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DFFB — FILMGESCHICHTE AM MONTAG — 2017/18

MATERIALIEN ZU

WITTSTOCK, WITTSTOCK von Volker Koepp


D 1997, 117 min

und
Mädchen in Wittstock DDR 1975 18 min
Wieder in Wittstock DDR 1976 22 min
Wittstock III DDR 1978 32 min
alle von Volker Koepp

- Vollständige Credits zu WITTSTOCK, WITTSTOCK (von filmportal.de)

- Volker Koepp: Die Dinge des Lebens, in: Gabriele Voss (Hrsg.), Dokumentarisch
arbeiten. Jürgen Böttcher, Richard Dindo … im Gespräch mit Christoph Hübner,
Berlin: Vorwerk8, 1996, S. 102-128.

- Volker Koepp – Biografie und Literatur – Defa-Stiftung



(© DEFA-STIFTUNG cf. Http://Www.Defa.De/Desktopdefault.Aspx?Tabid=899)

Weiterführende Literatur (in der Bibliothek im Haus vorhanden):

- zu Koepp selbst siehe weiter unten die Seiten von der DEFA-STIFTUNG
über Koepp hinausführend:

- Die Babelsberger Schule des Dokumentarfilms / Klaus Stanjek (Hg.). Hrsg. in


Kooperation mit der Hochschule für Film und Fernsehen "Konrad Wolf". - Berlin:
Bertz + Fischer, 2012.

- Kamera läuft: DEFA-Kameraleute im Gespräch / hrsg. von Peter Badel. - 1. Aufl.


Berlin : DEFA-Stiftung, 2007. (2 Bd.)

- Schwarzweiß und Farbe: DEFA-Dokumentarfilme 1946-92 / Hrsg. vom Filmmuseum


Potsdam. Günter Jordan ... (Red.). - 1. Aufl Berlin: Jovis, 1996.

Links:

- Biographie und Filmographie: http://www.filmportal.de/person/volker-


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TITEL UND CREDITS (übernommen von filmportal.de)

WITTSTOCK, WITTSTOCK
Deutschland 1996/1997, Dokumentarfilm

CREDITS
Regie: Volker Koepp
Drehbuch: Volker Koepp (Konzept)
Kamera: Christian Lehmann
Schnitt: Angelika Arnold
Produktionsfirma: Herbert Kruschke Filmproduktion (Berlin)
Produzent: Herbert Kruschke

ALLE CREDITS
Regie: Volker Koepp
Drehbuch: Volker Koepp (Konzept)
Kamera: Christian Lehmann
Kamera-Assistenz: Michael Löwenberg
Schnitt: Angelika Arnold
Negativ-Schnitt: Barbara Gummert, Barbara Gummert
Ton: Uve Haußig
Mischung: Hartmut Eichgrün
Produktionsfirma: Herbert Kruschke Filmproduktion (Berlin)
in Co-Produktion mit: Bayerischer Rundfunk (BR) (München), Sender Freies Berlin
(SFB) (Berlin), Ostdeutscher Rundfunk Brandenburg (ORB)
(Potsdam-Babelsberg)
Produzent: Herbert Kruschke
Redaktion: Barbara Frankenstein (SFB), Birgit Mehler (SFB), Oskar Holl
(ORB), Hubert von Spreti (BR)
Herstellungsleitung: Herbert Kruschke
Produktionsleitung: Fritz Hartthaler
Dreharbeiten: : Wittstock (Mark Brandenburg)
Erstverleih: Progress Film-Verleih GmbH (Berlin)
Länge: 3205 m, 117 min
Format: 35mm, 1:1,37
Bild/Ton: s/w, Ton
Prüfung/Zensur: FSK-Prüfung (DE): 07.04.1997, 77214, ohne
Altersbeschränkung / feiertagsfrei
Aufführung: Uraufführung (DE): 21.02.1997, Berlin, IFF - Forum;
Kinostart (DE): 25.09.1997
AUSZEICHNUNGEN
Duisburg 1997 Arte-Preis
Volker Koepp: Die Dinge des Lebens, in: Gabriele
Voss (Hrsg.), Dokumentarisch arbeiten. Jürgen
Böttcher, Richard Dindo … im Gespräch mit
Christoph Hübner, Berlin: Vorwerk8, 1996, S.
102-128.
Volker Koepp
Die Dinge des Lebens

ln Volker Koepps Schneideraum in Berlin-Pankow, Januar 1995. Volker


Koepp arbeitet an der Endfertigung seines Films KALTE HEIMAT, der im
Februar auf dem Internationalen Forum der Berliner Filmfestspiele
uraufgeführt wird.

Christoph Hübner:
Mit der Wiedervereinigung scheint vieles unter den Tisch gefallen, was sich vom
Westen aus als Möglichkeit, als Anregung und Qualität darstellte. Auch in den
Beziehungen der Menschen untereinander.

Volker Koepp:
Ich glaube, daß ein Teil davon mehr Wunschvorstellung war. Es gab natürlich
eine an dere Art zu leben und die Dinge zu sehen. Man hat in jener Landschaft
gelebt und hat sich mehr in Witzen verständigt. Es war nie ganz ernst, auch
wenn es sehr ernst war. Auf der anderen Seite war das Leben östlich der Eibe,
wenn man deutsche Geschichte überhaupt sieht, ohnehin immer anders. Es
war eine andere Kulturlandschaft als am Rhein. Es war immer gröber und hatte
eine viel stärkere Affinität zu den östlichen Nachbarn, den Russen und Polen.
Preußen kommt von den Pruzzen, die im späteren Ostpreußen gelebt haben.
Das war das Einflußgebiet. Das ging bis zur Eibe. Insofern hält sich eine Nivel-
lierung schon in Grenzen. Daß die DDR dann Teil des sogenannten sozialisti-
schen Lagers war und daß die Strukturen, die es nun gab, ein Abklatsch der in
der Sowjetunion vorhandenen Strukturen waren, ist klar. Bis hin zum Doku-
mentarfilmstudio der DEFA ln den Ländern unter sowjetischem Einfluß gab
es überall diese zentralen Dokumentarfilmstudios . Was uns natürlich auch ein
bißchen beschützt hat, als der Einfluß des Fernsehens in der DDR stärker
wurde. Dokumentarfilm wurde mit geringerer Öffentlichkeit nur bedingt ernst
genommen. Das Agitations- und Propagandainstrument war das Fernsehen.
Und so konnten wir andere Filme machen. Ich glaube nicht, daß man jetzt
irgendwelchen Dingen nachhängen sollte, nachdem die Geschichte nun so ver-
laufen ist und es zur Vereinigung gekommen ist. Natürlich war es das eigene
Leben. Man hat im Osten gelebt, und da läßt man sich nicht so gerne sagen,
daß das Leben ganz furchtbar war. Es war erstens gut und zweitens schlecht.
Oder umgekehrt.

Kannst du beschreiben, was gut war?


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lOS

Du hast vorhin gesprochen von den guten zwischenmenschlichen Beziehungen. So viel haben die Arbeiterinnen, mit denen wir gedreht haben, auch verdient,
Pauschal kann man das nicht sagen, aber es gab sie einfach dadurch, daß man wenn nicht gar mehr. Und jetzt, wenn man dreht und Arbeit hat, verdient man
mehr zusammenhockte und auch viel- Zeit hatte. Wobei das Netzwerk der mehr. Der Umgang wird sich dadurch verändern. Wobei bestimmte Freund-
Beziehungen zwischen den Leuten, die früher zusammengehalten haben, immer schaften, die man begonnen hat, dadurch nicht zerbrechen. Aber es ist anders.
noch existiert.
Hast du das Gefiihl, daß sich in der Beziehung zu den Menschen etwas verändert,
Hat sich fur dich diese Form von Zusammenarbeit fortgesetzt? Das ist ja etwas, mit denen du arbeitest?
auf das wir vom Westen aus oft neidisch geguckt haben. Im Westen sind es, bis
auf Ausnahmen, einzelne Produzenten, die fiir sich ihre Dinge machen. Das kann man sich wahrscheinlich gar nicht so richtig vorstellen, wenn . man
nicht im Osten gelebt hat, daß das bis heute, wieviel Jahre ist das jetzt her, also
Unsere Geschichte ging in Babelsberg an der Filmhochschule los. Weil es sehr fünf oder sechs Jahre, die Wende- daß es für alle Leute immer noch fast außer-
anstrengend war, von da aus nach Berlin zu kommen, es dauerte immer zwei halb ihrerVorstellungsmöglic hkeit ist, daß es jetzt so ist, wie es ist. Man wacht
Stunden, haben wir da schon zusammengehockt. Diese Art zusammenzusein, morgens auf und denkt, ob das irgendein Traum ist oder Wirklichkeit. Das ist
hat sich im Studio fortgesetzt. Und es tat uns immer ein bißchen leid, daß ihr ganz merkwürdig, und das beschäftigt die Leute immer noch. Jeden Tag reden
so verstreut im ganzen Land wart. Film wurde in der DDR nur in Berlin oder sie darüber, wie das mit dieser oder jener Veränderung ist. Das ist immer im
Babelsberg hergestellt. Bis auf den Trickfilm, das fand in Dresden statt. Wer Bewußtsein. Die Frage nach der Möglichkeit zu arbeiten. Das ist eine riesige
Filme machen wollte in der DDR, mußte durch dieses Nadelöhr Filmhoch- Veränderung. Es sind eben zwei verschiedene Leben in einem, wenn man so
schule und konnte Filme nur machen, wenn er entweder zum unsäglichen DDR- will. Das kann man sich nur schwer vorstellen . Es ist immer noch ein Unter-
Fernsehen ging oder eben zur DEFA. Andere Möglichkeiten gab es nicht. Und schied, ob man in einer Kneipe im Osten ode r im Westen ist. Im Osten ist bis
wir haben natürlich auch zusammengehockt, wenn wir keine Filme gemacht heute eine andere Art von Spannung da. Es gibt noch viel von dieser Aufregung,
haben. Eine Gruppe von Leuten, mit Helke Misselwitz und Thomas Plenert.Wir die es 1989/90 gegeben hat. Man spürt es richtig. Im Westen, ich will gar nicht
sahen uns mehrmals in der Woche. Da sind dann eben Lebensfreundschaften von Westdeutschland reden, in Westberlin ist es einfach gelangweilter, norma-
entstanden. Wenn man jetzt zur Filmhochschule kommt, stellen sich die Studen- ler. Wie soll man es sagen? Sehr pauschal: Es ist eine andere Ar t von Leben , es
ten Funktelefone hin oder besprechen in der Mensa geschäftliche Dinge. Das wirkt alles so fertig. Mir würde es erstmal schwer fallen , da auf ein Filmthema
war außerhalb jeder Vorstellung bei uns. Man hat einfach irgendwo gesessen zu kommen. Dokumentarfilm lebt ja, wie immer man das auch dreht, sehr oft
und hat über das Leben nachgedacht. Oder man hat auf einem Dach gesessen von Unfertigke it oder auch vom Unglück anderer Leute. Das hört man zwar
und hat in die Landschaft geguckt. ln den letzten Jahren haben sich die Chefs nicht so gern, aber es ist so. Da, wo irgendetwas nicht fertig ist, oder da, wo
dann immer gefreut, wenn wir keine Filme gemacht haben. Wir haben zwar Menschen Probleme mit ihrer gesellschaftlichen Umgebung haben - so etwas
unser festes Gehalt weiter bekommen. Von daher gab es dieses Ständig-schon- ist für den Dokumentarfilm allemal ein besserer Ansatz als eine gleichmäßige
ans-Nächste-und-Übern ächste-Denken nicht, ohne mal dazwischen Luft zu Zufriedenheit.
haben. Man wird ja atemlos dabei. Daß es die Arbeit des eigentlichen Brot-
erwerbs ist, war uns nicht so bewußt. Der Umgang mit Geld und die Beziehung Ich meinte meine Frage auch in dem Sinne : Hat sich etwas geändert in der Offen-
zum Geld waren einfach anders. Das sehe ich erstmal ganz ohne Wertung. Das heit, in der Bereitschaft der Menschen euch gegenüber, sich zu zeigen, etwas zu
war eben so. erzählen oder mit euch zusammenzuarbeiten?

