744).


23 In diesem Bereich sind die nationalen Verfassungsgerichte grundsätzlich tolerant.
Vgl. dazu Braum (Fn. 11), S. 32 ff. m.w.N.
24 Letztere muss verhindern, dass jegliches mehrheitsfähige Interesse im Laufe des
Gesetzgebungsverfahrens eo ipso zum Objekt des Strafrechts wird: Vgl. dazu kri-
tisch Braum (Fn. 11), S. 38 f. m.w.N.

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“The Marriage of The Regulatory Process and The Criminal Law”

Garantien des Strafverfahrens und des Strafvollzugs. Dies ist aus zwei
Gründen wichtig. Einerseits, weil dadurch klar wird, dass es keine Gesetz-
lichkeit ohne entsprechende Organe und Institutionen (also ordentliche
bzw. Verfassungsgerichtsbarkeit) geben kann. Anderseits, weil sich nur
dann von einem bestimmten Stand der Strafgesetzlichkeit sprechen lässt,
wenn der Stand des Strafprozessrechts und des Strafvollzugsrechts be-
kannt ist. Die Gesetzlichkeit zeigt sich in der Systemtheorie als ein Prin-
zip, das im strukturellen Kopplungspunkt des politischen Systems (zu dem
die Gesetze gehören) und des Rechtssystems (dem die Gerichtsentschei-
dungen zu eigen sind) verankert ist.25 Aufgrund der Aufgabe der Gerichte,

16
„zu richten und das Urteil ausführen zu lassen“, wäre es ein Irrtum, den
Begriff strafrechtlicher Gesetzlichkeit auf seine Eigenschaft als (stati-
sches) Produkt des politischen Systems zu reduzieren und dabei außer
Acht zu lassen, dass Gesetzlichkeit „in action“ (oder auch dynamische Ge-
20
setzlichkeit) Angelegenheit der Gerichte ist.26
Gesetzlichkeit nimmt im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts besondere
Formen an, was in besonderem Maße für den Bestimmtheitsgrundsatz
gilt.27 Da es sich um einen im Vorfeld durch das Privat- bzw. öffentliche
os
Recht geregelten Bereich handelt, besteht häufig ein höherer Grad an Nor-
mativierung als in anderen Bereichen des Strafrechts. Verweisungen auf
außerstrafrechtliche Normen oder Verwaltungsakte (Blankettgesetze), nor-
mative Elemente rechtlichen Inhalts, Wertungselemente,28 sowie in beson-
om

derem Maße richterlicher Auslegung zugängliche Generalklauseln haben


dabei Modellcharakter.29
Dies alles zeigt das in hohem Maße judizialisierte Wesen des Wirt-
schaftsstrafrechts, auch wenn häufig betont wird, dass ein Mindestmaß an
Bestimmtheit der gesetzlichen Vorschriften sich nicht allein auf deren
N

mögliche Bestimmbarkeit oder Bestimmtheit im Zuge der Auslegung re-


duzieren lässt.30 Einen Grenzfall stellt die Verweisung auf außerrechtliche
©

25 Piña Rochefort Rol social y sistema de imputación, 2005, S. 312 ff.


26 Donini Europeismo giudiziario e scienza penale, 2011.
27 Vgl. zu den verschiedenen Aspekten des Legalitätsprinzips die klare und prägnan-
te Darstellung von Schünemann Nulla poena sine lege?, 1978.
28 Grundlegend Lenckner JuS 1968, 249 (304 ff.).
29 Vgl. Haft JuS 1975, 477 (479). Über den Zusammenhang des Rückgriffs auf Ge-
neralklauseln, Pluralismus und des sozialen Wandels vgl. Scheyhing Pluralismus
und Generalklauseln, 1976.
30 Stächelin Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat, 1998, S. 207 ff., 227.

419
Jesús-María Silva Sánchez

Normen, also technische Vorschriften, dar.31 Damit wird nicht nur auf kla-
re Weise die Verbindung zwischen Rechtsetzung und Souveränität (Demo-
kratie) kompromittiert, sondern auch weitere relevante Institutionen. Dies
gilt insbesondere für kriminalpolitische Überzeugungen des Richters: Ist
die anzuwendende Vorschrift technischer Natur, so wird die Intervention
des Richters durch die eines Sachverständigen ersetzt. Weitere Probleme
sind die Prävalenz des Wirtschaftlichen über das Politische, oder die durch
dieses Phänomen hervorgerufene sektorbezogene Selbstregulierung.32
Ausgehend von den vorherigen Prämissen müssen die regulativen Straf-
rechtsmodelle aus verschiedenen Blickwinkeln geprüft werden.33 Aus der