Hat sich das fiir dich jetzt verändert? Der Umgang mit dem Medium Film ist einfach anders. Es hat jetzt einen ande-
ren Stellenwert. Wenn wir früher irgendwo hinkamen und erklärten, daß wir
Das ist klar. Das Wort von irgendwelchen Fixkosten, die jeden Monat auf- von der DEFA kommen, dann haben sich die Leute gefreut und haben gesagt:
gebracht werden müssen, das kannten wir nicht. Aber das Wesentliche ist, daß »Die DEFA kommt«. Es gab wenig Mißtrauen. Wobei ich das jetzt nur auf eini-
sich auch beim Drehen in der Beziehung zu den Leuten, mit denen man arbei- ge Kollegen des Dokumentarfilmstudios beziehe, denn das Mißtrauen gegen
tet, etwas verändert. Das habe ich noch nicht ganz zu Ende gedacht. Aber wenn Medien war in der DDR bei den Leuten erklärlicherweise insgesamt seh r groß.
man irgendwo hinkommt, spielt jetzt die Frage eine Rolle, wieviel man verdient. Als ich in der Wendezeit gedreht habe, war es oft so, daß die Leute ungern
Als ich das erste Mal nach Wittstock gefahren bin, das war 1972 oder '73, hatte etwas gesagt haben, solange sie ih re Arbeit noch hatten, da sie nun gehalten
ich mein Hochschulabsolventenge halt von 750 Mark plus 70 Mark Drehzulage. waren, sich dem Arbeitgeber gegenüber loyal zu verhalten. Und sie haben dann
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erst wieder angefangen zu reden, als sie entlassen waren. Insofern ist der Um- Dinge. Aber es ist beides schön. Ich mache beides gern. Da man auch beides
gang anders. Es ist für uns auch dadurch anders, daß man in den fünf Jahren, die machen muß , ist es müßig, sich über das eine oder andere zu beschweren. Es
vergangen sind, auch noch nie so richtig Zeit hatte, sich zu überlegen, was das gibt aber Leute, die drehen unheimlich ungern, weil sie auch nicht gern mit
letztlich alles bedeutet. Ich glaube, daß so ein Einschnitt in das Leben eines Leuten zusammen sind.
großen >Kollektivs< auch eine ganze Menge unbewußte Dinge auslöst. Daß es
im Unterbewußtsein von vielen Leuten noch ganz schön rumort. Ich glaube, Vielleicht auch, weil sie Angst haben. Dokumentarfilm ist ja auch eine Form, auf die
daß diese etwas leidige Diskussion über Osten und Westen das Problem eigent- Menschen zuzugehen.
lich nicht trifft. Das Problem steckt wirklich in der Unfahigkeit vieler Leute, mit
einem anderen Leben fertig zu werden. Auch wenn gesagt wird, daß sich alle Das Wichtigste beim Drehen ist, daß man den Leuten ein bißchen erklärt, wie
im Osten so schnell umgestellt und gewendet haben. Man kann , glaube ich, nicht man selbst denkt im großen und ganzen, ohne daß man sich das Hemd aufreißt.
ein Leben lang so leben und dann auf einmal ganz anders. Bei dem allgemein Bevor man anfangt zu fragen . Dann ist es meistens kein Problem, über Dinge
menschlichen Beharrungsvermögen liegt das eigentlich auf der Hand. zu reden.Wie es im Osten war mit dem Versuch, etwas rauszukriegen, was im
allgemeinen öffentlich nicht gesagt worden ist. Da mußte man schon eine Ver-
Wie ist das für dich selbst? Wenn du nicht allgemein von den Menschen sprichst, trauenssituation herstellen. Wobei das natürlich eine komplizierte Sache ist:
sondern für dich selbst? Wo mißbraucht man so ein Vertauen auch? Indem man sich dann am Schneide-
tisch hinsetzt und das in bestimmte, für die Leute, die vor der Kamera waren,
Ich gehöre ja dazu. Also ist es für mich auch so. Wenn man Dokumentarfilm oft gar nicht zu überschauende Zusammenhänge bringt. Das ist ein ethisch-
macht, kann man sich ganz gut verstecken. Auch wenn man sich, wie es so schön moralisches Problem.
heißt, noch so sehr einbringt. Trotzdem hat man immer eine Kamera da-
zwischen und kann versuchen zu ergründen, wie es anderen Leuten geht. Da Wie ist das, wenn du zum Drehen gehst? Du sagst »Abenteuer« oder auch »offen
wir in den letzten Jahren ziemlich viel gedreht haben über diese Dinge, hat man sein«. Wie baust du eine Szene, wann entscheidest du, was du machst, wo du
wahrscheinlich auch einiges rausgekriegt. Und daß es demokratischer zugeht hingehst?
in der Art, wie man sich durch 's Leben bewegen kann, ist schon wesentlich, finde
ich. Es ist doch ein ziemliches Glück. Stimmt's ? Man hat bestimmte Eckpunkte. Man arbeitet mit zwei oder drei Leuten por-
traithafter als mit anderen. Wobei es so gestreut sein muß über den Zeitraum
»Ein ziemliches Glück« ? des Drehens, daß man eben noch Zeit hat, auch Überraschungen zu erleben in
irgendeiner Form. Je genauer man sich vorher etwas aufschreibt, um so leich-
Ja, daß der Zustand Deutschlands einfach etwas demokratischer ist. Übrigens ter kann man in die Situation kommen, daß man sich ein Korsett herstellt, aus
auch die Filmproduktion. ln der DDR konnte wirklich keiner Filme machen, dem man schlecht wieder herauskommt. Es ist in dem Zusammenhang auch da-
wenn er nicht bei der DEFA war oder beim Fernsehen. Junge Leute kamen gar rüber zu reden, wie es mit den beiden Grundformen des Dokumentarfilms ist,
nicht ins Studio rein. Es gab bestimmt eine ganze Menge von Leuten, die das mit dem essayistischen einerseits, andererseits mit dem beobachtenden Film.
genauso gut oder schlecht gemacht hätten wie wir. Aber sie durften nicht. Ich Es sind zwei verschiedene Ansätze. Ich habe damit kein Problem. Meine Filme
meine, es ist absurd, daßman nur einen Film machen darf, wenn man vorher die werden immer der beobachtenden Variante zugeordnet, aber ich sehe soge-
Filmhochschule besucht hat. Daß das Leben einfach auch ein schweres Stück nannte essayistische Filme gern. Ich mache aus all diesen Dingen kein Dogma.
ist, ist ja unbenommen davon.
Ist das überhaupt etwas, das dich interessiert? Das du klar unterscheiden möch-
Freust du dich auf das Drehen? Machst du das gerne? test? Hilft dir das?

Sehr gern. Es gibt auch Regisseure, die drehen ungern. Weil das immer ein Eine unmittelbare Hilfe ist es eigentlich nie . Aber es ist ganz gut, die Dinge
Abenteuer ist. Wenn man irgendwo anfangt, weiß man nie, wo man am Ende theoretisch ergründet zu haben. Schöne Texte in Filmen habe ich sehr gerne.
sein wird. Wenn man sich genügend offen hält dafür, daß man etwas erlebt und Die Franzosen haben solche Texte auch in schönen Buchausgaben herausge-
nicht schon alles weiß. Der Reisende, der schon alles weiß, sieht nichts, hat der geben. Wenn ein Film lebendig ist und ein Eigenleben hat, wenn er etwas zeigt,
Reiseschriftsteller Willibald Alexis im vorigen Jahrhundert geschrieben. Am das man so noch nicht kannte , dann ist es eben schön. Ganz gleich, zu welcher
Schneidetisch bin ich aber auch gern . Das sind zwei ziemlich verschiedene Gattung man es rechnen mag.
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Warum hast du dich an der Filmhochschule beworben? Was hat dich vorher der Kulturredaktion und sagte im Hinblick darauf, daß in allen Politbüros der
beeindruckt an Filmen? sozialistischen Länder relativ alte Männer waren: »Man kann nicht sagen >Sache
der Jungen<, wo die verdienten, alten Genossen sich so eine Mühe geben, alles
Kurz bevor ich mich bewarb, gab es gerade RASHOMON (Akira Kurosawa,J 1950) gut zu machen.« Das sollte raus. Aber damals ist es durch eine gewisse Art von
im Kino. Und in Karlshorst haben wir im Filmtheater »Vorwärts« senntags um Sturheit, daß wir uns nicht weiter darum gekümmert haben, drin geblieben. Dann
halb zwei für 25 Pfennig die russischen Schinken gesehen . DIE DREIZEHN von kam 1968, und es gab Aufregung. Ich war damals mit Thomas Brasch befreun-
Michail Romm (UdSSR 1937), das war ein riesiger Renner. Die Revolution in det , und der landete im Knast. Ich wußte nicht genau, warum ich auf einmal von
Z entralasien. Das war die eine Seite, die man sich als Kind angeguckt hat. Und der Filmhochschule fliegen sollte. Man hat sich natürlich darüber unterhalten,
dann sind wir natürlich immer nach Westberlin gefahren in die Grenzkinos, daß man es nicht richtig findet, daß die DDR sich am Einmarsch in die Tsche-
Warschauer Brücke, nach Kreuzberg rüber. Da war immer um zwei Uhr Ost- cheslowakei beteiligt. Ich sollte fliegen und mich »in der Produktion bewähren«.
Sondervorstellung. Kostete 25 Pfennig West oder I, I0 Mark Ost. Da mußte Das war so ein Terminus damals. Ich habe aber gesagt: »Na ja, ich bin ja schon
man sich ausweisen, das haben wir mit unseren Pionierausweisen gemacht. Das Maschinenschlosser, und ich weiß, wie das in den Betrieben zugeht.« Und dann
sind die beiden Pole. Man hatte zwar ein schlechtes Gewissen, wenn man West- wurde das abgeschwächt. Ich sollte dann, als Strafarbeit, einen Film über die
filme gesehen hatte, aber dafür waren wir dann am darauffolgenden Sonntag Arbeiter machen, über die »herrschende Klasse«, wenn man so will. Den habe
wieder in einem sowjetischen Revolutionsfilm. DIE DREIZEHN oder SKANDERBEG, ich gemacht. Und dann hat mir diese Art zu arbeiten ganz gut gefallen. Dann hat
RITTER DER BERGE (Sergei Jutkewitsch, UdSSR/Albanien 1954). Karl Gass ein paar Leute gefragt, Jürgen Böttcher, Gitta Nickel und andere, ob
Dann hat das geklappt mit der Aufnahme an der Filmhochschule. lch war in der sie sich an einem Episodenfilm über die DDR beteiligen. Und da haben wir auch
Klasse Regie/Szenaristen. Es war eher eine Spielfilmausbildung. Damals war eine mitgemacht. Dann bekam ich 1970 im DEFA-Studio für Dokumentarfilme eine
ziemlich komplizierte Situation an der Filmhochschule. Es gab in der Zeit an der feste Anstellung. Seitdem war ich zwanzig Jahre festangestellt. Die ganze Ge-
Filmhochschule eine Klasse für Dokumentarfilm, da waren Alexander Zibell und schichte mit der Strafarbeit war der Auslöser dafür, daß ich bespitzelt wu rde.
KonradWeiss drin. Dann wir als Spielfilmausbildung. Und dann gab es noch eine Das habe ich erst viel später erfahren. Damals wir waren zu dritt, manchmal zu
Ausländerklasse für Kamera. Das I I. Plenum war gerade vo rbei, und es waren viert ; einer ist dann umgedreht worden , wir waren der »Operativvorgang
eineinhalb Jahre keine Studenten immatrikuliert worden. Beim II. Plenum ging Widersacher«.6 Mein Zimmer an der Hochschule war das Treffzimmer, und es
es darum, daß Spielfilme verboten wurden in einem großen Paket. Es herrschte wurde mit sogenannten operativ-technischen Mitteln abgehört. Ich habe alle
große Aufregung im Filmbereich. Dann habe ich als erstes mit Zibell einen Gedichte, die ich mal geschrieben und später weggeworfen habe, weil sie mir
Dokumentarfilm gemacht, der hieß SOMMERGÄSTE BEl MAJAKOWSKI. Wir sind nach nicht mehr gefielen, wiedergefunden. Als ich dann im Studio war und angestellt
Geergien gefahren und haben versucht, Majakowskis Geburtsort zu finden . wurde, stand in der Akte, daß ich schon wieder versuchte, eine negativ-feind-
Haben das auch geschafft. Es war eine ganz abenteuerliche Reise mit einer AK- liche Gruppierung zu etablieren, nun nicht mehr an der Filmhochschule, son-
16-Kamera. Das war so ein DDR-Produkt mitTageslichtspulen und einem Motor. dern im D EFA-Studio für Dokumentarfilme. Irgendwelche Leute haben also
Wir hatten zwei Taschen mit. ln der einen war die Kamera, in der anderen das immer irgendetwas festgestellt, aber das hat uns nicht weiter gestört. Mir hat es
FilmmateriaLWir waren zweieinhalb Monate unterwegs.Wir sind nach Geergien nicht besonders geschadet. Es war einem ja klar, wenn man anfing, Dokumen-
gekommen ohne Begleitung aus Moskau. Was ziemlich ungewö hnlich war. tarfi lme zu machen, daß es in der DDR doch in irgendeiner Form ein Umgang
Immer, wenn man in eine andere Sowjetrepublik wollte, nach Georgien, Litauen mit der Macht war. Am DEFA-Studio fü r Dokumentarfilme stand jedes Jahr am
oder sonst wohin , bekam man in Moskau einen Begleiter. Die Lebensgefährtin I. Mai oder 7. Oktober: »Dokumentaristen der DDR- Helfer der Partei.« Nun
von Majakowski, Lilja Brik, hat uns unterstützt. Danach habe ich mich aber wie- haben wir das gar nicht als operatives Genre aufgefaßt in dem Sinne, daß man
der mit Spielfilmtexten beschäftigt. Und dann, 1968, beim Einmarsch in die Tsche- mit Dokumentarfilm in irgendeiner Form Helfer sein oder etwas verändern
choslowakei, gab es wieder große Aufregung an der Filmhochschule. Ich sollte könnte. Die Vorstellung ist, glaube ich, absurd. Die einzige direkte Veränderung,
plötzlich exmatrikuliert werden, und ich wußte gar nicht warum. Majakowski die eine r meiner Filme ausgelöst hat, gab es, nachdem wir das erste Mal in
war ein Revolutionsschriftsteller; der sich zwar e rschossen hatte, aber es war Wittstock gedreht hatten (MÄDCHEN INWITTSTOCK), in einer ries igen Textil halle.
ein durchaus freundlicher Film. Da hatte ich dann meine erste Erfahrung mit Ich fragte da ein Mädchen, was ihnen nicht gefällt. Sie sagte, daß die Halle keine
Filmzensur, wenn man so will. Es gab am Majakowski-Piatz in Moskau eine Fenster habe, man also überhaupt nicht wisse, was draußen los ist. Dann gab es
Leuchtreklame, darauf stand : »Der Kommunismus, das ist eine junge Welt, und eine Vorführung des Films, als nochmal eine Halle gebaut wurde. Und dann haben
ihn zu errichten, ist Sache der Jungen.« Das hatten wir aufgenommen. Und da
das Fernsehen sich beteiligt hatte und den Film senden wollte, kam jemand von 6 Volker Koepp zitiert diesen Vorgang nach Stasi-Akten in seinem Film SAMMELSURIUM.
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sie in einem Teil des Betriebes Fenster eingebaut. Das ist das einzige, was wirk- plötzlich irgendjemand sagte, daß »unsere« Menschen nicht so sind, wie sie in
lich einen direkten Einfluß auf irgendetwas hatte. Ansonsten hat Dokumentar- den Filmen zu sehen waren, obwohl die Bilder da waren und die Töne, und das,
film , glaube ich, vor allen Dingen die Möglichkeit, die Dinge des Lebens zu be- was sie sagten, das war ja zu hören. Das ist bis heute ein ulkiger Umstand, daß
schreiben und so zu beschreiben, daß es einfach Dokumente sind, die man plötzlich ein Satz herausgeschnitten werden sollte, den jemand wirklich gesagt
aufheben kann. Jürgen Kuczynski gab damals Die Geschichte des Alltags des deut- hatte. Innerhalb des Dokumentarfilmstudios gab es dann auch nur eine gewisse
schen Volkes heraus, und es wurde einem bewußt, daß die Geschichte meist be- Menge Geld. Es gab auch Gruppen im Studio, die weiterhin reine Propaganda-
schrieben wurde als Kaiser-Geburtstags-Geschichte, daß also vom Alltag aus der filme gemacht haben. Eine Gruppe, die immer Erich·Honecker auf seinen Reisen
Geschichte nicht viel da ist. So ähnlich ist es jetzt, wenn man nachguckt in Fern- begleitet hat. Wir saßen in der Kantine auch an verschiedenen Tischen. Mit
seharchiven. Abgesehen davon, daß sie in relativ schlechtem Zustand sind und Jürgen Böttcher ging diese Geschichte im Studio los, dann rückten einige an-
daß das bei Video auch ein Problem der Lagerfähigkeit ist. Sehr viele Leute ver- dere nach. Aber es waren nicht so viele, die sich mit dem Alltag wirklich be-
suchen jetzt, aus Dokumentarfilmen abzuklammern. Die DDR istgewissermaßen schäftigt haben. Und dafür gab es eben auch nur ein relativ schmales Budget. Es
ein abgeschlossenes Sammelgebiet.Wo gibt es so etwas schon, das plötzlich so war nicht so, daß einfach das Geld da war. Es gab natürlich auch Kalkulationen
fertig und abgeschlossen ist? für einen Film, und man konnte die nicht überziehen. Wenn man Glück hatte,
konnte man zwei Halbstundenfilme im Jahr machen. Im Oktober wurde eine
Wie meinst du - abgeschlossen? Heißt das, daß es den DEFA-Dokumentarfilm thematische Planung gemacht für das nächste Jahr. Da hat man seine Stoffe ein-
nicht mehr gibt? gereicht. Dann hat zuerst das Studio und dann die Hauptverwaltung Film ent-
schieden, was gemacht wird. Es waren vor allen Dingen Filme für das Kino. Es
Ja, die Filmgeschichte der DDR ist abgeschlossen. gab die Praxis, daß kurze Filme gekoppelt wurden mit Spielfilmen, die konnten
dann in der Regel nicht länger sein als zwanzig Minuten oder eine halbe Stunde.
Stimmt mein Geflihl, daß du immer das machen konntest, was du wolltest? Oder Auf der anderen Seite haben wir, als das Fernsehen im Bewußtsein an Bedeu-
hast du das Gefühl, daß die Arbeit in der Zeit sehr behindert worden ist? tung gewann, vielleicht das eine oder andere machen können , das man sonst
nicht hätte machen können. Es gab auch ganz unterschiedliche Methoden, die
Das ist ohnehin nur Spekulation, was man hätte machen können oder nicht ge- Verbreitung von Filmen zu behindern. Sie wurden oft zugelassen von der Zu-
macht hat. Letztendlich hat man das gemacht, was man gemacht hat, wie auch lassungskommission im Kultu rministerium. Dann wurden aber keine Kopien
immer. Es gab auch nicht so direkte Vergleiche.Wir haben relativ kontinuierlich gezogen. Wir konnten zwar mit den ein oder zwei Kopien, die im Studio da
gearbeitet, aber eben auch nicht so viel. Es gab von den »Westkollegen« die waren, durch die Gegend tingeln, aber sie wurden dann nicht gekoppelt mit
Vorstellung , daß man bar jeder ökonomischen Zwänge produzieren konnte. Spielfilmen. So daß die Verbreitung nicht auf Massenwirksamkeit ausgerichtet
Das war nicht so. Innerhalb des Dokumentarfilmstudios waren siebenhundert war. Und daß man eine Reihe unserer Filme zu Festivals geschickt hat, auch in
oder achthundert Leute . Davon war das, was eigentlich Dokumentarfilm war, den Westen, war natürlich, wenn man so will, ein wohlüberlegter Schritt. So
I0 bis 15 Prozent. Der größte Teil der Produktionen waren lndustr iefilme, konnte man auftreten und sagen : »Wie das immer dargestellt wird, daß in der
Russisch-Sendungen, Englisch-Sendungen oder Verkehrssendungen. Und Sand- DDR niemand sagen kann, was er denkt, stimmtgar nicht.« Und die Filme hatten
männchen. Alles Mögliche wurde da produziert. Dokumentarfilm gab es so viel oft die Wirkung, daß Leute in den westlichen Ländern zum ersten Mal darauf
nicht. Seit 1946 gab es die DEFA, in der ersten Zeit wurden Wochenschauen stießen, daß es ein ganz normales Leben gab, da, wo wir lebten.
gemacht, vom Aroma her wie Naziwochenschauen. Der Sprecher und die
Musik. Und dann gab es Thorndikes 7 große Kompilationsfilme, die historische Eben klang es so, als wäre diese Strafarbeit, zu den Arbeitern zu gehen, mehr
Bögen aufmachten. Das DEFA-Dokumentarfilmstudio war ein reines Propa- Zufall gewesen - also gar nicht gesucht. Was ist das, was dich dann hat dabei
gandainstrument, bis Ende der fünfziger Jahre die ersten zaghaften Versuche bleiben lassen ?
gemacht wurden, sich mit dem Alltag in der DDR auseinanderzusetzen. Es gab
ja auch das Fernsehen noch nicht. ln dem Moment, wo dann das Fernsehen kam Ich weiß es nicht mehr genau, aber ich glaube, daß schon die Überlegung dabei
und als direktes Agitationsinstrument benutzt wurde, konnten wir uns mit eine Rolle spielte, denen, die wirklich die Macht hatten und nicht mehr zur
anderen Dingen beschäftigen. Dann fiel es nicht mehr so auf, daß es noch etwas Arbeiterklasse gehörten, die sie als herrschende Klasse bezeichneten, vorzu-
anderes gab. Als dann die Schwierigkeiten losgingen bei Filmabnahmen, daß führen , wie das Leben in Wirklichkeit ist. Oder wenigstens Ausschnitte davon.
Das hatte auch immer die entsprechende Wirkung. Es war einfach so, daß man
7 Annelie undAndrew Thorndike,seit 1953 gemeinsame Filme in der DDR. offiziell ein bestimmtes Bild hatte und das natürlich auch gerne bedient haben
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wollte. Dokumentarfilm hat ja von vornherein einen subversiven Ansatz. interessant, da könnte man nochmal hinfahren.« Dann bin ich wieder hin, und
Irgendwelchen Leuten gefallt es, ganz gleich zu welcher Zeit, eben nicht. Das dann ist sie die Heidin eines neuen Films geworden. Karin Reier aus Schwan in
ist so. Aber in einem totalitären System wie der DDR war man natürlich ganz Mecklenburg. Wir haben damals in die Weit gesetzt, daß man mit den Leuten,
anders eingebunden. Es hatte alles irgendwie mit Politik zu tun. Darum haben mit denen man dreht, ganz und gar befreundet sein muß. Aber es gibt auch in
wir uns auch in Gesprächen, wenn ich mich daran erinnere, nicht so sehr über spontanen Begegnungen glückliche Momente für Dokumentarfilmarbeit. Man
Produktionsbedingungen aufgeregt, obwohl wir immer die schlechteste Tech- muß mit den Leuten nicht immer lange vorher sprechen, man muß nicht schon
nik im Studio bekamen. Die leiseren Kameras liefen immer da, wo das Polit- alles ausgetauscht haben, was es über das Leben zu sagen gibt. Es ist oft so, daß
büro lief. Es war auch eine ziemliche Anstrengung, die Technik zusammen- man das in der Waage halten muß, so daß man sich, wenn man zu Leuten fährt,
zuholen bei unseren Produktionen. Aber wir haben uns nicht besonders noch etwas zu sagen hat. Oder noch zu ergründen hat, was sie denken. Oder
beschwert darüber. Denn man konnte so etwas ja nur machen, wenn man nicht was so passiert. Dokumentarfilmarbeit ist ja sehr eingeschränkt durch ethisch-
im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. moralische Fragen. Was man drehen kann, was nicht. Wie Jürgen Böttcher ge-
sagt hat : »Man dreht mit Leuten, die man anderen empfehlen möchte.« Wenn
Wie war das mit der Aufmerksamkeit von unten. Von den Menschen, über die du man aber mit Leuten dreht, die man nicht unmittelbar anderen empfehlen
Filme gemacht hast? Wenn du Vorführungen gehabt hast? Wurde das wahrge- möchte, ist das natürlich etwas schwierig.
nommen? War das von Bedeutung fiir die Menschen?
Es ist nicht selbstverständlich im Dokumentarfilm, daß man mit Menschen Filme
Es gab neben den normalen Kinoeinsätzen so eine Art von zweiter Verleih- macht, die man auch schätzt. Das heißt auch: Ich mache keine Filme über Men-
strecke. Über die Filmclubs und alle möglichen Veranstaltungen von der Bezirks- schen, die ich nicht schätze. Ist das fiir dich auch so?
filmdirektion hatte man ständig Einladungen, irgendwohin zu fahren . in Mecklen-
burg gab es immer einen »F ilmfrühling« auf dem Land. Da fuhr man über die Nein. ich glaube, das hängt wiederum mit der Art der Arbeit zusammen, die wir
Dörfer mit den transportablen 35 mm-Projektoren. Es war immer so, daß die im Osten gemacht haben. Daß man sich mit den Leuten, mit denen man ge-
Leute, die in den Filmvorführungen waren - manchmal waren das Bauern aus dreht hat, eigentlich sehr schnell einigen konnte, auf welcher Grundlage man
landwirtschaftlichen Produktionsgenossensch aften -, sehr schnell abgehoben das macht. Das war ein einfacheres Sich-Verständigen. Jetzt sind die Meinungen