16
Sicht des klassischen Konstitutionalismus sind die Einwände besonders
naheliegend.34 Einerseits zeichnen sich die Quellen der regulativen Straf-
rechtsmodelle durch die sogenannte „kooperative Rechtsetzung” aus. Da-
mit geht ein Rückgang der Staatlichkeit mit allen Konsequenzen einher:

20
Die Auflösung der Verbindung zwischen Rechtlichkeit und Rechtsstaat-
lichkeit, sowie dem Respekt vor der Demokratie.35 Das als Gesetzesvorbe-
halt verstandene Gesetzlichkeitssprinzip erfährt eine erhebliche Locke-
rung, die nicht mit den traditionellen leges artis bestimmter Berufsstände,
os
die immer schon als Maßstab etwa für die Beurteilung von Fahrlässigkeit
dienten, vergleichbar ist. Gleichzeitig ist das Bestimmtheitsgebot einer
starken Erosion unterworfen.
Darüber hinaus ist dieses Modell, das eine flexible Rechtsordnung bil-
om

den soll, allem Anschein nach nur schwer mit einem auf dem Legalitäts-
prinzip beruhenden Strafprozessrecht vereinbar, hat es doch viel mehr ge-
mein mit dem Ermessensspielraum der Staatsanwaltschaft bei der Straf-
verfolgung und dem plea bargaining.
Die Hauptfrage bleibt jedoch die nach dem Proportionalitätsprinzip bei
N

der Intervention des Strafrechts als Verstärkungsmittel der diesem regula-


©

31 Marburger Die Regeln der Technik im Recht, 1979; ders., in: Festgabe zum 10jäh-
rigen Jubiläum der Gesellschaft für Rechtspolitik, 1984, S. 275 ff.
32 Dies wird nach Esteve Pardo Técnica, riesgo y Derecho, 2001, S. 163 durch die
umfassende staatliche Regulierung ausgeglichen, auf die die Selbstregulierung
verweist. Vgl. ders. Autorregulación. Génesis y efectos, 2002.
33 Braithwaite Brit.J.Criminol. 40 (2000) 222 ff.; Baldwin Modern Law Review 67
(2004) 351 ff.; vgl. in diesem Zusammenhang auch: Criminal Law in Regulatory
Contexts. A Consultation Paper, 2010.
34 Weitere Einwände finden sich bei Larking Hofstra L. Rev. 42 (2014) 745 ff.
35 Interessengruppen nutzen die Gestaltung der Normen nicht selten zu Konkurrenz-
einschränkungen.

420
“The Marriage of The Regulatory Process and The Criminal Law”

tiven Modell eigenen regulierten Selbstregulierung. Dabei zeigt sich ein


weiterer, diskussionswürdiger Aspekt, nämlich der Zusammenhang zwi-
schen den regulativen Strafrechtsmodellen und der Expansion des Straf-
rechts bzw. der overcriminalization. Die Frage ist nun, wie dieser flexiblen
Expansion (bedingt durch einen gewissen Ermessensspielraum der Straf-
verfolgungsbehörden, sowie die Kollaborationsbereitschaft Privater) sinn-
volle Schranken gesetzt werden können.36
In diesem Bereich tritt zweifellos zu Tage, inwieweit das Verfassungs-
recht und seine Anwendung durch die Organe der Rechtspflege einen
Kontrapunkt zu den regulativen Strafrechtsmodellen zu setzen vermögen.

16
Die verfassungskonforme Auslegung der Tatbestände des regulativen Mo-
dells – insbesondere im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz –
kann zu einer erheblichen teleologischen Reduktion desselben führen.
Eine auf der verfassungsrechtlichen Ausrichtung der Tatbestände des
20
regulativen Strafrechtsmodells beruhende Dogmatik soll im Moment ihrer
Anwendung durch die Gerichte einen grundlegenden Anpassungsmecha-
nismus dieser neuen Tatbestände an ein Paradigma bedeuten, das immer
noch mit dem Selbstverständnis des Strafrechts als ultima ratio einher-
os
geht.
Die Dinge an diesem Punkt zu belassen würde außer Acht lassen, dass
es nicht die regulativen Strafrechtsmodelle sind, sondern der regulatori-
sche Staat selbst, der den Verfassungsrechtsstaat klassischer Prägung her-
om

ausfordert. Inwieweit diesen Herausforderungen durch die Vorschläge ei-


nes neuen „societal Constitutionalism“37 begegnet werden kann, muss not-
gedrungen im Rahmen dieses Beitrags offenbleiben.
N
©

36 Dies kann zudem zu einer Verletzung des Grundsatzes nemo tenetur se ipsum ac-
cusare führen.
37 Teubner Societal Constitutionalism: Alternatives to State-Centered Constitutional
Theory? (2004), abrufbar unter http://ssrn.com/abstract=876941 (17.9.2015).

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