haben von der Filmebene. Sie redeten darüber, was bei ihnen los ist im Leben, derartig gefachert - da ist es schwieriger. Ich glaube aber, daß man auch mit
womit sie sich beschäftigen und worüber sie sich ärgern. Da gab es oft ganz Leuten drehen kann, deren Haltung man nicht ganz und gar teilt. Es ist einfach
starke Diskussionen. Die Filme hatten eine gesprächsauslösende Funktion. interessant, andere Dinge zu hören, wobei ich nicht unbedingt drehen muß,
Wenn man die Filme drehte, mit den Leuten zusammen war und geredet hat wenn es mich gar nicht interessiert oder ich gar nicht der Meinung bin. Ich
über das Leben und ihnen gesagt hat , wie man denkt, dann waren sie auch be- kann es ja auch nicht vor der Kamera ausdiskutieren. Aber das gehört zu den
reit, ihre Dinge öffentlich zu sagen. Und da es im Fernsehen nicht üblich war, daß Dingen, die jetzt einfach anders sind, die zu der neuen Situation gehören .
irgendetwas gesagt wurde, das auch nur ein bißchen Aufregung gestiftet hätte,
hatten die Filme auch diese Funktion, wenn sie gezeigt wurden. Der Dokumen- Wie entstehen die Stoffe?
tarfilm war einerseits eine Art Geheimtip. Und andererseits auch der Versuch,
Leute miteinander ins Gespräch zu bringen. Insofern ist der Gedanke, daß sich Bei der Geschichte, die ich jetzt seit Zweiundzwanzigjahren in Wittstock mache,
Dokumentarfilm letztendlich erst in den Köpfen der Zuschauer realisiert, in ist es klar. Anfangs bin ich einfach durch die Landschaft gefahren. Ich bin immer
diesem Fall ziemlich direkt. Dadurch, daß wir nicht laufend produzieren konn- sehr viel mit dem Auto durch die Gegend gefahren und habe mir alle möglichen
ten, habe ich das als Teil meiner Arbeit angesehen. Ich habe mir manchmal tage- Dörfer und Kleinstädte angeguckt. Dann gab es, wenn ich mich richtig erinnere,
buchartig aufgeschrieben, wo man war in zwei Wochen.Von daher kannte ich in zwei Orte, Pritzwalk und Wittstock, beides im nördlichen Brandenburg, kurz
der DDR wirklich alle Straßen und fast jede Kleinstadt und jedes Dorf. vor Mecklenburg. Da hatten sie zwei riesige Betriebe hingestellt. in Wittstock
eine Textilfabrik und in Pritzwalk eine Maschinenbaufirma, ein Zahnradwerk
Sind daraus auch wieder Stoffe entstanden? Wie sind überhaupt die Stoffe ent- oder so etwas. Das waren ganz ungewohnte Bilder für die Gegend, daß neben
standen? der Stadtmauer ein Riesenbetrieb stand. Das ist jetzt schon ein völlig anderes
Bild. Wenn man heute aus Städten herauskommt, gibt es immer irgendwelche
Bei einem »Filmfrühling« in Mecklenburg, während einer Diskussion, hat eine Industrie- oder Gewerbegebiete. Aber damals war das wirklich ein unge-
Frau auf ihre Direktion geschimpft. Da habe ich gedacht: »Hier ist es ganz wohntes Bild. in Wittstock war das Stadtbild von unglaublich vielen Mädchen
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und jungen Frauen geprägt. Da dachte ich : »Hier ist es ganz schön, hier könnte Wittstock-Filmen oder auch bei Filmen, die direkt als einzelne Portraits ange-
man mal gucken.« Ich suche mir ein paar Eckpunkte, sagen wir mal einen oder legt sind, ist es eindeutig. Es gibt aber auch die andere Methode, wie bei dem
zwei Menschen, die im Film eine Rolle spielen könnten. Wenn ich dann anfange, Film MÄRKISCHE GESELLSCHAFT MBH, daß man sich relativ frei in einem Raum
kann sich das immer noch ändern. Aber man muß irgendwann anfangen und bewegt, den man kennt, sich aber viel weniger auf einzelne Leute einläßt als
wissen, was man dreht. Und wenn ich angefangen habe, dann geht es einfach. beim Portraitfilm. So wie es im Alltag auch ist, wenn man irgendwohin fährt mit
Dann kann man sich ein bißchen treiben lassen, einerseits. Andererseits muß dem Zug und jemanden kennenlernt. Dokumentarfilm hat ohnehin viel mit
man es natürlich auch immer wieder ein bißchen befördern. Der Ansatz ist einer Reisesituation zu tun, daß man irgendwo abgefahren und noch nicht an-
einfach der, daß man menschliches Leben beschreiben will. Ich glaube, daß gekommen ist. Dazwischen ist man dann sehr offen, sich mit Leuten zu unter-
Dokumentarfilm eine ziemlich starke Affinität zum Geschichtenerzählen in der halten, wie das so ist im Leben . So eine Situation kann man auch herstellen beim
Literatur hat. Eigentlich eine viel stärkere als der Spielfilm mit seinen Kolpor- Drehen . Bei den Filmen, die wir in und um Zehdenick gemacht haben (MÄRKI-
tagegeschichten. Es hat natürlich immer auch mit der Grundfrage der Philoso- SCHE ZIEGEL, MÄRKISCHE HEIDE/ MÄRKISCHER SAND , MÄRKISCHEGESELLSCHAFT MBH),
phie zu tun: Wie lebt der Mensch, oder wie sollte er leben? Und dann erfährt war der Ausgangspunkt der, daß ich wußte, daß es da diese merkwürdigen
man Sachen, die man vorher nicht wußte. Dringt auch in geschlossene Kreise Ziegelöfen gibt und daß es eine ganz und gar archaische Arbeit ist. Das wollten
ein, in Familienzusammenhänge oder betriebliche Zusammenhänge. Auch wir uns angucken. Und dann haben wir Leute kennengelernt. Der erste Film
wenn man sich mit den Leuten gut versteht und ihre Meinung teilt, dringt man war relativ beschränkt auf die Ziegelei. Dann kam die Wendezeit, der Novem-
trotzdem relativ weit in ihre Privatsphäre ein. Und da ist natürlich immer die ber 1989, die Demonstrationen . Dann gab es die Veranstaltungen in Kirchen.
Frage, was man drehen kann und was nicht. Es gibt sehr eng gesteckte Gren- Die Leute waren aufgeregt. Es kam die letzte Wahl in der DDR, dann die
zen. Dann versucht man einfach, ein Stück Leben anderer Leute zu begleiten. Währungsunion . Dann kam der Vereinigungstag im Oktober 1990. Es war eine
Man fängt an, dreht ein Weilchen, dann geht man wieder weg. Und weil es einen Zeit, die sehr aufgeregt war. Gegenüber Wittstock, wo ich damals schon vier-
natürlich interessiert, wie es weiter geht bei den Leuten, kann es auch passie- zehn Jahre mitAbständen zugebracht hatte, wo ich dann nach und nach kleine
ren, daß man das nochmal wiederholt und dann nochmal. Man schafft sich erst- Veränderungen gedreht habe, war das ein ganz anderes Arbeiten. Da passierte
mal einen filmischen Raum. Es kann eine Stadt sein oder ein Betrieb. Man durch- innerhalb eines kurzen Zeitraums so viel, daß man einfach herumgefahren ist
streift diesen Raum während der Filmarbeiten. Ich interessiere mich dann und. geguckt hat, was gibt es, was ist los? Jeden Tag stand etwas Neues in der
immer auch für die Geschichte. Früher war es ganz besonders wichtig, vorher Zeitung. Wobei ich immer davon ausgehe, daß bei Recherchen auch von Inter-
etwas aufzuschreiben. Man konnte einfach tricksen , indem man Auszüge aus esse ist, was in der Stadt passiert, was im Umfeld der Leute passie rt , was es in
Reden oder sonst etwas hinschrieb. Was man gedreht hat, wurde dann bis zur der Geschichte gegeben hat. Die relativ ungenauen Exposes, die ich vorher auf-
Fertigstellung nicht mehr kontrolliert. Es gab zwar auch Fälle, wo sich An- schreibe, sind eine Mischung zwischen Tagebuch und Beschreibung von Ge-
gestellte heimlich unsere Muster angeguckt haben. Das gab es natürlich auch. sprächen über bestimmte Dinge des Lebens oder der Zustände. Meist mit
Aber man war über diesen Zeitraum vom Drehbeginn bis zur Abnahme des irgendwelchen historischen Exkursen verbunden. Das bringe ich dann in einer
Films relativ frei . Ich habe immer aufgeschrieben, was wir gedreht und erlebt Art Montage zusammen. Einfach auch , um mich ein bißchen zu konzentrieren.
haben.Wenn man über mehrere Wochen ganz intensiv dreht, kann man oft nicht Auch um das, was es an Geschichte gibt, einmal wirklich aufgeschrieben zu
mehr unterscheiden, was das eigene Leben war dabei und was man gedreht haben. Wenn wir zu drehen beginnen, dann benutze ich das nicht mehr. Es ist
hat. Plötzlich ist man ganz enttäuscht, daß man etwas nicht gedreht hat, wo man oft e rstaunlich, wenn man es hinterher noch einmal liest, daß sich bestimmte
doch fest annahm , daß es in den Filmmustern sein muß. Es gab natürlich immer Dinge, die man sich im Kopf vorgestellt hat, auch realisiert haben. So ungenau ,
auch die Überlegung dabei, wie kriegt man etwas durch. Man hat nicht auf wie es auch ist, wie es dann doch stimmt. Das Aufschreiben und das Beschrei-
Teufel komm raus alles besprochen und alles gedreht. ben des Films ist wahrscheinlich doch ganz nützlich. Das ist keine Arbeit, die
man nur macht, um andere Leute vom eigenen Filmprojekt zu begeistern.
Ich würde gern nochmal darauf zurückkommen, was vor den Dreharbeiten statt-
findet. Du sagst, wenn es ein Ort ist, gehst du vorher dahin? Versuchst, da zu leben Beschreibe doch einmal die MÄRKISCHE TRILOGIE.
eine Zeitlang? Was machst du dann?
1988 haben wir den ersten Film der MÄRKISCHENTRILOGIE gemacht. Interessiert
Für mich gibt es zwei Arten, Filme zu machen. Die eine ist, daß man einen Film hat uns damals die Ziegelproduktion in Zehdenick. Es gab da Ringöfen , die
so anlegt, daß er von vornherein relativ stark portraithafte Züge hat. Ob es nun ziemlich genau hundert Jahre alt waren. Die Arbeit war ähnlich archaisch.
ein Mensch ist oder eine Gruppe von Menschen, ist dabei gleichgültig. Bei den Zehdenick ist geprägt gewesen von der Ziegelindustrie.AIIe Leute haben davon
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gelebt. Zweidrittel Berlins sind mit Ziegelsteinen aus Zehdenick aufgebaut, in persönliche Rede dichter dranbleibt. Beim Dokumentarfilm gibt es die Mög-
der Gründerzeit und auch nach den Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs.Wir lichkeit, das soziale Umfeld durch Bilder zu beschreiben. Es ist nicht nur ein
wollten einen in sich geschlossenen Film machen über die Arbeiter dort. Der Frage- und AntwortspieL Man versucht, mit den Mitteln des Films Situationen
Film wurde dann nicht zugelassen, weil sie in der Kneipe unter anderem dar- herzustellen. Das macht Spaß. Man kann nicht ununterbrochen mit den Leuten,
über diskutiert haben, wie das ist mit Gorbatschow und der DDR, und daß das mit denen man dreht, aufeinanderhocken. Mir geht es jedenfalls so. So wie man
Buch von Michail Gorbatschow nur im Westen erschienen ist. Nach einem Jahr im normalen Leben den Schlaf braucht, braucht man auch Entfernung, damit
dann, im Sommer 89, habe ich gesagt: »Na gut, dann schneide ich das jetzt raus, man sich wieder freuen kann, sich zu treffen zum Drehen. Dadurch ergibt sich
weil das in Kürze sowieso nicht mehr so ist.« Dann kam das raus. Beim natio- einfach, daß man einen Ausflug mal ganz woandershin macht. Wobei ich nichts
nalen Festival für Dokumentarfilm und Fernsehpublizistik in Neubrandenburg davon halte, daß man andere Leute über die Leute reden läßt, die im Mittel-
lief er dann ziemlich genau zum 40. Jahrestag der DDR. Danach war ja gleich punkt des Films stehen. Es ist dann schon eine eigene Ebene, die sich herstellt.
Schluß, und dann haben wir in Zehdenick nochmal angefangen, mit den Leuten Sei es, daß man versucht, historische Bezüge herzustellen, oder daß man noch
zu drehen. Haben teilweise alte Szenen nochmal geholt aus dem anderen Film. Leben zeigt, das sich parallel zum Leben der Leute abspielt, die im Mittelpunkt
Es ist dann über drei Etappen eine Chronik der Wende auf Kleinstadtebene. des Films stehen. Das ist unterschiedlich. Dokumentarfilm hat immer etwas
Und der dritte Film, MÄRKISCHE GESELLSCHAFT MBH , bezieht sich darauf, daß mit Reise, Unterwegssein oder Bewegung zu tun. Nicht umsonst gibt es, seit es
plötzlich an allen Betrieben GmbH dranstand. Der Film erstreckt sich über die Filme und dokumentarische Arbeiten gibt, immer eine sehr starke Verbindung
Währungsunion bis hin zu den Feiern zur deutschen Vereinigung. Wir wohnten zu irgendwelchen Flüssen, Bahnlinien und Straßen. Wobei ich glaube, daß man
auf dem Land, und bevor das DDR-Geld nicht mehr gültig war, haben wir diese Art von Reise zu einer Art Begehung zurückschrauben muß. Daß man die
nochmal alle Geldscheine, die es gab, zusammengesammelt, haben sie auf den Flüchtigkeit, die eine Reise hat, immer wieder etwas zurücknehmen muß. So
Tisch gelegt und abgeschwenkt. Das wird dann später im Film nochmal aufge- daß man auch Ruhe hat. Das ist auch die Ruhe der Bilder und das Beharren auf
nommen. Da gibt es eine Szene, wo Leute in der Kneipe sitzen und das letzte Dingen. Nicht auf besondere Sensationspunkte aus sein. Das ist auch das Neue,
Ostgeld vertrinken. Der eine fragt dann noch: »Oder wollen wir es aufheben für mich wiederum Subversive des Dokumentarfilms, daß er sich in gewisser
für das nächste Mal?« Mit den Ereignissen zur Währungsunion fängt es also an. Weise zum Fernsehen, also zu den schnellen Bildern verhält. Nicht nur zu
Auch die Holzpantinenfabrik in Zehdenick wurde damals GmbH. Da wurde die irgendwelchen Unterhaltungsgeschichten,eigentlich auch zu dokumentarischen
preußische Stallsandale gebaut. Den Betrieb gibt es heute nicht mehr. Das ist Bildern, die immerzu den Leuten entgegenkommen, wenn sie denn fernsehen.
nun wirklich ein Dokument. Auch wenn man mit dem Geld lange Zeit umge- Dokumentarfilm ist eigentlich eine Frechheit, weil er immer quer steht zur all-
gangen ist, kann man sich ja kaum noch erinnern, was da für schöne Bilder drauf gemeinen Entwicklung. Jetzt, wo die Bilder so schnell geworden sind, gegen-
waren . Bei 20 Mark war Goethe, bei 50 Friedrich Engels, bei 5 Mark Thomas über dem rasenden Stillstand, muß man darauf beharren, daß man solche Filme
Münzer und bei I00 Mark Karl Marx drauf. macht. Wo alle sagen, das geht eigentlich nicht. Jeder Dokumentarfilm ist im
Grunde genommen, was die Form angeht, ein Unikat. Und jedesmal ist es auch
Deine Filme zeichnen sich dadurch aus, daß sie sich kein Thema nehmen und dann ein Experiment, ob das aufgeht, was man sich vorgestellt hat. Weil das doch ein
dabei bleiben, sondern daß es immer wieder etwas gibt, was nach da oder da aus- relativ freies Bewegen und Komponieren ist. Auch wenn man noch so viel
bricht. Daß sie einfach der Frage folgen: Was ist das Leben? Egal, ob du nun in Erfahrung hat, weiß .m an nie, ob es aufgeht. Man hat jedesmal, bei jedem neuen
Wittstock bist oder um diese Ziegelei herum. Daß von vornherein der Blick weiter Film, den man anfangt, eine Art von Grundangst. Es ist eben ein Abenteuer. Und
ist als das Thema. Daß dich die Menschen interessieren. Das ist ja doch ein das muß man versuchen zu erhalten. Natürlich gibt es, wenn man eine ganze
Unterschied zu anderen Filmen. Das Ausgreifende. Vielleicht kannst du das besser Reihe von Filmen gemacht hat , auch eine gewisse Routine. Die immer dadurch
beschreiben als ich. zurückgenommen wird , daß man sich auf das Leben einläßt. Wenn man sich auf
das Leben einläßt, weiß man nie, was passiert. Die Formulierung, daß das Leben
Ich glaube, ich habe das schon von vornherein geplant, daß es Geschichten vom das Drehbuch des Dokumentarfilms ist, ist ein bißchen albern . Dokumentar-
Leben sind. Ich glaube, dadurch, daß die Grenzen relativ eng gesteckt sind beim film schließt das Abenteuer von vornherein ein. Man staunt jedesmal wieder,
Dokumentarfilm, daß man keine Szenen durch das Schlüsselloch drehen kann wie überhaupt etwas passieren kann.
und auch nicht drehen will, baut man um Lebensgeschichten herum noch so
einiges. Das hat wahrscheinlich mit dem Montageprinzip des Films zu tun. Daß Du sagst, man muß die Offenheit, das Abenteuer erhalten . Was muß man sich
man immer wieder Ausflüge macht in die Umgebung der Leute, die man be- erhalten im Drehen? Das Nicht-Wissen?
schreibt. Bei einer aufgeschriebenen Geschichte ist es so, daß man durch die
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Man möchte natürlich, daß alles gut gelingt. Aber man muß sich wieder auf eine Bei deinen Bildern habe ich das Gefühl, daß die Kamera meistens auf dem Stativ
gewisse Naivität zurückschrauben. Es geht nicht anders. Man braucht jedesmal steht, dann geht die Szene los. Wie entscheidest du dich oder wie entscheidet ihr,
auch eine gewisse Art von Staunen-Können. Und man muß die Leute gern wann ihr anfangt?
haben, mit denen man dreht. Man kann auch Dinge drehen, machen wir ja auch
hin und wieder, die etwas schräg sind. Die einem dann gleich vorgeworfen wer- Das ist ganz unterschiedlich. Es ist durchaus nicht immer vom Stativ aus
den, wie man so mit Menschen umgehen kann. Gerade bei Filmen, wo man auf gedreht. Es ist auch so, daß Themas Plenert oder Christian Lehmann sich an
Situationen trifft, mit denen man vorher nicht gerechnet hat. Man kann einen einen Tisch setzen, wo wir wissen, da passiert etwas. Sie haben die Kamera auf
Film nicht auf zynischer Grundlage aufbauen. der Schulter und sind Teil der Gesprächsrunde. Aber es kommt auch vor, daß
man sich einfach hinsetzt und die Kamera aufs Stativ stellt und dann eine Unter-
Mir geht es bei Filmen so, daß ich vorher, jenseits von allen einzelnen Themen oder haltung beginnt. Ich finde das auch nichts Ehrenrühriges. Es wird oft darüber
Menschen, die in einem Film vorkommen, ein Ge(t.ihl von einer Gangart habe. Ein gesprochen, ob das nicht eine künstliche Situation ist. Es ist insofern keine , weil
ganz ungefähres Geftihl, aber doch etwas, auf das ich hinarbeite, eine Art Rhyth- die Situation nicht anders ist, als wenn man irgendwo hingeht und sich in einer
mus. Hast du so etwas, wenn du einen Film beginnst? Ein Geftihl oder eine Vision? Gaststätte oder Kneipe dazu setzt, außer daß die Kamera dabei ist. Ich bin oft
gefragt worden, wie man das schafft, daß die Leute so natürlich wirken. Das war
Das ist unterschiedlich. Das ist auch ganz bestimmt keine Sache, die man erst eigentlich nie ein Problem für mich. Natürlich benehmen sich die Leute ein
am Schneidetisch herstellt. Durch irgendeine geschickte oder dynamische Mon- bißchen anders, wenn die große Kamera da steht. Aber wenn man Leute trifft,
tage. Klar, wenn man einen Film über einen Fluß macht, fährt man gerne den die man nicht so gut kennt, benehmen die sich auch ein bißchen anders. Das ist
Fluß lang und guckt, wie das Wasser fließt. Ein Zug fährt schnell, und ein Auto durchaus ein menschlicher Zustand, daß sich Leute in unterschiedlichen Situa-
donnert über die Landstraße- diese äußeren Dinge geben natürlich einen be- tionen in Abstufungen unterschiedlich verhalten. Es ist merkwürdig, daß es für
stimmten Rhythmus. Aber ich glaube, daß es vor allen Dingen darum geht, wie den Film, den man macht, gar nicht so sehr von Belang ist, wenn man es schafft,
Menschen in einer Landschaft wohnen und leben. Das prägt die Leute, und es eine gewisse Grundatmosphäre herzustellen. Es gab ja immer grundsätzliche
prägt dann auch den Rhythmus des Films. Die Frage ist immer, ob man versucht, Diskussionen über Redefilme und über wirklich filmische Dokumentarfilme,
das bewußt zu brechen, oder ob man sich darauf einläßt und sich treiben läßt. die sogenannte »Bildersprache«. Das ist, glaube ich, nebensächlich, wenn das
ln Wittstock war es damals diese Fabrikhalle, es war der Lärm, dann war es, Filmmaterial einfach das Erlebnis dokumentiert. Wenn man sich die unge-
wenn man vom Kirchturm über die Landschaft guckte, der hohe Himmel, und schnittenen Muster in der gedrehten Reihenfolge anguckt, weiß man meistens
es war diese eine riesige Diskothek, in der die Mädchen ihre Freizeit ver- schon, ob etwas passiert ist, das den Film tragen kann. Das heißt ganz einfach,
brachten. Einen Film aus derWittstockreihe habe ich dann auch etwas abseits daß das Erlebnis, das man beim Drehen gehabt hat, auch wirklich im Material
der Hauptfiguren gemacht. Das war der vierte, glaube ich: LEBEN UND WEBEN. drin ist.
Statt des hohen Himmels, der auch immer vorkommt, waren es die Diskothek,
das Ledigenwohnheim, wo ein Großteil der Arbeiterinnen wohnte, die noch Kommt die Entscheidung ftir eine bestimmte Art von Szene von dir oder vom
keine Wohnung hatten, und die Fabrikhalle. Dieses Grundgeräusch der Fab r ik- Kameramann ? Zum Beispiel bei der Szene mit dem Mann im Gras, der dort sitzt
halle ist mir, obwohl es diese Fabrikhalle nicht mehr gibt, bis heute im Ohr. und erzählt, in dem Film MÄRKISCHE GESELLSCHAFT MBH.
Wir sind oft da reingegangen, wenn Nachtschicht war. Dann war der Geräusch-
pegel so groß. Wobei man das Geräusch eigentlich erst dann richtig wahr- Da, wo die Jagdflieger dann kommen 1
genommen hat, wenn man aus der Fabrikhalle herausgekommen ist und plötz-
lich Ruhe war. Dann hat das retrospektiv in einem weiter gedröhnt. Die erste ja, ist das verabredet?
Einstellung beim Film KALTE HEIMAT- diese Bewegung mit dem Pferd- war auch
die erste Aufnahme, die wir gedreht haben auf der Reise. Da waren wir noch Das ist verabredet. Der Mann wollte uns zeigen, wo der Flugplatz ist. Der
nicht ganz da. Da war plötzlich ein Stück unbenutzte Autobahn, Runkelrüben wohnte im Wald in der Nähe und hat uns das gezeigt. Da hat der Kameramann
lagen da, es war schon östlich derWeichsei in der samardischen Ebene, in der Themas Plenert, glaube ich, gesagt: »Hier ist es schön, hier können wir uns in
die Zeit ohnehin anders ist, und dann diese Bewegung und das Pferd. Es war den Wald setzen«, und dann haben wir uns da hingesetzt, und dann hatThomas
der Punkt, durch den wir erst einmal durchmußten, um uns auf den anderen Plenert irgendwann zum Assistenten gesagt: »Hol doch mal die Kamera.« Dann
Lebensrhythmus in dieser Landschaft einzustellen. Ich glaube, daß es dann doch haben wir die Kamera geholt, haben weiter dort gesessen und haben dann auch
eine weitgehend unbewußte Sache ist. etwas gedreht. Man muß sich nicht unbedingt wohlfühlen, aber man muß mit
dem Ort, wo man dreht, etwas anfangen können. Ähnlich war es bei der Szene
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an den Tonstichen . Der Mann, mit dem ich dort sprach, war ein ehemaliger langfuhren. Zum Schluß des Films, als wir durch den Ziegelofen fahren , der
Meister aus dem Betrieb. Wir haben uns mit ihm getroffen an einem Tonstich. inzwischen leer ist, habe ich das Radio angemacht, und da war, glaube ich,
Das ist ein abgesoffenes Restloch vom Tagebau, von der Tonförderung. Und der Opernmusik : Die Entführung aus dem Serail. Dann haben wir Abschied ist ein
wollte uns etwas erzählen über den Zustand der Ziegelindustrie. Die ersten scharfes Schwert nochmal künstlich dazugetan. Aber in der Fahrt durch
Öfen waren da schon stillgelegt. Und während wir drehten, sah ich auf der Zehdenick ist es rein dokumentarisch.
Betonstraße eine Frau ankommen. Mit diesem Hut- es war ein unwirkliches
Bild. Da habe ich zu Thomas Plenert während des Drehens gesagt: »Guck mal, Läßt du manchmal gern eine bestimmte Länge, so daß eine Autonomie der Ein-
wer da kommt.« Er hat mit einem Auge geguckt und hat die Kamera umgesetzt. stellung entsteht? Daß eine Fahrt eben nicht nur mitteilt, was man sieht?
Dann nähert sich die Frau langsam an. Das war wirklich ein Zufall. Ich habe oft
in Filmdiskussionen erlebt, daß Leute gesagt haben: »Das kann nicht sein, daß Wenn man erstmal fährt, muß man auch fahren. Und gucken. Bevor man be-
da so eine Frau ankommt und sagt, daß die Ziegelindustrie eigentlich ihr gehört griffen hat, daß man fährt, wird oft schon wieder geschnitten. Auch wenn man
oder ein Teil davon. Das ist inszeniert. Soviel Zufall kann es nicht geben.« Montagen von Landschaften macht, ist es so, daß man einen Komplex zusam-
Worauf Thomas Plenert dann erzählte, daß es zu dem Zufall nur gekommen mennimmt, um ein Gefühl für die Landschaft herzustellen. Genauso ist es bei
ist, weil wir eine halbe Stunde länger gefrühstückt hatten, als wir ursprünglich Fahrten, man muß eine Weile gucken . Wenn man das Filmmaterial ungeschnit-
vorhatten, und so später zum Drehen fuhren. Und wenn wir das nicht gemacht ten anguckt nach dem Drehen ,wenn derTon angelegt ist, hat man oft den schön-
hätten, hätten wir die Frau nicht getroffen. Das ist so ein Zufall. Sie läuft dann sten Film. Im Grunde genommen hat man in der ganzen darauffolgenden Schnitt-
hinterher weg, und wir sind ihr auch nicht wieder begegnet. Im Gespräch mit zeit nur damit zu tun, den Eindruck, den die lange Fassung hinterlassen hat,
ihr ist plötzlich das ganze Jahrhundert anwesend. Die Gedanken gehen ihr in einigermaßen zu erhalten oder nach r igorosen Kürzungen wiederherzustellen .
alle möglichen Richtungen davon . Der Film insgesamt bewegt sich ziemlich frei
in einem relativ großen Raum, sagen wir mal 30 Kilometer um Zehdenick, in Das ist, glaube ich, die Kunst beim Schneiden, daß man das Rohe erhält, den
der Hauptsache in Zehdenick selbst. Dann sind wir aber auch an andere Orte Reiz, den das Rohe hat, auch wenn manchmal eine kleine Kamerabewegung drin
gegangen. Zum Beispiel dorthin , wo sich in einem Tanzsaal gerade die SPD ist, oder das Suchen nach einem Bild, manchmal fiillt der Ton aus, a/1 diese
gründete. Oder zu den Frauen in der Grüneberger Schnapsfabrik kurz vor der Momente, das sind oft wunderbare Momente. Der Schnitt birgt die Gefahr, die
Wahl. ln einer Zeit, wo sich täglich etwas veränderte, haben wir gedacht, daß Dinge zu glätten.
wir zu viel verpassen, wenn wir nicht ein bißchen herumfahren mit dem Auto.
Alles wird durch Bewegung verbunden. Wir fahren, und die Russen fahren durch Das Rohe, ich meine jetzt nicht im Sinne von grob, aber das Rohe und die Sprö-
die Gegend. Man wußte wirklich nicht genau, wie die Geschichte weiter ab- digkeitgehö ren zu den wichtigen Dingen im Dokumentarfilm. Immer wenn ma n
laufen wird. Im ersten Film gibt es einen Ausschnitt von der DEFA-Wochen- das Material glätten will bei der Montage, geht es schief. Und wenn man es zu
schau aus den fünfziger Jahren, wo davon gesprochen wird, daß die Produktion bewußt du rch eine geschickte Schnittfolge verändern wil l, geht es a uch schief.
vollautomatisch verläuft. Man sieht aber, wie Frauen mit der Hand die Ziegel-
steine abnehmen . Ich habe immer nachgesehen, was es im Archiv aus den Orten Hast du ein Beispiel dafiir?
gab, an denen wir drehten. Von Wittstock habe ich zum Beispiel drei Einstel-
lungen gefunden. Einmal den frühere n Bischofssitz, den Amtshof, dann eine Auf- Das bezieht sich nicht nur auf die Montage der Bilder, es bezieht sich natürlich
nahme aus einer Spinnerei und dann noch eine Totale. auch auf alle anderen Elemente, zum Beispiel auch darauf, wie man Musik ein-
setzt. Inzwischen sehe ich das etwas heiterer. Beim DEFA-Dokumentarfilm
Das ist eher die Ausnahme, daß du mit Dokumenten arbeitest? war es damals üblich , daß Musik komponiert wurde. Es gibt in allen Filmen, die
sich mit der Wirklichkeit beschäftigen, komponierte Musik. Das hing auch da-
Ja. ln dem Film MÄRKISCHE GESELLSCHAFT MBH gibt es eine Fahrt mitten durch mit zusammen, daß wir die Musik, die in Kneipen dudelte, immer abstellen
Zehdenick. Die endet am Havelarm, weil die Zugbrücke nicht mehr existiert. mußten . Es gab das vorgeschriebene Verhältnis von 60 zu 40. 60 Prozent mußte
Im ersten Film, MÄRKISCHE ZIEGEL, haben wir die Fahrt schon einmal gemacht. Ostmusik sein, nur 40 Prozent durfte Westmusik sein in Diskotheken. Es wurde
Da staunt man, wie sich das Stadtbild verändert hat. Welche Autos damals da natürlich ständig durchbrachen. Selbst in normalen Kneipen. ln den achtziger
herumstanden. Das war die Zeit, als die Händle r langsam kamen. Und sich die Jahren hat sich keiner mehr darum gekümmert, daß RIAS lief. Wir hätten die
märkischen Kleinstädte wieder in Marktflecken verwandelten. Und dieses Lied, Musik sowieso nicht im Film gelassen. Wir mußten sie abstellen aus rechtlichen
Abschied ist ein scharfes Schwert, kam vom Radio, als w ir mit dem Auto da Gründen. Es gab kein Westgeld, mit dem man hätte die Filmmusikrechte
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erwerben können. Da Musik aber in irgendeiner Form zum Leben gehört, Es gibt immer die Frage nach irgendeiner Art von rotem Faden. Ich habe über-
haben wir immer versucht, etwas künstlich dazuzutun. Da sind dann manchmal legt, warum das gerade beim Dokumentarfilm völliger Quatsch ist. Natürlich
komische Formen entstanden. Inzwischen haben sie etwas Heiteres. Das ist hat alles, wenn es einigermaßen gelungen ist, auch eine innere Logik. Das Ge-
auch eine Art Dokument, was damals an Musik in den Köpfen war. schichtenerzählen im Dokumentarfilm ist eben eher wie das Geschichten-
erzählen in der Literatur. Oder eigentlich noch mehr wie das Gedichteschrei-
Wir haben gerade begonnen, vom Schnitt zu sprechen. Hast du, wenn du drehst, ben, wo man mit dem Material freier umgehen kann. Man fügt Sachen
schon eine bestimmte Erzählung im Sinn? Oder ist es eher so, daß das Drehen zusammen, montiert. Oft kommt man nach allen möglichen Versuchen, einen
eine Art Sammeln ist, und dann schaust du beim Schneiden, was dir das Material Film besser und vielleicht auch geschickter zu montieren, auf die Abfolge zu-
erzählt oder wie eine Erzählung daraus entstehen könnte? r ück, in der das Material gedreht worden ist. Man versucht, etwas von hinten
nach vorn zu nehmen, und merkt dann, daß es nach hinten gehört. Kann natür-
Ich glaube, man macht sich darüber ständig Gedanken. Ich schreibe mir auch lich auch sein, daß sich einfach das Erleben beim Drehen gegen eine andere Ab-
Montagemöglichkeiten auf, die mir auffallen. Wie eine Abfolge von Szenen sein folge sträubt. Andere Leute mer ken es vielleicht gar nicht. Man selbst sträubt
könnte. Aber eigentlich braucht man sich das nicht aufzuschreiben, weil es sich dagegen, weil man es nicht in der Reihenfolge erlebt hat.Aber das mit dem
irgendwann im Kopf ist, wenn es richtig ist. Es gibt aber auch vorher ausgedachte roten Faden ist noch eine andere Geschichte. Weil es immer auch assoziiert,
Abfolgen. Zu Beginn des Schnitts schneiden wir die ausgedachte vorletzte daß durch eine zwingende Abfolge der Geschichte etwas bewiesen werden soll.
Sequenz und dann eine, die weiter vorne ist. Weil ich festgestellt habe, daß man Daß man Leute dazu zwingt, Dinge auf eine bestimmte Weise zu sehen .
manchmal, wenn man es zu linear macht, am Schluß ganz atemlos ist. Die letzte
oder vorletzte Rolle ist dann das Stiefkind, weil man kurz vor einer Vorführung Fällt dir das Schreiben von Kommentaren schwer?
ist. Bestimmte Komplexe werden also montiert, zum Beispiel der Aufenthalt an
einem Ort, in einem Zimmer, in einer Kneipe oder einer Straße, und dann wer- Nein. Manche Leute verzichten ganz auf Kommentar. Kann man oft auch.Wobei
den sie in den eigentlichen zeitlichen Ablauf eingeordnet. Wenn man den Film ich, wenn ich etwas über geschichtliche Hintergründe sagen will, einen Kom-
dann das zweite oder dritte Mal in der endgültigen Reihenfolge durcharbeitet, mentar benutze.Aiso Text als eigene Ebene, um zu sagen, wo man ist, wenn man
verändert man einzelne Szenen noch. Es stellt sich ja immer nur ein Gefühl für hin und wieder den Ort wechselt und sich nicht auskennen können. Ich
den endgültigen Rhythmus ein. Das hat auch mit den Längen der Einstellungen benutze Kommentar aber nie, um zu sagen, wie irgendjemand ist oder wie er
zu tun, und da sind wir relativ vorsichtig. So daß wir Einstellungen und Szenen denkt und fühlt. Ich fasse auch nichts zusammen. Ich glaube, daß man das Do-
länger lassen, erstmal. Manchmal fangen wir auch ganz anders an. Grundsätzlich kument erhalten muß. Hin und wieder sage ich gern etwas dazu, aber wenig.
ist es so, wenn die einzelnen Szenen einigermaßen stimmen, gibt es auch keine
Schwierigkeiten mit dem Gesamtrhythmus. Man muß das Material ja immer Machst du den Kommentar zum Schluß, wenn der Film fertig ist?
reduzieren . Nachdem ich schon vierzehn oder fünfzehn Jahre bei der DEFA war
und das erste Mal einen Film länger als eine halbe Stunde machen konnte, da Ich glaube, ein Dokumentarfilm muß sich selbst erzählen. Wenn das nicht hin-
war das eine völlig neue Erfahrung und auch eine Umstellung. Manchmal über- haut, kann man das auch nicht dadurch reparieren , daß man versucht zu er-
lege ich mir, wie hat man das bloß geschafft, Filme mit einer Länge von zwanzig klären, was nicht drin ist. Ich mache den Kommentar immer erst zum Schluß,
Minuten zu machen. Wobei ich es eigentlich gut finde, hin und wieder die etwas wenn alles fertig ist. Oft geht es einem auch so, daß plötzlich gar kein Platz mehr
kürzere Form zu üben. Wir haben vor zwei Jahren zwei Videos gemacht für übrig bleibt, um noch etwas zu sagen. ln Ostpreußen war es so, weil schon so
ARTE I LA SEPT. Das waren fünf oder sechs Minuten. Und man staunte, wieviel viel schöne Geräusche da waren.
Einstellungen da auch reingehen können, ohne daß es hastig wirkt. Grundsätz-
lich glaube ich aber schon, daß die etwas längere Form dem Dokumentarfilm Gibt es noch etwas, über das du von dir aus sprechen möchtest?
mehr liegt. Bei einer halben Stunde muß man doch zu oft schneiden. Es hat etwas
Gewalttätiges. Zum Beispiel ein Gespräch zu schneiden. Da noch ein Stück ab Vielleicht über die permanenten Schwierigkeiten des immer neu totgesagten
und da noch. Und bei einem kurzen Film wird man viel öfter zu dieser Ge- Dokumentarfilms. ln regelmäßigen Abständen wurde bei uns darüber disku-
meinheit gezwungen. tiert, ob Dokumentarfilm noch zeitgemäß ist und ob es überhaupt eine Form
ist, die man erhalten sollte. Bei der DEFA wurde uns immer angedroht, daß wir
Hast du eine Vorstellung vom Ablauf der Geschichte, wenn du mit dem Material dem Fernsehen der DDR angeschlossen werden. Dann wäre es wahrscheinlich
nach Hause kommst? für unsere Art von Filmen aus gewesen. Ich habe in der Zeit zwei- oder drei-
VOLKER KOEPP 125

mal versucht, direktere Aufträge für's Fernsehen zu machen - die DEFA hat Zuschauern sammelte. Der ausschließliche Blick auf Einschaltquoten entspricht
auch direkte Auftragsproduktionen gemacht, besonde rs Sachen, die sich mit meiner Meinung nach nicht den Aufgaben, die ursprünglich den dritten Pro-
Kultur beschäftigten . Ich wollte einmal einen Film machen über einen Stadt- grammen zugedacht waren. Wenn die Entwicklung nun dahin geht, daß das
bezirk in Leipzig. Es ging da um eine Gießerei, und es war wie in früheren einzige Maß eines Films die Einschaltquote ist, dann müßte man sich auch über-
Zeiten, wo die Arbeiter nach der Arbeit gleich ihr Bier trinken gingen. Sie gingen legen, ob man nicht gleichermaßen die Konzert-, Opern- und Theate r häuser
dann in Arbeitsklamotten in die Kneipe. Dann haben die vom Fernsehen die schließt.
Muster angeguckt und haben gesagt: »Es gibt ausreichend Dusch räume, und ein
Arbeiter geht, weil er ein kulturvoller Mensch ist, gut angezogen in die Kneipe.« Gibt es Dinge, die du gerne noch machen möchtest?
Es gab keine Verständigungsmöglichkeit. Wir hatten dieses sogenannte natio-
nale Festival für Dokumentarfilm und Fernsehpublizistik in Neubrandenburg, Ich würde ganz gern weiter Dokumentarfilme machen. An Themen fehlt es
und da gab es immer diese Diskussion. Was die Methoden und Formen angeht, nicht. Ich habe meine Wittstock-Geschichte, die ich weitermachen will. Es ist
war die Diskussion sehr aufgesetzt. Diese Auseinandersetzungen wurden ja nicht so, daß man immer wieder dasselbe macht. Ich habe vorhin schon ge-
immer von ideologischen Dingen überlagert. Es wu rde gesagt: »Dokumentar- sagt, daß jeder Film auch eine neue Form ist. Insofern ist das etwas, das in all
film ist nicht geeignet, die Probleme der Zeit zu bewältigen.« Es gab parallel den Jahren spannend war. Daß man versucht, Dinge herauszufinden, die man
dazu vergleichbare Auseinandersetzungen auch im Westen. Und in der sich vorher nicht wußte. Ansonsten leben wir »Osteuropäer« ja mehr in der Ver-
jetzt wieder ve rändernden Med ienlandschaft ist das auch wieder in der Dis- gangenheit und nicht so sehr in der Gegenwart und schon gar nicht in der Zu-
kussion. Ob man Dokumentarfilm überhaupt noch weitermachen kann und ob kunft. Man erzählt sich Geschichten, die einmal passiert sind . »Am Feuer sitzt
man dafür Geld ausgeben sollte. Ich glaube, daß Dokumentarfilm subventio- der Geschichtenerzähler, die Jungen, die tagelang ihm lauschten, zogen davon.«
niert werden muß. Die Oper und das Theater werden auch subventioniert. Das
hat nichts mit Subventionsdenken zu tun , sondern damit, daß Dokumentarfilm
zur Kultur der jeweiligen Nation gehört. Daß es darum geht, Dokumente her-
zustellen im eigentlichen Sinne. Neben der Tatsache, daß es ein Film sein soll,
der von mehreren Leuten gerne gesehen wird. Aber es hat auch noch diese
andere Funktion. Im ursprünglichen Sinne : etwas zu bewahren. Insofern bin ich
mit genügend Sturheit gesegnet, daß ich einfach will, daß es weitergeht. Und
dann wird es auch weitergehen mit dem Dokumentarfilm. Was es an neuen
Fernsehfo rmen gibt, Reality TV und ähnliches, das ersetzt das nicht. Das ist ein-
fach eine andere Sache . lch glaube auch, daß irgendwann ein Sättigungsgrad bei
Zuschauern erreicht sein wird, sich Horror und Unterhaltung anzusehen. Das
ist eine allgemeine Menschheitsfrage, wenn man so will. Es geht am Ausgang des
Jahrhunderts und des Jahrtausends darum, welche Möglichkeiten es gibt, daß
die Menschheit überhaupt überlebt. Und wenn sie überleben will, braucht man
auch Formen, das zu begleiten. Das ist angesichts der Verunsicherung und der
zunehmenden Bürgerkriege, die ja weit nach Europa herein ragen, wichtig, damit
es weitergeht.

Was erwartest du ftir dich von der Zukunft?

Wenn man daran gedacht hätte, daß man etwas macht, das nur wenig andere
Leute sehen, hätte man wahrscheinlich aufgehört, oder ich hätte wahrschein-
lich aufgehört. Daß ich es nicht tat, hing damit zusammen, daß ich daran gedacht
habe, Dokumente zu machen. Daß jetzt, nach einer gewissen Zeit, die Filme
auch im Fernsehen gezeigt werden, finde ich prima. Selbst bei niedrigen Ein-
schaltquoten sehen es immer noch so viele, wie man früher in zehn Jahren an
127

Vofker Koepp 1980 Haus und Hof


35 mm, s/w, 3 I Min.

1981 Leben und Weben


Volker Koepp, geboren 1944 in Stettin, aufgewachsen in Berlin (DDR). Maschi- 35 mm, s/w, 29 Min.
nenschlosserlehre, Facharbeiter. 1966-1969 Studium an der Deutschen Hoch-
schule für Filmkunst in Babelsberg. 1982 ln Rheinsberg
Von 1969 bis 1990 Regisseur im DEFA-Studio für Dokumentarfilme. Seither 35 mm, Farbe, 30 Min.
freier Regisseur.
1983 AlleTiere sind schön da
35 mm, Farbe, 12 Min.
1971 Schuldner
35 mm, s/w, I I Min. 1983/85 Afghanistan 1362 : Erinnerung an eine Reise
35 mm, Farbe, 55 Min.
1972 Grüße aus Sarmatien
35 mm, s/w, 14 Min. 1984 Leben in Wittstock
35 mm, s/w, 85 Min.
1973 Gustav J.
35 mm, s/w, 19 Min. 1985 An der Unstrut
35 mm, Farbe, 27 Min.
1974 Slatan Dudow
35 mm, s/w, 33 Min. 1986 Die F96
35 mm, Farbe, 135 Min.
1975 Mädchen in Wittstock
35 mm, s/w, 20 Min. 1987 Feuerland
35 mm, s/w, 32 Min.
1976 Das weite Feld
35 mm, Farbe, 35 Min. 1988/89 Märkische Ziegel
35 mm, s/w, 37 Min.
1977 Wieder in Wittstock
35 mm, s/w, 22 Min. 1989/90 Arkona-Rethra-Vineta
16 mm, Farbe, 122 Min.
Hütes-Film
35 mm, Farbe, 24 Min. 1990 Märkische Heide, Märkischer Sand
35 mm, s/w, 58 Min.
1978 Wittstock 111
35 mm, s/w, 32 Min . 1991 Märkische Gesellschaft mbH
35 mm, s/w, 74 Min .
1978179 Am Fluß
35 mm, Farbe, 34 Min. ln Karlshorst
Beta, Farbe, II Min.
1979 TagfürTag
35 mm, s/w, 32 Min. ln Grünberg
Beta, Farbe, 8 Min.
V OLK ER K O EPP

1992 Neues in Wittstock


35 mm, slw, 96 Min.

1992 Sammelsurium- ein ostelbischer Kulturfilm


16 mm, Farbe, I 04 Min.

1993 DieWismut
35 mm, slw, I I 0 Min .

1995 Kalte Heimat


35 mm, Farbe, 157 Min.

seit 1995 und bis 2017:


18 (!) weitere Filme.
Siehe dazu Volker Koepp auf filmportal.de
VOLKER KOEPP – BIOGRAFIE UND LITERATUR – DEFA-STIFTUNG

© DEFA-STIFTUNG cf. http://www.defa.de/DesktopDefault.aspx?TabID=899

In vierzig Jahren hat der Dokumentarfilmregisseur Volker Koepp über fünfzig


Filme produziert. Zweiundzwanzig Lebensjahre umfasst seine Bekanntschaft mit
Frauen aus Wittstock, die er immer wieder porträtiert. Über mehrere Jahre reist
er durch den Ostteil Deutschland, beobachtet Menschen aus dem Havelland, dem
Oderbruch, von der Ostsee, aus dem Erzgebirge. Dabei sind Volker Koepps
Beobachtungen frei von ideologischen Prämissen; er fragt sensibel nach
Situationen, Geschichte, nach Heimat. Egal in welchen Regionen und Gebieten der
Regisseur Geschichte und Geschichten erkundet, immer lässt er den Menschen
genügend Platz für ihre Erzählungen, setzt sie poetisch in eins mit der sie
umgebenden Landschaft.
Volker Koepp wird am 22. Juni 1944 in Stettin (heute Szczecin, Polen) geboren.
Sein Vater ist Akademiker. Er absolviert seine Schulausbildung in Berlin,
schließt sie 1962 in Dresden mit dem Abitur ab. Danach beginnt er einer
Facharbeiterlehre als Maschinenschlosser in der Turbinenfabrik Dresden. Von 1963
bis 1965 studiert er an der Technischen Universität Dresden.
Aber er entscheidet sich um und absolviert von 1966 bis 1969 ein Sonderstudium
an der Deutschen Hochschule für Filmkunst Potsdam-Babelsberg. Zu seinen
Klassenkollegen gehören unter anderem Claus Küchenmeister und Ralf Kirsten.
Schon während seiner Studienzeit dreht er gemeinsam mit Alexander Ziebell den
Dokumentarfilm SOMMERGÄSTE BEI MAJAKOWSKI, eine biografische Spurensuche über
den Dichter Wladimir Majakowski in dessen Heimatland Georgien. Während des
Studiums kommt es zwischenzeitlich zu Schwierigkeiten mit der Hochschulleitung
wegen seiner Freundschaft mit dem Schriftsteller Thomas Brasch. Er soll
exmatrikuliert werden, schließt dann aber doch das Studium als Regisseur und
Szenarist mit seinem Diplomfilm WIR HABEN SCHON EINE GANZE STADT GEBAUT (1968)
ab. Hier wird die Bauarbeiterbrigade "Hanns Eisler" bei der Errichtung einer
modernen Plattenbausiedlung in Ludwigsfelde bei Berlin porträtiert.
Seit 1970 ist Volker Koepp fest als Regisseur im DEFA-Studio für Dokumentarfilme
angestellt. Er ist Mitglied der Gruppe "dokument". Seine erste Arbeit wird eine
Episode für den Film DER OKTOBER KAM... (1970), der unter der Leitung von Karl
Gass und in Zusammenarbeit mit den Regisseuren Jürgen Böttcher, Gitta Nickel,
Peter Ulbrich, Alexander Ziebell und Peter Rocha zum 20. Jahrestag der DDR
entsteht. Volker Koepp dreht seine Episode in einer Dresdener Gießerei. Danach
entstehen in alleiniger Regie die Dokumentarfilme JUNGE LEUTE (1970) und DIE
ROLLE DES MEISTERS IM SYSTEM DER SOZIALISTISCHEN BETRIEBSWIRTSCHAFT (1970).
Letztere ist eine Auftragsarbeit des VEB Schiffbau Rostock. Im Jahr darauf dreht
der junge Regisseur wieder eine Auftragsarbeit, diesmal für den VEB Kommunale
Wohnungsverwaltung Berlin - Prenzlauer Berg. Es entsteht der Dokumentarfilm Film
SCHULDNER (1971) sowie zwei Folgen des im DDR-Fernsehen ausgestrahlten Magazins
"Treffpunkt Kino - Kinofilmvorschau". Insgesamt acht weitere Folgen dreht er für
dieses Magazin.
Mit den folgenden Dokumentarfilmen GRÜSSE AUS SARMATIEN FÜR DEN DICHTER JOHANNES
BOBROWSKI (1973) und GUSTAV J. (1973) findet Volker Koepp ein Sujet, das er in
der Folge mehrfach aufgreifen wird. Gemeinsam mit den Autoren Wera Küchenmeister
und Claus Küchenmeister entstehen Filmessays, die sich sensibel mit Lebenswegen
beschäftigen. Volker Koepp zeichnet in TEDDY (1973) einem für Kinder gedachten
Dokumentarfilm das Leben des jungen Ernst Thälmann nach. Drei Jahre später
erscheint das gemeinsam mit dem Autorenpaar verfaßte Kinderbuch "Als Thälmann
noch ein Junge war". Zu dem unter der Regie von Bernhard Stephan entstandenen
Spielfilm AUS MEINER KINDHEIT (1974) hatte Volker Koepp gemeinsam mit ihnen das
Szenarium verfasst. Außerdem verfilmt er die Biografien des Regisseurs Slatan
Dudow und des Dichters Erich Weinert, porträtiert den Antifaschisten Walter
Hähnel in ICH ERINNERE MICH NOCH - DER KURZE LEBENSBERICHT EINES ILLEGALEN
(1977).
1974 macht sich Volker Koepp auf den Weg nach Wittstock, um dort junge Frauen im
neu errichteten Obertrikotagenbetrieb "Ernst Lück" zu beobachten. Es entsteht
der Kurzfilm MÄDCHEN IN WITTSTOCK (1975). Alle zwei, drei Jahre kehrt er in die
Stadt an der Dosse zurück und dreht weitere halbstündige Dokumentarfilme, 1984
den ersten abendfüllenden Dokumentarfilm. LEBEN IN WITTSTOCK (1984) ist als Ende
der Reihe gedacht, aber es entstehen 1992 und 1997 weitere Filme. Der Zuschauer
kann über 22 Jahre am Leben der drei Frauen Edith, Renate und Stupsy teilhaben.
Der Regisseur findet mit den Wittstock-Filmen sein eigenes künstlerisches
Profil, welches ihn als Dokumentaristen einzigartig werden lässt. Ihm gelingen
nachdrückliche Zeitdokumente, die vom Leben, den Wünschen und Träumen der
einfachen Menschen berichten. Zwar erzählen seine Filme vom alltäglichen Leben
der Frauen, inszenieren sie aber auch in überaus poetischen Bildern.
1976 beginnt Volker Koepp zusammen mit seinem langjährigen Kameramann Christian
Lehmann mit einer Reihe von Landschaftsfilmen, die Menschen in ihrer Umgebung
zeigen sollen. Das Filmteam nähert sich in DAS WEITE FELD (1976) behutsam dem
märkische Dorf Häsen und seinen Bewohnern, dreht Hütes (1977) in der Rhön, eine
Märkische Trilogie in und um Zedernick, fährt die F 96 (1986) entlang, wandelt
auf den Spuren der WISMUT (1993) im sächsisch-thüringischen Erzgebirge. Weitere
Stationen sind unter anderem Afghanistan, das Dorf Kienitz im Oderbruch,
Rheinsberg, Karlshorst, die Uckermark, Arkona sowie Schwaan in Mecklenburg. Der
Regisseur entwickelt eine filmische Topografie. In diesen Essays beschäftigt er
sich mit Menschen und Landschaften, lässt sie zu Wort kommen, gibt ihnen und
ihren Geschichten Raum und Zeit, fragt nach, wertschätzt sie und vertraut ihnen,
nimmt an ihrer Geschichte teil. In der Wechselwirkung von Individuum, deren
erlebter Geschichte und der Landschaft entsteht ein Begriff von Heimat, der bei
Volker Koepp nicht ideologisch besetzt wird.
Eine andere Gegend, die Volker Koepp seine Lieblingslandschaft nennt, wird
ebenfalls häufig vom Regisseur und seinem Filmteam bereist: Ostpreußen, das
Baltische Meer. Sein erster Film über die Region wird KALTE HEIMAT - LEBEN IM
NÖRDLICHEN OSTPREUßEN (1995). Die sinnliche und leise Dokumentation fragt nach
dem Zusammenleben von Menschen unterschiedlichster Nationalitäten. In DIE GILGE
(1998) reist er entlang und auf dem gleichnamigen Fluss. Er zeigt den Wandel in
der Region, die zu Zeiten der Sowjetunion kultiviert wurde und nun unter
russischer Hoheit vergessen ist. In KURISCHE NEHRUNG (2001) geben Menschen der
kleinen Halbinsel Auskunft über die wechselhaften politischen und privaten
Situationen. In poetischen Bildern zeigt der Regisseur die Schönheit der
Landschaft und übersetzt spannungsvoll die unbeständige Geschichte dieser
deutsch-litauisch-russischen Gegend in Bilder.
1999 legt Volker Koepp eine Dokumentation vor, mit der er neben dem nationalen
auch internationalen Erfolg feiert. HERR ZWILLING UND FRAU ZUCKERMANN (1999)
wird für den Europäischen Filmpreis nominiert. Im Mittelpunkt des Films stehen
Mathias Zwilling und Rosa Roth-Zuckermann, die zu den letzten noch im alten
Czernowitz geborenen Juden gehören. Beide verbindet neben ihrer Freundschaft
nicht zuletzt die deutsche Sprache. Täglich besucht Herr Zwilling in den
Abendstunden die 90jährige Frau Zuckermann. Volker Koepp gelingt in dieser
einfühlsamen Charakterstudie bewegte und bewegende Geschichte einzufangen. Fünf
Jahre später führt der Regisseur das Projekt weiter mit der Dokumentation DIESES
JAHR IN CZERNOWITZ (2004). Mit Emigranten und deren Nachkommen kehrt er zurück
nach Czernowitz. Der Cellist Eduard Weissmann macht sich von Berlin aus auf den
Weg, aus Wien kommen die Schwestern Evelyne Mayer und Katja Rainer, aus New York
der Schauspieler Harvey Keitel und der Schriftsteller Norman Manea. Alle befragt
Volker Koepp nach dem, was Heimat für sie bedeutet.
Landschaftlich ist POMMERLAND (2005) gekennzeichnet von weiten Kornfeldern und
Kartoffeläckern, von Alleen und Seelandschaften, ein ruhiges Land, aber in
weiten Teilen herrscht Arbeits- und Perspektivlosigkeit. Wieder ist es die
Stille, die den Film auszeichnet. Die ruhigen, melancholischen Bilder können
aber nicht über die Probleme der Region hinwegtäuschen. Für seinen Film
HOLUNDERBLÜTE (2007) reist der Filmemacher zu den Kindern im Gebiet um
Kaliningrad. Wer kann, der verlässt die Gegend und sucht woanders Arbeit, aber
zurück bleiben die Kinder. Dem Filmteam gelingen poetische Bilder von einer
entvölkerten Region, einer Kulturlandschaft, die die Natur zurückerobert und in
der die Menschen sich selbst überlassen sind. Als bestürzend schön und bitter
bezeichnen Kritiker den Film. MEMELLAND (2009) porträtiert Menschen am
litauischen Ufer des großen östlichen Stroms.
2009 beteiligt er sich an dem einzigartigen Projekt 24H BERLIN - EIN TAG IM
LEBEN, an dem namhafte Regisseure wie Rosa von Praunheim, Romuald Karmarkar und
Andres Veiel ebenfalls teilnehmen. Sie sind 24 Stunden lang in Berlin unterwegs,
filmen Menschen, Kulturen, Stadtansichten, Milieus. Auf seine eigene Geschichte
schaut Volker Koepp in BERLIN - STETTIN (2010). Seine eigene Biografie
überlagert sich mit der Biografie seiner Protagonisten, die er wieder aufsucht,
sowie mit der Geschichte dieses Landstrichs. Unsentimental und berührend,
unprätentiös und entwaffnend ist der Film laut Kritikern. IN SARMATIEN (2014)
wird ebenfalls ein Rückblick. Anfang der 1970er Jahre besucht der Filmemacher
die Region bereits; neben den Erinnerungen schaffen im neuen Film junge Menschen
die Verbindung zur unmittelbaren Gegenwart.
Seine Erfahrungen gibt Volker Koepp an die jüngere Generation weiter. 1993 ist
er Gast-Professor an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam-Babelsberg
und lehrt an der Filmakademie Baden-Württemberg. 1997 wird er zum Direktor der
Abteilung Film- und Medienkunst der Berlin-brandenburgischen Akademie der Künste
gewählt. 2010 ernennt das Land Brandenburg Koepp zum Professor ehrenhalber. 2014
erhält er vom Bundespräsident Joachim Gauck zum Tag der Deutschen Einheit das
Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. In der Begründung heißt es: "Volker Koepp wurde
mit seinen Dokumentarfilmen zu einem Chronisten der ostdeutschen Zeitgeschichte.
Einzigartig ist dabei sein Stil, einfühlsam Menschen im Alltagsleben ihrer
Heimat zu zeigen, die geprägt ist durch die wechselvolle Geschichte des 20.
Jahrhunderts. […] Volker Koepp hat mit seinen Filmen nachdrückliche
Zeitdokumente geschaffen."
Der Regisseur lebt in Berlin.
verfasst von Ines Walk
Stand: Januar 2015

Ausgewählte Literatur

Eigene Texte
Volker Koepp: Zu Strukturen im Spielfilm - Fragen im Zusammenhang mit dem
"Poetischen Film". Ein Essay (= Theoretische Diplomarbeit an der Deutschen
Hochschule für Filmkunst, Potsdam-Babelsberg) 1969.
Volker Koepp: Man muß wissen, daß es gebraucht wird..., in: Film und Fernsehen,
Nr. 02/1976.
Volker Koepp: Erlebnisse in unserer Wirklichkeit, in: Film und Fernsehen, Nr.
11/1978.
Volker Koepp: Nichts täuscht über Erlebnismangel hinweg, in: Film und Fernsehen,
Nr. 04/1979.
Volker Koepp: Unterwegs zur Wirklichkeit, in: Neubrandenburg '80. Podium und
Werkstatt, Nr. 05/1981.
Volker Koepp: "Meine Arbeit bei der DEFA", in: Zimmermann, Peter (Hrsg.), 1994.
Volker Koepp: "Die Dinge des Lebens", in: Gabriele Voss, (Hrsg.), Dokumentarisch
arbeiten, Berlin 1998 (=Texte zum Dokumentarfilm 1).

Fremde Texte

Wolfgang Gersch: Gespräch mit Volker Koepp, in: Information HFF, Potsdam-
Babelsberg, Nr. 01/02/1974.
Regine Sylvester: Nachdenken über die komplizierte Wirklichkeit. Gespräch mit
Volker Koepp, Regisseur, DDR, (=Presseheft: XIX. Internationale Leipziger
Dokumentar- und Kurzfilmwoche für Kino und Fernsehen vom 20. bis 27.
November 1976).
Wolfgang Gersch: Koepps "Landschaftsfilme", in: Film und Fernsehen, Nr. 05/1978.
Manfred Heidicke: "... ein Milieu des Vertrauens", in: Filmspiegel, Nr. 17/1978.
Rita Lebe: "... was unser Leben in Bewegung hält", in: Medium, Nr. 10/1980.
Gisela Harkenthal: Die Kamera zeigt das Gesicht, in: Sonntag, Nr. 42/16.10.1983.
Klaus Wischnewski: Zäsuren. Noch einmal zu LEBEN IN WITTSTOCK und RANGIERER, in:
Film und Fernsehen, Nr. 02/1985.
Jana Weber: Zerstörung ist eingeplant. Die Deutsche Filmkritik vergab ihren
diesjährigen Preis an Volker Koepp, in: Junge Welt, 18.11.1993.
Andreas Nowak: NEUES IN WITTSTOCK - Neues vom Dokumentarfilm. Ein Gespräch mit
dem Regisseur Volker Koepp, in: Zimmermann, Peter (Hrsg.),
Deutschlandbilder Ost. Dokumentarfilme der DEFA von der Nachkriegszeit bis
zur Wiedervereinigung, Konstanz 1994 (Close up 2).
Reinhard Lüke: Edith, Renate, Stupsy und das OTB – Die Dokumentarfilme von
Volker Koepp, in: film-dienst 23/1994.
Josef Lederle: DIE WISMUT, in: film-dienst 25/1994.
Stefan Reinecke: "Ethnograph des Inlands", in: Freitag, 24.06.1994.
Ralf Schenk: Kalte Heimat, in: film-dienst 23/1995.
Ralf Schenk: Fremde Ufer, in: film-dienst 22/1996.
Rainer Rother: Von Stupsi zu Elsbeth und zurück - Seit 22 Jahren macht Volker
Koepp Filme über Wittstocker Arbeiterinnen. In seinem neuen Werk nimmt er
Abschied von seinem Thema, in: Berliner Zeitung, 25.09.1997.
Rainer Rother: Wittstock, Wittstock, in: film-dienst 19/1997.
Erika Richter: Die DEFA - eine Auswahl: Volker Koepp, in: Babylon-Programm
Januar/Februar 1998.
Christina Bylow: Bis an die Grenze - Volker Koepps Dokumentarfilm Herr Zwilling
und Frau Zuckermann, in: Berliner Zeitung, 03.06.1999.
Margarete Wach: Herr Zwilling und Frau Zuckermann, in: film-dienst 11/1999.
Stefan Reinecke: Ohne Folklore - Volker Koepps Dokumentarfilm über Czernowitz
Herr Zwilling und Frau Zuckermann, in: Freitag, 11.06.1999.
Björn Wirth: Kein Land wie dieses, in: Berliner Zeitung, 22.12.1999.
Marianne Knoop / Sandra Langenhahn: "...und das zwanzigste Jahrhundert kommt
hier langsamer an als anderswo in Deutschland." Volker Koepps Leben in
Wittstock, in: Gebhard Moldenhauer/ Volker Steinkopff (Hrsg.): Einblicke in
die Lebenswirklichkeit der DDR durch dokumentare Filme der DEFA , Oldenburg
2001 (=Oldenburger Beiträge zur DDR-und DEFA-Forschung 1).
Birgit Galle: Das sieht aber gut aus - Volker Koepps neuer Dokumentarfilm über
einen Streifen Land im fernen Osten: Kurische Nehrung, in: Die Zeit, 2001.
Anke Westphal: Das Deutsche erkunden - Der Dokumentarfilmregisseur Volker Koepp
und sein neuer Film Kurische Nehrung, in: Berliner Zeitung, 01.08.2001.
Ralf Schenk: Kurische Nehrung, in: film-dienst 16/2001.
Ralf Schenk: Afghanistan, in: film-dienst 22/2001.
Anke Westphal: Teilmengen der deutschen Nation - Dargestellt in einem
hellsichtigen Dokumentarfilm: Uckermark von Volker Koepp, in: Berliner
Zeitung, 16.05.2002.
Margarete Wach: Uckermark, in: film-dienst 25/2002.
Thomas Martin: Die Geschichte wiederholt sich mit Gleichmut - Uckermark von
Volker Koepp - ein Versuch zur Heimatfindung, in: Freitag, 13.12.2002.
Björn Wirth: Nebenan lauert das Elend - Volker Koepp porträtiert in seinem Film
Uckermark eine der ärmsten deutschen Regionen, in: Berliner Zeitung,
17.12.2003.
Reinhard Lüke: Sinnbild für irgendetwas - Volker Koepp: Kurische Nehrung, in:
Funkkorrespondenz, 34/2003.
Andreas Platthaus: Wundertäter durch Beweis. Erfolgsrezept à la Volker Koepp:
Dieses Jahr in Czernowitz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.02.2004.
Ralf Schenk: „Ich sage nicht, was es bedeutet...“ Der Dokumentarist Volker
Koepp, in: Film-Dienst, 3/2004.
Anke Westphal: Gegenwart in der Bukowina - Dieses Jahr in Czernowitz, ein großer
Film von Volker Koepp, in: Berliner Zeitung, 22.04.2004.
Ralf Schenk: Dieses Jahr in Czernowitz, in: film-dienst 12/2004.
Silvia Hallensleben: Ist Heimat ein wirklicher oder ein imaginärer Ort? - Volker
Koepp schließt mit Dieses Jahr in Czernowitz an seinen Erfolgsfilm Herr
Zwilling und Frau Zuckermann an und begleitet Emigranten in ihre
bukowinische Heimat, in: Freitag, 18.06.2004.
Dieter Bartetzko: Lebensbeobachter, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung,
17.05.2005.
Anke Westphal: Westlich und östlich der Weichsel, in: Berliner Zeitung,
20.07.2006.
Michael Hanisch: Und gibt’s nicht noch was Lustiges? - Volker Koepp auf DVD, in:
film-dienst 16/2006.
Uwe Rada: "Ich will Menschen porträtieren, die ich mag" [Interview], in: Die
Tageszeitung, 17.03.2008.
Holger Twelve: Abenteuerspielplatz einer rauen Kindheit - Interview mit Volker
Koepp zu Holunderblüte, in: film-dienst 02/2008.
Katharina Dockhorn: Jetzt sind sie wieder da [Interview], in: Neues Deutschland,
12.12.2009.
Heike Kühn: Wellen aus der Tiefe der Zeit, in: Frankfurter Rundschau,
30.10.2011.
Wolfgang Büscher: Die große Düne wandert nicht mit, in: Die Welt, 02.08.2011.
Caroline M. Buck: Chronist der "kleinen Leute", in: Neues Deutschland,
08.04.2011.
Michael Girke: Heimat trotz allem - Der Dokumentarfilm als Heimatfilm: Die
Deutschland-Erkundungen von Volker Koepp, in: film-dienst 19/2011.
Volker koepp: Erkundungen in Landschaften. (Interview von Ingrid Poss mit Volker
Koepp), in: Ingrid Poss, Christiane Mückenberger, Anne Richter (Hgg.): Das
Prinzip Neugier. DEFA-Dokumentarfilmer erzählen. Berlin: Verlag Neues Leben
2012, S. 445-466.
Jan Brachmann: Stettin, Stupsi und Sarmatien - Volker Koepp, in: Berliner
Zeitung, 20.06.2014.
Gunda Bartels: Zum 70. von Regisseur Volker Koepp - Herr der hohen Himmel, in:
Der Tagesspiegel, 23.06.2014.

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